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German Pages 384 Year 2014
Bodo Mrozek, Alexa Geisthövel, Jürgen Danyel (Hg.) Popgeschichte
Histoire | Band 49
Bodo Mrozek, Alexa Geisthövel, Jürgen Danyel (Hg.)
Popgeschichte Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958-1988
Gefördert durch das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Pop als Zeitgeschichte
Jürgen Danyel/Alexa Geisthövel/Bodo Mrozek | 7 Die Bill-Haley-Tournee 1958. »Rock’n’Roll Panic« in der Bundesrepublik Deutschland
Thomas Grotum | 19 La Nuit de la Nation. Jugendkultur, Rock’n’Roll und moral panics im Frankreich der sechziger Jahre
Florence Tamagne | 41 Where was Pop? Die Robert Fraser Gallery zwischen Popmusik und bildender Kunst in »Swinging London«
Anna Braun | 65 Klubtramps in Ostberlin. Widerständige Raumpraxen jugendlicher Beatfans in den 1960er Jahren
Thomas P. Funk | 91 Der Diskjockey Tom Donahue und das Freeform-Radio in den USA. Ein klanggeschichtlicher Blick auf populäre Kultur
Thomas Schopp | 113 Dancing in Heels: Motown und die Performanz schwarzer Weiblichkeit in der Popkultur der 1960er Jahre
Martin Lüthe | 135 »Moderne Tanzmusik« für die Mitte der Gesellschaft. Diskotheken und Diskjockeys in Westdeutschland, 1960-1978
Klaus Nathaus | 155 »A great idea after the fact«. Das (Er-)Finden der Maxisingle in der New Yorker Discokultur der 1970er Jahre
Jens Gerrit Papenburg | 179
Diskotanz im Speisesaal. Zur Institutionalisierung und Normierung einer Unterhaltungsform in der DDR ab 1973
Thomas Wilke | 201 »Pop is not popular«. Der Notting Hill Carnival (1970er bis 1990er Jahre)
Sebastian Klöß | 225 Pop-Politisierung? Folk und Protestsong als Herausforderung konkurrierender Pop-Systeme
Rebecca Menzel | 247 Kung Fu Pop? Zur Ästhetisierung des Körpers zwischen Dojo und Disco (Westdeutschland 1960er bis 1980er Jahre)
Marcel Streng | 269 »Let fury have the hour, anger can be power.« Praktiken emotionalen Erlebens in den frühen deutschen Punkszenen
Henning Wellmann | 291 Globale Klänge. »World Music« als Marktkategorie in den 1980er Jahren
Glaucia Peres da Silva | 315 »If you have to ask, you can’t afford it.« Pop als distinktiver intellektueller Selbstentwurf der 1980er Jahre
Nadja Geer | 337 Vinyl Culture und Zeitgeschichte. Schallplattencover als Quellen der visual history
Kalle Laar | 361 Autorinnen und Autoren | 373
Pop als Zeitgeschichte J ÜRGEN D ANYEL /A LEXA G EISTHÖVEL /B ODO M ROZEK
Als gegen Ende des 20. Jahrhunderts der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn das Haus der Geschichte eröffnete, hielten es etliche Kommentatoren für erwähnenswert, dass neben Dokumenten wie den Ostverträgen nicht nur die üblichen Stehrümchen aus der Asservatenkammer der Zeitgeschichte wie Adenauers Mercedes-Limousine und Honeckers Stacheldraht zu besichtigen waren, sondern auch die Turnschuhe des Grünen-Politikers Joschka Fischer. Die abgewetzten Objekte, von ihrem Besitzer Anfang der 1980er Jahre demonstrativ im Bundestag getragen, erhielten ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit, denn es handelte sich bei ihnen nicht um gewöhnliche Exponate. Den Machern wie den Rezensenten der Ausstellung galten sie vielmehr als Relikte der Popkultur.1 Die ebenso bunte wie diffuse Sphäre des Pop schien damit endgültig die musealen Weihen einer institutionalisierten Geschichtsrepräsentation zu erhalten. Das kleine Exponat illustriert beispielhaft einen Wandel in der Geschichtskultur, der sich in den vergangenen Jahrzehnten vollzogen hat. Lange Zeit hatte Pop ein Dasein am Rande der institutionalisierten Kultur und Geschichtsdarstellung gefristet. Mittlerweile aber kommt keine Überblicksausstellung zum 20. Jahrhundert mehr ohne Exponate aus, die den alltagsästhetischen Wandel in der zweiten Hälfte der Epoche thematisieren und die Generationen prägende Kraft der Jugendkultur wenigstens zu illustrativen Zwecken heranziehen. Das Londoner Victoria & Albert Museum würdigte Künstler wie die ehemalige Punk-Designerin Vivienne Westwood oder den Popstar David Bowie mit Einzel-
1
Vgl. Kallinich/Bretthauer (Hg.): Botschaft der Dinge, S. 74; Von Lagerfeld bis Stan Smith – wie Turnschuhe boomen, in: Sueddeutsche.de, 2.4.2014, http://www. sueddeutsche.de/news/kultur/mode-von-lagerfeld-bis-stan-smith---wie-turnschuhe-boo men-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-140402-99-02260 (Abruf 17.6.2014).
8 | J ÜRGEN D ANYEL /A LEXA G EISTHÖVEL /B ODO M ROZEK ausstellungen, das Germanische Nationalmuseum schließt eine Dokumentation über den Freideutschen Jugendtag von 1913 mit einem mosaikartigen Ausblick auf popkulturelle Jugendstile und selbst in der Ausstellung zur Zeitgeschichte des militärgeschichtlich dominierten Pariser Hôtel des Invalides ist die französische Yéyé-Bewegung mittlerweile hinter Glas zu besichtigen. Dem Bedeutungszuwachs der Popkultur, der in derlei Musealisierung sichtbar wird, hinkt die historische Forschung bislang auffallend hinterher. Nachbardisziplinen wie die Musik- und Literaturwissenschaften oder die Kulturanthropologie beschäftigen sich schon länger theoretisch und empirisch mit Pop, und auch die in engem Kontakt mit dem breiten Publikum stehenden Institutionen der Geschichtsvermittlung ebenso wie die Massenmedien bemühen gerne popkulturelle Ikonen als Metaphern für den vermeintlichen Geist ganzer Epochen. Dagegen ist die Fachwissenschaft bisher vergleichsweise pop-abstinent geblieben. Zwar haben sich einzelne Pionierstudien empirisch dem Feld zugewandt2, dennoch führte die Popgeschichte, im Vergleich zur Blüte anderer Forschungsfelder der Zeitgeschichte, bis vor kurzem ein Nischendasein. In jüngster Zeit zeichnet sich ab, dass sich die versprengten Solitäre der Popgeschichte vernetzen und darüber nachdenken, wie sich ihre Forschungsrichtung systematisieren, auf Dauer und Geltung stellen lässt.3 Eine Initiative in diese Richtung war die Tagung »PopHistory. Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären«, die das Zentrum für Zeithistorische Forschung gemeinsam mit dem Arbeitskreis Popgeschichte im November 2011 im Roten Salon der Berliner Volksbühne veranstaltet hat.4 Der vorliegende Band geht auf diese Tagung zurück, er versammelt aber nicht nur die dort gehaltenen Vorträge, sondern wurde um etliche Beiträge erweitert. Er enthält Fallstudien von den 1950er bis zu den 1980er Jahren, die eine große Bandbreite von pophistorischen Themen und Forschungsfragen abbilden.
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Vgl. etwa Grotum: Die Halbstarken; Poiger: Jazz; dies.: Rock’n’Roll; Siegfried: Time; Frith: Sociology of Rock; Gillett: Sound of the City; ders.: Sound; Grossman: Social History of Rock; Sohn: Age tendre; Tamagne: »C’mon everybody«.
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Eine solche Initiative ist der dreisprachige Gruppenblog PopHistory auf der geisteswissenschaftlichen Blogging-Plattform hypotheses, der pophistorisch arbeitende Forscherinnen international vernetzt: http://pophistory.hypotheses.org/.
4
Vgl. Tagungsbericht: PopHistory. Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären. 03.11.2011-05.11.2011, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 31.01.2012, http://hsozkult.geschich te.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4034; Danyel: Pop als Zeitgeschichte; sowie die der Tagung vorausgegangenen Überlegungen, in: ders./von Klimó (Hg.): Pop in Ost und West; Mrozek: Popgeschichte; Geisthövel: Auf der Tonspur.
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Auch die Methodendiskussion ist mittlerweile in Gang gekommen. Denn wenn bestimmte Begrifflichkeiten wie Pop/Popkultur, Sub- oder Gegenkultur inzwischen ebenso selbstverständlich wie (oftmals) unreflektiert Eingang in die Geschichtsbücher gefunden haben, so sind sie zumeist Prägungen anderer Disziplinen und folgen deren Prämissen. Die Begriffe der Nachbardisziplinen zu historisieren und die originär geschichtswissenschaftlichen Problemaufrisse und Methoden der Zeitgeschichte mit dem Forschungsfeld Pop zu kontextualisieren, unternimmt ein Band mit Konzepten und Methoden, der diese Sammlung empirischer Fallstudien flankiert.5 Wenn die Methodendiskussion auch gerade erst begonnen hat, so werden darin doch Perspektiven aufgezeigt, die mit den Problemen der Popgeschichte umgehen. Fragen des Hörens vergangener Klänge gehören ebenso dazu wie solche nach Rollenbildern innerhalb der stark audiovisuell und performativ geprägten Popkultur oder solche der Wirtschaftsgeschichte von Produktion und Vertrieb popkultureller Inhalte. Einige der Beiträge in diesem Band schließen an diese Methodendiskussion an, indem sie solche Konzepte empirisch umsetzen. Das Anliegen des Bandes ist keine neue Meistererzählung, die Zeitgeschichte entlang von Pop neu auszudeuten beansprucht. Vielmehr geht es darum, die Anschlussfähigkeit der neu gewonnenen Forschungsperspektive aufzuzeigen. Die Bandbreite der Themen und Zugänge schließt an ein breites Set von Fragen der Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften an: Es geht um die Politik der moral panics ebenso wie um politischen Protest, um die Unterscheidung von Kunst und unterhaltender Massenkultur wie um den Sound der Gegenkultur. Die umstrittene Beanspruchung des Stadtraums ist Thema, aber auch die Ausdifferenzierung von Märkten, technisch-mediale Innovationen und Intellektuellengeschichte. Es kommen Subjektivierungsprozesse in der Körperbeherrschung und der Handhabung eines emotionalen Regimes ebenso zur Sprache wie Migrationskonflikte und die Verhandlung von Weiblichkeit und Männlichkeit. Der Schwerpunkt liegt auf den beiden deutschen Nachkriegsstaaten, jedoch sind auch Frankreich, Großbritannien und die USA vertreten. Transnationale Fragen weiten das Thema in die Globalgeschichte, etwa in der Rekonstruktion der Erfindung von »World Music«. Mit diesem Panorama wollen wir die Nähe der Popgeschichte zu vertrauten Fragestellungen zeigen, die aber nicht darin aufgeht, sondern in der Fülle der zusammengetragenen Fallstudien einen eigenen Gegenstand konturiert, der für die Geschichtswissenschaft insgesamt neue Einsichten generieren kann. Durchsetzt ist die Folge der wissenschaftlichen Artikel von einem Bildessay des Klangkünstlers und Gründers des Temporary Soundmuseums Kalle Laar. 5
Vgl. Geisthövel/Mrozek: Popgeschichte.
10 | J ÜRGEN D ANYEL /A LEXA G EISTHÖVEL /B ODO M ROZEK Seine Auswahl an Plattencovern vervollständigt mit ihren Bezügen zu zeithistorischen Phänomenen und Fragestellungen visuell die Chronologie des Bandes. Gleichzeitig ist Laars um einen Text ergänzter Bildessay ein erster Entwurf einer noch zu schreibenden visual history des Schallplattencovers und erschließt damit exemplarisch eine originäre Ton-, Text- und Bildquelle des 20. Jahrhunderts.6 Um die Popkultur zu historisieren, müssen geschichtswissenschaftliche Begriffe, Konzepte und methodische Zugänge gefunden werden. Dabei gilt es zur Kenntnis zu nehmen, was in den Nachbardisziplinen, aber auch in der Musikkritik oder der journalistischen Gesellschaftsbeobachtung bereits erarbeitet wurde. Hier wie in der Erforschung konkreter Gegenstände haben Historikerinnen definitiv Nachholbedarf. Nicht zuletzt deshalb stammen einige Beiträge des Bandes von historisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen aus anderen Disziplinen. Eine konsequente Historisierung heißt umgekehrt, dass die In- und Exklusionen der popintellektuellen Agenda-Setter zur Frage, was Pop ist oder zu sein hat, wie auch die damit verbundenen Diskursrituale selbst zum historischen Quellenmaterial werden. Der Satz des Schriftstellers Benjamin von Stuckrad-Barre, Pop sei für ihn, »dass es wahnsinnig darauf ankommt, wann hört man das, von wem hört man das und wie sieht denn der Typ aus, der das sagt«, wäre im Sinne einer intellectual history des Pop zu historisieren. Das ist für diejenigen, die zum Forschungsgegenstand werden, gewöhnungsbedürftig – Ähnliches kennen wir aus der Begegnung einer gegenwartsnäheren Zeitgeschichte mit den Diagnosen der Politik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Für die Pophistorikerinnen und Pophistoriker auf der anderen Seite bedeutet dies, die feinen Unterscheidungen der Poptheorie bei der Wahl der eigenen Forschungsgegenstände nicht unreflektiert zu übernehmen. Berührungsängste gegenüber dem Mainstream, dem allzu Kommerziellen oder dem Banalen im Pop sind aus einer historiographischen Perspektive ohnehin unangebracht. Allerdings macht es eine solche inklusive Auffassung von Pop nötig, gewisse Grenzen zu ziehen. Nicht jeder Turnschuh ist Pop, auch wenn er einen Politikerfuß bekleidet hat, der in den 1970er Jahren das gegenkulturelle Pflaster Frankfurts betrat. Pop ist von den älteren und breiteren Konzepten des Populären und der Massenkultur zu unterscheiden.7 Aus zeithistorischer Perspektive kann man sich an einem Verständnis orientieren, das Diedrich Diederichsen und andere entwickelt haben.8 Es zielt im Kern auf eine spezifische Form der elektroakus6
Zu Schallplatten als Quellen vgl. Siegfried: Sgt. Pepper & Co; Mrozek: Geschichte in Scheiben; ders.: Écouter l’histoire.
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Vgl. etwa Borsò/Liermann/Merziger: Die Macht des Populären.
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Vgl. etwa Diederichsen: Über Pop-Musik; Frith: Taking Popular Music Seriously; Wicke: Vom Umgang mit Popmusik.
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tischen Musikproduktion, ihre Performanz und Verbreitung über die modernen Massenmedien und ist nicht normativ angelegt. Pop wäre demnach über spezifische Bedingungen seiner Produktion und Reproduktion sowie über seine performativen und habituellen Dimensionen zu fassen. Darüber, wie Pop zeitlich zu verorten ist und was darunter zu fassen ist, gibt es unterschiedliche Positionen. Da wird dann auch schon mal Mozart zu Pop erklärt und das Phänomen weit in die Geschichte zurückprojiziert9, ebenso gibt es sehr verengte Definitionen, die Pop exakt auf den Sommer 1982 datieren. Unser Band beginnt mit den Konflikten um die Ankunft des Rock’n’Roll in Europa im Jahr 1958 und endet in den späten 1980ern. Die Begrenzung dieses Bandes will zwar keine endgültigen Zäsuren setzen, folgt aber doch epochalen Markern, die sich zumindest auf der Begriffsebene diskutieren lassen. Im Unterschied zum älteren Begriff der Massen- oder Populärkultur bildeten die Zeitgenossen seit den 1950er Jahren den Begriff »Pop« heraus10, der mit den Debatten um die Pop Art Ende der Fünfziger erstmals weitgehende Verbreitung fand und sich im Swinging London der 1960er Jahre schließlich etablierte. Etwa zeitgleich wurden Fragen der Amerikanisierung und der Generationalität im Zusammenhang mit moral panics um die globale Verbreitung neuer Musikstile breit diskutiert. Hier setzt der Band ein, mit der international skandalisierten Tournee von Bill Haley & His Comets. Seinen Abschluss findet er mit Beiträgen zu neuen Formen distinguierender Popintellektualität und der Konstruktion des Labels »World Music« um 1988. Ein Jahr später formierte sich in Berlin mit der ersten »Love Parade« erstmals eine Bewegung, die auf Digitalisierung setzen sollte und schließlich in die integrative und weithin medial und politisch etablierte Club Culture der 1990er Jahre mündete.11 Inwieweit die darauf folgende digitale Revolution als Ende einer Popmoderne – oder im Gegenteil als deren eigentlicher Beginn – zu betrachten ist, wird erst im Abstand der Jahrzehnte erkennbar werden. Da hier aber zweifellos eine Zäsur vorliegt, die mit tradierten Formen der Rezeption ebenso wie der Produktion und vor allem der Distribution von Musik bricht, endet auch der Untersuchungszeitraum des vorliegenden Bandes hier. Damit soll keineswegs signalisiert werden, die Diskussion um Zäsuren sei überflüssig oder erledigt. Sie kann aber erst stattfinden, wenn im Fach eine hinreichend große Anzahl von Kollegen über diesen Gegenstand informiert streiten kann. Die Häufung von Beiträgen zu den 1970er Jahren spiegelt wider, dass die 9
Wicke: Von Mozart zu Madonna.
10 Vgl. Hecken: Pop, bes. S. 14, 60-75. 11 Die britischen post-subcultural Studies unterscheiden die integrative Klubkultur von der vorhergehenden, von konflikthaften »moral panics« geprägten Epoche. Vgl. etwa Thornton: Club Cultures.
12 | J ÜRGEN D ANYEL /A LEXA G EISTHÖVEL /B ODO M ROZEK »Wanderdüne« Zeitgeschichte nach den »langen sechziger Jahren« mittlerweile definitiv im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts angekommen ist. Es wird zu erörtern sein, wie sich Pop zu den (postulierten) gesellschaftlichen Krisen und Transformationsprozessen – in West und Ost – in der Zeit »nach dem Boom« verhält.12 Neben der Gretchenfrage, was eigentlich unter Pop in einer historischen Perspektive zu verstehen ist und wie er zeitlich zu verorten wäre, gibt es noch einige praktische Probleme für die pophistorische Forschung. Damit etwa die Zeitzeugenschaft nicht der Historiographie im Wege steht, müssen diejenigen, die auf dem Gebiet der Popgeschichte arbeiten, ihre eigenen Sozialisationserfahrungen mit Pop kritisch als vorwissenschaftliche Prägungen reflektieren, um sie nicht unter der Hand zum Maßstab für die historische Betrachtung zu machen. Sonst könnte die begrüßenswerte lebensgeschichtliche Affinität zum methodischen Problem werden. Eine Popgeschichte sollte auch technisch informiert sein und sich mit den Medien und Materialien der Produktion, Reproduktion und des massenhaften Konsums von Pop beschäftigen. Was bedeuteten etwa das Kofferradio, die Möglichkeit populäre Musiksendungen auf Tonband aufzunehmen, die Mobilität des von Sony eingeführten Walkman, die erschwingliche Hi-Fi-Anlage im Wohnzimmer oder der Vormarsch von Musikkassette und CD für den Wandel von Kulturtechniken und die Diffusion des Pop in alle Lebensbereiche? Und welche kulturellen Bedürfnisse und Prozesse führten umgekehrt zur Konstruktion bzw. »Findung« bestimmter technischer Gerätschaften?13 Nachzudenken wäre ferner darüber, wie wichtige Quellen der Popgeschichte dauerhaft gesichert und wie die Archive dafür sensibilisiert werden könnten. Oft sind es private Sammler oder Vereine, die sich um die Erhaltung popkultureller Überlieferungen bemühen, und die bedürfen der Unterstützung. 14 In diesem Zusammenhang wäre auch über Mindeststandards für die Präsentation insbesondere der audiovisuellen Zeugnisse der Popgeschichte in Vorträgen und Publikationen zu reden: Wie zitiert man Schallplatten, und mit welchen Kontextinformationen sollte ein Videoclip versehen sein? Hinzu kommen die Fragen des Urheberrechts und der ganze Komplex der Digitalisierung bis hin zur Frage nach der Zukunft des Pop im Zeitalter des Internet.
12 Doering-Manteuffel/Raphael: Nach dem Boom. 13 Weber: Mobil Hören; Sterne: The Audible Past. Zum Begriff der »Findung« vgl. den Beitrag von Jens Papenburg im vorliegenden Band. 14 Ein Beispiel ist etwa die weltweit einzigartige, aber chronisch unterfinanzierte Initiative des Berliner Archivs der Jugendkulturen, in dem 2013 auch das private Rock- und Pop-Archiv Berlin aufgegangen ist.
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In jüngster Zeit lässt sich Pop viel weniger als noch vor 30 Jahren als sichtbare Gegenwartskultur identifizieren, die im wörtlichen Sinne die Massen bewegt. Beklagt werden die durch das Internet zusätzlich ausdifferenzierten und fragmentierten Öffentlichkeiten und Szenen, die sich nicht mehr wie in den »guten alten Tagen« zu politisch artikulierten Generationsrevolten aufschaukeln. Hinzu kommt das Staunen über die ewigen Retrowellen, jene von Simon Reynolds sezierte Besessenheit der Popkultur von ihrer eigenen Geschichte: »We live in a Pop age gone loco for retro and crazy for commemoration.«15 Die Historiker können dieses Geschehen mit Gelassenheit beobachten. Dass die Popkultur ihre eigene Geschichte in immer höheren Dosen inhaliert, erleichtert ihnen vielleicht das Geschäft. Die Vermarktung der Vergangenheit des Pop bringt neben viel Erinnerungskitsch manch interessante Quelle hervor. Sicher ist die Frage, ob die Ära der Popkultur zu Ende geht, nicht völlig abwegig. Die Digitalisierung scheint zumindest einen Bruch zu markieren, der alte Modelle der Distribution radikal infrage stellt und den Tod der Musikindustrie in ihrer bisherigen Form in den Bereich des Wahrscheinlichen rückt. Bis die Popgeschichtsschreibung sich aber an Erklärungen für das vermeintliche Ende machen sollte, sind noch viele andere Fragen zu beantworten. Mit ihren originären Fragestellungen und ihren quellenbasierten Methoden kann die Geschichtswissenschaft einen eigenen Zugriff auf das übertheoretisierte und unterforschte Feld der Popkultur entwickeln. Dazu möchte der vorliegende Band beitragen.
L ITERATUR Borsò, Vittoria/Christiane Liermann/Patrick Merziger (Hg.): Die Macht des Populären. Politik und populäre Kultur im 20. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2010. Danyel, Jürgen: Pop als Zeitgeschichte, 9.7.2012, http://pophistory.hypotheses. org/227. Ders./Árpád von Klimó: Pop und Zeitgeschichte, in: dies.: Zeitgeschichte online, Thema: Pop in Ost und West. Populäre Kultur zwischen Ästhetik und Politik, überarb. Oktober 2011, http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/popost-und-west. Diederichsen, Diedrich: Über Pop-Musik, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014.
15 Reynolds: Retromania, S. ix.
14 | J ÜRGEN D ANYEL /A LEXA G EISTHÖVEL /B ODO M ROZEK Doering-Manteuffel, Anselm/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2., erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. Friedlander, Paul: Rock and Roll – A Social History, Boulder, CO: Westview Press 1996. Frith, Simon: The Sociology of Rock, London: Constable 1978. Ders.: Taking popular music seriously. Selected essays, Aldershot: Ashgate 2008. Geisthövel, Alexa: Auf der Tonspur. Musik als zeitgeschichtliche Quelle, in: Martin Baumeister/Moritz Föllmer/Philipp Müller (Hg.): Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 157-168. Dies./Bodo Mrozek (Hg.): Popgeschichte. Band 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld: transcript 2014. Gillett, Charlie: The Sound of the City. The Rise of Rock’n’Roll, London: Souvenir Press 1971. Grossman, Loyd: A social history of rock music. From the Greasers to glitter rock, New York: McKay 1976. Grotum, Thomas: Die Halbstarken. Zur Geschichte einer Jugendkultur der 50er Jahre, Frankfurt a. M./New York: Campus 1994. Hecken, Thomas: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009, Bielefeld: transcript 2009. Kallinich, Joachim/Bastian Bretthauer (Hg.): Botschaft der Dinge, Bonn: Museumsstiftung Post und Telekommunikation, 2003. Ausstellungskatalog. Mrozek, Bodo: Popgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 6.5.2010, http://docupedia.de/zg/Popgeschichte?oldid=84650. Ders.: Geschichte in Scheiben. Schallplatten als zeithistorische Quellen, in: Zeithistorische Forschungen 8 (2011) 2, S. 295-304. Ders.: Écouter l’histoire de la musique. Les disques microsillons comme sources historiques de l’ère du vinyle, in: Le Temps des Médias. Revue d’histoire 22 (2014), S. 92-106. Poiger, Uta G.: Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 2000. Dies.: Rock’n’Roll, Kalter Krieg und deutsche Identität, in: Konrad Jarausch/ Hannes Siegrist (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung 1945-1970, Frankfurt a. M.: Campus 1997, S. 275-290. Reynolds, Simon: Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past, London: Faber and Faber 2011.
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Siegfried, Detlef: Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen: Wallstein 2006. Ders.: Sound der Revolte. Studien zur Kulturrevolution um 1968, Weinheim: Beltz 2008. Ders.: Sgt. Pepper & Co. Plattencover als Ikonen der Popkultur, in: Gerhard Paul (Hg.): Bilder, die Geschichte schrieben. 1900 bis heute, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 189-195. Sohn, Anne-Marie: Age tendre et tête de bois. Histoire des jeunes des années 1960, Paris: Hachette 2001. Sterne, Jonathan: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham: Duke University Press 2003. Tamagne, Florence: »C’mon everybody«. Rock’n’roll et identités juvéniles en France (1956-1966), in: Ludivine Bantigny/Ivan Jablonka (Hg.): Jeunesse oblige. Histoire des jeunes en France XIXe-XXe, Paris: PUF 2009, S. 199212. Thornton, Sarah: Club Cultures: Music, Media and Subcultural Capital, Cambridge: Polity Press 1996. Weber, Heike: Mobil Hören. Klang- und technikhistorische Zugänge zum Pop, in: Geisthövel/Mrozek (Hg.): Popgeschichte, S. 155-175. Wicke, Peter: Vom Umgang mit Popmusik, Berlin: Volk und Wissen 1993. Ders.: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001 (zuerst 1998).
Hermann Leopoldi/Helli Möslein: Wirtschaftswunderkinder/Schinkenfleckerln. His Masters Voice 45-BA1165, 1959 [Single].
Bildtondokument: 17. Juni 1953. Der Aufstand in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands, hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Schaefer Verlag München 1960 [Single mit Buch].
Die Bill-Haley-Tournee 1958 »Rock’n’Roll Panic« in der Bundesrepublik Deutschland T HOMAS G ROTUM
»Nie wieder Rock’n’Roll im Sportpalast!«1 Das war laut Bild-Zeitung die erste Reaktion des Direktors des Berliner Sportpalastes, Georg Kraeft, nach dem BillHaley-Konzert am 26. Oktober 1958. Da in den fünfziger Jahren »Jazz« als Sammelbegriff für »moderne, heiße Musik« diente, schien es nur konsequent, das für Ende der Woche angekündigte Konzert des Boogie-Pianisten Sammy Price sofort abzusetzen.2 Die gebetsmühlenartigen Beteuerungen von Jazz-Anhängern, dass Rock’n’Roll kein Jazz sei und Jazz-Liebhaber keinesfalls zu Krawallen neigten, nützten wenig.3 Dass dies der wahre Grund für die Absage war, darf allerdings bezweifelt werden. Vielmehr konnte die technische Ausstattung nach den Zerstörungen während der Rock’n’Roll-Veranstaltung wahrscheinlich in so kurzer Zeit nicht wieder in Ordnung gebracht werden.4 Unbestritten herrschte eine große Aufregung, die durch die weiteren Konzerte von Bill Haley in Westdeutschland angeheizt wurde. »Rock’n’Roll Panic«5 machte sich breit. Bill Haley war 1958 der erste US-amerikanische Rock’n’Roll-Star, der Konzerte in der Bundesrepublik Deutschland gab. Wirft man einen Blick in die Presse des Jahres 1958 oder auch in die Sekundärliteratur, so scheint es, als habe die Tournee mit einem Riesenkrawall in Berlin begonnen, gefolgt von Tumulten in 1
Bild-Zeitung, 28.10.1958.
2
Vgl. nacht-depesche, 28.10.1958.
3
Vgl. auch Poiger: Jazz, S. 187.
4
Vgl. Telegraf, 28.10.1958. Am 11. und 27. Februar 1959 fanden die nächsten JazzVeranstaltungen im Berliner Sportpalast statt; vgl. Arenhövel (Hg.): Arena der Leidenschaften, S. 480.
5
In Anlehnung an das Konzept der Moral Panics; vgl. Jasper: Moral Panics.
20 | T HOMAS G ROTUM Hamburg und Essen bis zum letzten Konzert in Stuttgart. Lediglich die Frage, ob die letzte Veranstaltung in der südwestdeutschen Landeshauptstadt als Krawall zu bewerten sei oder nicht, blieb umstritten.6 Diese Sichtweise entspricht dem damaligen Image von Bill Haley als »Radaumacher«. Seinen Durchbruch erzielte er mit dem Lied Rock around the Clock, das 1955 im Vorspann des Films Saat der Gewalt (The Blackboard Jungle) zu hören war. Hierbei kam es erstmals zur Verknüpfung von Rock’n’Roll und Jugendgewalt. Darüber hinaus war es Ende 1956 und Anfang 1957 insbesondere in Nordrhein-Westfalen bereits zu »Halbstarken«-Krawallen gekommen, die im Zusammenhang mit der Aufführung der Kinofilme Außer Rand und Band (Teil 1: Rock around the Clock, Teil 2: Don’t knock the Rock) standen.7 Die Filme thematisieren den Erfolg von Bill Haley and his Comets und den Siegeszug des Rock’n’Roll. Schließlich war es nicht nur im Vorfeld der vier Bill-Haley-Konzerte im Februar 1957 in London zu tumultartigen (allerdings weniger gewalttätigen) Szenen gekommen, sondern auch die Konzerte der Europa-Tournee am 14. und 15. Oktober 1958 im »Olympia« in Paris endeten mit Ausschreitungen, nachdem übermotivierte Polizisten und einige ausgelassene Jugendliche in ein Gerangel geraten waren, das sich schnell ausweitete.8 Schenkt man den Veröffentlichungen Glauben, kam es im Kontext der Konzerte geradezu zwangsläufig zu Jugendausschreitungen. Es wurde der Eindruck vermittelt, dass Derartiges absolut neu sei und die Jugend wie entfesselt auf ihren Helden reagiert habe.
D IE B ILL -H ALEY -T OURNEE
IN
D EUTSCHLAND
Die eingangs beschriebene Sichtweise auf die Tournee im Oktober 1958 findet sich auch in den zahlreichen Biographien über Bill Haley, immerhin dem ersten internationalen Rock’n’Roll-Star.9 Dort wird aber auch ein weiteres Konzert im Rahmen der Tournee erwähnt, nämlich in Frankfurt am Main. Hier trafen sich die beiden damaligen Größen des Rock’n’Rolls. Während Bill Haley and his
6
Vgl. beispielsweise Die Welt, 31.10.1958; Süddeutsche Zeitung, 31.10.1958; Heidelberger Tageblatt, 31.10.1958.
7
Zu ähnlichen Ausschreitungen in England vgl. Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 14.9.1956 und Neue Ruhr-Zeitung, 22.9.1956.
8
Vgl. Haley/von Hoelle: Sound and Glory, S. 183.
9
Vgl. Swenson: Bill Haley, S. 119-124; Haley/von Hoelle: Sound and Glory, S. 165196; Haley, Bill, in: Graves/Schmidt-Joos: Rock-Lexikon, Bd. 1, S. 336-338; Cornelsen/Kain: Bill Haley, S. 38-53; Fuchs: Vater, S. 289-310; ders.: Father, S. 439-484.
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Comets auftraten, beobachtete Elvis Presley, der seit Anfang Oktober seinen Militärdienst im hessischen Friedberg ableistete, den Auftritt hinter der Bühne. Das Publikum sollte von seiner Anwesenheit nichts erfahren, da man befürchtete, die Begeisterung der jugendlichen Zuhörerschaft könnte dann erst recht »außer Rand und Band« geraten. Ein Foto, das Bill Haley Gitarre spielend und Elvis Presley in Uniform sitzend in der Garderobe zeigt, ist in vielen Publikationen abgedruckt worden.10 Auch am folgenden Abend während des Konzerts in Mannheim war Elvis Presley anwesend. Ein Pressefotograf hielt den Moment fest, als der Rockstar – diesmal in Zivil – einem Feuerwehrmann hinter den Kulissen ein Autogramm gab.11 Das Mannheimer Konzert ist aber trotzdem weitgehend aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden. Schließlich existiert ein Foto von Elvis mit den »Comets« Rudy Pompilli (Saxophon), Al Pompilli (Bass) und Ralph Jones (Schlagzeug), das in Stuttgart aufgenommen wurde.12 Anders als von der Presse und in der Literatur vermittelt, absolvierte Bill Haley Ende Oktober 1958 innerhalb nur einer Woche in zehn westdeutschen Städten Konzerte.13 Die Deutschland-Tournee begann am Donnerstag, dem 23. Oktober 1958, mit zwei Auftritten in Frankfurt am Main (»Film-Palast«) und Wiesbaden (»Rhein-Main-Halle«). Am Freitag folgten Konzerte in der Karlsruher »Schwarzwaldhalle« sowie im Mannheimer Kino »Universum«. Samstag spielten Bill Haley and his Comets im Elberfelder »Thalia«-Theater und im »Apollo«-Theater in Düsseldorf.14 Das Gastspiel der Hauptgruppe konnte jeweils nicht länger als 50 Minuten dauern, da bei zwei Konzerten pro Abend in nahegelegenen Städten die Fahrtzeit zwischen den beiden Orten hinzukam. Während die Vorgruppe – der Bigband-Leader Kurt Edelhagen mit seinem Orchester – das Konzert gegen 21.15 Uhr (oder später) in der zweiten Stadt eröffnete, waren die US-amerikanischen Musiker noch unterwegs. Mit von der Partie war Bill Ramsey, Jazz-Fan und AFN-Produzent, der zusammen mit der Vorgruppe auftrat und teilweise die Wartezeit zwischen den beiden musikalischen Teilen mit »vertonten Faxen« überbrückte.15
10 Vgl. Peters/Reiche: Elvis in Deutschland, S. 39; Fuchs: Vater, S. 232; Haley/von Hoelle: Sound and Glory, S. 190; Kraushaar: Protest-Chronik, Bd. III, S. 2013; Bloemeke: Roll over Beethoven, Bildteil zwischen S. 114 und 115. 11 Vgl. Mannheimer Morgen, 27.10.1958. 12 Vgl. Haley/von Hoelle: Sound and Glory, S S. 191. 13 Vgl. Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 28.10.1958; Liwa: Rock’n’Roll-Rezeption, S. 3 f. und S. 44-46. 14 Vgl. Koep: Thalia, S. 136 f. 15 Vgl. Rhein-Neckar-Zeitung, 27.10.1958; Koep: Thalia, S. 136.
22 | T HOMAS G ROTUM Erst nach diesen sechs Auftritten, die alle mehr oder weniger problemlos über die Bühne gegangen und von der überregionalen Presse kaum beachtet worden waren, kam es am Sonntag, dem 26. Oktober 1958, zu den Aufsehen erregenden Ausschreitungen während des Konzerts im West-Berliner »Sportpalast«. Seitdem waren die Zeitungen voll mit Berichten über Bill Haley und die randalierende Jugend. Die übrigen drei Konzerte in Hamburg (»Ernst-Merck-Halle«), Essen (»Grugahalle«) und Stuttgart (»Killesberghalle 6«) fanden ebenso wie der Auftritt in Berlin an aufeinander folgenden Tagen jeweils ab 20 Uhr statt.
J UGENDLICHE UND M USIKVERANSTALTUNGEN : D AS B EISPIEL B ERLIN (1956/57) Auffälliges Verhalten von Jugendlichen im Zusammenhang mit Musikveranstaltungen gab es bereits vor dem ersten Auftritt von Bill Haley. 16 So kam es am 8. April 1956 im Berliner »Sportpalast« aufgrund einer kurzfristigen Programmänderung bei der Veranstaltung »Zehn Jahre Jazz in Berlin« zu einer Saalschlacht. »Apfelsinen, Stuhllehnen und Blumentöpfe flogen auf die Bühne; ein Schlagzeuger wurde von einem Topf getroffen«.17 Der Sachschaden betrug etwa 3.000 D-Mark und 14 Besucher wurden festgenommen. Während der Veranstaltung »Schlager und Humor« am 8. September 1956 in der »Waldbühne« (Charlottenburg), deren Erlös den Hochwassergeschädigten in Westdeutschland zukommen sollte, fielen etwa 150 Jugendliche auf, die ihre Unzufriedenheit mit dem Programm, das zu wenig »heiße Musik« bot, durch andauernde Zwischenrufe kundtaten.18 Möglicherweise waren die jugendlichen »Halbstarken« in die »Waldbühne« gekommen, nachdem zwei Tage zuvor die letzte Veranstaltung mit »heißer Musik« in der im Volkspark Rehberge gelegenen Freilichtbühne stattgefunden hatte.19
16 Vgl. Kriminalpolizei Berlin: Jugendausschreitungen: eine Zeiterscheinung oder ein Erziehungsproblem?, 1956 (Deutsche Hochschule der Polizei Münster-Hiltrup/Polizeigeschichtliche Sammlung [DHPol/PS]); Kriminalpolizei Berlin: Zweiter Bericht über die Jugendausschreitungen in Berlin (West) – Berichtszeit 3.11.1956 bis 25.12.1957, 1958 (Polizeihistorische Sammlung Berlin [PSB]). 17 Tagesspiegel, 10.4.1956. 18 Vgl. Hausherr: Eine Reise nach Berlin im Jahr 1956. 19 Vgl. Kurme: Halbstarke, S. 218-221; Schlußbericht vom 25.2.1957, PSB, Ordner »Sportpalastkrawall am 26. Oktober 1958/Afrikanische Str.«; Grotum: Die Halbstarken, S. 81-83.
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Trotz der genannten Zwischenfälle ging die Berliner Kriminalpolizei für die Zeit von April bis Oktober 1956 davon aus, dass »noch keine Ausschreitung Jugendlicher durch die Jazz-Musik selbst ausgelöst worden« sei.20 Für die Folgezeit bis Ende 1957 konnten schließlich zwölf Entgleisungen im Zusammenhang mit Rock’n’Roll-Veranstaltungen gezählt werden, so dass geschlossen wurde, »dass ›heiße Musik‹ Jugendliche in weitaus stärkerem Maße zu einer Beteiligung an Ausschreitungen veranlaßt«21 habe. Kaputte Stühle und Scheiben wurden beklagt, eine Verweigerungshaltung der Jugendlichen beobachtet und die Fortsetzung des Radaus auf der Straße – mit Verkehrsbehinderungen, Beschädigungen und Belästigungen – konstatiert. Bereits in geringfügigen Normabweichungen – wie das Tanzen während einer Rock’n’Roll-Darbietung – sah man eine grundsätzliche Bedrohung der bürgerlichen Ordnung. Diese Sichtweise war keineswegs auf die Polizei beschränkt. Auch (studentische) Ordner oder Journalisten hielten den Bewegungsdrang der Jugendlichen für eine Regelverletzung des Ablaufs einer »konzertmäßigen Veranstaltung« in den 1950er Jahren.22 Die bis zu diesem Zeitpunkt schwersten Jugendausschreitungen in Berlin fanden am 30. März 1957 im Rundbau am Zoo (Budapester Str.) im Kontext eines Rock’n’Roll-Konzerts statt. Es erfolgte ein vorzeitiger Abbruch der Veranstaltung, da mehrfach Gruppen Jugendlicher auf die Sitzbänke gestiegen waren und sich im Rhythmus der Musik bewegt hatten. Dabei zerbrachen einige Sitzbretter. Die Empörung über den Abbruch führte schließlich zu weiteren Zerstörungen und tumultartigen Szenen. An den Ausschreitungen beteiligten sich etwa 200 der insgesamt 1.500 Jugendlichen, die das Konzert besucht hatten. Es entstand ein Sachschaden in Höhe von 3.000 bis 4.000 D-Mark, elf Jugendliche – darunter ein Mädchen – wurden festgenommen.23 Die genannten Vorfälle belegen, dass die Auseinandersetzungen zwischen jugendlichem Publikum und der Polizei im Zusammenhang mit Musikveranstaltungen keineswegs erst mit dem Auftritt von Bill Haley in Berlin begannen. Auch die Behauptung, dass Jazz-Anhänger im Gegensatz zur Fangemeinde des Rock’n’Roll grundsätzlich nicht zu Krawallen neigten, ist unzutreffend.
20 Berliner Kriminalpolizei: Jugendausschreitungen, S. 36. 21 Berliner Kriminalpolizei: Zweiter Bericht, S. 16. 22 Vgl. z. B. Die Zeit, 31.10.1958. 23 Vgl. Berliner Kriminalpolizei: Zweiter Bericht, S. 29 f.; PSB, Bildmappe »Jugendausschreitungen im Rundbau am Zoo am 30.3.1957«.
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Angekündigt wurde die Bill-Haley-Tournee bereits Ende November 1956, und zwar durch Hannes Flesner, bei der Hamburger Bild-Zeitung mit dem Aufbau des Ressorts Unterhaltung/Leichte Muse betraut. Er vermeldete, lediglich der Termin stehe noch nicht fest.24 Der Zeitpunkt der Ankündigung war geschickt gewählt. Seit Kurzem lief der Film Außer Rand und Band (Teil 1) in den Kinos und sorgte nicht nur für ausverkaufte Vorstellungen, sondern auch für Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Kinobesuchern und der Polizei.25 Es sollte aber noch knapp zwei Jahre dauern, bis ein Haley-Konzert in Hamburg stattfand. Frankfurt a. M./Wiesbaden (23.10.1958) Am 23. Oktober 1958 sollte um 19 Uhr die Deutschland-Tournee von Bill Haley in Frankfurt am Main beginnen. Als sich der Vorhang im »Film-Palast« hob, war ein »Lärm [zu hören], als würden riesige Blechplatten abgeladen.« Dieses Urteil bezog sich auf die Darbietungen der Kurt Edelhagen Kapelle, die offensichtlich beim jugendlichen Publikum gut ankam. Schon jetzt »geriet das Auditorium in einen Zustand der Besinnungslosigkeit.«26 Dies steigerte sich zu einem »Orkan«, als Bill Haley mit seinen sechs Comets auf der Bühne erschien. Der Boden bebte, die Menge trampelte, schrie und pfiff. Bill Haley war so gut wie nicht zu verstehen. Zur Sicherheit war im Hintergrund eine halbe Hundertschaft der Polizei anwesend, die aber nicht eingreifen musste. Die Bestuhlung am Veranstaltungsort war fest montiert, so dass sie nicht während des Konzerts zerstört werden konnte. Auch im Vorfeld hatte man Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Vor dem »Film-Palast« waren Eisengatter aufgestellt. So sollten die zu Hunderten versammelten »Lederbewamste[n]«27 gebändigt werden, die gekommen waren, um eine von den zu Schwarzmarktpreisen angebotenen Eintrittskarten zu erhalten. Etwa 3.000 Besucher gelangten schließlich in den »Film-Palast«. Bereits am ersten Tag gab es Probleme beim Einhalten des Zeitplans. Das für 21.15 Uhr angekündigte Konzert in der Wiesbadener »Rhein-Main-Halle« konnte nicht pünktlich beginnen. Die etwa 3.700 Besucher warteten voller Unruhe, als der Hausherr, Direktor Arnulf Stenger, schließlich ans Mikrofon trat:
24 Vgl. Bild-Zeitung, 24.11.1956. Vgl. ferner Jürgens: Gröön-Bohnen-Rock’n’Roll, S. 27-52, bes. S. 44. 25 Vgl. Wensierski: »Die Anderen nannten uns Halbstarke«, bes. S. 104-107. 26 Frankfurter Neue Presse, 24.10.1958. 27 Frankfurter Neue Presse (Nachtausgabe), 24.10.1958.
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»21.20 Uhr. […] ›Leider verzögert sich …‹ Ohrenbetäubendes Johlen. ›… der Beginn unseres Abends, liebe Jazzfreunde …‹ Empfindliche Trommelfelle leiden Höllenqualen. ›… um zehn Minuten. Seid vernünftig und macht bitte keinen Krach …‹ Urwaldgebrüll. ›Seid doch ruuuhisch …‹ Stenger sagt das wie ein Papa zu seinen Kinderchen. Es wirkt.«28
Auch in Wiesbaden kam die Vorgruppe beim jugendlichen Publikum sehr gut an. »[E]chte Begeisterung« machte sich unter den »Krawallwütigen« breit, obwohl »edle[r] Jazz« geboten wurde – so einer der zahlreich anwesenden Journalisten später im Wiesbadener Kurier.29 Als besonderes Problem wurden die großen Glasflächen der erst 1957 eingeweihten »Rhein-Main-Halle« empfunden, so dass ein Netz von 101 Polizisten zu Fuß und zu Pferde, in Uniform und in Zivil, das Objekt gegen einen möglichen »Abbruch im Rock-’n-Roll-Takt« schützte.30 Die Bilanz fiel positiv aus: Mit Ausnahme eines Blumenkübels und einiger demolierter Außengeländer kam es zu keinen weiteren Sachschäden. Die überschwängliche Energie während des Auftritts von Bill Haley – auch in der hessischen Landeshauptstadt steigerte sich der Lärmpegel dermaßen, dass irgendwann die sieben Musiker nur noch zu sehen waren – hatte die Polizei fest im Griff. Sobald ein junges Paar vor der Bühnen zu tanzen begann, sprangen Beamte hinter den Vorhängen hervor und nahmen das Pärchen mit. Unkontrollierter Massentanz sollte unbedingt verhindert werden. Zum Ende des Konzerts wurde es noch einmal brenzlig. Nachdem Bill Haley und seine Musiker die Bühne nach dem letzten Stück (dem Hit Rock around the Clock) verlassen hatten, forderte das jugendliche Publikum ganz selbstverständlich eine Zugabe. Anstelle des Rock’n’Roll-Stars sahen sich die Massen aber einer aufmarschierten Kette von Uniformierten unmittelbar vor der Bühne gegenüber. Die Stimmung kippte und der Ärger der enttäuschten Fans drohte sich gegen die Beamten zu richten. Dies registrierte auch die Polizeiführung und zog die Beamten deshalb sofort wieder zurück. Der erste Tournee-Tag in Deutschland endete so mit zwei im Großen und Ganzen friedlich verlaufenen Konzerten in Hessen. Karlsruhe/Mannheim (24.10.1958) Am darauffolgenden Freitagabend konnten zunächst – wie es in einer Ankündigung hieß – »die Karlsruher Jazz-Fans im Rahmen des Schicklichen außer Rand
28 Wiesbadener Kurier, 25.10.1958. 29 Ebd. 30 Ebd.
26 | T HOMAS G ROTUM und Band […] geraten«.31 Das anfangs für 20 Uhr angekündigte Konzert begann um 19 Uhr in der »Schwarzwaldhalle« – schließlich standen an diesem Abend wieder zwei Termine in unterschiedlichen Städten auf dem Programm.32 Am Montagmorgen konnte man in der Lokalzeitung Badische Neueste Nachrichten lesen, »in welcher undiskutablen Ganovenmanier die Karlsruher Halbstarkenwelt sich aufführte, […] wie da selbst die Musiker (denen man doch gleichzeitig fanatische Verehrung zollt!) vor den unangenehmsten Belästigungen nicht sicher waren«. Darüber hinaus erwähnte der Redakteur »das verdreckte Podium, die umgeworfenen Tische in der Vorhalle, das Gröhlen und Toben der Menge«.33 Mit einer gewissen Schadenfreude kommentierte der Wiesbadener Kurier das als naiv bewertete Vorgehen in Karlsruhe, routinemäßig nur sechs Polizeibeamte vor und in der »Schwarzwaldhalle« einzusetzen. So konnte ein angeblich etliche tausend Mark teurer Sachschaden (eingeworfene bzw. eingedrückte Fensterscheiben, zertrümmerte Blumentöpfe und Stühle) nicht verhindert werden.34 Die unbeschreiblichen Begeisterungsausbrüche und Tanzeinlagen in den Seitengängen wurden – möglicherweise aufgrund fehlenden Ordnungspersonals – noch toleriert. Als aber zahlreiche Jugendliche vor die Bühne drängten und Gegenstände auf das Podium warfen, war es nur der Besonnenheit der Musiker und der Platzordner zu verdanken, dass die Veranstaltung zu Ende geführt werden konnte. Erst die Drohung, das Konzert abzubrechen, führte dazu, dass die Randalierer vor der Bühne von weiteren Aktionen Abstand nahmen.35 Im Mannheimer »Universum« warteten derweil die Massen schon ungeduldig. Mit 20 Minuten Verspätung eröffnete Kurt Edelhagen das Konzert. Das jugendliche Publikum – in Pullovern »bis zum Knie« und knallfarbenen Jacken – war begeistert. Selbst die Clownerien des Bill Ramsey gefielen ihnen. Bemerkenswert positiv schnitt auch Bill Haley im Bericht der Rhein-Neckar-Zeitung ab: »Haley ist sympathisch, und er kann etwas.« Zwar fragte sich der Autor, warum der Balkon im Kino angesichts des Stampfens der »hottenden« Füße nicht eingestürzt sei, zeigte aber gleichzeitig Verständnis für das wilde Herumtollen der ausgezeichneten Comets, als er betonte, dass der »Geschmack der modernen, ›states‹ imitierenden Jugend« berücksichtigt werden müsse.36 Sein Kollege vom Mannheimer Morgen sah in dem Gastspiel »weniger eine musikalische Darbietung als vielmehr echte körperliche Schwerarbeit«. Und wenn dann je31 Badische Neueste Nachrichten, 21.10.1958. 32 Vgl. ebd., 24.10.1958. 33 Ebd., 27.10.1958. 34 Vgl. Wiesbadener Kurier, 28.10.1958. 35 Vgl. Rhein-Neckar-Zeitung, 27.10.1958. 36 Ebd.
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mand wie der Gitarrist Franny Beecher in seinen Augen sogar gut spielte, konnte man die akustischen Darbietungen angesichts des begeisterten Schreiens, Pfeifens und Johlens kaum wahrnehmen. Insgesamt tat er das Konzert als pubertäres Gehabe ab, indem er sich zunächst über die Texte lustig machte (»Wir sehen uns später noch, Krokodil« als Übersetzung von »See you later alligator«) und resümierte: »[W]er über 20 ist und über Bill Haleys Schau noch in begeisternde Ekstase ausbricht, ist in seiner Entwicklung wahrlich etwas zurückgeblieben.« 37 Im Heidelberger Tageblatt gipfelte die Berichterstattung über den Abend in der Feststellung, dass »der Sache der Jazzmusik […] ein schlechter Dienst erwiesen« worden sei, weil ein angesehener Interpret des »echten« Jazz mit »rörenden [sic!] und tingelnden ›Kollegen‹« paktiert habe.38 Der Abend verlief übrigens ruhig. Die Polizei erschien mit fünf Mannschafts- und vier Peterwagen, die eingesetzten Kriminalbeamten brauchten nicht einzugreifen. Die Sachversicherung über 30.000 D-Mark musste nicht in Anspruch genommen werden. Lediglich einige hartnäckige Fans belagerten bis Mitternacht den Eingangsbereich des Hotels »Mannheimer Hof«, um ein Autogramm zu erhalten.39 Wuppertal/Düsseldorf (25.10.1958) Der Bericht über das ausverkaufte Bill-Haley-Konzert im »Thalia«-Theater (Wuppertal) im Generalanzeiger Wuppertal fiel insgesamt recht knapp aus. Der Rezensent lobte die »hervorragenden Leistungen«, hob das Können einzelner Musiker heraus und erwähnte besonders gelungene Arrangements. Allerdings bezogen sich diese Ausführungen auf die Vorgruppe, nämlich Kurt Edelhagen und sein Orchester. Zu seinem Bedauern bot Edelhagen keines der für ihn typischen Modern-Jazz-Stücke. Dem Mitwirken des amerikanischen Schlagersängers Bill Ramsey, das als Zugeständnis an das Rock’n’Roll-Publikum gewertet wurde, konnte wenigsten bei dem Lied When The Saints Go Marching In etwas Gutes abgewonnen werden: »Ramsey und einige Solisten von Edelhagen [fanden] zu einem echten, urwüchsigen Dixieland zusammen.«40 Unerwähnt blieb, dass es die Vorgruppe insgesamt schwer hatte und die Rock’n’Roll-Fans pfiffen, johlten und ständig nach Bill Haley riefen. Auch Bill Ramsey fand keine Gnade beim Publikum.41 37 Mannheimer Morgen, 27.10.1958. 38 Heidelberger Tageblatt, 30.10.1958. 39 Vgl. Mannheimer Morgen, 27.10.1958. 40 Generalanzeiger Wuppertal, 27.10.1958. 41 Vgl. Jürgen Eschmann: Rock Around The Clock bis zum Eisernen Vorhang. Bill Haley im Thalia, in: Koep: Thalia, S. 136.
28 | T HOMAS G ROTUM »Dann kam er – endlich! Der Jubelsturm zur Begrüßung geriet zum Orkan. […] Al Rex turnte auf seinem Baß, Rudy Pompilli, der legendäre Saxophonist mit der dicken Brille, zeigte Verrenkungen, die jedem Schlangenmenschen zur Ehre gereicht hätten, und Bill Haley sang sich die Seele aus dem Leib. – Nur akustisch verstand man ihn kaum!«42
Dies schien aber niemanden zu stören, denn trotz der aufgeheizten Stimmung kam es zu keinerlei Zerstörungen. Vorsorglich ließ die Theaterleitung nach dem letzten Lied den Eisernen Vorhang herunter. Die zahlreich aufmarschierten Ordnungshüter kamen nicht zum Einsatz. Die zufriedenen Fans zogen friedlich ab. Über das Konzert am Abend in Düsseldorf ist wenig bekannt. Insgesamt 3.900 Besucher43 hatten sich im »Apollo«-Theater (Ecke Königsallee/Adersstraße) zur »Mitternachtsveranstaltung mit Bill Haley« versammelt. 44 Der Andrang war so groß, dass die Polizei die Notausgänge abriegeln musste, weil Fans ohne Eintrittskarte immer wieder versuchten, Einlass zu erlangen. Bill Haley selbst konnte nur in einem Funkstreifenwagen der Polizei den Weg vom Hotel zum Veranstaltungsort zurücklegen. Zu tumultartigen Szenen muss es gekommen sein, als die Musiker die Bühne ohne Zugabe verlassen hatten. In der Nacht umlagerten hunderte Anhänger das Hotel, um den Superstar noch einmal zu sehen. Berlin (26.10.1958) Das Bill-Haley-Konzert im Berliner »Sportpalast« am 26. Oktober 1958 gilt als der »Halbstarken«-Krawall, bei dem der größte Sachschaden entstanden ist. Etwa 7.000 Besucher füllten die Veranstaltungshalle an jenem Tag. Mehrere hundert Jugendliche, die keine Eintrittskarte bekommen hatten, stürmten vor Konzertbeginn die Eingangstore. Die Vorgruppe – Kurt Edelhagen und sein Orchester – wurde ausgepfiffen. Nach zehn Minuten war die Band gezwungen, das Podium zu räumen, da die Musiker attackiert worden waren. Jugendliche nahmen die Bühne in Beschlag, um dort Rock’n’Roll zu tanzen. Nach einer knappen Stunde trat dann Bill Haley auf. Die wahren Begeisterungsstürme, die die Musik auslöste, drohten in einen Tumult überzugehen, nachdem im Publikum Raketen und Knallkörper abgefeuert worden waren. Etwa 100 Jugendliche drängten von hinten direkt zur Bühne. Bill Haley brach daraufhin das Konzert ab. Dies führte dazu, dass aus dem Interieur »Kleinholz« gemacht wurde. Die Instrumente, darunter ein Konzertflügel im Wert von 7.000 D-Mark, wurden demoliert. Eine
42 Ebd. Anstelle von Al Rex spielte Al Pompilli den Bass während der Tournee. 43 Vgl. Bayerische Staatszeitung, 21.11.1958. 44 Düsseldorfer Nachrichten, 27.10.1958.
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Hundertschaft der Polizei ging gegen die randalierende Menge vor. Als nach zwei Stunden die Halle geräumt war, zog man Bilanz: 20 Besucher und fünf Polizisten waren verletzt, 18 Jugendliche hatte man festgenommen. Die Veranstalter schätzten den Schaden auf 50.000 D-Mark.45 Ausgesprochen umfangreiche Ermittlungen führten in Berlin schließlich zu einem Prozess gegen zehn Jugendliche. Das Urteil erging am 11. Juni 1959 vor der 9. Großen Strafkammer (Jugendkammer) des Landgerichts Berlin. Das Gericht verhängte eine Jugendstrafe von acht Monaten auf Bewährung, sieben Freizeitarreste zwischen zwei und vier Wochen, verwarnte einen Jugendlichen in Verbindung mit einem Bußgeld in Höhe von 20 D-Mark und sprach einen Angeklagten frei.46 Abbildung 1: Bill-Haley-Konzert im Berliner Sportpalast
Quelle: PSB, Bildmappe »Jugendausschreitungen im Berliner Sportpalast anlässlich des Bill Haley-Konzerts am 26.10.1958« 45 Vgl. Kraushaar: Protest-Chronik, Bd. III, S. 2017 f.; Kurme: Halbstarke, S. 213-215. PSB, Ordner »Sportpalast-Krawall am 26.10.1958/Afrikanische Str.« und drei Bildmappen »Jugendausschreitungen im Berliner Sportpalast anlässlich des Bill HaleyKonzerts am 26.10.1958« sowie DHPol/PS, Ordner 28: »Psychologie akuter Masse (1958)« und Ordner 35: »Jugendausschreitungen 26.10.1958 Berlin Sportpalast«. 46 Vgl. Urteil vom 11.6.1959, DHPol/PS, Ordner 35.
30 | T HOMAS G ROTUM Hamburg (27.10.1958) Als Polizeikommissar Werner Giese seine Gedanken über den Verlauf, die Ursachen und die Hintergründe der »Saalschlacht« während des Louis-ArmstrongKonzerts am 17. Oktober 1955 in Hamburg niederschrieb und in der Zeitschrift Die Polizei veröffentlichte47, konnte er nicht ahnen, dass es drei Jahre später zu einem ähnlichen Ereignis in der Hansestadt kommen sollte: Bill Haley spielte am 27. Oktober 1958 in der »Ernst-Merck-Halle« und die etwa 6.000 (zumeist jugendlichen) Zuhörer tobten. Die Veranstaltung endete in einem »Rock’n’RollKrawall«. Giese bilanzierte auch diesen Vorfall in der Zeitschrift Die Polizei48, die kurz zuvor eine Nachlese auf die scheinbar überwundene Welle der »Halbstarken«-Krawalle geboten hatte.49 Trotz der festgestellten Parallelität der Ereignisse in den Jahren 1955 und 1958 – das Publikum unterschied sich laut Analyse am Ausgangspunkt der Ausschreitungen sowie im massenpsychologisch beeinflussten Ablauf während beider Konzerte nicht – kam der Autor zu abweichenden Bewertungen. Nach dem Armstrong-Konzert 1955 wollte er das Verhalten der jugendlichen »Jazz-Fans« auf keinen Fall verallgemeinern. Er bemängelte das Fehlen »echter Vorbilder« für die Jugend: »Die Polizei hat die Möglichkeit, zu diesem Vorbilde beizutragen durch männliche Selbstbeherrschung, Güte und Verständnis, aber auch durch Korrektheit und Disziplin in Ausübung von Gewalt und Strenge.«50 Drei Jahre später betonte er die neue Erkenntnis, dass man während des BillHaley-Konzerts offenbar kleine, organisierte Gruppen beobachtet habe, die nicht der Musik wegen, sondern zur Entfesselung eines Skandals gekommen seien. Nach der Beurteilung handelte es sich nicht mehr um bedauernswerte, von der Erwachsenenwelt vernachlässigte Jugendliche der Nachkriegszeit, sondern um »Rowdys«, »Rüpel« und »Spinner«.51 Beide Konzerte wurden vor dem geplanten Ende abgebrochen, und zwar ohne zwingenden Anlass. Die jugendlichen Besucher fühlten sich betrogen und
47 Werner Giese: Polizei und jugendliche Masse (Gedanken über eine Massenhysterie), in: Die Polizei. Polizei-Praxis 47 (1956) 9/10, S. 108-111. 48 Werner Giese: Noch einmal »Krawalle Jugendlicher«. Sturm um Bill Haley, in: Die Polizei. Polizei-Praxis 50 (1959) 3, S. 44-46. 49 Vgl. Fritz Stiebitz: Die sogenannten »Halbstarkenkrawalle« – eine Nachlese, in: Die Polizei. Polizei-Praxis 49 (1958) 21, S. 250-252. 50 Giese: Polizei und jugendliche Masse, S. 111. 51 Vgl. Giese: Noch einmal »Krawalle Jugendlicher«, S. 45 f.
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brachten dies mit Sprechchören auch zum Ausdruck. In dieser Situation waren für den erfahrenen Polizeibeamten typische Einfluss- und Äußerungsformen einer »akuten Masse« zu beobachten: »Beharrungsvermögen, Nichtachtung von Autorität, falsches Heldentum, wirksame Akustik, primitives Angebertum, tätlicher Widerstand als Sport, Freude am Zerstören, Kraftmeierei, Schwund der eigenen Kontrolle und ähnliches«.52 Tumultartige Szenen mit verletzten Personen und Sachschaden waren die Folge. Der entstandene Schaden in der »Ernst-Merck-Halle« wurde in einem Polizeibericht des Folgetages auf 2.000 D-Mark (75 Stühle und diverse Fensterscheiben) geschätzt. Während der Räumung des Ausstellungsgeländes »Planten un Blomen« kam es an der benachbarten »Halle der Nationen« zu weiteren Sachschäden, die mit insgesamt ungefähr 8.000 D-Mark beziffert wurden.53 In der Chronik der zuständigen Polizei-Revier-Wache 103 wurden die männlichen Jugendlichen als »Störer der demokratischen Ordnung«54 bezeichnet. Essen (28.10.1958) »Gruga-Halle steht noch!« – so titelte die Neue Ruhrzeitung am 29. Oktober 1958. 55 In dem erst eine Woche zuvor eingeweihten Veranstaltungsbau war am Abend zuvor Bill Haley zu Gast.56 Nach den Ereignissen in Berlin und Hamburg war die Sorge groß, dass sich Ähnliches in Essen wiederholen könnte. Entsprechend wurden die Polizeikräfte durch eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei verstärkt (insgesamt waren mehr als 500 Beamte vor Ort). Die Veranstaltung war mit 7.500 jugendlichen Besuchern fast ausverkauft. Diese warteten auf Bill 52 Giese: Noch einmal »Krawalle Jugendlicher«, S. 46; Vgl. ferner Bondy/Braden/Cohen/Eyferth: Jugendliche stören die Ordnung, S. 39 f.; Weinhauer: Schutzpolizei, S. 278-283. 53 Staatsarchiv Hamburg (StA HH), 331-1 II (Polizeibehörde II), 661, Bericht über die besonderen Vorkommnisse anläßlich der Jazz-Veranstaltung Bill Haley/Kurt Edelhagen am 27.10.1958 in der Ernst-Merck-Halle vom 28.10.1958. 54 StA HH, 331-1 II (Polizeibehörde II), 433, I (Chronik der Polizei-Revier-Wache 103), Eintrag 27.10.1958. Eine ähnliche Sichtweise findet sich im Urteil vom 13.12.1956 im Verfahren gegen 44 Jugendliche vor der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Hannover; vgl. Grotum: Die Halbstarken, S. 176. 55 Neue Ruhrzeitung, 29.10.1958. 56 Zur Grugahalle vgl. Köster: 50 Jahre Grugahalle Essen. Zur Veranstaltung vgl. Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 783, Nr. 62, Bl. 66 f.; Neue Ruhrzeitung, 29.10.1958; Neue Rheinzeitung, 30.10.1958; Ebner: Bill Haley in Essen 1958; Bravo 47/1958, 18.11.1958, S. 3-5; Kraushaar: Protest-Chronik, Bd. III S. 2020 f.
32 | T HOMAS G ROTUM Haley, so dass Kurt Edelhagen und sein Orchester es wieder schwer hatten. Zaghaftes Pfeifen und geringe Aufmerksamkeit, so die allgemeine Reaktion – trotz aller Bemühungen, »flotte Musik« zu bieten. Bereits beim Einlass in die Halle waren lange Schlangen entstanden, da nur wenige Kartenabreißer (jeweils flankiert von einem Polizeibeamten) zur Verfügung standen. Die Bestuhlung bestand aus zusammengeschraubten und am Boden verankerten Stuhlreihen, von denen jeweils drei durch breite Gänge voneinander getrennt waren. Die Bühne war recht niedrig. Auf den äußeren Blöcken verfolgten Uniformierte der Bereitschaftspolizei das Konzert. Die Stimmung kochte, als Bill Haley and his Comets mit dem Lied The Saints Rock’n’Roll loslegten. Noch saßen alle auf ihren Stühlen. Fotografen, auch private, wurden von den Ordnern nach vorne gelassen, um ihre Aufnahmen machen zu können. Etwas seltsam wirkte die Ansage, dass Bill Haley sich auf Essen freue »und hoffe, die rheinische Fröhlichkeit durch begeistertes Mitmachen zu erleben«.57 Gleichzeitig wurde dazu aufgefordert, bloß nicht aufzustehen! Doch irgendwann standen die ersten auf. Ein Paar tanzte in einem der breiten Gänge zwischen den Stuhlreihen einen Jitterbug.58 Ordner, unterstützt durch einzelne Polizisten, versuchten, dies zu verhindern. Doch weitere Tänzer folgten. Der Hallensprecher ermahnte: »Bleibt sitzen!« Keine Chance. Es folgte eine weitere Ansage: »Liebe Haley-Freunde, bleibt doch bitte sitzen – sonst kann Bill nicht arbeiten!« Dann kam der Hit Rock around the Clock und es gab kein Halten mehr. Vor der Bühne bildete sich eine Menge aus einzeln und paarweise tanzenden Jugendlichen, Fotografen, Ordnern und Polizisten. Auch in den Gängen wurde getanzt. Jetzt schien der Augenblick gekommen, in dem die Polizeiführung die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet sah. Bill Haley beendete das Konzert. Die jugendlichen Zuhörer forderten eine Zugabe: »Haley, Haley, Haley« tönte es durch die Halle und etwa 100 Jugendliche drängten zum Podium. Doch dann wurde über Lautsprecher die Räumung der Halle angewiesen. Zwei Polizeiblöcke rückten vor und drängten die Jugendlichen aus der Halle. Stuhlreihen kippten um. Der Platz vor der Halle, auf dem sich noch etwa 300 bis 400 Jugendliche befanden, wurde durch Polizeikräfte unter Einsatz eines Wasserwerfers geräumt, nachdem es zu vereinzelten Steinwürfen gekommen und eine Fensterscheibe zu Bruch gegangen war. Acht Jugendliche wurden festgenommen. Die anwesenden politischen Vertreter der Stadt bewerteten das 57 Neue Ruhrzeitung, 29.10.1958. 58 Der Jitterbug gehört zu den Swing-Tänzen und war Vorläufer des Boogie-Woogie. Im Jahr 1955 rangierten diese modernen artistischen Tänze in der Gunst der westdeutschen Jugend jedoch deutlich hinter den Klassikern wie Walzer, Tango oder Foxtrott; vgl. Fröhner: Wie stark sind die Halbstarken?, S. 95 f. und S. 266-269.
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Vorgehen der Ordnungshüter sehr kritisch. Bürgermeister Werner Lipa (SPD) sprach von einem »unmöglichen Einsatz der Polizei« und beurteilte das Agieren als »völlig falsch – so kann man’s nicht machen!«59. Sein Kollege von der FDP, Dr. Anton Pauly, kommentierte: »Psychologisch völlig falsch!«60 – und musste aufgrund dieser kritischen Sichtweise einem Uniformierten Name und Anschrift nennen. Der Autor des Artikels »Rock’n’Roll macht alle verrückt« in der Neuen Rheinzeitung kam auf eine ganz einfache Lösung: »Doch laßt die Jugend toben. Und laßt den Bill im Sommer gastieren. Im Freien. Dort, wo es keine Stühle gibt.«61 Stuttgart (29.10.1958) Auch der Bill-Haley-Auftritt am 29. Oktober 1958 in Stuttgart erregte große Aufmerksamkeit. Bereits im Vorfeld hatte man für das letzte Konzert in Deutschland zwei Hundertschaften der Bereitschaftspolizei (302 Beamte mit 55 Fahrzeugen) angefordert. Die über 5.000 meist jugendlichen Besucher mussten schon vor dem Betreten der Halle auf dem Stuttgarter Killesberg die Polizeieinheiten passieren. Die Bühne war diesmal besonders hoch, so dass eine Erstürmung ausgeschlossen werden konnte. Mit Ausnahme der problemlosen Räumung eines der Hallendächer verlief die Veranstaltung, »abgesehen von dem bei solchen Anlässen üblichen Gejohle und Gepfeife, im wesentlichen ruhig«, so die Einschätzung der Polizei.62 Nach Ende des Konzerts räumten zwei Züge der Bereitschaftspolizei die Halle innerhalb weniger Minuten und nahmen hierbei vier Personen fest. Im polizeilichen Abschlussbericht ist von 25 bis 30, in einem Fernsehbeitrag der SDR-Abendschau über das Konzert von 53 zerbrochenen Stühlen die Rede. Andere Beschädigungen wurden nicht festgestellt. Was blieb, war eine Rechnung in Höhe von 1.265 D-Mark für den Großeinsatz der Polizei. Diese wurde schließlich im Mai 1959 von der Stadt Stuttgart beglichen.
»R OCK ’ N ’R OLL P ANIC « Die »Rock’n’Roll Panic« bewegte sich auf unterschiedlichen Ebenen. In den hier analysierten Zeitungsartikeln äußerten sich die Verfasser – von einer Ausnahme
59 Zit. n.: Neue Ruhrzeitung, 29.10.1958. 60 Zit. n.: ebd. 61 Neue Rheinzeitung, 30.10.1958. 62 Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA 2/303 Bü 1950, Bl. 644.
34 | T HOMAS G ROTUM abgesehen – skeptisch bis ablehnend gegenüber dem Rock’n’Roll. Dem Jazz (Kurt Edelhagen) standen sie deutlich positiver gegenüber. Dies ist nicht verwunderlich, da die Feuilletonisten in der Regel den Bildungsschichten entstammten. Insbesondere Oberschüler und Studenten hatten in den 1950er Jahren eine Vorliebe für Cool und Modern Jazz, die teilweise mit einer Orientierung am französischen Existentialismus einherging. In ihrer coolen und legeren Art hoben sie sich von dem aggressiv-körperbetonten Auftreten der »halbstarken Rock’n’Roller« ab.63 In kulturpessimistischer und amerikakritischer Perspektive äußerten sich zahlreiche bürgerlich-konservative Autoren in den 1950er Jahren über das »Halbstarken«-Phänomen. 64 Dabei bewerteten sie nicht nur die »heiße Musik« als banalen Kitsch oder Krach, sondern sahen in den »Halbstarken« den Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung, die es zu unterbinden galt.65 In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre nutzten insbesondere männliche Jugendliche aus dem Arbeitermilieu die Möglichkeiten, die ihnen in den Bereichen Freizeit, Konsum und Massenmedien geboten wurden, und reagierten mit der Herausbildung einer eigenständigen Jugend(sub)kultur. Ihre Stilmittel entnahmen sie der US-amerikanischen Populärkultur, und zwar der jungen und eher als vulgär empfundenen Strömung (Rock’n’Roll, Blue Jeans etc.). Ihr Habitus zeichnete sich durch eine Mischung aus Lässigkeit und Aggressivität aus. Die Selbststilisierung der »Halbstarken« wurde dabei als Kampfansage an den Hegemonieanspruch bürgerlicher Verhaltensnormen interpretiert. Den Einfluss des Rock’n’Rolls betrachtete man gar als ausgesprochen schädlich.66 Dies bezog sich nicht nur auf die Musik an sich, sondern auch auf die Formen der Begeisterung, die »erotische[n] Ausschreitungen« beim Tanzen.67 Die Körperlichkeit, die sich sowohl im Tanzstil als auch in der Kleidung (enge Hosen, aufgeknöpfte Hemden) manifestierte, erschien als moralisch-kulturelle Bedrohung. Während Pädagogen, Politiker, Journalisten, Juristen, Soziologen und engagierte Bürger seit 1956 ausführlich über die Jugend diskutierten, sah sich die Polizei in den bundesrepublikanischen Großstädten unmittelbar mit den Ansammlungen konfrontiert. Ihr Handlungskonzept orientierte sich an dem psychologi63 Vgl. auch Krüger: »Exis, habe ich keine gesehen«. Zur Nähe des Jazz zum Bildungsbürgertum vgl. Zinnecker: Jugendkultur 1940-1985, S. 162. 64 Zu den »Halbstarken« vgl. Maase: BRAVO Amerika; Grotum: Die Halbstarken; Schildt: Moderne Zeiten; sowie die Studien aus den 1950er Jahren: Kaiser: Randalierende Jugend; Bondy/Braden/Cohen/Eyferth: Jugendliche stören. 65 Vgl. Grotum: Die Halbstarken, S. 145-160. 66 Vgl. etwa Fridl Schröder: Gefahr und Not der Halbstarken, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 8 (1956) 17, S. 326-328, hier S. 327. 67 Ebd., S. 328.
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schen Stereotyp der »akuten Masse«.68 Hiernach war die Menge in einer solchen Situation mittels Vernunft nicht mehr zu bändigen, sondern nur schnelle und gezielte Eingriffe, insbesondere gegen die Hauptstörer und ihr Umfeld, schienen erfolgversprechend. Die Präsenz von Stärke und Konfrontation waren die bevorzugten Strategien. Vereinzelt versuchte man, durch »Unsichtbarkeit« eine Provokation der jugendlichen Fans zu vermeiden, da laut Kommentatoren die Gegenwart eines massiven Polizeiaufgebots erst der Auslöser für die Auseinandersetzungen gewesen sei. Insgesamt wirkten die polizeilichen Reaktionen oft hilflos und überzogen. Die Beamten wurden sowohl wegen ihres forschen Einschreitens als auch wegen Untätigkeit kritisiert.69 Im Umgang mit einer durch »heiße Musik« aufgepeitschten Menge folgte die Polizei noch lange einer aus der Weimarer Zeit stammenden Einsatztaktik. Im Januar 1964 wurde in München erstmals ein Psychologe bei der Polizei angestellt. Der Stelleninhaber, Rolf Umbach, zweifelte die bis dahin in Polizeikreisen unumstrittene Theorie von der »akuten Masse« sehr bald an.70 Andernorts setzte der Reformprozess erst Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre ein.71 Begreift man »Pop« nicht einfach als Synonym für Populär- oder Massenkultur, sondern sieht darin einen gesellschaftlichen Umbruch, der neue urbane Lebensstile und eine neue (Waren-)Ästhetik etabliert hat72, so waren die jugendlichen Rock’n’Roll-Fans Vorreiter dieser Entwicklung. In Form einer musikbezogenen Jugend(sub)kultur erzielten sie eine bis dahin unbekannte öffentliche Aufmerksamkeit. Insbesondere die medienträchtigen Auseinandersetzungen mit der Polizei trugen hierzu bei. Als Vertreter eines hedonistischen Freizeitverhaltens hatten sie eine gewisse Anziehungskraft für Jugendliche anderer sozialer Schichten, die aber aufgrund ihrer kulturellen Voraussetzungen dem lässig-aggressiven Stil eher distanziert gegenüberstanden. Ab 1958 ist die Etablierung einer neuen, weiblich geprägten Jugendkultur zu beobachten: die Teenager. Diese gemäßigte Form jugendlicher Verhaltensorientierung nahm ein Großteil der Erwachsenenwelt mit Erleichterung auf. Gesellschaftliche Schranken verschoben sich. Zwar mussten einige beteiligte Jugendliche diesen Prozess mit der Kriminalisierung ihres Verhaltens bezahlen, trotz alledem fungierten sie als Trendsetter künftiger Jugendkulturen.73 68 Vgl. Weinhauer: Schutzpolizei, S. 273-277. 69 Vgl. Bayerische Staatszeitung, 21.11.1958. 70 Vgl. Sturm: »Wildgewordene Obrigkeit«?, bes. S. 100 f.; Rolf Umbach: Das Bild von der akuten Masse, in: Die Polizei 56 (1965), S. 109-112. 71 Vgl. Weinhauer: Innere Unruhe. 72 Vgl. Mrozek: Popgeschichte. 73 Vgl. Grotum: Die Halbstarken.
36 | T HOMAS G ROTUM Abschließend sei noch einmal die Ankündigung des »Sportpalast«-Direktors Kraeft aufgenommen, es werde nach den Krawallen vom 26. Oktober 1958 keine Rock’n’Roll-Veranstaltung mehr in seinem Hause geben: Tatsächlich dauerte es bis zum 15. November 1960, bis mit Ted Herold ein (deutscher) Rock’n’Roller im Rahmen der »BRAVO Music-Box mit dem Orchester Max Greger« die Bühne des »Sportpalastes« betrat.74 Als »The King of Twist«, Chubby Checker, am 8. September 1963 in Berlin aufspielte, kam es erneut zu einem Konzertabbruch und einer polizeilichen Räumung des Veranstaltungsortes.75 Doch ab 1967 konnte Kraeft sich dem Trend der Pop-, Beat- und Soulmusik nicht mehr verschließen. Internationale Größen wie die Beach Boys, James Brown, The Bee Gees, Frank Zappa, Jimi Hendrix, Fleetwood Mac, Creedence Clearwater Revival, Pink Floyd, Deep Purple, Uriah Heep und T-Rex gastierten bis zum Abriss des Gebäudes im Jahr 1973. Eine absolute Neuerung vermeldete der Tagesspiegel im März 1970: »In der Mitte des Sportpalastes hatte man einen breiten Teich ohne Bestuhlung gelassen«.76 Während des Pop-Konzerts von Fleetwood Mac am 19. März 1970 bestand zumindest nicht mehr die Gefahr, dass die Fans, die sich im Innenraum aufhielten, sich von den Stühlen erhoben oder diese zertrümmerten. Nichtsdestotrotz gab es weiterhin Schwierigkeiten mit Jugendlichen, die sich ohne Eintrittskarte Zutritt zu Konzerten verschaffen wollten oder vorhatten, die Bühne zu stürmen.77 Polizeieinsätze am und im »Sportpalast« im Zusammenhang mit »moderner Musik« blieben bis zum Ende die Regel.
L ITERATUR Arenhövel, Alfons (Hg.): Arena der Leidenschaften. Der Berliner Sportpalast und seine Veranstaltungen 1910-1973, Berlin: Arenhövel 1990. Bloemeke, Rüdiger: Roll over Beethoven. Wie der Rock’n’Roll nach Deutschland kam, St. Andrä-Wördern: Hannibal 1996. Bondy, Curt/Jan Braden/Rudolf Cohen/Klaus Eyferth: Jugendliche stören die Ordnung. Bericht und Stellungnahme zu den Halbstarkenkrawallen, München: Juventa 1957. Cornelsen, Peter/Harald D. Kain: Bill Haley, Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe 1981.
74 Vgl. Arenhövel (Hg.): Arena der Leidenschaften, S. 493. 75 Vgl. Der Kurier, 9.9.1963. 76 Der Tagesspiegel, 21.3.1970. 77 Vgl. nacht-depesche, 24.4.1970 und Spandauer Volksblatt, 15.6.1971.
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Ebner, Chris: Bill Haley in Essen 1958, in: Rockin‘ Fifties 18 (2001) 79, S. 40 f. Fröhner, Rolf: Wie stark sind die Halbstarken? Beruf und Berufsnot, politische, kulturelle und seelische Probleme der deutschen Jugend im Bundesgebiet und in Westberlin (Jugend zwischen 15 und 24, 3. Untersuchung), Bielefeld: Maria von Stackelberg 1956. Fuchs, Otto: Bill Haley. Vater des Rock’n’Roll, Gelnhausen: Wagner 2008. Ders.: Bill Haley. Father of Rock’n’Roll, Gelnhausen: Wagner 2011. Graves, Barry/Siegfried Schmidt-Joos: Rock-Lexikon, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995 (1990). Grotum, Thomas: Die Halbstarken. Zur Geschichte einer Jugendkultur der 50er Jahre, Frankfurt a.M./New York: Campus 1994. Haley, John W./John von Hoelle: Sound and Glory. The incredible Story of Bill Haley, the Father of Rock’n’Roll and the Music that shook the World, Wilmington, Del.: Dyne-American Publishing 1990. Hausherr, Tilman: Eine Reise nach Berlin im Jahr 1956, http://home.snafu.de/ tilman/Berlin-1956/ (4.1.2013). Jasper, James M.: Moral Panics, in: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Bd. 15, Amsterdam u. a.: Elsevier 2001, S. 1002910033. Jürgens, Werner: Gröön-Bohnen-Rock’n’Roll. Leben und Werk des Hannes Flesner (Ostfriese), Leer: JeJo 2003. Kaiser, Günther: Randalierende Jugend. Eine soziologische und kriminologische Studie über die sogenannten »Halbstarken«, Heidelberg: Quelle & Meyer 1959. Koep, Philipp: Thalia. Ein Hauch von Großstadt. Die Geschichte des ThaliaTheaters in Wuppertal, 2. durchges. Aufl., Wuppertal: Müller und Busmann 1994 (1993). Köster, Michael: 50 Jahre Grugahalle Essen. 1958-2008, Essen: Klartext 2008. Kraushaar, Wolfgang: Die Protest-Chronik 1949-1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie, 4 Bde., Hamburg: Rogner und Bernhard 1996. Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): »Die Elvis-Tolle, die hatte ich mir unauffällig wachsen lassen«. Lebensgeschichte und jugendliche Alltagskultur in den fünfziger Jahren, Opladen: Leske + Budrich 1985. Ders.: »Exis, habe ich keine gesehen« – Auf der Suche nach einer jugendlichen Gegenkultur in den 50er Jahren, in: ders. (Hg.): »Die Elvis-Tolle«, S. 129151. Kurme, Sebastian: Halbstarke. Jugendprotest in den 1950er Jahren in Deutschland und den USA, Frankfurt a. M./New York: Campus 2006.
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Ostersongs gegen die Bombe 62 63, pläne 3 101, 1963 [Single].
Das Stabsmusikkorps der Bundeswehr: Präsentiert das Gewehr. Der große Zapfenstreich mit Kommandos und 12 berühmte Märsche, Philips 840 423 PY, o. J. [LP].
La Nuit de la Nation Jugendkultur, Rock’n’Roll und moral panics im Frankreich der sechziger Jahre F LORENCE T AMAGNE
In den fünfziger Jahren hielt der Rock’n’Roll in Frankreich zuerst in Form von parodistischen Versionen Einzug: von Boris Vian, Danny Boy (Claude Piron), Danyel Gérard und Richard Anthony, dann durch französische Adaptionen amerikanischer Titel, die zu Beginn der sechziger Jahre Johnny Hallyday zum ersten französischen Rock-Star machten.1 Seit seinen Anfängen hatte der Rock’n’Roll eine schlechte Reputation. Schon 1959 assoziierte man mit ihm die Jugendkriminalität der »blousons noirs«, des französischen Äquivalents der britischen Rocker bzw. der deutschen »Halbstarken«. Die »blousons noirs« zeigten ihre Begeisterung für die Rockmusik ebenso offen wie ihre Abneigung gegen den sterilen »Kitsch« der ihnen nachfolgenden Yéyés.2 Ihre Helden waren amerikanische Pioniere wie Elvis Presley oder Gene Vincent oder der britische Rock’n’Roll-Musiker Vince Taylor. Wenn auch manche Jugendbanden Lederjacken trugen, so bleibt die Wortschöpfung »blousons noirs« doch eine Erfindung von Journalisten, die damit ein Klischee aus Musik und Kino aufnahmen, das in Filmen wie The Wild One (1953) oder Saat der Gewalt (1955) sowie durch die
1
Zur Geschichte der Rock-Musik in Frankreich vgl. Looseley: Popular Music; Verlant (Hg.): L’encyclopédie; Dauncey/Cannon (Hg.): Popular Music in France; Guibert: La production; Lebrun: Protest Music.
2
Unter Yéyé verstand man eine Anfang der sechziger Jahre entstandene französische Ausprägung einer überwiegend frankophonen Beat- bzw. Popmusik, deren wichtigste Stars Sylvie Vartan, Françoise Hardy oder Richard Anthony waren, die auch als Idole (»Les Idoles«) vermarktet wurden (Anm. d. Übersetzers).
42 | F LORENCE T AMAGNE Lederkluft von Musikern wie Elvis Presley, Gene Vincent und Vince Taylor geprägt worden war. Von 1959 bis 1964 sorgten die »blousons noirs« regelmäßig für Schlagzeilen über Massenschlägereien, Aggressionen gegen Passanten und Tumulte auf Rockkonzerten. Über fast jeden einzelnen Vorfall wurde berichtet, zumeist ausgiebig und in fetten Lettern, und mit jedem neuen Artikel erschienen diese Vorfälle in noch dramatischerem Licht.3 Ihren Höhepunkt erreichte die kollektive Panik vor dem Rock am 22. Juni 1963 mit der Nuit de la Nation, einem von der Zeitschrift Salut les Copains organisierten Massenspektakel, das rund 150.000 junge Zuschauer anzog. Auf der Bühne standen mit Sylvie Vartan und ihren »copains« [Kumpeln] Johnny Halliday, Richard Anthony, Dick Rivers und Les Chats Sauvages Musiker, die sich auf der Grenze zwischen Rock und Yéyé bewegten.4 Für einen Teil der französischen Presse hieß das Magazin nach diesem Ereignis nicht mehr Salut les Copains [Hallo Kumpels], sondern Salut les voyous [Hallo Strolche].5 Doch allein die schiere Anzahl junger Fans widerlegte eine Interpretation des Phänomens als Problem einer Minorität marginalisierter und krimineller Jugendlicher. Wie aber soll man die ungeheure Faszination verstehen, die der Rock’n’Roll auf die Jugend ausübte? Wie lässt sich das zu beobachtende Phänomen eines kollektiven Kulturpessimismus interpretieren? Welche Lösungen wurden vorgeschlagen, um das Problem einer Jugend in den Griff zu bekommen, die sich augenscheinlich in einer Krise befand? Ich möchte mich am Beispiel der Nuit de la Nation auf drei Aspekte konzentrieren: Zuerst wird aufgrund der Lektüre von zeitgenössischen und bis heute unbekannten Polizeiberichten nachvollzogen, welcher Art die Ereignisse waren, die sich an jenem Abend abspielten und die dazu führten, dass sich rund um den Rock eine veritable moral panic aufbaute. Sodann werde ich die Interpretationen dieses Ereignisses analysieren, die dazu führten, dass die angeblich vom Rock’n’Roll ausgehenden Gefahren als Symptome einer nationalen Krankheit angesehen wurden. Schließlich möchte ich zeigen, dass die Nuit de la Nation in Frankreich die Entstehung eines Bewusstseins für die Existenz einer eigenständigen Jugendkultur markiert, die man zwar zunehmend als legitim ansah, der man zunächst aber noch mit Bevormundung und Restriktionen begegnete. 3
Vgl. Eudeline: Anti-yéyé; Tamagne: Le »blouson noir«.
4
Dieser Artikel basiert auf einem Dossier, das in den Archives de la Préfecture de Police de Paris aufbewahrt wird (APP-FD-Manifestation 22 juin 1963, im Folgenden kurz: APP-FD). Ich danke Olivier Accarie-Pierson, der mir das Dossier zugänglich gemacht hat. Außerdem werte ich die zeitgenössische Presse aus, vor allem das Magazin Salut les copains.
5
Paris-Presse vom 25. und 29. Juni 1963; Minute vom 28. Juni 1963.
L A N UIT DE LA N ATION
»S ALUT LES COPAINS « ODER »S ALUT LES D IE K ONSTRUKTION EINER MORAL PANIC
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VOYOUS «?
Offizieller Anlass für das Concert de la Nation war der Start der 50. Tour de France. Organisiert wurde es vom Generaldirektor des Radrennens, Jacques Goddet, in Zusammenarbeit mit dem privaten Radiosender Europe No. 1, der die Etappen des Rennens mit einem Unterhaltungsprogramm begleitete. Die Lokalzeitung Le Parisien Libéré und die Sportzeitung L’Equipe waren ebenfalls beteiligt. Europe No. 1 hatte Daniel Filipacchi, den Sprecher der erfolgreichen Rundfunksendung Salut les Copains, mit der Programmgestaltung beauftragt. Neben der Schallplatte und dem Kino und mehr noch als das Fernsehen war das Radio das wichtigste Medium des Rock’n’Roll für die Jugendlichen.6 Zwar hörte eine Minderheit Radio Luxemburg auf Englisch und sogar die BBC, doch die Sendung Salut les Copains, die Europe No. 1 seit 1959 ausstrahlte und die Frank Ténot und Daniel Filipacchi moderierten, war das wichtigste Medium für Rockmusik in Frankreich. An sechs Abenden in der Woche versammelte sie rund 1,6 Millionen Jugendliche vor den Lautsprechern. Eine Erweiterung war die Zeitschrift Salut les Copains (SLC), deren Erscheinen im Juli 1962 den Beginn einer Jugendpresse markiert und die bis zu einer Million Exemplare verkaufte. Ein Jahr zuvor, im Juli 1961, hatte Jean-Claude Berthon die Disco-Revue nach dem Vorbild des britischen New Musical Express (NME) gegründet. Während SLC den ersten Platz in der Wertschätzung der jungen Fans der französischen Idole markierte, räumte die Disco-Revue vor allem den amerikanischen Pionieren des Rock’n’Roll Raum ein, später auch der Welle britischer Popmusik.7 Das Concert de la Nation fand am östlichen Stadtrand von Paris auf der Place de la Nation im 12. Bezirk statt, auf der sternförmig mehrere große Straßen zusammentreffen. Es wartete mit einer prestigeträchtigen Besetzung auf, die so ziemlich alle bekannten sowie auch einige weniger bekannte französische Rockmusiker aufbot.8 Die Show sollte um 21 Uhr beginnen und mit einem TwistWettbewerb gegen 0.30 Uhr enden. Ihre Zielgruppe suchten die Organisatoren ganz offenkundig unter den Zuhörern des Senders Europe No. 1. Tatsächlich wurde die Mehrheit des Publikums über Werbespots in der Radiosendung ge-
6
Die von Albert Raisner moderierte Fernsehsendung Age tendre et tête de bois startete 1961.
7
Das Magazin erschien unter drei unterschiedlichen Titeln: Disco-Revue (DR) von 1961 bis 1964, Disco-Revue, le lien international des Rockers (DRI) von 1964 bis 1966, Les Rockers von 1966/67.
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Etwa Danyel Gérard: Les Champions, Les Gam’s.
44 | F LORENCE T AMAGNE wonnen.9 Auf Plakate zur Ankündigung des Konzertes hatte man verzichtet. Dem Sender Europe No. 1 zufolge war allerdings »eine beträchtliche Menschenmenge zu erwarten, da unsere Show von SLC unterstützt wird und alle ›Idole‹ vereinigt.«10 In Abstimmung mit der Polizei wurde die Bühne in der Avenue du Trône auf dem Feld zwischen den Kolonnaden und der Kreuzung der Avenue du Trône, dem Cours de Vincennes, den Boulevards de Picpus und Charonne errichtet; das Publikum wurde über den Cours de Vincennes geleitet, ohne dass Eintritt gezahlt werden musste. Ein Projektionswagen wurde auf der Avenue du Trône dem Publikum gegenüber platziert und der Verkehr im entsprechenden Umkreis stillgelegt. Die Autos der Künstler waren in der Avenue du Trône innerhalb von Absperrungen geparkt worden; die der Zuschauer wurden auf die Freifläche der Place de la Nation umgeleitet.11 Die innerhalb der Absperrungen zur Verfügung stehende Fläche bot 16.000 Quadratmeter, die für die ursprünglich erwarteten etwa zehntausend Zuschauer vorgesehen waren. Doch die Sichtbedingungen waren nicht gut: Die Bühne, in etwa 2,50 Meter Höhe errichtet, war von den Seiten nicht einsehbar, wo Vorhänge und Autos die Sicht einschränkten. Von Europe No. 1 wurde ein Sicherheitsdienst angefordert, der vor allem Beamte rund um den Projektionswagen und im Innern der Absperrungen postierte, um die Zuschauer von den Treppen fernzuhalten, die im hinteren Teil der Bühne für die Künstler als Zugang reserviert waren. Rund 300 geladene Gäste profitierten von einem Extra-Eingang und eigens reservierten Plätzen. Die Polizei hatte die Anwesenheit von rund 50 Polizisten vorgesehen, darunter fünf nicht-motorisierte Einheiten, die den Verkehr regeln und gleichzeitig eine Sicherheitsreserve bilden sollten. Ein kleiner Polizeiwagen war vorgesehen, um die »populärsten Idole« vom Platz zu schaffen, etwa Johnny Hallyday. Trotz dieser Vorkehrungen wurde am Abend des 22. Juni sehr schnell deutlich, dass man den Zustrom der Massen vollkommen unterschätzt hatte. Die Polizei hatte 35.000 bis 40.000 Zuschauer erwartet. Bis 21 Uhr strömten rund 100.000 Personen auf den Platz. Eine Stunde später drängten sich bereits sechs bis acht Personen pro Quadratmeter und einige Zuschauer waren kurz vor dem Ersticken. An manchen Stellen hielten die Absperrungen dem Druck der Menge nicht stand und eine Polizeieinheit sicherte die entstandenen Breschen. Sehr schnell musste Nachschub angefordert werden. Insgesamt wurden 20 Wacheinheiten und zwei Eskadronen der gardes mobiles aufgeboten. Fünf nicht-moto9
Man findet keine einzige Anzeige im Magazin Salut les Copains, obwohl deren erster Geburtstag mit dem Ereignis zusammenfiel. Vermutlich konnte die monatlich erscheinende Zeitschrift nicht rechtzeitig auf die übereilt geplante Veranstaltung reagieren.
10 Europe 1, »Images et son«, Paris, 10. Juni 1963, in APP-FD. 11 Vgl. ebd.
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risierte Einheiten, eine halbe Kompanie, eine Eskadron der republikanischen Garde, die Reserve der Stadt und zehn motorisierte Einheiten wurden als Verstärkung gerufen.12 Doch selbst als die Polizei ihr maximales Aufgebot vor Ort hatte, standen nicht mehr als 600 Polizisten einer Menge von etwa 150.000 Personen gegenüber. Auch die Anzahl der Fahrzeuge war nicht ausreichend. Etwa 40 Soldaten und Matrosen, die den Abend oder die Nacht über Urlaub hatten und dem Konzert beiwohnten, boten der Polizei ihre Hilfe bei der Aufrechterhaltung der Ordnung an. Wenn die ersten auftretenden Gruppen sich auch bemühten, die Begeisterung der Masse im Zaum zu halten, so war das Publikum bald entfesselt: Man klatschte, schrie, tanzte und sang gemeinsam im Chor. Um ihre Idole schon bei der Ankunft zu begrüßen, drangen die Jugendlichen bis hinter die Bühne vor. So sehr die Fans ihrer Begeisterung durch Lärm Ausdruck verliehen, so wenig gaben sie sich Mühe, ihre Abneigung gegen einige der Bühnenkünstler zu unterdrücken. Sylvie Vartan wurde ausgebuht und ausgepfiffen. Die Kommentatoren unterstrichen später deren »stimmliches Ungenügen« und ihren angeblichen Mangel an Authentizität: »Ihre Hingabe wirkte gefaked, aber unter den ›copains‹ war Wahrhaftigkeit gefragt.«13 Selbst Johnny Hallyday wurde ausgepfiffen, verstand es aber, die Situation zu seinem Vorteil zu wenden, und brachte die Massen schließlich ganz auf seine Seite. Obwohl die Veranstaltung erst gegen ein Uhr endete, begannen die Zuschauer bereits gegen 0.15 Uhr den Ort zu verlassen, um noch eine der letzten U-Bahnen zu erwischen, allerdings streiften Vereinzelte noch um zwei Uhr morgens durch die umliegenden Straßen. Die Bilder waren nicht ohne Ironie: Um sich vor dem Ansturm ihrer eigenen Fans zu retten, mussten die »Idole« in Polizeitransportern in Sicherheit gebracht werden. Auf den Fotos erschienen ihre Gesichter wie die von Kriminellen hinter den Fenstergittern der Polizei-Wannen. Im Großen und Ganzen hielten sich, angesichts der versammelten Massen, die Beschädigungen in Grenzen. Dem Polizeibericht zufolge war die Menschenmenge nicht mehr aufgewiegelt als bei ähnlichen Veranstaltungen mit Minderjährigen. Es wurde von kleineren Zwischenfällen berichtet, die sich überwiegend an der Peripherie der Zone ereignet hatten und deren Urheber nicht unbedingt Jugendliche waren. Es handelte sich hauptsächlich um Baumschäden und Sachbeschädigungen an öffentlichem Eigentum, dem Mobiliar von Straßencafés und an Autos. Zahlreiche Schäden waren unbeabsichtigt entstanden und nicht strafbar. Um das Konzert zu sehen, waren viele der »jeunes garçons« der Polizei zu12 Vgl.: Rapport du Sous-directeur Commissaire Contrôleur Général, Chef du 3e district André Friederich au Directeur Général de la Police Municipale, APP-FD. 13 Combat, 24. Juni 1963.
46 | F LORENCE T AMAGNE folge auf alle erreichbaren höher gelegenen Objekte geklettert: Bäume, Gesimse, Straßenlaternen, Markisen und Glaswände der Cafés. Einige hatten sich zu Mietshäusern Zutritt verschafft, um deren Dächer zu erklimmen, dabei aber eine Panik unter einigen Bewohnern ausgelöst. Schwerer wogen andere Vorfälle: Diebstähle von Autos und Zweirädern sowie die Plünderung eines Zeitungskiosks. Unter Gewaltanwendung gegen Personen wurde der Angriff auf einen Schutzmann und die Entwendung von dessen Dienstwaffe verbucht, was offenbar durch das Gedränge ermöglicht worden war. Hinzu kam die sexuelle Belästigung einer jungen Frau.14 Insgesamt wurden dem Polizeipräfekten Maurice Papon zufolge 46 Gerichtsverfahren eingeleitet, 14 betrafen Minderjährige im Alter von unter 20 Jahren, 29 von insgesamt 73 Festnahmen betrafen Minderjährige unter 20 Jahren.15 Dennoch waren die Diebstähle und Gewalttaten in der Umgebung des Place de la Nation für die Polizei nicht die Taten »aufgehetzter Zuschauer, sondern die der üblichen Übeltäter einer Nacht vom Samstag auf den Sonntag«.16 Obwohl sie den britischen Auseinandersetzungen zwischen Mods und Rockern auf den Stränden von Margate und Brighton um ein Jahr vorausging, erregte auch die Nuit de la Nation das, was man mit Stanley Cohen als moral panic bezeichnen kann.17 Tatsächlich findet man hier viele Parallelen zu den Vorgängen in Großbritannien wieder: eine intensive Berichterstattung, die Konstruktion einer Gruppe von »Sündenböcken«, das Eingreifen der Experten, die sich als moralische Instanzen profilieren: Journalisten, Polizisten, Psychologen, Soziologen, Politiker. In den von den Ereignissen ausgelösten Debatten im Stadtrat von Paris wurde das britische Beispiel später mehrfach zitiert, ebenso der Fall der »Teddy Boys«. Den Kommentatoren erschienen die Vorfälle, die sie mit einem »Orkan«, einem »Wirbelsturm« oder einem »zerstörerischen Erdrutsch« verglichen, gleichsam historisch. Viele Journalisten sahen darin ein »Zeichen der Zeit«.18 Sie unterstrichen den »fanatischen« Charakter der Verhaltensweisen an jenem Abend, den »kollektiven Wahn«, das »Delirium«, in dem sich ein Teil der 14 Die gesammelten Anzeigen und Schadensgutachten von Privatpersonen finden sich in: APP-FD. Es handelt sich vor allem um Handtaschendiebstähle, abgeknickte Markisen, zerbrochene Fensterscheiben, eingebrochene Dächer und verschmutzte Farbanstriche. 15 BMO, Conseil Municipal de Paris, 1er session ordinaire de 1963, séance du jeudi 27 juin 1963. 16 Paris, 4 juillet 1963, rapport du Directeur adjoint, Chef du 3e district André Friederich au Directeur Général de la Police Municipale, APP-FD. 17 Vgl. Cohen: Folk Devils. Vgl. auch Warne: Music, Youth, and Moral Panics. 18 Libération, 24. Juni 1963; Minute, 28. Juni sowie Paris-Jour, 24. Juni 1963.
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versammelten Jugend befunden zu haben schien. Die Bedrohung erschien akut: Die auflagenstarke Tageszeitung France-Soir wie die sozialistische Zeitung Le Populaire interpretierten die Ereignisse als einen Aufstand, in dem sich das Schreckgespenst des 6. Februar 1934 wieder zeige, als Zusammenstöße der Liga der extremen Rechten vor der Nationalversammlung einen faschistischen Staatsstreich in greifbare Nähe gerückt hatten.19 Manche schreckten auch nicht davor zurück, die Jugendlichen mit der auf dem Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP versammelten Hitlerjugend zu vergleichen. So fragte etwa Philippe Bouvard in Le Figaro: »Wo ist der Unterschied zwischen dem Twist in Vincennes und den Reden von Hitler im Reichstag – mal abgesehen von geringen musikalischen Differenzen?«20 Auch wurde der Ortsname Place de la Nation ausgebeutet: An jenem Abend habe sich nichts weniger als die Zukunft der Nation abgespielt.21 Die Artikel, die sowohl das Ausmaß der entstandenen Schäden als auch das der polizeilichen Eingriffe zur Wiederherstellung der Ordnung übertrieben, legten den Schwerpunkt der Berichterstattung fast ausschließlich auf die Ausschreitungen.22 In die Empörung mischte sich Besorgnis. Die Zeitung France-Soir schrieb am 25. Juni 1963 über »einen gigantischen Strudel«, »ein unbeschreibliches Gewühle«, in dem sich junge Menschen auf den Straßen gedrängt und dabei Verletzte einfach niedergetrampelt hätten. Es sei gebrüllt, geplündert, marodiert und vergewaltigt worden. Ein Anwohner, dessen Balkon von »drei Dutzend junger Menschen« eingenommen wurde, habe vergeblich nach der Polizei gerufen: »Es war wie im Zentrum einer ausgewachsenen Revolution«. Zahlreiche Zeitungen beschworen eine »Invasion« herauf, als sei die eigene Jugend plötzlich fremd geworden wie ein neuer Feind im Innern, der sich nun, verwöhnt und verzogen, gegen seine eigene Heimat wandte.23 »Die gefährliche Jugend« wurde zu einer florierenden Phrase. Der Umstand, dass die Polizei es für notwendig erachtet hatte, die anwesenden Soldaten um Hilfe zu rufen, schien den Ernst der Lage zu bestätigen und führte zu der Mutmaßung, der Ausnahmezustand könne bald ausgerufen werden. Am Tag nach dem Konzert erwogen Geschäftsleute die Bildung von »Komitees zur Verteidi19 Le Populaire, 25. Juni; France-Soir, 25. Juni 1963. Die Ereignisse des 6. Februar 1934 hatten sich auf der Place de la Concorde abgespielt. 20 Le Figaro, 24. Juni 1963; vgl. » La jeunesse est en danger«, in: Liaisons, 1. Juli 1963. 21 Paris-Presse. L’Intransigeant, 25. Juni 1963. 22 Die Presse gab an, es seien 3.000 Beamte mobilisiert gewesen. 23 Maurice Papon hingegen unterstrich, dass die Jugendlichen »nicht als Feinde kamen«, sondern sich schlichtweg hatten amüsieren wollen. BMO, Conseil Municipal de Paris, 1er session ordinaire de 1963, séance du jeudi 27 juin 1963.
48 | F LORENCE T AMAGNE gung«, eine deutliche Anspielung an die Ereignisse in Algerien. In einer beträchtlichen Zahl von Kommentaren kamen zudem rassistische Vorurteile zum Ausdruck. Die Jugend sei, wie die Algerier auch, entmenschlicht, wenn nicht sogar animalisch. Laut Paris-Presse vernahm man nicht so sehr den Lärm von Oberschülern, sondern vielmehr den von »Barbaren«; andere meinten, Szenen einer »Verwilderung« beigewohnt zu haben.24 Combat sah die Jugend außer Kontrolle: Im Gegensatz zu »wahren Kindern«, von denen man wisse, dass sie bei Verstand seien, habe man es mit »Halb-Wölfen, Halb-Hunden und HalbAffen« zu tun gehabt. Während einer Debatte im Stadtrat von Paris wurde Alex Moscovitch besonders deutlich, indem er den Twist mit »einem gabunischen Tam-Tam« verglich, das besser »in den Urwald zu den Baluba oder den Pygmäen« passe.25 Unter dem Vorwand, den echten Jazz zu verteidigen, sah Lucien Rebatet, ein der extremen Rechten zugeneigter Schriftsteller und Musikkritiker, in der Musik nichts als »ein ausgedehntes und armseliges Affentheater der Schwarzen«. Die »Neger«-Künstler seien heutzutage »nichts als affenähnliche Betrüger, korrumpiert von den Weißen«.26 Als Beweis dieser Dehumanisierung wurde die Vergewaltigung eines jungen Mädchens angeführt, die sich mitten im Geschehen vor der Bühne zugetragen haben sollte, verübt von zwei Dutzend »blousons noirs«, von denen einige aus Algerien stammten, wie immer wieder betont wurde. Ungeachtet der Zweifel, die sich bald an der Darstellung regten, wurde diese Episode breit von der Presse rezipiert. Der Vorwurf einer Vergewaltigung stand im Raum, wurde aber von einigen Konfusionen begleitet. Die 18-Jährige bestätigte, im Gedränge nahe der Bühne von 20 bis 25 »blousons noirs« eingekreist worden zu sein, darunter einige »vom nord-afrikanischen Typ«, die sie zu Boden gestoßen hätten. Acht bis zehn hätten sie dann »schonungslos vergewaltigt«. Zudem wurde ihre Tasche gestohlen. Zur ärztlichen Versorgung ins Krankenhaus gebracht, war die junge Frau, wie es schien, »bedeckt mit Sperma und Blut und unter Schock«. Die Menge hatte nicht reagiert, und die Polizei, die gerade an dieser Stelle eine Absperrung hielt, hatte auch nichts davon bemerkt. Auch wenn nur wenige Einzeltäter an diesem Ereignis beteiligt waren, so schien nun auch die Gesamtheit der Jugendlichen schuldig, die nicht darauf reagiert hatten.
24 Carrefour, 3. Juli. Minute schrieb am 28. Juni von »barbarischen Riten«, Le Hérisson am 18. Juli von einer »Rückkehr der Barbarei«. 25 Moscovitch war Freiwilliger in Französisch-Algerien, Conseiller municipal RPF; in BMO, Conseil Municipal de Paris, 1er session ordinaire de 1963, séance du jeudi 27 juin 1963. 26 Rivarol, 4. Juli 1963.
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Es ist sehr schwer zu rekonstruieren, was genau geschah, da die medizinischen Untersuchungsakten nicht überliefert sind. Die meisten Zeitungen berichteten in den Tagen nach dem Konzert, dass ein Mädchen vergewaltigt worden sei, doch Maurice Papon erklärte am 27. Juni vor dem Stadtrat, dass es sich um keine Vergewaltigung, sondern »nur« um ein Sittlichkeitsdelikt gehandelt habe. Fest steht, dass eine Frau im Alter von 17 Jahren nach dem Konzert eine Vergewaltigung anzeigt hatte. Sie gab an, auf den Boden gestoßen und sodann von wenigstens acht bis zehn Männern vergewaltigt worden zu sein, während die anderen sie festgehalten hätten. Der Polizeibericht widerspricht dieser Darstellung jedoch: Was zuerst eine Vergewaltigung gewesen zu sein schien, sei tatsächlich ein unsittlicher Angriff unter Gewaltanwendung gewesen.27 Minute, eine weit rechts stehende Zeitung, erklärte, während des Konzerts sei es zu weiteren Vergewaltigungen gekommen, die nicht angezeigt worden seien, was jedoch nirgendwo sonst bestätigt wurde. Wenn der Bericht über eine Vergewaltigung auch zu einem generellen Eindruck von Gewalt und Unsicherheit beitrug, so ist doch bemerkenswert, dass sich die meisten Berichte auf Sachbeschädigungen konzentrierten. Schon in den Jahren zuvor waren Vergewaltigungen durch »blousons noirs« regelmäßig in der Presse als Thema aufgegriffen worden ebenso wie in soziologischen Untersuchungen und Autobiographien. Sexueller Missbrauch und Vergewaltigung wurden demnach von Männern praktiziert, um die weiblichen Gang-Mitglieder unter Kontrolle zu halten. Einige Mädchen wurden weitergereicht, nachdem ihr Partner ihrer überdrüssig geworden war. Obwohl über solche Praktiken mit Abscheu berichtet wurde – und nicht ohne eine gehörige Portion Voyeurismus –, wurde den jungen Frauen selbst wenig Sympathie entgegengebracht, da man sie einer losen Sexualmoral beschuldigte und ihnen vorhielt, sie seien am Missbrauch selbst Schuld, da sie den Gangs freiwillig beigetreten waren. Das Verhalten von Mädchen und jungen Frauen, die sich in die Menge von Rockkonzerten mischten und sich dort mit Jungs abgaben, wurde als verantwortungslos und gefährlich eingestuft.28 So stellte der Ablauf des Konzerts ganz grundsätzlich die gewohnten Geschlechternormen auf den Prüfstand.29
27 Zu dieser Zeit war eine vaginale Penetration Voraussetzung dafür, dass ein Sittlichkeitsverbrechen als Vergewaltigung eingestuft wurde (orale oder anale Penetration hingegen wurden nicht als Vergewaltigung, sondern als Sittlichkeitsverbrechen eingestuft). Erst 1980 wurde nach feministischen Protesten ein neues Gesetz verabschiedet. 28 Vgl. Tamagne: Le »blouson noir«. 29 Siehe auch Weiner: Enfants Terribles; Jobs: Riding the New Wave.
50 | F LORENCE T AMAGNE Das Wort copain bezeichnete sowohl junge Männer als auch junge Frauen und war bar jeder Sinnlichkeit.30 Jungen und Mädchen teilten dieselbe Vorliebe für Musik und Tanz. Anlässlich des Konzertes bildeten sie in aller Öffentlichkeit ein gemischtgeschlechtliches Publikum, außerhalb der elterlichen Kontrolle. Da die Mädchen, wie es schien, eine Minderheit bildeten, waren sie mit ihren Brüdern oder Schwestern oder ihren Freunden, nicht aber in Begleitung von Erwachsenen gekommen. Einmal im Innern des Tumults ließen sie jene Schamhaftigkeit und Zurückhaltung fallen, die man von ihnen erwartete. Im Gedränge wurden sie gegen die Jungen gepresst, gelegentlich auch nicht ganz unabsichtlich. Manche Mädchen kommentierten: »Das war abscheulich.« Andere, wie eine Leserin von Salut les Copains, rühmten im Gegenteil die Höflichkeit von Jungs, die ihren Mantel für eine Bewusstlose ausgebreitet hätten.31 Doch vermochten solche Aussagen die Moralwächter nicht zu beruhigen. Die Nähe zwischen den Körpern habe Annäherungen zwischen den Geschlechtern begünstigt: »Ein junges Mädchen von 14 Jahren sank in die Arme ihres jungen Nachbarn.«32 Dabei waren die jungen Mädchen alles andere als passive Zuschauerinnen. Sie standen vor der Bühne, bewegten sich im Rhythmus, klatschten in die Hände, pfiffen und sangen zu einer Musik, »die sie ihrer Selbstkontrolle beraubte«.33 Als Anzeichen für diesen Kontrollverlust und für den Bruch mit den Geschlechterrollen mussten viele Mädchen herhalten, die versucht hatten, die Bühne zu erklimmen, um Johnny Hallyday zu umarmen oder an seiner Seite zu twisten. Auch verliehen sie ihrer Unzufriedenheit Ausdruck: Unter den Gegenständen, von denen Sylvie Vartan getroffen wurde, fanden sich zahlreiche Mädchenschuhe. Einige zeigten sich schließlich wagemutig: wenn im Polizeibericht auch nur von »jeunes gens« die Rede war, die auf Straßenlaternen und Markisen geklettert seien, so zeigten Pressefotos, dass einige junge Mädchen dies ebenfalls versucht hatten, um eine bessere Sicht auf die Idole zu erlangen. Immerhin ein Teil der Presse versuchte, die dramatisierende Darstellung der Ereignisse zu relativieren. Combat merkte ironisch an, dass, obwohl »150.000 Pariser die Nation stürmten«, es ja schließlich nur darum gegangen sei, ein paar Stars zu applaudieren. Für Le Parisien libéré, einen Mitorganisator des Konzertes, waren alle Geschehnisse »dans la bonne humeur« geblieben.34 Die kommunistische Tageszeitung L’Humanité, die den Schwerpunkt ihrer Berichterstattung 30 Capri, 7. August 1963. 31 SLC, Nr. 13 (August) 1963. 32 Combat, 24. Juni 1963. 33 »Rapport sur le comportement des jeunes lors de la manifestation du 22 juin 1963«, undatiert, APP-FD. 34 Le Parisien libéré, 24. Juni 1963.
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auf die Unfähigkeit der Organisatoren und der Polizei gelegt hatte, machte für die Vorfälle eine »winzig kleine Minderheit« verantwortlich.35 Le Monde hielt die entstandenen Schäden angesichts der Zahl der versammelten Jugendlichen sogar für ausgesprochen gering. Das paradoxe Ergebnis des Abends sei, dass »von diesen 120.000 Jugendlichen so gut wie alle sich hochanständig verhalten« hätten.36 Es sei normal, dass sich inmitten eines solchen Gedränges einige schwarze Schafe hervortäten.37 Die Cinémonde, die sich der Star-Berichterstattung verschrieben hatte, zog ebenfalls eine positive Bilanz des »fantastischsten Rock-Festivals, das jemals in Paris organisiert wurde«.38 Die Jugendpresse, die allerdings nicht von Jugendlichen geschrieben und hier direkt infrage gestellt wurde, suchte ebenfalls die Wogen zu glätten.39 Sorgfältig formuliert widersetzte sich jeder Artikel in SLC den Anschuldigungen, die in der allgemeinen Presse erhoben wurden: Eine Anwohnerin erklärte darin, sie habe knapp zwei Dutzend Jugendliche auf ihren Balkon eingeladen, damit sie dort Johnny Hallyday sehen konnten. Jenseits der aufgeregten Debatten über einen vermeintlichen Generationenkonflikt verteidigten in SLC Erwachsene die Sache der Jugend. Vor allem ging es darum, deren Gesamtheit von einer delinquenten Minderheit zu unterscheiden: »Les Copains sind keine Strolche.« »Le Golf Drouot wird nicht von den blousons noirs frequentiert«40, konnte man in Capri lesen, wo man sich fragte: »150.000 Jugendliche auf der Place de la Nation applaudierten Johnny und Sylvie. Was ist daran schlecht?«41 Vielen Kommentatoren ging es dennoch darum, die Schuldigen zu identifizieren.
35 L’Humanité, 25. Juni 1963. 36 Paris, 4. Juli 1963, rapport du Directeur adjoint, Chef du 3e district André Friederich au Directeur Général de la Police Municipale, APP-FD-Manifestation 22. Juni 1963. 37 Paris-Jour, 24. Juni 1963. 38 Cinémonde, 2. Juli 1963. 39 Vgl. vor allem Tamagne: Aux origines; Quillien: Nos années. 40 Le Golf Drouot, 1956 von Henri Leproux gegründet, war der Treffpunkt der RockFans und lud wöchentlich zu einem Wettbewerb der französischen Amateurbands. Auch englische Gruppen traten hier auf. 41 »Copains mais pas voyous«, Capri, 7. August 1963.
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G ETEILTE V ERANTWORTUNG : Z UR I NTERPRETATION DER E REIGNISSE Eine der Konsequenzen der Nuit de la Nation war die Wiederbelebung des Phänomens der »blousons noirs«, die man mit dem Anbrechen der Zeit der »copains« bereits vergessen geglaubt hatte. Tatsächlich gaben einige von der Presse befragte »blousons noirs« an, sie hätten randaliert, weil das Programm zu wenig Rock enthalten habe. Man fand dieselbe Logik der Gewalt wieder, die bereits bei anderen Konzerten in der Hauptstadt zu Beginn des Jahrzehnts beobachtet worden waren, als Jugendliche ihre Unzufriedenheit mit dem Programm zum Ausdruck gebracht hatten und sich weigerten, den Anweisungen der Ordner Folge zu leisten, als diese das Aufstehen von den Sitzplätzen und das Tanzen in den Gängen untersagten.42 Teile der Presse deuteten dies als Zeichen für einen Anstieg der Jugendkriminalität.43 France-Soir startete eine groß angelegte Untersuchung der »Saat der Gewalt 1963«.44 Die Polizei erstellte ihrerseits eine detaillierte Analyse des Phänomens, in der sie die Verantwortung sowohl der Organisatoren als auch der Besucher zu bewerten suchte. André Friederich, der stellvertretende Polizeidirektor und Chef des 3. Distrikts, zog schließlich ein vergleichsweise ausgewogenes, wenn auch gewundenes Fazit.45 Zwar insistierte er nicht auf dem Mangel an Vorkehrungen der Organisatoren, die offenkundig die Zahl der Besucher eklatant unterschätzt hatten, doch beschuldigte er sie, das Publikum »geschickt aufgeheizt« und »eine Spannung erzeugt [zu haben], die schlimmste Gruppengewalt hätte hervorbringen können«.46 Selbst wenn man das Ausmaß der Gewalt nicht überschätzen sollte, so war sie ihm zufolge »für die Gesamtheit der Jugendlichen in gewisser Weise das Salz in der Suppe, auch dann, wenn sie nicht daran teilhatten (und das war überwiegend der Fall).«47 Die Pathologisierung des jugendlichen Verhaltens wurde mit der Wirkung der Musik in Zusammenhang gebracht, die als Katalysator fungiert habe. Die elektrisch verstärkte Musik, vor allem die elektrische Gitarre, habe wie ein Aufputschmittel für die Nerven gewirkt. Wie Alkohol oder Drogen wirkten die »fre-
42 Dies war zum Beispiel der Fall auf dem ersten Rock’n’Roll-Festival im Palais des sports am 24. Februar 1961, das 5.000 Fans besucht hatten. 43 Siehe Bantigny: Le plus bel âge?; Sohn: Age tendre. 44 France-Soir, 27. Juni 1963. 45 Paris, 4. Juli 1963, rapport du Directeur adjoint, APP-FD. 46 Ebd. 47 Rapport sur le comportement des jeunes, APP-FD.
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netischen Rhythmen und brutalen Synkopen«, die neue »künstliche Paradiese« schufen und ein hypnotisches und kriminelles Verhalten provozierten.48 Fasziniert von den Stars, die es hündisch ergeben imitiert habe, habe sich das Publikum in »Szenen der kollektiven oder individuellen Hysterie« hineingesteigert.49 Um die beobachteten Übergriffe zu erklären, seien daher vor allem massenpsychologische Erklärungen geeignet: In einer anonymen Masse von Jugendlichen gleichen Alters und gleicher Interessen bekämen diese ein Gefühl der Macht, wenn nicht gar der Straflosigkeit. Zwischen ihnen und ihren Straftaten würden so sämtliche moralische Grenzen eingerissen, ebenso wie die der Erziehung und der Kultur. Von der Wahrung dieser Grenzen hänge letztlich das Verhalten der Jugend ab.50 Der Polizei zufolge bestand die Menge zu überwiegenden Teilen aus »eher unerzogenen jungen Leuten«, die von der Kraft der Musik leicht beeinflussbar gewesen seien.51 Das Rock-Publikum wurde stigmatisiert, sowohl physisch als auch intellektuell. Die jungen Fans der »Idole« wurden mit »geistig Zurückgebliebenen« oder »nervlich Kranken« verglichen. Dabei spielten Klassenvorurteile eine wesentliche Rolle. Soziologische Deutungen der anlässlich des Konzertes versammelten Öffentlichkeit, die in den Polizeiberichten zur Beurteilung herangezogen wurden, sind bezeichnend: »Auch wenn man es mit einer disparaten und von Minderheiten geprägten Masse zu tun hatte, so kamen doch auch Schaulustige dorthin, darunter Familienväter und Mütter, die ihre kleinen Kinder trugen, und selbst Nonnen mit ihren Schülern«, 80 Prozent des Publikums bestanden jedoch aus jungen Leuten zwischen 14 und 21 Jahren, davon ein Viertel Mädchen, »ihrer Kleidung und dem Fehlen von Bildung nach zu urteilen alle aus der Arbeiterklasse und überwiegend dem Stil der Fotografien der Zeitschrift ›Salut les copains‹ entsprechend.«52 Das Rock-Publikum kam demnach überwiegend aus der Arbeiterschaft und wurde dadurch angelockt, dass die Veranstaltung gratis war.53 Laut André Frie48 »La jeunesse est en danger«, Liaisons, 1er juillet 1963. Liaisons ist die Zeitschrift der Polizeipräfektur. 49 Paris, 4. Juli 1963, rapport du Directeur adjoint, Chef du 3e district André Friederich au Directeur Général de la Police Municipale, APP-FD. 50 Rapport sur le comportement des jeunes lors de la manifestation, 22. Juni 1963, undatiert, APP-FD. 51 Paris, 4 juillet 1963, rapport du Directeur adjoint, APP-FD. 52 Polizeipräfekt Papon begründete mit der Anwesenheit der Geistlichen den guten Ablauf des Konzerts. Die Satire-Zeitung Le Canard enchaîné nahm dies zum Anlass für einen humoristischen Artikel: »La ›folle nuit‹ d’une nonnette«, 3. Juli 1963. 53 Wäre es nicht gratis gewesen, hätte das Konzert zwischen 15 und 20 Francs gekostet.
54 | F LORENCE T AMAGNE derich kamen die Zuschauer mehrheitlich aus den angrenzenden Bezirken, dem 11., 12. und dem 20. Arrondissement – Arbeitervierteln mit vielen Sozialbauwohnungen. Hätte das Konzert auf der Place de la Concorde stattgefunden, mitten im Zentrum des bourgeoisen Paris, so hätte die Situation sich ganz anders entwickelt. Viele der Teilnehmer waren junge Bewohner entfernterer Viertel, namentlich des 13., 18. und 19. Arrondissements sowie der banlieues im Osten und Nordosten, bei denen es sich ebenfalls um Arbeiterquartiere handelte. Wenn die Teilnahme von Jugendlichen aus »guten Vierteln« nicht von vornherein hätte ausgeschlossen werden können, so bemerkte André Friederich, der nur elf Tage danach den traditionellen Umzug der Abiturienten überwacht hatte, »der körperliche Unterschied zwischen den beiden Gruppen von Jugendlichen sei atemberaubend gewesen«.54 Dabei merkt Friedrich jedoch an, dass die Studenten sich »unendlich unerträglicher« zeigten als die Jugendlichen auf der Place de la Nation. Daher lasse sich die Verantwortung für die Vorfälle nicht auf die Gesamtheit der Zuschauer schieben. Die Verantwortlichen seien die »blousons noirs« aus den angrenzenden Vierteln Belleville und Ménilmontant und den Gemeinden Montreuil und Bagnolet, die für ihre Jugendbanden berüchtigt waren. Insofern habe es sich um »eine winzige Minderheit [gehandelt], die aus der Anonymität und dem Gedränge der Masse heraus agierte«. Indem er die Schuld den »blousons noirs« zuschob, grenzte André Friederich die kriminellen Handlungen auf eine jugendliche Minderheit ein. Die Einschätzungen beschäftigten nicht nur die Polizei, sondern innerhalb kurzer Zeit auch die Politik. Das Bürgermeisteramt instruierte den Polizeipräfekten Maurice Papon, er solle die Verantwortlichen feststellen und Maßnahmen erläutern, mit denen eine Neuauflage solcher Vorfälle verhindert werden könne.55 Papon wies jede eigene Verantwortung
54 Paris, 4 Juli 1963, rapport du Directeur adjoint, Chef du 3e district André Friederich au Directeur Général de la Police Municipale, APP-FD. 55 Bei den Stadträten handelte es sich um Jean Dides, Alex Moscovitch und Nicole de Hauteclocque. Dides, Polizeikommissar und Mitglied des Nachrichtendienstes der Polizei Renseignements Généraux unter Vichy, wurde 1947 Mitglied der gaullistischen Partei RPF. Fanatischer Antikommunist und erklärter Anhänger eines französischen Algerien, war er 1956 député poujadiste geworden und 1959 Stadtrat. De Hauteclocque, 1962 als Abgeordnete der Gaullisten gewählt, hatte in der Resistance gekämpft. Maurice Papon wurde 1998 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, die er als Generalsekretär der Präfektur Gironde während der deutschen Besatzung verübt hatte. 1958 wurde er Polizeipräfekt und war für die blutige Niederschlagung zweier Demonstrationen verantwortlich: eine für die algerische Unabhängigkeitspartei FLN am 17. Oktober 1961 und eine gegen die terroristische Untergrund-
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zurück. Er ziehe es vor, sich wegen einer zu großen Laxheit beschuldigen zu lassen als wegen eines repressiven Vorgehens. Die Ausschreitungen auf der Place de la Nation lieferten politischen Gegnern eine Gelegenheit, die Kompetenzen der Gaullisten zu kritisieren.56 Auf der extremen Rechten kritisierte die Wochenzeitung Minute, die Regierung in Person des Staatssekretärs für Jugend und Sport habe versucht, die Fakten zu unterdrücken.57 Auf der Linken verglich Le Populaire die nur unzureichend mobilisierten Einsatzkräfte mit dem massiven Aufgebot anlässlich der Demonstrationen für den Frieden in Algerien.58 Liberation kritisierte, man habe die »Strolche« auf der Place de la Nation weitaus nachsichtiger behandelt als streikende Arbeiter, womit die gaullistische Staatsmacht als Komplize der »blousons noirs« fungierte: »Die V. Republik ist keine der Kameraden, sondern eine der kleinen ›copains‹.«59 Das Klassen-Argument nahm auch Combat auf: die Nuit de la Nation errege »die Empörung der selbstgerechten Bürger«, doch könnten auch jene Überraschungspartys, die »in den großbürgerlichen Wohnungen des 16. Bezirks« stattfänden, gleichermaßen in Gewalt ausarten. Vor allem müsse man die Vorfälle in einem größeren Kontext verstehen, der erst kurz zuvor auf unwürdige Weise Nationalgeschichte geschrieben habe: das Erbe von Vichy und das Drama des Algerienkrieges. In den Übertretungen der Jugend fänden nur diejenigen von Krieg und Besatzung ihren Widerhall, die Exzesse der »Befreiung [von den Deutschen], der Kolonialkriege mit ihren Schrecken, der Attentate der FLN in den Straßen von Paris, die Berichte von Folter, Granaten, Anschlägen, dem Kampf des OAS, dem Plastiksprengstoff, und darüber hinaus die ganze andauernde Apologie der Gewalt im Dienste der Durchsetzung einer Idee, die Verteidigung von mehr oder weniger gerechten Fällen und die all dies begleitende intellektuelle Zügellosigkeit«.
Die Gewalt, die von der Fête de la Nation ausging, sei nichts als ein Echo derjenigen, die in Algerien ausgeübt werde, während »der 28 Monate eines Mili-
organisation OAS am 8. Februar 1962. Zum Frankreich der IV. und V. République siehe etwa Goetschel/Toucheboeuf: Quatrième République; Berstein: La France. 56 Die Stadtverwaltung, das Ministerium für Inneres und der Polizeipräfekt Papon waren Gaullisten. Paris wurde bis 1977 nicht von einem Bürgermeister, sondern vom Stadtrat regiert. Der dem Innenministerium unterstellte Polizeipräfekt war für die Sicherheit des département de la Seine verantwortlich, das auch Paris miteinschloss. 57 Minute, 28. Juni 1963. 58 Le Populaire, 25. Juni 1963. 59 Libération, 6. Juli 1963.
56 | F LORENCE T AMAGNE tärdienstes in einem Krieg, der gewisse ›Praktiken‹ lehrt, die nicht vergessen wurden«.60 Auf der gleichen Grundlage zog Lucien Rebatet in Rivarol gegenteilige Schlussfolgerungen: Die von den Medien beeinflussten Twist-Fans böten »ein Abbild jenes Volkes, das die Kapitulation und Liquidation Algeriens gebilligt hat«. Die Helden sind hier die »blousons noirs«, die sich Rebatet als angewidert vom Chaos vorstellt und die endlich ihre »Revanche« nähmen, aufgewiegelt sowohl durch die Belanglosigkeit der Musik, des »Animalismus« der Gaffer als auch durch die Bankkonten der Idole. Für einige jedoch bildete die Jugend, die von der Mehrheit für desinteressiert gehalten wurde, mit ihren »Aktivisten« eine »Partei«.61 Für Claude Bourdet etwa war die Jugend »demoralisiert« durch die Jahre des Kolonialkrieges. Die Medien, »Sprachrohre dieser kapitalistischen Gesellschaft«, lenkten das Volk von den echten Fragen ab und förderten stattdessen Eskapismus. Die Nuit de la Nation sei daher ein typischer Ausdruck einer »Entpolitisierung der Jugend«.62
J UGEND –
EINE NEUE SOZIALE
K LASSE ?
Die Nuit de la Nation trug ganz offensichtlich zu einem neuen Bewusstsein bei: Jugend erhielt auch in Frankreich ein neues Gewicht und wurde von nun an als eine »unabhängige soziale Kategorie« wahrgenommen.63 Gleichwohl blieb es schwierig, die Jugend mit anderen sozialen Gruppen zu vergleichen, die durch ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein charakterisiert waren. Daher erstaunte es die Beobachter sehr, dass die jungen Menschen sich so zahlreich versammelten, um Musik zu hören, die Gleichaltrige machten. »Diente der Tumult, mehrheitlich verursacht von jungen Männern und Frauen, nur dazu, ein paar Lieder zu hören? Sind Demonstrationen dieser Art dazu geeignet, das Verhalten derjenigen Teilnehmer zu beeinflussen, die für Exzesse empfänglich sind?«, fragte ein
60 Combat, 15. Juni 1963. 61 Paris-Presse und L’Intransigeant, 25. Juni 1963. 62 BMO, Conseil Municipal de Paris, 1er session ordinaire de 1963, séance du jeudi 27 juin 1963. Der ehemalige Widerstandskämpfer und militante Anti-Kolonialist Claude Bourdet fungierte seit 1959 als Abgeordneter der Union der sozialistischen Linken im Stadtrat von Paris. Er war Mitbegründer des L’Observateur und der sozialistischen Partei PSU. 63 Paris-Match, 6. Juli 1963. Siehe auch Tamagne: »C’mon everybody«.
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Polizeibericht.64 André Friederich konstatierte: »Es sieht nicht so aus, als hätte eine solche Masse Jugendlicher, wie sie in Paris zusammenkam, jemals den Charakter einer Vereinigung annehmen können: politisch, sportlich, kulturell, religiös.«65 Tatsächlich war von den 450.000 bis 500.000 Jugendlichen, die das Département de la Seine zählte, ein Viertel gekommen, um dem Spektakel beizuwohnen. Diese Sensibilisierung für ein Massenphänomen muss mit der gleichzeitigen Explosion des Konsums der Jugendlichen in Beziehung gesetzt werden. Jugendliche waren selbst dann, wenn sie aus der entfernten banlieue stammten, auch ohne ihre Eltern durchaus in der Lage, an dem Konzert teilzunehmen, dank des öffentlichen Nahverkehrs oder mittels Mofas und Motorroller. Über den Rundfunk hatten Jugendliche, die sich seit dem Vormarsch der Transistorisierung im Besitz eigener Geräte befanden, von dem Konzert erfahren. Edgar Morin lieferte in Le Monde die umfassendste Analyse des neuen Phänomens.66 Für ihn markierte das Concert de la Nation die wirtschaftliche Entwicklung der »décagénères«67, während die Jugendlichen eine neue Altersklasse konstituierten, die »Yé-yés«. Der Twist erschien darin als »das Ritual, das es den Pubertierenden erlaubt, ihre eigene Jugend zu feiern und zu verherrlichen«. Morin insistierte zwar nicht auf Klassenunterschieden, die weiterhin die Jugend strukturierten, unterstrich aber immerhin, dass es sich bei ihr nicht um eine vollkommen homogene Gruppe handele. Sie verfüge über eine gewisse Zahl gemeinsamer Merkmale, über die sich das Zugehörigkeitsgefühl zu einer besonderen Gruppe konstituiere: ein gemeinsames »Arsenal«, das ständig durch den Willen verändert werde, sich von den Erwachsenen zu unterscheiden; die Machtergreifung der alltäglichen Konsumgüter (tragbarer Plattenspieler, elektrische Gitarre, Transistorradio, Schallplatten etc.), ein spezielles Vokabular, aus dem das Wort »copain« als zentraler Begriff heraussticht, »Zeremonien der Kommunion« nach Art von Überraschungspartys oder gigantischen Konzerten, schließlich der Kult der Idole. Die Massenmedien spielten demnach eine zentrale Rolle bei der Konstituierung dieser neuen Klasse des Alters, die sie mit Mythen, Hel-
64 Rapport sur le comportement des jeunes lors de la manifestation vom 22. Juni 1963, APP-FD. 65 Rapport du Directeur adjoint, Chef du 3e district André Friederich au Directeur Général de la Police Municipale, Paris, 4. Juli 1963, APP-FD. 66 Edgar Morin: »Salut les copains. I-Une nouvelle classe d’âge« et »Salut les copains. II-Le ‘yé-yé’«, Le Monde, 6., 7. und 8. Juli 1963. 67 Bei diesem Begriff handelt es sich um einen von Morin erfundenen französischen Neologismus für den englischen Begriff »Teenager«, der es nicht in die Wörterbücher brachte (Anm. d. Übers.).
58 | F LORENCE T AMAGNE den und Rollenmodellen belieferten, zuerst durch das Kino, dann durch den Rock, der die Rolle eines Motors spielte. Im Wesentlichen teilten die Kommentatoren Edgar Morins Schlussfolgerungen hinsichtlich der Bedeutung des Konsums, doch deuteten manche dies auch weniger optimistisch. Vergiftet durch die Medien sei die Jugend der »Raserei des Lebens« ausgeliefert und suche ihr Heil im Geld, in der Berühmtheit, der Gewalt und der Realitätsflucht. Obwohl man nicht die Jugendbanden mit der Gesamtheit der Jugend verwechseln sollte und »der Twist-Geschmack nicht notwendigerweise einen Trieb zur Sünde oder zum Tode« bezeuge68, sei die Jugend dennoch »in Gefahr«.69 Tatsächlich sei ihr behauptetes Selbstbewusstsein nichts als das Produkt einer Manipulation durch die Medien. Der »Mythos Copain«, gegründet auf Freundschaft und Gleichheit aller Jugendlichen, sei eine Erfindung des Rundfunks. Paradoxerweise stelle sich diese Illusion als erstaunlich effizient heraus, da sie eine »Freimaurerei der Jugendlichen [erschaffe], die unter sich um so solidarisch sind, als sie ein Bewusstsein der Geringschätzigkeit oder der Ironie der Erwachsenen ihnen gegenüber ausgebildet haben.« Damit werde die Diskrepanz zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern immer größer: »Jungen und Mädchen erschaffen mittels Klang und Bildern ein für die Welt der Erwachsenen verschlossenes Universum.«70 Die Erwachsenen seien daran nicht schuldlos, denn ihre Schwäche nähre die Jugendkriminalität. Diese wiederum hätten als »Opfer des Kultes der copains« alle Autorität abgegeben. Die Jugendlichen glaubten, sich alles erlauben zu dürfen.71 Die Gründe dafür: die Nachwirkungen des Krieges, die Erosion der Traditionen, der Verfall der Sitten, die Emanzipation der Frauen, das Auseinanderbrechen des Familienzusammenhalts.72 Die Hauptverantwortlichen seien allerdings die Eltern, »schuldig der Untätigkeit, der Sorglosigkeit und der Willensschwäche.«73 Die Jugendlichen sparten ihrerseits nicht mit Kritik an den »Altersschwachen«. In SLC wand-
68 Maurice Papon, BMO, Conseil Municipal de Paris, 1er session ordinaire de 1963, séance du jeudi 27 juin 1963. 69 »La jeunesse est en danger«, in: Liaisons, 1. Juli 1963, S. 1. 70 Ebd. 71 La Nation, 25. Juni 1963. 72 Combat, 28. Juni 1963 und Paris-Match, 8 Juli 1963, außerdem Maurice Papon in: BMO, Conseil Municipal de Paris, 1er session ordinaire de 1963, séance du jeudi 27 juin 1963. 73 Le Hérisson, 18. Juli 1963. Dem Satiremagazin erschien es am Besten, alle »Schädlinge« mit Zwangsarbeit zu belegen.
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ten sich Leserbriefe gegen die »jugendfeindliche Propaganda«.74 Ein Leser verwahrte sich gegen die Idee, die Jugendlichen sollten wieder »vollkommen veraltete Vorstellungen« aufnehmen und »verdächtigen Politikern und ihren verkommenen Magazinen folgen!«75 Es herrsche ein Generationenkonflikt, der gekennzeichnet sei durch wechselseitiges Unverständnis. Die Hauptverantwortlichen für all dies seien die Medien, die ohne Zögern die Leichtgläubigkeit der Jugend ausgenutzt und daraus Profit geschlagen hätten. Weit entfernt davon ein unabhängiger Ausdruck der Jugend selbst zu sein, sei die Jugendkultur nichts als ein Produkt professionellen Marketings. Die Medien unterstützen eine »Welle der systematischen und lukrativen Verblödung«.76 Das Magazin SLC, dessen Niveau »von einer seltenen intellektuellen Armseligkeit« sei, richtete sich an Leser, die »begierig nach leichter Kost, schnellem Erfolg ohne jede Anstrengung und vor allem bar jedes kritischen Geistes seien«. Die Publizität des Magazins beruhe hauptsächlich auf »einer Bedrohung der moralischen intellektuellen Integrität der Jugend«.77 Das unmittelbare Resultat sei ein Werteverlust, für den das beste Beispiel der schnelle Aufstieg junger Stars sei, die sich dadurch Grundstücke kaufen und in Autos umherfahren könnten, »von denen manche Erwachsene nur träumen können« – eine Bemerkung, die die Verbitterung und die Frustration der Kriegsgeneration gegenüber einer Jugend durchblicken ließ, die hemmungslos von den Früchten des Wachstums profitiere. Auf der Linken wurde die Kommerzialisierung der Kultur als eine Abkehr von den alten Ideen des Humanismus gelesen; auf der Rechten interpretierte man den Kult der Idole als »eine Verkümmerung der Moral der Eliten«.78 Die von der Jugend auf der Place de la Nation gestellte Frage sei demnach eine nach dem kulturellen Angebot an die Arbeiterjugend. »Wenn derart viele zur Place de la Nation kamen, dann deswegen, weil ihnen weder in ihren Familien, noch in ihren Schulen, ihren Sportclubs oder anderswo etwas angeboten wurde.« Combat bemerkte, wenn die Jugend sich für Belanglosigkeiten begeistere, liege es vielleicht daran, dass die erwachsene und »langweilige« Gesellschaft ihr nichts 74 Auch die allgemeine Presse druckte Beobachtungen von Zuschauern, die sich schockiert über die Übertreibungen zeigten, die in Paris-Presse am 29. Juni 1963 gedruckt worden waren. 75 SLC Nr. 13 (August) 1963. 76 Paris, 12. Juli 1963, Le Directeur Adjoint, A. Friederich au Directeur Général de la Police Municipale, APP-FD. 77 Rapport sur le comportement des jeunes lors de la manifestation du 22 juin 1963, non daté, APP-FD. 78 Alex Moscovitch, BMO, Conseil Municipal de Paris, 1er session ordinaire de 1963, séance du jeudi 27 juin 1963 et Minute, 28 juin 1963.
60 | F LORENCE T AMAGNE anderes zu bieten habe.79 Anlässlich der folgenden Sitzungen des Stadtrates von Paris sei daher die Erörterung einer beständigen Jugendpolitik geboten.80 »Der Öffentlichkeit ist seitdem bewusst, dass die unter 20-Jährigen offenkundig eine homogene Masse bilden, die sich in sehr kurzer Zeit in so ziemlich jedem Ballungsgebiet mobilisieren lässt, zu Zwecken, die nichts mit Politik, Forderungen und nicht einmal etwas mit Sport zu tun haben.«81
F AZIT Die Nuit de la Nation, organisiert am 22. Juni 1963 vom Rundfunksender Radio Europe No.1 und der Zeitschrift Salut les copains, war das erste Massenkonzert des Rock’n’Roll in Frankreich. Die Gratis-Veranstaltung zog 150.000 Jugendliche an, die kamen, um ihre »Idole« zu hören. Durch eine Reihe von Vorkommnissen, die vor allem mit den »blousons noirs« assoziiert wurden, wurde sie zu einem Medienthema und löste eine moral panic um den Rock’n’Roll aus. Die Nuit de la Nation markierte zudem einen Wendepunkt in der Geschichte der französischen Jugend des 20. Jahrhunderts. Eine Klasse des Alters habe sich konstituiert als eine »neue soziale Klasse, gekennzeichnet durch ihren Stil, ihre Sitten, ihre Sprache, ihre Interessen«.82 Die Jugend wurde zwar als Akteur der französischen Gesellschaft ernst genommen, doch paradoxerweise erschien die Reichweite ihres Handelns seltsam eingeschränkt, weil ihre einzigen Ziele der Konsum von Spektakeln und die Zerstreuung seien. Entpolitisiert und bar eigener Ideen sei sie in Wirklichkeit ein Produkt medialer Manipulation. Ausgestattet mit einer gewissen Befähigung zum Lärmen sei ihre Macht eine rein zahlenmäßige. Die Turbulenzen der Nuit de la Nation wurden daher als eine Demonstration der marginalisierten Arbeiterjugend interpretiert. Die Beobachter hielten die Konstituierung einer auf Musik fokussierten Jugendkultur der Kinder der unteren Klassen für möglich, doch erschien sie aseptisch und von den Massenmedien geformt. Für die populäre Presse gaben die Yéyés, obwohl sie viel verspottet und geringeschätzt wurden, nun keinen Anlass zur Sorge mehr und ihre Idole waren
79 Combat, 24. Juni 1963. 80 Vgl. etwa: BMO, Conseil Municipal de Paris, 3er session ordinaire de 1963, séance du mercredi 4 décembre 1963. 81 Rapport sur le comportement des jeunes lors de la manifestation du 22 juin 1963, non daté, APP-FD-Manifestation 22 juin 1963. 82 Ebd.
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bald gut etabliert. Man konnte sich wohl nicht vorstellen, dass einige von ihnen sich im Mai 1968 unter den Steinewerfern wiederfinden sollten. Der Rock’n’Roll der frühen Pioniere und der nachfolgenden englischen Gruppen wie der Rolling Stones oder The Who erhielt dafür eine Aura des Subversiven. Als es zu Vorkommnissen in den Konzerthallen kam, wie bei dem Konzert von Little Richard 1964 im »l’Olympia« oder denen der Rolling Stones 1964 und 1966, fiel sofort wieder das Stichwort »blousons noirs«. Dies war allerdings wenig im Vergleich mit den moral panics, die 1963 zu beobachten waren. Um 1966 wich die Angst vor den »blousons noirs« schließlich der Angst vor den Hippies. Gratis-Konzerte unter freiem Himmel erregten in Frankreich noch lange Zeit Vorbehalte und Verunsicherung: In den 1970er Jahren sollte die Mehrzahl der Festivals administrativen Verboten zum Opfer fallen. Aus dem Französischen von Bodo Mrozek.
L ITERATUR Bantigny, Ludivine: Le plus bel âge? Jeunes et jeunesses en France de l’aube des »Trente Glorieuse« à la guerre d’Algérie, Paris: Fayard 2007. Berstein, Serge: La France de l’expansion. La République gaullienne (19581969), Paris: Seuil 1989. Cohen, Stanley: Folk Devils and Moral Panics, London: MacGibbon & Kee, 1972. Dauncey, Hugh/Steve Cannon (Hg.): Popular Music in France from Chanson to Techno: Culture, Identity and Society, Aldershot: Ashgate 2003. Eudeline, Christian: Anti-yéyé: Une autre histoire des sixties, Paris: Denoël 2006. Goetschel, Pascale/Bénédicte Toucheboeuf: La Quatrième République. La France de la Libération à 1958, Paris: Librairie générale française 2004. Guibert, Gérôme: La production de la culture: Le cas des musiques amplifiées en France, Paris: Irma 2006. Jobs, Richard Ivan: Riding the New Wave. Youth and the Rejuvenation of France after the Second World War, Stanford: Stanford University Press 2007. Lebrun, Barbara: Protest Music in France: Production, Identity and Audiences, Farnham: Ashgate 2009. Looseley, David: Popular Music in Contemporary France: Authenticity, Politics, Debate, Oxford: Berg 2003.
62 | F LORENCE T AMAGNE Quillien, Christophe: Nos années »Salut les copains« 1959-1976, Paris: Flammarion 2009. Sohn, Anne-Marie: Age tendre et tête de bois. Histoire des jeunes des années 1960, Paris: Hachette 2001. Tamagne, Florence: Le »blouson noir«: codes vestimentaires, subcultures rock et sociabilités adolescentes dans la France des années 1950 et 1960, in: Isabelle Parésys (Hg.): Paraître et apparences en Europe occidentale du Moyen Âge à nos jours, Lille: Presses Universitaires du Septentrion 2008, S. 99-114. Dies.: »C’mon everybody«. Rock’n’roll et identités juvéniles en France (19561966), in: Ludivine Bantigny/Ivan Jablonka (Hg.): Jeunesse oblige. Histoire des jeunes en France XIXe-XXe, Paris: PUF 2009, S. 199-212. Dies.: Aux origines de la critique rock en France dans les années 1960: l’exemple de Disco Revue, in: Pascale Goetschel/François Jost/Myriam Tsikounas (Hg.): Lire, voir, entendre. La réception des objets médiatiques, Paris: Publications de la Sorbonne 2010, S. 242-261. Verlant, Gilles (Hg.): L’encyclopédie du rock français. 1960-2000. Toute l’histoire du rock francophone. France, Belgique, Suisse, Canada, Paris: Hors Collection 2000. Warne, Chris: Music, Youth and Moral Panics in France, 1960 to the Present, in: Historia Actual Online 11 (2006), S. 51-64. Weiner, Susan: Enfants Terribles: Youth & Femininity in the Mass Media in France, 1945-1968, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2001.
Peter Van Eck: Spiegel-Twist. Electrola E 22 327, 1963 [Single].
Der Vorsitzende der Christlich Sozialen Union Franz Josef Strauß 1915-1975. Position und Analyse. Interview: Johannes Groß, Begleittext: Hans Klein. Bavaria Werbe- und Wirtschaftsdienste GmbH, Tonbild 76.21810 o. J. [LP].
Where was Pop? Die Robert Fraser Gallery zwischen Popmusik und bildender Kunst in »Swinging London« A NNA B RAUN
Pop – so scheint es – ist überall. Das war nicht immer so. Die Entstehung und Ausdifferenzierung von Pop war an spezifische Orte gebunden. Die Frage, wo Pop entstand, kann durch die Nennung von Räumen beantwortet werden, die in der allgemeinen Wahrnehmung mit dem Phänomen Popkultur assoziiert werden, wie etwa die Diskothek oder das Jugendzimmer. Auf der Suche nach einer inhaltlichen Präzisierung und historischen Kontextualisierung stößt man im Rahmen des Netzwerks der popassoziierten und -konstituierenden Orte allerdings auch auf solche, die in diesem Zusammenhang ungewöhnlicher erscheinen mögen. Gerade sie können aber einen Beitrag dazu leisten, Aufschluss über den historischen Hintergrund des heutigen Begriffs »Pop« zu geben. Im Folgenden soll »Pop« exemplarisch in der heute weithin vergessenen Robert Fraser Gallery1 in London verortet werden. Diese Galerie war einer der Hauptschauplätze des Mitte der 1960er Jahre entstehenden Topos »Swinging
1
Bisher hat nur Vyner: Groovy Bob, eine Annäherung an die Person Frasers versucht. Ihre Oral-History-Methode bietet jedoch ausschließlich eine Ansammlung kommentierender Interviewausschnitte, die vor allem von Frasers ehemaliger Galerieassistentin Susan Loppert mit Personen aus dessen Umfeld geführt wurden (vgl. David Sylvester: »Someone you had to be a bit careful with«, in: London Review of Books 22 (2000) 7, S. 18-20). Eine Analyse steht daher noch aus. Ein phantastischer Film von Vanessa Engle vergleicht die Fraser Gallery mit der zeitgleich eröffneten Kasmin Gallery; vgl. Art & the 60s: Groovy Galleries (Episode 1). Großbritannien 2004, 60 min. Regie/Drehbuch: Vanessa Engle. Produktion: BBC.
66 | A NNA B RAUN London«, in dem der Begriff »Pop« in Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst entstand. Diesen Umstand betont auch Thomas Hecken in seiner umfangreichen Abhandlung zur Geschichte des Konzepts »Pop«, indem er dessen Entstehung aus der Pop Art herleitet.2 Die Robert Fraser Gallery bildete einen sozialen Raum, der maßgeblich durch die Person des namensgebenden Galeristen Robert Fraser geprägt wurde. In ihm entstanden Transfers zwischen zwei ästhetischen Feldern – der Kunst- und der Musikavantgarde.
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Die Stadt London muss retrospektiv als Wiege und Zentrum einer bestimmten Spielart von Popkultur bezeichnet werden. In den 1950er und 1960er Jahren sollte die als altmodisch empfundene Hochkultur durch eine vor allem von den Bereichen bildende Kunst und Musik ausgehende Bewegung erneuert werden. Die Independent Group3, eine Gruppe an Phänomenen der Alltags- und Konsumkultur interessierter Künstler, entwickelte ab Mitte der 1950er Jahre eine britische Variante der Pop Art. Diese neue Kunstrichtung war stark theoretisch orientiert und brachte 1957 die berühmte Definition des Künstlers Richard Hamilton hervor: »Pop Art is: popular (designed for a mass audience), transient (short-term solution), expendable (easily forgotten), low cost, mass produced, young (aimed at youth), witty, sexy, gimmicky, glamorous, big business«.4 Zum anderen prägte sie den Pop-Stil praktisch durch Ausstellungsprojekte wie die 1956 in der Londoner Whitechapel Art Gallery gezeigte Schau This is tomorrow.5 Breitenwirksamer als die bildende Kunst war die Anfang der 1960er Jahre neu aufkommende Beatmusik. Der Erfolg von Gruppen wie den Beatles und den Rolling Stones verschaffte Großbritannien erstmals eine Vormachtstellung auf dem internationalen Musikmarkt, vor allem im Zuge der British Invasion6, dem immensen Erfolg britischer Gruppen auch außerhalb Großbritanniens in den Jahren 1964 und 1965. Durch die neue Pop-Ausrichtung in beiden Bereichen sollten diese revolutioniert werden und sich trotz ihres avantgardistischen Anspruchs in
2
Vgl. Hecken: Pop, S. 51-53.
3
Die Independent Group war ein loser Zusammenschluss aus gleich gesinnten Architekten, Designern, Künstlern, Kunstkritikern etc., die sich 1952 bis 1955 unregelmäßig am 1947 gegründeten Institute of Contemporary Arts trafen.
4
Vgl. Brauer/Edwards (Hg.): Pop Art, S. 63.
5
Vgl. Foster/Krauss u. a. (Hg.): Art since 1900, S. 385-390.
6
Vgl. Thompson: Please please me, S. 3-5.
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den folgenden Jahren schnell zu einer relevanten Kunst- und Musikrichtung entwickeln. Die gemeinsame Verwendung des Präfixes »Pop« fällt auf und deutet darauf hin, dass Pop Art und Popmusik eng miteinander verwoben waren – auch inhaltlich. Das hohe Maß an Visualität als integrativer Bestandteil von Popmusik stützt diese These. Ob die britische Popmusik den Begriff »Pop« dabei der gleichnamigen britischen Kunstrichtung entlehnte und dadurch ihren Kunstanspruch proklamierte, wie Peter Wicke schreibt, oder ob es sich um eine gegenseitige Durchdringung handelt, wovon Thomas Hecken ausgeht, ist nicht eindeutig zu klären.7 Fakt ist jedoch, dass sowohl Kunst als auch Musik parallel zu stilbildenden Komponenten einer Popkultur avancierten, die ihre räumliche Verankerung im Topos »Swinging London« fand.
»S WINGING L ONDON « Kürzel wie »Swinging London«, ähnlich wie »Swinging Sixties« oder »Goldene Zwanziger«, teilen Geschichte in homogen erscheinende, identitätsstiftende räumliche und temporale Einheiten. Häufig scheinen diese konstruierten Geschichtsabschnitte »einen Topos ›Ort‹ zu erzwingen, der es ermöglicht, eine mystifizierte Dekade im kulturellen Raster auch geographisch zu fixieren«.8 In den sechziger Jahren fokussiert sich diese topographische Festschreibung auf London. Obwohl man es offensichtlich mit »Klischeevorstellungen der historischen Wahrnehmung« zu tun hat, besitzen »sie doch magische Kraft, und sei es nur die einer retrospektiven self-fulfilling prophecy«.9 Sie überzeichnen zwar, bilden aber eine realhistorische Entwicklung ab, die dann als Mythos wirksam und stilbildend werden kann. »Swinging London« ist demnach der »Topos einer medial vermittelten Vorstellung eines abgrenzbaren historischen Kontextes«.10 Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang ein Artikel geworden, der 1966 in dem amerikanischen Nachrichtenmagazin TIME als »mythenbildendes Feature«11 erschien und der auch heute noch häufig mit »Swinging London« in Verbindung gebracht wird. Dieser enthusiastische Text machte die Erscheinung über die Grenzen Großbritanniens hinaus bekannt und erlangte selbst Berühmtheit:
7
Vgl. Wicke: Soundtracks, S. 67-69.
8
Vgl. Bove: Instant view, S. 148.
9
Grasskamp: Die große Maskerade, S. 49.
10 Bove: Instant view, S. 146. 11 Hughes/van Tuyl (Hg.): Blast to Freeze, S. 24.
68 | A NNA B RAUN You Can Walk Across It On The Grass erschien – von der Autorin Piri Halasz verfasst – am 15. April 1966 als Titelgeschichte.12 Das Cover bestand aus einer Collage von Geoffrey Dickinson, die ein Banner mit der Schlagzeile »London: The Swinging City« enthielt. Hier findet sich die typische Ikonographie des London der sechziger Jahre wieder: althergebrachte Symbole wie Big Ben, Routemaster Bus, Rolls-Royce und Union Jack konterkariert mit neuen Errungenschaften wie Minirock, The Who, Mini Cooper und Op-Art-Mode. Halasz selbst hatte einen touristischen Anreiz im Sinn: »Americans would be going to Europe and they want a travel story telling them where to go«.13 Tatsächlich wurde nach dem Erscheinen des Artikels ein großer Zustrom amerikanischer Touristen verzeichnet, denen die gesunkenen Flugkosten entgegenkamen.14 Durch die touristische Suche nach »Swinging London« entstanden in der Folge immer mehr Einrichtungen, die dieses kulturelle Klima vermitteln wollten.15 Der Artikel beginnt mit einer Aufzählung vergleichbarer topologischer Mythen des 20. Jahrhunderts und der Feststellung, dass die Stadt der 1960er Jahre nun London sei: »In a decade dominated by youth, London has burst into bloom. It swings; it is the scene«.16 Neben dem Adjektiv »swinging« findet hier bereits ein Begriff Eingang, der ebenso zentral werden sollte: »the scene«. Diese setzte sich Halasz zufolge aus der »swinging meritocracy« zusammen, die das alte Establishment verdrängt habe.17 Die (auch soziale) Nähe aller künstlerischer Bereiche und Akteure wird zu einem Merkmal von »Swinging London«: »In New York, Paris and Rome, actors, writers and so on each have their own little groups, their little street packs. […] In London, everyone parties with everyone«.18 Der Artikel beschreibt Popmusik, die Carnaby Street, Boutiquen, Diskotheken, Restaurants, Casinos, Theater und Konzerthallen durch Protagonisten wie Mary Quant, Vidal Sassoon und die Rolling Stones. Er personalisiert aber nicht nur, sondern verortet auf einer mit »The Scene« betitelten Karte »Swinging London« durch Verzeichnung aller relevanten Örtlichkeiten auch geographisch.19
12 Vgl. dazu Stephens/Stout (Hg.): Art & the 60s, S. 6. 13 Zit. n. Sandbrook: White Heat, S. 258. 14 Vgl. ebd., S. 260. 15 Vgl. Wicke: Soundtracks, S. 128. 16 Piri Halasz: London – The Swinging City. You Can Walk Across it On the Grass, in: Time Magazine, 15. April 1966, S. 30-34, hier S. 30. 17 Vgl. ebd. 18 Ebd., S. 34. 19 Vgl. Sandbrook: White Heat, S. 259.
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Abbildung 1: Karte »The Scene«
Quelle: »Great Britain: You Can Walk Across It On the Grass«, in: TIME Magazine vom 15. April 1966, S. 32.
Neben Orten wie Diskotheken, die noch heute mit Pop assoziiert werden, finden sich in diesem »Szene«-Makrokosmos die eingangs erwähnten, eher unüblichen Mikrokosmen, wie etwa traditionelle Kunstorte, darunter Auktionshäuser und Galerien. Als eine von zwei genannten Kunstgalerien ist die Robert Fraser Gallery eingezeichnet, die auch innerhalb des Artikels eine zentrale Rolle einnimmt. Dieser ist als eine Art Storyboard für einen fiktiven Film angelegt und zeigt fünf typische Szenerien aus London, wobei die Robert Fraser Gallery als ein Schauplatz mit Bild vertreten ist und der Inhaber selbst zu Wort kommt.
R ICHARD H AMILTONS S WINGEING L ONDON 67 Die stilbildende Funktion des Galeristen Robert Fraser für »Swinging London« zeigt sich aber nicht nur in seiner herausgehobenen Position innerhalb des TIMEArtikels, sondern auch in einem thematisch relevanten Werk des britischen Künstlers Richard Hamilton. In seiner zwischen 1968 und 1972 entstandenen, plakativ betitelten Werkgruppe Swingeing London 67 ist Robert Fraser neben Mick Jagger und den Rolling Stones Hauptmotiv. Diese Werkreihe variiert in 17
70 | A NNA B RAUN einzelnen Arbeiten zwei Motive – ein Poster und ein Siebdruckporträt von Mick Jagger und Robert Fraser nach einer Fotografie. Die Arbeit Hamiltons basiert auf einem Strafprozess, der 1967 gegen Mick Jagger und Keith Richards von den Rolling Stones sowie Robert Fraser geführt wurde. Nachdem bei einer polizeilichen Hausdurchsuchung im Februar 1967 auf dem Redlands-Anwesen von Keith Richards sowohl bei Jagger als auch bei Fraser Drogen gefunden worden waren, wurden alle drei im Juni des Jahres des illegalen Drogenbesitzes für schuldig befunden und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Jagger und Richards kamen gegen Kaution kurz darauf wieder frei, während Robert Fraser vier Monate im Gefängnis verbringen musste.20 Bereits während des Gerichtsprozesses erhielten die Angeklagten Unterstützung von vielen Fans, Freunden und der Presse, die ihre Solidarität öffentlich bekundeten. TimesHerausgeber William Rees-Moog legte mit einem Artikel unter dem Titel Who breaks butterfly on a wheel21 den Grundstein für die öffentliche Debatte.22 Auch Richard Hamilton, der zu der Zeit von der Robert Fraser Gallery vertreten wurde und eng mit dem Galeristen befreundet war, veranlasste der Ausgang des Prozesses zu einer Stellungnahme – in Form der Werkgruppe Swingeing London 67. Der Umgang des Gerichts mit den Angeklagten sorgte bei ihm für Unverständnis und Ärger: »I had felt a strong personal indignation at the insanity of legal institutions which could jail anyone for the offence of self-abuse with drugs. The sentence in the case of my friend Robert Fraser […] was to be a notorious example to others. As the judge declared: ›There are times when a swingeing sentence can act as deterrent.‹«23
Der Gebrauch des Wortes »swingeing« im Gerichtsurteil lässt darauf schließen, dass die Verurteilung vor dem Hintergrund der medialen Mythologisierung der Londoner »scene« reflektiert wurde.24 Richard Hamilton stellte daraufhin mit befreundeten Künstlern eine Ausstellung in der vorübergehend geschlossenen
20 Vermutlich sollte an ihm ein Exempel statuiert werden – hierzu sein Bruder Nicholas Fraser: »The judge was saying, you know, you might forgive the Rolling Stones, with their background, but you couldn’t with somebody who came from Eton.« Zit. n.: Vyner: Groovy Bob, S. 191. 21 Der komplette am 1. Juli 1967 erschienene Artikel ist nachzulesen ebd., S. 181-183. 22 Vgl. Bove: Instant view, S. 151-153. 23 Hamilton: Collected Words, S. 104. 24 Vgl. Stephens/Stout: Art & the 60s, S. 135.
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Galerie zusammen und fertigte selbst die Werkserie Swingeing London 67 an.25 Zunächst entstand ein Kunstposter, welches als Collage unter Einbeziehung des Pressematerials gestaltet wurde, das die Galeriemitarbeiter über den Prozess gesammelt hatten. Abbildung 2: »Swingeing London 67-Poster«
1967/68. Lithographie auf Papier, 71,1 x 49,8 cm. (Tate Gallery, London)
Das Poster erinnert in seinem formalen Aufbau an eine Zeitungsseite: Es enthält als große Titelüberschrift Stones: A strong, sweet smell of incense, sowie viele 25 Für die Ausstellung »A Tribute to Robert Fraser« bekam Richard Hamilton von fast allen durch Fraser vertretenen Künstlern ein Kunstwerk zur Verfügung gestellt. Vgl. Vyner: Groovy Bob, S. 189-191.
72 | A NNA B RAUN kleinteilige Artikel und Fotografien. Bei genauerem Betrachten fällt jedoch auf, dass die Schriftteile wesentliche Fakten aussparen und stattdessen – wie es charakteristisch für den Prozess war – viele irrelevante und sensationslüsterne Informationen bieten. Man kann daher keine inhaltlichen Aussagen über den Gegenstand aus der Seite herausfiltern. Das Geschehen verbleibt als Hülle ohne Inhalt ein rein mediales Spektakel. Außerdem betont Hamilton Widersprüche in der Berichterstattung und enthält dem Betrachter den Ausgang des Prozesses vor. Robert Fraser und seine Galerie stehen – wie bereits im TIME-Artikel – als Verkörperung des durch die Medien indizierten Topos »Swinging London« im Mittelpunkt und sind dem durch die Justiz dargestellten Establishment ein Dorn im Auge. Hamilton stellt deshalb nicht nur im Titel einen deutlichen Bezug zum TIME-Artikel her, sondern auch dadurch, dass er den Briefkopf der Galerie unter die ausgeschnittene Überschrift des Covers »The Swinging City« mittig rechts setzt – als wichtigste Adresse in »Swinging London«. Außerdem findet sich ein Teil des Bildes aus TIME mit einem Gemälde von Bridget Riley links oben wieder.26 Die Basis für die darauf folgenden Siebdrucke bildet ein Pressefoto von John Twine27, welches sich im »Poster« oben links direkt unter der Überschrift findet und Mick Jagger und Robert Fraser auf dem Weg zum Gericht mit Handschellen zusammengefesselt zeigt.28 Die Verurteilung wird in Hamiltons Arbeit zum Symbol eines »eskalierenden Generationenkonflikts«.29 Dies zeigt bereits das Wortspiel im Titel an: Mit der riesigen/gewaltigen (»swingeing«) Strafe reagiert das alte London auf den neuen, schwungvollen (»swinging«) Geist.30 Hamilton entlarvt den Mythos »Swinging London« als »mediales Konstrukt«.31
26 Vgl. Bove: Instant view, S. 158 ff. 27 Fotografie von John Twine für den Daily Sketch vom 29. Juni 1967. 28 Von diesem Siebdruck gibt es 15 Versionen, die alle im Zeitraum 1968 bis 1972 entstanden. Vgl. Bove: Instant view, S. 173 ff. 29 Ebd., S. 154. 30 Vgl.
http://www.tate.org.uk/servlet/ViewWork?workid=5782&tabview=text
(5.12.
2012). Hamilton hierzu: »Robert had been very well represented in the Time piece […]. So it was a pun on the swinging London and the swingeing sentence« Zit. n.: Stephens/Stout: Art & the 60s, S. 135. 31 Bove: Instant view, S. 172.
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P OPAFFINER I NTERAKTIONSRAUM : D IE R OBERT F RASER G ALLERY Richard Hamilton – Mitbegründer der Independent Group – stellte damit nicht die kulturellen Innovationen der Zeit infrage. Vielmehr wies er darauf hin, dass der als Gegenkultur gepriesene mediale Topos dabei war, zum »Identifikationsmodell der Kulturindustrie« zu werden.32 Den begrenzten Radius der ursprünglichen »scene« von Swinging London benennen Protagonisten der Zeit retrospektiv ganz deutlich, etwa Bryan Robertson, damaliger Direktor der Whitechapel Art Gallery: »At that time – don’t forget what we take for granted now, you couldn’t take for granted then – the so-called sexual revolution, this emancipation, this change in attitude to sex, only existed in art schools and in some circles. […] The freedom was in art schools and areas of general permissiveness. Art parties, yes. Some London parties and dinner parties, well, yes, OK. The London art world, well, yes, quite a bit. Outside that, forget it!«33
In diesem kleinen Zirkel waren verschiedene ästhetische Disziplinen wie Kunst, Musik, Mode, Film und Literatur vertreten. Ein gemeinsames Forum boten Szenetreffpunkte wie die Robert Fraser Gallery: »Robert Fraser knew Lennon, Yoko, Jagger – that connection. It was the beginning of ›Swinging London‹.«34 In den 1960er Jahren wandelte sich die Londoner Galerieszene grundlegend: Vom Aufschwung des Kunstmarkts in der Nachkriegszeit und dem Erfolg zeitgenössischer Kunstrichtungen profitierte auch London.35 Da die Museen noch in den 1950er Jahren so gut wie keine zeitgenössische Kunst zeigten36, übernahmen die kommerziellen Galerien diese Funktion. Mit dem Anbruch der 1960er Jahre eröffneten in London einige neue Galerien, die sich erstmals ausschließlich auf zeitgenössische, oftmals noch unbekannte Kunst spezialisierten.37 Mit dem neuen Inhalt ging auch eine neue Gestaltung der Innenräume einher, die sich von der
32 Ebd., S. 202. Zur Fusion von Gegenkultur und Kulturindustrie vgl. Grasskamp: Die große Maskerade. 33 Zit. n. Vyner: Groovy Bob, S. 144. 34 Gene Mahon zit. n. Green: Days in the Life, S. 91. 35 Vgl. Stephens/Stout: Art & the 60s, S. 28. 36 Zu dieser Zeit gab es in London kein eigenes Museum für zeitgenössische Kunst. 37 Vgl. Melia (Hg.): David Hockney, S. 12-14, und Sylvester: »Someone you had to be a bit careful with«, S. 18-20 (wie Anm. 1).
74 | A NNA B RAUN als »very ›upholstered‹, carpeted and kind of ›antique looking‹«38 geschilderten Ausstattung traditioneller Galerien absetzte. Die neuen Ausstellungsräume waren der Inbegriff dessen, was Brian O’Doherty 1976 als »White Cube«39 bezeichnen sollte: offen, hell und modern. Eine dieser wenigen neuen Galerien war die Robert Fraser Gallery, deren Bestehen von 1962 bis 1969 in der 69 Duke Street in etwa deckungsgleich mit der Dekade war. Als Vertretung der neuartigen »pop movement« – die Popmusiker und Popkünstler integrierte – war sie die Szenegalerie der Stadt und vereinte alle Charakteristika, die man mit dem Begriff »Swinging London« verbindet. Die örtliche Versammlung von Kunst- und Musikavantgarde förderte die Interaktion zwischen den beiden Sphären. Robert Fraser, Gründer und Leiter der Galerie, wurde 1937 in London als Sohn des Bankiers Lionel Fraser geboren. Seine Eltern ermöglichten ihm eine Ausbildung am prestigeträchtigen Eton College. Schon zu Schulzeiten hatte er großes Interesse an der Kunst- und Glamourwelt. 1958 ging er für vier Jahre in die aufstrebende Kunstmetropole New York, zu einer Zeit, als sich die Pop Art zu etablieren begann. Hier erlernte er, der keine kunsthistorische Ausbildung besaß, Kunsthandel in der Praxis. Durch seinen Mitbewohner David Herbert, den damaligen Assistenten des bekannten Galeristen und Kunsthändlers Sidney Janis, lernte er viele bedeutende Personen der Kunstszene kennen, besuchte Ateliers und freundete sich mit Künstlern wie Ellsworth Kelly und Jim Dine an. Auch zeitgenössische amerikanische Galerien und deren Ausstellungskonzepte waren ihm bekannt, etwa die Leo Castelli Gallery oder die Ferus Gallery, in der Andy Warhol 1962 seine erste Einzelausstellung hatte.40 Solche Kontakte machten ihn mit den neuesten amerikanischen Kunstentwicklungen vertraut, während Freundschaften und das Geld seiner Eltern es ihm ermöglichten, einen beachtlichen Grundstock an zeitgenössischer und bis dato oft »unentdeckter« Kunst zusammenzukaufen. Ähnlich wie die englischen Künstler der Zeit ließ sich auch Fraser von Amerika anregen und entwickelte den Wunsch, seine eigene Galerie in London zu gründen, in der vor allem die in Europa noch weithin unbekannte zeitgenössische amerikanische Kunst gezeigt werden sollte. Nach London zurückgekehrt, setzte er diesen Plan 1962 in die Tat um. Der Ausstellungsraum wurde von dem Architekten Cedric Price gestaltet: Er war 38 Zitiert aus einer Mail von Tot Taylor, dem aktuellen Leiter der Riflemaker Gallery in London, am 8. September 2010. 39 Mit »White Cube« ist das heute gängige Ausstellungkonzept gemeint, dass Kunst auf weißen Wänden zeigt. Es soll eine Beeinflussung der Wahrnehmung des Kunstwerks durch äußere Faktoren vermeiden. 40 Vgl. Vyner: Groovy Bob, S. ix.
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komplett weiß41 und zählte damit in London allein schon durch die Gestaltung zur Avantgarde der Galerien. Bald war Fraser ebenso vertraut mit der britischen Kunstszene wie mit der amerikanischen: »It took me a few years to get a good group of English painters together«.42 Nach der Eröffnungsausstellung mit Papierarbeiten Jean Dubuffets im April 1962 spezialisierte sich die Galerie daher auf zeitgenössische, avantgardistische Kunst aus Amerika, Großbritannien und Europa – vor allem Pop Art. Von den europäischen Künstlern stellte er zumeist diejenigen mit Bezug zum Surrealismus aus, was wiederum die Verbindung der britischen Nachkriegskunst zu den europäischen Vorkriegsavantgarden verdeutlicht.43 Zu den von ihm ausgestellten Künstlern zählten Clive Barker, Hans Bellmer, Peter Blake, Derek Boshier, Patrick Caulfield, Jim Dine, Jean Dubuffet, Gilbert & George, Richard Hamilton, Jann Haworth, Konrad Klapheck, Claes Oldenburg, Eduardo Paolozzi, Robert Rauschenberg, Bridget Riley, Colin Self und Andy Warhol.44 Viele der amerikanischen und europäischen Künstler präsentierte er erstmals der britischen Öffentlichkeit.45 Britischen Künstlern wie beispielsweise Bridget Riley verhalf er hingegen zum großen Durchbruch. So konnte er die britischen Künstler international platzieren und Kontakte zur Kunstszene in New York und Paris knüpfen.46 Die Ausstellungen waren innovativ – vor allem in Bezug auf die gezeigten Künstler: »I like to see artists who are provoking and breaking new ground«. 47 Aber auch die Gestaltung dieser Ausstellungen war dazu passend chic, neuartig 41 War diese nun als ideal empfundene architektonische Gestaltung schon in den 1920er Jahren angewandt worden, so war sie doch in den 1960er Jahren in London neu. Vgl. Kravagna: White Cube, S. 302-305. 42 Zit. n.: Aitken: The Young Meteors, S. 192. 43 Von Künstlern wie René Magritte ist zwar nicht bekannt, dass er sie ausstellte, aber er handelte mit ihren Werken. Vgl. Vyner: Groovy Bob, S. 74-75. Die Verbindungen der britischen Kunst- und Musikszene der Nachkriegszeit mit den europäischen Vorkriegsavantgarden werden auch eine Rolle in meiner Dissertation mit dem Arbeitstitel »Connections: Pop-Interferenzen zwischen Kunst und Musik im London der 1950er1970er Jahre« spielen. 44 Eine Liste der von 1962 bis 1969 stattgefundenen Ausstellungen hat Jens Bove im Rahmen seiner Dissertation anhand des Buches von Harriet Vyner zusammengestellt. Vgl. Bove: Instant view, Anhang. 45 Clive Barker hierzu: »You saw things there that you could never see anywhere else […] You saw Jim Dine and Andy Warhol there before you saw them anywhere else«. Zit. n. Vyner: Groovy Bob, S. 137. 46 Vgl. ebd., S. 69 ff. 47 Zit. n. Aitken: The Young Meteors, S. 192.
76 | A NNA B RAUN und provokant, was sich an verschiedenen Aktionen zeigte, die Charakter und Außenwirkung der Galerie prägten. So ließ er etwa kurzfristig den gesamten Galerieraum für eine Bridget-Riley-Ausstellung schwarz streichen, damit ihre kleinen, optischen Schwarzweiß-Zeichnungen besser zur Geltung kamen.48 Eine solche variable Gestaltung des Ausstellungsraums war neu. Die Künstler schätzten Fraser daher als jemanden, der ein besonderes Auge und Gefühl für ihre Werke hatte und stets bemüht war, sie optimal zu präsentieren. Allerdings schätzten sie weniger, dass er sie nur selten bezahlte.49 Geradezu skandalträchtig war das Plakat des Grafikdesigners Robert Brownjohn zu der »Obsession and Fantasy«-Ausstellung von 1963, das zwar relativ simpel gestaltet war, aber zur damaligen Zeit Schockpotenzial hatte: Es zeigt einen nackten weiblichen Oberkörper, auf den das Wort »Obsession« in schwarzen Lettern geschrieben stand. Die Buchstaben waren dabei so platziert, dass die Brustwarzen die beiden »Os« des Worts »Obsession« bildeten. Das stark sexuell konnotierte Design, welches zur »sexuellen Befreiung« der sechziger Jahre passte, sorgte allerdings nicht für einen Skandal, da es zu dem frühen Zeitpunkt nur einem kleinen Kreis von Kunstinteressierten bekannt war.50 Mit fortschreitendem Bekanntheitsgrad wurden solche Provokationen dann allerdings anders rezipiert und folglich auch reglementiert, wie sich 1966 bei einer Jim-Dine-Ausstellung zeigte. Die ausgestellten Zeichnungen und Collagen zeigten stark verfremdete männliche und weibliche Genitalien, die nach Polizeiangaben durch das Galerieschaufenster von der Straße aus zu sehen waren. Daher wurden die Werke beschlagnahmt und Fraser wurde zu einer Geldstrafe verurteilt.51 In Anbetracht des Abstraktionsgrades der Bilder wirkte der Prozess schon damals absurd und lässt – ebenso wie der Drogenprozess gut ein halbes Jahr später – darauf schließen, dass an Fraser ein Exempel statuiert werden sollte.52 Der unkonventionelle Lebensstil dieses aus gutem Hause kommenden jungen Galeristen, der in seiner Person das alte und neue England zu vereinen schien, war der konservativen Gesellschaft wohl schon länger ein Dorn im Auge.53
48 Vgl. Vyner: Groovy Bob, S. 131. 49 Vgl. Bell: Robert Fraser Gallery, S. 128. 50 Vgl. King: Robert Brownjohn, S. 190-192. 51 Vgl. Vyner: Groovy Bob, S. 144-146. 52 Vgl. Bell: Robert Fraser Gallery, S. 128. 53 Vgl. Engle: Art & the 60s (wie Anm. 1).
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Der den Zeitgeist repräsentierende Charakter der Galerie wurde dadurch unterstrichen, dass ihr Besitzer selbst eine der gefragtesten Personen der Szene war. Kongruent zu der Atmosphäre seines Ausstellungsraums entwickelte sich Robert Fraser in den 1960er Jahren zu einer schillernden, allseits bekannten Persönlichkeit.54 Mit der noch bis in die 1950er Jahre gesellschaftlich tabuisierten Homosexualität paarte sich ein exzentrischer Lebensstil, der sich unter anderem in eleganter Kleidung, einer Wohnung im luxuriösen Stadtteil Mayfair wie auch dem Konsum weicher und später harter Drogen zeigte.55 Letzteres führte dazu, dass diese gelebte Dekadenz durch seine Haft in Folge des Drogenskandals um eine bis dato ihm unbekannte Facette erweitert wurde. Von dort ließ er sich, das spartanische Gefängnis konterkarierend, statusbewusst von einem Rolls-Royce abholen. Aufgrund seines Bekanntheitsgrades wie auch der eigenwilligen Lebensart könnte man ihn daher – analog zu dem Künstler-Popstar Warhol – als den Popstar unter den Galeristen bezeichnen. Auf die Frage, ob Fraser selbst eine Berühmtheit gewesen sei, antwortet der von ihm vertretene Künstler Clive Barker: »Oh yeah. In a way he was probably more famous than all of us […] You know what I mean […] Everybody knew Robert.«56 Mit dieser Nähe zur Glamourwelt der Popszene war die Robert Fraser Gallery der ideale Ort, um Kunst und Popmusik zu verknüpfen. Der Künstler Peter Blake bemerkt dazu: »Robert Fraser was probably a very powerful catalyst for that – that was a link between the musicians and the arts – not he, personally, but his world.«57 Die Einführung des Faktors »Glamour« in die Kunstwelt und damit die Nähe zur populären Welt von Musik, Film und Mode, die zumeist Andy Warhol zugeschrieben wird58, findet daher in Robert Fraser ihr englisches Pendant. Obgleich er kein bildender Künstler war, kann er aufgrund vielfältiger übereinstimmender Merkmale doch als eine Art britischer Warhol bezeichnet werden: wegen seiner Rolle als Verbindungsglied zwischen den Künsten, seiner Homosexualität, dem
54 In verschiedenen Quellen wird »Groovy Bob« als Frasers Spitzname genannt. Seine ehemalige Galerieassistentin Susan Loppert und die von ihm vertretene Künstlerin Jann Haworth wiesen im Gespräch mit der Autorin diesen Spitznamen jedoch zurück. 55 Vgl. Stephens/Stout: Art & the 60s, S. 135; Vyner: Groovy Bob, S. 66-68. 56 Vgl. Engle: Art & the 60s, 33:49-34:00 min. (wie Anm. 1). 57 Zitiert nach Blake: Art into Music into Art, in: Aspects: a journal of contemporary art 31 (1985), S. 6-7, hier S. 6. 58 Vgl. Holert: Glamour, S. 103-107. Bereits Richard Hamilton nennt 1957 »glamorous« als ein Merkmal der Pop Art.
78 | A NNA B RAUN Umgang mit Drogen und des engen Zusammenhangs zwischen Arbeit und Leben. Ebenso schätzte er die Anwesenheit von Stars in seiner Nähe und war in der Szene selbst einer von ihnen. Auch der Interaktionsraum seiner Galerie weist konzeptionelle Ähnlichkeiten mit dem bekannten Warhol’schen Künstleratelier Factory in New York auf, das als Plattform für einen kreativen Kreis Kunst, Musik und Celebrity-Kultur vereinte und somit ein neues Verständnis von Kunst und Künstler formulierte. Ähnlich wie Warhol, der den Ort des traditionellen Künstlerateliers mit dem Konzept der Factory neu erfasste, erweiterte auch Fraser mit der Neudefinition des Ortes »Galerie« die Funktionsmöglichkeiten desselben, wie sich in einem Kommentar des Künstlers Colin Self zeigt: »It was more than a place where business was done about pictures«.59 Beide Orte changierten in ihrer populärkulturell-kreativen Vielfalt zwischen Offenheit und einer klar abgegrenzten subkulturellen Gruppe. Die Entourage, die sich bereitwillig um ihr jeweiliges personelles Zentrum scharte, war ein wichtiges Element bei Warhol und Fraser. Sowohl die Factory als auch die Robert Fraser Gallery waren Schauplätze für die Verknüpfung zwischen den relevanten Personen: Musiker, Künstler und Vermittler. Sie formten die Orte, die Orte formten sie.
T RANSFER /P ART I: S ZENETREFFPUNKT Ebenso wie Robert Fraser mit den neuesten Entwicklungen und Protagonisten der Kunst vertraut war, war er es auch mit denen der Popmusik. Die Beatles hatten ihren großen Durchbruch im Frühjahr 1963 und wurden quasi zeitgleich mit Fraser und seiner Galerie berühmt. Persönlich bekannt wurden sie mit Fraser erst um 1965/66. Die Verbindungen zwischen Kunst und Popmusik, die in diesem Klima vor allem in den Jahren 1965 bis 1968 entstanden, waren ebenso vielfältig wie die Rolle, die Robert Fraser und seine Galerie dabei spielten. Die Galerie ebenso wie die nahe gelegene Privatwohnung in der Mount Street boten Foren zur Begegnung und Vernetzung von Personen und deren kreativer Arbeit. Hierbei war die Tatsache, dass Fraser nahezu alle relevanten Persönlichkeiten der Szene kannte, von besonderer Bedeutung, da er sie in vielfältigen Zusammenstellungen um sich scharte und so als Vermittler zwischen den Sphären auftrat. Keith Richards betont in diesem Zusammenhang: »He observed and gathered together the best and brightest around«. Dazu zählten sowohl die Beatles und die Rolling Stones wie auch die von ihm ausgestellten Künstler, mit denen er zumeist ein freundschaftliches Verhältnis pflegte. Durch
59 Engle: Art & the 60s (wie Anm. 1).
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diese Bekanntschaften waren häufig Musiker in seiner Galerie zu Besuch, wie Mick Jagger erzählt: »I used to go to the gallery a lot and sit and look at the paintings«. Paul McCartneys Erinnerungen sind ähnlich: »I started getting invitations to previews and I’d stand around and meet the art crowd of that time. I went to Robert’s gallery, we started a chat, and then I would often visit him at his flat. Robert’s flat was like a second gallery«.60 Er spricht sogar davon, Fraser bei Ausstellungsgestaltungen geholfen zu haben.61 Daraus lässt sich schließen, dass die Musiker mit den neuesten Entwicklungen in der Kunstszene vertraut waren und sich hier Anregungen für die visuelle Gestaltung ihres Erscheinungsbildes holten. Chris Jagger – der Bruder Mick Jaggers – stellt dazu fest: »People like Robert […] were absolutely key to the process. Robert would have an exhibition and the Rolling Stones [and others] would nick some ideas from it for their next album cover«. Peter Blake schreibt ihm eine Tutorenfunktion zu: »You could just as well say that Mick Jagger and the others were interested in hanging around Robert […]. In a way he got more from Robert than Robert got from him […]. The rock people were glamorous too, but Robert was very glamorous […]. He kind of tutored them in a way«.62 Besonders im Rahmen von Ausstellungseröffnungen63, aber auch bei privaten Zusammenkünften in der Wohnung Frasers trafen dann die verschiedenen mit ihm bekannten und in unterschiedlichen Branchen tätigen jungen Kreativen aufeinander.64 Da die Szene damals sehr klein war, schien jeder jeden zu kennen – was auf solche gemeinsamen Treffpunkte der Sixties-Boheme wie die Galerie Frasers und dessen Wohnung zurückzuführen ist.65 Die Anwesenheit der Stars wiederum förderte den Bekanntheitsgrad und die Exklusivität seiner Galerie und seiner Person. Die Eröffnungen wurden zu regelrechten Celebrity-Events. In seiner Privatwohnung wurden gemeinsam Drogen genommen, Musik gehört, aber auch Filme gezeigt, wie beispielsweise diejenigen von Kenneth Anger und 60 Alle drei Zitate nach: Vyner: Groovy Bob, S. 101-103. 61 Vgl. Miles: Paul McCartney, S. 286. 62 Beide Zitate nach: Vyner: Groovy Bob, S. 103. 63 Clive Barker: »The openings were great. I mean everybody was there. Robert was a great guy cause he’d introduce you to people. You met Dennis Hopper, Marianne Faithfull, the Stones, the Beatles«. Patrick Caulfield erzählt von einer Begegnung mit Antonioni und Marlon Brando in der Fraser Gallery. Vgl. Engle: Art & the 60s, 27:33-28:07 min. (wie Anm. 1). 64 Vgl. Brauer/Edwards: Pop Art, S. 36. 65 Marianne Faithfull hierzu: »There were a lot of interesting people around at that time and we knew all of them.« Zit. n.: Engle: Art & the 60s, 26:30-26:36 min. (wie Anm. 1).
80 | A NNA B RAUN 1967 in Anwesenheit Andy Warhols dessen Film Chelsea Girls.66 Eine Fotografie zeigt Fraser und Warhol gemeinsam, vermutlich während Warhols Aufenthalt in London. Wenngleich Fraser anders als Warhol keinen Anspruch auf eigene künstlerische Produktion hatte, sah er seine Rolle doch – vor allem in Bezug auf Popmusik – ähnlich wie Warhol. Gab dieser sich auf dem Plattencover von The Velvet Underground & Nico Produced by Andy Warhol als deren Produzent aus, so begriff Warhol die Band als ganzheitliches Kunstprojekt, für das er nach eigenen Aussagen wie ein »Bleistiftspitzer« fungierte: Er selbst war nicht der ausführende Part, aber derjenige, der das Projekt formte.67 Fraser bezeichnet seine Funktion als die eines »Impresarios«68, vergleichbar mit der Rolle, die Malcolm McLaren in den siebziger Jahren für die Sex Pistols spielen sollte.
T RANSFER /P ART II: B EATLES -Ä STHETIK Die Musiker, auf die Fraser mit Abstand den meisten Einfluss hatte, waren die Beatles. Ihnen gab er – und darin besteht die zweite Ebene der Verknüpfung seiner Galerie und Person mit der Popmusik – Hinweise und Ratschläge in Bezug auf die visuelle Gestaltung der Band, die diese auch annahmen. Fraser soll oft bei den Beatles gewesen sein, um ihre neuen Demos anzuhören.69 Da besonders Paul McCartney wiederum sehr an Kunst interessiert war und selbst sammelte, vertraute er auf die künstlerische Beratung und die Kauftipps von Robert Fraser, den er im Frühjahr 1966 kennen lernte: »Fraser hat mich entscheidend beeinflusst. […] in Sachen Kunst hat mich Robert am meisten geprägt.«70 Die Orientierung an Fraser betont McCartney immer wieder: »Mainly he was the art eye that I most respected. He turned me on to a lot of good art, and he turned me off a lot not so good art, which was very helpful.«71 Da es zu dieser
66 Vgl. Vyner: Groovy Bob, S. 134-135. Warhol hatte im Juli 1966 bei Fraser eine Einzelausstellung. Über den Besuch Warhols in London vgl.: Warhol!, in: International Times, Nr. 14, 2. Juni 1967, S. 10. 67 Vgl. Braun: Die Kunst der Populärmusik (16.12.2013). 68 Robert Fraser: »I would like to play more of an impressario role, to do things beyond the scope of the art gallery context.« Suzi Gablik: Protagonists of Pop. Five interviews conducted by Suzi Gablik, in: Studio International 178 (July/August 1969) 913, S. 916, hier S. 12. 69 Vgl. Vyner: Groovy Bob, S. 171. 70 Vgl. Miles: Paul McCartney, S. 269-271. 71 Zit. n.: Vyner: Groovy Bob, S. 172.
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Zeit wenige britische Kunstsammler gab72, war Fraser vermutlich dankbar ob des zahlungskräftigen, interessierten Freundes als Kunden. Kunstwerke regten McCartney etwa bei der Gestaltung von Plattencovern an.73 So kaufte er von Clive Barker den 1966 angefertigten und vermutlich im selben Jahr bei Fraser ausgestellten Van Gogh’s Chair, der den von Van Gogh gemalten Stuhl mit Pfeife in eine dreidimensionale Skulptur umsetzte.74 1983 war dieser Stuhl auf dem Soloalbum von McCartney Pipes of Peace als zentrales Objekt auf dem Cover wiederzufinden. Zur Anregung wurde auch ein Bild René Magrittes aus dem Jahr 1966, das Fraser an McCartney verkaufte. McCartney war ein großer Fan der Surrealisten, insbesondere Magrittes. Da Robert Fraser dessen Händler – Alexandre Iolas – persönlich kannte, bekam McCartney die Möglichkeit, einige Bilder des Künstlers anzukaufen, noch bevor dieser 1967 verstarb. Das Bild Le jeu de mourre (1966), das einen grünen Apfel vor braunem Hintergrund zeigt, auf dem in Schreibschrift »Au revoir« geschrieben ist, verkaufte Fraser McCartney kurz nach der Fertigstellung. Laut McCartney diente es als Vorlage des Apple-Logos der 1968 von den Beatles gegründeten Plattenfirma.75 Das Logo, gestaltet von dem Grafiker Gene Mahon nach der Idee der Beatles, besteht als reines Symbol ohne Schrift aus einem hellgrünen Granny-Smith-Apfel, der auf der A-Seite der Schallplatten immer ganz abgebildet war, auf der B-Seite hingegen aufgeschnitten.76 Bemerkenswert ist die Ähnlichkeit der reduzierten Symbolsprache zu der Banane, die Andy Warhol im Jahr zuvor auf dem Cover des Debütalbums von The Velvet Underground & Nico platzierte. Einen noch größeren Einfluss hatte Robert Fraser bei der Gestaltung zweier Plattencover der Beatles: Die Idee, sowohl bei dem Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967) als auch bei dem 1968 folgenden Album The Beatles – aufgrund der markanten Nicht-Farbigkeit des Covers bekannt als White Album – einen bereits namhaften bildenden Künstler mit der Gestaltung zu beauftragen,
72 Bryan Robertson: »There aren’t many art collectors in Britain. It must have been very hard for him.« Zit. n.: Ebd., S. 79. 73 Zur Bedeutung von Schallplatten als Ton- und Bildquellen der Zeitgeschichte vgl. Mrozek: Geschichte in Scheiben. 74 Der Ankauf durch McCartney ist nur durch den Künstler selbst bestätigt. Vgl. Engle: Art & the 60s (wie Anm. 1). 75 Vgl. Miles: Paul McCartney, S. 301 ff. und Vyner: Groovy Bob, S. 129 f. 76 Vgl. Evans: The Art of the Beatles, S. 80 f. Jedoch wurde aufgrund der Notwendigkeit der Informationsangabe auf der Plattenhülle der Apfel mit Schrift versehen. Vgl. Miles: Paul McCartney, S. 546 f.
82 | A NNA B RAUN ging auf ihn zurück.77 Fraser empfahl auch gleich den jeweils ausführenden Künstler: Sowohl Peter Blake und Jann Haworth, die mit dem Sgt.-PepperCover betraut wurden, wie auch Richard Hamilton für das White Album waren durch seine Galerie vertretene, renommierte Pop-Künstler. Der Vorschlag, zwei »seiner« Künstler zu beauftragen, war nicht ganz uneigennützig: Durch das Cover von Sgt. Pepper konnte sich Fraser einer erheblichen finanziellen Beteiligung sicher sein. Zudem beauftragte er seinen Galerie-Fotografen Michael Cooper, das Foto zu machen.78 Fraser wählte bewusst zwei Künstler, die bereits zuvor einen besonderen Bezug zu Musik hatten: Im Werk Peter Blakes ist die Popmusik ein immer wiederkehrendes Motiv – zum Beispiel in den Arbeiten The 1962 Beatles oder Bo Diddley –, aber auch Richard Hamilton beschäftigte sich unter anderem mit den Rolling Stones. Beim Sgt.-Pepper-Album gab es bereits einen Entwurf der Künstlergruppe The Fool, der jedoch auf Anraten Frasers ersetzt wurde durch den Peter Blakes: »For the Sgt. Pepper’s Cover, Robert advised Paul not to go for a psychedelic design, which in years to come would just be one of many, and suggested he commissioned an artist rather than a record cover designer«.79 Auf dem Cover abgebildet sind bühnenbildhaft inszeniert die vier Beatles in Kostümen neben Wachsfiguren und vor einer aus Pappfiguren bestehenden collagierten Gesichterwand ihrer selbst gewählten Idole. Vor ihnen befinden sich als Blumenbeet gestaltet der Schriftzug »Beatles« sowie verschiedene detailreiche Objekte. Die Innenhülle enthält einen Ausschneidebogen. 80 Das Cover ist auffällig und bunt.81 Paul McCartney schreibt Fraser innerhalb dieses Projekts die Rolle des »Art Directors« zu, der das Kollektiv aus Musikern, Fotografen und Künstlern der Szene zusammenhielt.82
77 Für eine ausführliche kunstwissenschaftliche Analyse vgl. Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper. 78 Vgl. Muir: Michael Cooper, o. S. 79 Peter Blake zit. n.: Ades/Blake (Hg.): Peter Blake, S. 23. 80 Im Gegensatz zu Warhols »Do it yourself«-Bildern – die für die Hängung im Museum gedacht sind – kann der Betrachter hier jedoch tatsächlich der Aufforderung zur Partizipation nachkommen. Ähnlichkeiten weist der Ausschneidebogen daher auch mit der partizipativ angelegten Kunst Yoko Onos auf. 81 Dazu ausführlich Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper, S. 7-66. Der Bezug zu Fraser und dem Drogenprozess um ihn sowie Jagger und Richards ist gegeben durch die mittig rechts platzierte Puppe mit der Aufschrift »Welcome the Rolling Stones«. 82 Vgl. Vyner: Groovy Bob, S. 172.
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Wird Robert Fraser zumeist nur in einem Nebensatz als der Initiator dieser Idee genannt83, so ist doch ihm die Errungenschaft zuzuschreiben, einen namhaften bildenden Künstler für ein Popmusik-Plattencover beauftragt und sogar die konkrete Auswahl der Künstler getroffen zu haben. Auf dieser Grundlage konnte das ganze Album eine Gleichstellung mit der Hochkunst beanspruchen.84 Die Bedeutung, die dieser Schritt für die künstlerische Aufwertung der Beatles hatte, ist daher nicht bei den Musikern selbst zu suchen, sondern bei Fraser als ihrem künstlerischen Berater. Das darauf folgende so genannte White Album ist gestalterisch ein radikaler Gegenentwurf zu Sgt. Pepper.85 Das Gestaltungskonzept des Covers setzt sich aus vier Hauptmerkmalen zusammen: der in weiß gehaltenen monochromen Farbfläche, dem blindgeprägten Bandnamen, der aufgedruckten fortlaufenden Seriennummer – die auf eine limitierte Kunstauflage anspielt – und dem Kunstdruck als Poster im Inneren. Letzteres gleicht in der Gestaltung und dem formalen Aufbau dem im selben Jahr entstandenen Swingeing London 67-Poster, indem es Fotografien der Beteiligten scheinbar wahllos collagiert.86 Diese konzeptuelle, minimalistische Gestaltung, die in Richtung Fluxus tendiert, scheint sich von den der Pop Art zugeschriebenen sonstigen Arbeiten Hamiltons abzuheben.87 Beide Plattencover entsprechen aber in ihren Ansätzen der grundlegenden Idee der Pop Art – der Nivellierung von »High« und »Low«. Anders als PopArt-Werke, die für das Museum gemacht wurden, war der Präsentationsrahmen hier ein tatsächliches Medium der Popkultur: die Schallplatte.88 Die Zusammenarbeit zwischen Kunst und Popmusik bot so die Möglichkeit, die oft nur theoretisch angestrebte Nivellierung im Werk tatsächlich zu schaffen. 83 Vgl. u. a. Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper, S. 9. 84 Vgl. Weinstein: The Sgt. Pepper Cover, S. 67. 85 Vgl. Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper, S. 67. 86 Vgl. Miles: Paul McCarrtney, S. 622-624; Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper, S. 67-88. 87 Richard Hamilton hierzu: »I’ll just make it white. And this idea was accepted, I think partly because Yoko Ono would have seen the point. […] All I wanted to put on was a number, to make it an edition of five million, and they should be numbered from one to five million. That seemed to me to be a Fluxus idea«. Zit. n. Vyner: Groovy Bob, S. 217-218. In einer anderen Quelle sieht er durch den 1968 sehr präsenten Einfluss von Yoko die Gefahr, dass sein Werk ihr zugeordnet werden könne. »Die meisten Leute, Yoko eingeschlossen, glaubten, das Cover sei Yokos Idee gewesen« Zit. n.: Miles: Paul McCartney, S. 625. Die Farbe Weiß und der konzeptuelle Ansatz waren zu dieser Zeit in Yoko Onos Werk dominant. 88 Vgl. Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper, S. 113f.
84 | A NNA B RAUN War es Zufall, dass in New York Andy Warhol zur selben Zeit die Idee hatte, als bildender Künstler ein Plattencover einer Popgruppe zu gestalten – für The Velvet Underground?89 Es besteht die Möglichkeit einer unabhängigen Entwicklung, allerdings deutet einiges darauf hin – die betont freundschaftliche Verbindung –, dass einer die Idee des anderen aufnahm und sie in seine eigene Sphäre übertrug.90 Walter Grasskamp nimmt an, dass Fraser durch Warhol inspiriert worden sei.91 Jedoch muss auch die umgekehrte Möglichkeit offengehalten werden, da Warhol zu der Zeit den Kreis um Fraser in London besuchte. Wie auch immer die persönliche Dimension des Austauschs ausgesehen haben mag, so kann die Parallelität der Ideen auf die Entstehung neuer, ähnlich funktionierender ästhetischer Begegnungsräume beiderseits des Atlantiks zurückgeführt werden. In ihnen wurde zuvor räumlich getrennt agierenden Szenen ein Ort zur Verschränkung geboten.
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Die dritte Ebene der Verknüpfung von Kunst und Popmusik durch die Robert Fraser Gallery besteht in der Ausstellungsfunktion. Als Galerist ermöglichte er es einem Musiker – dem Beatle John Lennon –, in seinen Räumen als Künstler im klassischen Sinne auszustellen. John Lennon hatte vor seiner musikalischen Laufbahn – wie viele andere seiner britischen Musikerkollegen dieser Zeit – auf einer Art School Kunst studiert, was einmal mehr die starke Verbindung zwischen bildender Kunst und Popmusik in Großbritannien erklärt.92 Die im Juli 1968 stattfindende Ausstellung, die unter dem Titel You are here firmierte und vornehmlich mit der Farbe Weiß arbeitete, war stark beeinflusst von der konzeptuellen Kunst Yoko Onos und ihrem Umgang mit Sprache und Ästhetik, hatte John Lennon sich als Künstler zuvor doch hauptsächlich mit Zeichnungen beschäftigt.93 Die Ideen von Fluxus und Konzeptkunst boten Len-
89 The Velvet Underground & Nico erschien im März 1967, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band im Juni. Ab wann das Warhol-Album in London erhältlich war, oder ob Fraser und andere es mit nach London brachten, ist nicht bekannt. Zu Tonträgern als künstlerischem Medium vgl. Braun: Die Kunst der Populärmusik 90 Marianne Faithfull und Paul McCartney bezeichneten die beiden als Freunde; vgl. Vyner: Groovy Bob, S. 179, 134. 91 Vgl. Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper, S. 95. 92 Vgl. Frith/Horne: Art into Pop. 93 Vgl. Herzogenrath/Hansen (Hg.): John Lennon, S. 162-164.
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non nun eine Möglichkeit, seine bildkünstlerischen Talente auszuleben, ohne technisch allzu versiert zu sein.94 Die Ausstellung bestand aus verschiedenen Objekten: Neben einer mit »you are here« beschriebenen, runden weißen Leinwand fand man im Galerieraum eine Ansammlung von verschiedenen Sammelboxen, die allesamt – als »objets trouvés«95 – auf dem Boden der Galerie wie Skulpturen ohne Sockel platziert waren. Daneben fand man auf zwei weißen Sockeln erhöht platziert einen umgedrehten Hut mit der Aufschrift »For the Artist. Thank you« sowie in einer Glasschale weiße, ebenso mit dem Schriftzug »you are here« versehene Buttons. Dazu gehörte eine Aktion, die am Tag der Eröffnung von John Lennon und Yoko Ono ausgeführt wurde und HappeningCharakter hatte: Sie ließen komplett weiß gekleidet 365 weiße Luftballons steigen, die mit Etiketten versehen waren, auf denen stand: »you are here. write to John Lennon. c/o Robert Fraser Gallery, 69 Duke Street, London W1«. Auch dieser Partizipationsaspekt war dem Werk Yoko Onos entlehnt. Trotz Lennons Berühmtheit als Musiker weckte die Ausstellung wenig Interesse und blieb schlecht besucht, was vermutlich daran lag, dass die Kunstkritiker ihn nicht ernst nahmen und die Fans ihn lieber wieder zusammen mit den Beatles auf der Bühne gesehen hätten.96 Entgegen Yoko Onos Einschätzung einer »very successful show«97 scheint Frasers nüchternes Resümee eher zuzutreffen: »Die John-Lennon-Ausstellung wurde nicht so gut aufgenommen. Aus heutiger Sicht muß man sagen, daß sie auch ein wenig prätentiös war – und ansonsten ein Jux. Ob es sich dabei um Kunst gehandelt hat, vermag ich nicht zu sagen.«98 Der Bezug zur Popmusik war in diesem Fall also nicht werkimmanent gegeben, sondern einzig durch die Person Lennons.99 Die Galerie nimmt hier jedoch wieder die Funktion des neuartig Kunst und Popmusik verschränkenden Ortes 94 Vgl. Walter Grasskamp: Das einsame Massenidol, in: Der Spiegel, Nr. 21, 22.5.1995, S. 198-200. 95 Hier ist der typische Bezug des Pop zu den Dadaisten und Marcel Duchamp erkennbar. In den sechziger Jahren wird der gefundene Gegenstand Teil der Pop-Art-Ästhetik, aber auch verstärkt bei Bewegungen wie dem französischen Nouveaux Réalisme eingesetzt. Lennons Verwendung ist hier also eine zeitgemäße. 96 Vgl. Herzogenrath/Hansen (Hg.): John Lennon, S. 164. Die International Times versucht der Kritik offenkundig entgegenzutreten: »It’s not an art exhibition; it’s an exhibition of a person – and what’s wrong with that?«. Vgl. Biddy Peppin: To Yoko. John Lennon (at the Robert Fraser Gallery, Duke St., W 1), in: International Times 35, 12. Juli 1968, S. 4 97 Zit. n.: Vyner: Groovy Bob, S. 216. 98 Zit. n.: Miles: Paul McCartney, S. 578. 99 Vgl. Grasskamp: Das einsame Massenidol, S. 198-200 (wie Anm. 94).
86 | A NNA B RAUN an. Sie stellt einen realen Raum für Projekte dar, die räumlich nicht eindeutig der einen oder anderen Sphäre zugeordnet werden können, und wird somit auch Raum für das neuartige Phänomen »Pop«.
F AZIT Mit dem Auslaufen der »Swinging Sixties« schien auch die Galerie am Ende, die in London wahrscheinlich am stärksten mit deren Geist verbunden war: Die Robert Fraser Gallery schloss 1969.100 Ihr Bestehen ging im London der 1960er Jahre mit der dortigen Ausprägung des Konzepts »Pop« als Wechselspiel zwischen den beiden Polen Kunst und Musik einher. Mit Galerien wie der Robert Fraser Gallery entstanden neue Orte der Verschränkung dieser beider Szenen, die sich durch ihre ästhetische Gestaltung von etablierten Orten absetzten und sich bis ins Private verlängerten. Die Schaffung solcher Orte war dabei maßgeblich von Personen wie Robert Fraser – dem hier die Funktion eines Kunstvermittlers neuen Typs zukam – gestaltet.101 Der Ort Kunstgalerie wurde somit zur sozialen Bühne ebensolcher Akteure. Beide – Ort und Akteur – fungierten im gegenseitigen Wechselspiel als Brücke zwischen dem etabliertem Kulturbetrieb und neuen Avantgarden sowie der Massenkultur. Erstmals waren somit Verflechtungen vorher getrennter Sphären möglich, die in größerem Maßstab massenmedial im Topos »Swinging London« gleichsam auf die Stadt übertragen wurden und als integrale Bestandteile eines neuen, verjüngten Stadt-Images inszeniert wurden. Die Ideen, die von diesem kleinen Kreis der Pop-Avantgarde entwickelt wurden, wurden durch das Phänomen der »Massenbohemisierung«102 – der Inbesitznahme von Charakteristika und Idealen der ehemals künstlerischen, randständigen und minoritären Boheme durch gesellschaftliche Großgruppen – populär gemacht. In diesen topographischen Setzungen lösten sich die Widersprüche von Massenkultur und Avantgarde zumindest im Bereich des Ästhetischen auf: Dieser Prozess zeigt
100 Ein Artikel zur Schließung der Galerie erschien in dem Musikmagazin Rolling Stone. Robert Fraser begab sich – wie viele Popstars der 1960er Jahre – in den 1970er Jahren nach Indien. Seine zweite, 1983 eröffnete Galerie konnte nicht mehr an die alten Erfolge anknüpfen. 1986 starb er an Aids. Vgl. Vyner: Groovy Bob, S. 228-230. 101 Zu Vorläufern in den Salons und Boheme-Orten der europäischen Vorkriegsavantgarde vgl. Gendron: Between Montmartre and the Mudd Club. 102 Vgl. Bezzola: Massenboheme, S. 177.
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sich dinghaft beispielsweise an der Verkunstung massenkultureller Produkte wie der Schallplatte, die nummeriert und von Künstlerhand gestaltet zum Unikat wurde. So wurde Kunst Pop und Pop wurde Kunst.
L ITERATUR Ades, Dawn/Peter Blake (Hg.): Peter Blake. About Collage, London: Tate Gallery Publishing 2000. Aitken, Jonathan: The Young Meteors, London: Secker & Warburg 1967. Bell, Kirsty: Robert Fraser Gallery, London, in: Uta Grosenick/Raimar Stange (Hg.): Insight, inside. Galerien 1945 bis heute, Köln: DuMont 2005, S. 124129. Bezzola, Tobia: Massenboheme. Das Lächeln der Beatles und das Schweigen von Marcel Duchamp, in: Kunstforum International (1996) 134, S. 177-182. Bove, Jens: Instant view. Richard Hamiltons Werkgruppen My Marilyn, I’m dreaming of a white Christmas und Swingeing London 67, Marburg: Univ. 2001. Diss. [Elektronische Ressource]. Brauer, David E./Jim Edwards (Hg.): Pop Art. U.S./U.K. Connections 19561966, Osterfildern-Ruit: Hatje Cantz 2001. Braun, Anna: Die Kunst der Populärmusik. Tonträger als künstlerisches Medium »The Velvet Underground & Nico produced by Andy Warhol«, in: artefakt. Blog für Kunst und Kritik, 22.2.2010, http://www.artefakt-sz.net/wissen schaftliche-aufsaetze/die-kunst-der-populaermusik. Butin, Hubertus (Hg.): DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln: DuMont 2006. Evans, Mike: The Art of the Beatles, New York: Beech Tree Books 1984. Foster, Hal/Rosalind Krauss u. a. (Hg.): Art since 1900. Modernism, Antimodernism, Postmodernism, London: Thames & Hudson 2004. Frith, Simon/Howard Horne: Art into Pop, London/New York: Methuen 1987. Gendron, Bernhard: Between Montmartre and the Mudd Club. Popular music and the avant-garde, Chicago: University of Chicago Press 2002. Grasskamp, Walter: Die große Maskerade. Kritik der Kulturrevolution, in: ders.: Der lange Marsch durch die Illusionen. Über Kunst und Politik, München: Beck 1995, S. 11-54. Ders.: Das Cover von Sgt. Pepper. Eine Momentaufnahme der Popkultur, Berlin: Wagenbach 2004. Green, Jonathan: Days in the Life. Voices from the English ›Underground‹ 1961-1971, London: Pimlico 1998.
88 | A NNA B RAUN Hamilton, Richard: Collected Words 1953-1982, London: Thames & Hudson 1982. Hecken, Thomas: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009, Bielefeld: transcript 2009. Herzogenrath, Wulf/Dorothee Hansen (Hg.): John Lennon. Drawings, performances, films, Ostfildern: Hatje Cantz 1995. Holert, Tom: Glamour, in: Hubertus Butin (Hg.): DuMonts Begriffslexikon, S. 103-107. Hughes, Henry Meyric/Gijs van Tuyl (Hg.): Blast to Freeze. Britische Kunst im 20. Jahrhundert, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002. King, Emily: Robert Brownjohn. Sex and Typography, New York: Princeton Architectural Press 2005. Kravagna, Christian: White Cube, in: Butin (Hg.): DuMonts Begriffslexikon, S. 302-305. Melia, Paul (Hg.): David Hockney. Manchester: Manchester University Press 1995. Miles, Barry: Paul McCartney. Many years from now, Reinbek: Rowohlt 1998. Mrozek, Bodo: Geschichte in Scheiben. Schallplatten als zeithistorische Quellen, in: Zeithistorische Forschungen 8 (2011) 2, S. 295-304. Muir, Robin: Michael Cooper. You are Here – The London Sixties, München: Schirmer/Mosel 1999. Sandbrook, Dominic: White Heat. A History of Britain in the Swinging Sixties, London: Abacus 2009. Stephens, Chris/Katharine Stout (Hg.): Art & the 60s. This was tomorrow, London: Tate 2004. Thompson, Gordon: Please please me. Sixties British Pop, Inside Out, Oxford: Oxford University Press 2008. Vyner, Harriet: Groovy Bob. The Life and Times of Robert Fraser, London: Faber & Faber 1999. Weinstein, Deena: The Sgt. Pepper Cover. Why is it Iconic?, in: Jörg Helbig/ Simon Warner (Hg.): Summer of Love. The Beatles, Art and Culture in the Sixties, Trier: Wvt 2008, S. 61-78. Wicke, Peter: Soundtracks. Popmusik und Pop-Diskurs, in: Walter Grasskamp/ Michaela Krützen/Stephan Schmitt (Hg.): Was ist Pop? Zehn Versuche, Frankfurt a. M.: Fischer 2004, S. 115-139.
John F. Kennedy in Berlin: »Ich bin ein Berliner.« Rede vor dem Schöneberger Rathaus am 26. Juni 1963. Tempo EP4149, 1963 [Single].
Fidel Castro: Declaracion de La Habana. En la voz de Fidel Castro Lider Maximo de la Revolucion. Hecho en Cuba por Impresoro Cubana de Discos, S.A. ICD-415, Instituto Cubano de Amistad con los Pueblos, 1960 [LP].
Klubtramps in Ostberlin Widerständige Raumpraxen jugendlicher Beatfans in den 1960er Jahren T HOMAS P. F UNK
Die Beatmusik der Rolling Stones, Beatles und Pretty Things versetzte nicht nur Besucher des Hamburger »Starclubs«, sondern auch Ostberliner Jugendliche in Ekstase. Im liberalen kulturpolitischen Klima des Jugendkommuniqués Der Jugend Vertrauen und Verantwortung (1963) tanzten sie zu den Hits der Westsender und ließen sich die Haare wachsen.1 Schnell formierten Jugendliche Beatbands, die zum Tanz aufspielten. Im Herbst 1965 existierten etwa 300 Beatgruppen in Ostberlin.2. Beat tönte aus Transistorradios, wenn sich Gruppen von Beatfans, »Gammlern«, »Langhaarigen« und »Kunden« im öffentlichen Raum der sozialistischen Hauptstadt versammelten.3 Die Beatfans gerieten ins Visier der Behörden. Auftritte von Gruppen wie The Shatters, Guitar-Men, The Starlets oder Five Shakings, deren »an die primitivsten Gefühle appellierende Rhythmen« die Kriminalpolizei einem »massiven westlichen Einfluss« zuschrieb, führten »zu ernsthaften Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung«.4 Nach Medienberichten über Ausschreitungen beim Rolling-Stones-Konzert am
1
Vgl. Staatsrat der DDR: Der Jugend Verantwortung.
2
Vgl. Berliner Haus für Kulturarbeit, Direktion: Einige Gedanken zum Wettbewerb der Gitarrencombos. Berlin, 4. Oktober 1965. Landesarchiv Berlin (LAB) Rep. 121/15.
3
Als »Gammler« bezeichneten Behörden Beatfans, die sich in Gruppen im öffentlichen Raum trafen; diese selbst bezeichneten sich als »Langhaarige« oder »Kunden«.
4
Ministerium des Innern, Hauptabteilung Kriminalpolizei, Berlin, 15. Mai 1966: Bericht über das Auftreten von kriminellen und gefährdeten Gruppierungen Jugendlicher in der DDR im Jahre 1965, S. 15. Bundesarchiv (BArch) DC 4/978.
92 | T HOMAS P. F UNK 15. September 1965 in der Westberliner Waldbühne setzte im Ostteil der Stadt die staatliche Repression der Subkultur ein, die sich nur langsam wieder lockerte.5 Wo haben die Beatbands gespielt, wo haben sich ihre Fans getroffen, wo haben sich Szenen konzentriert? Mein Aufsatz möchte die Beatszene Ostberlins unter dem Aspekt der Raumproduktion untersuchen. Mit Setha Low, Doreen Massey und Henri Lefebvre verstehe ich Raum als historisch wie kulturell spezifisches Produkt von Machtverhältnissen wie als Bühne, auf der Machtverhältnisse reproduziert, infrage gestellt und ausgehandelt werden.6 Die Gestaltung sozialistischer Räume sollte neue Subjekte, neue soziale Beziehungen und ein neues Bewusstsein hervorbringen – und begegnete eigensinnigen Raumpraktiken ihrer Bewohnerinnen und Bewohner.7 Aus den Akten des Magistrats und der Bezirke Ostberlins, die ich im Folgenden auswerte, geht hervor, wie sich Beatfans Räume in der sozialistischen Stadt erschlossen, sich vernetzten und in Konflikten mit den Berliner Behörden agierten. Ich konzentriere mich auf die Stadtbezirke Lichtenberg und Friedrichshain, proletarisch geprägte Viertel, welche räumliche Schwerpunkte sowohl der Beatszene als auch der Stadtentwicklungspolitik im Fünfjahrplan 1966-1970 darstellten. Interviews, die ich zwischen 1998 und 2003 mit ehemaligen Beatfans und -musikern der Jahrgänge 1940 bis 1950 führte8, belegen die selektive Wahrnehmung und das fehlende Verständnis der Beamten und Kommunalpolitiker für jugendliche Ausdrucksformen. Ihre repressiven Maßnahmen erschienen den Jugendlichen willkürlich und unverständlich. Mein Versuch, sich der Subkultur mit der Perspektive des spatial turn zuzuwenden, verortet sich im Kontext von Forschungen zur Alltagskultur9, Jugendkultur10 und Jugendkriminalität11 in der DDR. Mein Fokus richtet sich auf die kommunale Ebene, die in der Stadtforschung zur DDR bislang nur wenig Beachtung fand.12
5
Rauhut: Beat in der Grauzone, S. 116 ff.
6
Vgl. Low: Spatializing Culture; Massey: Global Sense of Place; Lefebvre: Production of Space.
7
Vgl. Crowley/Reid: Socialist Spaces, S. 4.
8
Vgl. Funk: Die Beatszene; ders.: Unterm Asphalt. Interviewpartner zum Teil anonymisiert.
9
Vgl. Fulbrook: Ganz normales Leben.
10 Vgl. Wierling: Geboren im Jahr Eins; dies.: 1929ers; Rauhut: Beat in der Grauzone; Poiger: Jazz. 11 Vgl. Lindenberger: Volkspolizei. 12 Vgl. Bernhardt/Reif: Neue Blicke, S. 8.
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Ich möchte die Entfaltung der Beatszene unter den Bedingungen der Ostberliner Territorialpolitik darstellen. Das 1963 eingeführte »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« (NÖSPL), das unter dem Schlagwort der »wissenschaftlich-technischen Revolution« die Planwirtschaft reformieren, betriebliche Wettbewerbselemente einführen und die Arbeitsproduktivität erhöhen sollte13, wurde mit dem »Beschluss vom 2.7.1965 über die Aufgaben der örtlichen Volksvertretungen« auf den »gesamten Reproduktionsprozess der Volkswirtschaft« erweitert. Auch der städtische Raum und die öffentliche Infrastruktur, unter anderem der Kulturbetrieb, sollten nun im Hinblick auf den »höchsten ökonomischen Nutzeffekt der gesamten Wirtschaftstätigkeit« einem Prozess der Rationalisierung und Modernisierung unterworfen werden.14 Wenig später setzte mit dem »Beschluss vom 7.7.1965 über das Auftreten von kriminellen und gefährdeten Gruppierungen Jugendlicher in der DDR« des Sekretariats des ZK der SED die Kriminalisierung der Beatszene und ihre Repression im öffentlichen Raum der Hauptstadt ein.15
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Die Besonderheit der Ostberliner Beatszene war bedingt durch die geopolitische Situation Berlins als Stadt, in der die Machtblöcke des Kalten Krieges unmittelbar aufeinandertrafen, durch den Mauerbau und die Hauptstadtfunktion des Ostteils der geteilten Stadt. In der Hauptstadt des Arbeiter- und Bauernstaats konzentrierte sich eine hochqualifizierte Elite: Staatsbeamte, leitende Angestellte, Intelligenz. Die Industrieproduktion Berlins hingegen rangierte DDR-weit lediglich an sechster Stelle.16 Die 1965 den örtlichen Volksvertretungen übertragene Territorialplanung Berlins beförderte eine Rationalisierung und Ökonomisierung städtischer Räume. Baulärm war das Grundrauschen des Ostberliner Beat. Der »Fünfjahrplan 1966-1970 der Stadt Groß-Berlin« formulierte drei Hauptziele: den »konzentrierten Aufbau des Stadtzentrums« rund um den Alexanderplatz, die Steigerung der Arbeitsproduktivität ausgewählter Betriebe der »führenden Zweige« der Elektrotechnik, Elektronik und des Maschinenbaus und schließlich den »Aufbau
13 Vgl. Meuschel: Legitimation, S. 181 ff. 14 Staatsrat der DDR: Erlass, S. 58 f. Herv. i. Orig. 15 Vgl. Rauhut: Beat in der Grauzone, S. 125; Ministerium des Innern, Hauptabteilung Kriminalpolizei, Berlin, den 15. Mai 1966: Bericht (wie Anm. 4). 16 Vgl. Rupf: Wirtschaftsstandort Berlin, S. 393 f.
94 | T HOMAS P. F UNK des Investitionskomplexes Lichtenberg Nord-Ost als einem künftigen Zentrum der Berliner Elektroindustrie und anderer Bereiche der Volkswirtschaft«.17 Hier sollten neugebildete Großbetriebe die bisherige räumliche Zersplitterung der Industrie überwinden und die Produktivität steigern. In unmittelbarer Nähe zum Investitionskomplex – nach Kriegsende zum Teil eine Ruinenlandschaft – waren 11.000 neue Wohnungen samt Versorgungsinfrastruktur geplant. Die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen sollte »in erster Linie für die Beschäftigten der Betriebe der führenden Zweige der Volkswirtschaft wirksam werden«. Zur »Sicherung der Baufreiheit« wurden beispielsweise im Bereich Frankfurter Allee (Süd) »rund 2.100 Wohnungseinheiten einschließlich Dauerbewohner in den Kleingartenanlagen abgerissen« und 66.035 Quadratmeter Gewerbefläche privater Kleinbetriebe umgewidmet.18 Kaufhallen, Gaststätten und Kultureinrichtungen sollten in komplexen Versorgungseinrichtungen an zentralen Standorten im Wohngebiet konzentriert werden, um Wegzeiten zu minimieren.19 Die »Schließung von unzulänglichen Kleinstverkaufsstellen« und die Verlagerung privater Handwerksbetriebe in Gewerbegebiete trugen zur funktionalen Entmischung Lichtenbergs bei.20 Die jugendlichen Beatfans wuchsen in einer Lebenswelt auf, die sich im Zuge des Ostberliner Stadtumbaus radikal veränderte. Die um das Gründungsjahr der Republik 1949 herum Geborenen gehörten zur ersten Generation der DDR, die sämtliche Institutionen des sozialistischen Bildungssystems durchlief. Sie verfügten über ein zunehmendes Maß an Freizeit, Geld und Konsummöglichkeiten und wuchsen damit unter ähnlichen Bedingungen auf, die auch im Westen die Ausbildung eigenständiger Jugendkulturen ermöglichten.21 In die erste in der DDR sozialisierte Generation der Jahrgänge 1940 bis 1949 setzte die SED große Hoffnungen. Das 1963 verabschiedete Jugendkommuniqué 17 Rat des Stadtbezirks Lichtenberg, Abt. Planung und Bilanzierung. Juni 1965. Entwurf: Direktive zur Durchführung des Perspektivplanes der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, im Stadtbezirk Lichtenberg, S. 1 ff. LAB C Rep. 107 Nr. 213. 18 Ebd., S. 6 ff.; 20 f.; 16; 11; Verlagerungskonzeption 1966-1970 (Stand 31. Januar 1965) Stadtbezirk Lichtenberg. LAB C Rep. 107 Nr. 213. 19 Magistrat von Groß-Berlin, Bezirksplankommission. Berlin, den 17. Februar 1965: Zusammenfassung der Materialien von den verantwortlichen Organen des Magistrats von Groß-Berlin zur Information für die Ausarbeitung der Direktive für die Durchführung des Perspektivplanes bis 1970 im Stadtbezirk Lichtenberg, S. 1-6. LAB C Rep. 107 Nr. 213. 20 Ebd., S. 7. 21 Vgl. Siegfried: Time, S. 22.
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Der Jugend Verantwortung und Vertrauen konzipierte sie als »künftige Hausherren« der DDR, aus deren Reihen »die künftigen Kapitäne der Wirtschaft hervorgehen [werden], Generaldirektoren und Direktoren von Vereinigungen Volkseigener Betriebe, in denen 20.000 und mehr Menschen arbeiten«.22 Jugendliche Kreativität betrachtete Ulbricht als verwertbare Ressource in ökonomischen Innovationsprozessen. Man müsse die »speziellen Fähigkeiten und Begabungen der Jugendlichen sorgfältig studieren, um ihre Schöpferkraft besser entwickeln zu können«.23 Kultur wurde als Instrument konzipiert, um »bei der Jugend das eigene Denken, die schöpferische Initiative, ein höheres Bewusstsein und den Sinn für die Gemeinschaftsarbeit ständig weiterzuentwickeln«.24
B EATKLUBS
UND
T REFFPUNKTE
Die Entfaltung der Ostberliner Beatszene und deren Aneignung eines massenmedial vermittelten, transnational erfolgreichen Stils fanden in einer Phase relativer kultureller Liberalität statt.25 In der Folge des Jugendkommuniqués, das jugendliche Eigenverantwortung und -initiative hervorhob, erhielt die Szene durch Medien und FDJ eine wohlwollende Förderung, die in der Ausrichtung eines nationalen Gitarrenwettbewerbs gipfeln sollte.26 Bereits in den 1950er Jahren waren, oftmals in Eigenarbeit der Jugendlichen und ohne Wissen der Bezirksämter und der FDJ, zahlreiche Jugendklubs in schwer vermietbaren Altbauwohnungen oder Ladenlokalen entstanden.27 Hier eröffneten sich in familiärer Atmosphäre Räume relativer Selbstbestimmung, überlappten sich »formelle mit informellen
22 Ulbricht: Schmiede, S. 56. 23 Staatsrat der DDR: Der Jugend Verantwortung, S. 25. 24 Konzeption für das Referat auf der Kulturkonferenz, S. 2, LAB C Rep. 131-15 Nr. 60: 1. Kulturkonferenz des Stadtbezirks Mitte am 20. März 1967; LAB Rep. 121/419: Beschluss Nr. 123/64 der XVIII. Tagung, S. 6. 25 Vgl. Rauhut: Beat in der Grauzone, S. 54 ff. 26 Vgl. ebd., S. 64 ff.; zu Parallelen in der BRD vgl. Siegfried: Time, S. 214 ff. 27 Abt. Kultur [Bezirksrat Albert Haberland], Berlin-Lichtenberg, 9. Januar 1965: Statistische Zusammenfassung der Quartalsanalyse IV. Quartal 1964. LAB C Rep. 121 Nr. 417. Eine Übersicht über alle in die Verwaltungsstruktur integrierten Klubs: Verzeichnis der Kreiskulturhäuser, Klubs und Jugendklubs in den Stadtbezirken, o. J. (ca. 1964-1966). LAB, Rep. 121,146.
96 | T HOMAS P. F UNK Öffentlichkeiten sowie Direktiven mit Eigeninitiativen«.28 Hier fanden die ersten Beat-Tanzveranstaltungen für ein jugendliches Publikum statt.29 Die Klubs waren meist nicht groß: Die Lichtenberger Klubs, die Mitte der 1960er Jahre allesamt mit Tonbandgeräten und Plattenspielern ausgestattet waren, fassten nur 15 bis 70 tanzende »Paare«.30 Die Jugendlichen verbrachten hier beim allgegenwärtigen Sound der Beatmusik des RIAS Berlin selbstbestimmt ihre Freizeit. Etwa die Hälfte der Lichtenberger Klubs wurde ehrenamtlich geleitet. Der Klubrat, sofern vorhanden, bestand aus jugendlichen Stammgästen. Gerade Jugendklubs ohne feste Leitung wurden aber als Schwerpunkte »undisziplinierten« Verhaltens wahrgenommen, die es zu schließen galt – wie der von Stasi-Mitarbeitern eingerichtete Jugendklub »German Titow«.31 In den Klubs traf sich eine vorwiegend männliche Arbeiterschaft. Von 281 erfassten Friedrichshainer Klubmitgliedern waren 1965 39 Prozent Arbeiter, 30 Prozent Facharbeiter, 6 Prozent Angestellte und nur 0,7 Prozent Studenten. Viele Klubs galten als Begegnungsorte des Subproletariats und Auffangbecken von »Grenzgängern«.32 Irritiert stellte man die Anwesenheit von Jugendlichen »auch aus den Randgebieten« fest.33 In Jugendklubs, aber auch in Kreiskulturhäusern, Betriebsklubs und Klubheimen der Nationalen Front bildeten sich bald die ersten Beatbands. Die meisten jugendlichen Musiker waren Oberschüler, Lehrlinge und Facharbeiter – Studenten wurden nicht erwähnt, Musikerinnen ebenfalls nicht.34 Viele Kapellen setzten sich aus Jugendlichen weit entfernter Stadtteile und des Berlin-Brandenburger Verflechtungsraums zusammen, was 28 Saldern: Alltage, S. 227. 29 Interview mit Heino (Spitzname eines Berliner Beatfans) am 30. April 1998. 30 Zu einigen Problemen der Jugendklubarbeit im Stadtbezirk Lichtenberg seit 1961, S. 1. LAB Rep. 147/15,36; Rat des Stadtbezirks Lichtenberg, Bezirksrat für Jugend und Sport: Betr.: Zuarbeit für eine Vorlage zur Verbesserung der Arbeit der Jugendklubs in der Kreisleitung des Sozialistischen Einheitspartei, Lichtenberg, 13. Januar 1966, S. 3. LAB Rep. 147/15, 51. 31 Zu einigen Problemen, S. 1. LAB Rep. 147/15,36 (wie Anm. 30); Aktennotiz über die Aussprache im Jugendklubheim Bürgerheimstraße, 14. November 1962. LAB Rep. 147/15, 36. 32 Ebd.; [Abt. Kultur]: Vorlage an die ideologische Kommission der Kreisleitung. Zur politischen Lage und den nächsten Aufgaben in den Friedrichshainer Jugendklubs, S. 3; S. 15. LAB 135/1. 33 VPI Lichtenberg: Betr.: Einschätzung der derzeitigen Situation in den Jugendklubheimen im Bereich der VPI-Lichtenberg. 25. Mai 1964. LAB Rep. 147/15,36. 34 Abt. Kultur: Auszug aus Berichten der FDJ-Kreisleitung über festgestellte Gitarrengruppen in den 8 Stadtbezirken. 29. Oktober 1965. LAB Rep. 121/15, S. 57.
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auf eine weitreichende Vernetzung der Bands, Bühnen und Übungsräume hinweist.35 Das Repertoire bestand fast ausschließlich aus Beat-Titeln der westlichen Radiosender. Verstärker und Hallgeräte bastelten die Musiker selbst.36 Tanzveranstaltungen (»Beat-Bumms«) fanden oftmals auch wochentags statt. In Gruppen reisten Beatfans aus anderen Stadtteilen und dem Umland an. Hohe Lautstärken, Aufläufe vor den Klubs und nächtliche Ruhestörung gaben Anlass für »Eingaben« der Bevölkerung.37 Meine Gesprächspartner betonten die Nähe von Band und Publikum, die eine gemeinsame Identität beförderte. In Begriffen wie »Ekstase«, »Radau« und »Remmidemmi« verdichteten sie Erfahrungen der Entgrenzung. Ihre körperliche Ästhetik der Immersion stand im Gegensatz zur kulturpolitisch beförderten körperlich distanzierten Aneignungsweise klassischer Werke wie zum FDJ-Ideal eines gestählten Körpers.38 Die Musiker betonten die performativen Elemente ihrer Shows, in denen sie versuchten, Stars wie Mick Jagger oder Ringo Starr authentisch zu verkörpern. Damit übten sie neue Selbstverhältnisse ein und stilisierten ihre Körper zum Medium der Provokation. Stilprägend für die Berliner Szene war eine Gruppe Jugendlicher aus Werneuchen und Bernau, Kleinstädten im Bezirk Frankfurt (Oder) nördlich von Berlin.39 Diese »Kunden« trafen sich im Lichtenberger U-Bahntunnel und in der »Freundschaft«, dem Friedrichshainer Stammklub der Diana-Show Band.40 Sie fielen durch ihre maßgeschneiderte, dandyhafte Kleidung auf: Mit Schlaghosen, Elbsegler, Jackett und Schlips formulierten sie eine provokante Absage an die Uniformität der Arbeiterklasse. Die Gruppe legte Wert auf stilistische Unabhängigkeit und orientierte sich am Nonkonformismus der Beatniks, der Rolling Stones und der Pretty Things. Schnell kehrte sie sich von Modediktaten und deren
35 Groß-Berlin, Rat des Stadtbezirks Weißensee, Abt. Kultur: Aufstellung der Arbeitsgemeinschaft Laientanzkapellen der Kreiskulturhauses [sic] Weißensee angeschlossenen Kapellen und Combos, Berlin 28. Oktober 1965. LAB Rep. 121/235. 36 Interview mit Dieter am 19. Juni 1998, mit Heino am 30. Juni 1998. 37 Abt. Kultur, Berlin-Lichtenberg, 9. Januar 1965: Statistische Zusammenfassung der Quartalsanalyse IV. Quartal 1964. LAB C Rep. 121 Nr. 417. 38 BArch DC 4/789: Konzeption zur politischen Arbeit mit labilen und gefährdeten Jugendlichen (Beschluss des Sekretariats des Zentralrats der FDJ vom 9. Januar 1969) (Geheime Verschlusssache), S. 4 f. 39 Vgl. Funk: Unterm Asphalt. 40 Mit dem rotwelschen Begriff »Kunden« wurden Personen bezeichnet, auf die Verlass ist: Interview mit Beatfan Rowinne am 1. August 2003; Zum »Kunden« als Selbstbezeichnung der mittelalterlichen Vaganten vgl. Küther: Menschen, S. 7.
98 | T HOMAS P. F UNK impliziter Aufforderung zur Lohnarbeit ab – hierin den westdeutschen »Gammlern« vergleichbar.41 Zusammengehalten wurden die Orte der Szene durch die subkulturelle Praxis des »Klubtrampens«, die gemeinsame Bewegung von Klub zu Klub. Mobilität war ein zentrales Kennzeichen der Szene. Ihre Bewegung überwand die Grenzen der »verinselten« Lebenswelten42 der Wohngebiete und Stadtbezirke, in denen das Kulturangebot für die jeweilige Bevölkerung administriert wurde. Vor allem an Knotenpunkten des öffentlichen Nahverkehrs sammelten sich Beatfans. Diese Orte lassen sich hinsichtlich ihrer Funktionen differenzieren: Sichtbarkeit, Treffpunkt, Information, Anonymität. Für die Beatfans vor dem S-Bahnhof Schönhauser Allee standen offensichtlich die Funktionen der Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit im Vordergrund.43 Die beliebte Einkaufsmeile war mit ihrer Vielzahl inhabergeführter Läden und Kinos eine Art vernakuläre Antipode zur staatlich-repräsentativen Karl-Marx-Allee und zum »Investitionskomplex Alexanderplatz«, dem künftigen Zentrum Berlins, zu dieser Zeit noch eine riesige Baustelle. Der Bahnhof Schönhauser Allee kann als Pendant zum Westberliner Gammlertreff vor der Gedächtniskirche begriffen werden.44 Vor dem Bahnhof, so ein Bericht aus dem Ministerium des Innern, »konzentrierten sich fast täglich in den Nachmittags- bzw. späten Abendstunden ca. 50 dieser gefährdeten Jugendlichen, die auf Grund ihres Äußeren (lange Haare und lumpige Kleidung) die Aufmerksamkeit der Straßenpassanten auf sich ziehen und häufig durch Beleidigungen und Belästigungen Unruhe und Unsicherheitsfaktoren erzeugen«.45
Bahnhöfe eigneten sich als Treffpunkte der Beatfans aus dem Umland, die per Bahn in die Stadt kamen. Im langen, niedrigen Gang des U-Bahntunnels Lichtenberg trafen sich die »Kunden« aus Bernau und Werneuchen.46 Der Bahnhof Lichtenberg war ein wichtiger Fernbahnhof der DDR. Die »Kunden« störten die Passanten, von denen in Stoßzeiten bis zu 4.000 pro Stunde durch den Tunnel 41 Vgl. Siegfried: Time, S. 403. 42 Lindenberger: In den Grenzen, S. 244. 43 In der Schönhauser Allee trafen sich bereits in den 1950er Jahren unangepasste Jugendliche. Vgl. Berlin – Ecke Schönhauser. DDR 1957, 81 Minuten. Regie: Gerhard Klein, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase, Produktion: DEFA. 44 Vgl. Heineberg: Zentren; Siegfried: Time, S. 405 f. 45 Ministerium des Innern, Hauptabteilung Kriminalpolizei. Berlin, den 28. März 1966: Information. Betreff Erscheinungsformen von »Gammlern« und »Beat-Gruppen« in den Bezirken Berlin und Potsdam, S. 1 f. BArch DC 4/978. 46 Ebd., S. 4.
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strömten, auf dem Weg ins neue Zentrum der Hauptstadt.47 Am Bahnhof Friedrichstraße suchten die »Kunden« Kontakt zu Besuchern aus Westberlin, der BRD und dem westlichen Ausland und besuchten das internationale Pressecafé – Möglichkeiten, an eine Vielfalt von Informationen zu gelangen, die nicht im Neuen Deutschland standen, und Tauschkontakte über die Mauer hinweg zu etablieren.48 Die Flüchtigkeit und Anonymität der Bahnhöfe eröffnete den Jugendlichen die Möglichkeit, der intimen, »kameradschaftlich[en] und verständnisvoll[en]« Umarmung durch die staatlichen Institutionen und Massenorganisationen in den Wohngebieten zu entkommen.49
K AHLSCHLAG Nachdem das Neue Deutschland die Randale beim Auftritt der Rolling Stones in der Westberliner Waldbühne genutzt hatte, um Stimmung gegen Beat zu machen50, legte ein Beschluss des Sekretariats des ZK »Zu einigen Fragen der Jugendarbeit und dem Auftreten der Rowdygruppen« am 11. Oktober 1965 auf oberster Ebene eine repressive Politik gegenüber Beatfans fest.51 Ein Beschluss des Ostberliner Magistrats vom 28. Januar 1966 formulierte die neue kulturpolitische Linie für die Jugendklubs. Nunmehr sollten hauptamtliche, geschulte Klubleiter dafür sorgen, dass auch »die Jugendklubs ihren Anteil zur Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten leisten«.52 Die bisherigen Klubräte sollten aufgelöst werden, um die zugeschriebene Identität von Klubrat, vorbestraften Klubmitgliedern und Gästen aufzulösen und »ungelernte Arbeiter und z. T. asoziale Elemente« aus den Klubs zu drängen.53 Der Magistrat betonte die erzieherische, politisch-ideologische Funktion der Klubs, die durch die »Füh-
47 Studie Umbau Bahnhof Lichtenberg Teil A und B April 1967, S. 8. LAB C Rep. 309, Nr. 195. 48 Interview mit Rowinne am 1. August 2003. 49 Ministerium für Justiz: Jugendgesetz, §33(1). 50 Vgl. Rauhut: Beat in der Grauzone, S. 116 ff. 51 Zu einigen Fragen der Jugendarbeit, zit. n. Rauhut: Beat in der DDR, S. 374. 52 Magistratsbeschluß Nr. 22/66 vom 28. Januar 1966, S. 5. LAB Rep. 135/15,31. 53 Rat des Stadtbezirks Lichtenberg, Abt. Kultur; FDJ-Kreisleitung Lichtenberg: Vorlage an das Sekretariat der SED-Kreisleitung. Betr.: Realisierung des Beschlusses der Bezirksleitung vom 12. November 1965 »Einschätzung der gegenwärtigen Situation und Maßnahmen der weiteren Entwicklung der Berliner Jugendklubs«, 7. Juni 1966, S. 1. LAB Rep. 147/15,51.
100 | T HOMAS P. F UNK rung und Anleitung aller Leiter der Jugendklubs […] in enger Zusammenarbeit mit den Kreisleitungen der FDJ durch die Abteilungen Kultur der Räte der Stadtbezirke« verbessert werden sollte.54 Bezüglich der inhaltlichen und methodischen Beratung wurden die Jugendklubs der Bezirke dem »Zentralen Klub der Jugend und Sportler« unterstellt, der ein »System der Qualifizierung der haupt- und ehrenamtlichen Klubleiter« entwickeln sollte.55 Die Benennung von »Leitbetrieben« sollte die Verflechtung der Sphären Arbeit und Freizeit verstärken. Eine enge Kooperation der Klubräte mit der Volkspolizei wurde forciert. Um »arbeitsscheue Elemente« fernzuhalten und die Mobilität der Szene zu beschränken, durften die Jugendklubs Klubausweise nur an Jugendliche in »stabilen Arbeitsverhältnissen« ausgeben und mussten Gästelisten führen.56 Die Kulturabteilungen strebten eine »Spezialisierung« und »Profilierung« der Klubs an, um sie zur »weiteren Entwicklung des Niveaus der ganztägigen Bildung und Erziehung« für die »außerunterrichtliche Arbeit« zu benutzen.57 In der Umsetzung des Beschlusses wurden Beat-Tanzveranstaltungen in den Wohngebieten als »Quelle und Ursachen von Undiszipliniertheit und Unordnung« und »Freigehege undisziplinierten, modernistischen Benehmens« gänzlich untersagt.58 In den einzelnen Stadtbezirken erfolgte die Durchsetzung des Magistratsbeschlusses mit unterschiedlichem Erfolg: Die Kooperation der Klubs mit Leitbetrieben blieb in Friedrichshain wie in Lichtenberg aufgrund des betrieblichen Personalmangels in Ansätzen stecken.59 Treptow, dessen Kulturarbeiter früh auf 54 Magistratsbeschluss Nr. 22/66, S. 6. 55 Ebd., S. 6 f. 56 VPI Lichtenberg: Einschätzung der derzeitigen Situation in den Jugendklubheimen im Bereich der VPI-Lichtenberg, Berlin 25. Mai 1964. LAB, Rep. 147/15,36; Rat des Stadtbezirks Berlin-Friedrichshain, Stellvertreter des Bezirksbürgermeisters für Inneres: Berichterstattung zur Durchführung des Magistratsbeschlusses 325 vom 11. Dezember 1964, Berlin, 4. Oktober 1966, S. 5. LAB, Rep. 135/1,317. 57 Magistrat von Groß-Berlin, Bezirksplankommission. Berlin, den 17. Februar 1965: Zusammenfassung der Materialien von den verantwortlichen Organen des Magistrats von Groß-Berlin zur Information für die Ausarbeitung der Direktive für die Durchführung des Perspektivplanes bis 1970 im Stadtbezirk Lichtenberg, S. 10. LAB C Rep. 107 Nr. 213. 58 FDJ-Kreisleitung Berlin-Lichtenberg: Einschätzung und Maßnahmen zur Tätigkeit der Jugendklubs in Lichtenberg, o. J. (ca. Januar 1966), S. 2. LAB, Rep. 147/15,51. 59 Rat Friedrichshain, Kultur: Jugendklubarbeit im Stadtbezirk Berlin-Friedrichshain. Berlin, 21. März 1966. LAB Rep. 135/15, 31, S. 11; Rat des Stadtbezirks Lichtenberg, Abt. Kultur; FDJ-Kreisleitung Lichtenberg: Vorlage an das Sekretariat der SED-
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die Bedürfnisse von Beatfans eingegangen waren, arbeite an der »Überwindung der Schwächen«, hieß es beschönigend, und in Weißensee seien die »Bemühungen […] verstärkt worden«.60 Die Einsetzung hauptamtlicher Klubleiter scheiterte meist am Mangel qualifizierten Personals oder an unzureichender Bezahlung.61 Die Profilierung wurde »von den meisten Jugendlichen als ein Schritt gegen die Jugend aufgefasst«.62 Viele Jugendliche fühlten sich gegängelt und reagierten mit Fernbleiben: Vorträge und Schulungen mussten wegen Besuchermangels ausfallen, während Tanzveranstaltungen überfüllt waren.63 Die behördlichen Diskurse um kulturelle »Höherentwicklung« in Freizeit, Beruf und Bildung blieben den Jugendlichen fremd, wie eine Gesprächsnotiz des Lichtenberger Referenten für Jugendheime festhält: Die Klubbesucher kritisierten den Mauerbau als »Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit, dass sie nicht mehr in Westberliner Kinos und nach Westberlin bummeln gehen können«, die Fremdheit der Arbeit, der sie lediglich nachgingen, »um Geld zu verdienen«, und eine Unterdrückung ihres eigensinnigen Bildungsbedürfnisses durch das Hörverbot von Westsendern: »Wir müssen uns allseitig informieren, (RIAS) um uns ein richtiges Bild über die politische Situation machen zu können.«64 Nur selten wurden solche jugendlichen Forderungen dokumentiert; konzeptionelle Änderungen der Jugend- und Kulturpolitik scheinen sie nicht bewirkt zu haben. »Klubtrampen« durchkreuzte die Versuche, die Jugendlichen durch Mitgliederkarteien und Gästelisten zu erfassen. Immer wieder registrierte die Volkspolizei ratlos die Wohnorte »fremder« Beatfans, die sich zu Tanzveranstaltungen Kreisleitung. Betr.: Realisierung des Beschlusses der Bezirksleitung vom 12. November 1965 »Einschätzung der gegenwärtigen Situation und Maßnahmen der weiteren Entwicklung der Berliner Jugendklubs«, 7. Juni 1966, S. 8. LAB Rep. 147/15,51. 60 Einschätzung der Führungs- und Leitungstätigkeit der Abteilung Kultur der Räte der Stadtbezirke von Groß-Berlin (o. D.; 1966), S. 1-7. LAB Rep. 121/173. 61 Ministerium des Innern, Hauptabteilung Kriminalpolizei, Berlin, den 15. Mai 1966: Bericht über das Auftreten von kriminellen und gefährdeten Gruppierungen Jugendlicher in der DDR im Jahre 1965, S. 20 f. BArch DC 4/978. 62 Ebd., S. 2 f. 63 Auswertung von Untersuchungen einer Brigade des ZK über Probleme der Jugendklubarbeit am 14. Dezember 1967 in der Bezirksleitung der SED, S. 2. LAB, Rep. 135/1,368; Informationsbericht, Betreff: Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Stadtbezirk Berlin-Weißensee durch Jugendliche. Berlin, 21. März 1967. LAB, Rep. 148/1,291. 64 Einschätzung der Stimmung der Jugend welche Hauptprobleme werden diskutiert. Abt. Kultur, R. Hoffmann, Sachbearbeiter für Jugendklubheime. LAB, Rep. 147/ 15,36.
102 | T HOMAS P. F UNK einstellten – häufig auch aus Westberlin, manchmal aus dem westlichen Ausland.65 Nicht spezialisierte Jugendklubs wie die »Freundschaft« in Friedrichshain, im Schatten der Stalinallee nahe der Ruinenlandschaft um den Ostbahnhof gelegen, entwickelten sich in der Folgezeit zu Konzentrationspunkten der Ostberliner Beatszene. Diese Klubs standen »weitestgehend unter dem Einfluss vorgenannter gefährdeter Personengruppen, weil hierin die ›Beat-Kapellen‹ mit der extremsten Musik spielten«.66 Als der Klubrat der »Freundschaft« gegen den geforderten Ausschluss von Langhaarigen aus ihren Reihen protestierte, setzte der Rat des Bezirks kurzerhand einen hauptamtlichen Leiter ein und nahm eine Profilierung zum »Klub für Literatur und Musik« vor.67 Die Beatfans wurden aus dem Klub verdrängt, Studenten zogen ein, die zum Bedauern des Rats bereits bestens erzogen waren, da sie, »auch bevor sie Klubbesucher wurden, bereits Bücher lasen, Theatervorstellungen und Konzerte besuchten und sich Vorträge anhörten«.68 In der bewussten Inszenierung von »Vulgarität«69, in ihrer Betonung der körperlichen Verausgabung in »Radau« und »Remmidemmi« grenzten sich die Beatfans demonstrativ vom distanzierten Habitus der Studenten ab.70 Wie die »Höherentwicklung geistig-kultureller Bedürfnisse« in den Jugendklubs geradezu als Klassenkampf geführt werden konnte, zeigt ein stenographisches Protokoll eines Berichts über einen Klub in der Lichtenberger Lückstraße. Die »Stammgruppe«, welche den Klub in Eigenarbeit eingerichtet hatte und von einer Abgeordneten der Ständigen Kommission Kultur als geistig anspruchslose Jugendliche aus ärmlichsten Verhältnissen beschrieben wurde, verweigerte sich politischen Diskussionen: »Wenn ich acht Stunden arbeite, habe ich die Schnauze voll von Politik.« Seit ein »Lyrik-Song-Klub« aus Oberschülern und Studenten, mehrheitlich SED-Mitglieder, regelmäßig im Klub probe, bestehe »fast eine 65 Bickel, Major der Volkspolizei: Feststellungen zur Situation in den Jugendklubhäusern des Stadtbezirks Berlin-Weißensee, o. J. S. 1 f. LAB, Rep. 148/15,22; Ministerium des Innern, Hauptabteilung Kriminalpolizei, Berlin, den 15. Mai 1966: Bericht über das Auftreten von kriminellen und gefährdeten Gruppierungen Jugendlicher in der DDR im Jahre 1965, S. 18. BArch DC 4/978. 66 Ministerium des Innern, Hauptabteilung Kriminalpolizei. Berlin, den 28. März 1966: Information. Betreff Erscheinungsformen von »Gammlern« und »Beat-Gruppen« in den Bezirken Berlin und Potsdam, S. 4 f. BArch DC 4/978. 67 Rat Friedrichshain, Kultur: Jugendklubarbeit im Stadtbezirk Berlin-Friedrichshain. Berlin, 21. März 1966. LAB, Rep. 135/15,31. 68 Ergebnisse und weitere Aufgaben in der Jugendkulturarbeit in den Friedrichshainer Jugendklubs, S. 7. LAB, Rep. 135/1,368. 69 Vgl. Maase: BRAVO Amerika, S. 28 ff. 70 Interview mit Bert am 4. Dezember 1998.
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Klassentrennung zwischen diesen beiden Gruppen.« Die Beamtin lobte überschwänglich, dass die Studenten »ohne Druck von oben, ohne staatliche Leitung«, »von sich aus« die Stammgruppe indoktrinierten.71 Im Handumdrehen hatten sich die gebildeten Gäste zu neuen Hausherren aufgeschwungen; ihre Selbstregierung hatte behördliche Interventionen im Klub überflüssig gemacht.
»N EGATIVE G RUPPIERUNGEN « Der Leiter des Amts für Jugendfragen, Horst Grenz, betrachtete das Jugendkommuniqué von 1963 und das ein Jahr darauf erlassene neue Jugendgesetz weniger als Beginn einer jugendpolitischen Liberalisierung denn als Ausgangspunkt einer verstärkten Beschäftigung mit der Jugendkriminalität.72 Das Kommuniqué stellte »Bummelanten und Rowdys« als Gegenbild der jugendlichen »Pionier[e] der deutschen Zukunft« dar und gab der Jugend die Aufgabe auf, »mit den wenigen schwarzen Schafen in ihren Reihen [...] fertig« zu werden.73 Die Problematisierung »negativer Gruppierungen« im öffentlichen Raum war 1964 nicht neu, doch verstärkte sie sich nach dem Anrollen der Beatwelle. 74 Ermöglicht wurde die Kriminalisierung der Beatfans durch die äußerst dehnbare Konstruktion der »Gruppierung« als Menge, die neben Straffälligen auch »gefährdete Jugendliche« umfasste. Damit wurde eine Präventionspolitik legitimiert, die »auch Gruppierungen erfasst und entsprechend bearbeitet [...], deren Zusammensetzung, Charakter und Tätigkeit ein Straffälligwerden« lediglich »erwarten lässt«.75 Die »ideologische Diversion und insbesondere die Verbreitung imperialistischer Unkultur und Dekadenz aus Westdeutschland und Westberlin« wurden als Hauptursachen der Kriminalität ausgemacht.76 Als Schwerpunkte »kriminel-
71 Stenografisches Protokoll der 18. Tagung der Stadtbezirksversammlung Berlin-Lichtenberg am 27. März 1969, S. 51 f. LAB C Rep. 147-02-01 Nr. 124. 72 Gen. Grenz, 3. Februar 1965: Betr.: Beitrag zur Erarbeitung eines Materials über jugendliche Gruppierungen im Bereich der Jugendkriminalität, S. 3 f. BArch DC 4/783. 73 Staatsrat: Der Jugend, S. 19. 74 Vgl. Lindenberger: Volkspolizei, S. 367 ff. 75 Hauptabteilung K, Berlin, 9. März 1966: Übersicht über die zur Bekämpfung krimineller und gefährdeter Gruppierungen eingeleiteten Maßnahmen, S. 3. BArch DC 4/783. 76 Entwurf des Referats für die 18. Tagung der Stadtbezirksversammlung [am 27. März 1969]. Thema: Die Aufgaben der Stadtbezirksversammlung und ihrer Organe bei der
104 | T HOMAS P. F UNK ler Gruppierungen« von Jugendlichen im Alter von 14 bis 25 Jahren wurden Großstädte benannt.77 Ein Bericht der Abteilung Jugend des Berliner Magistrats konstruierte die Gruppen als Konzentration eines fast ausschließlich männlichen Subproletariats: 44 Prozent hätten keinen Schulabschluss, 40,7 Prozent seien ungelernte Arbeiter, denen generell eine schlechte Arbeitsmoral unterstellt wurde.78 In Lichtenberg waren Beatfans der Reihe nach aus den Jugendklubs »Frohe Jugend«, »Heinrich Heine« und »Paul Robeson« verdrängt worden, indem diese Klubs in schwer vermietbaren Altbauten des proletarischen Weitlingkiezes von den Behörden kurzerhand geschlossen worden waren.79 Schließlich trafen sich die Jugendlichen vermehrt auf Straßen, in Parks und Passagen. Die Behörden warfen ihnen vor, dort eine »negative bis feindliche Einstellung zur sozialistischen Staats- und Rechtsordnung« zur Schau zu stellen sowie mit ihrer Musik »öffentlich zu provozieren, die westliche Unkultur zu verbreiten, Bürger herauszufordern und die Staatsautorität zu untergraben«.80 Interviewpartner bestätigten diese Lust an der Provokation, die jedoch in der bewussten Absicht erfolgt sei, mit unterschiedlichsten Menschen ins Gespräch zu kommen und damit in der Tristesse des Alltags eine Sphäre des öffentlichen Austauschs zu schaffen: »Wir waren wandelnde Plakate! Wir waren ja gegen diese Einheitssuppe hier, Kultur und alles. Wir waren plötzlich ein Objekt, das nicht steuerbar war und noch der Bevölkerung zeigte, kiek mal, man muss gar nicht so dafür sein, man kann auch dagegen sein.«81 systematischen Kriminalitätsverhütung und -bekämpfung im Stadtbezirk Berlin-Lichtenberg, S. 27. LAB C Rep. 147-02-01 Nr. 124. 77 Ministerium des Innern, Hauptabteilung Kriminalpolizei, Berlin, den 15. Mai 1966: Bericht, S. 5. BArch DC 4/978. 78 Abteilung Jugend, Berlin, den 11. Juni 1965: Vorlage für das Sekretariat des ZK. Betrifft: Bericht über das Auftreten von kriminellen und gefährdeten Gruppierungen Jugendlicher in der Deutschen Demokratischen Republik, S. 6, 12. BArch DC 4/783. 79 VPI Lichtenberg vom 25. Mai 1964. Betr. Einschätzung der derzeitigen Situation in den Jugendklubheimen im Bereich der VPI-Leitung Lichtenberg, S. 6; Bezirksrat Haberland an Bezirksrat Karl, 20. Oktober 1964; FDJ Kreisleitung Berlin-Lichtenberg, G. Zillgith, 31. August 1965: Einschätzung der Arbeit der Lichtenberger Jugendklubs und Gedanken zur Verbesserung, allesamt LAB Rep. 147/15,36; FDJ-Kreisleitung Berlin-Lichtenberg: Einschätzung und Maßnahmen zur Tätigkeit der Jugendklubs in Lichtenberg, o. J. (ca. Januar 1966), S. 3 f. LAB, Rep. 147/15,51. 80 Rat des Stadtbezirks Lichtenberg, Abt. Volksbildung: Einschätzung der Arbeitsergebnisse auf dem Gebiet der Jugendhilfe. Berlin, 22. November 1966, S. 4. LAB, Rep. 147/12,16. 81 Interview mit Rowinne am 1. August 2003.
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Seit Mitte 1966 leitete die Abteilung Innere Angelegenheiten des Stadtbezirks Lichtenberg die Koordinierung der Maßnahmen zur Auflösung »negativer Gruppierungen«.82 Jugendkriminalität galt als »Sache der gesamten Gesellschaft, aller Bürger und Einrichtungen«, und entsprechend stark wurde die Einbeziehung ehrenamtlicher Arbeit in die repressive Tätigkeit der Behörden vorangetrieben, etwa in der umfassend vernetzten Lichtenberger Arbeitsgruppe »Kriminalitätsverhütung und Bekämpfung«.83 Die Inszenierung öffentlicher Gerichtsverhandlungen vor Eltern, Freunden, Lehrern, Arbeits-, Ausbildungs- und Schulkollegen steigerte den sozialen Druck auf die Beatfans.84 1966 erfolgte die Verurteilung der meisten Lichtenberger »Kunden« zu Haft- und Erziehungsstrafen, darunter bis zu drei Jahren »Arbeitserziehung« im Kalksandsteinbruch des Jugendwerkhofs Rüdersdorf.85 Der Kampf gegen »negative Gruppierungen«, deren demonstratives Nichtstun die industrielle Zeitökonomie infrage stellte86, wurde als Angriff auf unproduktive Teile der Bevölkerung geführt. Arbeitsbummelei vor allem jugendlicher und neu eingestellter Arbeitskräfte gefährdete 1965 die Erfüllung der Planvorga-
82 Rat des Stadtbezirks Lichtenberg, Abt. Innere Angelegenheiten: Funktionsplan der Abteilung Innere Angelegenheiten. Berlin, 30. November 1966, S. 1. LAB, Rep. 147/ 12,33. 83 Herbert Grünstein [Staatssekretär und 1. Stellvertreter des Ministers des Innern]: Jugendpolitik – Jugendkriminalität – Örtliche Organe, in: Sozialistische Demokratie, 1. April 1966, S. 1. BArch DC 4/783; Rat Lichtenberg, Stellvertreter des Bezirksbürgermeisters für Inneres: Maßnahmeplan zur Durchführung des Beschlusses der 18. Tagung der Stadtbezirksversammlung über das Programm der komplexen Kriminalitätsverhütung und Bekämpfung im Stadtbezirk Berlin-Lichtenberg für das Jahr 1969, Berlin, 23. Mai 1969, S. 1 ff. LAB, Rep. 147/12,16. 84 Der Staatsanwalt des Stadtbezirks Berlin-Lichtenberg: Jahreseinschätzung der Kriminalität 1969. Berlin, 12. Januar 1970, S. 25; Staatsanwalt des Stadtbezirks BerlinLichtenberg: Betrifft: Bericht über die Entwicklung der Jugendkriminalität im Monat März 1968 im Stadtbezirk Lichtenberg. Berlin, 15. April 1968, S. 1. Beide LAB, Rep. 147/12,16. 85 Der Staatsanwalt des Stadtbezirkes Berlin-Lichtenberg: Kriminalitätsanalyse für das Jahr 1967, ohne Datum, S. 5 f. LAB, Rep. 147/12,16; Stadtbezirksversammlung Rat des Stadtbezirks Berlin-Lichtenberg, – Inneres, Bezirksrat – Jugendkriminalität 1966– 1970. Vorlage Nr. (.) zur Beschlussfassung in der 31. Ratssitzung am 31. Dezember 1967. 4. Dezember 1967, S. 8 f. LAB, Rep. 147/12,16. 86 Vgl. Willis: Learning to labour.
106 | T HOMAS P. F UNK ben.87 Der Arbeitskräftemangel in Ostberlin und das Überangebot an Arbeit ermöglichte Praktiken der Verweigerung wie »Blaumachen« oder häufige Jobwechsel. Viele Beatfans und -musiker arbeiteten als Ungelernte in privaten Betrieben mit relativ geringer Arbeitsproduktivität.88 Sie bevorzugten Arbeitgeber, die auch in Phasen der Untätigkeit Arbeitsbescheinigungen ausstellten und dadurch eine Kriminalisierung als »Asoziale« verhinderten.89 Mit den Repressionen im öffentlichen Raum begannen »Partywohnungen« als private Treffpunkte eine größere Rolle zu spielen.90 Als Anlaufpunkte für Beatfans aus anderen Städten ermöglichten sie eine überregionale Vernetzung der Szene.91 Durch die behördliche »Zuweisung schwervermietbarer Wohnungen an labile Jugendliche« konzentrierten sich »Partywohnungen« in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs Lichtenberg.92 Diese räumliche Konzentration kann als unbeabsichtigter Nebeneffekt der kommunalen Wohnraumvergabepolitik begriffen werden: Wurden die hochqualifizierten Werktätigen »führender Industriezweige« mit hochwertigem Wohnraum in Neubauten versorgt, so reproduzierte sich unterdessen die entwertete Arbeitskraft der Ungelernten und privat Beschäftigten in Altbaugebieten, die als städtebauliches Erbe der kapitalistischen Industrialisierung vernachlässigt wurden.93
Z ENTRUM
UND
P ERIPHERIE
Nachdem Ende 1965 die jugendliche Selbstorganisation von Tanzveranstaltungen in den Wohngebieten unterbunden worden war, setzte im November 1966 eine Top-down-Planung, Professionalisierung und Kommerzialisierung des Ver-
87 Bezirksbürgermeister Lichtenberg: Referat für die Stadtbezirksversammlung am 1. November 1965, S. II 26 f. LAB C Rep. 107 Nr. 377. 88 Etwa 10 Prozent der Jugendlichen wurden 1965 als Ungelernte beschäftigt. Vgl. Abteilung Jugend, Berlin, den 11. Juni 1965: Vorlage für das Sekretariat des ZK. Betrifft: Bericht über das Auftreten von kriminellen und gefährdeten Gruppierungen Jugendlicher in der Deutschen Demokratischen Republik, S. 12. BArch DC 4/783. 89 Interview mit Bert am 4. Dezember 1998; mit Detlev am 25. August 1998. 90 Entwurf des Referats für die 18. Tagung, S. 27. 91 Staatsanwalt des Stadtbezirkes Berlin-Lichtenberg: Einschätzung der Jugendkriminalität für den Monat Februar 1968. Berlin, 11. März 1968, S. 2. LAB Rep. 147/12,16. 92 Ministerium des Innern, Hauptabteilung Kriminalpolizei, Berlin, den 15. Mai 1966: Bericht, S. 29. BArch DC 4/978; Staatsanwalt: Einschätzung, S. 2. 93 Vgl. Pickvance: State Socialism, S. 188.
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anstaltungsbetriebs durch den Magistrat ein. Er beschloss »Sofortmaßnahmen« zur »Vorbeugung von gesellschaftswidrigem und strafbarem Verhalten Jugendlicher in der Hauptstadt«: die gezielte Planung von Tanzveranstaltungen.94 Der Rat für Kultur des Magistrats solle »über die Konzert- und Gastspieldirektion die Zusammenstellung von speziellen Programmen für gesellige Jugendveranstaltungen und die Bereitstellung von guten Tanzkapellen kurzfristig [...] sichern«, die Pressestelle übernahm eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit in Kooperation mit Zeitungen und Rundfunk.95 Bereits Ende 1965 wurden Beatbands mit der Anordnung Nr. 2 über die Ausübung von Tanz- und Unterhaltungsmusik in Netzwerke aus Veranstaltern, Kulturbehörden, Polizeiinspektionen, Musikschulen, Arbeitsgemeinschaften und der Musikverwertungsgesellschaft AWA eingebunden.96 Im repressiven Klima wurde Beat Bestandteil einer sozialistischen Kulturindustrie. Die dargebotene Tanzmusik musste sauber sein: Nach dem Verbot zahlreicher Beatbands Ende 1965 wiesen »Laientanzkapellen« vor Bezirkskommissionen ihre musikalischen Fähigkeiten und »gesellschaftliche Wirksamkeit« nach, um Spielerlaubnisse zu erlangen. Letzteres Kriterium ermöglichte es, Musiker für das Verhalten des Publikums verantwortlich zu machen.97 Diese Scharnierfunktion zwischen Kulturpolitik und Beatfans verlangte Musikern permanent Kompromisse ab. Seit 1967 wurde das Prinzip der »Leistungsfinanzierung« in den Kultureinrichtungen der Bezirke angewandt, um »mit dem höchsten kulturpolitischen und finanziellen Nutzeffekt« die »Ausschöpfung aller Einnahmemöglichkeiten und deren mögliche Übererfüllung« zu erreichen. Aufgrund der Unterfinanzierung der Kulturarbeit wurde es üblich, zur Durchführung größerer Veranstaltungen Partner zu suchen, die entweder mitfinanzierten oder sogar die gesamte Finanzierung übernahmen.98 Dieses Outsourcing des Veranstaltungsmanagements begriffen einige Akteure der Beatszene als Chance privatwirtschaftlichen Unternehmertums.99 Die Kontrolle von Beatbands konzentrierte sich auf die innerstädtischen Viertel Berlins und nahm in den dünner besiedelten Vororten ab. Nonkonforme Bands erschlossen sich bald Auftrittsorte außerhalb der Stadtgrenze Ostberlins in 94 BArch DC 4/869: Information über Probleme der Jugendkriminalität und ihre Bekämpfung, 14. Nov. 66, an Gen. Stoph, S. 1. 95 Ebd., S. 3. 96 Vgl. Rauhut: Beat in der Grauzone, S. 173. 97 Interviews mit Bert am 4. Dezember, Detlev am 29. September und Heino am 24. Juni 1998. 98 [Abt. Kultur, Mitte:] Zur Arbeitsbesprechung der Kreiskabinette für Kulturarbeit am 6. Februar 1969, S. 6, 10, 9. LAB C Rep. 131/15 Nr. 41. 99 Interview mit Detlev und Jan am 16. Juni 1998.
108 | T HOMAS P. F UNK den Dörfern des Berliner Umlands. Ihre Fans, die der Repression im Zentrum auswichen, folgten ihnen in Scharen. Auf den Dörfern fand der Beat seinen Weg in die Privatwirtschaft. Die »Kneiper« kümmerten sich nicht um Jugendschutz und Ideologie, solange die Kasse stimmte. Von einer flächendeckenden Kontrolle dieser Gaststätten könne keine Rede sein, resignierte das Amt für Jugendfragen des angrenzenden Bezirks Frankfurt (Oder) 1966.100 Die Beatszene Ostberlins brachte ein vielfältiges Netz aus Beatfans, Musikern, Klubs und Treffpunkten im öffentlichen Raum hervor, das durch ständige Bewegungen durch den städtischen Raum, über territoriale Grenzen der Wohngebiete, Stadtbezirke und Stadtgrenzen Berlins hinweg, reproduziert und erweitert wurde. Nach dem »Kahlschlagsplenum« des ZK der SED Ende 1965 versuchten die Behörden, die Beatszene in den Klubs zu kontrollieren und Ansammlungen von Beatfans im öffentlichen Raum gewaltsam aufzulösen. In der Konzeption der »negativen Gruppierung« wurde den Beatfans Kriminalität und Arbeitsscheu unterstellt, die auf den Konsum des »Nervengifts« westlicher Massenmedien zurückgeführt wurden. Während seit 1966 die partikulare Anerkennung jugendlicher Bedürfnisse nach Tanz und Unterhaltung im Zentrum Ostberlins dazu führte, »softere« Beatbands zu professionalisieren und in den offiziellen Kulturbetrieb einzubinden, zog es nonkonforme Bands und Fans in die Peripherie Ostberlins und in die privaten Dorfwirtschaften Brandenburgs, weit entfernt vom repräsentativen Zentrum der Hauptstadt.
L ITERATUR Bernhardt, Christoph/Heinz Reif: Neue Blicke auf die Städte im Sozialismus, in: dies. (Hg.): Sozialistische Städte zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung. Kommunalpolitik, Stadtplanung und Alltag in der DDR, Stuttgart: Steiner 2009, S. 7-20. Crowley, David/Susan E. Reid: Socialist Spaces. Sites of Everyday Life in the Eastern Bloc, in: dies. (Hg.): Socialist Spaces. Sites of Everyday Life in the Eastern Bloc, Oxford/New York: Berg 2002, S. 1-22. Der Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik: Der Jugend Vertrauen und Verantwortung beim umfassenden Aufbau des Sozialismus. Kommuni-
100 Rat des Bezirkes Frankfurt (Oder), Abt. Jugendfragen, Körperkultur und Sport, Frankfurt (Oder), den 10. August 1966. An Amt für Jugendfragen beim Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, z. Hd. Gen. Oppermann: Betr.: Einhaltung der Verordnung zum Schutz der Jugend, S. 2. BArch DC 4/978.
K LUBTRAMPS IN O STBERLIN
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qué des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu Problemen der Jugend in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Schriftenreihe des Staatsrates der DDR 5 (1963), S. 9-37. Der Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik: Erlass des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über Aufgaben und Arbeitsweise der örtlichen Volksvertretungen und ihrer Organe unter den Bedingungen des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft vom 2. Juli 1965, in: Schriftenreihe des Staatsrates der DDR 4 (1965), S. 54149. Fulbrook, Mary: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt: Primus 2008. Funk, Thomas: Die Beatszene Ostberlins 1964-1971. Berlin, Freie Universität 2002. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Ders.: Unterm Asphalt. Die Kunden vom Lichtenberger Tunnel, in: Michael Rauhut/Thomas Kochan (Hg.): Bye Bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2004, S. 94106. Heineberg, Heinz: Zentren in West- und Ost-Berlin. Untersuchungen zum Problem der Erfassung und Bewertung großstädtischer funktionaler Zentrenausstattungen in beiden Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen Deutschlands, Paderborn: Schöningh 1977. Küther, Carsten: Menschen auf der Straße. Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983. Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford: Blackwell 1994. Lindenberger, Thomas: Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952-1968, Köln: Böhlau 2003. Ders.: In den Grenzen der Diktatur. Die DDR als Gegenstand von »Gesellschaftsgeschichte«, in: Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn u. a.: Schöningh 2003, S. 239-245. Low, Setha M.: Spatializing Culture. The Social Production and Social Construction of Public Space in Costa Rica, in: dies. (Hg.): Theorizing the City. The New Urban Anthropology Reader, New Brunswick, NJ/London: Rutgers University Press 1999, S. 111-137. Maase, Kaspar: BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg: Junius 1992. Massey, Doreen: A Global Sense of Place, in: dies. (Hg.): Space, Place and Gender, Cambridge, Oxford: Polity Press, Blackwell 1994, S. 146-156.
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Haare/Hair. Originalaufnahme der deutschsprachigen Uraufführung. Eine Werner Schmid und Bertrand Castelli Produktion. Polydor 92147, 1968 [LP].
Freddy Quinn: Wir/Eine Handvoll Reis. Polydor 52781, 1967 [Single].
Der Diskjockey Tom Donahue und das Freeform-Radio in den USA Ein klanggeschichtlicher Blick auf populäre Kultur T HOMAS S CHOPP
Die Materialität von Klang und die vielfältigen Formen des Hörens erhalten seit einigen Jahren gesteigerte Aufmerksamkeit in den Forschungen zur populären Musik und angrenzenden Feldern. Nachdem die Relevanz des Populären als Begriff und Gegenstandsbereich nicht mehr grundsätzlich infrage steht, wendet sich die Forschung den konkreten Praktiken des Musikmachens und Musikhörens zu. Dieser Fokus schließt die Annahme ein, dass Technologien der Speicherung, Übertragung und Wiedergabe verändert haben, wie Klang als materielles Medium der Musik funktioniert.1 Die Materialität von Klang ist ein geeigneter Bezugspunkt, um historisch und systematisch zu analysieren, wie sich das Musikmachen und das Musikhören gewandelt haben – und damit auch die kulturell produzierte Subjektivität von Musikern und Hörern.2 Die Musikforschung hat sich in diesem Zusammenhang auf eine interdisziplinäre Klangforschung (englisch: Sound Studies) zubewegt, die um die Jahrtausendwende einen bemerkenswerten Schub erhalten hat. Die Klangforschung interessiert sich für unterschiedliche auditive Ordnungen, musikalische wie nichtmusikalische. Auch die Geschichtswissenschaft hat diese Themen aufgegriffen. In der Gesamtschau der Veröffentlichungen ist es gerechtfertigt, von der akademischen Existenz einer Klanggeschichte oder Hörgeschichte zu sprechen.
1
Born: Mediation; Wicke: Das Sonische.
2
Klang bzw. Sound ist vor diesem Hintergrund zum Gegenstand von Untersuchungen geworden, die seine diskursiven Grundlagen freigelegt (Wicke: Das Sonische) und die Vielfalt seiner Begriffsinhalte beschrieben haben (Binas-Preisendörfer: Rau).
114 | T HOMAS S CHOPP Ausgangspunkt der historischen Arbeiten im Feld der Klangforschung ist die Frage, wie unterschiedliche Akteure mit Klang umgingen und wie sich Bedingungen, Formen sowie Funktionen des Hörens in einer gegebenen Kultur veränderten. Klang wird dabei als gestaltetes Material begriffen, das in spezifischen kulturellen und historischen Kontexten problematisiert werden muss. Diesem theoretischen Ansatz zufolge sind Formen der Klangproduktion und des Hörens, als korrespondierende Prozesse, in Netze aus Diskursen, Praktiken und Technologien eingespannt – und ohne Betrachtung dieser Netze nicht in ihrer »Kulturbedeutung« zu verstehen.3 Das ausgeprägte Interesse der Forschung an der Geschichte des Mediums Schallplatte wirft die Frage auf, wie es um eine Klanggeschichte des Mediums Radio bestellt ist. Die vorläufige Antwort lautet, dass der Hörfunk als Audio-Medium noch weitgehend unerforscht geblieben ist.4 Eine Klanggeschichte des Radios hat sich besonders für die Programme zu interessieren, also die nach einem Sendeplan geordnete Folge auditiver Inhalte5, und die dahinter stehenden Diskurse, Praktiken und Technologien. Musik bildete einen wesentlichen Programminhalt des US-amerikanischen Hörfunks seit seiner Durchsetzung als Massenmedium in den 1920er Jahren. In der ersten Jahrhunderthälfte übertrugen US-amerikanische Sender vor allem Livemusik aus Ballsälen, Opern- und Konzerthäusern. Sie veranstalteten auch Aufführungen mit Künstlern in den Sendestudios, die ihre Hörer an den Empfangsgeräten zu Hause verfolgten. Als sich um 1950 das Fernsehen als neues Massenmedium durchsetzte und auf seinem Siegeszug die Stars der Unterhaltungsbranche an sich band, verlor der Hörfunk die Basis seines Programms. In dieser Phase der Neuorientierung entdeckte das US-amerikanische Radio die Schallplatte. Zwar hatten einzelne Sender auch vorher schon mit aufgenommener Musik Programmlücken gefüllt. Die offizielle Politik der großen Senderketten, die vor 1950 den Radiomarkt der USA beherrscht hatten, erteilte jedoch dem Gebrauch von Tonkonserven eine Absage. Es ist deshalb als eine Ironie der Geschichte zu werten, dass gerade der Tonträger das Radio vor seinem Untergang bewahren sollte. Der Wandel des US-amerikanischen Radioprogramms blieb gebunden an die Entwicklung der Tonträgerindustrie, die nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich wuchs. Die Schallplattenfirmen profitierten über Jahrzehnte hinweg vom steigenden Wohlstand, der immer breitere Bevölkerungsschichten erreichte. Radio und Schallplatte bildeten einen Medienverbund, der auf der Arbeitsteilung basierte, dass die Tonträgerindustrie den wesentlichen
3
Morat: Sound Studies, S. 7.
4
Vgl. Hilmes: Is There a Field, S. 254.
5
Vgl. Lüthje: Programm, S. 194.
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Programminhalt des Hörfunks lieferte, während die Radioindustrie als Werbemedium für das Produkt Schallplatte fungierte.6 In diesem Zusammenhang ist der Diskjockey zu verorten. Es ist der US-amerikanische Hörfunk, der den DJ erfunden hat, nicht die Klubkultur.7 Die ersten Diskjockeys erreichten bereits in den 1930er Jahren bei unabhängigen Sendern, die nicht an die großen Senderketten angeschlossen waren, eine beachtliche Popularität. Im Zuge der Umstellung des Radioprogramms auf Schallplatten um 1950 eroberten die DJs die gesamte Hörfunklandschaft in den Vereinigten Staaten. Erst mit dem Aufkommen von Diskotheken und Klubkultur in den 1970er Jahren wandelten sie sich von unsichtbaren Radiostimmen zu sichtbaren Alleinunterhaltern, die mit zwei Schallplattenspielern und einer Kiste voller Tonträger exzessive Tanzveranstaltungen antrieben. Über Radio-DJs liegt bereits eine Reihe von Veröffentlichungen vor. Die meisten Autoren entschieden sich für biographische Berichte ohne theoretisch fundierte Erklärungen des Phänomens.8 Im Rahmen einer Klanggeschichte lassen sich eine Reihe von wesentlichen Erkenntnissen über Radio-Diskjockeys als Vermittler der populären Kultur gewinnen. Eine Auseinandersetzung mit den Konzepten und Praktiken der Radioproduktion verspricht Einsichten zur Frage, wie DJs den Prozess der Konstruktion des Populären in einer bestimmten Epoche mitgestalteten.
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UND DAS KOMMERZIELLE
R ADIO
Das Radio als Audio-Medium schafft eine Situation der Ko-Präsenz. Mit diesem Begriff bezeichnen Hörfunkforscher wie Hugh Chignell die Tatsache, dass das Radio als technisches Übertragungsmedium Radiomacher und -hörer in der Zeit verbindet und im Raum trennt.9 Die Radiostimme erklingt in dem Moment, da sie gehört wird. Sie kann die Hörer deshalb direkt ansprechen. Diskjockeys und andere Hörfunksprecher konstruierten auf dieser medialen Basis imaginäre Gemeinschaften.10 Diese Gemeinschaften waren unsichtbar, dynamisch und inklusiv. Die Hörer konnten an ihnen teilhaben, indem sie einschalteten, und den Grad ihrer Partizipation selbst bestimmen. So entstanden affektive Bindungen zwi-
6
Vgl. Wicke: Tonträger, S. 59.
7
Eine umfassende Geschichte der Diskjockeys liefert Poschardt: DJ Culture.
8
Passman: Deejays; Smith: Pied Pipers; Jackson: Big Beat; Lieberman: Personalities; Walker: Rebels.
9
Vgl. Chignell: Key Concepts, S. 74-78.
10 Vgl. Douglas: Listening in, S. 24.
116 | T HOMAS S CHOPP schen den Radiomachern im Studio und ihren Hörern an den Empfangsgeräten. Um diese Art von Bindung zu erzeugen, entwickelten DJs eine Stimme, deren klangliche Erscheinungsform dem ästhetischen Charakter der gespielten Musik und den kulturellen Präferenzen ihrer Hörer entsprach. Diskjockeys hatten also nicht nur strategisch zu planen, was sie sagten, sondern auch, wie sie sprachen.11 Das Formatradio, das sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in der USamerikanischen Radiolandschaft durchsetzte, entzog den Diskjockeys die Kontrolle über die Musikauswahl. Formatierte Programme beschränkten DJs auf die Rolle von Moderatoren (englisch: Presenters), die nicht als Persönlichkeiten hinter den gesendeten Tonträgern standen, sondern als bloße Sprecher gleichsam neben sie gestellt waren. Ihre Funktion als Vermittler von Musik beschränkte sich auf die Ansage der Titel. Die Tendenz zur Formatierung des Radioprogramms und einer homogenen Musikauswahl stieß jedoch auf eine Gegentendenz, die auf musikalische Diversität setzte. Diese Strategie verpflichtete sich der Bindung kleinerer Zielgruppen mit einer Präferenz für bestimmte Musikstile. In diesem Kontext exponierten sich Diskjockeys als Radiopersönlichkeiten, die nicht nur einen unkonventionellen Moderationsstil pflegten, sondern auch ein beträchtliches Wissen über Schallplatten, Musiker und Labels anzubieten hatten. Personalisierte Diskjockey-Shows nutzten in der Regel die Nischen des US-amerikanischen Hörfunks. Sie besetzten das Abendprogramm der Sender oder Bereiche des Wellenspektrums, die sich der Kommerzialisierung weitgehend entzogen hatten. Ihren Hörern boten sie mit Jazz, Blues und Folk populäre Stile, die im an den Pop-Charts ausgerichteten Top-40-Format keinen Platz fanden. Der Status des Diskjockeys als Trendsetter und seine kulturelle Definitionsmacht gründeten auf einem professionellen Wissen um die Wünsche, Interessen und Bedürfnisse der Zielgruppe.12 Erfolgreiche DJs bauten sehr gute Kontakte zur Tonträgerindustrie und zu weiteren Zweigen der Musikindustrie auf. Als Premium-Hörer erbrachten sie Woche für Woche die nicht zu unterschätzende Leistung, aus einer Vielzahl von Veröffentlichungen die für ihr Publikum relevanten Titel auszuwählen. In der Radiogeschichte ist das so genannte Freeform-Radio auch als Underground-Radio oder Progressive-Rock-Radio bezeichnet worden. Aus der Perspektive einer Klanggeschichte schauend, setze ich den Fokus auf die Diskjockey-Show des Freeform-Radios. Mir geht es nicht primär um eine Beschreibung der typischen Merkmale dieser Programmform. Vielmehr bemühe ich mich um eine Rekonstruktion ihrer diskursiven Grundlagen. Ich arbeite mit der These, dass Diskjockeys ihren Hörern bedeutsame Musikerfahrungen vermittelten. Die 11 Vgl. Crisell: Understanding Radio, S. 66. 12 Vgl. Keith: Voices, S. 155.
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DJ-Show definiere ich als kulturelles Artefakt, das durch konzeptionelle Korrespondenzen zwischen dem ästhetischen Charakter der aufgenommenen Musik und der Form ihrer Präsentation gekennzeichnet war.
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DES
F REEFORM -R ADIOS
Das Freeform-Radio entwickelte sich um 1967 in der Ultrakurzwelle (UKW, englisch: FM) in den USA. Die meisten Radiosender hatten sich bis dahin auf das Mittelwellenband (MW, englisch: AM) konzentriert. Ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Freeform-Radios war die bessere Signalqualität, die den UKW-Bereich auszeichnete. Während die Signale des Mittelwellenradios etwa 5.000 Hertz nicht überschritten, brachte es das UKW-Radio auf bis zu 15.000 Hertz. Damit deckte es Dreiviertel des hörbaren Frequenzspektrums ab. Auch fehlte aufgrund des spezifischen Modulationsverfahrens, das der technischen Signalübertragung zugrunde lag, das für die Mittelwelle obligatorische Hintergrundrauschen. Zudem erlaubte die zuständige Regulierungsbehörde dem UKWHörfunk in Stereo zu senden, während die Mittelwelle auf den Mono-Standard beschränkt blieb. Das Freeform-Radio konnte also an den Mitte der 1960er Jahre bereits etablierten Diskurs um »High Fidelity« anschließen, der die Durchsetzung neuer Aufnahme-, Übertragungs- und Wiedergabetechnologien rahmte.13 Zur gleichen Zeit wandelten sich die herrschenden ästhetischen Paradigmen der Musikproduktion fundamental. Künstler wie Bob Dylan, die Beatles, die Doors, die Rolling Stones, die Jimi Hendrix Experience oder die Grateful Dead entdeckten die Langspielplatte als Speichermedium, das die Verknüpfung von längeren, experimentellen Songformen mit einem elaborierten Sounddesign ermöglichte. Sie veröffentlichten nun aufwändig produzierte Konzeptalben, die ihre Hörer als ästhetische Einheiten verstehen sollten.14 Bis dahin hatte das Format des Longplayers in der populären Musik hauptsächlich als Sammlung von potenziellen Hitsingles fungiert.15 Der Aufstieg der LP brachte einen längeren historischen Prozess, der die Definitionsmacht für den Begriff und die Praxis von Musik von der Aufführung auf die Aufnahme verschob, zu einem vorläu-
13 Vgl. Douglas: Listening in, S. 263-267. 14 Eine Auswahl von Konzeptalben, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erschienen: Bob Dylan: Blonde on Blonde; The Beatles: Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band; The Doors: Strange Days; The Rolling Stones: Beggars Banquet; The Jimi Hendrix Experience: Electric Ladyland; The Grateful Dead: Anthem of the Sun. 15 Vgl. Willis: Culture, S. 196.
118 | T HOMAS S CHOPP figen Ende: »Aus der kulturellen Veranstaltung von Musik in Form ihrer Aufführung wird nun das produzierte [...] Resultat einer Aufnahme. Musik ist fortan weder durch Lieder noch durch Aufführungen, sondern sie wird an Aufnahmen identifizierbar.«16 Der Psychedelic Rock bzw. Progressive Rock setzte um 1967 die neuen Vorstellungen von aufgenommener Musik als einer eigenständigen Kunstform, die sich von den Konventionen des Konzerts emanzipiert hatte, am radikalsten und mit kommerziellem Erfolg um. Dieser Musikstil repräsentiert idealtypisch den Aufstieg der technischen Klanggestalt, die den Tonträger als Medium zum ästhetischen und kommerziellen Zentrum der Musikkultur machte. Das US-amerikanische Mittelwellenradio ignorierte diesen musikalischen und kulturellen Trend jedoch. Dort waren die neuen Rock-Alben, die insbesondere junge Erwachsene kauften, nicht zu hören. So konnte das Freeform-Radio ein Vakuum füllen. Es positionierte sich als Musikradio, das sich deutlich von den herrschenden Formaten mit ihrer Stundenuhr und der Beschränkung auf kurze Singles abgrenzte. Zudem bestimmte es sich durch offenere Programmstrukturen und eine deutlich reduzierte Zahl von Werbespots. Im Unterschied zu den Stimmen des etablierten Formatradios gestalteten die Diskjockeys des Freeform-Radios ihre Shows eigenverantwortlich. Sie präsentierten individuelle Selektionen von Titeln aus unterschiedlichen Musikstilen. Die Geschichtsschreibung zum US-amerikanischen Radio beschreibt Tom Donahue (1928-1975) häufig als diejenige Gestalt, die eine konsistente und nachhaltige Programmstrategie für das Freeform-Radio entwickelte.17 In einem Artikel, den Donahue im November 1967 im Magazin Rolling Stone veröffentlichte, konturierte er das Musikverständnis des neuen Radioformats, das als freie Form begriffen werden sollte, wie folgt: »It is a format that embraces the best of today’s rock and roll, folk, traditional and city blues, raga, electronic music, and some jazz and classical selections. I believe that music should not be treated as a group of objects to be sorted out like eggs with each category kept rigidly apart from the others, and it is exciting to discover that there is a large audience that shares that premise.«18
Donahue war, wie andere Protagonisten des Freeform-Radios, ein erfahrener Diskjockey. Viele Jahre hatte er für Mittelwellensender an der Ost- und Westküste der Vereinigten Staaten gearbeitet, bevor er um 1965 seine Radiokarriere vorläufig unterbrach. Im Frühjahr 1967 gelang es dem DJ außer Dienst, den Be16 Wicke: Soundtechnologien, S. 37. 17 Vgl. Keith: Voices, S. 23. 18 Donahue: AM Radio, S. 673.
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treiber des kleinen Senders KMPX-FM von seiner Idee eines neuen Radioformats zu überzeugen. Er begann mit einer Abendsendung, die den Namen Metanomine trug.19 Die große Akzeptanz von Donahues Show bei den Hörern führte zur Umstellung des Gesamtprogramms von KMPX-FM auf so genannte progressive Musik im August des Jahres. Nach einem Streit mit dem Inhaber und anschließendem Streik wechselte ein Großteil der Belegschaft im Mai 1968 zu einem anderen Sender in San Francisco, der zum Medienunternehmen Metromedia gehörte. Dieser Sender stellte mit Donahues Unterstützung auf das neue Format um und setzte seine Arbeit unter dem Namen KSAN-FM fort. Weitere Ableger von Metromedia und andere Medienunternehmen folgten dem Trend, sodass die Zeitschrift Billboard im Oktober 1968 bereits 63 Freeform-Radios in den USA zählte.20 Der wachsende Wettbewerb um Marktanteile verwandelte das Freeform-Radio schließlich in den 1970er Jahren in ein stilistisch enger gefasstes Format, das den Namen Album-Oriented Rock (AOR) erhielt.21 Die Geschichtsschreibung zum Freeform-Radio weist unübersehbar Tendenzen der Idealisierung auf. So stilisierte die Radiohistorikerin Susan J. Douglas diese historische Phase zu einer »FM Revolution«. Sie schrieb: »While technical refinements […] and regulatory changes were obviously critical factors in the FM explosion, it was primarily the emergence of a profoundly anticommercial, anticorporate ethos in the 1960s that caused FM to flower«.22 Auch werden ehemalige Diskjockeys des Freeform-Radios in der Rückschau nicht müde zu betonen, dass ihnen die persönliche Identifikation mit dem Programm mehr bedeutet habe als der kommerzielle Erfolg. Gegen diese idealisierende Form der Darstellung will ich zwei Einwände mobilisieren. Susan Krieger wertete in ihrer Dissertation aus dem Jahr 1976 Interviews mit den Mitarbeitern der Sender KMPX-FM und KSAN-FM aus. Die Autorin ermittelte, dass Tom Donahue von Anfang an ein Musikformat im Sinn hatte, das sich dauerhaft am Markt halten und ein Massenpublikum erreichen sollte. Die Bezeichnung Underground-Radio, die neben der Signatur FreeformRadio Ende der 1960er Jahre im Umlauf war, lehnte der Radiomacher entschieden ab.23 Außerdem ist zu beachten, dass die Strukturen des Medienunternehmens Metromedia die Ausbreitung des neuen Formats begünstigten. So konnte das Freeform-Radio von San Francisco innerhalb weniger Monate in die Städte 19 E-Mail Raechel Donahue an den Autor, 9. Juli 2013. Raechel Donahue betreute ab 1968 als Technikerin die Sendungen ihres Mannes und arbeitete später selbst als DJ. 20 Vgl. Krieger: Cooptation, II, S. 48. 21 Vgl. Keith: Voices, S. 155 f. 22 Vgl. Douglas: Listening in, S. 259. 23 Vgl. Krieger: Cooptation, I, S. 22.
120 | T HOMAS S CHOPP New York City (WNEW-FM), Los Angeles (KMET-FM), Cleveland (WMMSFM) sowie Philadelphia (WMMR-FM) und damit in große US-amerikanische Radiomärkte vordringen.24 Aufgrund dieser Fakten und der kurzen Lebensdauer des Freeform-Radios halte ich »FM-Evolution« für einen Terminus, der den historischen Prozess besser beschreibt.
H IPPIE -S UBKULTUR
UND POPULÄRE
M USIK
In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre entstand in Kalifornien die Subkultur der Hippies, die als soziokultureller Kontext des Freeform-Radios zu betrachten ist. Tausende junge Menschen zogen in dieser Zeit nach San Francisco. Die Subkultur erreichte ihren Höhepunkt mit dem so genannten Summer of Love 1967. Für die Hippies standen musikalische Stile wie Folk oder Psychedelic Rock im Zentrum einer Lebensweise, die um die Suche nach Identität und die Erweiterung des Bewusstseins kreiste.25 Es waren vorzugsweise bürgerliche Männer und Frauen, die sich unmittelbar der Subkultur anschlossen oder zumindest Teile ihrer Werte und Praktiken übernahmen, ohne sich explizit als Hippies zu begreifen. Das galt auch für das westdeutsche Pendant, die so genannten Gammler.26 In einer Ära tief greifender Umbrüche traten die Hippies als Pioniere einer neuen Lebensweise auf, die in einer selbst bestimmten und bewusst erlebten Freizeit verwirklicht werden sollte. Soziale Anpassung und ein ausgeprägtes Arbeitsethos als Grundwerte der Nachkriegsgesellschaft, die Partizipation am wachsenden Wohlstand versprach, tauschten viele Vertreter der jungen Generation gegen demonstrative Genussorientierung und ein Pathos des Andersseins ein. Neue Formen der sozialen Interaktion und des Zusammenlebens, sexuelle Erfahrungen ohne eheliche Bindungen, ein zeitintensiver Musik- und Drogenkonsum, betont unangepasste Kleidung und weitere Elemente verbanden sich zu einem subkulturellen Stil, der eine diffuse Idee von Veränderung artikulierte. Das hieß jedoch nicht, dass Hippies sich wie Mitglieder einer Sekte von der alten Gesellschaftsordnung vollständig lösten. Vielmehr stiegen die meisten Hippies höchstens für ein oder zwei Jahre aus. Wie Detlef Siegfried argumentiert, war das episodisch angelegte Experimentieren mit alternativen Lebenskonzepten attraktiv, gerade weil es die Risiken für die Biographie beherrschbar machte.27
24 Vgl. Krieger: Cooptation, II, S. 48. 25 Vgl. Willis: Culture, S. 113 f. 26 Vgl. Siegfried: Time, S. 401. 27 Vgl. ebd., S. 402 f.
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Die Wortführer der Hippies und ihre empathischen Beobachter begriffen die Subkultur in ihrer Blütezeit als eine Bewegung, die zur Veränderung der USamerikanischen Gesellschaft bereit und fähig war. Die Hippies erschienen mithin als eine Gegenkultur. Im Unterschied zu einer Subkultur, die sich der Definition nach mit einer Nischenexistenz zufrieden gibt, artikuliert die Theorie der Gegenkultur den Anspruch, eine grundsätzliche Alternative zur etablierten Ordnung darzustellen. Innerhalb der Musikkultur trat die gegenkulturelle Haltung der Hippies durch Begriffe wie Underground hervor, der strategisch als kreative, von kommerziellen Zielen befreite Zone gegen einen Mainstream positioniert wurde, der Musik als bloßes Geschäft ohne künstlerische oder politische Vision verkörperte. Eine Auseinandersetzung mit der Musikkultur der Epoche führt schnell zu der Erkenntnis, dass Underground und Mainstream diskursive Konstruktionen sind, die das komplexe Verhältnis von Künstlern, Industrie und Hörern nicht treffend abbilden. Um Distanz zu den tradierten Selbstbeschreibungen und dem aus meiner Sicht problematischen, weil ein vielschichtiges Bild verzerrenden Vokabular zu gewinnen, benutze ich den Begriff der Subkultur für die Hippies, nicht den Begriff der Gegenkultur.28 Peter Wicke hat den Diskurs der populären Musik in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre analysiert. Ihm zufolge war die Musikerfahrung der Hippies in Kategorien vermittelt, die Musik als Generator von Veränderung begreifen: die Freisetzung von Energien, die kreative Selbsterfahrung, die Gemeinsamkeit in der Aktion.29 Diese diskursiven Kategorien waren den Praktiken des Musikmachens und des Musikhörens vorgelagert. Die Musiker verstanden sich in dieser Zeit mithin als Persönlichkeiten, die sich auf einmalige Weise kreativ entäußerten und mit jedem neuen Tonträger eine Entwicklung der eigenen Persönlichkeit dokumentierten.30 Auf der anderen Seite entwickelten die Hörer ein außerordentliches Bedürfnis nach Informationen über die sozialen, kulturellen, technischen und ökonomischen Kontexte, in denen populäre Musik entstand. Nicht zuletzt wollten sie ihren Status innerhalb ihrer sozialen Gruppe an der Kompetenz messen lassen, die Authentizität und Kreativität von Künstlern kritisch zu bewerten. Musikerfahrungen sind in einer Medienkultur durch die Audio-Medien geprägt, die sie ermöglichen. Der Radioforscher Andrew Crisell hat über die Bedingungen der Präsentation von Musik im Radio notiert: »[T]he way in which he [the presenter, T. S.] frames the music are variable, depending first of all on his 28 Zur Definition der Begriffe Underground und Mainstream in der westdeutschen Tonträgerindustrie vgl. ebd., S. 624-644. Zum Begriff der Gegenkultur in den USA in den 1960er Jahren siehe Gair: Counterculture. 29 Wicke: Formation, S. 171 30 Vgl. Willis: Culture, S. 196.
122 | T HOMAS S CHOPP listeners’ requirements but also on the kind of music he is playing, the time of day he is playing it, and on his own personality«.31 Crisells Text bezieht sich auf den Moderator, die Stimme des Formatradios in den 1990er Jahren. Die Ausführungen haben aber dieselbe Gültigkeit für die Diskjockeys des Freeform-Radios. Dem Autor zufolge nimmt das Übertragungsmedium Radio eine »Rahmung« der Musikerfahrung vor. Die Art der Rahmung hängt, so Crisell weiter, von den Hörern und ihren Anforderungen, vom ästhetischen Charakter der aufgenommenen Musik und der Persönlichkeit des Moderators bzw. des DJs ab. Diskjockeys konnten die ko-präsenten Hörer nicht unmittelbar in ihrem Handeln steuern, wohl aber mittelbar in ihrer Einstellung zur Sendung beeinflussen. Sie setzten einen Rahmen für unterschiedliche, aber nicht beliebige Musikerfahrungen. Wer das Radio einschaltete, ließ intentional erzeugte Klänge auf sich einwirken. Die Übereinkunft zwischen Radioproduktion und -rezeption, die im Einschalten einer Sendung enthalten war, konnten Hörer jederzeit durch Umoder Ausschalten aufkündigen. Radiohörer, historische wie heutige, sind mithin nicht als passive Empfänger klingenden Materials zu betrachten, sondern als eigenmächtige Akteure. Sie halten mit den Klängen des Radios Prozesse in Gang, die für sie in ihrer sozialen und kulturellen Wirklichkeit relevant sind (träumen, denken, diskutieren, arbeiten, fahren, tanzen etc.). Ich möchte nun zeigen, wie das Freeform-Radio die Musikerfahrungen seiner Hörer strukturierte. Ich werde historische Mitschnitte von DJ-Shows32 ana31 Crisell: Understanding Radio, S. 66. 32 Die kritische Einordnung von Sendemitschnitten als Audio-Quellen ist ein Problem, das den Rahmen dieses Textes übersteigt. Bisher gibt es nur verstreute Beiträge zu einer Kritik der Audio-Quelle (Brock-Nannestad: Sound Recordings; Jagschitz/Hubert: Tondokumentation; Fröschl/Hubert: Audio-Quellen). In den vergangenen Jahren haben verschiedene Geschichtswissenschaftler den Erkenntniswert dieses Quellentyps für historische Forschungen diskutiert (Geisthövel: Tonspur; Müller: Sound). Viele Mitschnitte des US-amerikanischen Hörfunks befinden sich im Besitz von Privatpersonen, die ihre Aufzeichnungen nicht nach den Regeln archivalischer Praxis erfasst haben. In diesen Fällen muss die Quellenkritik sich um die Überprüfung aller gegebenen Informationen bemühen. So ist der erste von mir benutzte Mitschnitt auf der Internetseite http://www.jive95.com mit dem Jahr 1968 angegeben. Eine Überprüfung der in der Sendung gespielten Musiktitel durch das Online-Archiv des Branchenmagazins Billboard ergab, dass einige Songs erst 1969 oder gar 1971 als Schallplatten veröffentlicht wurden. Dieser Befund lässt zwei Interpretationen zu: Erstens ist es möglich, dass die Musiker dem DJ Master-Bänder ihrer Aufnahmen vor der Veröffentlichung zukommen ließen. Zweitens kann es sich um eine Collage von Mitschnitten aus verschiedenen Jahren handeln. Da Tom Donahue zwischen April 1969 und Mai 1972
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lysieren und beschränke mich auf wenige repräsentative Aufzeichnungen von Sendungen Donahues. Dabei arbeite ich mit diesen Leitfragen: Was sagte der DJ über die Musik, die er präsentierte? Wie ordnete er Musiktitel in seinem Programm zeitlich an? Welche Art von Radiopersönlichkeit gestaltete er durch sprecherische Gestaltungsmittel, d. h. durch den Gebrauch seiner Stimme?33
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Der dominante Diskurs über die populäre Musik der späten 1960er Jahre in den USA kann durch den Inhalt der Moderationen rekonstruiert werden. Donahue artikulierte in seinen Beiträgen ein Bewusstsein für die Entwicklung der Musikproduktion zu einer Kunstform eigener Art. Wenn Tonträger als Kunst begriffen wurden, musste ihre individuelle Entstehungsgeschichte rekonstruiert werden. In einer Sendung für KSAN-FM moderierte Donahue einen Titel des SingerSongwriters Leon Russell wie folgt an: »Now let’s get to Leon Russell and his friends. Just about everything on this LP was recorded in a studio that Leon Russell built in his home. And his friends would drift in and out, and they include people like Ringo Starr and Charlie Watts and Mr. and Mrs. Bramlett, Bonnie and Delaney.«34 Im engen zeitlichen Korsett seiner Show Metanomine konnte Donahue nur kurz auf die Produktionsgeschichte des Albums eingehen. Doch immerhin skizzierte er die beteiligten Künstler in Umrissen. So schuf Donahue eine Perspektive, die es seinem Publikum ermöglichte, gespeicherte Klänge als kreativen Ausdruck eines spontan agierenden Kollektivs von Künstlern zu hören. Eine andere Moderation lieferte Eckpunkte zu einer Künstlerbiographie. Donahue stellte die Charlatans vor und drückte seine persönliche Wertschätzung für
nicht für das Freeform-Radio arbeitete, gehe ich von der erstgenannten Variante aus und datiere den Mitschnitt auf das Jahr 1969. 33 Vgl. Lemke: Sprechwissenschaft, S. 123. Einige Mitschnitte Donahues können auf der Internetseite http://www.jive95.com angehört werden. Ein weiterer Mitschnitt Donahues, den ich in diesem Artikel auswerte, befindet sich im Paley-Center for Media in New York City. Ich habe ihn während eines Archivaufenthalts angehört. 34 Donahue 1: 22:30-22:53 min. Sprechpausen, Verzögerungslaute und Wortwiederholungen zeige ich nicht an. Die exakte Transkription einer Moderation würde Zeichensysteme der Sprach- und Sozialwissenschaften voraussetzen, die ich als Musikwissenschaftler nicht beherrsche. Der Fokus auf die diskursive Dimension, auf regelmäßig wiederkehrende Aussagen, rechtfertigt eine Transkription in Standardorthographie.
124 | T HOMAS S CHOPP die Band aus. In seiner Vorstellung des ersten Albums der Gruppe ging er so weit, die Charlatans zum Ursprung der Musikszene in der Bay Area zu erklären: »We have the Charlatans up at the station tonight and they brought with them their new Philips LP. And we played a portion of earlier in the show and play some more of it now. The Charlatans, as I said earlier, are the San Francisco originals. I mean a great part of the San Francisco music scene and other scenes, too, will go around the Charlatans and the Family Dog. The rest of it is outgrowth. You are the trees and the leaves but they are the roots. And in a way I told them I sort of put them down for cutting an LP. Because I dug ‘em as a myth. You know in the years now when people say: ›What was the group you really…‹ ›The Charlatans. ‹ ›I never heard of them.‹ ›No man, they never made a record. They’re just in memories.‹ And sometimes you establish yourself as a legend better that way than otherwise. Fortunately, the Charlatans have made an LP that’s good enough to keep them remembered for a long time.«35
Auch versäumte es Diskjockey Donahue nicht, die Hörer auf die überlegene Klangqualität seines in Stereo übertragenen Programms hinzuweisen: »Here’s the Youngbloods, Darkness, Darkness, and I’m looking forward, today I can hear this in stereo, ‘cause it must be unreal.«36 Der Diskurs der populären Musik der späten 1960er Jahre prägte auch die Gestaltung der temporalen Struktur der Diskjockey-Shows im Freeform-Radio. Indem DJs Reihen aus einzelnen Schallplatten konstruierten, artikulierten sie den diskursiv konstituierten Status von Musikaufnahmen in einer dem Medium Radio entsprechenden Form. Ich bezeichne die Muster, die der Anordnung von Musiktiteln zugrunde lagen, als Sequenzmuster. Im Laufe der Jahrzehnte erfand das kommerzielle Radio in den USA unterschiedliche Modelle der Sequenzierung von Tonträgern. Tom Donahue und andere Diskjockeys des Freeform-Radios stützten sich auf das Prinzip der Segue, was wörtlich übersetzt Übergang bedeutet. Unter einer Segue (oder einem Set) verstanden sie eine Zusammenstellung von drei bis vier Musiktiteln, die ein bestimmtes Thema repräsentierten. Thema einer Segue konnte ein Künstler sein, dessen Schaffen der DJ durch Songs von unterschiedlichen Alben umriss. Sie konnte einen Song in den Interpretationen verschiedener Sänger und Bands vorstellen. Auch eher vage Kriterien wie Stimmung fungierten als integrative Momente für eine Reihe von Songs. Mit dem Gestaltungsmittel der Segue demonstrierte Donahue als Diskjockey, dass auch die Präsentation von Musik eine Kunstform sein konnte, genau wie die produzierte Musik selbst. Die Abfolge von drei bis vier Titeln, darunter einzelne 35 Donahue 2: 8:05-9:09 min. 36 Donahue 1: 39:07-39:12 min.
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Songs mit einer Dauer von sieben bis zehn Minuten, strukturierte das Hören als eine Art Reise durch bekanntes und unbekanntes Terrain. Segues forderten die Hörer auf, durch die elaborierten Klanglandschaften des Psychedelic Rock und die narrativen Gewebe des Folk zu reisen. Die Metapher der Reise beschreibt aus meiner Sicht recht plausibel den Anspruch des Freeform-Radios, durch die konzeptionell grundierte Verknüpfung von Aufnahmen eine Art Bedeutungsüberschuss zu erzeugen, der die Musikerfahrung der Hörer bereichern sollte. Der Mitschnitt einer Sendung, die Tom Donahue mit seinem Kollegen B. Mitchel Reed auf KMET-FM moderierte, verdeutlicht die Praxis der Segue: »On the early Bob Dylan albums you find songs that oftentimes came right from the front pages of newspapers. We thought what we do is put together a set of songs that Dylan has written that would cover what you might find in an average newspaper. A front page story or a story that should have been on the front pages but was more likely very back in the orbits, funneled by a story from the financial page, one from the sports section, and finally, of course, one editorial.«37
Der DJ spielte nach dieser Anmoderation zwei Songs des Singer-Songwriters. Nach einem Werbespot und Nachrichten folgten die Fakten: »Okay, we’ve had the front page with The Lonesome Death of Hattie Carrol and Bob Dylan’s financial page with Masters of War. This is Tom Donahue. We’re playing Dylan sounds in stereo and we’re sort of doing his version of a newspaper and finally the editorial.« Danach kamen die zwei letzten Songs der Reihe. Der DJ fasste zusammen: »The Times They are a-Changin’, that’s our editorial. Before that our sports item that turned out to be Who Killed Davey Moore.«38 Donahue gestaltete diese Segue mit einem Anspruch auf Originalität. Er nahm die bekannte Struktur einer Zeitung und fügte Dylan-Songs als musikalische Inhalte ein. Damit kommunizierte der Diskjockey auf subtile Weise den öffentlichen Status vieler Künstler seiner Zeit als Beobachter und Kritiker gesellschaftlicher Wirklichkeit. Der erste Song der Segue, dessen Inhalt auf der Basis einer wahren Begebenheit einen Kriminalfall schildert, repräsentierte die Titelseite. Masters of War, ein Protestlied Dylans über die Rüstungsindustrie, fand sich im Finanzteil der imaginären Zeitung wieder. Der dritte Song behandelte wieder ein reales Ereignis, den Tod des Boxers Davey Moore als Folge eines Schaukampfs im Jahr 1963. Er machte den Sportteil der Zeitung auf. Mit The 37 Donahue/Reed 1. Eine Bestimmung der Dauer des O-Tons war bei diesem archivierten Mitschnitt nicht möglich, weil die analoge Wiedergabeapparatur des Paley-Centers for Media aufgrund von Altersschwäche regelmäßig aussetzte. 38 Donahue/Reed 1.
126 | T HOMAS S CHOPP Times They are a-Changin’ stellte Donahue schließlich den vermeintlichen Leitartikel des Sängers vor, der indirekt die sozialen und politischen Bewegungen Mitte der 1960er Jahre in den USA (Bürgerrechtsbewegung etc.) kommentierte. Als der dritten Dimension meiner historischen Programmanalyse wende ich mich der Stimme zu. Bereits die Hörfunkforschung der 1930er Jahre erbrachte empirisches Material für die Hypothese, dass Hörer aus den klanglichen Merkmalen der körperlosen Radiostimme auf eine dahinter stehende Persönlichkeit schlossen, die durch typische Eigenschaften oder ihre soziale Stellung beschrieben werden konnte.39 Ein praktisches Wissen über diesen psychischen Mechanismus besaßen auch die Radiosender durch Zuschriften. In Briefen, mit denen die Hörer ihre Wertschätzung für bestimmte Programme mitteilten, fanden sich konkrete Hinweise darauf, dass die Menschen an den Empfangsgeräten sich mit den Trägern der Stimmen, die ihnen ästhetisches Vergnügen bereiteten, identifizierten. Es war eine Form der affektiven Bindung, die nicht nur auf den Aussagen des Diskjockeys beruhte, sondern auch auf der Klanggestalt seiner Stimme. Dieses praktische Wissen nutzte die Radioproduktion zur Konstruktion unterschiedlicher Stimmtypen. Der Radiostimme kam dabei erstens eine strategische Funktion zu. Die Sender wählten nur diejenigen Stimmen aus, die ihre Zielgruppe am besten »ansprachen«. Zweitens war die Ästhetik der Stimme, ihre Klangfarbe (dunkel, hell) und die konkrete Anwendung der sprecherischen Gestaltungsmittel (Sprechtempo, Lautstärke, Akzentuierung etc.), abhängig von der Entwicklung von Technologien der Klangübertragung und -bearbeitung (Mikrophone, Filter, Kompressoren etc.). Das Formatradio der 1950er und 1960er Jahre stützte sich auf einen mit hohem Tempo plaudernden, stets gut gelaunt klingenden Diskjockey. Als Kontrast zu diesem Modell der Hyperaktivität entwickelten die Diskjockeys des Freeform-Radios um 1967 einen eigenen Stimmtyp. Im Vergleich zu Donahues früherer Sprechweise, die er im Formatradio trainiert hatte, klang seine Freeform-Stimme deutlich tiefer. Er sprach verhältnismäßig langsam, verzichtete auf Ausrufe, die zum Markenzeichen der DJs im Formatradio gehört hatten, und nahm Sprechpausen oder Verzögerungslaute (»ahm«) in sein Repertoire auf. Dieser Moderationsstil artikulierte das Konzept einer reflexiven Radiopersönlichkeit, die sich in der Ko-Präsenz der Hörer um einen authentischen Selbstausdruck bemühte. Die langsame, sanfte DJ-Stimme suchte bewusst die Nähe zur Zielgruppe. Indem Donahue die verbalen Tricks und Effekte des Top-40-Radios ruhen ließ, entwickelte er eine Ästhetik der »Natürlichkeit«, die auch der subkulturellen Sprache der Hippies zugrunde lag. Berichte von Ohrenzeugen lassen zudem den Schluss zu, dass viele Hörer die Sprechweise der Freeform-DJs als Zeichen ihres 39 Vgl. Hagen: Radio, S. 223 f.
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Drogenkonsums interpretierten. Tatsächlich geben diverse DJs an, dass sie regelmäßig »high« auf Sendung gingen: »The pace was slow and subdued, and the DJ spoke into the mike as if he were chatting with you in bed. It was very important to sound ›mellow‹, as listeners came to identify this vocal quality as being the most authentic. More to the point, many sounded – and were – stoned, and the inside jokes about how especially great a song sounded or having the munchies brought knowing listeners in on the secret.«40
Dieser Moderationsstil rückte Donahue trotz des Altersunterschieds in die Nähe der Hippie-Subkultur. Die klangliche Erscheinungsform seiner Stimme begründete eine Form von Komplizenschaft zwischen dem DJ und den Hörern.41 Nur das geübte Ohr konnte Donahues jahrelange Erfahrung als Hörfunkmacher, die sich gelegentlich in bestimmten Sprachmelodien oder Artikulationen andeutete, heraushören.42 Der Diskjockey maskierte erfolgreich die professionelle Differenz zwischen Sender und Empfänger. Dass dies gelang, hatte auch gute medientechnische Gründe, wie Wolfgang Hagen herausgearbeitet hat: »Vor hoch auflösenden FM-Mikrofonen sprechend und über eine gute Musikanlage wiedergegeben, erreicht die Radiostimme jetzt aber eine Intimität, die schalltechnisch in der Alltagserfahrung nur der Präsenz vergleichbar ist, wie sie ein Sprechender ganz nah am Ohr eines anderen erreicht.«43
F AZIT Am Beispiel des US-amerikanischen Freeform-Radios habe ich gezeigt, wie der Diskjockey Tom Donahue den Prozess der Konstruktion des Populären mitgestaltete. Er ist als Prototyp des professionellen Vermittlers zu begreifen, dessen Leistung darin bestand, eine neue Form von aufgenommener Musik auf eine Weise im Radio zu präsentieren, die für seine Hörer relevant war. Aus der Klanggestalt des Programms lässt sich Donahues Funktion für die Konstruktion
40 Douglas: Listening in, S. 271. 41 Tom Donahue war 38 Jahre alt, als er im Frühjahr 1967 das Freeform-Format auf KMPX-FM initiierte. Der Sender erreichte einer Marktanalyse aus demselben Jahr zufolge Hörer zwischen 18 und 34 Jahren, darunter schwerpunktmäßig Männer im Alter von 18 bis 24 Jahren (vgl. Krieger: Cooptation, S. 61). 42 Hagen: Radio, S. 345. 43 Vgl. ebd., S. 345 f.
128 | T HOMAS S CHOPP des Populären in der Musikkultur der USA ableiten. In seinen Moderationen verknüpfte Donahue die gespielten Tonträger konsequent mit den Künstlern und Szenen, die sie produziert hatten. Er führte einen Diskurs, der Schallplatten als Ausdruck kreativer Individualisten begreifbar machte, als phonographische Kunst. In der Gestaltung der Zeitform seines Programms folgte der DJ selbst einem künstlerischen Imperativ. Er konstruierte als Segues bezeichnete Reihen von Songs zu einem bestimmten Thema. Auf diese Weise markierte er Zusammenhänge zwischen Tonträgern, die das Publikum in der subkulturellen Diskussion bestätigen oder hinterfragen konnte. Donahue entwickelte eine Radiostimme, die mit den Konventionen des Formatradios der Mittelwelle brach. Seine sanfte, langsame Sprechweise sollten die Hörer als »natürlich« und »authentisch« identifizieren. Die Konstruktion der Stimme auf der Basis von Kategorien wie »Natürlichkeit« und »Authentizität«, die eine hohe Wertigkeit innerhalb der Subkultur der Hippies besaßen, bildete eine wichtige Voraussetzung für die Herstellung einer affektiven Bindung zwischen dem Diskjockey und seinen Hörern. Indem der DJ sprach wie seine Hörer, gab er sich als ihre Stimme aus. In der strategisch eingesetzten Radiostimme verschränkten sich mediale Öffentlichkeiten und subkulturelle Szenen. Im Verbund mit anderen DJs erschloss Donahue dem US-Radio die Zielgruppe der jungen Erwachsenen (18-34 Jahre). Das Freeform-Radio leistete damit einen effektiven Beitrag zur dauerhaften Bindung von populärer Musik und erwachsener Hörerschaft. Die heute verbreitete Auffassung, dass Popmusik etwas ist, über das Menschen jenseits des Teenageralters mit Gewinn nachdenken und reden können, weil sich in ihr grundlegende soziale, politische und kulturelle Verhältnisse abzeichnen, gehört zum Erbe der Radio-DJs, die diese Auffassung in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre etablierten.
S ENDEMITSCHNITTE Tom Donahue: Metanomine, KSAN-FM, San Francisco, 1969. Audio-Stream. 69:50 min. Online im Internet als: Tom Donahue on Sat Night 1968, (15.9.2012) [Donahue 1]. Ders.: Metanomine, KSAN-FM, San Francisco, April 1969. Audio-Stream. 49:25 min. Online im Internet als: Tom Donahue 4-17-69, (4.4.2010) [Donahue 2]. Ders./B. Mitchel Reed: DJ-Show, KMET-FM, Los Angeles, 27. Juni 1968. Mitschnitt im Paley-Center for Media, New York City. Katalognr.: R: 5912 [Donahue/Reed 1].
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D ISKOGRAPHIE Beatles, The: Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Parlophone PCS 7027, 1967 [LP]. Charlatans, The: The Charlatans, Philips PHS 600-309, 1969 [LP]. Doors, The: Strange Days, Elektra EKS 74014, 1967 [LP]. Dylan, Bob: The Freewheelin’ Bob Dylan, Columbia CS 8786, 1963 [LP]. Ders.: The Times They Are a-Changin’, Columbia CS 8905, 1964 [LP]. Ders.: Blonde on Blonde, Columbia C2S 841, 1966 [LP]. Grateful Dead, The: Anthem of the Sun, Warner Brothers WS 1749, 1968 [LP]. Jimi Hendrix Experience, The: Electric Ladyland, Reprise 2RS 6307, 1968 [LP]. Rolling Stones, The: Beggars Banquet, Decca SKL 4955, 1968 [LP]. Russell, Leon: Leon Russell, Shelter SHE 1001, 1970 [LP]. Youngbloods, The: Elephant Mountain, RCA Victor LSP 4150, 1969 [LP].
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Staff Sergeant Barry Sadler (U.S. Army Special Forces): Ballad of the Green Berets/ Badge of Courage. Original-Aufnahme Nr.1 in Amerikas Hot 100. RCA Victor 47-9688, 1965 [Single].
Dancing in Heels Motown und die Performanz schwarzer Weiblichkeit in der Popkultur der 1960er Jahre M ARTIN L ÜTHE
Diana Ross und die Supremes sind längst zu Pfeilern in der kollektiven Erinnerung der Babyboomer an »ihre« 1960er Jahre und an den Höhepunkt der langen Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten geworden.1 Die 1960er Jahre und insbesondere ihre Populärkultur können im Sinne Stuart Halls auch als »conjuncture« – als historische Verdichtung oder historischer Zusammenfluss – verstanden werden, in der kulturelle Komplexitäten, Prägungen und Praxen besonders sichtbar und verhandelbar werden und die somit umfangreiche Sinnstiftungspotenziale bergen.2 Man bedenke hier nur die Bedeutung der Populärkultur in den 1960er Jahren für den Generationenkonflikt dieser Zeit, ihre Bedeutung im Kontext der Bürgerrechtsbewegung(en) in den Vereinigten Staaten sowie ihre eigene Professionalisierung von Produktions- und Verbreitungsabläufen und ihre mediale Materialität. In seinem gleichermaßen scharfsinnigen wie verspielten Text Raising Cain: Blackface performance from Jim Crow to hip hop etablierte und analysierte der Amerikanist W. T. Lhamon 1998 die fortdauernde Bedeutung so genannter »blackface lore cycles« – zyklisch funktionierender, miteinander verwobener kultureller Sinnstiftungsmuster und -praxen, die in die Tradition des »blackface« eingebettet sind. Mit »blackface« lassen sich jene Performancepraxen des atlantischen Raumes bezeichnen, in deren Zentrum die Imagination von African
1
Vgl. Hall: Civil Rights Movement.
2
Zur ausführlichen Diskussion von »conjuncture« siehe Hall: The meaning of New Times.
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Americans steht, teilweise vorgetragen von weißen Performern mit geschwärzten Gesichtern, teilweise von schwarzen Performern oder gar von schwarzen Performern mit zusätzlich geschwärzten Gesichtern. Lhamon beschreibt deren Ursprung als Resultat des »dancing for eels«, des Tanzens und Performens für den Preis von Aalen auf den Handelsmärkten der atlantischen Region im 18. Jahrhundert. Auf gewisse Weise stellt diese Untersuchung der Motown-Girlgroup The Supremes als »dancing in heels« hier einen Beitrag zur Analyse eines spezifischen historischen Momentes dieser »lore cycles« dar, eben den 1960er Jahren. Die folgende Analyse verortet zunächst die spezifischen körperlichen Performances der Supremes historisch in den »lore cycles«, um dann zu zeigen, dass diese eine Vorstellung von schwarzer weiblicher Schönheit in die Popkultur des Atlantiks einspeisten, die einerseits im politischen Kontext der 1960er Jahre immense Wirkungsmächtigkeit hatte, andererseits die stereotypen Repräsentationen schwarzer physischer Andersartigkeit nachhaltig verkomplizierte.3 In einem ersten Abschnitt des Beitrages soll entsprechend die theoretischmethodische Fundierung erfolgen. Die »blackface lore cycles«, als Prisma auf die Popkultur, sollen mit der Körpergeschichte ins Gespräch gebracht werden und dabei besonders auf den drei Ebenen von Bedeutung, Wertzuschreibungen und Praxen analytisches Potenzial für die Geschichte der Popkultur schaffen. Der zweite Teil des Textes fokussiert die Supremes in ihrem pophistorischen Kontext mithilfe des zugrunde liegenden theoretisch-methodischen Zugriffes unter besonderer Berücksichtigung der komplexen performativen Einschreibung schwarzer weiblicher Schönheit in die Kulturen Nordamerikas und des Atlantiks. Abschließend sollen die Supremes und deren Bedeutung für die Popkultur der 1960er Jahre zusätzlich in einem historischen Ausblick perspektiviert und ihre Bedeutung innerhalb der popkulturellen Erinnerung problematisiert werden.
D IE K ÖRPER
DER
» BLACKFACE
LORE CYCLES «
Das Konzept der »lore cycles« vermag auf mehreren Ebenen einen Beitrag zur pophistorischen Forschung zu leisten: Erstens hilft die Idee des Zyklischen, den Wandel, die Wiederkehr und die Verhandlungsprozesse von kulturellen Gesten
3
Für die Konstruktionen schwarzer weiblicher Andersartigkeit in den Rassendiskursen der Geschichte der Vereinigten Staaten, siehe auswahlweise: Collins: Black sexual politics; Crenshaw: Mapping the margins; Fleetwood: Troubling vision; Glenn (Hg.): Shades of difference; Hooks: Black looks; Kerr: The paper bag principle; Raiford: Lynching; Wiegman: American anatomies.
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kritisch in den Blick zu nehmen. Muster und Gesten von einer gewissen Tragweite und Wirksamkeit werden innerhalb von Kulturen immer wieder aufgegriffen, verändert und re-interpretiert. Sie können dabei von verschiedener Qualität sein und zum Beispiel Töne einer Melodie, Textilmoden, Stilisierungen des Körperlichen oder einfach Tanzschritte umfassen. Hierbei schlägt Lhamon weniger vor, diese Muster auf bestimmte Originale zu Analysezwecken zurückzuführen, sondern vielmehr die sich wandelnden Bedeutungen der Muster und Gesten sowohl auf der Produktionsseite als auch auf der Rezeptionsseite ins Zentrum des dynamischen Interpretationsmodells zu rücken und somit die Gesten stets mit dem historischen Kontext der kulturellen Sinnstiftung abzugleichen. Der Begriff des »lore«, mit seiner Wurzel im Folklorebegriff, soll einerseits die folkloristischen Ursprünge von populären Kulturen ausdrücken, ohne dabei über den idealisierenden und meist verklärenden Begriff des »folk« Unschärfe und Normativität zu erzeugen. Der Begriff des »folk« drückt zu oft – implizit oder explizit – die Sehnsucht nach dem authentischen, aus der Alltagskultur des Volkes entsprungenen, wahren Kern bestimmter Praxen und Muster aus, der entweder durch kulturelle, politische oder wirtschaftliche Prozesse verloren gegangen scheint oder verloren zu gehen droht.4 Lhamon selbst wählt für seine Analyse den »blackface lore cycle«, den er und andere Theoretiker vor ihm als weitreichend sinnstiftenden und immer noch aufspürbaren Zyklus spezifischer Gesten und Muster für die Kulturen Nordamerikas, aber auch des größeren atlantischen Raumes etabliert haben.5 Die »blackface minstrel shows« besetzen einen zentralen Ort in der Populärkultur der Vereinigten Staaten, nicht zuletzt deshalb, weil sie als die erste (trans-)national verbreitete, emergierende kulturelle Form gelten, die man aufgrund ihrer Verbreitung und Bedeutung für die nationalen und transnationalen Sinnstiftungsprozesse als Massenkultur bezeichnen kann. Unter den Kritikern, die sich den »blackface minstrel shows« widmen, fordert Eric Lott vehement die Anerkennung der Komplexität dieser Praxis. Er schreibt: »Minstrelsy brought to public form racialized elements of thought and feeling, tone and impulse, residing at the very edge of semantic availability, which Americans only dimly realized they felt, let alone understood. [...] Minstrel performers often attempted to repress through ridicule the real interest in black cultural practice they nonetheless betrayed –
4
Für Auseinandersetzungen mit dem Folkbegriff siehe: Lhamon: Raising Cain, S. 69 ff.
5
Für eine Übersicht der Geschichtsschreibung zur »minstrelsy« zu bestimmten historiographischen Momenten, siehe Toll: Blacking up; Lott: Love & theft, sowie Lhamon: Raising Cain.
138 | M ARTIN L ÜTHE minstrelsy’s mixed erotic economy of celebration and exploitation, [...] what my title loosely terms ›love and theft.‹«6
Lott verdeutlicht also, dass »blackface minstrelsy« zwar znächst dazu beigetragen hat, bis dato unterdrückte oder schlummernde Gefühle und Gedanken einer von Rasse und Rassismus geprägten Kultur in spezifische Praxen und Formen der »minstrel shows« zu übersetzen, die dann jedoch eine komplexe und vermischte erotische Ökonomie von Bewunderung und Ausnutzung ausdrückten. Im Gegensatz zu anderen Kritikern, deren Fokus auf den rassistischen Elementen der Abgrenzung liegt, versteht Lott – ohne die den »minstrel shows« inhärenten Rassismen zu bagatellisieren – insbesondere die scheinbar widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Furcht und Faszination im Umgang mit Performanzen von »blackness« und ihre immer wiederkehrende erotische Dimension als zentral für das Verständnis von »minstrelsy«.7 Diese Einsicht ist wertvoll für ein Verständnis der nordamerikanischen und atlantischen populären Kulturen, das die zentrale Bedeutung afrodiasporischer Ausdrucksformen und deren Aneignungen für diese populären Kulturen und die Geschichte der Popmusik ernst nehmen will: Von den »minstrel shows« und Spirituals über den Jazz und Blues bis hin zu Rock’n’Roll, Motown-Soul und später Rapmusik sind afrodiasporische Musikstile sinnstiftend für die Popkulturgeschichte. Indem Lott die erotische Dimension der »minstrel shows« herausstellt, verweist er bereits auf die Bedeutung der Analysekategorie des Körpers für die Geschichte und bringt somit Ansätze der Cultural Studies mit der Körpergeschichte ins Gespräch. Als Ausgangspunkt der Körpergeschichte kann die Erkenntnis gesehen werden, dass die Materialität von Körpern und Körperlichkeit erst diskursiv erzeugt beziehungsweise diskursiv sinnvoll wird und sie somit als kulturelle Konstrukte begriffen werden können. Deshalb können Körper und deren Interpretation zum Gegenstand historischer Forschung werden und als Prisma auf größere sozial- und kulturhistorische Zusammenhänge angewandt werden, insbesondere jene, in denen sexuelle, rassische oder geschlechtliche Normativität sowie Devianz produziert werden und relevant sind.8 6
Lott: Blacking up, S. 6.
7
Für eine komplexe Argumentation zu Gleichzeitigkeiten und Ambivalenzen vgl. Bhabha: The location of culture, insbes. Kapitel 3 und 4 zur Funktion von Stereotyp und Ambivalenz in kolonialen Diskursformationen (S. 94 ff.).
8
Für Überblicksdarstellungen zur Entstehung der Körpergeschichte im deutschen Wissenschaftskontext vgl. Stoff: Diskurse und Erfahrungen. Die diskursive Erzeugung von Schönheit, die hier als wichtige Untersuchungseinheit fungiert, vollzieht sich selbstverständlich immer geschlechterspezifisch und ist inhärent normativ.
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»D ANCING IN H EELS «: P ERFORMANCE , S CHÖNHEIT UND K ÖRPERLICHKEIT BEI DEN S UPREMES Wie viele andere Künstler der Motown-Labelgruppe9 setzten sich die Supremes aus Sängerinnen aus dem Raum Detroit zusammen und nahmen und traten zunächst unter einem anderen Namen, The Primettes, auf. Die Primettes und späteren Supremes bestanden bis in die Phase ihrer größten Popularität aus Florence Ballard, Diana Ross und Mary Wilson. Diana Ross und Florence Ballard wurden beide in Detroit geboren, während Mary Wilson erst als Teenager in den Detroiter Brewster-Douglass Housing Projects heimisch wurde. Alle drei Sängerinnen waren also zum Zeitpunkt ihres gegenseitigen Kennenlernens im größten Sozialwohnungsbau der Stadt, im Osten Detroits, zu Hause. Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern des Labels galten die Supremes bis Mitte der 1960er Jahre gleichzeitig als Lieblingsband des Labelbesitzers Berry Gordy Jr., jedoch gleichermaßen als chronisch erfolgloses Trio mit fehlenden Distinktionsmerkmalen. Gordy, selbst in Detroit geboren, hatte sein erstes Label mit einem Privatkredit zweier seiner Schwestern gegründet und anfangs, wie viele Existenzgründer im Musikgeschäft, Probleme, mit der von ihm geschriebenen und veröffentlichten Musik Geld zu verdienen. Im Laufe der 1960er Jahre jedoch avancierte er zum Sinnbild eines afroamerikanischen Unternehmergeistes und als CEO von Motown und seinen anderen Labeln zu einem der einflussreichsten afroamerikanischen Kulturproduzenten und Unternehmer der 1960er Jahre.10 Als Teil der historischen Meistererzählung von Motowns Erfolg entfaltet die doppelte Erzählung anfänglicher Zähigkeit, Gordys eigene und die der Supremes, besondere Wirkungsmacht. Das dauerhafte Vertrauen in die eigenen Stärken, gegenseitige Loyalität und gemeinsames Durchhalten entwickelt hier allegorische Kraft sowohl bezogen auf die Gründungsgeschichte des Labels als auch auf die im Kontext der Bürgerrechtsbewegung beginnende kollektive Erinnerung der afroamerikanischen Bevölkerungsschichten der Vereinigten Staaten. Viele Kritiker und
9
Motown ist nur eines der Label, die Berry Gordy Jr. in den 1960er Jahren gründete und gemeinsam verwaltete, wird aber meist als Sammelbegriff für die bei seinen Labels produzierte Soulmusik aus Detroit benutzt. Da es hier nicht um eine Wirtschaftsgeschichte der Labels und Verlage gehen soll, benutze ich ebenfalls diesen Sammelbegriff mit dem höchsten Wiedererkennungswert.
10 Vgl. George: Where did our love go. Für eine anschauliche Diskussion der Entwicklungen der Plattenindustrie und anderer so genannter »schwarzer Labels« vgl. auch Denisoff: Solid gold; Ward: Just my soul, S. 388 ff.
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Kulturwissenschaftler verstehen die Supremes mit einer Mischung aus Bewunderung und Abscheu als die personifizierte Zuspitzung der Soulpopformel Berry Gordys, dem dieselben Kritiker dann den Ausverkauf authentisch schwarzer Musik zugunsten von schwarzem Pop vorwerfen.11 Im doppelten Prisma von »blackface lore cycle« und Körpergeschichte scheint eine Problematisierung dieser Einsichten geboten. Die Supremes gerieten 1964 in den Fokus der nationalen und internationalen Öffentlichkeit mit ihrer Single Where Did Our Love Go, die zugleich ihr erster Nummer-Eins-Hit in den Billboard-Hot-100-Charts wurde. Dieser Durchbruch stellte nicht nur einen Durchbruch für die Supremes und Motown dar, vielmehr veränderte der Erfolg der Supremes die Popmusikgeschichte signifikant und nachhaltig. Suzanne Smith schreibt entsprechend: »The Supremes’ ascendance into national stardom during the summer of 1964 marked a watershed moment in the history of the record company and of black cultural production in Detroit and – on a national level – in the promotion of ›Negro Life‹ in America. The Supremes’ appeal broke down racial boundaries within the popular music industry more successfully than any other Motown group.«12
Suzanne Smiths Verweis auf die Bedeutung der Supremes funktioniert gleichzeitig als Erinnerung an den Einfluss der Band auf den Umgang mit Rasse und Rassismus innerhalb der Popmusiklandschaft der 1960er Jahre, ein Einfluss, dessen Resultat oft die Kritik an den vermeintlichen Anpassungsstrategien der Supremes darstellt, ohne die aber das spätere systematische »crossing-over« vieler afroamerikanischer Künstler in den Mainstream der Popkultur gar nicht möglich gewesen wäre. Smith stellt deutlich die symbolische, soziale und politische Bedeutung dieser Errungenschaft der Supremes heraus, welche die wiederholt betriebene, auch aus Genderperspektive problematische Verniedlichung der Supremes als bloße Popprinzessinnen kraftvoll in Frage stellt. Stellt man den Körper ins Zentrum der Analyse der Supremes, so wird die symbolische, politische und soziale Bedeutung der Band noch augenfälliger. Die geschlechterspezifischen Choreographien der Motown-Bands fungierten von Beginn an als wirksames Element der zusätzlichen Popularisierung der Musik des Labels, insbesondere ab Mitte der 1960er Jahre, als das Medium Fern11 Diese Debatte ist meines Erachtens sinnlos und entspricht nicht den kulturwissenschaftlichen Standards; eloquente Kritik an dieser Erzählung und dem »Mythos Authentizität« findet sich bei Ward: Just my soul, S. 262 ff.; Kooijman: From elegance to extravaganza. 12 Smith: Dancing, S. 117.
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sehen für das Marketing von Popmusik wichtig zu werden begann – in diesem historischen Moment des »lore cycles« werden dessen körperliche Gesten also gleichzeitig über die Bühne und das Fernsehen einem breiten Publikum zugänglich gemacht.13 Während die bis dato herkömmliche Verbreitung von Popmusik über das Radio die Körperlichkeit und das Aussehen der Künstler_innen jenseits der Stimme vernachlässigbar gemacht hatten, machte das Fernsehen eine stärkere körperliche Performance gleichzeitig möglich und notwendig. Motowns Strategen, insbesondere Gordy selbst, erkannten dies gleichermaßen als Problem und Chance. Die Körper, die man Anfang der 1960er Jahre noch versucht hatte von Plattencovern fernzuhalten, um die Rasse der Künstler_innen offen zu lassen, konnten und mussten nunmehr in Szene gesetzt werden. Zu diesem Zweck hatte Motown eine hauseigene »Charm School« ins Leben gerufen, die neben Benimmregeln, Garderobe- und Make-up-Hinweisen auch eine Tanzschulung umfasste. Aufgrund der Tatsache, dass es geschlechterspezifische Traditionen von Stereotypisierungen schwarzer (körperlicher) Andersartigkeit gab, entwarf der langjährige Choreograph des Labels, Cholly Atkins, außerdem Tanzfolgen mit geschlechterspezifischer Logik und einem Auge auf der Tradition dieser Stereotypisierungen. Der Amerikanist Jaap Kooijman hält zu Recht fest: »With their television performances, The Supremes challenged preconceived notions of how African American pop artists were supposed to present themselves. They did not fit the racial stereotype of the unruly and unsophisticated black body.«14 Schon bei einem der ersten nationalen Fernsehauftritte der Supremes, als sie Where Did Our Love Go in der New Steve Allen Show performten, schlug sich die Bedeutung der »Charm School« nieder und ihr Einfluss zielte deutlich auf die Etablierung einer schwarzen weiblichen Schönheit ab, die eine trans-ethnische Identifikation und Bewunderung seitens des Publikums ermöglichen sollte. Auf den ersten Blick entwirft der Auftritt eine Ökonomie des Blickes beziehungsweise des Betrachtens schwarzer, weiblicher Andersartigkeit, vor allem aufgrund des Auftrittsarrangements, bei dem ein vornehmlich weißes Publikum mittleren Alters an fein gedeckten Tischen um die drei Supremes herum verteilt sitzt, ohne dass die Gruppe auf einer Bühne oder einem Podest erhoben steht. Zwar bestärkt dieses Setting oberflächlich die Machtverteilung weißer, vermeintlich ökono13 Zum komplexen Verhältnis des Fernsehens zur rassischen Segregation und zu seiner Relevanz für die Einschreibung afroamerikanischer Künstler_innen ins Zentrum des amerikanischen Entertainments vgl. besonders Jackson: Introduction, S. 14 ff.; Ward: Just my soul, S. 253 ff.; für die spezifische Diskussion einer Fernseh-Variety-Show vgl. Jackson: American Bandstand. 14 Kooijman: From elegance to extravaganza, S. 4.
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misch erfolgreicher Menschen als Konsumenten des schwarzen Körpers, wie es die schwarze Feministin Bell Hooks so treffend beschrieben hat15, gleichzeitig jedoch eröffnet der Auftritt eine alternative Leseweise, die eine Machtkonzentration – durch den Blick – beim Publikum zu verkomplizieren vermag. Diese Leseweise speist sich aus den miteinander verschränkten Analysekategorien von (sozio-ökonomischer) Klasse einerseits und weiblicher Schönheit andererseits. Ganz allgemein besteht ein großer Beitrag der Supremes zur Popgeschichte genau darin, einen Raum geschaffen zu haben, in dem schwarze weibliche Schönheit und Eleganz überhaupt kulturell sichtbar und vorstellbar werden. Hierbei werden aber spezifische Klassenmarker einer gesellschaftlichen Mittelklasse zur Kommunikation und zum Sichtbarmachen dieser Eleganz und Schönheit eingesetzt. Inmitten von Deckenleuchtern aus Kristall stehen die drei Supremes verteilt auf zwei Standmikrophone, mit Mary Wilson und Florence Ballard an dem einen und Diana Ross, als Leadsängerin des Songs, an dem anderen. Alle drei Sängerinnen tragen aufwendig toupierte Frisuren – beziehungsweise Perücken –, glatte schwarze Haare ganz im Stil der späten 1950er und frühen 1960er Jahre, alle drei tragen das gleiche, elegante Abendkleid und darüber hinaus auffällig große Ohrringe und Halsketten, während passende Broschen im Dekolletéansatz sichtbar sind. Frisuren, Schmuck und Kleider der Supremes tragen also gleichermaßen zur Betonung einer spezifischen Klassenzugehörigkeit und einer bestimmten normativen Weiblichkeit bei. Die Verteilung auf zwei Mikrophone soll, neben der offensichtlichen Sonderstellung Diana Ross’, ebenfalls zur Performanz dieser Weiblichkeit beitragen, indem die zwei fixierten Mikrophone den Bewegungsradius der Sängerinnen signifikant einschränken und diese somit »gezwungen« waren, eine räumlich stark begrenzte Choreographie zu tanzen, welche laut Cholly Atkins auf traditionelle und brave Weiblichkeit verweisen sollte.16 Der limitierte Einsatz des Körpers einerseits und die präzise Inszenierung bestimmter Regionen des weiblichen Körpers andererseits sollten zusätzlich dazu beitragen, eine neue klassenspezifische schwarze Schönheit zu entwerfen, wobei man die stereotypischen Zuschreibungstraditionen schwarzer weiblicher Andersartigkeit als Verhandlungsfolie stets im Blick hatte.17 Diese doppelte Anforderung machte die Auftritte der Supremes und anderer Motown-Girlgroups dieser Zeit zu einem komplexen Unterfangen, bei dem sich dem Publikum verschiedene Lesarten eröffneten. Diese Performanzlogik begann daher schon mit der Auswahl der Künstlerinnen und ihren körperlichen Voraussetzungen: Diana 15 Hooks: Black looks, S. 21 ff. 16 Atkins/Malone: Class act, S. 131. 17 Vgl. ebd., S. 131 f.
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Ross stellte hierbei aufgrund ihrer Physiognomie ein Potenzial für die Verhandlung schwarzer Schönheit und Weiblichkeit jenseits traditioneller Stereotype bereit. Die pseudowissenschaftlichen und kulturellen Rassismen in der Geschichte der Vereinigten Staaten – und den »lore cycles« des atlantischen Westens – hatten schwarze weibliche Andersartigkeit durch eine eigene Fetischisierung bestimmter Körperregionen und deren »Abweichungen« vom weißen weiblichen Standard in der Kultur verankert, die allesamt als Indikatoren devianter schwarzer (weiblicher) Hypersexualität interpretiert wurden; hierbei handelte es sich besonders um die Hüft- und Poregion schwarzer Frauen, aber auch um die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, die als Teil der Vermessung und performativen Thematisierung der Körper stets besondere Berücksichtigung zu finden schienen – in der Wissenschaft wie auf den Wanderbühnen.18 Hier bemerkt Norbert Finzsch völlig zu Recht, dass diese Rassismen und deren starke erotisch-sexuelle Aufladung mehr über die Beschreiber als die so Beschriebenen preisgeben und dieser »gaze« dennoch als verhandelbar begriffen werden sollte.19 Ein frappierendes und verstörendes Beispiel für diese Dynamik stellen der Umgang mit und die Ausstellung von Sarah Baartman als so genannte »Hottentotten-Venus« 1810 in London und 1815 in Paris dar. Das sich gleichzeitig entwickelnde Stereotyp der »Mammy« liegt hierzu quer und basiert auf einer Überbetonung des – immer massigen – schwarzen weiblichen Körpers und seiner gleichzeitigen Desexualisierung zugunsten einer schier überbordenden »Mütterlichkeit«.20 Die Körper der Supremes einerseits und deren genaue Inszenierung andererseits verkomplizieren diese Typen traditioneller Überbetonung von bestimmten Körperregionen afroamerikanischer Frauen. Nicht nur funktioniert Diana Ross’ extrem schlanker Körper, zusätzlich betont durch das lange Abendkleid, besonders zeitgeistig im Zuge der »Twiggyisierung« der atlantischen Kulturen, sondern Ross’ Körper und seine Inszenierung machen gängige Stereotype als solche identifizier- und verhandelbar. Begonnen bei Ross’ Stimme über die Frisuren der Supremes bis hin zur dargestellten Körperlichkeit verkomplizieren die Girlgroups eine kulturell wirksame Tradition der Stereotypisierung schwarzer weiblicher Andersartigkeit. Die Kulmination dieser Strategie findet sich meines Erachtens in der eigens entworfenen Augenchoreographie für Diana Ross, die zudem die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Augenpartie der Sängerin lenken und von der traditionell überbetonten Mundpartie schwarzer Körper ablenken sollte. Im Einklang mit diesen 18 Vgl. hierzu Collins: Black sexual politics; Adams/Fuller: Words have changed. 19 Finzsch: Male gaze, Abs. 33 ff. 20 Vgl. Collins: Black sexual politics, S. 76 ff.
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performativen Gesten lässt sich entsprechend auch der ebenerdige Auftritt weniger als Abwesenheit von Bühne und somit Macht der Performer lesen, sondern als zusätzlicher Ausdruck des Anspruchs von Zugehörigkeit und als Dekonstruktion vermeintlich radikaler Andersartigkeit der Gruppe. Die Bedeutung dieser und ähnlicher Auftritte mit ihren Performanzen schwarzer weiblicher Schönheit und Eleganz können in ihrer popkulturellen Reichweite und Nachhaltigkeit kaum überschätzt werden.21 Im Verlauf der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eröffneten der Erfolg der Motown-Künstler und der allgemeine Siegeszug des Soul einen Raum für eine größere Bandbreite afroamerikanischer Performances. Die Supremes blieben jedoch vorerst ihrer Stilrichtung treu. Den Anspruch, schwarze Weiblichkeit in den (pop)kulturellen Mainstream Nordamerikas einzuschreiben, unterstrichen die Supremes weiterhin anhand der Art und Weise, wie sie auftraten, besonders jedoch in der Liedwahl, die sie mithilfe und auf ausdrückliches Anraten von Berry Gordy Jr. in Richtung so genannter amerikanischer Standards öffneten. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür war der Song Somewhere (There’s a Place for Us) aus dem Musical Westside Story, dessen bloße Auswahl zweierlei dokumentiert: erstens die oben angesprochene Aneignung von Liedgut jenseits des Katalogs von Motown-Soul und damit einhergehend das Untermauern der Ambition für den Wechsel in die popmusikalische und so genannte gesellschaftliche Mitte und, zweitens, die Bereitschaft von Motown-Künstlern ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, einer vagen politischen Sehnsucht in ihren Songs Ausdruck zu verleihen und somit popmusikalisch mit der Bürgerrechtsbewegung im Gespräch zu sein beziehungsweise zu bleiben. In seiner Autobiographie To Be Loved erinnert sich Berry Gordy Jr. an den Stellenwert der Möglichkeit, seine Künstler_innen mit so genannten Standards auftreten lassen zu können. Er schreibt: »My idea was that if I could get The Supremes do a standard on national TV, millions of people would become believers like me. But every time I tried to get a TV producer to let them do one, they were not interested. Valuable TV time on old standards? [sic] No way. ›Just their hits is all we want. Just the hits.‹ […] This opportunity was critical to me – a shot I couldn’t afford to blow. Not only because it could take The Supremes to the next level, and higher, but if done right it could break down other stereotypical barriers in the world of national TV.«22
21 Vgl. Kooijman: From elegance to extravaganza; ders.: »Ain’t No Mountain High Enough«. 22 Gordy: To be loved, S. 209.
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Die Passage aus Gordys Autobiographie unterstreicht die Bedeutung der Standards für die afroamerikanischen Sänger_innen als Ausdruck des Erreichens einer neuen Ebene von Akzeptanz und erinnert gleichzeitig an die Widerstände, denen sich die Künstler_innen und ihre Agenten ausgesetzt sahen. Diese Widerstände waren nicht zuletzt deshalb kalkulierbar, weil sich vor dem Hintergrund der Bürgerrechtsbewegung auch die verantwortlichen Fernsehproduzenten der Tragweite und Symbolik von afroamerikanischen Künstlern, die Standards im nationalen Fernsehen sangen, bewusst waren. Somewhere (There Is a Place for Us) unterstrich diese symbolische Aneignung zusätzlich durch den Liedtext, der genau dieser Symbolik Ausdruck verleiht und die Sehnsucht politisch marginalisierter Gruppen in den USA als Teil des Musicals kraftvoll artikuliert. Der Text des Songs thematisiert die sich wandelnden sozialen Realitäten der Zeit und drückt gleichzeitig die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft für alle sozial und politisch Ausgegrenzten aus. Im Refrain heißt es: »There’s a time for us/ Someday a time for us [...] Time to look and time to care/ [...] There’s a place for us/ A time and a place for us«.23 Wie schon die Aneignung des Liedes Somewhere (There Is a Place for Us) andeutet, vollzog sich im Laufe der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eine Politisierung der Popkultur im Allgemeinen und der afroamerikanischen Popmusik – und Motown – im Besonderen. Vor dem Hintergrund der ersten Erfolge der Bürgerrechtsbewegung, wie dem Voting Rights Act und dem Civil Rights Act aus dem Jahre 1965, aber auch als Resultat der Desillusionierung durch die weiten gesellschaftlichen Widerstände gegen den afroamerikanischen Freiheitskampf, versinnbildlicht in den Morden an Robert Kennedy und Martin Luther King Jr. im Jahre 1968, sowie im Kontext einer entstehenden Protest- und Gegenkultur aufgrund des Krieges in Vietnam, war die Populärkultur und Popmusik der späten 1960er Jahre gekennzeichnet von im weitesten Sinne politischen Positionierungen und Artikulationen. Auch die afroamerikanischen Körper erfuhren dementsprechend eine erneute Politisierung, die in ein Spannungsverhältnis mit den gerade etablierten Mo23 Somewhere. Text: Stephen Sondheim. Musik: Leonard Bernstein. 1957. Der Song fügt sich geradezu nahtlos in den Kontext der »Freedom Songs« der Bürgerrechtsära ein und verweist dabei auf die lange Tradition (afrikanisch) amerikanischer Freiheitslieder, insbesondere auf die Spirituals. Ähnlich wie in den Spirituals findet sich in Somewhere auch eine eher vage Sehnsucht nach Akzeptanz und Gleichberechtigung ausgedrückt, von der sich nicht abschließend klären lässt, ob sie sich im Diesseits oder Jenseits verwirklicht finden soll. Weniger eindeutig jedoch als in vielen Spirituals bleiben die religiösen Bezüge und im speziellen jene auf das Jenseits und dessen erlösende Qualität. Zur Bedeutung der Spirituals vgl. Sanger: Slave resistance.
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town-Körpern trat. Im großen und ganzen gab es zwei gängige Manifestationen der Politisierung afroamerikanischer Popkultur, von denen sich eine als explizite politische Reaktion innerhalb der Popmusik verstand und die eigene politische Position vehement und auch physisch performativ inszenierte, während die andere einer eher eskapistischen Logik folgte und gewissermaßen im Psychedelic Funk gipfelte, der eine ganze Palette politischer, aber auch unpolitisch-hedonistischer Botschaften anbot und der Desillusionierung durch gesellschaftliche Ungerechtigkeit eine im Wortsinn bunte und ausgelassene Popwelt als Zuflucht entgegensetzte. Während Marvin Gaye die erste Reaktion und die Temptations eher die letztere verkörperte, war es für die Supremes besonders kompliziert geworden, der Politisierung der Popkultur und der so genannten Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung, welche vielmehr den Verlust eines bürgerrechtlichen und bürgerlichen Konsenses darstellte, performativ sinnvoll zu begegnen. Beschworen viele Auftritte der Supremes mit der Fähigkeit, vor einem ethnisch gemischten Mittelklassepublikum zu bestehen, noch den Geist des Konsenses der Bürgerrechtsbewegung und die Botschaft des frühen Martin Luther King Jr., entwickelte sich im Zuge der Politisierung der Popmusik parallel eine Erwartung an afroamerikanische Künstler_innen, den »radikaleren« Bestrebungen der Bürgerrechtsbewegung eine Stimme und auch darüber hinaus authentischen Ausdruck zu verleihen. Weiße Kritiker und schwarze Intellektuelle und Aktivist_innen stigmatisierten nun häufig afroamerikanische Künstler_innen als nicht authentisch, wenn Musik und Texte nicht ihren jeweiligen Erwartungen entsprachen, während gleichzeitig besonders diejenigen Künstler_innen kulturell sichtbar wurden und weiterhin bedeutsam blieben, bei denen sich diese Erwartungen an Authentizität bestätigt fanden.24 Auch die Supremes reagierten auf den sich wandelnden Zeitgeist und begannen im Jahre 1968 gewissermaßen von innen heraus, die Repräsentationen schwarzer Weiblichkeit, an deren Produktion sie selbst maßgeblich beteiligt gewesen waren, einmal mehr zu problematisieren beziehungsweise um eine weitere Nuance zu erweitern.25 Das Album Love Child von 1968 und seine Single 24 Für eine ausführliche Diskussion und Problematisierung des Authentizitätsbegriffes bezogen auf afrikanisch amerikanische Popmusik und Motown, vgl. Ward: Just my soul, S. 240 ff. 25 Diese Gelegenheit bot sich den Supremes auch, weil ihr angestammtes SongwritingTrio, bestehend aus Brian Holland, Edward »Eddie« Holland und Lamont Herbert Dozier, sich in den Jahren 1967 und 1968 mit Motowns Musikverlag Jobete Music im Rechtsstreit befand und die drei somit keine Lieder mehr zum Motown-Korpus hinzufügten (vgl. Posner: Motown, S. 204 ff.; Gordy: To be loved, S. 277).
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mit demselben Titel stehen für diese letzte Phase der Supremes des klassischen Motown, wobei ein ursprüngliches Mitglied, nämlich Florence Ballard, zu diesem Zeitpunkt schon durch die Sängerin Cindy Birdsong ersetzt worden war. Die Veröffentlichung von Love Child erlaubte es den Supremes noch einmal, afroamerikanische Weiblichkeit und Schönheit neu zu definieren und dabei erneut gängige Sichtweisen auf afroamerikanische Andersartigkeit zu problematisieren. Auch bei der Navigation durch das politische Feld des Populären bewiesen die Supremes wieder ein gutes Gespür dafür, was möglich und nötig war, um den politischen Song mit einer gewissen Ästhetik, Schönheit und Weiblichkeit erfolgreich ins Gespräch zu bringen. Bei einem Auftritt in der Ed Sullivan Show im September 1968 präsentierten die Supremes ihre Single Love Child in völlig neuem Gewand. In einem originellen Setting, vor dem knallig-bunten Hintergrund einer pseudo-großstädtischen Häuserfassade, verquicken sie Pop und afroamerikanische Urbanität zu einer neuen weiblichen Ästhetik. Im Gegensatz zu ihren männlichen Zeitgenossen wie zum Beispiel Marvin Gaye oder dem Stax-Künstler Isaac Hayes kombinierten die Supremes die sozialen und politischen Botschaften mit einer schrill-bunten Fröhlichkeit, die mit dem Lied Love Child ein spannungsvolles Verhältnis einging, schließlich thematisiert der Liedtext Armut, ungewollte Schwangerschaften und soziales Außenseitertum alleinerziehender Mütter als Folge ihrer devianten Familienverhältnisse. Die Tatsache, dass bei popmusikalischen Performances Sänger_in und lyrisches Ich regelmäßig miteinander verschmelzen, erlaubte es Diana Ross, sich als »love child / never meant to be« und als »born in poverty« zu inszenieren und mit einer gewissen Vehemenz ihre Zugehörigkeit zur innerstädtischen afroamerikanischen Bevölkerung zu reklamieren.26 Dieser Authentizitätsgestus verdeutlicht den oben angesprochenen Bedeutungsgewinn dieses Diskurses, der sich wortwörtlich auf Diana Ross’ Körper materialisierte: für den Auftritt in der Ed Sullivan Show ersetzte ein weiter gelber Pullover, auf dessen Vorderseite sich der Schriftzug »Love Child« über Brust und Bauch erstreckte, die vorher typische Abendgarderobe der Sängerin. Zusätzlich trug Ross eine Jeans, keine Ohrringe oder sonstigen Schmuck und ihre Haar auf vermeintlich »natürliche« Weise in einem kurzen Lockenschnitt, dem so genannten »Afro« der westlichen Rassendiskurse. Entsprechend zeigten sich Cindy Birdsong und Mary Wilson ebenfalls nicht in Abendkleidern und mit viel Schmuck, sondern mit dezidiert »lässigen«, unprätentiösen Outfits, barfuß und mit kurzen Lockenfrisuren. Die Supremes sorgten hier für eine Visualisierung und Ästhetisierung einer als afroamerikanisch verstandenen Modekultur der nordamerikanischen Innenstädte; ein 26 Love Child. Text: R. Dean Taylor/Frank Wilson/Pam Sawyer/Deke Richards. Produktion: dies./Henry Cosby. 1968.
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Prozess, der es ihnen gleichzeitig erlaubte, wirkungsmächtig den veränderten Erwartungen an afroamerikanische Künstler zu begegnen, ohne ihr bedeutendes ästhetisches Potenzial opfern zu müssen. Sie konnten daran gehen, die gesellschaftliche Akzeptanz für alternative Konstruktionen von Schönheit erneut auszuloten.27 Bezogen auf die Debatten um Authentizität und die neue modische Orientierung der Supremes schreibt Kooijman: »[I]ironically, the ›ghetto look‹ on Diana Ross was merely another fashionable outfit – Ross was just as ›natural‹ wearing a sequined evening gown as she was sporting a ›natural‹ Afro wig«.28 So war es ihre eigene, längst etablierte Strahlkraft, die es den Supremes erlaubte, den Stil der Innenstadt popkulturell auch für Frauen »salonfähig« zu machen und dafür Sorge zu tragen, dass die Politisierung des afroamerikanischen Körpers als Entität des Protestes und Widerstands gegen ein imaginiertes (weißes) Establishment nicht automatisch bedeuten musste, dass die traditionellen Stereotype unkontrollierbarer, hyper- oder desexualisierter schwarzer Weiblichkeit in die Popkultur zurückfinden konnten. Vielmehr inszenierten die Supremes nun genau diese performativen Aspekte von Künstleridentitäten, zum Beispiel in der Wahl des selbstbeschreibenden Pullovers als »Love Child«, und das Spiel um die Konstruktionen von Zugehörigkeiten, Schönheit, Rasse, Weiblichkeit und Klasse in der Populärkultur der Vereinigten Staaten, zu dessen Reglement die Supremes und andere Motown-Künstler im Zuge der 1960er Jahre nachhaltig beigetragen hatten. Dennoch blieben die Supremes Teil des »blackface lore cycles« und die von ihnen angebotenen Performanzen schwarzer Weiblichkeit konnten von einem trans-ethnischen Publikum immer nur als Teil des Sinnstiftungsangebots dieser »lore cycles« interpretiert werden, sodass auch traditionelle Stereotype immer die Verhandlungsbasis der Intersektion von Rasse, Klasse und Schönheit darstellten.
27 Auch im Liedtext selber wird die Bedeutung von Mode im Stile des »Kleider machen Leute« thematisiert und das lyrische Ich problematisiert den Zusammenhang von Selbstbewusstsein und Fremdbeurteilung im Bezug auf sozio-ökonomische Klasse und Kleidung in den Zeilen »I started school in a worn, torn / dress that somebody threw out / I knew the way it felt to always live in doubt«. Ebd. 28 Kooijman: »Ain’t No Mountain High Enough«, S. 162.
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P OPERINNERUNGEN
Dieser Beitrag inspizierte einen spezifischen Moment in der pophistorischen Produktion schwarzer Weiblichkeit als Teil eines »blackface lore cycles« – den der 1960er Jahre und der transnationalen Popularisierung des Soul. Hierbei diente das doppelte Prisma der Körpergeschichte und des »lore cycles« als Perspektivierungsvorschlag für eine Popgeschichte des Körpers beziehungsweise eine Körpergeschichte des Pop. Der Beitrag hat gezeigt, wie die »Erfindung« einer schwarzen weiblichen Schönheit bei Motown einerseits maßgeblich zur Popularisierung des Soul beitrug und andererseits spezifische, den Körper afroamerikanischer Frauen betreffende Stereotype der amerikanischen Kulturgeschichte sichtbar und verhandelbar machte. In dieser historischen Perspektive – so das vorgelegte Argument – flossen für die Produktion schwarzer Weiblichkeit zentrale Diskurse zusammen, während die 1960er Jahre gleichzeitig einen besonderen Moment in der medialen Verbreitung popmusikalischer Formen markierten, der körperliche Performanzen gleichsam möglich und notwendig machte. Wie von den Supremes selbst bereits begonnen, veränderten beziehungsweise verdichteten sich im Laufe der 1970er Jahre die kulturellen Repräsentationen schwarzer Weiblichkeit einmal mehr, wobei besonders im Blaxploitation-Film die kulturell sichtbar gewordene schwarze Schönheit in ein spannungsreiches Verhältnis mit gängigen Stereotypen schwarzer Weiblichkeit trat. Afroamerikanische Frauen wurden in den Konventionen dieses Genres zwar weiterhin als begehrenswert und schön dargestellt, aber auch als hypersexuell, teilweise als emaskulinisierend und oftmals als schlichtweg gefährlich. Diese Dämonisierung schwarzer Frauen bei gleichzeitiger »Anerkennung« ihrer spezifischen Schönheit fand – vielleicht als Konsequenz des Blaxploitation-Genres – nachhaltige und kraftvolle Einkehr in die sinnstiftende »schwarze Musiksparte« der 1980er, 1990er und 2000er Jahre der westlichen »lore cycles«; nämlich der Rapmusik. Wenngleich die geschlechterspezifischen Produktionen schwarzer Weiblichkeit und Männlichkeit in der Rapmusik wissenschaftlich angeregt diskutiert werden, könnte eine körpergeschichtliche Analyse mit einer historischen Tiefendimension des Rapmusikvideos signifikant zu dieser Debatte beitragen.
V IDEOQUELLEN Lauro, Jo u. a.: The Supremes: Reflections – The Definitive Performances 19641969. Universal Music, 2006 (DVD).
150 | M ARTIN L ÜTHE
The Supremes: Where Did Our Love Go, The New Steve Allen Show, 24. September 1964, in: Lauro u.a.: The Supremes. Dies.: Love Child, The Ed Sullivan Show, 29. September 1968, in: Lauro u. a.: The Supremes. Dies.: Somewhere, The Ed Sullivan Show, Februar 1966; https://www.youtube. com/watch?v=Il-DwU9r4N8&list=PLMA0m0d7nfAEHk6dCk8RMlccY9l3p3udr&index=8 (22.8.2014)
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D ANCING IN H EELS
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Nathan S. Leichmann, Ph. D. and Stanley Z. Daniels, M. D.: Sex explained for children. For Children Ages Seven Through Thirteen. Polydor Carapan, EV-5691, 1972 [Single].
»Moderne Tanzmusik« für die Mitte der Gesellschaft Diskotheken und Diskjockeys in Westdeutschland, 1960-1978 K LAUS N ATHAUS
Stampfende Beats und markerschütternde Bässe, Türsteher und Maxitracks, Glitzerkugel und samstagnächtliche Ekstase – »Disco« ist heute ein Genrebegriff, der mit festen Vorstellungen von Klängen und Bildern, Verbreitungskontext und Rezeptionsverhalten verbunden ist. Die dominierende Erzählung von der Geschichte dieses Genres beginnt mit der Herausbildung eines subkulturellen Stils im engeren Kreis lokaler, sozial marginalisierter Szenen, führt über seine Kommerzialisierung und breite Popularisierung und mündet in seiner ästhetischen Verflachung und politischen Entleerung. Das Narrativ nimmt seinen Ausgang in den frühen 1970er Jahren in US-amerikanischen gay clubs und charakterisiert die weitere Entwicklung als mehr oder weniger erfolgreiche Selbstermächtigung homosexueller und schwarzer Minderheiten. Diese sei mit dem Aufgehen des Stils in den »Mainstream« eingeholt worden, bevor schließlich die Musikindustrie zu der Erkenntnis gelangt sei, dass man mit gesichtsloser Produzentenmusik nicht genügend Tonträger verkaufe. Ergänzt wird diese Geschichte, die ziemlich genau die Dekade der 1970er Jahre umfasst, um den Verweis auf Vorläufer wie die Kellerklubs im besetzten Paris der frühen 1940er Jahre, in denen verbotenerweise zu Swingplatten getanzt worden sei, jamaikanische »Sound Systems« oder Tanzabende zu Plattenmusik in nordenglischen Pubs.1 Auf die westdeutsche Diskothekenentwicklung lässt sich der Erzählbogen vom subkulturellen Aufbruch zur kulturindustriellen Vereinnahmung nur schwer
1
Vgl. Echols: Hot Stuff; Brewster/Broughton: Last Night; Lawrence: Love Saves the Day; Poschardt: DJ Culture, S. 103.
156 | K LAUS N ATHAUS projizieren. Weder ihre Periodisierung noch ihr Verlauf entsprechen dem Narrativ; ebenso wenig kommen die betreffenden Diskotheken als Vorläufer für Disco infrage. Wie der folgende Beitrag herausarbeiten wird, knüpften Diskotheken und Diskjockeys in Westdeutschland bereits Mitte der 1960er Jahre enge Verbindungen mit der Schallplattenindustrie und förderten im Zuge dieser Zusammenarbeit nicht etwa die Entstehung eines neuen Genres, sondern trugen im Gegenteil erheblich zum Fortbestand des heimischen Schlagers bis weit in die 1970er Jahre bei. Ein großer Teil der deutschen Diskotheken und DJs bot Musik, Tanz und Unterhaltung für eine breite Mittelschicht und stand damit in der Kontinuität der Tanzlokale der 1950er Jahre, deren Vergesellschaftungsformen sie dem neuen Rezeptionskontext anpassten. Die Frühgeschichte westdeutscher Diskotheken begann um 1960, als sich Schallplattenmusik und DJs gegenüber den Tanzkapellen durchsetzten, und endete mit den Soundinnovationen des letzten Drittels der 1970er Jahre. Einen Wendepunkt markiert der Deutschlandstart des Films Saturday Night Fever im Frühjahr 1978, der Disco als Genre etablierte und ansagende DJs, altersgemischte Publika und die Diskothekenauftritte aufstrebender Schlagersterne rasch als überholt erscheinen ließ. Der erste Teil des Beitrags beschreibt am lokalen Beispiel Bielefelds die Diskothekenlandschaft der 1960er Jahre, die sich in vornehmlich von Teenagern und jungen Twens frequentierte »Beat-Schuppen« einerseits und Tanzbars andererseits aufspaltete. Wegen ihrer hohen Bedeutung für die heimische Musikwirtschaft stehen Letztere im Fokus dieses Artikels.2 Der zweite Teil geht ein auf die Vergesellschaftungspraxis in Tanzbars, die sich von sozialen Interaktionen in Jugenddiskotheken deutlich unterschied. Der dritte Teil verfolgt die Professionalisierung einer Gruppe von Tanzbar-DJs und analysiert, wie sie eine zunehmend einflussreiche Rolle in der Schlagerproduktion einnahmen. In aller Kürze wird abschließend die Frühgeschichte deutscher Diskotheken im Kontext von Popgeschichte verortet.
»B EAT -S CHUPPEN « UND T ANZBARS : W ESTDEUTSCHE D ISKOTHEKEN DER 1960 ER J AHRE Die technologischen Bedingungen für Tanzveranstaltungen mit Schallplattenmusik waren seit Mitte der 1920er Jahre gegeben, als die neue elektrische Tonaufnahme die Herstellung von Platten mit ausreichender Lautstärke ermöglichte.3
2
Zu Rockdiskotheken siehe Schmerenbeck (Hg.): Break on through.
3
Vgl. Anzeigen für »lautstarke Tanzplatten« in: Phonographische Zeitschrift 27 (1926).
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Doch es dauerte noch Jahrzehnte, ehe sich in Deutschland Diskotheken etablierten. Bis Ende der 1950er Jahre dominierten Kapellen das musikalische Programm in deutschen Tanzlokalen. Bandleader wählten Titel aus, welche die Musiker nach ihrem Verständnis von »guter« Tanz- und Unterhaltungsmusik darboten. Dies machte die Tanzkapellen zu wichtigen Gatekeepern zwischen Musikanbietern und Konsumenten. Ihre Erfahrungen aus der musikalischen Praxis und dem Umgang mit dem Publikum flossen an die Macher zurück und beeinflussten dadurch im hohen Maße das populärmusikalische Repertoire der Zeit. Musikverleger bzw. die von ihnen beschäftigten so genannten Kapellenbetreuer frequentierten Lokale, in denen Bands auftraten, um ihnen die Neuerscheinungen zu empfehlen und sie auf diesem Wege zu vermarkten. Titel wurden mitunter von Verlagsmitarbeitern und Musikern gemeinsam vor Ort bedarfsgerecht arrangiert. Der ständige Austausch zwischen Verlag und Kapellen bedingte, dass Repertoireentscheidungen in den Sparten »Schlager« und »Tanz- und Unterhaltungsmusik« im Hinblick auf die Zugkraft im Tanzlokal getroffen wurden. Die Orientierung der westdeutschen Musikwirtschaft an diesem Rezeptionskontext äußerte sich unter anderem darin, dass Single-Schallplatten bis 1963 in der Regel mit der auf dem Label aufgedruckten Angabe des betreffenden Tanzschritts veröffentlicht wurden und das Radio zahlreiche Programme mit »live« gespielter Tanzmusik sendete. Tanzlokale mit Livemusik waren nicht einfach nur ein Verbreitungskanal für Populärmusik unter vielen, sondern standen im Zentrum der Aufmerksamkeit deutscher Musikproduzenten, die mit ihrer Musik in erster Linie auf ein Tanzpublikum zielten.4 Vor diesem Hintergrund begannen Ende der 1950er Jahre die ersten Lokale, ihre Gäste mit Schallplatten zu unterhalten. Die Gründungen um 1960 etablierten die Diskothek dann dauerhaft als Tanzlokal-Format. Anfangs noch belächelt, überzeugte das Konzept bald immer mehr Gastronomen, die nicht zuletzt das Einsparpotenzial erkannten. Diskotheken waren zunächst eine Form der Rationalisierung, und als solche bedrohten sie die Interessen professioneller Unterhaltungsmusiker. Deren gewerkschaftliche Organisation war in Deutschland allerdings zu schwach ausgebildet, um der Ausbreitung der Diskotheken etwas entgegenzusetzen. So wurden bis Mitte der 1960er Jahre Tanzlokale mit Schallplattenmusik in Großstädten wie Berlin, München und Köln, aber auch in Provinzstädten wie Neuwied und Alsdorf eröffnet.5 Unter den Begriff »Diskothek« fielen in den 1960er Jahren Lokale unterschiedlichen Typs. Das gut dokumentierte Bielefelder Beispiel mag dies verdeut4
Nathaus: From Dance Bands.
5
Heinrich [sic] Quirini: Die »Deutsche Disc-Jockey-Organisation« verdrängt keine Kapellen, in: Der Musikmarkt 12/1965, S. 26.
158 | K LAUS N ATHAUS lichen. Dort wurden 1970 bei einer Einwohnerzahl von gut 170.000 mindestens 18 Diskotheken betrieben6, die man in »Beat-Schuppen« und »Tanzbars« unterscheiden kann. Einblicke in beide Arten von Tanzlokalen gewähren die Berichte von Ordnungsbeamten, welche die Diskotheken alle paar Monate besuchten, um die Einhaltung der Gewerbebestimmungen zu kontrollieren. An einem Freitag- und einem Samstagabend Ende November 1969 beispielsweise unternahm der Stadtamtmann Kruse mit seinem Sohn Wolfgang Rundgänge durch acht Etablissements. Im »Old Crow«, im »Western Saloon« und im »Gretna Green« registrierte der Beamte eine Überfüllung der Lokale, zum Teil verursacht durch das bloße Herumstehen der Gäste, die sich, anstatt in Tanzpausen an den Tischen zu sitzen, an der Tanzfläche aufhielten. Im »Old Crow« herrschte, so der Bericht, ein »ständiges Kommen und Gehen«; manche Gäste, deren Alter der Beamte auf 18 bis 24 Jahre schätzte, verzehrten gar nichts; bei ihnen handele es sich um »nur Neugierige«. Gespielt werde in allen drei Diskotheken »viel zu laute Beat-Musik«, zu der die Gäste nach Einschätzung Kruses wegen des Gedränges bestenfalls auf der Stelle tanzen konnten. Einige Pärchen »tauschten Zärtlichkeiten aus« in der vom Amtmann bemängelten Dunkelheit, die nur von »plötzlich grell aufblitzenden Lichteffekten« erleuchtet worden sei. Der Bericht bilanziert den Besuch im »Old Crow« mit der Bemerkung, dass »die Gäste größtenteils nicht besonders gut gepflegt und gekleidet [waren]. Kein besonderes Niveau. Es bereitet keine Freude, dieses Lokal aufsuchen zu müssen«. Beim Besuch des »Trocadero«, des »Journal«, des »Christopher of Bremen«, des »Mylord« und des »Ambassador« hingegen fühlten sich die Kruses wohl. Im »Trocadero« taxierte der Beamte die Gäste und befand: »Alles gut gekleidet. Gehobenes Niveau.« Im »Mylord« erschien das »Publikum in normaler Kleidung, nicht in einer unmöglichen Aufmachung«. Das Alter der Gäste dieses Lokals lag nach Einschätzung des Beamten zwischen 18 und 28 Jahren; im »Ambassador«, im »Christopher of Bremen« und im »Trocadero« reichte das Spektrum von 20 bis 50. Das Ambiente und die Einrichtung werden als »modern«, »attraktiv«, »angenehm« oder »gemütlich« und »romantisch« beschrieben; im »Mylord« sah Kruse »Stilmöbel«. Das Licht sei leicht gedämpft gewesen; auf den Tischen brannten Kerzen. Es sei »leichte Tanz- und Unterhaltungsmusik«, aber auch Beat gespielt worden, allerdings in verträglicher Lautstärke. Dazu sei in »gesitteter, angenehmer Art getanzt« worden. Anders als etwa beim »Gretna Green«, von wo aus Gäste »singend und grölend« weitergezogen seien, sei bei den Tanzbars kein Lärm, der Anwohner hätte stören können, nach draußen gedrungen. Die Lautstärke in den Lokalen habe Unterhaltungen erlaubt, die von den Gästen, 6
Wenn der Lärm nicht nachläßt: Diskotheken schließen um 22 Uhr, in: Neue Westfälische, 17.9.1970.
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die in Tanzpausen zu ihren Plätzen an den Tischen oder an der Bar zurückgekehrt seien, auch gepflegt worden seien. Positiv hob der Bericht hervor, dass sich der Betreiber des »Ambassador« persönlich mit den Gästen unterhielt, für den »reibungslosen Ablauf« sorgte und »Aufsicht« ausübte. Im »Trocadero«, wo ein fünfköpfiges Orchester gespielt habe und Schallplatten nur in den Pausen zum Einsatz gekommen seien, habe man »den alten Geist des Varieté-Theaters« gespürt. Zu bedauern sei jedoch, dass die Tanzbars, in denen zwischen 120 und 400 Personen Einlass fanden, deutlich schwächer besucht waren als die überfüllten »Beat-Schuppen«, die zum Teil für weniger als 100 Besucher zugelassen waren.7 Diskotheken wie das »Old Crow«, der »Western Saloon« und das »Gretna Green« wurden von den Behörden und in der Tagespresse häufig mit Normverstößen und Kriminalität in Verbindung gebracht. So teilte die Kriminalpolizei dem Ordnungsamt im Sommer 1969 auf Anfrage mit, dass in Diskotheken in erheblichem Umfang Diebstähle von Kleidungsstücken, Handtaschen und Portemonnaies zu verzeichnen seien. Nach behördlicher Ansicht war dieses Problem hausgemacht, weil die Diskothekenbetreiber durch die absichtsvolle Dunkelheit ihrer Lokale solche Straftaten geradezu provozierten.8 Regelmäßig griffen Polizeistreifen Minderjährige im Alter von 14, 15 Jahren in »Beat-Schuppen« auf. Die Presse berichtete von Vergewaltigungsfällen nach Diskobesuchen und vermisst gemeldeten jungen Frauen, die zuletzt in Diskotheken gesehen worden seien.9 Behördliche Berichte notieren die Anwesenheit von »Gammlertypen« und Personen mit noch größerem Schockpotenzial. Im »Blow Up« beobachteten zwei Ordnungsbeamte nach der Sperrstunde Vorgänge, die sie im höchsten Maße irritierten: »Wir erlebten 1. sich umarmende, 2. sich küssende (Mund zu Mund), 3. miteinander tanzende junge Männer. […] Dieser Austausch von Zärtlichkeiten unter jungen Männern geschah nicht vereinzelt oder versteckt; an ihm beteiligte sich der größte Teil der anwesenden jungen Männer […]. Das Verhalten dieser Personen hat uns angewidert, schockiert.«10
7
Bericht über den Besuch von »Discotheken« und Nachtlokalen am 21./22.11.1969, Stadtarchiv Bielefeld (Sta BI), 104,1/Ordnungsamt, Nr. 726 (unpaginiert).
8
Vermerk des Ordnungsamtes vom 9.6.1969, Sta BI, 104,1, Nr. 726.
9
Vergewaltigt, in: Neue Westfälische, 3.6.1971; Monika verschwand nach Lokalbesuch, in: Westfalen-Blatt, 8.10.1969; Bielefelderin Erika Wendt ist seit Tagen vermißt, in: ebd., 11.10.1969.
10 Bericht über den Besuch der Tanzbar »Blow Up«, Sta BI, 104,1, Nr. 792.
160 | K LAUS N ATHAUS Anwohner klagten über nächtliche Unruhe und ungeordnetes Parken; die Polizei registrierte Vandalismus und Schlägereien; Beamte wurden bei Kontrollen beleidigt.11 Mediziner warnten vor körperlichen und psychischen Schäden durch die Lautstärke in den »Beat-Schuppen«.12 Die Feuerpolizei stellte wiederholt gravierende Mängel beim Brandschutz fest. Die Behörden nahmen diesen Gefahrenherd ernst und drängten auf die Beschränkung der zulässigen Besucherzahlen bei den zumeist kleinen Diskotheken. »Beat-Schuppen«-Betreiber waren nicht selten Quereinsteiger in die Gastronomiebranche und hatten eine überaus schlechte Reputation. Das ist neben den erwähnten Missständen auch auf das Dauerthema Drogen zurückzuführen.13 Das »Studio X« beispielsweise, 1970 von einem Mindener Autoverwerter in einem vormaligen Lebensmittelgeschäft eröffnet, geriet bald in das Visier der Polizei, die dort wiederholt den Verkauf und den Konsum von Haschisch feststellte. Auch sei dort ein »Großdealer für LSD« gesichtet worden. Aus Verhören mit Händlern erfuhr die Polizei, dass das Personal der Diskotheken sie »stillschweigend gewähren« ließ.14 Ein deutlich besseres Ansehen bei Behörden und in der Öffentlichkeit genossen die Tanzbars. Betriebe wie das »Café Europa« und das »Trocadero« waren aus älteren Varietés bzw. Tanzlokalen hervorgegangen und wurden als alteingesessene Unternehmen bei der Genehmigung später Sperrstunden begünstigt.15 Den Vertrauensvorschuss verdienten sich diese Etablissements sicher auch dadurch, dass sie eine altersgemischte Klientel aus der Mittelschicht ansprachen. Später eröffnete Tanzbars lehnten sich an das ältere Tanzlokal-Format an und beschäftigten Diskjockeys nicht bloß als Plattenaufleger, sondern zugleich als Conférenciers, die das Publikum durch ein musikalisches Unterhaltungsprogramm führten. Im »Christopher of Bremen« agierte der Diskjockey zugleich als Schallplattenaufleger und Alleinunterhalter, der sang und Gitarre spielte.16 11 Vermerk des Ordnungsamtes v. 12.1.1970, Sta BI, 104, 1, Nr. 799; Bericht über eine Jugendschutzstreife am 31.5.1970, ebd.; Niederschrift über Anhörung zu Lärmbelästigungen durch Nacht- und Diskothekenbetriebe am 29.9.1970, ebd.; Schreiben der Polizei an den Betreiber des Western Saloon v. 13.11.1969, Sta BI, 104, 1, Nr. 792. 12 Satter Knall, in: Der Spiegel 41/1969, 6.10.1969, S. 221 f. 13 Rauschgift kam aus Gütersloh, in: Westfalen-Blatt, 17.10.1969; Polizei geht verstärkt gegen Haschhändler in Ostwestfalen vor. Verkaufsnetz in Diskothek aufgeflogen, in: Neue Westfälische, 30.10.1970. 14 Polizeidirektion an das Ordnungsamt am 14.10.1970, Sta BI, 104,1, Nr. 164. 15 Revisionsurteil Herfurth (Betreiber des Old Crow) vs. Stadt Bielefeld betr. Ungleichbehandlung bei Antrag auf Nachtkonzession, 14.4.1970, Sta BI, 104,1, Nr. 726. 16 Bericht über den Besuch von Discotheken, Tanzbars und Tanzgaststätten, 17./ 18.4.1970, Sta BI, 104,1, Nr. 799.
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Ein anderes Konzept der 1960er und frühen 1970er Jahre bestand darin, die Attraktivität der Diskothek durch Schauwerte zu erhöhen, indem man junge Frauen in knapper Bekleidung die Platten auflegen ließ. In Bielefeld geschah dies unter anderem im »Saloon 1900«, im »Berolina« sowie im »Ambassador«.17 Diese Praxis stand auch im Zusammenhang mit der Kostenkrise der älteren Unterhaltungslokale, die immer seltener varietéartige Nummern auf die Bühne brachten und stattdessen auf Stripteasetänze, Oben-ohne-Bedienung und Projektionen von Aktfotos setzten.18 Die Grenzen zwischen Tanzbars und Animierlokalen waren mitunter fließend. Auffällig ist, dass die Behörden, welche die »Beat-Schuppen« so vehement ablehnten, die Zurschaustellung kaum bekleideter Frauenkörper in den von der Mittelschicht, und zwar von Männern und Frauen, besuchten Bars tolerierten, solange dies im gesetzlichen Rahmen geschah. Im »Esquire«, nach behördlicher Einschätzung eine »Diskothek gehobenen Genres«, trafen zwei Beamte bei einem Kontrollbesuch im Mai 1970 wider Erwarten nicht auf eine junge Dame »oben ohne«, sondern einen jungen Mann als DJ. Dafür waren zwei junge Frauen als Serviererinnen tätig, die einen kaum das Gesäß bedeckenden Minirock und am Oberkörper lediglich eine transparente Tüllbluse trugen. Die Kontrolleure befanden, dass diese »wenn auch dürftige Bekleidung durchaus ausreichend war, die körperlichen Reize der Damen so zu verhüllen, dass sie nicht geeignet waren, besondere Aufmerksamkeit zu erregen«. Jedenfalls sei es, und das war gesetzlich entscheidend, zu keiner über die Getränkebestellung hinausgehenden Annäherung zwischen Gästen und Kellnerinnen gekommen.19
D ER D ISKJOCKEY ALS A NIMATEUR UND DIE V ERGESELLSCHAFTUNG IN T ANZBARS Tanzbars beschäftigten DJs, deren professionelles Selbstverständnis weit über das eines bloßen Plattenauflegers hinausreichte. Zum Berufsbild gehörten musikalisch fachkundige, unterhaltsame Zwischenansagen ebenso wie das weiße Hemd und die Krawatte. »Sprechgewandt, ein bißchen elegant, viel Phantasie, bestes Benehmen, sympathisch – und natürlich muß er enorme Schallplatten-
17 Schreiben des Jugendamts an das Ordnungsamt v. 20.3.67, Sta BI, 104,1, Nr. 727. 18 Ein Trend zum Striptease wurde in der Varieté-Fachpresse bereits 1960 beklagt. Vgl. Überhandnehmen der Strip-Tease Tänzerinnen, in: Der Artist, 22.6.1960, S. 7; Die Striptease-Epidemie, ebd., 8.8.1960, S. 2 f. 19 Überprüfung von Nachtlokalen, 20./21.5.70, Sta BI, 104,1, Nr. 799.
162 | K LAUS N ATHAUS kenntnisse haben«, brachte die Artikelserie Discotheken in Deutschland in der Branchenzeitschrift musik-informationen das DJ-Profil auf den Punkt. Von den »Beat-Schuppen« ist in diesem Beitrag nur insofern die Rede, als man ihretwegen die Gesamtheit der Diskotheken vor Jahren als »Radaubuden« abgestempelt und ihnen ein schnelles Ende vorausgesagt habe. Die Professionalität der Diskjockeys ebenso wie die Umsätze der gut geführten Lokale, welche die Artikel betonten, widerlegten diese Einschätzung als Vorurteil.20 Ein guter DJ verhielt sich höflich gegenüber den Gästen, behielt aber das Heft des Handelns in der Hand, indem er nicht bloß Musikwünsche hintereinander abspielte, sondern ein Programm für die Gesamtheit des Publikums gestaltete. Dazu bedurfte es ernsthafter Vorbereitung, aber auch eines Gespürs für die Stimmung und die Fähigkeit, diese zu heben. Neben dem Plattenauflegen betätigten sich Tanzbar-DJs in einem umfassenden Sinn als Unterhalter, indem sie ihre Gäste mit Sprüchen, aber auch Spielen, Rätseln oder Einlagen animierten. So demonstrierten DJs schon einmal selbst den neuesten Tanz oder moderierten Modenschauen und Misswahlen.21 Da in den Tanzbars ein breiteres Altersspektrum angesprochen werden musste, verboten sich polarisierende Rock-Klänge. Dagegen empfahlen sich aktuelle, tanzbare Hits deutscher wie englischsprachiger Provenienz. Für die Musik in Tanzpausen galten die Langspielplatten von James Last, die in den späten 1960er und den 1970er Jahren millionenfach verkauft wurden, als optimal.22 Last hatte 1965 mit Non Stop Dancing ’65 die erste Schallplatte im »Happy Sound« veröffentlicht. Für diesen Klang holte er nach Fertigstellung der Big-Band-Aufnahme Gäste in das Tonstudio, welche zum Playback sangen und Partygeräusche produzierten. Dies wurde ebenfalls aufgenommen und dann der ersten Aufnahme beigemischt.23 Solche Schallplatten simulierten akustisch die Feierstimmung, welche der DJ in der Diskothek herzustellen versuchte. Mit Musik in geringerer Lautstärke, launigen Ansagen, Tanzprogramm und Gesellschaftsspielen war die Tanzbarveranstaltung ähnlich organisiert wie ein für fremde Gäste offener Abend im Partykeller. Das Eintauchen in den Sound, das in »Beat-Schuppen« durch Lautstärke ermöglicht wurde und später zu den zentralen Konventionen des Discogenres gehören sollte, fand in den Tanzbars nicht statt. Geboten wurde stattdessen Geselligkeit, für die der DJ mehr als nur 20 Jutta von Brockhaus: »Krempeln Sie die Hosenbeine hoch, wir lassen Wasser in den Saal«. Discotheken in Deutschland – Teil I, in: musik-informationen 3/1976, S. 22. 21 Quirini: 50 Jahre Discotheken. – Ich danke Klaus Quirini für die Zusendung dieses Heftes für ehemalige »Scotch-Club«-Gäste. 22 Ders.: Der Disk-Jockey, S. 43. 23 Last: Mein Leben, S. 68.
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die Hintergrundmusik lieferte. Um die Diskogäste aus ihrer Anonymität herauszuholen, agierte der DJ als Unterhalter, der den Besucherinnen und Besuchern mit Ansagen Konversationsmaterial lieferte und sie, wenn nötig, mit Spielen zur Interaktion animierte. Die Plaudereien des DJs halfen den Gästen, Peinlichkeitsbarrieren zu überwinden, da sie sich als Gegenstand leicht anschlussfähiger Gespräche anboten. Abgesehen davon bildeten die Regeln des »guten« Geschmacks und Benehmens, die schon in den Tanzlokalen der 1950er Jahre gegolten hatten und nun etwas freier ausgelegt wurden, auch in den Tanzbars der 1960er und 1970er Jahre ein Korsett für die Kontaktaufnahme. Diese Konventionen erlaubten auch die reibungsfreie Beendigung der Interaktion, falls ein Gesprächs- oder Tanzpartner das Interesse verlor. Abbildung 1: Teens und Twens im »Big Apple«, Berlin, 1968.
Quelle. Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (03), Nr. 0139143.
Die Vergesellschaftung in einer Tanzbar unterschied sich von der in den vornehmlich von Jugendlichen frequentierten Diskotheken. Dort blieben Besucherinnen und Besucher zunächst einmal allein oder in den Grüppchen, in denen sie gekommen waren. Man setzte sich bewusst den Blicken fremder Gäste aus und suchte eventuell die zufällige Berührung auf der Tanzfläche, blieb dabei aber anonym, was in der kulturkritisch-psychologisierenden Publizistik, die mit dem »Disco-Fieber« Ende der 1970er Jahre aufblühte, häufig als »Narzissmus« inter-
164 | K LAUS N ATHAUS pretiert wurde.24 Der vermeintliche Egozentrismus war aber vor allem ein Effekt der sozialen Konstellation, die ohne DJ-Moderation und Etikette die Kontaktaufnahme zu Fremden erschwerte. Wer es nicht beim Gucken belassen wollte, musste »anquatschen« – und riskierte, »eiskalt abzublitzen«. Mit Drogen ließ sich die Hemmschwelle senken, dieses Risiko einzugehen, und die von Beobachtern kritisierte (Nach-)Lässigkeit in Auftreten und Sprache25 signalisierte »cooles« Desinteresse, das die Wucht sozialer Kollisionen minderte. Eine Vorstellung von der unterschiedlichen sozialen Konstellation in Tanzbars und Jugenddiskotheken vermitteln zwei Fotografien aus Berliner Diskotheken aus dem Jahr 1968. Das Foto aus dem »Big Apple« zeigt Tanzende, die sich den Blicken anderer Gäste aussetzen und diese zugleich intensiv beobachten. Zu beachten sind ferner die Gäste, welche an der Tanzfläche stehend das Geschehen verfolgen. Das Foto aus dem »Jockey-Club« zeigt ein ausgehfeines, aber dezent gekleidetes Paar in den »besten Jahren«, das sich mit Verve an einem modernen Tanz versucht, was von einem etwa gleichaltrigen Mann amüsiert beobachtet wird. Abbildung 2: Jack White und Gäste im »Jockey-Club«, Berlin, Juni 1968
Quelle. Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (03), Nr. 0354272. 24 Mit Angabe weiterer Titel Neißer/Mezger/Verdin: Jugend in Trance?, S. 86-90. Ähnlich bereits Pausch: Diskotheken, S. 211. 25 Mezger: Discokultur, S. 116-125.
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Der DJ – es handelt sich übrigens um den späteren Erfolgsproduzenten Jack White, von dem noch die Rede sein wird – hat das Paar zu diesem Auftritt animiert, der im weiteren Verlauf des Abends Gesprächsstoff bieten könnte, sei es für die beiden Tanzenden, sei es für den am Rande der Tanzfläche sitzenden Beobachter. Dieser ist mit seinem kommentierenden Blick bereits in den Nahbereich des Paares vorgedrungen. In einer Tanzbar kam man vergleichsweise leicht ins Gespräch, vorausgesetzt natürlich, man erhielt überhaupt Einlass in das Lokal. Da man für gesellige Stimmung unter Gästen verschiedenen Alters sorgen und sich von »Radaubuden« abheben wollte, musste die Türkontrolle der Tanzbar streng darauf achten, nur »passendes« Publikum einzulassen. Während sich drinnen die Mitte der Gesellschaft zusammenfand, blieben Personen draußen, deren Aussehen, Auftreten und Sprache augenscheinlich – und nur nach Augenschein wurde ja an der Tür entschieden – darauf hindeuteten, dass sie Konventionen überschreiten würden. Das betraf »Ausländer« ebenso wie »Andersdenkende«, von denen man Sonderwünsche erwarten musste.26
F ÖRDERER DES S CHLAGERNACHWUCHSES : D IE B EDEUTUNG VON D ISKOTHEKEN UND DJ S WESTDEUTSCHE M USIKWIRTSCHAFT
FÜR DIE
Diskjockeys, die das Ideal des höflichen und fachkundigen Platten-Animateurs verfolgten, hatten sich schon in den frühen 1960er Jahren organisiert und erarbeiteten sich Stück für Stück eine wichtige Position im Feld der deutschen Musikproduktion. Zuerst profilierten sie sich als Publikumsexperten, die der Plattenindustrie Einblicke in die Bedürfnisse moderner Musikkonsumenten versprachen. In der Märzausgabe 1962 der Fachzeitschrift Der Musikmarkt offerierte der Club 66, eine »Vereinigung von Freunden moderner Tanzmusik aller Altersgruppen«, der Schallplattenindustrie so genannte Platten-Tests, in denen Neuerscheinungen in ihrer Wirkung auf das tanzende Publikum evaluiert würden. Diese Tests sollten in der Aachener Diskothek »Scotch Club« durchgeführt werden und festhalten, welche Altersgruppen in welcher Weise auf den betreffenden Titel reagierten. Die beliebtesten Tanzschlager wurden vom Club 66 regelmäßig zu Hitlisten zusammengestellt.27
26 Quirini: Der Disk-Jockey, S. 43 u. 170. 27 Platten-Tests auf dem Tanzboden, in: Der Musikmarkt 3/1962, S. 30.
166 | K LAUS N ATHAUS Im »Scotch-Club« legte ab 1959 der damalige Journalist Klaus Quirini als DJ Heinrich auf, der in den darauffolgenden Jahren als zentrale Figur die Professionalisierung der westdeutschen DJs vorantrieb. Als feststand, dass das Konzept des Tanzlokals mit Schallplattenmusik Fuß gefasst hatte, gründete Quirini 1964 in Köln die Deutsche Disc-Jockey Organisation (DDO) unter anderem zu dem Zweck, die Plattenfirmen zur Bemusterung der DJs zu bewegen. Zum Schirmherrn gewann er Camillo Felgen, den überaus prominenten Moderator von Radio Luxemburg, der der jungen Organisation Aufmerksamkeit verschaffte und Prestige verlieh. Nach Quirinis eigener Darstellung waren bereits bei der Gründung Vertreter von Plattenfirmen anwesend gewesen, um die Zusammenarbeit mit der neuen Vereinigung aufzunehmen. So hätten Electrola, Philipston und Deutsche Vogue der DDO einen Anteil von bis zu 20 Pfennig pro Platte geboten, die mit dem Aufdruck »Empfohlen durch die ›Deutsche Disc-Jockey Organisation‹« verkauft würde.28 Quirinis Bericht enthält keine genaue Datierung dieser Offerte, die von der DDO schließlich ausgeschlagen worden sei. 1966 allerdings erschien die von der Electrola veröffentlichte Single Bring your Love home von den Soulmates mit einem Foto von Quirini und dem folgenden Werbetext auf der Plattenhülle: »Die Meinung von Deutschlands Disc-Jockey Nr. 1 Heinrich aus dem Scotch Club in Aachen: ›Besser geht’s kaum‹«.29 Ende 1965 hinterließ die DDO erste Spuren im Musikmarkt. Die Zeitschrift berichtete von einem Treffen in Köln, an dem 25 DDO-Mitglieder und ein Vertreter der Philipston teilgenommen hatten und bei dem neben Gehalts- und Ausbildungsfragen über die Plattenbemusterung diskutiert worden war.30 Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte die Zeitschrift monatlich die Club-Hit-Parade, eine von DDO-Mitgliedern ermittelte Liste mit den 20 beliebtesten Schallplattentiteln in DDO-Diskotheken, sowie Tips der deutschen Disc-Jockeys, in denen einige DJs mit einem, zwei oder drei Sternen das Hitpotenzial von jeweils einem halben Dutzend neuer Titel bewerteten.31 Ab Ende 1966 wurden auf Drängen der DDO, die seit dieser Zeit gegen Kollegen agitierte, die wegen fehlender fachlicher und persönlicher Eignung dem Ruf aller DJs schadeten, nur noch PlattenTipps von organisierten Jockeys veröffentlicht.32 Am 1. Februar 1967 erschien 28 Quirini: Der Disk-Jockey, S. 12. 29 http://www.discogs.com/Soulmates-Bring-Your-Love-Back-Home-When-Love-IsGone/release/2119960 (Zugriff am 30.10.2012). 30 Heinrich [sic] Quirini: Die »Deutsche Disc-Jockey-Organisation« verdrängt keine Kapellen, in: Der Musikmarkt 12/1965, S. 26. 31 Tips der deutschen Disc-Jockeys, in: Der Musikmarkt 2/1966, S. 24. 32 Tagung der Deutschen-Disc-Jockey-Organisation war erfolgreich, in: Der Musikmarkt 12/1966, S. 60.
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die Hit-Parade der deutschen Disk-Jockey-Organisation mit den 20 aktuellen Diskotheken-Hits im Posterformat. Nachdrücklich empfahl der Musikmarkt dem Schallplattenhandel und der Tonträgerindustrie diese Charts als Werbemittel und Instrument der Marktbeobachtung. Nach Ansicht der Redaktion erfahre der Handel aus der DDO-Hitparade »auf authentische Weise […], was der Jugendliche haben möchte, wenn er einen Schallplattenladen betritt«. Ferner könnten die Plattenfirmen durch das regelmäßige Studium dieser Hitliste »frühzeitig« und »ohne umständliche Recherchen« Erfolg versprechende Nummern identifizieren. »[G]erade bei der Produktion der Musik für Jugendliche scheint uns in vielen Fällen noch nicht die nötige Aufmerksamkeit und Sicherheit in der Auswahl der Titel und Interpreten bei so manchen deutschen Schallplattenproduktionen gegeben zu sein.«33 Der abschließende Satz des Artikels verweist auf das Problem deutscher Musikproduzenten, die gegen Mitte der 1960er Jahre feststellen mussten, dass die heimischen Produktionen gegenüber englischsprachigen Importen ins Hintertreffen gerieten. Dieser Trend warf die Frage nach den Vorlieben insbesondere junger Plattenkäuferinnen und -käufer auf, und diese Präferenzen meinte man in Diskotheken ermitteln zu können. Zwar sprachen die Tanzbars, in denen DDODJs vorwiegend auflegten, explizit auch ältere Gäste an, und umgekehrt wurden die von Teenagern frequentierten »Beat-Schuppen« nicht in die Publikumsforschung einbezogen. Doch offensichtlich erachtete die deutsche Plattenindustrie die so genannten Gammler nicht als repräsentativ für die deutsche Jugend. Stattdessen hielt sie sich an die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die zu einer Musik tanzten, welche für ihre Elterngeneration akzeptabel war. Die Positionierungsbemühungen der Diskjockeys stießen nicht überall in der Branche auf Begeisterung. Vielen der in der Livemusikpraxis sozialisierten Musikverleger und Plattenproduzenten, die sich in Repertoirefragen auf ihre musikalische Kompetenz beriefen und Marktforschung als »amerikanische Mode« verwarfen34, dürfte der neue Expertenstatus der Plattenplauderer als Anmaßung erschienen sein. Abgesehen davon kritisierten Verfechter des heimischen Schlagers, dass die Hitlisten der DDO von englischsprachigen Hits dominiert seien und deutschen Titeln zu wenige Chancen eingeräumt würden. So schrieb Dieter »Thomas« Heck, Moderator der Deutschen Schlagerparade auf der Europawelle Saar, in seiner Musikmarkt-Kolumne, dass man sich, »wenn man einmal die Tips
33 Hit-Parade der »Deutschen Disc-Jockey-Organisation«. Neue Dispositionshilfe für Handel und Industrie, in: Der Musikmarkt 1/1967, S. 1. 34 Vgl. etwa Wert und Unwert der Hit-Paraden. Ralph Maria Siegel warnt vor Überschätzung der Bestseller-Listen, in: Der Musikmarkt 5/1963, S. 6.
168 | K LAUS N ATHAUS der DDO-Mitglieder im Musikmarkt anschaut«, vorkäme, »als wenn man in Ohio oder Liverpool zu Hause wäre«.35 Hecks kritisch gemeinte Äußerung überrascht in der Rückschau, sollte sich die DDO doch fortan um die Förderung des deutschen Schlagers verdient machen. Anfang 1968 jedoch kam es zunächst einmal zu Spannungen zwischen dem Musikmarkt und der Jockey-Vereinigung, die zur Beendigung der zuvor zügig vorangetriebenen Zusammenarbeit führten. Die Zeitschrift stellte die DDOHitparade ein und begründete den Schritt damit, dass Quirini die DDO in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt habe. Eine profitorientierte Organisation wiederum könne nicht die für eine objektive Hitliste notwendige Neutralität gewährleisten.36 Das Zerwürfnis mit dem Musikmarkt stürzte die DDO aber durchaus nicht in die Krise, denn die Organisation wandte sich umgehend an die zweite wichtige Branchenzeitschrift, die musik-informationen. Diese wurden vom Braunschweiger Sigert-Verlag herausgegeben, der auch den AutomatenMarkt veröffentlichte, die Fachzeitschrift für die Musikboxen-Aufsteller. Die musik-informationen brachten bereits zwei Monate später die Hitparade der DDO, ergänzt um in loser Folge erscheinende DDO-Informationen, die den vereinigten Platten-Jockeys als Forum dienten. Mit dem Zeitschriftenwechsel intensivierte die DDO ihren Einsatz für den deutschen Schlager. Als eine effektive Initiative erwies sich die Assoziation unter Diskothekenbetreibern, die aus der DDO heraus erfolgte. Im August 1968 fand in Aachen eine Tagung von Diskoinhabern statt, auf der sich eine Gruppe von Tanzlokalbetreibern zu den Deutschen Discotheken-Unternehmern (DDU) zusammenschloss. Der Vereinigung traten sogleich 60 Betreiber aus Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden bei. DDU-Mitglieder zahlten jährlich 600 D-Mark und kamen dafür in den Genuss des Schallplatten-Musterdienstes und der Künstlervermittlung der Quirini KG. Zu den vordringlichen Zielen der neuen Vereinigung gehörte auch »die Förderung des deutschen Schlagers in der Diskothek«.37 Obwohl die DDU die Interessen der Diskothekeninhaber vertrat und die DDO die Diskjockeys repräsentierte, verhielten sich die beiden Vereinigungen durchaus nicht wie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände zueinander. Vielmehr lösten sie gemeinsam das Vermittlungsproblem, das darin bestand, Diskobetreiber und fähige Unterhaltungsfachkräfte zueinander zu führen. Dies betraf zunächst einmal die DJs, unter denen die DDO die Spreu vom Weizen trennen
35 Dieter »Thomas« Hecks unbetitelte Kolumne in: Der Musikmarkt 3/1968, S. 12. 36 Der Musikmarkt 3/1968, S. 6. 37 Discotheken-Gruppe organisiert sich, in: musik-informationen 9/1968, S. 41.
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wollte. Wenn auch der Plan einer DJ-Schule nicht verwirklicht wurde38, unternahm die DDO doch wiederholt Anstrengungen, »schwarze Schafe« aus der Branche auszuschließen. Zu diesem Zweck gab sie Anfang der 1970er Jahre einen Ausweis für assoziierte Mitglieder heraus, mit denen sich Jockeys, für die sich mindestens zwei DDO-Vollmitglieder verbürgten, als hauptberufliche DJs ausweisen konnten. In den frühen 1970ern entwarf die DDO DJ-Tests, in denen unter anderem nach dem Erfinder des Grammophons und der Zahl der in Deutschland angebauten Rebsorten (ein DJ war schließlich leitender Angestellter in einem Gastronomiebetrieb!) sowie der richtigen Reaktion auf die Einladung eines Gastes zu einem Getränk gefragt wurde.39 Die Tests sollten professionelle Standards definieren und Diskothekenbetreibern bei der Auswahl geeigneter DJs helfen. Gegenüber den Behörden waren Maßnahmen zur Formalisierung und Zertifizierung von Jockey-Qualitäten durchaus erfolgreich. So gelang es der DDO, die Einstufung der DJs als »leitende Angestellte« im Sinne der Angestelltenversicherung durchzusetzen, für die der Arbeitgeber Sozialabgaben zu entrichten hatte. Durch diese Einstufung waren auch für freiberufliche DJs Kassenbeiträge zu zahlen, der Kostenvorteil gegenüber den Festangestellten somit hinfällig. Voraussetzung für den Angestelltenstatus war, dass der Jockey sich als Conférencier betätigte. Stumme Plattenaufleger wurden als »Gewerbehilfen« klassifiziert und in der Arbeiterrentenversicherung geführt, wodurch sie finanziell schlechter gestellt wurden.40 Das Versicherungsgesetz bot mithin einen zusätzlichen Anreiz für DJs, an der Praxis des Ansagens festzuhalten. Dass DJ-Ausweise und -Tests von Arbeitgebern berücksichtigt worden sind, scheint indes zweifelhaft, zumal selbst die Jockeys die Auffassung vertraten, dass ein DJ das »gewisse Etwas« letztlich nicht lernen könne.41 Wie in anderen Branchen wurden Jobs im Diskothekengewerbe wohl vor allem über Netzwerkbeziehungen vermittelt42, und diese Beziehungen wurden über DDO und DDU geknüpft. Gelegenheiten zum Kontakt boten vor allem die »Künstlermeetings«, die DDO und DDU erstmals 1968 veranstalteten und die bis Mitte der 1970er Jahre regelmäßig stattfanden. Diese Treffen avancierten schnell zu wichtigen Terminen für die deutsche Musikbranche, weil sie nicht nur Diskothekenbetreiber und DJs zusammenführten, sondern sehr bald auch Nachwuchssängerinnen 38 Eine Disk-Jockey-Schule und ihre Aufgaben, in: musik-informationen 4/1969, S. 59. 39 Quirini: Der Disk-Jockey, S. 60, 65 u. 93. 40 Jutta von Brockhaus: Jede Discothek bewirtet monatlich eine Kleinstadt. Discotheken in Deutschland – Teil II, in: musik-informationen 4/1976, S. 14 f. 41 Ebd. 42 Granovetter: Getting a Job.
170 | K LAUS N ATHAUS und -sänger, Journalisten und Programmgestalter des Rundfunks sowie Vertreter der westdeutschen Plattenindustrie anzogen. Beim fünften »Künstlermeeting« in der Dortmunder Diskothek »Ambassador« im Juni 1970 traten insgesamt 40 Interpretinnen und Interpreten auf, unter ihnen Jürgen Marcus, Peter Maffay und Tony Marshall. Diese und weitere steigende Sterne am deutschen Schlagerhimmel präsentierten sich vor führenden deutschen Produzenten wie Günther Ilgner von der Kölner Produktionsfirma Cornet, der einen kurzen Draht zu dem Produzenten-Verleger-Team Kurt Feltz und Hans Gerig hatte; sowie Michael Kunze, freier Produzent mit guten Verbindungen zum Musikverlag von Ralph Maria Siegel; Hermann Zentgraf, Produktionschef bei der deutschen CBS, Dieter Viering von der Teldec und Norman Douglas von der deutschen Filiale der amerikanischen Plattenfirma MCA.43 Der Bericht in den musik-informationen nennt die Zahl von 200 Gästen aus der Branche, die nach einer langen Konzertnacht beim Frühschoppen den neuesten Klatsch austauschten.44 In den 1970er Jahren beanspruchten Diskotheken und DDO-Jockeys weiterhin die Rolle des »Publikumsbarometers«. Die DDO-Charts erschienen als großformatiges Poster; DDO-Jockeys gaben nach wie vor ihre Tipps ab. Die monatlichen Listen zeigen, dass die meisten DJs gleichermaßen deutsche und internationale Tanznummern und Schlager empfahlen. Im ersten Heft des Jahres 1974 gibt der Gelsenkirchener DJ Peter Gun sowohl einem Titel der US-amerikanischen Funkband The O’Jays als auch dem neuen Schlager von Jürgen Marcus Hitchancen; im Kaiserslauterer »Note« stehen Barry White und Roberto Blanco gleichermaßen hoch im Kurs; im Koblenzer »Butterfly« regieren James Brown, der »King of Soul«, und Bundespräsident Walter Scheel mit seiner Single Hoch auf dem gelben Wagen gemeinsam die Tanzfläche.45 Um ein Publikum zwischen 18 und 50 Jahren anzusprechen, zogen die DJs alle Register – mit dem Ergebnis, dass ihre Hitprognosen reichlich wahllos erscheinen. Stilistische Trends ließen sich aus ihnen kaum herauslesen. Wichtiger als Tipps und Charts wurde in den 1970ern der Livemusikbetrieb der Diskotheken, der sie zum Talentpool für die Plattenindustrie machte. Rekrutiert wurden Sängerinnen und Sänger, die auf den »Künstlermeetings« auftraten und von DDU-Diskotheken für eine Klubtournee gebucht wurden. Weil DDO und DDU die Vermittlung übernahmen, entfielen Provisionen, und da die Plattenfirmen Interesse an der Künstlerwerbung hatten, blieb die Gage vergleichsweise gering. Ein Diskothekenauftritt von Ricky Shane kostete den Veranstalter 1973/74 immerhin 5.000 D-Mark, aber Howard Carpendale war bereits für 1.900 43 MCA steht für Music Corporation of America. 44 DDO-Informationen, in: musik-informationen 6/1970, S. 29. 45 DDO / DDU-Disk-Jockeys tippen, in: musik-informationen 1/1974, S. 26.
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D-Mark, Britt Malmkjell für 1.000 D-Mark den Abend zu buchen.46 Für die Künstlerinnen und Künstler boten 20 bis 40 Diskothekenauftritte Gelegenheiten, sich vor einem relativ kleinen Publikum in einer intimen Konzertatmosphäre auszuprobieren. Manche Interpretenkarriere führte über die Station des Diskjockeys. Bekannte Beispiele sind Gunter Gabriel, der Ende der 1960er Jahre im Raum Hannover und in München auflegte, sowie Jack White, der als singender Fußballer in die Musikbranche eingestiegen war, bevor er sich als DJ in Berlin einen Namen machte, sich der DDO anschloss und als angehender Produzent von Musikverleger Peter Meisel unter die Fittiche genommen wurde.47 Diskjockeys, die nach beruflichen Möglichkeiten nach dem Ausstieg aus der anstrengenden Nachtarbeit suchten, fanden Anstellung bei Plattenfirmen. Jürgen Bergfeld etwa, 1967 stellvertretender Vorsitzender der DDO, wurde Anfang der 1970er Jahre Pressechef bei der Schallplattenfirma Liberty.48 Peter Deburba, Mitte der 1960er Jahre DJ im Leverkusener »Dudelsack« und DDO-Mitglied, ging 1966 zur Deutschen Vogue, wo er zunächst als Diskothekenbetreuer, dann als Pressechef tätig war, bevor er schließlich die Leitung der A&R-Abteilung bei der Plattenfirma Crystal übernahm.49 Firmen richteten in den 1970er Jahren eigene Abteilungen für die Diskothekenbetreuung ein, in denen ehemalige Jockeys beschäftigt wurden. Das Berliner Hansa-Label, in diesen Jahren das erfolgreichste Plattenunternehmen im deutschen Pop und Schlager, heuerte mit Michael Borge, Reinhard Meyen, Robert Winkler, Dieter Poen, Norman Ascot, Frank Farian und Jack White erfahrene DJs als Senderbetreuer, Diskothekenpromoter und Produzenten an.50 Stilbildend wurde die Diskothek schließlich auch für die Präsentation von Populärmusik im Fernsehen, der wichtigsten Werbeplattform für mehrheitsfähige Musik. Dieter »Thomas« Heck, der 1968 noch die Vernachlässigung des deutschen Schlagers durch die DDO beklagt hatte, sagte in der 1969 gestarteten ZDF-Hitparade zahlreiche Sängerinnen und Sänger an, die in Diskotheken Publikumserfahrungen gesammelt und sich auf den »Künstlermeetings« der DDO der Branche (einschließlich dem für die Hitparade verantwortlichen Redakteur 46 Quirini: Der Disk-Jockey, S. 98 f. 47 Gabriel: Wer einmal tief im Keller saß S. 91-93; White: Mein unglaubliches Leben, S. 59-70. 48 Der Musikmarkt 1/1967, S. 1; ebd. 1/1971, S. 62. 49 Der Musikmarkt 2/1966, S. 24; ebd. 2/1967, S. 35; musik-informationen 10/1968 sowie ebd. 8/1977. Die Abkürzung A&R steht für »Artist and Repertoire«; Angestellte dieser Abteilung sind maßgeblich beteiligt an Entscheidungen über die Invertragnahme von Künstlern und die Akquisition von Repertoires. 50 Eidam/Schröder: Hit-Fabrik, S. 111 f.
172 | K LAUS N ATHAUS Dieter Weber51) präsentiert hatten. Die Liste umfasst neben Maffay, Marcus und Marshall auch Adam & Eve, Christian Anders, Howard Carpendale und Peter Orloff. Diese und weitere Schlagerinterpreten dürften abgesehen vom gesteigerten TV-Lampenfieber wenig Mühe gehabt haben, in der Diskothekenkulisse auf ein altersgemischtes Publikum zuzugehen, zum Halbplayback zu singen und mit dem Dampfplauderer Heck ein kurzes Wort zu wechseln, war ihnen doch das Format aus den Diskotheken bestens bekannt. Diskotheken erreichten Mitte der 1970er Jahre den Höhepunkt ihrer Bedeutung für die heimische Musikindustrie. Ihre Funktion als »Hit-Macher« erfüllten sie dabei vor allem als Kontaktbörse für Branchenangehörige und als Probebühne für potenzielle Schlagersterne. Den Weg über die Diskothekenauftritte nahmen in diesen Jahren auch noch Frank Farian und Giorgio Moroder, die sich nach ersten Versuchen als Sänger auf das Produzieren verlegten und mit neuen Sounds die Grenzen der deutschen Schlagerwelt überschritten. Farian baute ab 1975 die Disco-Formation Boney M. auf, und Moroder kreierte den »Munich Sound«, mit dem Donna Summer zur internationalen Disco-Queen avancierte. Der weltweite Erfolg von Boney M., Summer sowie der von Michael Kunze produzierten Silver Convention lag primär in Sounds und Trackstrukturen begründet, die vom Schlagermuster abwichen und Besonderheiten des Diskothekensettings auszuloten begannen. Das von Moroder produzierte Love to Love you Baby (1975) sprengte mit seiner 17-minütigen Länge die Konventionen des Drei-Minuten-Popsongs; Silver Conventions internationaler Hit Fly Robin Fly (1975) brach das Songschema aus Strophe und Refrain auf, indem lediglich die Zeile »Fly Robin fly, up up to the sky« wiederholt wurde. Die heimische Musikbranche bejubelte internationale Hits aus deutschen Studios, interpretierte diese Erfolge jedoch unter Schlagerkriterien.52 Auf der einen Seite erklärte man etwa das Phänomen »Silver Convention« vor allem mit dem Verweis auf das Talent der drei Sängerinnen. So betonten etwa die musikinformationen, dass die Begründung des Erfolgs mit dem bloßen Hinweis auf die »Schöpfung des Komponisten, Arrangeurs und Gruppenleiters Silvester Levay« dem Gesangstrio nicht gerecht werde. »Denn noch mehr als die Charts-Position beeindruckte zahlreiche Show-Journalisten der Live-Act von Ramona, Linda, Penny und einem hervorragenden Orchester unter Silvester Levay im Münchener Sheraton-Hotel«.53 Auf der anderen Seite bewerteten die musik-informationen die Veröffentlichung von Singles, auf denen die B-Seite keinen zweiten Song, 51 Diskothekenmeeting in Aachen, in: musik-informationen 6/1975, S. 4. 52 Härte statt Hektik – Wir sind wieder Wer! Midem 1977, in: musik-informationen 2/1977, S. 2. 53 Deutsche Gruppe von Weltformat, in: musik-informationen 1/1976, S. 4.
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sondern Versionen des Stücks auf der A-Seite enthielten, als »B-Seiten-Schinderei«, welche von den Plattenfirmen wohl aus Sparsamkeitsgründen betrieben werde.54 Auf den Gedanken, dass überlange Versionen mit wenig Gesang für den Diskothekeneinsatz produziert wurden, kam der leitende Redakteur der Zeitschrift offenbar nicht. Schließlich brachten die deutschen Kinos im Frühjahr 1978 mit Saturday Night Fever ein komplettes Paket von Songs, Images und Bedeutungen nach Deutschland, welche bestimmte Diskotheken und Musik als Genre institutionalisierten. John Travolta führte Millionen Kinobesuchern vor, welche Bewegungen und Blicke, Gesten und Kleider, Sprüche und Styling zu Disco gehörten.55 20 Jahre lang hatten deutsche Diskotheken keinen eigenen Klang, Look und Interaktionsraum ausgeprägt. Dieses Vakuum wurde nun von Disco gefüllt, mit dem Ergebnis, dass die Tanzbar mit ihrem altersgemischten Publikum und ihrem DJ-Animateur als überholt erschien. Auch die Plattenindustrie mochte an diesem Format nicht mehr festhalten. Während sich in der Bilanz des Geschäftsjahres 1978 der deutsche Schlager »im Abwind der Hitparaden« befand, wandten sich die Firmen heimischer Rockmusik zu, die sie in den frühen 1980er Jahren weiter zur »Neuen Deutschen Welle« führten. Am anderen Ende des Altersspektrums entdeckte man die volkstümliche Musik als »heimlichen Bestseller«.56 Um 1980 veränderten sich ferner die Strukturen der Musikproduktion hin zu einer beschleunigten Ausdifferenzierung des Repertoireangebots in eine schnell zunehmende Zahl von Genres und Subgenres. Zu den Faktoren dieses Wandels zählen erstens Neuerungen in der Publikumsforschung durch die Etablierung von offiziellen Verkaufscharts und die systematische Ermittlung der Airplay-Hitlisten durch das Unternehmen Media Control ab 1976/1977, welche genauere Daten zur Erfassung von Trends lieferten, zweitens die Konzentration im Einzelhandel und die Gründung von Ladenketten, die dank neuer Bestellsysteme schnell auf Nischenbedarfe reagieren konnten, sowie drittens die Vervielfältigung der Verbreitungskanäle durch die 1981 eingeleitete Privatisierung des Rundfunks. Vor dem Hintergrund dieser Ausdifferenzierung der Stile wirkten Diskotheken, die ohne Reflektion auf Genrekategorien Tanzpartys für die Mehrheitsbevölkerung
54 Peter Krebs, Editorial: Kein Boom ohne B-Seiten, in: musik-informationen 12/1976, S. 1. 55 Geisthövel: Ein spätmoderner Entwicklungsroman. 56 Deutsche Schlager im Abwind der Hitparaden, in: musik-informationen 1/1978, S. 2; Rock made in Germany, in: ebd. 4/1979, S. 14-27; Die heimlichen Bestseller: Volksmusik, in: Der Musikmarkt 18/1978, S. 32.
174 | K LAUS N ATHAUS veranstalteten, geradezu vorsintflutlich. Der ansagende DJ, Anfang der 1970er Jahre noch die Regel57, machte dem stummen Plattenaufleger Platz.58
W ESTDEUTSCHE D ISKOTHEKEN UND DJ S DER 1960/70 ER J AHRE IN DER P OPGESCHICHTE : EIN F AZIT Dieser Artikel hat die Geschichte der Diskotheken und DJs in Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren unter der Frage betrachtet, wie sich Akteure der Musikwirtschaft im Zuge der Verschiebung des Musikprogramms in Tanzlokalen hin zur Plattenmusik in ihrem Feld positionierten. Er hat gezeigt, dass sich in den 1960er Jahren »Beat-Schuppen« und Tanzbars als die beiden Grundtypen der Diskothek in Deutschland herausbildeten. Die Profilierung der Diskotheken und die Professionalisierung der DJs wurden primär von Vertretern der Tanzbars vorangetrieben. Diese Entwicklungen waren zum einen durch die scharfe Abgrenzung gegen schlecht beleumundete »Beat-Schuppen«, zum anderen durch die enge und frühe Zusammenarbeit mit den deutschen Plattenfirmen gekennzeichnet. Dabei beanspruchten DJs und Diskotheken zunächst die Rolle des Seismographen für den modernen Musikgeschmack, bevor sie gegen Ende der Dekade eine Kontaktbörse für die Branche eröffneten. Als Probebühne für den Schlagernachwuchs erleichterten die zu einem Netzwerk organisierten Diskotheken und DJs einer stattlichen Zahl von Sängerinnen und Sängern den Zugang zur Plattenindustrie und nicht zuletzt zum Fernsehen, das sich als kompatibel mit dem Diskothekenumfeld erwies. Diese Entwicklung hatte Folgen für die soziale Interaktion in Tanzbar-Diskotheken, in denen sich die Mitte der Gesellschaft von »Gammlern«, »Ausländern« und Leuten, denen es am nötigen Kleingeld fehlte, abgrenzte und »moderne Tanzmusik« wie Beat und Funk einschließlich der entsprechenden Tänze unter Anleitung des DJs rezipierte. Die Art der Geselligkeit in Tanzbars unterschied sich grundlegend von den Konventionen des Disco-Genres nach ’78, zu dem eine Spezifizierung des Sounds, des Looks und der Verhaltensregeln in Diskotheken gehörte und das neue soziale Grenzlinien zog. Betrachtet man Popgeschichte als Geschichte sozialer Differenzierung jenseits von Schicht, Stand und sozialmoralischen Milieus im Medium von Populärkultur59, dann scheint die
57 Hansberger: Der Diskjockey. 58 Neißer/Mezger/Verdin: Jugend in Trance?, S. 27. 59 Nathaus: Auf der Suche.
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Tanzbar-Diskothek außerhalb dieser Geschichte zu stehen. Als geselliger Ort für die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft bildet sie jedoch eine Folie, vor der sich die popgeschichtlichen Neuerungen der späten 1970er Jahre, zu denen eine rasche Pluralisierung kultureller Stile ebenso gehört wie neue soziale Interaktionsformen und Selbstverhältnisse, deutlich abzeichnen.
L ITERATUR Brewster, Bill/Frank Broughton: Last Night a DJ Saved My Life. The History of the Disc Jockey, 2. Aufl. London: Headline 2006. Echols, Alice: Hot Stuff. Disco and the Remaking of American Culture, New York: Norton 2010. Eidam, Klaus/Rudolf Schröder: Die Hit-Fabrik. Zweiter Teil der Geschichte eines Berliner Musikverlages, Berlin: Edition Meisel 2001. Gabriel, Gunter: Wer einmal tief im Keller saß. Erinnerungen eines Rebellen, Hamburg: Edel 2009. Geisthövel, Alexa: Ein spätmoderner Entwicklungsroman: »Saturday Night Fever«/»Nur Samstag Nacht« (1977), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10 (2013) 1, http://www. zeithistorische-forschungen.de/16126041-Geisthoevel-1-2013. Granovetter, Mark: Getting a Job. A Study of Contacts and Careers, Chicago: University of Chicago Press 1995. Hansberger, Joachim: Der Diskjockey, in: Siegmund Helms (Hg.): Schlager in Deutschland. Beiträge zur Analyse der Popularmusik und des Musikmarktes, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1972, S. 277-294. Last, James: Mein Leben. Die Autobiografie, München: Heyne 2006. Lawrence, Tim: Love Saves the Day. A History of American Dance Music Culture, 1970-1979, Durham, NC: Duke University Press 2003. Mezger, Werner: Discokultur. Die jugendliche Superszene, Heidelberg: Quelle & Meyer 1980. Nathaus, Klaus: From Dance Bands to Radio and Records: The Promotion of Popular Music and the Decline of the »Schlager« Genre in West Germany, 1945-1964, in: Popular Music History 6 (2011) 3, S. 287-306. Ders.: Auf der Suche nach dem Publikum. Popgeschichte aus der »Production of Culture«-Perspektive, in: Alexa Geisthövel/Bodo Mrozek (Hg.): Popgeschichte. Bd. 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld: transcript 2014, S. 127153.
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»A great idea after the fact« Das (Er-)Finden der Maxisingle in der New Yorker Discokultur der 1970er Jahre J ENS G ERRIT P APENBURG
Nicht alle Technologien werden erfunden. Manche werden gefunden. 1974 wird in New York im Zusammenhang der erst dort und dann bald überall in der westlichen Welt boomenden Discokultur ein neues Schallplattenformat gefunden: In der Stadt, in der populäre Musikformen vom Tin-Pan-Alley-Schlager bis zum Rhythm & Blues, vom Rock’n’Roll bis zur Folk Music entscheidende Konturen erhielten, soll in einem Tonstudio eine Produktion von einem Magnetband, wie tausende Male geschehen, auf eine Schallplatte transferiert werden. Notwendig ist ein solcher Transfer, weil Musik im Studio seit den späten 1940er Jahren mit Tonband produziert, aber als Schallplatte veröffentlicht wird. Solch ein Medienwechsel ist in der analogen Ära der letzte klangverändernde Schritt der technischen Musikproduktion und vermittelt zwischen der Physik der Schallplatte und der Klangästhetik von Musik. In der Musikproduktion mit Analogtechnik macht der Mastering-Ingenieur aus Bändern Platten. Die Schallplatte, die in dem erwähnten New Yorker Studio geschnitten wird, soll pro Seite nur ein einziges Musikstück enthalten. Solche »Singles«, also kleine Schallplatten, die meist ein großes Loch in ihrer Mitte haben, sind dem Mastering-Ingenieur jedoch ausgegangen. Vorhanden sind nur noch Schallplatten-Rohlinge mit einem größeren Durchmesser. Auf einen solchen wird dann für den Schnitt zurückgegriffen. Da auf der größeren Schallplatte gewöhnlich mehr Musikstücke Platz finden, sieht das Ergebnis kurios aus: Die Platte ist beinahe leer, nur am äußersten Rand hat Klang seine Spur hinterlassen. Da für das analoge Medium Schallplatte gilt, je größer die Auslenkung der Rillen ist bzw. je mehr Platz einzelne Rillen zur Verfügung haben, desto lauter kann die Platte geschnitten werden, zieht der
180 | J ENS G ERRIT P APENBURG Mastering-Ingenieur die Lautstärke hoch und sorgt so dafür, dass der Platz, den die Schallplatte bietet, von weit ausgelenkten Rillen ausgenutzt werden kann. Die klangliche Intensität des Ergebnisses begeistert und zwei Jahre später wird es üblich, dass populäre Musik nicht nur als Single und LP, sondern auch als Maxisingle veröffentlicht wird. Diese ist so groß wie eine Langspielschallplatte, dreht aber mit der höheren Geschwindigkeit der kleinen Single.1 Maxisingles ermöglichen nicht nur die Veröffentlichung von längeren Musikstücken als Singles, sondern auch einen lauten Plattenschnitt mit weit ausgelenkten Rillen. Dieser kommt vor allem den Bassfrequenzen zugute, die auf dem Vinyl viel Platz brauchen. Je lauter eine Schallplatte geschnitten wird, desto mehr entfaltet sie durch klangliche Verzerrungen ein Eigenleben, das ästhetisch exploriert werden kann. Zudem erlaubt die relativ hohe Abspielgeschwindigkeit der Maxisingle eine differenzierte Auflösung der hohen Frequenzen. Was sagt uns diese »Entdeckung« der Maxisingle über eine Geschichtsschreibung zur populären Musik? Die Entwicklung populärer Musikformen ist an Tonträger gebunden.2 Manchmal ist jedoch auch die Entwicklung von Tonträgern an populäre Musik gebunden. So entsteht ein Zusammenhang aus technologischer Entwicklung, auditiver Praxis und musikindustriellen Geschäftsmodellen. Dieser Zusammenhang ist – so die These dieses Beitrags – entscheidend durch Zufälle und Diskontinuitäten geprägt. Damit plädiere ich für eine Popgeschichtsschreibung, die Popmusik weder ausschließlich über historische Erzählweisen begreift, die an Kategorien wie »Werk«, »Stil« oder »Musiker« orientiert sind, noch als den bloßen Effekt eines technologischen Apriori deutet. Die Subjekte einer Popgeschichtsschreibung, die an Brüchen, Zufällen und Diskontinuitäten ausgerichtet ist, erfinden nichts, sondern finden allenfalls etwas. Die wechselseitige diskontinuierliche Strukturierung von Popmusik und medientechnologischen Entwicklungen lässt sich in Bezug auf das eingangs dargestellte Beispiel der Maxisingle nachzeichnen. Alle technologischen Komponenten, die die Maxisingle ausmachen, gibt es bereits seit den späten 1940er Jahren, als die US-amerikanischen Unterhaltungskonzerne CBS Columbia und RCA 1
Zu dieser Geschichte der Maxisingle vgl. Brewster/Broughton: Record Players, S. 139 f. und Discoguy: Tom Moulton Interview, www.disco-disco.com (Zugriff 31.1.2013). Maxisingles werden seit 1976 unter zahlreichen Namen vertrieben – so etwa auch als »Dance-«, »Giant-« oder »Super-Sound-Single«. Wenige Aufsätze und Buchkapitel liegen vor, in denen die Maxisingle in der Disco- und Klubkultur situiert wird (vgl. Straw: 12-inch; Fikentscher: 12-inch; Rietveld: 12-inch und Osborne: Vinyl, S. 143-159). Zudem finden sich Artikel zur Maxisingle in einschlägigen Lexika (Wonneberg: Vinyl, S. 104; Wicke/Ziegenrücker/Ziegenrücker: Handbuch, S. 667 f.).
2
Vgl. etwa Wicke: Tonträger.
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Victor neue Schallplattenformate – LP und Single – auf den Markt brachten.3 Jedoch hat bis Mitte der 1970er Jahre niemand einen Sinn darin gesehen, ausgewählte Eigenschaften von LP und Single zu kombinieren. In diesem Text rekonstruiere ich zwei zentrale Bedingungen, die dazu führen, dass in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in der New Yorker Discokultur die Maxisingle gefunden werden kann. Ich werde zeigen, wie unter diesen beiden Bedingungen ein eher argloser Akteur aus der Musik- und Medienindustrie – mit dem Namen Tom Moulton – 1974 in einem Tonstudio – dem New Yorker Media Sound Studio – bei einem Schallplattentestschnitt – durchgeführt durch den Mastering-Ingenieur José Rodriguez – zufällig über eine Vorform der Maxisingle stolpern kann. Damit sind die Eigennamen der eingangs erzählten Geschichte ergänzt. Von an Akteuren orientierten Geschichtsschreibungen zur Discokultur wird Moulton ex post zum »Erfinder« der Maxisingle verklärt. Moulton selbst schätzt den Umstand nüchterner ein: Er betrachtet rückblickend die Maxisingle als »A great idea AFTER the fact«.4 Damit macht er – vermutlich ohne es zu wissen – an »genialen Ideen« und »Intentionen« orientierten Narrativen einen Strich durch ihre kontinuierliche Zeitrechnung.
N EUE V ERÖFFENTLICHUNGSFORMEN VON D ISCOTAUGLICHKEIT
UND
P RODUKTION
Im November 1974 meldet das US-amerikanische Musikbranchenblatt Billboard in einer Titelstory die Transformation von Discos zu »record ›breakout‹ points«, also zu Orten, an denen Schallplatten zu »Hits« werden können.5 Dies gilt sogar für Schallplatten, die nicht im Radio gespielt werden: Bereits Anfang des Jahres ist der Erfolg der Single Love’s Theme des Love Unlimited Orchestra von New Yorker Discos ausgegangen. Zudem können in Discos auch eher obskure Import-Schallplatten ihren Einstieg in den US-amerikanischen Markt finden. So spielt der Gründer der legendären New Yorker Proto-Disco »Loft«, David Mancuso, ein von RCA Victor in Spanien veröffentlichtes Album – Barrabas der gleichnamigen Band – ebenso auf seinen einflussreichen Partys wie die zuerst in Frankreich veröffentlichte Schallplatte Soul Makossa des kamerunischen Saxo-
3
Zur Entwicklungsgeschichte von LP und Single vgl. Magoun: Origins.
4
Moulton nach Discoguy: Tom Moulton, Hervorhebung im Original.
5
Label Mix Records for Club Scene, in: Billboard, 2. November 1974, S. 1, 10, hier S. 1, vgl. auch: Discotheques Break Single, in: ebd., 6. Oktober 1973, S. 3; Disco Play Starts a Hit, in: ebd., 26. Oktober 1974, S. 36.
182 | J ENS G ERRIT P APENBURG phonisten Manu Dibango. Auf den Erfolg von letzterer reagiert das Label Atlantic Records, indem es die Platte lizenziert und 1973 äußerst erfolgreich in den USA veröffentlicht.6 Solche Erfolgsgeschichten seien ein Indiz für – so der Musikjournalist Peter Shapiro rückblickend – die Etablierung von Discos als Promotionskanäle; Mancuso habe bewiesen, dass Discos Schallplatten verkaufen können.7 Auch der Medienwissenschaftler Will Straw hebt hervor, dass in Discos seit 1974 eine »initial audience« für Veröffentlichungen geschaffen werde, die dann wiederum den Radioeinsatz der entsprechenden Veröffentlichung bedingen könne.8 In der Billboard bekommt Disco schließlich einen festen Platz: Im Oktober 1974 initiiert die Zeitschrift die wöchentliche Kolumne Disco Action. In dieser soll der Proto-Remixer, spätere Produzent und Finder der Maxisingle Tom Moulton die Musikbranche darüber informieren, welche Musik in den boomenden Discos gespielt wird. Die Etablierung der Disco als Ort, an dem »Hits« entstehen können, führt dazu, dass US-amerikanische Labels 1973/74 beginnen, Schallplatten zu veröffentlichen, die einen expliziten Anspruch auf sonische Discotauglichkeit erheben. Diese Veröffentlichungen laufen unter Bezeichnungen wie »Discomix« oder »Discoversion«. Wenn eine Produktion primär in den großen und komplexen Lautsprecheranlagen der Discos funktionieren soll, dann ist der Klang dieser Produktion spezifisch zu gestalten. Im Anspruch auf sonische Discotauglichkeit wird auch die musikalische Form variiert: Der durch die Sektionalität von Strophe, Chorus und Bridge geprägte kurze und kompakte Drei-Minuten-Popsong mit seiner klaren Unterteilung von Lead-Stimme und Begleitung wird bei Discoversionen auf studiotechnischer Basis durch so genannte Breaks und lange fließende, den Grundrhythmus wirkungsvoll inszenierende Instrumentalpassagen moduliert. In Breaks wird die gesamte Instrumentierung – meist schlagartig – auf ein oder auf wenige Instrumente heruntergebrochen. Von dort ausgehend können dann in einem längeren Bogen graduell die übrigen Instrumente wieder hinzugefügt werden, um durch Rückkehr zur vollen Klangtextur »a sense of excitement for the listener« zu produzieren.9 Mit Disco verschiebt sich der Fokus »vom einzelnen, virtuos produzierten Klangereignis, das in eine Melodie oder ein Thema mündet, auf das Klanggewebe in seinen unendlichen Differenzierungen«.10
6
Vgl. Lawrence: Love, S. 114-116 und 124; Shapiro: Turn the Beat, S. 35, 292 und 316 sowie Aletti: Disco Files, S. 5-9.
7
Vgl. Shapiro: Turn the Beat, S. 36.
8
Straw: 12-inch, S. 166, vgl. auch Straw: Popular Music.
9
Sedwell/Bottom: Break, S. 562.
10 Klotz: »Love to Love you Music«, S. 85.
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Eine konkrete Dekonstruktion des kurzen und kompakten Popsongs findet sich etwa auf der Single Dream World (Scepter, USA 1974) des Soulsängers Don Downing. Auf der A-Seite befindet sich ein »DISCO MIX«, auf der B-Seite eine Instrumentalversion des Titels. Von dieser Platte sollen 10.000 Einheiten ohne Radiounterstützung verkauft worden sein.11 Dream World ist ein Beispiel für eine in Bezug auf die boomende New Yorker Discokultur einsetzende Veröffentlichungspraktik, in der Singles nicht mehr zwei unterschiedliche Songs enthalten, sondern zwei Versionen einer Produktion. Der Discomix von Dream World stammt von Tom Moulton. Moultons Version ist mit einer bereits im Jahr zuvor veröffentlichten Version des Songs (Roadshow, USA 1973) so gut wie identisch, verlängert diese aber um einen knapp zwei Minuten dauernden Instrumentalteil, in dem das Arrangement nicht auf eine Solostimme zugeschnitten ist, sondern diese Stimme unbesetzt bleibt. Dieser auf Basis des Studiotonbands eingefügte Teil besteht aus den instrumentalen Begleitspuren, die Tänzern eine klangliche Bühne bieten, und streckt das Stück auf über vier Minuten. In diversen DiscoGeschichten läuft Moulton aufgrund solcher Mischtechniken deshalb hypertroph als Erfinder des Disco-Breaks.12 Die Maxisingle markiert in Bezug auf die Veröffentlichung von Musik auf Tonträger keineswegs einen Bruch. Bevor Moulton die Maxisingle findet und sich diese ab 1976 als ein Schallplattenformat für populäre Musik behauptet, veröffentlichen Schallplattenfirmen Produktionen, die auf den Discozusammenhang abzielen, als kleine 7-inch-Singleschallplatte oder auch als LP. Atlantic Records veröffentlicht etwa für Werbezwecke eine so genannte »Disco Disc«, eine 7-inch-Single, die mit nur 33 1/3 Umdrehungen dreht und so längere Mixe speichern kann. In den frühen 1970er Jahren werden auch vermehrt 7-inch-Singles veröffentlicht, die nicht mehr zwei unterschiedliche Songs enthalten, sondern eine einzige längere Produktion, die jedoch über A- und B-Seite in zwei Teile zerlegt ist.13 Mel Cheren, der spätere Mitgründer des für die Entwicklung von Disco maßgeblichen Labels West End Records, beginnt 1973 in Hinblick auf DJPraktiken auf der B-Seite von 7-inch-Singles Instrumentalversionen der A-Seite zu veröffentlichen. Die Single We’re On the Right Track von Ultra High Frequency erscheint mit einer Instrumentalversion des Songs auf der B-Seite. Die Instrumentalversion beansprucht wenig Eigenständigkeit: A- und B-Seite der Single sind, abgesehen von dem Umstand, dass auf der einen zusätzlich die Vokalspuren zu hören sind und auf der anderen nicht, identisch. Diese Veröffentli11 Vgl. Label Mix Records, S. 10 (wie Anm. 5). 12 Vgl. etwa Lawrence: Love, S. 146. 13 Etwa Eddie Kendricks Girl you Need a Change of Mind (Motown, USA 1973). Zur Geschichte dieser Veröffentlichungsform vgl. Osborne: Vinyl, S. 153.
184 | J ENS G ERRIT P APENBURG chungsform ist nicht nur extrem kostengünstig, sondern funktioniert auch als DJTool.14 Auch LP-Veröffentlichungen zielen auf den Discozusammenhang: Gloria Gaynors erste LP Never Can Say Goodbye enthält auf der A-Seite nicht mehr diverse Stücke, die klar und deutlich voneinander unterscheidbar sind, sondern einen seitenfüllenden Mix. Dieser wiederum besteht aus drei Stücken, die allerdings nahtlos ineinander übergehen. Die treibende Kraft hinter diesem Mix ist weder irgendein DJ noch Gloria Gaynor selbst, sondern wiederum Tom Moulton. Auf der A-Seite dieser Mix-LP ist dann auch groß zu lesen: A Tom Moulton Mix. Diese Bezeichnung etabliert Moulton als Markenzeichen. Die LP Love to Love You Baby von Donna Summer enthält auf der A-Seite sogar ausschließlich das über 16 Minuten dauernde Titelstück.15 Die hier zusammengestellten neuen Veröffentlichungsformen bringen ihren Anspruch auf Discotauglichkeit auch durch Bezug zu DJ-Praktiken, die sich in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in der New York Discokultur etablieren, zum Ausdruck. Ein Neuabmischen von Schallplatten durch den Disco-DJ geschieht meist mit dem Ziel, die Tanzbarkeit einer Veröffentlichung zu erhöhen. In diesen Neuabmischungen verliert die kurze und kompakte Popsongform mehr und mehr ihre Konturen. Auf das klingende Ergebnis dieser Praktiken nehmen dann sowohl die als Single als auch die als LP sowie später dann die als Maxisingle veröffentlichten Discoversionen Bezug. Solche Discoversionen dienen als Maxisingle anfangs als Grundlage für einen DJ-Mix: Im Juni 1975 wird in New York die erste Maxisingle als Werbepressung für DJs über so genannte »record pools« vertrieben – Distributionsnetzwerke bzw. Zusammenschlüsse von DJs, die von Plattenfirmen gezielt zu Promotionszwecken beliefert werden.16 Der DJ Walter Gibbons, der 1972 in der Disco »Galaxy 21« in Manhattan auflegt, entwickelt eine Vorliebe für Schlagzeugbreaks und beginnt perkussionsbetonte Passagen aus Songs und Instrumentalstücken mit Schallplattenspielern zu isolieren und erstellt auf dieser technischen Basis Loops. Dafür greift er auf zwei Kopien einer Veröffentlichung zurück. Bereits New Yorker DJs wie Francis Grasso und David Mancuso hatten eine Vorliebe für rhythmusbetonte Platten. Grasso und Mancuso beschränken ihre DJ-Fähigkeiten aber meist auf eine elaborierte Auswahl der Platten und auf die Minimierung der Pause zwischen zwei
14 Vgl. Cheren: Dancing, S. 118-121. 15 Das erste Kompilationsalbum, das als Mix erscheint, läuft unter dem bezeichnenden Titel Disco Par-r-r-ty. Non Stop Music (Spring, USA 1974). 16 Dies ist (Call Me Your) Anything Man von Bobby Moore (Scepter, USA 1975) (vgl. Aletti: Disco Files, S. 97).
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Titeln.17 Erst DJs wie Walter Gibbons oder auch Nicky Siano perfektionieren in der Anfang 1973 eröffneten Disco »Gallery« Techniken zur Isolation und Wiederholung von Rhythmuspassagen und das Ineinandermischen unterschiedlicher Schallplatten.18 Siano greift dabei auch systematisch in den Klang der Schallplatten ein und mischt diese damit neu ab. Er kann etwa einzelne Frequenzbereiche, die mit eigenen Verstärkern und Lautsprechern gekoppelt sind, an- und abschalten: »›I would turn everything off except the tweeter arrays and have them dancing to tss, tss, tss, tss, tss, tss, tss, tss for a while‹, says Siano. ›Then I would turn on the bass, and then I’d turn on the main speakers. When I did that the room would just explode.‹«19 Von solchen in Discos durch DJs neu abgemischten Veröffentlichungen werden inoffizielle Testschnitte – auch acetates oder dubplates genannt – angefertigt. Zudem werden ganze DJ-Mixe auf Tonband aufgenommen: So meldet wiederum die Billboard im Oktober 1974, dass DJs ihre Sets auf Tonband aufnehmen und diese Tonbänder dann ohne Beteiligung irgendwelcher Rechteinhaber verkaufen. Käufer sind neben Discos auch Geschäfte und solche Lokalitäten, die – ein Jahr vor dem Erscheinen von Brian Enos erster AmbientProduktion Discreet Music – auf der Suche nach »hip background music« bzw. nach einer »cool alternative to Muzak« sind.20 Jedoch stellen nicht nur DJs zu Beginn der 1970er Jahre Klangströme aus »hip background music« her. Tom Moulton hat bereits seit 1971 mehrere Tonbänder für das »Sandpiper« auf Fire Island, einer vor Long Island gelegene Barriereinsel, deren libertäre Weiler ein bevorzugter Ort der Upperclass von New Yorks »gay community« sind, produziert. Diese sollen beim dort tanzenden Publikum ebenso heftige wie begeisterte Reaktionen hervorgerufen haben.21 Moultons Tonbänder sind DJ-Sets – die er sicherlich aus den New Yorker Discos und Klubs kennt – nachempfunden und in erster Linie darum bemüht, die Pausen zwischen den einzelnen Stücken zu minimieren.22 Nach dem Erfolg seiner Mixtapes auf Fire Island nimmt Moulton Kontakt mit diversen Tonstudios und dem Label Scepter Records auf. Er beginnt, geplante Veröffentlichungen in Hinblick auf den Discokontext nochmals neu abzumischen und damit das »schlichte Prinzip der Verlängerung in den Song selbst [zu] verleg[en]«, um so einer »Domi-
17 Vgl. Lawrence: Love, S. 35 f. 18 Zu Siano vgl. ebd., S. 99-112 und auch Shapiro: Turn the Beat, S. 37-39. 19 Siano nach Lawrence: Love, S. 107 f. Herv. i. Orig. 20 Is Horowitz: ›Illegit‹ Disco Tapes Peddled by Jockeys, in: Billboard, 12. Oktober 1974, S. 1, 12, hier S. 12. 21 Vgl. Brewster/Broughton: Last Night, S. 206. 22 Vgl. Moulton nach Brewster/Broughton: Record Players, S. 137.
186 | J ENS G ERRIT P APENBURG nanz des ›non-stop dancing‹« gerecht zu werden.23 Mit seinen verlängerten Abmischungen stößt Moulton an zwei Grenzen: Zum einen lehnen Musiker die Mixe, die Moulton von »ihren« Stücken anfertigt, immer wieder ab24 – ein Umstand, der jedoch nicht die Veröffentlichung verhindern kann. Zum anderen stößt die Länge von Moultons Mixen an die Grenze der kleinen 7-inch-Single. So dehnt Moulton 1973 die Spielzeit des Songs Do It (’Til You’re Satisfied) von B. T. Express von ursprünglich etwa drei auf üppige 5:52 Minuten aus. Damit der Mix noch auf eine Seite einer 7-inch-Single passt, muss die Schallplatte sehr leise geschnitten werden. Außerdem ist ein radikales Wegfiltern der Bässe notwendig. Vor allem gegen Ende des Titels fehlen die Bässe und die Höhen verzerren stark. In Bezug auf diese Single meldet die Billboard im Oktober 1974: »Disco Play Starts a Hit«.25 Moulton kann seine Billboard-Disco-Kolumne starten und das Branchenblatt mit der Auswertung von Disco beginnen. Durch die Veröffentlichung von spezifischen Versionen und Neuabmischungen für den Discozusammenhang gelangt das Schallplattenformat 7-inch-Single an seine Grenzen. Zudem haftet seit dem Prominentwerden von »Discoversionen« Tonträgerveröffentlichungen der Charakter des Unfertigen an: »Das Aufkommen der Mehrspur-Aufnahmetechnik und das darauf aufbauende Remixing, die Neuabmischung vorhandener Stücke, hatte die Vorstellung zur Folge, dass eine Platte nie fertig war [...]. Werden von jetzt an alle Platten regelmäßig neu abgemischt und wiederaufgelegt werden?«26 Durch die Etablierung von RemixPraktiken entstehen Serien von Versionen ohne »Original«. Eine Produktion kommt in unterschiedlichen Versionen auf unterschiedlichen Tonträgerformaten auf den Markt. Von David Toop kann Moulton deshalb rückblickend als großer Vermarkter und Rationalisierer der Discokultur dargestellt werden.27 Moulton und andere Produzenten von Discomixen tragen durch die Übernahme einer DJ-Praxis – einer spezifischen Form des Mixing – ins Tonstudio dazu bei, dass in der populären Musik eine musikalische Praktik etabliert wird, die Instrumentalpassagen von Songs auf studiotechnischer Basis ausdehnt, damit diese effektiver als Tanzvorlage wirken können. In Bezug auf diese Praktik und der mit ihr zusammenhängenden musikalischen Form kann die Maxisingle gefunden werden.
23 Großmann: Reproduktionsmusik, S. 120 f. 24 Zur Reaktion von Gloria Gaynor und B. T. Express auf Moultons Mixe vgl. Brewster/Broughton: Record Players, S. 138 f. 25 Disco Play, S. 36 (wie Anm. 5). 26 Toop: Lost in Music, S. 166, Herv. i. Orig. 27 Ebd.
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Dass erst nach der Markteinführung der Maxisingle 1976 Versionen von Produktionen von Songs veröffentlicht werden, die weit radikaler als Moultons Mixe die kurze und kompakte Popsongform variieren und verlassen, ist dem Umstand geschuldet, dass DJs schließlich selbst als Remixer in Studios tätig werden. Diese DJ-Remixe lösen den kurzen und kompakten Popsong vollends auf und legen somit die Grundlage für die »Tracks« der House- und Techno-Kultur. Die erste regulär veröffentlichte Maxisingle – Double Exposures Ten Per Cent mit »Disco Blending by Walter Gibbons« – integriert zwar auch noch eine drei Minuten beanspruchende Songform in den Remix, lässt diese aber in einem über neun Minuten dauernden Mix förmlich untergehen. Dieser erste von Gibbons veröffentlichte Remix ist ein »cut-and-paste job«.28 Er setzt sich aus einem Stereotonband zusammen und wird von Gibbons in nur drei Stunden im Auftrag des Labels Salsoul Records angefertigt.29 Bei seinen weiteren Remixen – so etwa Hit and Run von Loleatta Holloway – hat der DJ dann aber Zugriff auf das Mehrspur-Mastertonband.30 Der »Erfinder« von Discobreak und Maxisingle, Tom Moulton, versteht die Remixe von Walter Gibbons bereits nicht mehr. Moulton orientiert seine Mixe klanglich an Live-Aufführungen, wohingegen er Gibbons’ Mixe als drogenbeeinflusste künstliche Klangwelten ablehnt.31 Bei Gibbons’ Mixen stehen Rhythmus und Sound im Mittelpunkt. Die Maxisingle bewirtschaftet und kultiviert im ausgedehnten Zusammenspiel von fließenden Wiederholungen, graduellen Modulationen, abrupten Breaks und sonischen Effekten die in Discos etablierten Hörpraktiken.
D ISCOKÖRPER
UND
K ULTIVIERUNG
DES
B ASSBEREICHS
Eine zweite Bedingung für das Finden der Maxisingle ist die Organisation von Musikhören als explizit körperliche, durch Technologie geprägte Praktik: Im Zusammenspiel mit einem spezifisch gestalteten Sound entsteht eine immersive, taktile und körperliche Klangerfahrung. Diese hat ihren Ort in dem neuen Typus von Diskothek, der Ende der 1960er Jahre in New York entsteht: »Die Diskothek wurde in dieser Zeit vor allem in den USA zur Plattform für die aus der Rockkultur ausgegrenzten Randgruppen, insbesondere für die verschiedenen Migranten-
28 Shapiro: Turn the Beat, S. 46. 29 Vgl. Lawrence: Mixed with Love und Lawrence: Jungle Music. 30 Vgl. Lawrence: Love, S. 263. 31 Vgl. ebd., S. 268.
188 | J ENS G ERRIT P APENBURG kulturen sowie die afroamerikanische Schwulen-Szene. In den afro-amerikanischen Schwulen-Diskotheken kam auch die Praxis auf, mit Non-Stop-Musik von der Schallplatte das Tanzen und damit die Körpererfahrung zum eigentlichen Inhalt der Veranstaltung zu machen.«32
Eine immersive, taktile und körperliche Klangerfahrung ist in der New Yorker Discokultur bereits vor der Maxisingle zentral. Die Maxisingle bedient und intensiviert diese Erfahrung sowie die mit ihr zusammenhängenden Hörpraktiken. Das neue Tonträgerformat trägt durch seinen lauten, bass- sowie höhenbetonten Klang zur weiteren Explorierung und Gestaltung dieser Erfahrung bei. In New Yorker Discos wird Klang jedoch bereits seit Anfang der 1970er Jahre so gestaltet, dass Körper in ihn förmlich physisch eintauchen können; zudem etablieren sich in Discos bereits zu Beginn der Dekade Tanzformen, in denen alleine als Teil einer Menge getanzt wird, einzelne Körper sind in eine Menge tanzender Körper eingetaucht. In der Discokultur erhebt der Körper wenig Anspruch auf »Natürlichkeit«, wie sie etwa durch die »free-form abandon of hippy dancing in the late 1960s« eingefordert wurde.33 Der Discokörper präsentiert sich als etwas explizit Gestaltbares bzw. Gestaltetes. Körperlichkeit wird in der Discokultur zu einer jedermann zugänglichen »Ressource der Lustgewinnung und Selbstverwirklichung«, die durch das »Spiel mit geschlechtsspezifischen Identitäten« erschlossen wird.34 An der Gestaltung dieses spezifischen Discokörpers ist auch Klang beteiligt bzw. ist diese Gestaltung durch die »systematische Erschließung der somatischen Wirkungen von Klang und Rhythmus« vermittelt.35 Solche systematischen Erschließungen implizieren Klangtechnologien wie Lautsprechsysteme und – seit Mitte der 1970er Jahre – eben auch die Maxisingle. Einen der ersten Versuche, die Körperlichkeit von Disco auch in Bezug auf Klanggeschehen zu differenzieren, unternimmt der englische Kulturwissenschaftler Richard Dyer Ende der 1970er Jahre. Dabei korreliert Dyer die Organisation des Discokörpers weniger mit konkreten Klangtechnologien wie etwa der Maxisingle, sondern primär mit einer für Disco spezifischen musikalischen Form. Diese sei durch eine »open-ended succession of repetitions« geprägt.36 Durch eine solche Prägung sei Disco von Musikformen zu unterscheiden, die auf 32 Wicke/Ziegenrücker/Ziegenrücker: Handbuch, S. 199, vgl. auch Crimp: DISSS-CO. Die New Yorker Discoszene der 1970er Jahre hat der englische Journalist und Kulturwissenschaftler Tim Lawrence eindrücklich und detailreich beschrieben (ders.: Love). 33 Straw: Dance Music, S. 160. 34 Wicke: Soundtechnologien, S. 57. 35 Ebd. 36 Dyer: Defense, S. 22.
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eine Auflösung oder einen einzigen Höhepunkt abzielen. Die discotypischen offenen Wiederholungsfolgen sind – so kann hier Dyer ergänzt werden – ein zentrales Merkmal der Discomixe und Discoversionen, die Plattenfirmen seit der ersten Hälfte der 1970er Jahre veröffentlichen. Dyers unabgeschlossene Wiederholungsfolge entspricht also den oben beschriebenen Dekonstruktionen des kurzen und kompakten Popsongs durch DJs und Remix-Pioniere, die zur Vorlage der auf Maxisingle veröffentlichten Remixe werden. Den Discokörper bringt Dyer auf den Begriff »›whole body‹ eroticism«.37 Dieser Begriff wird suggestiv konturiert durch ein bestimmtes Gesten- und Bewegungsrepertoire – »the expressive, sinuous movement of disco dancing«38 – sowie durch den Hinweis auf eine discospezifische Kultur des Begehrens – so sei Ganzkörpererotizismus von phallischem Erotizismus der Rockmusik abzugrenzen. Diese beiden Konturierungen findet Dyer in der musikalischen Form von Disco wieder. Mehr als eine erste Skizze eines Discokörpers, die zwischen polemischem Klartext und suggestivem Bonmot hin und her springt, ist bei Dyer jedoch nicht zu finden. Dyers Ganzkörpererotizismus bzw. eine dezentrale und wenig hierarchisierte Organisation des Discokörpers kann im empirischen Bezug auf die visuelle und auditive Gestaltung von konkreten Discos weiter ausdifferenziert werden. So ist der Discokörper nicht ausschließlich ein hörender, sondern er verbindet Hören mit anderen Sinnen. Diesen Verbindungen entsprechen Discos als »empires of the senses«.39 Die Gestaltung von Discos ist im New York der 1970er Jahre an den »mixed-media«-Umgebungen des Psychedelic Rock ebenso wie an den auf Oberflächenglamour gebürsteten Interieurs der Unterhaltungstempel in Las Vegas orientiert.40 Dyers Discokörper findet seine Grenzen nicht nur in einer auf einen explosiven Höhepunkt zusteuernden Rockmusik, sondern auch in Disco selbst. Der Musikwissenschaftler Robert Fink merkt an, dass die musikalischen Formen von Disco keineswegs – wie Dyer suggestiv vorschlägt – in einer sich wiederholenden, anti-teleologischen und anti-narrativen Form aufgingen, der ein frei flottierendes Begehren ohne Telos und körperliches Zentrum entspreche. Vielmehr konstatiert Fink auch mit Bezug auf die von Tom Moulton gemischten Veröffentlichungen Do It (’Til You’re Satisfied) von B. T. Express und More, More, More von Andrea True Connection: »[T]he build-up and breakdown of the basic
37 Ebd., S. 21. 38 Ebd., S. 22. 39 Gilbert/Pearson: Discographies, S. 132. 40 Vgl. ebd., S. 136 f.
190 | J ENS G ERRIT P APENBURG groove is the narrative of electronic dance music«.41 Disco umgeht demnach keine Höhepunkte. Vielmehr serialisiert Disco diese. Die Kultur des Begehrens, die Disco hervorbringe, sei – so Fink – durch eine exzessive und »polymorpheperverse teleology« geprägt.42 Diese Teleologie sprenge eine Zeitskala der »quotidian bodily rhythms« und negiert damit – so kann hier ergänzt werden – jeglichen Anspruch auf »Natürlichkeit«.43 Zudem erhält der Discokörper seine Konturierungen und Dynamiken maßgeblich durch Hörpraktiken, in die Technologien zur Kultivierung des Bassbereichs eingebunden sind. Solche Technologien werden in New York eigens für Discos gestaltet: Lautsprecheranlagen bzw. Soundsysteme, die die systematische Erschließung der körperlichen Wirkung von Klang provozieren. Zentrale Akteure der New Yorker Discokultur der frühen 1970er Jahre wie etwa der Loft-Gründer David Mancuso sind bekennende Hi-Fi-Fans. Hi-Fi ist in Discos dieser Zeit jedoch weniger an klanglichen Paradigmen wie »Treue« zu einer Klangquelle oder klanglicher »Balance« orientiert. Vielmehr impliziert HiFi hier ein exzessives Potenzial, welches etwa durch Verstärkung der Bass- und Subbassfrequenzen mit einer körperlichen Klangwirkung korreliert. Die gezielte Gestaltung des (Sub-)Bassbereichs setzt in der Discokultur mit dem Bau entsprechender Lautsprecheranlagen bereits vor der Maxisingle ein. Die Maxisingle wird dann als ein weiteres Mittel zur Kultivierung des Bassbereichs gefunden. Jeremy Gilbert und Ewan Pearson beschreiben, wie eine gezielte Gestaltung des (Sub-)Bassbereichs in Stilen wie Disco, House und Techno mit der Technologie der Maxisingle zusammenhängt. Die von den Soundsystemen in Discos und Klubs betonten Bassfrequenzen könnten im Fall der Maxisingle bereits in die Platte geschnitten werden, so dass sich das Bassspektrum gezielt ästhetisch erschließen lasse.44 Eine Eigenart der Maxisingle ist also, dass der Frequenzbereich zwar erweitert wird, eine solche Erweiterung aber nicht in einer herkömmlichen Hi-FiÄsthetik aufgeht. Zwar entsprechen Veröffentlichungen von Discomusik häufig einem Hi-Fi-typischen »Transparenz«-Paradigma, welches mit den Multi-WegeSystemen der Soundanlagen in Discos korreliert, in denen drei bis vier Frequenzbereiche je spezifischen Lautsprechern zugeordnet sind. Gleichzeitig ist aber den als Maxisingles veröffentlichten Musikformen meist eine extreme Bassbetonung eigen, die sich gegen ein – ebenfalls Hi-Fi-typisches – »Balance«Paradigma sperrt. Gerade eine solche Absage an eine ausgeglichene und harmo41 Fink: Repeating, S. 40, Herv. i. Orig. 42 Ebd., S. 43, vgl. auch Klotz: »Love to Love you Music«. 43 Fink: Repeating, S. 44. 44 Vgl. Gilbert/Pearson: Discographies, S. 136; vgl. auch Wicke: Tonträger, S. 72.
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nisch balancierte Frequenzanordnung ist jedoch wiederum eine Bedingung für die taktile Wirkung von Klang. Diese ist durch die kleine Singleschallplatte nicht immer gewährleistet: Auf der bereits erwähnten Single-Veröffentlichung von Moultons knapp sechs Minuten dauerndem Remix von B. T. Express’ Do It (Till You’re Satisfied) ist von der Bassdrum nicht viel mehr als ein Klicken hörbar. Tiefe Frequenzen mussten im Mastering weggefiltert werden, sonst hätte Moultons langer Mix auf einer Plattenseite keinen Platz gefunden. Die gezielte klangtechnische Kultivierung des Bassbereichs und die Herstellung einer taktilen Klangerfahrung beginnt in der Discokultur mit der um 1970 einsetzenden Gestaltung von speziellen Lautsprecheranlagen durch New Yorker Soundsystem-Designer wie Alex Rosner und Richard Long. Vor allem in den von Long gestalteten Systemen hatten Momente des Exzessiven und der sonischen Eskalation Vorrang gegenüber einer Orientierung an harmonischer Balance der Frequenzen. Diese Soundsysteme sind an der Gestaltung des Discokörpers beteiligt. Alex Rosner, ausgebildeter Elektroingenieur, gründet 1967 die Firma Rosner Custom Sound Inc. Diese beginnt bald auch Soundsysteme speziell für Discos zu bauen. Bis Ende der 1970er Jahre hat Rosner über 300 Lautsprechanlagen für Discos entwickelt und instand gehalten.45 Bereits zu Beginn der 1970er Jahre installiert er das Soundsystem im »Gallery«, auf dem und über das Nicky Siano als einer der ersten DJs Schallplatten ineinander mischt.46 Richard Long – ein ehemaliger Angestellter von General Electric – gründet Anfang der 1970er Jahre die Firma Richard Long and Associates, die sich auf den Bau von Soundsystemen spezialisiert. Sowohl Rosner als auch Long kommen früh mit David Mancuso in Kontakt und sind beide am Auf- und Weiterbau der Anlage im »Loft« beteiligt.47 Long wird Anlagen für diverse Klubs bauen, denen ein zentraler Stellenwert bei der Entwicklung von Disco, House und Techno zukommen wird: etwa für das »Studio 54« oder die »Paradise Garage« in New York sowie das »Warehouse« in Chicago.48 Die Soundsysteme, die Rosner und Long konzipieren, bauen und installieren, zielen auf die Erzeugung der bereits erwähnten immersiven, taktilen und körperlichen Klangwirkung. In einem Ende der 1970er Jahre im Journal of the Audio Engineering Society veröffentlichten Artikel versucht Rosner, die keineswegs nur technischen Leistungsanforderungen an ein Disco-Soundsystem zu formulie45 Vgl. Rosner: Overview, S. 577. 46 Vgl. Lawrence: Love, S. 102. 47 Vgl. ebd., S. 7, 12 und 88-91. 48 Vgl. Fierstein/Long: State-of-the-Art; Bidder: Pump up, S. 10 und 16; Lawrence: Love, S. 345.
192 | J ENS G ERRIT P APENBURG ren und betont die Kopplung von Klanglichkeit, Körperlichkeit und Technologie durch solche Systeme. Rosner führt aus, mit welchen Mitteln diese Anforderungen umgesetzt werden können bzw. wie ein typisches Soundsystem aufgebaut ist. Ein solches System solle primär eine spezifische Wirkung erzielen: Es müsse die Sinne überfluten können und erfordere Technologie »to enable the human body to be ensonified«.49 Dazu sei eine extrem laute Anlage nötig, deren Lautstärke sich auch in den Bässen und in den Höhen bewähren könne. Besonders über die extrem lauten Bässe sei eine relativ direkte Kopplung zwischen Beinen und Becken der Tänzer zum einen und Klang zum anderen möglich.50 Rosner schließt an, dass für eine solche Kopplung eine Zerlegung des Spektrums in mindestens drei Bereiche – Bässe, Mitten, Höhen – notwendig sei. Das so zerlegte Spektrum könne dann über unterschiedliche Lautsprechertypen wiedergegeben werden, denen jeweils wieder spezifische Verstärker zuzuordnen seien. Neben einer differenzierten Bassgestaltung und einer taktilen Klangwirkung durch entsprechende Verstärkung sind Disco-Soundsysteme so gestaltet, dass sie die Tänzer von allen Seiten in Klang einhüllen. Das Disco-Soundsystem ist nicht nur in einem Raum installiert, sondern es bringt zudem eine spezifische Räumlichkeit hervor. Die Lautsprecher des Soundsystems spannen den Wahrnehmungsraum der Disco-Tanzfläche auf. Dieser ist in der Horizontalen durch in Form eines Vierecks um die Tanzfläche herum aufgestellte Lautsprecher organisiert. Für die Organisation der Vertikalen wird die Zerlegung des Frequenzspektrums wieder aufgegriffen und »hohe« Töne erklingen tatsächlich aus der Höhe: In Rosners typischem Disco-Soundsystem hängen die Hochtonlautsprecher über der Tanzfläche an der Decke.51 Die Idee, die Hochtöner über den Köpfen der Tänzer zu platzieren, stammt von David Mancuso.52 Tim Lawrence sieht darin eine neue »Geographie des Hörens« begründet.53 Durch Rosners Platzierung der Hochtonlautsprecher über der Tanzfläche erhält Klang eine räumliche Bestimmung, die in Bezug auf Frequenzbereiche differenziert ist: die Mitten kommen von der Seite, hohe Frequenzen kommen von oben. Der höhenbetonte Sound von Mancusos Anlage im »Loft« fordert dann aber auch eine Neugestaltung der Bässe des Systems heraus.54 In diese involviert Mancuso Richard Long, der sich im Laufe der 1970er Jahre zu einem Spezialisten für die Bassgestaltung entwickeln 49 Rosner: Overview, S. 576. 50 Vgl. ebd., S. 577. 51 Vgl. ebd., S. 578. 52 Lawrence: Love, S. 89. 53 Vgl. ebd., S. 90. 54 Lawrence betont, dass Mancusos System lange Zeit einen Orientierungspunkt für andere Soundsysteme bildete (vgl. Lawrence: Love, S. 91).
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wird.55 In Bezug auf diese klangtechnischen Kultivierungen des Bassbereichs und auf die Herstellung von neuen Hörgeographien durch Soundsysteme bzw. die mit diesen korrelierenden neuen Hörpraktiken kann die Maxisingle gefunden werden. Das Disco-Soundsystem adressiert weder einzelne Hörer – wie etwa die HiFi-Heimstereoanlage über ihren »sweet spot« – noch tanzende Paare. Vielmehr zielt es auf eine tanzende Menge, die in den Hörraum zwischen den Lautsprechern getaucht ist. Die immersive Erfahrung des Discokörpers ist nicht nur klanglich konstituiert, sondern auch in Bezug auf andere tanzende Körper. In der Discokultur entstehen wenig choreographierte Tanzformen, in denen alleine als Teil einer Menge getanzt wird. Lawrence beschreibt, wie zu Beginn der 1970er Jahre in New Yorker Discos wie dem »Sanctuary« oder dem »Loft« »a new practice of solo club dancing« aufkommt, welche schließlich zum »enduring model for contemporary club culture« werden wird.56 Der Tänzer tanzt hier alleine, ist aber sozial nicht isoliert. Solch eine Form des Tanzens ist gleichzeitig individuell als auch kollektiv. Nur temporär finden sich Partner, die aber nicht zu Paaren werden müssen. Die Auflösung des Paarbezugs in der frühen Discokultur hatte jedoch auch ganz handfeste, nämlich juristische Gründe. Männer durften nicht mit Männern tanzen: Der Tanz eines gleichgeschlechtlichen Paares war illegal. Auf drei tanzende Männer musste mindestens eine Frau kommen.57 Die neu aufkommenden Tanzpraktiken führten zur Entstehung von neuen Formen von Gemeinschaft jenseits eines Paarbezugs. Erst durch den Hustle, der 1975 durch den gleichnamigen Song von Van McCoy & The Soul City Symphony popularisiert wird und der 1977 durch den Film Saturday Night Fever58 sowie durch zahlreiche Tanzanleitungen und Tanzkurse international allgegenwärtig wird, seien improvisierte Tanzformen – so Lawrence – wieder durch stark choreographierte Paar- und Reihentänze ergänzt worden.59
55 Im Lauf der 1970er Jahre konstruiert Long einen eigenen (Sub-)Basslautsprecher, der seinen kulturellen Bezugsrahmen gleich im Namen mitführt: »Levan Horn« – benannt nach dem DJ Larry Levan. Longs Ausgangspunkt für das Levan Horn war das 1946 von dem Ingenieur Paul W. Klipsch erstmals vorgestellte Klipschorn. Dieses positioniert den Hörer quasi im Lautsprecher (vgl. Brockmann: Klipsch, S. 117). 56 Lawrence: Hustle, S. 200. 57 Vgl. Lawrence: Love, S. 31; vgl. auch Cheren: Dancing, S. 60 f. und Echols: Hot Stuff, S. 43 und S. 256. 58 USA 1977, 118 min. Regie: John Badham, Drehbuch: Norman Wexler (Vorlage: Nik Cohn), Produktion: Robert Stigwood. 59 Vgl. Lawrence: Hustle.
194 | J ENS G ERRIT P APENBURG Die Maxisingle ist eine Technologie, deren Entstehung durch konkrete Praktiken des Musikhörens, -produzierens und -vermarktens herausgefordert wird, die sich in der New Yorker Discokultur der ersten Hälfte der 1970er Jahre ausbilden. Medien- und kulturgeschichtlich ist das Aufkommen von neuen sonischen Technologien und Formaten in Auseinandersetzung mit disparaten Faktoren begründet worden. Sind für Friedrich Kittler Unterhaltungstechnologien wie Radio und Magnettonband ein »Missbrauch von Heeresgerät«60, die ihre Entwicklung Weltkriegen verdanken, sieht Jonathan Sterne die Entwicklung des MP3-Formats entscheidend geprägt durch »corporate capitalism«61, Wolfgang Hagen hingegen betont in der Technikgeschichte des Radios Momente des Findens.62 Die technologische Innovation der Maxisingle bleibt vergleichsweise bescheiden. Auch ist dieses Tonträgerformat nicht in einem militärischen, wissenschaftlichen oder industriellen Forschungslabor entwickelt worden. Erklärungsversuche, die Maxisingle als Produkt ökonomischer Dynamiken von Angebot und Nachfrage zu bestimmen, greifen zu kurz. Die mit viel Emphase vorgetragene Position, nach der die Maxisingle das Produkt einer »consumer demand« darstellt63, findet ihr Komplement in der kritischen Darstellung eines »promotional activism of small labels«.64 Die Bedingungen und Umstände, unter denen die Maxisingle gefunden werden kann, umfassen vielmehr ein historisch wie kulturell spezifisches Gefüge aus technologischen Entwicklungen, auditiven Praktiken und musikindustriellen Geschäftsmodellen. Ab den späten 1970er Jahren soll dann die Maxisingle zu einem entscheidenden Format für die Entwicklung von Musikformen wie HipHop, New Wave, House und Techno werden. Die Darstellung der Spezifik dieser Entwicklung ist jedoch ein anderes Thema, das Teil einer als Technologiegeschichte erzählten Popmusikgeschichte wäre. Die Maxisingle ist hingegen bereits durch den Bezug zu einer bestimmten Musikkultur selbst musikalisch verfasst, insofern gilt für das Finden der Maxisingle die Inversion dieser beiden Geschichten: Technologiegeschichte ist hier Popmusikgeschichte.
60 Kittler: Rockmusik. 61 Sterne: MP3, S. 30. 62 Vgl. Hagen: Radio. 63 Brewster/Broughton: Last Night, S. 187. 64 Straw: 12-inch, S. 167.
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D ISKOGRAPHIE Andrea True Connection: More, More, More. Buddah BDS 5670, 1976 [LP]. B. T. Express: Do It (’Til You’re Satisfied). Scepter SCE 12395,1974 [Single]. Barrabas: Barrabas. RCA Victor LSP 10458, 1972 [LP]. Bobby Moore: (Call Me Your) Anything Man. Scepter SDT-12405, 1975 [Maxi]. Brian Eno: Discreet Music. Obscure 3, 1975 [LP]. Don Downing: Dream World. Roadshow 7006, 1973 [Single]. Ders.: Dream World. Scepter SCE 12397, 1974 [Single]. Donna Summer: Love to Love You Baby. Casablanca/Oasis OCLP 5003, 1975 [LP]. Double Exposure: Ten Per Cent. Salsoul 12D-2008, 1976 [Maxi]. Eddie Kendricks: Girl You Need a Change of Mind. Tamla T 54230F, 1973 [Single]. Gloria Gaynor: Never Can Say Goodbye. MGM Records M3G 4982, 1975 [LP]. Loleatta Holloway: Hit and Run. Goldmine 12G-4006, 1977 [Maxi]. Love Unlimited Orchestra: Love’s Theme. 20th Century Records TC-2069, 1973 [Single]. Manu Dibango: Soul Makossa. Fiesta 360.047, 1972 [LP]. Ders.: Soul Makossa. Atlantic SD 7267, 1973 [LP]. Sampler: Disco Par-r-r-ty: Non Stop Music. Spring SPR-6705, 1974 [Comp.]. Ultra High Frequency: We’re On the Right Track. Wand WND 11257, 1973 [Single]. Van McCoy & The Soul City Symphony: The Hustle. Avco AV-4653, 1975 [Single].
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196 | J ENS G ERRIT P APENBURG Cheren, Mel: Keep on Dancing. My Life and the Paradise Garage, New York: 24 Hours for Life 2000. Crimp, Douglas: DISSS-CO (A FRAGMENT). From ›Before Pictures‹, a Memoir of 1970s New York, in: Criticism 50 (2008) 1, S. 1-18. Dyer, George: In Defense of Disco, in: Gay Left (1979) 8, S. 19-23. Echols, Alice: Hot Stuff. Disco and the Remaking of American Music Culture, New York/London: Norton 2010. Fierstein, Alan/Richard Long, Richard: State-of-the-Art Discotheque Sound Systems. System Design & Acoustical Measurement, in: Audio Engineering Society, 67. Convention, 31st October – 3rd November, New York: AES 1980 (1684 F-5). Fikentscher, Kai: »There’s not a Problem I can’t Fix, ‘cause I can do it in the Mix«: On the Performative Technology of 12-inch Vinyl, in: René T. A. Lysloff/Leslie C. Gay, Jr. (Hg.): Music and Technoculture, Middletown, Conn.: Wesleyan University Press 2003, S. 290-315. Fink, Robert: Repeating Ourselves. American Minimal Music as Cultural Practice, Berkeley/Los Angeles, CA: University of California Press 2005. Gilbert, Jeremy/Ewan Pearson: Discographies. Dance Music, Culture and the Politics of Sound, London/New York: Routledge 1999. Großmann, Rolf: Reproduktionsmusik und Remix-Culture, in: Marion Saxer (Hg.): Mind the Gap! Medienkonstellationen zwischen zeitgenössischer Musik und Klangkunst, Saarbrücken: Pfau 2011, S. 116-127. Hagen, Wolfgang: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA, München: Fink 2005. Kittler, Friedrich A.: Rockmusik – ein Missbrauch von Heeresgerät, in: ders.: Short Cuts, Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2002, S. 7-30 (zuerst in: MANA. Mannheimer Analytica, 8 (1988), S. 87-101). Klotz, Sebastian: »Love to Love you Music«. Verschwendung, Begehren und kapitalistischer Realismus in Minimal Music and Disco, in: Corinna Caduff/ Tan Wälchli (Hg.): High, Low. Hoch- und Alltagskultur in Musik, Kunst, Literatur, Tanz und Kino, Berlin: Kadmos 2007, S. 83-97. Lawrence, Tim: Love Saves the Day. A History of American Dance Music Culture, 1970-1979, Durham, NC et al.u. a.: Duke University Press 2003. Ders.: Liner notes zu »Mixed With Love: The Musical World of Walter Gibbons«, 3xAudio-CD, Salsoul 2004. Ders.: Beyond the Hustle. 1970s Social Dancing, Discotheque Culture, and the Emergence of the Contemporary Club Dancer, in: Julie Malnig (Hg.): Ballroom, Boogie, Shimmy Sham, Shake: A Social and Popular Dance Reader, Chicago u. a.: University of Illinois Press 2008, S. 199-214.
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198 | J ENS G ERRIT P APENBURG Wonneberg, Frank: Vinyl Lexikon. Fachbegriffe, Sammlerlatein, Praxistipps, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2007.
Orchester und Soldatenchor des Wachregiments Berlin Feliks Dzierzynski des Ministeriums für Staatssicherheit: Du, unsere Republik. VEB Deutsche Schallplatten, VEB Gotha-Druck 815122, 1979 [LP].
Wolf Biermann: Chausseestr. 131. Wagenbachs Quartplatte 4, Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 1969 [Single].
Diskotanz im Speisesaal Zur Institutionalisierung und Normierung einer Unterhaltungsform in der DDR ab 1973 T HOMAS W ILKE
Diskotheken, Disko und Klubkultur erfahren seit ihrer Existenz widerstreitende Zuschreibungen: von der »musikalischen Ausdrucksform der Sexualität« (Simon Frith), über »Vergnügungspaläste und Zeugen der Dekadenz« (Kitty Hanson), als »Freiraum mit Regressionsmöglichkeiten« (Hartmut Franz) oder als »sozialtopographischer Ort des Tanzes« (Ulf Poschardt) – die Blickwinkel sind mannigfaltig. Die hier vorgestellte Perspektive sieht in Diskotheken eine Unterhaltungsform, bei der sich eine heterogene Menschengruppe zur Kommunikation, zur kollektiven Rezeption von Musik und zum Tanz an einem dafür bestimmten Ort trifft. Daraus resultieren Sozialisationseffekte und Handlungsmuster, die in je unterschiedlichem Maß Auswirkungen auf Habitus, Sprache und musikalische Geschmacksbildung von Rezipienten haben. Diese münden teilweise in die professionalisierte Handlungsrolle Diskjockey (DJ), die, aus dem amerikanischen Radio kommend, durch den Ort ›Diskothek‹ neu konfiguriert wird.1 Das lässt sich mit Blick auf die gesellschaftliche Konsolidierung und Ausdifferenzierung von Diskotheken erst einmal allgemein konstatieren. Gleichwohl ist anzuneh-
1
Anfänglich waren DJs, wenn sie nicht im Radio spielten, oft nur Ansager oder Lückenfüller zwischen Pausen von Livebands. Vgl. hierzu Peel: Memoiren, S. 299 f. Zur historischen Genese des amerikanischen DJs im Radio vgl. Passman: Deejays; Smith: Pied Pipers; Brewster/Broughton: Last night; Poschardt: DJ Culture; Thornton: Club Cultures, Mühlenhöver: Phänomen; Shapiro: Turn the Beat; für die BRD vgl. Hansberger: Diskjockey; Pausch: Diskotheken; Mayer: Discjockey; Quirini: DiscJockey und für die DDR vgl. Ege: Diskotheken und Wilke: Diskotheken.
202 | T HOMAS W ILKE men, dass in der DDR das Selbstverständnis von und die kulturpolitische Sicht auf Diskotheken und DJs anders gewesen sein müssen als beispielsweise in westlichen Staaten. Wer in der DDR Disko machte, konnte nach 1973 offiziell einen von drei vorgezeichneten Wegen einschlagen: Es gab eine nicht allzu große Zahl an Berufsdiskjockeys, die republikweit als Profis tätig waren. Einige wenige arbeiteten nebenberuflich, doch das Gros der Diskoveranstaltungen bestritten im Alltag die so genannten Amateure in unterschiedlichen Leistungskategorien. Die Größenverhältnisse zwischen Amateuren und Profis blieben bis zum Ende der DDR weitestgehend konstant bei ungefähr 60:1.2 Für alle war der jeweilige arbeitsrechtliche Status im Unterschied zur Bundesrepublik klar definiert.3 Amateure hatten ein Vollzeitbeschäftigungsverhältnis in einem Beruf als offizielle Haupterwerbsquelle nachzuweisen.4 Von einer freien Entfaltung der Diskotheken oder von Klubs konnte lediglich im Rahmen des vorgegebenen Handlungsspielraumes die Rede sein, keinesfalls war die Entwicklung angebots- und marktorientiert. Diesen Handlungsspielraum definierte die Diskoordnung vom 15. August 1973. Ebenfalls 1973 startete die bis 1989 vierzehntägig auf dem Jugendsender DT 64 laufende Radiosendung Podiumsdiskothek, die den DJs laufend aktuelle Musik zum Mitschneiden für ihre Veranstaltungen anbot. 2
Das Verhältnis wich auf Bezirksebene mitunter stark voneinander ab. Die vom Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Abteilung Kultur, vorgenommene »Einschätzung der Entwicklung von Tanzveranstaltungen, Diskotheken und Tanzmusik« von 1986 verzeichnete 15 Berufs-DJs gegenüber 556 Amateuren. Von diesen waren lediglich 12 Frauen, hinzu kamen noch 283 Techniker, die den DJs assistierten. Vgl. BStU, Archiv der Außenstelle Chemnitz XX-1274, Bl. 000029.
3
So zählten die Landesarbeitsämter der BRD 1969 DJs zu Schriftstellern und Publizisten, 1973 nach einem Sozialgerichtsurteil als Angestellte und nicht als Gewerbegehilfen. Vgl. Quirini: Disc-Jockey, S. 32. Zur Disco in der Bundesrepublik vgl. den Beitrag von Klaus Nathaus im vorliegenden Band.
4
Den Nachweis darüber verlangte und regelte der § 1 der Vergütungsregelung für Tanz- und Unterhaltungsmusik im Nebenberuf, GBl. I 48/1973, Anordnung Nr. 2 über die Ausübung von Tanz- und Unterhaltungsmusik vom 1. November 1965; GBl. II, Nr. 112, S. 777 sowie die Anordnung über die Neufassung von Regelungen über Rechtsmittel gegen Entscheidungen staatlicher Organe auf dem Gebiet der Kultur vom 28. Juli 1971; GBl. II Nr. 61, S. 539. Vgl. hierzu die ebenfalls zuständige Anordnung über die Zulassung von frei- und nebenberuflich tätigen Künstlern auf dem Gebiet der Unterhaltungskunst vom 21.06.1971, GBl. Sdr. Nr. 208, sowie Anordnung vom 24. November 1980 über die Aus- und Weiterbildung von Leitern im künstlerischen Volksschaffen – GBl. I Nr. 1, S. 11.
D ISKOTANZ IM S PEISESAAL
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Der folgende Beitrag skizziert aus einer medien- und kulturwissenschaftlichen Perspektive die Ausgangssituation Ende der 1960er Jahre für die DDR-Diskotheken, die Ordnung 1973 und deren Folgen.5 Es soll aufgezeigt werden, dass diese in ihrem Einfluss auf die weitere Disko-Entwicklung eine normative Kraft entfalteten, auch weil sie in bereits bestehende Strukturen integriert wurden. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer im offiziellen Verständnis von Diskothek in der DDR klar formulierten Abgrenzung gegenüber dem »Klassenfeind« – sei es über die Titulierung als »Schallplattenunterhalter«, die Programmatik der Diskotheken oder die versuchte Festlegung bei der Musik(-auswahl). In der Praxis relativierte sich dieser kämpferische Modus der Kulturtheorie jedoch meist sehr schnell und die Veranstalter orientierten sich in der Regel an den Gegebenheiten vor Ort sowie den Fähigkeiten der DJs und ihrer Techniker. Die Quellenlage für eine historische Rekonstruktion von Diskotheken in der DDR erweist sich als erstaunlich gut, die vorhandenen Archivmaterialien geben umfangreich Auskunft über den Alltag und einzelne Entwicklungsstadien. Für die Forschung verfügbar sind die korrigierten Sendemanuskripte der DT-64Radiosendung Podiumdiskothek beim Deutschen Rundfunkarchiv in Potsdam sowie zahlreiche publizierte diskospezifische Informationsmaterialien. Tageszeitungen wie die Junge Welt oder Periodika wie Unterhaltungskunst – Zeitschrift für Bühne, Podium und Manege und andere berichteten regelmäßig über das Nachtleben in sozialistischen Diskotheken.
A NFÄNGE
UND ERSTE
D ISKOTHEKEN
IN DER
DDR
In der Gemeinschaft Musik zu hören und dazu zu tanzen, gehörte auch in der DDR zu den traditionellen und akzeptierten Formen einer institutionalisierten Unterhaltung. Das zeigte sich unter anderem in dem offiziell gebräuchlichen Begriff »Unterhaltungskunst« oder in einem eigens für diesen Bereich gegründeten Komitee für Unterhaltungskunst. Bis zum Ende der 1960er Jahre standen hier Livebands oder Orchester im Vordergrund, nicht die von Tonträgern reproduzierte Musik. Den wachsenden Bedarf an Tanzveranstaltungen versuchten überwiegend »Kapellen« mit einem begrenzten Repertoire an aktuellen Popmusik5
Ein solcher – prominent von Knut Hickethier – vertretener Ansatz schließt die Ästhetik, die Technik, den institutionellen Charakter und die gesellschaftliche Funktion einzelner Medien, deren Zusammenhang und die Beziehungen zwischen Einzelmedien auch in ihrer historischen Dimension und dem Verhältnis zwischen den Medien und Kommunikation mit ein. Vgl. Hickethier: Medienkultur, S. 455.
204 | T HOMAS W ILKE titeln zu decken, was jedoch nur unzureichend gelang. Eindeutige Grenzen ergaben sich hinsichtlich der Aktualität des Angebots und aus einer politisch verordneten Quotierung von Musiktiteln: Seit 1958 existierte die so genannte 60:40Regelung, nach der lediglich 40 Prozent lizenzierte Musik aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) gespielt werden durfte, während die übrigen 60 Prozent aus der DDR und den »befreundeten RGW-Ländern« kommen mussten. Zeitliche Verzögerungen ergaben sich im aktuellen Musikangebot, da neue Titel durch die Bands erst einstudiert werden mussten.6 Der Profi-DJ Burkhard Walter blickte 1983 zurück: »[D]ie jungen Leute [waren] dankbar für jedes Angebot. Sie akzeptierten einen Diskotheker, der vorwiegend seine Lieblingsmusiken vorstellte.«7 Erste Diskothekenberichte in der Presse beleuchteten ab Mitte der 1960er Jahre schlaglichtartig eine Entwicklung, deren vorläufiger Kulminationspunkt das Jahr 1973 darstellte. Von (Tanz-)Musik aus der Konserve wurde im Dezember 1965 aus dem Leipziger Jugendklub Walter Barth berichtet, nicht ohne kritisch auf den Mangel an solchen Angeboten hinzuweisen: »Erste Auskunft: Tanzveranstaltungen? Keine diese Woche. Kaum zu glauben. ›Höchstens ein- bis zweimal im Monat schaffen wir uns nach Tonbandmusik.‹«8 Im Zuge einer Zusammenfassung – dass nun rund 50 Millionen die Diskotheken der DDR jährlich besuchen – findet sich im März 1978 in der Zeitschrift Melodie & Rhythmus ein recht vager Hinweis auf den Beginn: »Damit hat sich diese junge Form der Unterhaltungskunst – vor genau 10 Jahren hob der Oktoberklub in Berlin die erste Disko aus der Taufe – einen bedeutenden Platz im geistig-kulturellen Leben unserer Republik erobert.«9 Die Anfänge der Diskothek in der DDR werden hier in Verbindung mit der FDJ-Singebewegung und den vom Oktoberklub (OKK) organisierten Veranstaltungsreihen gesehen. Die Mitglieder kamen außerhalb der Proben zusammen – geselliges Beisammensein nannte sich das –, das Bedürfnis nach Tanz war da, nicht immer stand eine Band zur Verfügung: »Also bauten wir eine 6
Auch Laienmusiker hatten frühzeitig einen institutionalisierten Weg zu beschreiten, wollten sie öffentlich auftreten. Vgl. hierzu Rauhut: Beat.
7
Zit. n. Michael Meyer: Diskothek für Kinder. Ein Interview mit Burkhard Walter, in: Unterhaltungskunst – Zeitschrift für Bühne, Podium und Manege 14 (1983) 1, S. 1617.
8
Leipziger Volkszeitung, 9.12.1965. Zit. nach Leitner: Rockszene, S. 231.
9
Ohne Autor: Diskjockeis bitten um Gehör, in: Melodie & Rhythmus 16 (1972) 2, S. 23. Eva Lehmann: Beitrag, S. 43, blieb 1983 ebenfalls diffus: »Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre tauchte in unserer Republik das neuartige Phänomen Diskothek auf, vorerst besonders in klubinternen Veranstaltungen der Singeklubs, die sich durch eine geistig rege, lebendige und intensive personale Kommunikation auszeichnen.«
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Diskothek auf und riefen im Kreiskulturhaus Berlin-Mitte die Veranstaltungsreihe Arbeiter- und Studentenklub ins Leben. Hier sammelten wir erste Erfahrungen – hier entstanden erste Programmfolgen.«10 Nach Hartmut Kanter und Stefan Lasch, die im »OKK« schon dabei waren und für das spätere Diskogeschehen wichtig wurden, begann »alles, was man landläufig die Disko-Szene nennt«, nach dem IX. Parlament der FDJ 1971.11 Der in offiziellen Darstellungen propagierte enge Schulterschluss zwischen FDJ und Diskothek findet sich auch noch in späteren Jahren. Die FDJ inszenierte sich als eine Organisation, die federführend und zeitgemäß an der Entwicklung der Diskotheken mitwirkte und damit auf die Bedürfnisse der Jugend einging. Die erste Diskothek, in der Mitte der 1960er Jahre »Gehversuche, mittels Platte und Band und einem Mann (der die Geräte bediente)«12 stattfanden, war nach Auskunft der beiden DJ-Pioniere die Hotelfachschule Leipzig. Inwieweit das kontinuierlich betrieben wurde, bleibt offen. Die Disko der Hotelfachschule Leipzig entsprach zudem noch nicht der 1976 von Kanter und Lasch formulierten Definition von Diskotheken, »nämlich dem gestalteten interessanten Tanzabend, an dem mehr los ist; wo man interessante Leute kennenlernt, singen und spielen kann, Filme sieht, Kabaretts erlebt, um Gott und vor allem die Welt diskutiert«.13 Damit begann ihrer Meinung nach der »OKK«. Der Klub organisierte Tanzveranstaltungen, die er als »offene Klubform« bezeichnete. Dort hatten die Besucher neben dem Tanzen weitere Auswahlmöglichkeiten: »Da war die äußerst wichtige Tränke, in der es schon damals ein besseres Angebot gab, als heute in manch einer Jugendtanzgaststätte, da war die Quasselecke für die ständig diskutierenden Nichttänzer, da gab’s den Agit-Shop mit Plakat-, Abzeichen- und Posterverkauf, und es gab natürlich den Raum zum Tanzen.«14
Die Zeitschrift Melodie & Rhythmus berichtete ab Frühjahr 1971 monatlich von Tanzveranstaltungen aus verschiedenen Städten der DDR. Drei dieser Fälle mit unterschiedlichen Konzepten sollen im Folgenden veranschaulicht werden. Im Aprilheft wurde erstmalig über das Erfurter Nachtleben und in diesem Zusammenhang über die HO-Gaststätte (HOG) »Freundschaft« berichtet. Es hat offen10 Hartmut Kanter/Stefan Lasch: Diskothek bei Hartmut und Stefan. Erfahrungen Berliner Diskjockeis, in: Melodie & Rhythmus 16 (1972) 3, S. 24. 11 Podiumdiskothek 71 vom 3.6.1976. Schriftgutbestand DT 64, Schriftbestand DRA Standort Potsdam-Babelsberg, Historisches Archiv, Hörfunk, A 004-02-04/0065. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd.
206 | T HOMAS W ILKE bar mehrerer Anläufe bedurft, bis »nun endgültig die Gaststätte statt einer Kapelle eine Diskothek« erhielt. Am 1. Mai 1973 öffnete in Erfurt schließlich die HOG »Freundschaft« als Gaststätte mit Diskothek mit einer neuen Raumaufteilung täglich von neun bis 24 Uhr und Tanz ab 19 Uhr. Ebenfalls in Erfurt, im Wohngebiet Johannesplatz, eröffnete die HO um die gleiche Zeit eine neu gebaute Schülergaststätte, in der mangels weiterer kultureller Angebote kurzerhand Musik abgespielt und zum Tanz eingeladen wurde. Der »Plattenabspieler« verdiente als »unständig Beschäftigter« der HO Gaststätte 9,20 Mark pro Abend und zwei »Ordnungshüter« teilten sich 50 Mark.15 Der Saal der HOG hatte eine Kapazität von 600 bis 700 Personen und für die Veranstaltungen war – im Gegensatz zum Regelfall – eine Musikanlage vorinstalliert. Diese bestand jedoch aus einem »Rundfunkgerät mit 2 x 25 Watt Ausgangsleistung und dazugehörigen Boxen. Es überdauerte die Höchstbelastung jeweils vier Wochen, dann war eine Reparatur unumgänglich [...] mit der Beleuchtung gab es wenig Ärger: Die Neonbeleuchtung wurde während der Tanzrunden kurzerhand abgeschaltet.«16 Die erwähnten DJs Kanter und Lasch veranstalteten zum ersten Mal zusammen an einem Montag im Dezember 1971 in der Berliner Tanzbar »Lindencorso« die »Diskothek bei Hartmut und Stefan«. Dies fand lobende Erwähnung in Melodie & Rhythmus, da hier »mit einem gut konzipierten Programm, das durch die Vorführung von Filmen, einer kleinen Modenschau und dem Auftreten der Singegruppe des Teleklub Berlin sehr viel Abwechslung bot, eine jugendgemäße Veranstaltungsreihe eröffnet worden [ist]«.17 Das »Lindencorso« war eine angesagte Berliner Lokalität und der Erfolg am veranstaltungsarmen Montag lässt sich als Indiz für die hohe Nachfrage nach Tanzveranstaltungen lesen. Kanter und Lasch beanspruchten für sich – »einmal während des IX. Parlaments in einer Veranstaltungsfolge demonstriert« – entscheidend zur Popularisierung des Diskothekenkonzepts beigetragen zu haben, da »diese Anregungen von vielen Diskotheken in Berlin übernommen wurden«.18 Sie verwiesen zugleich auf das aus ihrer Sicht vorhandene Informations- und auch Mitteilungsbedürfnis des Publikums, da sie nicht nur berichteten, sondern auch die Gäste nach »ihre[r] Meinung zu Informationen: Politik, Mode, Liebe, Kultur« fragten.19
15 Stefan Gööck: Stationen. Eine Amateurdiskothek und ihre Partner, in: Kultur und Freizeit – Organ für Theorie und Praxis des geistig-kulturellen Lebens 18 (1980) 9, S. 22-23. 16 Ebd. 17 Ohne Autor: Diskjockeis, S. 2. 18 Ebd. 19 Ebd.
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Im südwestlichen Arbeiterbezirk Leipzigs gab es seit September 1972 eine Diskothek, die aufgrund ihrer Lage und der Farbe ihrer Innenausstattung »Rote Diskothek« hieß. Sie kann als eine der wenigen Ausnahmen gesehen werden, da es sich hierbei um ein eigens für diesen Zweck genutztes Veranstaltungsobjekt handelte, das mittwochs bis sonntags jeweils von 16 bis 24 Uhr geöffnet hatte. Entstanden auf Eigeninitiative junger Arbeiter, Gastronomen und Studenten aus dem »Bums-Saal einer alten Kneipe«, etablierte sie sich unter der Leitung eines siebenköpfigen Klubrates in kurzer Zeit.20 Das Einzugsgebiet reichte nach Auskunft der Veranstalter bis nach Halle und seiner Umgebung, ein Zeichen großer Popularität, zumal das Fassungsvermögen auf 100 Personen beschränkt war. Die sich ab 1970 mehrenden Berichte über Diskotheken verglichen verschiedene Veranstaltungen miteinander und unterbreiteten Vorschläge zur Verbesserung der Musik oder des Programms. Als einen Faktor für die hohe Anziehungskraft von Diskotheken betonten sie nicht nur das Tanz- und Vergnügungsbedürfnis des Publikums, sondern auch die Qualität der Musik und die Fähigkeit des DJs, das Publikum zu begeistern. Offenkundig handelte es sich um eine offiziell geförderte und wohlwollend aufgenommene Innovation. Diskotheken verstand man als Teil der städtischen Unterhaltungskultur, auch wenn Städte wie Frankfurt/Oder, Karl-Marx-Stadt oder Saalfeld dem neuen Trend noch keine Beachtung schenkten.21 Die HO-Gaststätten erhöhten ihre eigene Attraktivität durch ein zusätzliches Angebot, die dafür zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten wurden provisorisch und vorübergehend erweitert. Einzelne entdeckten im Umgang mit der Musikkonserve ein neues vielversprechendes Betätigungsfeld, kollektive Initiativen schufen etwas Gemeinsames und die FDJ nahm sich dieser Unterhaltungsform in ihrem Programm an. Renommierte Häuser und große Hotels, wie das »Hotel Neptun« in Warnemünde, richteten im Keller eine Diskothek für ihre Gäste ein, der Fernsehturm in Berlin lud nach seiner Eröffnung 1969 zum Tanz in das Café und auch das Unterhaltungsangebot während der Leipziger Messe verzichtete nicht auf Diskotheken. In der Anfangszeit der Diskotheken waren die Zugangsbarrieren niedrig, doch die institutionelle Zusammenarbeit mit »willige[n] Kulturfunktionäre[n]« wurde zu Beginn ganz selbstverständlich für notwendig befunden.22
20 Holger Reischock: Abends in der Roten Diskothek. Stimmungsbericht aus Leipzig, in: Junge Welt, Nr. 59A, 9.3.1973, S. 5. 21 Im Rahmen der Artikelserie unterwegs am abend berichtete Melodie & Rhythmus über Tanzveranstaltungen, -bars und -kapellen in Städten wie Halle, Berlin und Potsdam, aber auch über Lokalitäten im befreundeten Ausland wie Prag, Moskau und Krakow. 22 Meyer: Diskothek, S. 16.
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Im Februar 1972 berichtete die Zeitschrift Melodie & Rhythmus erstmalig ausführlich über Diskos in der DDR und gab die Zahl der in der Republik existierenden Diskotheken mit mehr als 700 an.23 Damit meinte sie die Personen, die eine Diskothek veranstalteten, und nicht die Veranstaltungsorte. Die nicht verifizierbare Zahl zeigt eine explosionsartige Entwicklung an, denn neben den offiziell anmeldungspflichtigen Veranstaltungen führten zusätzlich viele Schulen und Betriebe nichtöffentliche Tanzveranstaltungen durch, die nicht angemeldet werden mussten. Melodie & Rhythmus formulierte allgemeinverbindliche Erwartungen an DJs, die »Wissenswertes über die Solisten, Orchester, Musiker und Arrangeure« vermitteln sollten sowie »unterhaltsam plaudernd auf Besonderheiten der Musikart, des Sounds usw.« einzugehen hatten.24 Gleichzeitig wurde der DJ erstmalig als »Beruf« vorgestellt, indem »ein Diskjockei mit den Zielen unserer Kulturpolitik, mit dem ›Abc‹ der Tanzmusik sowie mit der Gestaltung und Leitung niveauvoller Tanzabende vertraut sein sollte und daß er über eine gute Allgemeinbildung, ein vorbildliches Auftreten und gewisse ConférencierFähigkeiten verfügen muß.«25 Dieses Leitbild hatte bis zur Diskothekenordnung im August 1973 und darüber hinaus Bestand und befand sich in Übereinstimmung mit der offiziellen Kulturpolitik: »Wer also glaubt – um ein böses Extrem zu zitieren –, als ›fahrender Diskjockei‹ mit einer eigenen ›Westplatten-Sammlung‹ durch die Lande zu reisen und für 500,- Mark Abendgage gesetzwidrige ›Tanzabende‹ veranstalten zu können, der dürfte bald am Ende seiner Künste sein. Und das mit gutem Recht im Namen all der Diskjockeis [...] die sich an die gesetzlichen Regelungen, einschließlich der Anordnung über die Programmgestaltung, halten.«26
Offenbar waren derartige Praktiken in der Anfangszeit durchaus üblich und mangels entsprechender Regelungen auch nicht kontrollierbar. Deren Stigmatisierung als »gesetzeswidrig« mit dem Hinweis auf die Höhe der »Abendgage« und eine »Westplatten-Sammlung«, auf die nur wenige DJs zurückgreifen konnten, offenbarten einen umfassenden Kontrollanspruch. Deutlich wird, dass diese neue Unterhaltungsform anfangs einem eher lockeren Reglement unterlag. Es gab
23 Nach Hansen: Diskothek, S. 98, existierten 1970 republikweit nur zehn Diskotheken. 24 Ohne Autor: Diskjockeis, S. 3. 25 Ebd. 26 Ebd.
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noch keine konkreten Vorstellungen über die Rahmenbedingungen dieser Präsentation populärer (Tanz-)Musik und ihrer Konsequenzen für die Freizeitgestaltung. Konkrete Regelungen fehlten zwar auch im Westen, doch wirkte hier der Markt als Regulativ für Angebot und Nachfrage. In der DDR verstanden sich die staatlichen Kulturfunktionäre als eine Steuerungsinstanz, wie es eine »kämpferisch« formulierte Einschätzung von 1983 nahelegt: »Je länger dieses ›Phänomen‹ Diskothek dem Selbstlauf überlassen wurde, umso mehr nahm die Gefahr zu, daß es zu einem Mittel der Verbreitung bürgerlicher Ideologie (durch enge Verbindung mit dem Westmedieneinfluß) werden könnte. Dies ist kein Sonderfall, sondern bestätigt die alte Weisheit des ideologischen Klassenkampfes: ›Wo wir nicht sind, da ist der Gegner‹.«27
Bis 1973 gab es für DJs lediglich zwei Festlegungen, abgesehen von den üblichen Gesetzen zur Organisation von Tanzveranstaltungen. Diese orientierten sich bei einem öffentlichen Auftritt an der Honorarordnung Unterhaltungskunst und erforderten eine Zulassung in Form einer Spielerlaubnis nach der Zulassungsordnung Unterhaltungskunst vom 21. Juni 1971 als Künstler des sozialistischen Volkskunstschaffens.28 Eine solche Zulassung stellten die Bezirkskulturkabinette aus, die werdende DJs einem Eignungstest unterzogen. In einem solchen »sollte nicht das Abfragen von ›Fachwissen‹ dominieren (in Leipzig: Was beinhaltet der ›Bitterfelder Weg‹?), sondern das Feststellen von Talent, Haltung, Glaubwürdigkeit, Ansichten.«29 Es ging demnach anfangs weniger um theoretische Aspekte, sondern viel stärker um Auftreten und praktische Fähigkeiten: »Oft sind es schon Details, die ein Wirken des Diskomoderators unglaubwürdig machen, aber dennoch ›übersehen‹ werden, z. B. Sprachfehler, unsteter Blick, Scheu vor Kontakt mit Menschen, keinerlei Gespür für Melodik und Dynamik.«30 Auffallend sind die mit der Eignungsprüfung einhergehenden administrativen Prozesse. So lud das jeweilige Bezirkskulturkabinett einen DJ für »den 27 Lehmann: Beitrag, S. 44. Der letzte Satz zitiert den DEFA-Film Berlin – Ecke Schönhauser. Danke an Bodo Mrozek für den Hinweis. 28 Vgl. hierzu Kanter/Wollenzin: Wir gehen, Anordnung Honorare vom 21.6.1971 sowie Richtlinie über die Durchführung von Prüfungen zur Zulassung für frei- und nebenberufliche künstlerische Tätigkeit auf dem Gebiet der Unterhaltungskunst vom 22. September 1972. VuM des MfK 12/1972, S. 90. 29 Burkhard Walter: Pionierzeit oder Eiszeit? Betrachtungen zur Disko-Szene ‘81, in: Unterhaltungskunst – Zeitschrift für Bühne, Podium und Manege 12 (1981) 10, S. 1520. 30 Ebd. S. 17.
210 | T HOMAS W ILKE Grundlehrgang für Disko-Sprecher« nicht nur ein, sondern stufte ihn ein und stellte ihm einen Freistellungsantrag für die Arbeit aus.31 Zum Dritten bekam dieser die notwendige Spielerlaubnis bei der Abteilung Kultur des Rates des Kreises. Die Praxis der Vorgespräche wurde bis zum Ende der 1980er Jahre aufrechterhalten. Bei attestierter Befähigung gab es eine vorläufige Spielerlaubnis, die als amtliches Papier für DJs Anfang der 1970er Jahre noch nicht existierte. Über die Staatliche Spielerlaubnis für Schallplattenunterhalter, umgangssprachlich »Pappe« genannt, kontrollierte der Staat zugleich, wer sich als DJ betätigte.
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Gesetze und Anordnungen bilden als juridische Festlegung von Handlungsspielräumen überindividuelle Kontinuitäten in der Strukturierung eines Gesellschaftssystems. Angesichts des staatlichen Anspruchs, nahezu alle Bereiche des öffentlichen und soziokulturellen Lebens in der DDR bürokratisch zu regulieren, konnten die Behörden keine wild wuchernde Entwicklung von Diskotheken akzeptieren. Eine freie Aushandlung solcher Regelungen zwischen den beteiligten Akteuren entsprach nicht der Wirklichkeit kulturpolitischen Handelns. Die Kulturfunktionäre unterstrichen die gesellschaftliche Relevanz der Diskotheken, indem sie nicht nur die Anzahl der DJs, sondern auch die jährlichen Besucherzahlen als Argument anführten.32 Insoweit konnte eine »Verantwortung der staatlichen Leitungen, den Prozeß der Entwicklung von Diskotheken zu fördern und gesetzlich zu sichern«, auch öffentlich eingefordert werden.33 Die am 15. August 1973 in
31 Zur Einstufung bei Laien- und Profi-Musikern in der DDR vgl. Rauhut: Beat. 32 So der Kultursekretär Hartmut König auf der Kulturkonferenz der FDJ am 21. Oktober 1982 in Leipzig: »Der Hauptanteil der Jugendtanzveranstaltungen wird von 6.000 Amateurdiskotheken gestaltet und nicht selten werden hervorragende Leistungen der einen Moderatoren durch die Niveaulosigkeit anderer in Mißkredit gebracht. [...] Der Umfang dieser Verantwortung erklärt sich bereits aus dem Fakt, daß Diskoveranstaltungen bei uns jährlich 50 Millionen Besucher zählen. Nehmen wir an, daß jeder Diskobesucher nur drei Stunden tanzen und Musik hören geht, so sind das 150 Millionen Stunden. Was passiert in dieser Zeit ästhetisch und ideologisch? Welche Musik gibt da den Ton an?« Zit. nach Mählert/Stephan: Blaue Hemden, S. 220. 33 Vgl. Waltraud Brünnig: Fundgrube für Diskjockeys. Werkstatt »Podium-Diskothek 73« beriet über noch bessere Unterhaltung in den Diskotheken, in: Junge Welt, 29.5.1973, S. 5: »Die Verantwortung der staatlichen Leitungen, den Prozeß der Entwicklung von Diskotheken zu fördern und gesetzlich zu sichern, erhöht sich. Ein
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Kraft getretene Diskoordnung erfasste alle Bereiche, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Diskothek standen. In einer am 24. Mai 1976 ergänzten Anordnung formulierte sie Grundsätze für Disko-Veranstaltungen und beschäftigte sich mit den zu verwendenden Tonträgern, der Programmgestaltung, der Registrierpflicht, der Vergütung und den Kosten, der Versicherung sowie den Strafmaßnahmen bei Zuwiderhandlung. Eine solche Anordnung als normativ verankerter Handlungsrahmen stellte an die Diskotheken den Anspruch, sozialistische Unterhaltungskunst zu sein und sich in das Volkskunstschaffen zu integrieren. An dem Gesetzestext wirkte neben der FDJ auch die Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte (AWA) mit, um durch die Lizenzierung der Konservenmusik die Aufführungsrechte der Künstler zu sichern. Demnach waren die Diskotheken »auf Grund ihres Charakters eine Erweiterung des bestehenden Angebots von Tanz- und Unterhaltungsveranstaltungen und keinesfalls Ersatz bewährter Veranstaltungsformen, bei denen Musik ›lebendig‹ ausgeübt« wurde, wie es in der Präambel hieß.34 Der »Schallplattenunterhalter (SPU)« prägte die Veranstaltung durch die »Vereinigung technischer Musikwiedergabe und Wortdarbietungen«, die den Einsatz vielfältiger künstlerischer Mittel zuließ.35 Der DJ war in Personalunion Programmleiter, Redakteur und Sprecher und »benötigt[e] dazu ein ausreichendes gesellschaftswissenschaftliches Grundwissen, gute Allgemeinbildung, Fachkenntnisse auf den Gebieten der Musik und anderen Kunstgattungen, der Programmgestaltung und Elektroakustik sowie rhetorische Fähigkeiten«.36 Detailliert geregelt war die Zulassung der Tonträger: Alle Schallplatten der DDR-Produktion waren erlaubt, ebenso die der Mitgliedsländer des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und legal in der DDR vertriebene Schallplatten anderer Länder. Gleichfalls zugelassen waren bespielte KassettentonbänSchritt nach vorn ist, daß die Anordnung zur Durchführung von Diskotheken vom Ministerium für Kultur noch im Mai unterzeichnet wird und etwa im Juni/Juli in Kraft tritt. Sie wird endlich Klarheit über die Arbeitsweise der Diskotheken schaffen.« 34 Zit. nach Kanter/Wollenzin: Wir gehen, S. 170. Folgende Zitate direkt aus: Anordnung über Diskothekveranstaltungen – Diskothekordnung – vom 15. August 1973; GBl. I Nr. 38, S. 401 – in der Fassung der Anordnung Nr. 2 über Diskothekveranstaltungen vom 24. Mai 1976; GBl. I Nr. 23, S. 309. 35 Ebd. Bereits mit der Bezeichnung machte man eine eigenständige Entwicklung deutlich. So entstanden Komposita wie Disko-Sprecher, Disko-Kollektiv, Diskomoderator, Platten-Reiter, Plattenunterhalter oder Plattenjockei etc. Gleichwohl fand der Terminus DJ Eingang in den alltäglichen Sprachgebrauch. Vgl. hierzu Wilke: Schallplattenunterhalter, S. 66-68. 36 Anordnung über Diskothekveranstaltungen.
212 | T HOMAS W ILKE der, lizenzierte Tonbänder sowie selbst bespielte Tonbänder bzw. Kassetten.37 Bei Letzteren handelte es sich um den größten Teil der in der Praxis benutzten Tonträger. Sie waren im Vergleich zu Schallplatten oder bespielten Kassetten leichter erhältlich und billiger. Durch Mitschnitte von Radiosendungen kam nur solche Musik auf Bänder, die von den DJs in den Veranstaltungen benötigt wurde. Lediglich zwei Musiksendungen waren offiziell als Mitschnittsendungen deklariert: DT 64 – Podiumdiskothek und DT 64 Metronom, attraktiv war für die meisten DJs nur die erste.38 Andere Rundfunksendungen dienten offiziell der Information und durften nicht für die Wiedergabe bei Diskoveranstaltungen mitgeschnitten werden. Die öffentliche Aufführung der Mitschnitte genehmigte die Anstalt zur Wahrung der Aufführungs- und Vervielfältigungsrechte (AWA). Diese Lizenz kostete 60 Mark pro Halbjahr. Der Schallplattenhandel wurde zur Zusammenarbeit aufgefordert und richtete den DJs in so genannten Disko-Läden bzw. dem Disko-Service in normalen Musikgeschäften entweder ein Fach ein oder sie bekamen mit einer Klubkarte bevorzugt Musik des VEB Deutsche Schallplatten.39 Die Einrichtung derartiger Serviceläden gelang nur eingeschränkt, denn nicht in jedem Plattenladen der DDR war das aktuelle nationale bzw. internationale Schallplattensortiment verfügbar. Um die Versorgung mit aktueller Musik bzw. Neuerscheinungen zu verbessern, wurde »den örtlichen Räten aufgetragen, dafür zu sorgen, daß in Orten, in denen noch keine Disko-Service-Läden bestehen, den registrierten Schallplattenunterhaltern bevorzugt Schallplatten angeboten werden«.40 Diese Forderung blieb eine theoretische, da der VEB Deutsche Schallplatten nicht nachfrageorientiert produzierte. Honorare waren nicht frei verhandelbar. Entsprechend ihrer Leistungsstufe bekamen DJs ein gestaffeltes Honorar, das im Amateurbereich eine Mark höher war als bei den Tanzkapellen.41 Zu diesem Honorar kam noch eine Veranstaltungspauschale jeweils für Technik in Höhe von 30 Mark und für Musik von 15 Mark hinzu. Mit zwei bis drei Auftritten pro Woche brachte es auch ein DJ in 37 Zur Musikproduktion im Popstudio des Berliner Rundfunks vgl. Larkey: Rockradio, S. 84-89. 38 Vgl. Wilke: Disko im Äther. Eine andere Mitschnittsendung nur für den privaten Gebrauch war Duett – Musik für den Rekorder. Vgl. Larkey: Rockradio. 39 1977 gab es republikweit 78 Verkaufseinrichtungen mit dem Disko-Service. Der Bezirk Schwerin verfügte über eine derartige Verkaufsstelle, der Bezirk Dresden führte die Liste mit 13 an. Vgl. das Verzeichnis in: Kanter/Wollenzin: Wir gehen. 40 BStU, Archiv der Außenstelle Chemnitz XX-1274, Bl. 000019. 41 Die Grundstufe A erhielt fünf Mark pro Stunde, die Mittelstufe B 6,50, die Oberstufe C 8,50 und die Sonderstufe S durfte 10,50 Mark pro Stunde berechnen.
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der Grundstufe A zu einem vergleichsweise ansehnlichen Nebenverdienst. Die Vergütung der Profis teilte sich zum einen in ein Grundhonorar zwischen 70 und 140 Mark und ein aufgeschlagenes Leistungshonorar, das sich noch einmal in vier verschiedene Kategorien unterteilte.42 Diese Pauschalbeträge galten für eine reguläre Veranstaltung von bis zu fünf Stunden, jede weitere Stunde galt als eine Überstunde, die der Veranstalter zu zahlen hatte. Auch die Technik wurde bei den Profis mit 40 Mark pro Veranstaltung deutlich höher besoldet, zusätzlich konnten diese für eigene Tonträger monatlich bis zu 200 Mark und bei eigener Wiedergabetechnik bis zu 300 Mark beanspruchen. Die Diskothekenordnung schuf einen umfassenden Kontrollmechanismus, weil DJs ohne die staatlich zugelassene Spielerlaubnis nicht tätig werden durften. Jede öffentliche Veranstaltung musste beim örtlichen Kreispolizeiamt, Abteilung Erlaubniswesen, zehn Tage im Voraus gemeldet werden. Als Leiter der Veranstaltung sollte der DJ nicht »durch sein Verhalten Anlaß zu Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit« geben.43 In der ersten Fassung der Verordnung waren die Vergehen noch mit einem Verweis oder einer Ordnungsstrafe von zehn bis 300 Mark abgetan worden, in der zweiten Fassung vom Mai 1976 wurde die Ordnungsstrafe im Wiederholungsfalle auf bis zu 1.000 Mark erhöht. Ebenso konnte der DJ für eine bestimmte Zeit gesperrt oder ihm die Spielerlaubnis entzogen werden. Die Durchführung der Ordnungsstrafmaßnahmen oblag den zuständigen Mitgliedern der Abteilung Kultur in den Räten des Kreises. Derartige Strafen wurden in den Personalien registriert und konnten in schwereren Fällen die weitere Qualifizierung verhindern. 1976 wurde die Diskothekenordnung überarbeitet und ergänzt. Danach konnten die Mitschnitte der Radiosendungen Podiumdiskothek und Metronom nach ihrer Lizenzierung durch die AWA öffentlich aufgeführt und als Tonträger im Sinne der Diskothekenordnung genutzt werden.44 Weiterhin wurden Veranstalter und DJs gemeinsam verpflichtet, »dafür zu sorgen, daß die Lautstärke in einer guten Klangqualität, ohne unerträgliche Lärmbelästigung reguliert wird«. Hier wird ein Qualitätsanspruch rechtlich fixiert, ohne mögliche Lösungswege aufzuzeigen. Noch 1986 konstatierte der Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt in seiner Einschätzung zur Entwicklung der Diskotheken, dass zwar »in der Bewertung der Ergebnisse Fortschritte sichtbar« werden, es jedoch »nach wie vor undiffe42 Im Grundhonorar A durften 70 bis 140 Mark berechnet werden, im Leistungshonorar AB 90 bis 180, im Leistungshonorar B waren es 140 bis 220, im Leistungshonorar BC 180 bis 270 und an der Spitze im Leistungshonorar C 220 bis 380 Mark. 43 Kanter/Wollenzin: Wir gehen, S. 189. 44 Vgl. Eisenbarth, Klaus: Zusammenarbeit in der Praxis bewährt. Tonträger im Sinne der Diskothekordnung, in: Melodie & Rhythmus 21 (1977) 5, S. 20.
214 | T HOMAS W ILKE renzierten Einsatz von Diskotheken in großen Sälen gibt, der zur Minderung der künstlerischen Qualität führt«.45 1986 schrieb der Profi-DJ Wolf-Rüdiger Weber in der Zeitschrift Unterhaltungskunst, dass die Diskothekenregelung längst vom Leben überholt sei und dies auch der Gesetzgeber erkannt habe. Deshalb säßen bereits seit 1984 Fachberater, Juristen und DJs an einer Überarbeitung, die aber nicht mehr zustande kam.
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Die Diskotheken als »kulturelle Erscheinung in der sozialistischen Gesellschaft« betrachtete das Ministerium für Kultur im Zusammenhang mit der besseren Befriedigung der Bedürfnisse und Interessen der Werktätigen und der »gesamten sozialistischen Gesellschaft«, und das nicht nur zu Beginn der Diskothekenentwicklung, sondern noch 1989.46 Um diesen allumfassenden kulturpolitischen Anspruch umzusetzen, schuf man Strukturen, die an bestehende diskothekenunabhängige Institutionen anschlossen. Nach 1973 entstand eine Neuordnung, die auf Meldewesen, Ausbildung, Prüfung und Verpflichtung zur Kollektivarbeit beruhte. In diesem Prozess griff man auf Erfahrungen aus verwandten Bereichen der Unterhaltungskunst zurück, etwa der Tanzmusik. Bis zu diesem Zeitpunkt war in den Städten lediglich die Abteilung des Stadtkabinetts für Kultur für DJs verantwortlich. Es wurden nun städteübergreifend Arbeitsgemeinschaften (AGs) gegründet, die dem jeweiligen Kreis- bzw. Bezirkskabinett für Kultur angehörten. Die Aktivität der DJs in der Arbeitsgemeinschaft war im Prinzip zwar eine ehrenamtliche Tätigkeit, erschien jedoch als Pflicht, wenn das AG-Engagement bei einer etwaigen höheren Einstufung bewertet wurde. Andere Genres der Unterhaltungskunst praktizierten schon länger diese Form der regionalen und überregional steuernden Zusammenarbeit. Die AGs strukturierten sich nach der territorialen Aufgliederung der DDR in Kreise und Bezirke. Nach Helmut Hahn sollten die Kreis- und Bezirksarbeitsgemeinschaften ein »geistiges Zentrum des Erfahrungsaustausches und der ständigen Weiterbildung« sein, um die 1975 »noch vorhandene Isolierung der Diskosprecher«47 zu überwinden. Die Effekte waren ambivalent: Im Sinne der gesellschaftlichen Auffassung von Kollektiv und Gemeinschaft wollte man keine Einzelkämpfer, die Organisation in AGs erforderte eine Einordnung einzelner DJs in 45 BStU, Archiv der Außenstelle Chemnitz XX-1274, Bl. 000019. 46 Lehmann: Beitrag, S. 68. 47 Hahn, Helmut: Erfahrungsaustausch mit Diskosprechern, in: Melodie & Rhythmus 19 (1975) 8, S. 10.
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die Gruppe. Eine Kooperation ermöglichte auf lokaler Ebene Absprachen bei Problemen mit Veranstaltungen, Technik und dergleichen mehr, hatte also auch eine praktische Alltagsseite. Andererseits bewertete das Publikum in der konkreten Veranstaltung stets den DJ vor Ort und nicht die AG. Eine Kreisarbeitsgemeinschaft (KAG) erfasste jeweils die in ihrer Stadt und ihrem Kreis spielenden DJs. In Berlin gab es KAG in den Stadtbezirken, größere Städte hatten Stadtarbeitsgemeinschaften. Diese KAG organisierten regelmäßige – zumeist monatliche – Treffen, bei denen Aktuelles, geplante Projekte, Probleme mit Technik, Musik, Veranstaltungen etc. besprochen wurden. Sie waren grundsätzlich für alle DJs verpflichtend, die Handhabung variierte jedoch. In dieser Beziehung war die KAG Diskotheken Leipzig sehr engagiert: Sie drohte, Lizenzen für ungültig zu erklären oder löschen zu lassen, wenn DJs zu Veranstaltungen der AG nicht erschienen. Die Einstellung der KAG Leipzig wurde in der Berichterstattung als beispielhaft herausgestellt.48 Ebenso organisierte die KAG Werkstätten und Leistungsvergleiche auf Stadt- und Kreisebene, kontrollierte und prüfte die Einstufungsveranstaltungen.49 Gut arbeitende KAG sammelten für die nachwachsenden DJ-Generationen Materialien und kooperierten mit der hierarchisch übergeordneten Bezirksarbeitsgemeinschaft Diskotheken (BAG). Die BAG mit Sitz in den Bezirksstädten arbeitete ähnlich wie die KAG. Die übergeordnete Instanz war die Zentrale Arbeitsgemeinschaft Diskothek (ZAG) und stellte das höchste Gremium für die Amateur-DJs dar. 1973 gegründet und ab 1978 unter der Leitung von Stefan Lasch, war es in Leipzig im Zentralhaus für Kulturarbeit der DDR angesiedelt, das wiederum dem Ministerium für Kultur direkt unterstellt war. Die ZAG war ein ehrenamtlich tätiges Gremium und hatte kein politisches Mitbestimmungsrecht. Sie setzte sich aus Diskjockeys, Vertretern gesellschaftlicher Organisationen, Mitarbeitern kultureller Einrichtungen, Fachjournalisten und Unterhaltungskünstlern zusammen und nahm republikweit die Prüfungen und Einstufungen ab. Die ZAG versuchte über Jahre hinweg, einheitliche Bewertungskriterien für die Prüfungen zu erarbeiten. Sie organisierte republikweit die Leistungsvergleiche und Werkstätten für die Amateure. Ebenso veranstaltete sie Lehrgänge für Dozenten im Diskogenre, um das erklärte Hauptziel, die »Ausprägung der Persönlichkeit eines Diskomoderators«, auch auf programmatischer Ebene weiter zu verfolgen.50 Jedes ZAG-Mitglied wurde einzeln berufen und war ab 1976 verantwortlich für einen Bezirk der DDR. Im Rahmen dieser Quasi-Patenschaft nahm jedes Mitglied in seinem Bezirk zusätzlich ein- bis zweimal im Jahr an einer 48 Vgl. Stefan Lasch: Disko-Report 78, in: Melodie & Rhythmus 22 (1978) 9, S. 2-3. 49 Vgl. Wilke: Diskotheken. 50 Walter: Pionierzeit, S. 17.
216 | T HOMAS W ILKE Kreiswerkstatt oder einem Leistungsvergleich teil. Dies wurde von dem Gedanken getragen, eigene Erfahrungen an andere DJs zu vermitteln, indem es um »eine Erhöhung der künstlerischen Qualität [ging und] nicht um das Aufstocken des Disko-Zahlenturmes«, um schließlich herauszufinden: »[W]er schafft es und wer nicht. Feinfühlig und behutsam gilt es dabei vorzugehen, aber konsequent – gegenüber dem Könner, dem Nichtkönner, gegenüber dem Willigen, gegenüber den Unwilligen.«51 Ab 1976 entstand an der Zentralen Volkskunstschule beim Zentralhaus für Kulturarbeit in Leipzig die Zentrale Förderklasse Diskothek. Diese hatte die Aufgabe, talentierte und begabte Diskjockeys der Sonderstufe für den Profi zu qualifizieren. Die Weiterbildung dauerte drei Jahre mit einem jährlich stattfindenden 10-Tage-Lehrgang, für den die Sonderstufen-DJs delegiert werden mussten: »Und in diesem Jahr sah der Lehrplan nicht nur Vorträge und gemeinsame Disko- und Theaterbesuche vor, sondern beinhaltete auch praktische Arbeit. [...] Die Diskotheken kritisierten sich untereinander und ein Regisseur vom Leipziger Theater fungierte als Fachberater und Ratgeber.«52 Hier stützte man sich auf diskounabhängige Erfolgskriterien wie Bühnenauftreten, Rhetorik oder Körpersprache. Musikregie, Musikanalyse, Programmdramaturgie, Kommunikation in der Diskothek, Arbeiten mit journalistischen Formen und psychologische Aspekte beim Umgang mit dem Publikum – all dies waren Inhalte der Weiterbildung in der Zentralen Förderklasse. Ebenso thematisierte man aktuelle Probleme der Kulturpolitik und Kunstkritik, von Recht und Gesetz, Technik, Sprecherziehung, Schauspieltraining und Werkstattarbeit. Das Prinzip der Förderklasse hatte aus Sicht von Stefan Lasch Modellcharakter und wurde anderen Bezirken zur Übernahme empfohlen. Besonders hob Lasch die Praxisbezogenheit hervor, und dass man aus der Förderklasse wieder Referenten gewann. Diese sollten ihr Wissen in die Kreise und Gemeinden tragen.53 Mit dieser zusätzlichen Ausbildung stellten diese DJs gewissermaßen die Kaderreserve für die Berufsdiskjockeys dar und repräsentierten bei Einsätzen im sozialistischen Ausland die Diskoszene der DDR. Bis 1976 konnten die Profis außerhalb eines Qualifikationssystems, wie es für die Amateure seit 1973 zwingend war, über einen Antrag und eine Prüfungsveranstaltung den Berufsausweis erwerben. Ab 1976 war der Weg zum Profi nur 51 Ebd. 52 Podiumdiskothek 140 vom 8. März 1979. Schriftgutbestand DT 64, A004-0204/0086. Zur Delegation waren alle Bezirkskabinette für Kulturarbeit berechtigt, die SDAG Wismut, die Nationale Volksarmee und das Haus der sorbischen Volkskunst. 53 Podiumdiskothek 62 vom 29. Januar 1976. Schriftgutbestand DT 64, A004-0204/0060.
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noch über die Amateurlaufbahn möglich. Angeleitet wurden die Profis durch die Generaldirektion des Komitees für Unterhaltungskunst, dem eine ehrenamtliche Arbeitsgruppe von Profis beigeordnet war. Seit 1981 war ein Arbeitskreis Diskotheken ins Komitee für Unterhaltungskunst integriert, der das Pendant zur ZAG der Amatuere darstellte.54 Er wollte die Profis vereinen und Erfahrungen an die Amateure weitergeben. So konnten und sollten sich alle frei- und nebenberuflichen DJs für den Arbeitskreis bewerben. Über den Antrag zur Mitgliedschaft fasste dann der Arbeitskreis einen kollektiven Beschluss. Bei einer Höchstzahl von nur 120 Profis im Jahr 1986 – darunter zwei Frauen – war das Zugehörigkeitsverfahren elitär. Man erkennt das Bemühen um eine wertende semantische Differenzierung, indem »eine klare Trennung zwischen dem Diskjockey und dem Schallplattenunterhalter zugunsten einer höheren Qualität der Programmgestaltung« vorzunehmen sei, um nicht »die Falschen zu Leistungen zu bringen, die gar nicht nötig sind. [...] Viele nennen sich heute noch Diskjockeys (und das Schlimme ist, sie werden auch so bezahlt!), die eigentlich nichts weiter als Beschaller oder Plattenaufleger sind. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Auch diese Kollegen sind nötig, wenn wir nur an die vielen kleinen Gaststätten und Bars denken, die bespielt werden müssen.«55
Angedacht war seitens des Arbeitskreises eine engere Zusammenarbeit mit Betrieben, deren Erzeugnisse unmittelbar in Verbindung mit dem DJ gebracht wurden, wie zum Beispiel die des VEB Deutsche Schallplatten oder des VEB Rundfunk- und Fernsehtechnik Staßfurt. Dass die offizielle Seite die Bestrebungen des Arbeitskreises letztlich auch kulturpolitisch ernst nahm, zeigte sich im Zuge der Umstrukturierung des Komitees für Unterhaltungskunst, als der Arbeitskreis Diskothek 1984 den Rang einer Sektion zugesprochen bekam. Der Status »Sektion« war die Spitze, die ein Genre des sozialistischen Volkskunstschaffens hinsichtlich seiner gesellschaftspolitischen Akzeptanz in der Kulturhierarchie der DDR erreichen konnte.
54 Am 27. April 1981 gab der Generaldirektor beim Komitee für Unterhaltungskunst, Dieter Gluschke, die Gründung des Arbeitskreises Diskothek bekannt: »Der Arbeitskreis ist, wie alle anderen Arbeitskreise auch, ein beratendes Organ für alle Institutionen, die sich mit der Unterhaltungskunst im Allgemeinen und der Diskothek im Besonderen befassen.« Vgl. Hartmut Kanter: Geschafft! Die Diskotheker, in: Unterhaltungskunst – Zeitschrift für Bühne, Podium und Manege 12 (1981) 8, S. 5-7. 55 Ebd. S. 6.
218 | T HOMAS W ILKE Abbildung 1: Arbeitsplan der KAG Leipzig für 1989
Quelle: BStU, Archiv der Zentralstelle, MfS SED-KL4867, Bl. 42 (Auszug).
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F AZIT In dem Diskogesetz wurde eine Institutionalisierung der DJs juristisch verankert. Ausgehend von der zentralistischen Gesellschaftsstruktur der DDR erschien es den kulturpolitischen Akteuren und DJs geradezu selbstverständlich, dass eine solche zentrale Organisationsstruktur auch für die Disko anzuwenden sei. Diskospezifische Organisationsformen wurden in bereits bestehende gesellschaftliche Strukturen eingebettet. Damit entstand ein Wechselverhältnis zwischen Diskotheken und Gesellschaft, die sich in ihren Ansprüchen und deren – zum Teil eingeschränkten – Umsetzung gegenseitig stützten. Die Hierarchie bei den Amateuren von der KAG über die BAG zur ZAG festigte das gesetzlich geregelte System der Aus- und Weiterbildung sowie der Prüfung und ermöglichte es, rechtzeitig Talente ausfindig zu machen, die dann in einer Zentralen Förderklasse als mögliche Kaderreserve eine Extra-Ausbildung erhielten. Die Entwicklung der Diskotheken erhielt durch diese Institutionalisierung – anders als in der westlichen nachfrage- und angebotsorientierten Diskokultur – einen ungemein starken gesellschaftlichen Rückhalt. Mit den AGs fand man Organisationsformen, die durch diesen institutionellen Rückhalt eine umfangreichere Förderung und gesellschaftliche Verankerung erfuhren, als das bei einer Vereinzelung der DJs möglich gewesen wäre. Mit der Schaffung diskothekenspezifischer Strukturen wurden gleichfalls Mechanismen der Kontrolle und der Lenkung etabliert, die im Diskothekenalltag und auf der übergeordneten organisatorisch-kulturpolitischen Ebene Bestand hatten und Wirkung zeigten. Diese zeigt sich unter anderem in der Aus- und Weiterbildung, den abzulegenden Prüfungen, den einengenden Vorgaben in der Musikauswahl sowie hinsichtlich der geforderten und geförderten Programmgestaltung. Dabei blieben Provisorien in der technischen und räumlichen Ausstattung die Regel, die Kompensation von Mängeln gehörte zum strategischen Denken und Handeln. Ebenso spiegelte sich der allseits propagierte sozialistische Wettbewerb in den regelmäßig stattfindenden Leistungsvergleichen und Werkstätten mit Vorbildcharakter wider, die das Niveau definieren sollten. Diese Strukturen, Programme und Förderungen lösten sich nach 1989 zugunsten einer marktorientierten Ausrichtung von Diskotheken und ihrer Akteure nahezu vollständig auf.
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L ITERATUR Brewster, Bill/Frank Broughton: Last night a DJ saved my life. The history of the disc jockey, London: Headline 2006. Ege, Moritz: »Diskotheken in der DDR. Populäre Kultur zwischen Instituierung und Kontrolle«, in: Volkskunde in Sachsen 21 (2009), S. 115-196. Franz, Hartmut u. a. (Hg.): »Wie hinterm Preßlufthammer nur unheimlich schöner«. Discokultur in Jugendhäusern, Bensheim: päd. extra 1980. Hansberger, Joachim: Der Diskjockey, in: Siegmund Helms (Hg.): Schlager in Deutschland. Beiträge zur Analyse der Popularmusik und des Musikmarktes, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1972, S. 277–294. Hansen, Sigrid: Die Diskothek als gesamtgesellschaftliches Phänomen und ihre Möglichkeiten für die Entwicklung der Musikalität Jugendlicher, Halle 1984. Diss. A Hanson, Kitty: Disco Fieber. Alles über die Disco-Welle. Mit vielen Fotos!, München: Heyne 1979. Hickethier, Knut: Medienkultur, in: Günter Bentele/Hans-Bernd Brosius/Otfried Jarren (Hg.): Öffentliche Kommunikation. Handbuch Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 435-457. Kanter, Hartmut/Karl-Heinz Wollenzin: Wir gehen in die Disko, Berlin (Ost): Verlag Neues Leben 1977. Kanter, Hartmut/Stefan Lasch: Diskotheken – aber wie? Erfahrungsmaterial für Schallplattenunterhalter und Leitungen der FDJ zur Einrichtung und Durchführung von Diskotheken, Leipzig: Zentralhaus für Kulturarbeit 1975. Larkey, Edward: Rotes Rockradio. Populäre Musik und die Kommerzialisierung des DDR-Rundfunks, Berlin/Münster: Lit 2007. Lehmann, Eva: Der Beitrag der Diskothek zur Entwicklung der kulturellen Bedürfnisse der Arbeiterjugend in der DDR, Leipzig 1983. Diss. Leitner, Olaf: Rockszene DDR. Aspekte einer Massenkultur im Sozialismus, Reinbek: Rowohlt 1983. Mählert, Ulrich/Gert-Rüdiger Stephan: Blaue Hemden – Rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen: Leske + Budrich 1996. Mayer, Hugo: Discjockey, Frankfurt a. M.: Zimmermann 1979. Mühlenhöver, Georg: Phänomen Disco. Geschichte der Clubkultur und der Popularmusik, Köln: Dohr 1999. Passman, Arnold: The Deejays. How the tribal chieftains of radio got to where they’re at, New York: Macmillan 1971.
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Erich Böttcher: Sexpresso bitte!/Erich im Café Helen. Party SMP 11009, 1968 [LP].
Lieder von Frauen: Von heute an gibt’s mein Programm. Von Frauengruppen aus München, Frankfurt und Darmstadt. Verlag Frauenoffensive, Trikont FO 1/V5, 1976 [LP].
»Pop is not popular« Der Notting Hill Carnival (1970er bis 1990er Jahre) S EBASTIAN K LÖSS
Bunte, meterhohe Kostüme, laute Musik, karibisches Essen und Hunderttausende Feiernder auf den Straßen – das ist der Londoner Notting Hill Carnival heute. Häufig gilt er als Inbegriff eines multikulturellen Großbritanniens, das sich jährlich während der August Bank Holiday selbst feiert. Bei seinem Anfang – oder besser: bei seinen Anfängen – war das noch anders. Der erste Anfang liegt im Jahr 1959, als die aus Trinidad stammende Claudia Jones in London ein karibisches Hallenfest veranstaltete. Es stand im Kontext der Einwanderung aus der britischen Karibik ab Ende der 1940er Jahre. Obwohl diese Einwanderer de jure Briten waren und das britische Mutterland zu kennen glaubten, war ihre Ankunft mit vielfältigen Enttäuschungen und Anpassungsproblemen verbunden. Sehr deutlich offenbarte sich das in den Unruhen in Notting Hill 1958, die von den Zeitgenossen als »race clash«, »racial riots« oder »race riots« tituliert wurden.1 Nachdem es während des ganzen Sommers in West London einzelne Zwischenfälle gegeben hatte, spitzte sich die Lage zwischen dem 23. August und dem 2. September zu. Zeitweise zogen bis zu 400 weiße Rassisten durch die Straßen Notting Hills und griffen Afrokariben an. Eine Wende erfuhren die Auseinandersetzungen am Abend des 1. Septembers, als sich etwa 300 Afrokariben mit Stöcken, Messern, Fleischerbeilen und Eisenstangen bewaffnet in zwei Häusern in Blenheim Crescent verschanzten. So ausgerüstet gelang es ihnen, einen weiteren Angriff abzuwehren. Weil nun auch die Polizei, die während der ersten 1
Etwa: Dozens hurt in racial clash, in: The Times, 25. August 1958, S. 8; Government warning on race riots, in: The Times, 4. September 1958, S. 10; Francis Williams: Fleet Street, in: New Statesman, 6. September 1958, S. 265. Zur Etikettierung als »Rassenunruhen« in der Presse vgl. auch Schönwälder: Einwanderung, S. 58.
226 | S EBASTIAN K LÖSS Tage der Unruhen noch überfordert schien, entschiedener eingriff, ebbten die Zwischenfälle ab.2 Da sich die Afrokariben letztlich erfolgreich gegen die weißen Rassisten gewehrt hatten, luden sie die Unruhen ab den späten 1960er Jahren mit großer Bedeutung auf. Sie sahen in ihnen nun eine identitäre Zäsur, die aus Einwanderern, die sich für Briten gehalten hatten, selbstbewusste Schwarze und aus einer heterogenen Einwanderergruppe eine starke afrokaribische Community geformt habe. Außerdem wurde durch die Unruhen der Stadtteil Notting Hill für Londons Afrokariben zentral, galt er doch fortan als derjenige Ort, an dem sie sich erstmals erfolgreich gegen weiße Rassisten gewehrt hatten. Wenn auch diese Aufwertung der Ereignisse erst in den späten 1960er Jahren erfolgte, so hatten sie doch schon zuvor das afrokaribische Selbstverständnis verändert. Kulturell besannen sich die Afrokariben erstmals stärker auf die Karibik. Eine Folge davon war Claudia Jones’ karibisches Hallenfest, das bis 1964 gefeiert wurde. Der zweite Beginn des Notting Hill Carnivals liegt im Jahr 1966, als die weiße Sozialarbeiterin Rhauné Laslett ein Straßenfest organisierte. Mit einem karibischen Carnival hatte es nur insofern etwas gemein, als sich an ihm auch afrokaribische Bewohner beteiligten und auf Steel Pans spielten. 1973 schließlich – das war der dritte Anfang – wurde Leslie Palmer, der aus Trinidad stammte, Organisator des Festes. Er richtete es stärker an der karibischen Tradition aus, wobei er sowohl auf den trinidadischen Carnival mit seinen Kostümen, Calypsos und Steel Pans zurückgriff als auch auf Jamaika mit seinen Sound Systems und Reggae. Erst jetzt wurde aus dem Nachbarschaftsfest ein Ereignis, das zunehmend überregionale Ausmaße erreichte und an dem 1975 bereits etwa 250.000 Menschen teilnahmen. Erst jetzt entwickelte es sich zu einem zentralen Ereignis, dem die Afrokariben in London eine Bedeutung für ihre Identität beimaßen. Als der Carnival wuchs, wurde er vor neue Probleme gestellt. Am deutlichsten sichtbar wurde das in den Straßenschlachten, die sich schwarze Jugendliche 1976 und 1977 mit Polizisten lieferten. Etwa zeitgleich entwickelte sich eine interne Konkurrenz. Von 1977 bis 1982 standen sich mit dem Carnival Development Committee und dem Carnival and Arts Committee zwei rivalisierende Organisationskomitees gegenüber. Diese Konflikte kamen in jährlichen Debatten für und wider den Carnival zum Ausdruck.3 2
Zu den Unruhen vgl. Pilkington: Beyond; Klöß: ›Now we have the problem‹.
3
Zur Geschichte des Notting Hill Carnivals vgl. Klöß: Notting Hill Carnival; Cohen: Masquerade. Cohen ist besonders in der afrokaribischen Community umstritten, da er den Beitrag der Afrokariben schmälere, vgl. David Roussel-Milner: False history of Notting Hill Carnival. A review of Professor Abner Cohen’s masquerade politics, in: Association for a People’s Carnival Newsletter (August 1996), S. 8-9, 11.
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Um solche Debatten wird es nun gehen, wobei zu fragen ist, welche Rolle Pop in ihnen spielte und inwiefern der Notting Hill Carnival von den Zeitgenossen als Pop oder als Nicht-Pop bezeichnet wurde. Denn darüber gingen die Meinungen auseinander. Eine Auffassung war: »[I]t’s not a carnival, more a pop festival«.4 Eine dazu konträre: »The Notting Hill Carnival is an occasion for the refurbishment of our identity with our Caribbean roots«.5 Als ein Popfestival bezeichnete das Fest 1975 Helena Lennon, eine 36 Jahre alte Mutter zweier Kinder, die als Alteingesessene in Notting Hill lebte. Von einem Carnival mit großer Bedeutung für die eigene Identität hingegen sprach 1978 der aus Barbados stammende Louis Chase, der damals das Fest maßgeblich mitorganisierte. Im Folgenden wird analysiert, warum ein und dasselbe Fest für manche Akteure in den 1970er, 1980er und frühen 1990er Jahren Pop war und für andere dezidiert nicht. Es wird zu zeigen sein, dass der Pop-Begriff im Kontext des Notting Hill Carnivals negativ besetzt war. Pop diente – so sei als These formuliert – als Folie, auf der man seine soziale Ordnung und Identität ex negativo definierte. Indem aufgezeigt wird, wie konkrete Akteure zu einer bestimmten Zeit mit dem Begriff Pop operierten, soll dieser schillernde Begriff historisch eingegrenzt werden. Der vorliegende Beitrag lehnt sich dabei an Thomas Heckens Vorgehen an, der untersucht hat, welche Konzepte von 1955 bis 2009 unter Pop verhandelt wurden.6 Anders als bei Hecken wird es aber nicht um die Elitendiskurse von Kritikern, Feuilletonisten und Intellektuellen gehen. Ziel ist vielmehr eine Begriffsgeschichte von unten. Daher wird analysiert, wie Bewohner Notting Hills den Begriff Pop zeitgenössisch mit Bedeutung füllten, was sie mit ihm assoziierten, wie sie mit ihm operierten und welchen Stellenwert sie ihm für ihre Identität beimaßen. Denn obwohl in der Wissenschaft die Identitäten von WirGruppen mit dem Politologen Benedict Anderson selbstverständlich als »imagined communities«7 aufgefasst werden, ist das Verständnis der untersuchten Akteure häufig ein ganz anderes. Sie sprechen und handeln so, als ob es einen identitären Wesenskern gäbe, der ihr Sein bestimmt.8 Nicht selten suchen sie in der Vergangenheit nach den Wurzeln ihres in der Gegenwart »verschütteten« Wesens. Diese Suche nach der »wahren« Identität spielte auch für die am Notting Hill Carnival beteiligten Afrokariben eine zentrale Rolle. Treffend hat der
4
Legal action threatened, in: West London Observer, 5. Februar 1976, S. 10.
5
Chase: Street, S. 22.
6
Hecken: Pop.
7
Anderson: Imagined communities.
8
Das stellen fest: Gilroy: Black Atlantic, S. 102; Brubaker: Beyond, hier S. 1, 32-33.
228 | S EBASTIAN K LÖSS afrokaribische Kulturwissenschaftler Stuart Hall sie als »imaginative rediscovery« bezeichnet.9
E IN P OPFESTIVAL : D AS V ERHÄLTNIS ZUM C ARNIVAL
DER
A NWOHNER
Die bereits zitierte Helena Lennon war nicht die Einzige, die Mitte der 1970er Jahre den Notting Hill Carnival mit Pop verband und daher ablehnte. Als der Carnival wuchs und in seinem Charakter karibischer wurde, rief er zunehmend Widerstand hervor. Zu einem ersten Stein des Anstoßes wurden die großen Sound Systems, die Reggae spielten. Angesichts dessen formulierte ein Anwohner: »Pure pop-festival, record promoting stuff.«10 Für ihn hatte das Geschehen nichts mit traditioneller karibischer Kultur zu tun. Dies ist ein erster Grund, warum einige Bewohner North Kensingtons den Carnival als Popfestival wahrnahmen und ablehnten: Es lag an Art und Lautstärke der Musik. Über zwei Tage hinweg werde die Gegend komplett mit Musik beschallt, die durch Verstärker gejagt und über riesige Lautsprecher verbreitet werde. Insbesondere der Hinweis auf »amplifiers«, also Verstärker, findet sich wiederholt, wenn der Carnival als Popfestival bezeichnet wurde. Offenbar wurde elektrisch verstärkte Musik automatisch mit einem Popfestival gleichgesetzt – und man fühlte sich durch dieses Festival belagert.11 Ein zweiter Grund, warum einige im Notting Hill Carnival ein Popfestival sahen, war das Verhalten der Menschen, die daran teilnahmen. Männer seien in Vorgärten geklettert und hätten dort uriniert, Paare hätten in Vorgärten Sex gehabt. Nach dem Fest seien überall Müll, Urin und Exkremente gewesen.12 All das waren Begleiterscheinungen, wie man sie von Popfestivals kannte oder zu
9
Hall: Cultural, S. 393. Zum Phänomen der Suche nach den eigenen Wurzeln vgl. auch Burke: Eleganz, S. 76; Gilroy: Black Atlantic, S. 112.
10 Resident: [Leserbrief], in: Kensington News and Post, 9. April 1976, S. 4. 11 »Amplifiers« bzw. »amplified music« werden z. B. erwähnt von Graham Smith: Residents rap Carnival ›con‹, in: West London Observer, 13. September 1974, S. 1; Carnival row, in: Kensington News and Post, 5. September 1975, S. 5; Sue Woodman: Carnival gets its marching orders, in: Kensington News and Post, 6. Februar 1976, S. 1. 12 Z. B. Graham Smith: Residents rap Carnival ›con‹, in: West London Observer, 13. September 1974, S. 1; und die Leserbriefe von D. Ford in: Kensington News and Post, 21. November 1975, S. 46; M. Freeman: Carnival makes us second-class citizens, in: Kensington News and Post, 6. August 1976, S. 4.
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kennen meinte, die nun aber wortwörtlich vor der eigenen Haustür stattfanden. Außerdem hätte das Fest »as all pop festivals« allerlei Gesindel, Diebe und Drogenhändler angezogen.13 Mitunter erhielten solche Kategorisierungen der Teilnehmer einen rassistischen Unterton, etwa wenn eine Anwohnerin in einem Brief an die örtliche Polizei ihre Ressentiments gegenüber Schwarzen und Pop verknüpfte: »I will never forget this dreadful night-mare of misery and tension, caused by the intolerable non-stop pop-groups and steel bands, the stench of urine and being called a white b...... by black people drunk with the feeling of power at being allowed to run riot on our streets with no restriction whatsoever.«14
Der dritte Vorwurf gegen das Fest lautete: Kommerz. Ein Pfarrer bedauerte ausdrücklich, dass der ehemals kleine, lokale Carnival zu einem »national happening, with commercial overtones« geworden sei.15 Die Polizei sah das ähnlich. Sie bilanzierte Ende 1975, Palmer sei es mit dem Fest nur darum gegangen, möglichst viele Verkaufsstände anzuziehen, um von diesen je zehn Pfund einzutreiben. Die Straßen als Veranstaltungsort seien lediglich deshalb gewählt worden, um die Kosten des rein kommerziellen Ereignisses auf die Allgemeinheit abzuwälzen.16 Die Einschätzung, das Fest sei nun kommerziell geworden, bedeutete im Umkehrschluss, »that its cultural value is almost nil«.17 Das Treiben in Notting Hill sei »no more than a mere pop-concert hiding behind the title of a ›Carni-
13 Roy Kerridge: Yes, yes, do stop the carnival, in: The Daily Telegraph, 2. September 1987, S. 11; vgl. auch D. Ford: [Leserbrief], in: Kensington News and Post, 21. November 1975, S. 46; Carnival 1977, in: The Golborne, 27. Mai 1977, S. 2. 14 D. Ford an Chief Superintendent R. Paterson (86E) (04.02.1976), The National Archives (TNA), MEPO 2/10891. Ford sprach außerdem von »muggers« – eine damals gängige Bezeichnung für schwarze Räuber, dies.: [Leserbrief], in: Kensington News and Post, 21. November 1975, S. 46. Zur zeitgenössischen Bedeutung von »mugging« vgl. Hall u. a.: Policing. 15 Anthony B. Andrews: Notting Hill Carnival (1975), Notting Hill Carnival, London Metropolitan Archives (LMA), LMA/4462/P/01/048/A, S. 1. 16 Vgl. Notting Hill Carnival. Meeting held on 14th November, 1975 Office of D. A. C. ›A‹ (Ops.) (81A) (14.11.1975), TNA, MEPO 2/10891, S. 1-2; Chief Superintendent R. Paterson an Town Clerk R. L. Stillwell. Notting Hill Carnival (83B) (25.11.1975), TNA, MEPO 2/10891, S. 3. 17 Ebd.
230 | S EBASTIAN K LÖSS val‹«.18 Alles Gerede der Organisatoren von einem Carnival diene ausschließlich dazu, das Popkonzert weiter in den Straßen Notting Hills veranstalten zu dürfen. Aufschlussreich ist hier auch die Formulierung »no more than a mere pop concert«.19 Pop stand auf der Werteskala ganz unten.20 Um die Ablehnung des vermeintlichen Popfestivals zu verstehen, muss man einen Blick auf die Geschichte des Stadtteils und des Carnivals werfen: Beide schienen eine Verbindung mit Pop nahezulegen. Der Carnival war nämlich keineswegs das erste Ereignis in Notting Hill, das Anwohner Mitte der 1970er Jahre als Pop ablehnten. Genau dieselben Bewohner, die gegen den Carnival opponierten – primär Bewohner der Straßen Cambridge Gardens und Oxford Gardens –, hatten sich zuvor schon gegen das Westway Theatre gewehrt und die Cambridge Gardens Tenants Association gegründet. Das Westway Theatre war eine Open-Air-Bühne, die an der Kreuzung von Portobello Road und Cambridge Gardens unter einer auf Stelzen errichteten Autobahn lag. Anfang der 1970er Jahre war sie als ein Ort geplant worden, an dem Künstler und Musiker aus der Gegend ihr Können zeigen sollten. Der Streit entbrannte, als dort nicht nur Theater und Kleinkunst gezeigt wurden, sondern auch Pop- und Rockgruppen auftraten, zu denen teils 1.000 Zuschauer kamen. Gegen solche Konzerte mit ihrer »amplified music« protestierten die Anwohner.21 Einerseits wegen des Lärms wenige Meter neben ihren Häusern, andererseits wegen all der unerwünschten Gestalten – von Hippies über Touristen bis hin zu Drogenabhängigen –, die nun in die Gegend kämen.22 In der Tat war diese Location damals beliebt: Beispielsweise spielte Hawkwind 1971 dort, im Beiheft zum Album X In Search of Space sind Fotos davon enthalten.23 Diverse Musiker lebten und spielten in Notting Hill, ließen sich dort für ihre Plattencover fotografieren oder nahmen in den Studios des Labels Island 18 M. Freeman: [Leserbrief] Carnival makes us second-class citizens, in: Kensington News and Post, 6. August 1976, S. 4. 19 Ebd., Hervorhebung S. K. 20 Es hieß auch, man müsse das Fest verbessern, damit es »not just a pop festival« sei. Vgl. Carnival 1977, in: The Golborne, 27. Mai 1977, S. 2. 21 … and residents protest over noise, in: The New Golborne, 1. September 1972, S. 1; Report of the Voluntary Organisations Liaison Committee, in: The Royal Borough of Kensington & Chelsea. Minutes of Proceedings, 4. Februar 1976, S. 41-42. Von »amplified pop groups« wird gesprochen in McKee, Maurice: When ›one man’s culture is another man’s crap‹, in: Kensington Post, 7. Juli 1972, S. 38-39, hier S. 39. 22 Vgl. Pop is not popular (with the neighbours), in: The Kensington News and West London Times, 24. September 1971, S. 1. 23 Hawkwind: X In Search of Space.
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Records Platten auf: von den Beatles über die Rolling Stones, die Beach Boys, Pink Floyd, Quintessence, Led Zeppelin, Bob Marley bis hin zu Bono, Phil Collins, Duran Duran, Sting und George Michael. Unmittelbar mit dem Londoner Stadtteil verbunden war insbesondere die Punkrock-Band The Clash. Deren Sänger und Bassist Paul Simonon war dort zur Schule gegangen, die Band thematisierte in ihren Songtexten wiederholt die Gegend, in Corner Soul, Let’s Go Crazy sowie The Street Parade auf dem Album Sandinista! sogar den Notting Hill Carnival.24 Auch die erste Single von The Clash, White Riot, stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Carnival.25 Sie verarbeitete die Zusammenstöße zwischen Polizisten und schwarzen Jugendlichen am Ende des Carnivals 1976, die Rückseite des Albums The Clash ziert ein Foto davon.26 Diese Bands und ihr Lebensstil standen in starkem Kontrast zu dem der Bewohner. Ausgetragen wurde der Konflikt zu einem guten Teil am Westway Theatre, sodass eine Lokalzeitung feststellte: »Pop is not popular (with the neighbours)«.27 Wenig beliebt bei den protestierenden Anwohnern war auch der Notting Hill Carnival, schien er sich doch in nichts von den Popkonzerten zu unterscheiden – außer in der Bezeichnung. Das war nicht immer so gewesen. Als Rhauné Laslett 1966 das Straßenfest begonnen hatte, wurde es als ein willkommenes Nachbarschaftsfest wahrgenommen, dem es gelungen sei, alle Bewohner Notting Hills »no matter what what [sic] their race, colour or religion« zusammenzubringen.28 Mit dem Fest wurde sogar die Hoffnung verknüpft, dass es in Notting Hill nie wieder Unruhen wie 1958 geben werde.29 Dass das Fest ein so positives Echo hervorrief, lag zu einem guten Teil an seinem sehr hybriden Charakter: Es erstreckte sich damals noch auf eine komplette Woche und umfasste neben Umzügen auch Tanzveranstaltungen, Gedichtvorträge, Jazzkonzerte und mitunter 24 The Clash: Sandinista! 25 The Clash: White Riot. 26 The Clash: The Clash. Zu Notting Hills Bedeutung in der Pop- und Rockgeschichte: Vague: Getting it straight. Vgl. auch Anna Brauns Beitrag im vorliegenden Band. 27 Pop is not popular (with the neighbours), in: The Kensington News and West London Times, 24. September 1971, S. 1. 28 Carnival gaiety in Notting Hill, in: The Kensington News and West London Times, 5. September 1969, S. 1. Ähnlich: Festival week at Notting Hill, in: Kensington Post, 16. September 1966, S. 1. 29 Die Hoffnung, das Fest verbessere die race relations in Notting Hill, etwa in: ebd.; John Clohesy: They might have had Dylan on the Isle of Wight, but North Kensington had Carnival time!, in: Kensington Post, 5. September 1969, o. S; Carnival triumph, in: Kensington News and Post, 1. September 1972, S. 1.
232 | S EBASTIAN K LÖSS sogar ein Dartsturnier. Die Afrokariben aus Notting Hill beteiligten sich durchaus am Fest, etwa mit Steelbands, sie bestimmten jedoch nicht sein Gesamtbild.30 Durch den offenen Charakter des Festes konnte in ihm jeder das sehen, was er wollte: ein englisches Fest, eine Kulturwoche – oder eben einen afrokaribischen Carnival. Denn auch wenn die Afrokariben das Gesamtgeschehen damals noch nicht prägten, fühlten einerseits sie sich immer mehr an den trinidadischen Carnival erinnert, während andererseits die Lokalpresse das Treiben immer häufiger mit der Karibik verband, verstanden als Synonym für Schönheit und Exotik.31 Auch als sich Laslett 1970 aus der Organisation zurückzog, behielt der Carnival zunächst den Ruf, ein Fest »for the people, by the people« zu sein.32 Ab 1972 kritisierten Bewohner Notting Hills jedoch, dass er sein rechtes Maß überschritten habe. Es seien zu viele Menschen von außerhalb gekommen, während die Anwohner durch den Lärm belästigt worden seien.33 Diese Tendenz verstärkte sich in den folgenden Jahren, da das Fest ab 1973 unter Palmer mit Kostümen, die sich am Carnival auf Trinidad orientierten, mit mehr Steelbands und mit jamaikanisch geprägten Sound Systems klarer afrokaribisch und vor allem bedeutend größer wurde. Nun fühlten sich einige Bewohner betrogen: Denn obwohl es wegen des Westway Theatres bereits 1973 eine gerichtliche Verfügung gegen verstärkte Musik unter dem Westway gegeben hatte, gehe dieser Lärm weiter – eben unter dem Titel Carnival. Ansonsten sei alles beim Alten geblieben: »the same noise, at the same location, the only difference being the name given to the event. The word Carnival has been substituted for Pop-Concert, as it was known in the past«.34 Daher forderten sie nach dem Carnival 1975, der mit 250.000 Teilnehmern die Beschwerden wegen Lärm, 30 Zu Fest und Kostümen: Festival week at Notting Hill, in: Kensington Post, 16. September 1966, S. 1; Fairy-tale start for big festival, in: Kensington Post, 8. September 1967, S. 1. 31 Dazu, dass die Lokalpresse das Fest immer stärker mit der Karibik verband, vgl. Caribbean touch to Notting Hill’s Carnival procession, in: Kensington Post, 22. September 1967, S. 18-19; Carnival gaiety in Notting Hill, in: The Kensington News and West London Times, 5. September 1969, S. 1. 32 It’s this Sunday and they’ll be out in their thousands for the people’s carnival, in: Kensington Post, 28. August 1970, S. 40. 33 Zu dieser Kritik vgl. Carnival attracts hundreds, in: The New Golborne, 1. September 1972, S. 1.; … and residents protest over noise, in: The New Golborne, 1. September 1972, S. 1. 34 D. Ford: [Leserbrief], in: Kensington News and Post, 21. November 1975, S. 46. Vgl. auch Graham Smith: Residents rap Carnival ›con‹, in: West London Observer, 13. September 1974, S. 1.
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Müll und unerwünschtem Verhalten auf eine neue Ebene gehoben hatte, in einer Petition an den Bezirksrat sowohl ein wirkungsvolles Verbot von »amplified music and amplified vocal performances« im kompletten Stadtteil als auch die Verlegung des Carnivals an einen anderen Ort.35 Dass Pop in den 1970er Jahren häufig als Begriff für wenig geschätzte Musikrichtungen verwendet und ihm eine gewisse Minderwertigkeit beigemessen wurde, ist wiederholt konstatiert worden.36 Zu betonen ist hier jedoch: Pop wurde nicht deshalb abgelehnt, weil er der so genannten Hochkultur als unterlegen erachtet oder von subtileren, künstlerisch wertvollen und politischen Musikstilen abgegrenzt wurde, wie es in der Rock-versus-Pop-Debatte geschah. Im Falle der protestierenden Bewohner stand Pop gegen Ruhe, Ordnung – und ungestörtes Fernsehschauen.37 Auf dem Notting Hill Carnival prallten somit verschiedene Spielarten von Populärkultur aufeinander. Zusätzliches Gewicht erhielt dieser Zusammenprall, da der Notting Hill Carnival als Populärkultur mit den Afrokariben assoziiert wurde, sodass er ins Fahrwasser einer größeren britischen Debatte um law and order geriet. Seit den frühen 1970er Jahren waren insbesondere afrokaribische Jugendliche als Bedrohung für Ruhe und Ordnung ausgemacht worden, es existierte das Stereotyp des jugendlichen, männlichen, kriminellen Schwarzen. Nicht zuletzt deshalb war das Verhältnis zwischen den Afrokariben und der Polizei äußerst gespannt. Die Anwohner, die gegen den Notting Hill Carnival waren, sprachen sich auch deshalb gegen das Fest aus, weil sie Kriminalität und Unruhen fürchteten. Darin sahen sie sich durch die Zusammenstöße am Ende der Carnivals 1976 und 1977 bestätigt. Dass es, vor allem 1976, überhaupt zu Zusammenstößen kam, hing wiederum mit dem Thema Ruhe und Ordnung zusammen. Denn während die afrokaribischen Organisatoren des Carnivals ihr Recht einforderten, ihre Kultur auf den Straßen Londons zu präsentieren, und die Zeitschrift Race Today mit ihrem Herausgeber Darcus Howe sogar verlangte, ältere britische Gesetze an die Präsenz der Afrokariben anzupassen, wollte die Polizei die alte Ruhe und Ordnung aufrechterhalten.38 35 Report of the Voluntary Organisations Liaison Committee, in: The Royal Borough of Kensington & Chelsea. Minutes of Proceedings vom 4. Februar 1976, S. 41–42. 36 Vgl. Hecken: Pop, insbes. S. 274, 306. Auch Rojek: Pop, S. 1. 37 McKee, Maurice: When ›one man’s culture is another man’s crap‹, in: Kensington Post vom 7. Juli 1972, S. 38–39, hier S. 39; Portobello pop all the summer, in: Kensington News and Post vom 27. Juli 1973, S. 64. Zur zeitgenössischen Diskussion über »Law ‘n Order« in Großbritannien vgl. Hall/Jefferson (Hg.): Resistance. 38 Zur Sicht der Polizei vgl. Clive Borrell: Sir Robert Mark will not allow ›no-go‹ areas in London, in: The Times vom 1. September 1976, S. 1. Zur Meinung, die Gesetze
234 | S EBASTIAN K LÖSS Pop – in Gestalt des Notting Hill Carnival – schien die soziale Ordnung und den Fortbestand der englischen Kultur zu gefährden. Die eigene »long-established English Bank Holiday« werde, so wurde gefürchtet, durch einen »West Indian national day« abgelöst.39 Einige Anwohner zogen nun klar eine Grenze zwischen der »indiginous [sic] population of this area« und den »black people drunk with the feeling of power at being allowed to run riot on our Streets«.40 Daher schrieben sie in Leserbriefen empört: »›This is England, mate’, and we expect and indeed DEMAND, to live in the English way, with our own English culture taking preference over alien cultures«.41 So offen rassistisch in ihrer Kritik am Notting Hill Carnival waren in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre nicht alle. Die Nachbarschaftsinitiative Golborne 100, die sich als gewählte Vertretung der Menschen vor Ort verstand, betonte in ihrer Zeitschrift Golborne 100 ausdrücklich, nicht deshalb gegen den Carnival zu sein, weil er von Afrokariben organisiert werde.42 Über den Vorwurf, es handle sich dabei um Pop, konnten solche Kritiker dennoch ihre Angst vor Überfremdung und vor einem Verlust der eigenen Kultur ausdrücken. Pop stand im Kontext des Notting Hill Carnival also als »Chiffre für einen gesellschaftlichen Umbruch«43, bei dem die soziale Ordnung neu ausgehandelt und neu bestimmt werden musste, was zum Eigenen gehörte und was zum Anderen. Pop diente den Anwohnern als Interpretationsmuster, um das Unbekannte besser (be-)greifen zu können. Der trinidadische Carnival, seine Geschichte, Konzepte und Praktiken waren den meisten Mitgliedern der britischen Mehrheitsbevölkerung unbekannt. Von Pop hingegen glaubten sie eine konkrete Vormüssten angepasst werden, vgl. What the BBC did not say, in: Race Today vom Oktober 1976, S. 209-210, hier S. 210. Zum Stereotyp des kriminellen Schwarzen vgl. Hall u. a.: Policing. Zum angespannten Verhältnis zwischen Afrokariben und Polizei vgl. Whitfield: Metropolitan; ders.: Unhappy. 39 D. Ford: [Leserbrief], in: Kensington News and Post, 21. November 1975, S. 46. Auch Pfarrer Andrews glaubte, der Carnival verhindere einen »normal Bank Holiday for many.« Anthony B. Andrews: Notting Hill Carnival (1975), Notting Hill Carnival, LMA, LMA/4462/P/01/048/A, S. 1. 40 Molly Freeman [wohl an Paterson] (86E) (09.02.1976), TNA, MEPO 2/10891, S. 1; D. Ford an Chief Superintendent R. Paterson (86E) (04.02.1976), TNA, MEPO 2/10891. 41 L. Penny: Letters to the editor, in: Kensington News and Post, 15. Oktober 1976, S. 7. Herv. i. Orig. 42 Vgl. Carnival problems continue, in: The Golborne, 27. Februar 1976, S. 2. 43 Mrozek: Popgeschichte. Zur Verbindung von Pop und Bruch mit der sozialen Ordnung auch Hecken: Pop, insbes. S. 187, 259.
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stellung zu besitzen. Und in diese Vorstellung schien der Carnival zu passen. Durch diese Analogie erbte der Carnival alle negativen Eigenschaften, die mit Pop assoziiert wurden. Es ist daher wenig verwunderlich, wenn die protestierenden Anwohner forderten, den Carnival aus der Gegend hinauszuverlegen, »[a]s it is now the fashion for pop-music events to be staged in stadiums and arenas«.44
K EIN P OPFESTIVAL : D IE C ARNIVALANHÄNGER Den Carnival aus den Straßen Notting Hills heraus zu verlegen, erschien afrokaribischen Carnivalisten und Carnivalanhängern vollkommen unmöglich, denn »you cannot lock up the carnival in Wembley stadium like a rock concert«.45 Wenn ein Carnival nicht auf den Straßen stattfinde, verliere er seine Stimmung und seine Bedeutung. Prägnant fasste das der schwarze Aktivist und Herausgeber der Zeitschrift Race Today, Darcus Howe, zusammen. Für ihn war klar: Ein Carnival in einem Stadion oder einem Park wäre so, als würde man ein CricketTest-Match auf dem Platz eines kleinen Cricket-Klubs austragen oder das FACup-Finale auf einem Schulspielplatz.46 In diese Richtung argumentierte auch das Carnival and Arts Committee: »CARNIVAL IS A STREET FESTIVAL«.47 Und zwar eines, das in Notting Hill gefeiert werden müsse. Dieser Stadtteil sei seit den Unruhen von 1958, in denen sich die Schwarzen erstmals erfolgreich gegen Rassisten gewehrt hätten, »the closest to being liberated territory«.48
44 [Leserbrief], in: Kensington News and Post, 9. April 1976, S. 4; Pfarrer Andrews schlug vor, den Carnival in den Hyde Park zu verlegen, »which has previously been used for large Pop Festivals«. Anthony B. Andrews: Notting Hill Carnival (1975), Notting Hill Carnival, LMA, LMA/4462/P/01/048/A, S. 2. 45 Alternatives to the carnival, in: The Guardian, 2. September 1987, S. 12. Hervorhebung S. K. 46 Zu Howes Meinung vgl. Race Today Collective: Editorial, in: Race Today, April 1976, S. 75. 47 Notting Hill Carnival and Arts Committee: No easy answers or solutions to Carnival violence. Interim report (25.10.1977), LMA, LMA/4462/P/01/048/A, S. 2, Herv. i. Orig. Ähnlich: Don’t stop the Carnival, in: Race Today, Februar 1976, S. 36-37, hier S. 37. 48 Ebd., hier S. 36. Die Bedeutung von Notting Hill wird auch starkgemacht in: Notting Hill Carnival Development Committee: Introduction – Background history (95B). (Mai 1976), TNA, MEPO 2/10891; Selwyn Baptiste: Notting Hill Carnival Development Committee ([1976]), TNA, CK 3/38.
236 | S EBASTIAN K LÖSS Zwischen Carnivalorganisatoren und protestierenden Anwohnern ergab sich also ein Konflikt um den öffentlichen Raum. Verschiedene Teile der Gesellschaft beanspruchten zur selben Zeit denselben Raum für ganz unterschiedliche Gesellschafts- und Lebensentwürfe.49 Eine zusätzliche Dimension erhielt der Raumaspekt beim Notting Hill Carnival dadurch, dass die afrokaribischen Carnivalisten das Fest vielfach als ihren rechtmäßigen Anspruch auf die britischen Straßen sahen, ja den Carnival sogar untrennbar mit ihrer eigenen Anwesenheit in Großbritannien verknüpften. Den Carnival abzuschieben, war für sie oft gleichbedeutend damit, sie selbst abzuschieben.50 Die Bedeutung, welche die Carnivalanhänger dem Fest beimaßen, stand der Definition des Fests und von Pop überhaupt, wie sie die Carnivalgegner vorbrachten, diametral entgegen. Immer wieder betonten afrokaribische Carnivalisten, der Carnival konsolidiere, bestärke, ja schaffe ihre Identität überhaupt erst. »It is an outward expression of everything that is West Indian«, konstatierte Howe.51 Er sei »this one event which consolidates our Caribbean identity to our children«, meinte auch Chase.52 Durch den Carnival sei zudem über die Migration nach Großbritannien – und letztlich sogar über die Versklavung und Verschleppung in die Karibik – hinweg die Verbindung mit den eigenen Wurzeln, der eigenen Geschichte gewahrt. Somit war der Notting Hill Carnival für seine afrokaribischen Anhänger tief in der eigenen Kultur verwurzelt, folglich eben gerade nicht ohne kulturellen Wert, kommerziell, beliebig – also kein Pop, wie er von den Nachbarn definiert wurde. Im Gegenteil: Er besitze für sie, so erläuterte Howe, dieselbe Bedeutung wie die Fußballkunst für die Arbeiterklasse bzw. Ballett und Theater für die Mittelschicht.53 Solche Äußerungen sind vor dem Hintergrund der von Thomas Hecken aufgearbeiteten Diskussionen um den Begriff und das Konzept Pop in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu sehen, in denen in Großbritannien häufig zwi49 Zum Raumaspekt vgl. Peeren: Carnival. Den Raumaspekt von Pop unterstreicht auch Thomas Funk im vorliegenden Sammelband. 50 Vgl. What the BBC did not say, in: Race Today, Oktober 1976, S. 209-210; Chris Boothman: Letters to the editor, in: The Guardian, 5. September 1987, S. 12. 51 Crispin Aubrey: Rebels with a cause, in: Time Out, 9. September 1977, S. 5-6, hier S. 5. 52 Chase: Final hours, S. 12. 53 So Howe gegenüber Crispin Aubrey: Rebels with a cause, in: Time Out, 9. September 1977, S. 5-6, hier S. 5. Zur perzipierten Bedeutung des Carnivals für die eigene Identität: ›We’ve learnt our lessons‹ says Carnival chief, in: Kensington News and Post, 17. Dezember 1976, S. 7; Chase: Street festival, S. 10, 22; Brother Gordon: Carnival Greetings, in: Race Today, September/Oktober 1978, S. 122.
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schen popular art, mass art, folk art und verwandten Bezeichnungen unterschieden wurde. Konservativen wie linken Kulturkritikern war dabei gemein, als kommerziell, synthetisch und inauthentisch bezeichnete kulturelle Erzeugnisse von der wahren Kultur des Volkes bzw. der Arbeiterklasse zu unterscheiden. Die ältere populäre Kultur, so die konservative Kritik, entspringe den Volksgruppen, weshalb sie eine positive und gemeinschaftsstiftende Instanz sei. Ähnlich sah es die linke Kritik, wenn sie von einer gemeinschaftlichen Kultur der Arbeiter sprach, die in einer hergebrachten, gewachsenen Lebensweise verwurzelt sei.54 Politisch standen die lautstärksten afrokaribischen Befürworter des Carnivals in den 1970er Jahren den linken Kulturkritikern sehr viel näher als den konservativen. Ein Beispiel dafür ist Cecil Gutzmore, der als Mitglied des in Notting Hill beheimateten Black People’s Information Centre eine einflussreiche Persönlichkeit in der afrokaribischen Community war. Er bewertete das Verhalten der Polizisten während des Carnivals 1976, das die Straßenschlachten provoziert habe, als Versuch, den Carnival endgültig zu beenden, und ordnete es in eine lange Reihe staatlichen Vorgehens gegen die Arbeiterkultur ein. Seit Beginn des Kapitalismus sei diese in England vom Staat systematisch unterdrückt worden. Daran habe sich nichts geändert: Jetzt gehe der Staat gegen kulturelle Orte und Praktiken der Schwarzen vor, da er ihr subversives Potenzial fürchte. Kurzum: Für Gutzmore war der Carnival die authentische Kultur der »black masses«, die er als starke Einheit aller Schwarzen weltweit begriff. Inauthentisch oder gar kommerziell-kapitalistisch war der Carnival für ihn keineswegs.55 Die Anhänger des Carnivals maßen ihr Fest jedoch nicht nur an der Kultur der Arbeiter, sondern zugleich an der Hochkultur. Was im ersten Moment paradox erscheint, speiste sich erneut aus dem Bedürfnis, den Carnival vom Vorwurf der kulturellen Wertlosigkeit zu befreien. Dezidiert nahm daher das Carnival Development Committee die Forderung in seine Satzung auf, der Staat müsse den Carnival genauso bezuschussen wie Theater und Ballett.56 Über den Wert des Carnivals als Kunst und seine zentrale Rolle für die Identität der Afrokariben in London wurde nicht nur gesprochen und geschrieben. Mithilfe kultureller Praktiken sollte er erhalten werden. Carnivalbands beschäftigten sich daher bewusst mit der Vergangenheit der Afrokariben, um ihr kulturelles Erbe zugleich vor dem Vergessen zu bewahren und in London zu zeigen. 54 Vgl. Hecken: Pop, insbes. S. 59, 73-75, 131-132, 299. 55 Vgl. Cecil Gutzmore: Carnival, the state and the black masses in the United Kingdom, in: Black Liberator (1978) 1, S. 9-27. 56 Vgl. Selwyn Baptiste: The programme and policy of the Carnival Development Committee (27.04.1978), Arts Council of Great Britain. Carnival ‘79, Archiv des Victoria & Albert Museum (V&A), ACGB/1/3848, S. 9.
238 | S EBASTIAN K LÖSS Dies taten sie einerseits, indem sie sich an Kostümen orientierten, die es auf Trinidad gab, andererseits, indem sie die Geschichte der Schwarzen thematisierten. So brachte die Band Elimu 1980 das Thema »A Caribbean Tapestry« auf die Straße, mit dem sie die ethnische und kulturelle Vielfalt der Karibik zeigte.57 Ihren Fokus stärker auf Afrika legte die Band Sukuya. 1978 lautete ihr Thema »Place of the Elephant«, dessen Kostüme sich an den Zulus orientierten.58 Revolutionärer in ihrem Anspruch war die Band Race Today Renegades, die von Race Today gesponsert wurden. Die Rebellion, auf die bereits ihr Name anspielte, verkörperte sie 1978 als »Forces of Victory« in den Straßen Notting Hills, indem sie Kampftaucher, Matrosen, Fallschirmspringer und Guerillakämpfer darstellte.59 Die afrokaribischen Carnivalisten setzten somit der Kritik ihrer Nachbarn eigene Interpretationen des Fests entgegen. Für sie war der Pop-Vorwurf die direkte Fortsetzung des Kolonialismus: Wieder einmal würden die Weißen die Kultur der Schwarzen abwerten. »Weiße« Popmusik zu mögen, galt mitunter sogar als Verrat an der afrokaribischen Kultur.60 Eine gewisse inhaltliche Nähe zwischen Carnivalgegnern und -anhängern gab es lediglich bei der Bedeutung, die sie dem Fest dabei zusprachen, die soziale Ordnung zu verändern. Was den Gegnern Schrecken war, galt einigen Carnivalprotagonisten als Auftrag. Sie wollten die als ungerecht, unterdrückend und neokolonial wahrgenommene soziale Ordnung verändern. Zumindest unterschwellig schwang bei der unterschiedlichen Bewertung des Carnivals die geschilderte Kontroverse der Kulturkritiker mit, in der zwischen pop, popular art und folk art unterschieden wurde. Ähnlich wie linke und konservative Kulturkritiker verbanden Anhänger des Carnivals dabei Pop mit Formen und Praktiken, die keinen direkten Bezug mehr zur Vergangenheit und zu den Menschen hatten. Der Carnival hatte für sie hingegen dezidiert diesen Bezug, weshalb er sich klar von Pop unterscheide. Zumindest noch.
57 Zu Elimu: Ansel Wong an John Boston. Elimu Centre. A Caribbean Tapestry 1980 (08.04.1980), Elimu Centre carnival application file, 1980–87, V&A, ACGB/79/22; Angela Ackah: Land of the caribs, in: Westindian World, 27. August 1982, S. 13. 58 Zu Sukuya: Mary Castle: Months of work bring hours of ecstasy, in: Kensington News and Post, 1. September 1978, S. 24; Carnival review ‘79, in: Race Today, August/September 1979, S. 90-93, hier S. 93; Cohen: Masquerade, S. 30. 59 Play mas with Race Today Renegades, in: Race Today, Juli/August 1978, S. 118. 60 Darauf verweist Kerridge: Real wicked, S. 122.
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Seite Ende der 1970er, verstärkt seit Mitte der 1980er Jahre grassierte unter afrokaribischen Carnivalisten die Angst, den Carnival zu verlieren. Bereits Leslie Palmer hatte 1973 die aus Jamaika stammenden Sound Systems eingeführt, die Reggae spielten. In den 1980er Jahren wurde überlegt, Hip Hop zu integrieren. An diesen Musikrichtungen, die es im trinidadischen Carnival nicht gab, entzündete sich eine lebhafte Diskussion, bei der auch alte Animositäten zwischen Migranten von verschiedenen Inseln, besonders von Trinidad und Jamaika, aktualisiert wurden. Im Kern ging es darum, was ein Carnival eigentlich sei und welche Musik es geben dürfe.61 Noch stärker wurde diese Angst ab Ende der 1970er Jahre, als Konzertbühnen eingeführt wurden, auf denen Livebands auftraten. Was dazu gedacht war, die Sound Systems zu ersetzten und Jugendliche zu unterhalten, schien Anhängern eines reinen Carnival ein weiterer Schritt dabei, sich vom Ideal zu entfernen – und sich einem Popfestival gefährlich zu nähern. Schließlich traten in den 1980er Jahren so erfolgreiche Musiker wie Eddy Grant mit seinem Song Living on the Front Line und Musical Youth mit ihrem Nummer-eins-Hit Pass the Dutchie auf.62 Nicht weniger schien der Carnival durch Kommerzialisierung gefährdet. Nachdem die Unternehmensberater Coopers & Lybrand die Organisation des Carnivals untersucht hatten und 1988 zu dem Schluss gekommen waren, er sei »very big business«, sein Potenzial werde vom Carnival and Arts Committee jedoch nicht ausgeschöpft, waren die Tage dieses Komitees gezählt.63 Das Nachfolgekomitee unter der schwarzen Anwältin Claire Holder maß daher ab 1989 dem wirtschaftlichen Aspekt des Carnivals größeres Gewicht bei. Bereits der Name – Carnival Enterprise Committee (CEC) statt Carnival and Arts Committee – deutete das an. Der Übergang verlief keineswegs reibungslos. Mitglieder des alten Komitees, einflussreiche Instanzen der afrokaribischen Community, etwa die Man-
61 Zur Diskussion um die Carnivalmusik: Race Today Collective: Editorial, in: Race Today, September/Oktober 1977, S. 123; Phil Ryland: Post-mortem, in: Kensington News and Post, 10. September 1975, S. 5; David Upshal: Stop the Carnival killjoys, in: The Voice, 30. August 1988, S. 3. Auch Cohen: Masquerade, S. 35-38. 62 Eddy Grant: Living on the Frontline; Musical Youth: Pass the Dutchie. Zu den Bühnen vgl. ›Fee rein‹ to call the tune, in: West London Observer, 24. August 1978, S. 5; Vague: Getting. 63 Coopers & Lybrand: Notting Hill Carnival (1988), Organisational review 1988, Kensington Central Library (KCL), 394.5*NOT. Das Zitat dort auf S. 2 und 22.
240 | S EBASTIAN K LÖSS grove Community Association rund um das Restaurant »Mangrove«, und Einzelpersonen warfen Claire Holder vor, den Ausverkauf des Carnivals zu betreiben. Sie nehme ihn der Community weg und übergebe ihn dem »establishment« und dem »big business«.64 Besonders brisant war dieser Vorwurf, da viele afrokaribische Carnivalisten den Carnival nach wie vor mit der eigenen Kultur und Identität verbanden. Nicht nur das Fest werde deshalb verkauft, sondern »[t]his CEC is selling out the heritage handed to us«.65 Und zwar vor allem, indem sich Holder um große private Sponsoren für das Fest bemühe. Darin witterte beispielsweise die Mangrove Community Association eine Gefahr: Dann würden die großen kapitalistischen Unternehmen bestimmen, wie der Carnival gefeiert werde. Um das zu verhindern, störte sie 1989 den offiziellen Auftakt des Carnivals im House of Commons, bei dem Sponsoren gewonnen werden sollten.66 Dennoch blieb Claire Holder ihrem Kurs treu. 1995 glückte ihr schließlich der große Coup: Coca-Cola wurde Hauptsponsor des Notting Hill Carnival, der sich – trotz aller Kritik – seit den 1980er Jahren zunehmend zum »event of the year and the place to be« entwickelt hatte.67 All diejenigen, die vor einem Ausverkauf des Carnivals warnten, sahen sich in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Ausgerechnet Coca-Cola, Inbegriff des weltweit agierenden US-amerikanischen Kapitalismus, sollte sich in den Carnival einmischen! Und in der Tat gab Coca-Cola nicht einfach 150.000 Pfund, sondern stellte Bedingungen: Es durften nur Getränke von Coca-Cola verkauft und der Name des Fests musste geändert werden. Aus dem Notting Hill Carnival wurde so der Lilt Notting Hill Carnival, wobei Lilt ein exotisch angehauchter Softdrink von Coca-Cola war.68 Ab Ende der 1980er Jahre durchlief der Notting Hill Carnival somit jene Debatte, wie sie aus der Musikbranche bekannt ist: Authentische Musikstile würden
64 Zit. n. Seumas Milne: Financial crisis and community split shakes Notting Hill as carnival goes commercial, in: The Guardian, 16. August 1989, S. 3; vgl. Pascall: ›We Ting‹, S. 4; Who does carnival belong to, in: Caribbean Times, 4. August 1989, S. 3. 65 Ebd. 66 Die Argumente gegen Holder in ebd.; Seumas Milne: Financial crisis, S. 3 (wie Anm. 64); Nigel Carter: Whose Carnival is it anyway?, in: Caribbean Times, 1. September 1992, S. 1, 3. 67 So bereits R. K. Pierre: Carnival ‘80, in: Westindian World, 22. August 1980, S. 6-7, hier S. 6. 68 Vgl. Devil’s Advocate. Carnival Funding & Organisation, 1995, Channel Four; Coca Cola Carnival!, in: Association for a People’s Carnival Newsletter, August 1995, S. 1; Claire Shepherd: The re-naming of Notting Hill Carnival and Carnival on TV, in: Association for a People’s Carnival Newsletter (August 1996), S. 7.
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bei zu großer Popularität kommerzialisiert und dadurch bedeutungslos.69 Die afrokaribische Kultur schien nun in ihrer Existenz bedroht, die Schwarzen schienen – einmal mehr – von Weißen ausgebeutet, die jetzt mit dem Werk der Schwarzen Gewinne erzielten. Das Fest in Notting Hill drohte »simply another event on the youth culture calendar« zu werden, einfach nur zur größten Straßenparty Europas – »just that and nothing more«.70 Nach jahrzehntelangem Kampf für den Carnival schien er nun doch lediglich Pop zu werden.
F AZIT Pop spielte für Anhänger wie Gegner des Notting Hill Carnivals eine zentrale Rolle – allerdings ex negativo. So uneinig sie sich waren, so sehr stimmten sie doch darin überein, dass Pop schlecht war. Pop wurde mit Künstlichkeit, Oberflächlichkeit, Beliebigkeit, Inauthentizität, kultureller Wertlosigkeit und Kommerz assoziiert. Beide Seiten grenzten sich daher von Pop ab. Anhänger wie Gegner des Carnivals teilten darüber hinaus Verlustängste, die sie anhand des Carnivals und seiner (Nicht-)Pophaftigkeit verhandelten. Während die einen fürchteten, eine »normal Bank Holiday« und letztendlich die alte englische Kultur zu verlieren, fürchteten die anderen, den wahren, authentischen Carnival und darüber ihre Kultur und Identität einzubüßen.71 In beiden Fällen ging es auch um den drohenden Verlust von Besitz. Die Anwohner sahen ihre Wohnungen, Gärten, allgemein den Schutz von Privateigentum bedroht; die Unterstützer des Carnivals hingegen ihren kulturellen Besitz. Sie glaubten, (erneut) von den Weißen, von kapitalistischen Unternehmen ausgebeutet und um das gebracht zu werden, was rechtmäßig ihnen zustehe. Anhand von Pop diskutierten beide Seiten auch ihre jeweiligen Vorstellungen von einer idealen sozialen Ordnung. Der Befürchtung, die vermeintlich althergebrachte englische soziale Ordnung könnte durch den Carnival als Popfestival verändert werden, stand die Hoffnung gegenüber, mithilfe des Carnivals als Nicht-Popfestival diese soziale Ordnung zu verändern. Dies schien nötig, da die Schwarzen in Großbritannien immer noch nicht gleichberechtigt seien. Dass der Carnival erst als kulturlos abgewertet und später vom weißen Establishment ge-
69 Vgl. dazu Hecken: Pop, insbes. S. 219, 278. 70 Phillips/Howe: So, whose Carnival is it anyway, S. 8; Tuckey: Carnival, S. 17. 71 Anthony B. Andrews: Notting Hill Carnival (1975), Notting Hill Carnival, LMA, LMA/4462/P/01/048/A, S. 1.
242 | S EBASTIAN K LÖSS stohlen würde, schien das zu bestätigen. Immer noch herrsche Kolonialismus, der nun endlich überwunden werden müsse. Gegnern wie Befürwortern diente Pop als vermeintlich eindeutiges Konzept als Interpretationsmuster, mit dem sie sich und ihre Umwelt erschlossen. Wie gezeigt wurde, fungierte Pop dabei immer als das Schlechte: Er war das Andere, nie das Eigene.
D ISKOGRAPHIE The Clash: White Riot. Columbia Records CBS 5058, März 1977 [Single]. The Clash: The Clash. Columbia Records S CBS 82000, April 1977 [LP]. The Clash: Sandinista! Columbia Records FSLN 1, Dezember 1980 [LP]. Eddy Grant: Living on the Frontline. Ensign ENY 2612, 1979 [12’’]. Hawkwind: X In Search of Space. United Artists UAG29202, 1971 [LP]. Musical Youth: Pass the Dutchie. MCA 104 694, 1982 [Single].
L ITERATUR Anderson, Benedict: Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London/New York: Verso 2006 (zuerst 1983). Brubaker, Rogers: Beyond ›Identity‹, in: Theory and Society 29 (2000) 1, S. 147. Burke, Peter: Eleganz und Haltung, Berlin: Wagenbach 1998. Chase, Louis: Notting Hill Carnival. Street festival, London: Interlink Longraph 1978. Ders.: Notting Hill Carnival ‘78. The final hours, [London: o. V.] 1978. Cohen, Abner: Masquerade politics. Explorations in the structure of urban cultural movements, Oxford: Berg 1993. Gilroy, Paul: The Black Atlantic. Modernity and double consciousness, London: Verso 1993. Hall, Stuart: Cultural identity and diaspora, in: Patrick Williams/Laura Chrisman (Hg.): Colonial discourse and post-colonial theory. A reader, New York u. a.: Columbia University Press 1994, S. 392–403. Ders./Tony Jefferson (Hg.): Resistance through rituals. Youth subcultures in post-war Britain, London u. a.: Hutchinson 1986 (zuerst 1975).
»P OP IS NOT POPULAR «
| 243
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Max Meler-Maletz (Produktion): Udo Jürgens singt: Die Leute/Hörspiel: Bausparer-Hit. Überreicht durch Ihre Landes-Bausparkasse, 1971 [Single].
Pop-Politisierung? Folk und Protestsong als Herausforderung konkurrierender Pop-Systeme R EBECCA M ENZEL
Bis in die 1960er Jahre hinein war die deutsch-deutsche Popmusik-Landschaft stark vom Schlager geprägt. Populäre musikalische Unterhaltung als Bedürfnis von Massen wurde von den politischen Eliten in beiden deutschen Staaten lange mit Argwohn betrachtet. Obwohl beide Systeme in Deutschland auf politisch konträren Ideologien beruhten und auch scheinbar gegensätzliche Auffassungen von Kulturpolitik vertraten, gab es sowohl bei der Bewertung als auch im alltäglichen Umgang mit Popmusik lange erstaunliche Parallelen. Bis in die 1960er Jahre herrschte eine durchaus vergleichbare konservativ-patriarchalische Grundhaltung gegenüber populärer Unterhaltung.1 Besonders Jugendpolitiker in Ost und West warnten gleichermaßen vor der »amerikanischen Unkultur«. Das änderte sich, als Jugendliche Popmusik nicht mehr nur als kommerzialisierte Unterhaltung konsumierten, sondern zunehmend dafür benutzten, sich politisch und sozial zu positionieren. Eine Schlüsselrolle übernahmen dabei interessanterweise staatliche Medien – in der Bundesrepublik wie in der DDR. Die Popularisierung der amerikanischen Folkmusik und des daran anknüpfenden deutschsprachigen Protestsongs initiierten einen einschneidenden Bedeutungswandel des Pop. Nicht nur die Medienlandschaften und die Kulturpolitik in beiden deutschen Systemen reagierten auf die Herausforderung dieser neuen Musikrichtung. Angeregt durch die im Folk formulierten politischen Ideale formierten sich in West und Ost subversive Netzwerke, die die diskursiven und kommerziellen Strukturen der verschiedenen Pop-Systeme zu unterlaufen versuchten.
1
Vgl. Poiger: Jazz.
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P OP ALS »U NKULTUR «? P OP -D ISKURSE IN W EST UND O ST BIS 1965 Bis in die 1960er Jahre kamen die Programmverantwortlichen der in staatlicher Verantwortung liegenden Medien sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands den spezifischen Bedürfnissen Jugendlicher nach Unterhaltung eher unwillig nach. Für Horst Sindermann, bis 1963 Leiter der Abteilung Agitation und Propaganda beim ZK der SED, war »die Verzerrung der Harmonie, auch die Verzerrung der menschlichen Stimme«, die er im musikalischen Programm von Radio Luxemburg erkannte, ein »antihumanistischer Charakterzug in der Kunst«.2 Auch der deutsche Chef der Unterhaltungsmusik beim RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor) tat sich schwer mit jugendspezifischer Popmusik. So fragte er den für Jugendfunk zuständigen Redaktionsleiter Richard Kitschigin anlässlich der Überarbeitung des Programms 1962, warum »diese Musik für Debile und Kriminelle wirklich über unseren Sender verbreitet werden« müsse.3 Doch während es im Westen ein reichhaltiges Angebot an aktueller Popmusik gab, das von kommerziellen Anbietern bereitgestellt wurde, herrschte im Osten ein Mangel an solchen Angeboten. Ein Musikmarkt im westlichen Sinne konnte sich in der planwirtschaftlichen DDR aus ideologischen Gründen nicht etablieren. Dennoch gab es auch hier Ermessensspielräume, die immer wieder neu ausgelotet wurden. Grund dafür war die systemimmanente Konkurrenz zwischen den verschiedenen Anbietern aktueller Popmusik. Zentraler Musikproduzent in der DDR war der Rundfunk. Die Chefredakteure der Musikabteilungen der verschiedenen Sender konnten weitgehend selbst darüber entscheiden, welche Titel aufgenommen und in ihrem Programm gesendet wurden. Zwischen Musikproduzenten, Textdichtern und Redakteuren bestanden deshalb enge Netzwerke. Das wiederum benachteiligte volkseigene Musikverlage wie den VEB Schallplatte, zu dem das für Tanz- und Unterhaltungsmusik zuständige Label Amiga gehörte. Den Massengeschmack zu treffen wurde also nicht nur wegen der Konkurrenz zwischen den Systemen, sondern auch aufgrund systemimmanenter Konkurrenzen um Verkaufszahlen und Einschaltquoten immer wichtiger. Das war im Westen nicht anders. Der Konflikt zwischen Bedürfnisbefriedigung der Massen und ideologischerzieherischem Anspruch zeigte sich bei den Auseinandersetzungen über Pop-
2
Horst Sindermann: Wofür und wogegen wir sind. Eine Antwort zum Problem Musik, Radio Luxemburg und Humanismus, in: Junge Generation, 2.3.1961, S. 13.
3 Kitschigin: Neun-vier-drei, S. 222, zit. n. Stahl: Jugendradio, S. 155.
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musik in den Rundfunkanstalten besonders stark. Ein in West wie Ost tradierter Kulturnationalismus und Antiamerikanismus wich nur langsam einer differenzierten Sicht auf internationale Popmusik, wie sie die junge Generation bevorzugte. Neben kommerziellen Anbietern wie dem privaten Sender Radio Luxemburg waren es in der BRD vornehmlich die auf Entmilitarisierung und ReEducation ausgelegten Angebote der westlichen Alliierten, die den Durchbruch internationaler Popkultur erleichterten. Im Laufe der sechziger Jahre wurden Jugendliche in der Bundesrepublik als eigenständige Konsumentengruppe immer einflussreicher. Bereits 1960 gingen 50 Prozent des Absatzes von Schallplatten auf ihr Konto, bis 1963 stieg dieser Anteil auf 60 Prozent.4 Die didaktische Grundhaltung wich auch im Westen erst langsam der Überzeugung, dass nicht nur die freie Wahl der Meinung, sondern auch die Form der Unterhaltung Teil der demokratischen Selbstbestimmung in einer liberalen Konsumgesellschaft sei und dies auch für Jugendliche gelte.5 Nach und nach öffneten sich das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen der internationalen Popkultur. Besonders das 1961 eingerichtete zweite Fernsehprogramm ZDF und die seit 1963 entstehenden dritten Programme formulierten neben ihrem Bildungsauftrag den Anspruch, den Unterhaltungsbedürfnissen auch der jungen Bevölkerung nachzukommen und plädierten für ein »vernünftiges Abwägen und Mischen«.6 Radio Bremen strahlte ab September 1965 jeden Samstagnachmittag die PopSendung Beat-Club aus, in der von jugendliche Moderatoren ankündigte Beatbands vor einem Studiopublikum auftraten. Auch die staatlich geförderten Jugendzentren integrierten Popmusik stärker in ihr Freizeitprogramm. Nach einer Studie von 1966 konkurrierten in Westberlin drei senatsgeförderte Jugendcafés »mit unzähligen kommerziellen Lokalen für Teens und Twens«.7 Um die Jugendlichen nicht vollends den kommerziellen Angeboten zu überlassen und damit jegliche Kontrolle im Freizeitbereich aufzugeben, musste man beim Angebot Kompromisse machen. In der DDR befand man sich in einem ähnlichen Spannungsfeld. Als die ostdeutsche Jugend Mitte der 1960er Jahre zunehmend selbstbewusster agierte, offenbarte sich eine wachsende Diskrepanz zwischen politischen Vorgaben und eigensinniger Alltagspraxis. Nicht nur beim Konsum, sondern auch bei der Produktion von Popmusik beanspruchten jugendliche Musikbegeisterte mehr Freiraum und Selbstbestimmung. Damit forderten sie das Kulturverständnis der SED 4
Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.12.1963.
5
Vgl. Classen: Zwischen Ressentiment und Konsum.
6
Zit. n.: Weingart: Fatales Wort in Gänsefüßchen, S. 303.
7
Nimmermann: Beat und Beatlokale in Berlin, S. 496, zit. n. Stahl: Jugendradio, S. 105.
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heraus, die Popkultur nach westlichem Vorbild nur als ein Instrument zur Manipulation passiver Konsumenten zu deuten wusste, dem die eigenen Erziehungsansprüche diametral entgegenstanden. Als Vermittlungsinstanz zwischen diesen Polen agierten die sozialistischen Medieninstitutionen, die die popkulturellen Bedürfnisse ihres Publikums ernst zu nehmen versuchten. Besonders bei WestImporten setzten sie zunehmend erfolgreich einen »ideologischen Rahmen«8 ein, um die Sendung als sozialistisch gegenüber übergeordneten Kontrollinstanzen zu legitimieren. Umgekehrt wurden ideologische Botschaften gezielt in einen PopRahmen gesetzt, um die Hörer zu halten. Neue Maßstäbe setzte das Sonderprogramm DT 64 bei der Berichterstattung zum Deutschlandtreffen im Mai 1964, bei dem sich Jugendliche aus Ost und West zu zahlreichen Kulturveranstaltungen in Ostberlin trafen. Revolutionär war nicht nur, dass die bis dahin nur auf West-Kanälen zu hörenden Beatles gespielt wurden, sondern auch das umfassende Live-Programm mit wechselnden Reportern, die aus allen Ecken Ostberlins berichteten und die jugendlichen Festivalbesucher ungefiltert zu Wort kommen ließen. Wolf Biermann, der 1963 Auftrittsverbot erhalten hatte, durfte wieder live auf einem Lyrikabend vortragen. DT 64 sah sich selbst als »ein Weggefährte, ein Berater und Freund und manchmal auch als Anwalt der jungen Generation«.9 Ermutigt durch den Erfolg von DT 64 versuchten die Programmverantwortlichen, auch im Fernsehen Popkultur in das Programm zu integrieren. In der Sendung Basar, die seit Januar 1965 ausgestrahlt wurde, plauderte der Moderator mit seinen Gästen vor einem jugendlichen Publikum über aktuelle Modeerscheinungen. Im Hintergrund liefen Songs der Beatles, aber im Gegensatz zu den Live-Auftritten mit Stroboskoplicht im westlichen Beat-Club trat das Publikum nicht als eigenständiger Akteur auf. In der stets kontrollierten Körperlichkeit aller Akteure im DDR-Fernsehen bestand der wohl sichtbarste Unterschied zwischen kapitalistischer und sozialistischer Unterhaltung.
F OLK
UND
P ROTESTSONG ZWISCHEN B OTSCHAFT UND L EBENSSTIL
POLITISCHER
Als 1964/65 vor allem aus den USA, aber auch aus Frankreich und Großbritannien eine Folk-Welle nach Deutschland schwappte, wurde nicht einfach nur ein neuer Musikstil eingeführt. Beim Folk standen im Gegensatz zum bisher populä-
8
Vgl. Trültzsch/Wilke: Populärkultur und DDR, S. 9.
9
Krause: DT 64, zit. n. Rauhut: Beat in der Grauzone, S. 82.
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ren Beat die akustische Gitarre und der Gesang im Vordergrund. Folkmusik animierte durch seine einfachen Mittel geradezu zur Nachahmung im privaten Kreis. Die Texte hatten einen aufklärerischen Anspruch und wurden dementsprechend engagiert vorgetragen. Anders als der Beat stand Folk für eine gesellschaftskritische Haltung in linker Tradition. US-Musiker wie Pete Seeger, Joan Baez und Bob Dylan beriefen sich auf das Liedgut amerikanischer Arbeiter und Farmer und veröffentlichten ihre Musik zum Teil auf kleinen unabhängigen Labels. Sie äußerten öffentlich Kritik am Vietnamkrieg und forderten gesellschaftliche Reformen. Dass Künstler ohne Rücksicht auf kommerzielle Erwägungen eigene politische Meinungen äußerten und trotzdem Erfolg hatten, war in der internationalen Popkultur ein Novum. Besonders Musiker wie Dylan oder der englische Sänger Donovan demonstrierten einen unkonventionellen Lebensstil, der von den amerikanischen Beatniks inspiriert war, und bekannten sich offen zu ihrem LSD-Konsum. Beat-Literaten wie Jack Kerouac oder Allen Ginsberg hatten in ihren Büchern Helden vorgestellt, die sich einem bürgerlichen Lebensentwurf verweigerten und als Tramps lebten. Sie waren die Vorbilder einer neuen modischen Erscheinung unter Jugendlichen, die in den deutsch-deutschen Medien kontrovers debattiert wurde. In den Sommermonaten 1965 waren in verschiedenen europäischen Großstädten so genannte »Gammler« auffällig worden: Ungepflegt auftretende Jugendliche, die sich auf öffentlichen Plätzen und in Parks trafen, scheinbar keiner geregelten Beschäftigung nachgingen, aber durch lautstarkes Musizieren und das Bemalen der Bürgersteige provozierten. Nach öffentlichen Protesten und mehreren Festnahmen forderte Bundeskanzler Erhard bei den Innenministerien der Länder einen »Gammler-Report« ein, der allerdings eher zurückhaltende Reaktionen zur Folge hatte. Das Münchner Innenministerium verweigerte die Instrumentalisierung der Polizei als »Erziehungsinstitut«.10 Der Spiegel kam nach einer umfangreichen Recherche zu dem Ergebnis, dass die meisten Beteiligten das »Gammeln« als Freizeitbeschäftigung verfolgten und nach dem Wochenende oder den Ferien in Schule und Lehre zurückkehrten.11 Wie stark der Lebensstil der Gammler mit dem neuen Folk-Trend assoziiert wurde, zeigen Berichte über die amerikanische Band The Mamas and the Papas. Erstaunt berichtete die Bravo vom »Gammlerleben« der Band auf den Virgin Islands, wo sie von Konserven in einem Wagen am Strand »weitab von jeder Zivilisation« gelebt hatte.12 In den öffentlich-rechtlichen Medien der Bundesrepublik avancierte der Folk zu einer anspruchsvolleren Alternative zum Beat und fand mithilfe der öffentlich-rechtli10 Vgl. Der Spiegel 39/1966, 19.9.1966. 11 Ebd. 12 Bravo 25/1966, 13.6.1966.
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chen Medien ein breites Publikum. Im Beat-Club wurde neben Bob Dylan auch der englische Folkmusiker Donovan vorgestellt, der laut Bravo »mit seinen Songs gegen Krieg, Unwahrheit, Ungerechtigkeit wetterte«.13 Der Süddeutsche Rundfunk veranstaltete 1966 einen Wettbewerb für neue Folksongs unter dem Titel »Lieder von heute«. Im Ausschreibungstext klingt der aufklärerische Gestus linker Tradition an: Aufgabe des Wettbewerbs sei, »der Welle des bloßen rhythmischen Exzesses und der Lautstärke die Gegenwelle des sinnvollen Textes und der liedhaften Aussage entgegenzustellen«.14 Auch in der DDR schien der gesellschaftskritische Gestus des Folk die linken Kritiker der Popkultur versöhnlich zu stimmen. Allerdings versuchten die Staatsmedien, Folk-Begeisterung und damit verbundene unangepasste Lebensstile bei der Berichterstattung strikt voneinander zu trennen. Während Gammler als arbeitsunwillige Elemente identifiziert und mit staatsfeindlichen Rowdies gleichgesetzt wurden, stieß die amerikanische Folk-Szene aufgrund ihrer Solidarität mit sozial Benachteiligten zunächst auf ein ausgesprochen positives mediales Echo. Man beschwor den gemeinsamen Kampf gegen Klassenunterschiede und nutzte die Kritik der Künstler an der amerikanischen Außenpolitik zu einem Generalangriff auf den politischen Gegner. In einem bereits 1962 in Ostberlin entstandenen Liederband hieß es, aus den Songs spreche »die Forderung der anständigen Amerikaner auf eine neue Welt, ohne Krieg und ohne Ausbeutung […] in das Angesicht derer, die den Atomkrieg als Rettung verkünden«.15 Politisch sah man sich also mit der linken Opposition amerikanischer Künstler auf einer Wellenlänge. Der kanadische Folksänger Perry Friedman, der seit 1959 in der DDR lebte, half bei der Vermittlung von Kontakten zur amerikanischen Folkszene. Der dort vorherrschende lässige Lebens- und Performancestil stieß zunächst auf Unverständnis. Die ersten Versuche Friedmans, bei seinen Konzerten in der DDR Kontakt mit dem Publikum aufzunehmen, wurden unterbunden.16 Das änderte sich erst mit den Hootenanny-Veranstaltungen, die Friedman seit 1960 mit Rückendeckung der FDJ veranstaltete und die schnell auch ein jugendliches Publikum anzogen, das sich sonst den Programmen des staatlichen Jugendverbandes verweigerte. Zum ersten Mal wurden internationale Volkslieder nicht im Rahmen offizieller Veranstaltungen, sondern weitgehend selbstbestimmt in gelöster Atmosphäre gesungen, motiviert von einem Kanadier, der die Tradition einer »zwanglosen Party von Linken mit Musik, Tanz und Essen«, bei der mit neuen und alten Arbeiterliedern improvisiert wurde, von der amerikani13 Bravo 9/1967, 20.2.1967. 14 Ausschreibungstext in Song 1/1966, S. 49, zit. n. Siegfried: Time, S. 580. 15 Friedman: Hör zu, Mister Bilbo, S. 8. 16 Vgl. ders.: Wenn die Neugier nicht wär, S. 58.
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schen Westküste direkt in das Jugendklubhaus Stalinallee in Ostberlin zu importieren versuchte. Auch DT 64 berichtete regelmäßig über die Veranstaltung.17 Beflügelt von den Massenprotesten gegen die Stationierung von Atomwaffen in der Bundesrepublik unternahm die SED enorme Anstrengungen, die DDR mithilfe von Popmusik als den »besseren« Staat darzustellen. Auch die Mitglieder des Hootenanny-Klubs traten öffentlich in »Nato-Kutten und mit Ostermarsch-Abzeichen« auf, um westdeutsche Protestsongs zu singen.18 Zu der allgemeinen Öffnung gegenüber bisher verfemter amerikanischer Kultur und westdeutscher Protestkultur gehörte auch der Import des »American Folk Blues Festival«. Unter der Organisation der Westdeutschen Horst Lippmann und Fritz Rau tourte das Festival seit 1962 durch Westeuropa und brachte viele amerikanische Musiker zum ersten Mal in die Bundesrepublik. Nach der Vermittlung durch den DDR-Jazzpionier Karlheinz Drechsel gastierte es 1964 und 1966 in verschiedenen Städten der DDR. Doch die politische Führung der DDR betrachtete die durch den Folktrend populär gewordene gesellschaftskritische Haltung vieler Jugendlicher mit gemischten Gefühlen. Antikapitalistische Parolen wurden begrüßt, während die antiautoritäre Dimension der Gesellschaftskritik und mit ihr verbundene alternative Lebensstile eindeutig Argwohn hervorriefen. Der popkulturell inspirierte Eigensinn war schwer zu kontrollieren. Zahlreiche Amateurbands spielten nicht in offiziellen Kultureinrichtungen, sondern in Gaststätten oder privaten Beatschuppen und erfreuten sich großer Beliebtheit bei einer wachsenden Zahl von Fans. Gasthäusern blieb die Programmgestaltung in der Regel selbst überlassen, sodass gerade in den Randbezirken auch Bands auftreten konnten, die in den Jugendklubs der Städte Spielverbot hatten.19 Auch DT-64-Redakteure schnitten Konzerte von DDR-Bands mit, um an lokale Beatmusik für ihre Sendungen zu kommen, und etablierten so ein Forum für selbst gemachte Popkultur. Jugendklubs wurden zum Teil in Eigenregie von den Jugendlichen selbst organisiert, was dazu führte, dass die von der FDJ zur Verfügung gestellten Mittel für eigene Zwecke genutzt wurden. Mit Erschrecken berichteten von der Jugendorganisation abgesandte Kontrolleure, dass »klubeigene Fernseh- bzw. Radioapparate« auf Westsender eingestellt gewesen seien.20 Das staatliche Kulturmonopol drohte zusehends ausgehöhlt zu 17 Vgl. Pete Seeger: Liedermacher – Mutmacher. Interview mit Lutz Kirchenwitz, in: Sonntag 5 (1981), S. 11, zit. n. Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher, S. 28. 18 Vgl. Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher, S. 29 ff. 19 Vgl. den Beitrag von Thomas Funk in diesem Band. 20 Rat des Stadtbezirkes, Prenzlauer Berg, Abt. Kultur: Analyse Jugendklubs, Berlin 12.5.1965, S. 1-5, hier: S. 1, SAPMO-BArch, DY 30 IV A 2/16/123 unpag., zit. n. Stahl: Jugendradio, S. 109.
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werden. Die politischen Kontrollinstanzen brachten lediglich das zutage, was ohnehin den Alltag der Jugendlichen bestimmte: den ständigen Vergleich zwischen den popkulturellen Angeboten in Ost und West und deren eigensinnige Nutzung für die persönlichen Bedürfnisse. Damit einher ging die Beobachtung, dass Jugendliche Popkultur nicht mehr nur passiv konsumierten, sondern verstärkt mit einem unangepassten Lebensstil verbanden. Immer mehr Jugendliche verweigerten Mitte der 1960er Jahre offensiv die Mitarbeit in der FDJ, unternahmen stattdessen ausgedehnte Tramptouren und schwänzten zeitweise die Schule oder die Lehre. Das Phänomen wurde so offensichtlich, dass Erich Mielke 1966 alle Bezirksverwaltungen des Ministeriums für Staatssicherheit dazu aufrief, halbjährlich einen Lagebericht zur Situation in der Jugend einzusenden, um so genannten »negativ-dekadenten« Jugendgruppen auf die Spur zu kommen.21 Als kulturpolitische Gegenstrategie kündigte die FDJ für den Januar 1966 einen republikweiten »Leistungsvergleich der Gitarrengruppen« an. Doch die parteiinterne Kritik an den Liberalisierungstendenzen in der Kulturpolitik nahm im Laufe des Jahres 1965 immer mehr zu und mündete nach dem so genannten »Kahlschlag-Plenum« im Dezember des Jahres in eine rigorose Verbotswelle. Auch das zuvor noch hoch gelobte Programm von DT 64 wurde kritisiert. Bis dahin offiziell geförderten Musikern wurde kurzerhand die Spielerlaubnis entzogen. Angesichts der angespannten Situation in den Jugendklubs gab es akuten Handlungsbedarf. Im Gegensatz zur Beat-Szene waren die noch überschaubaren Folk-Veranstaltungen leichter zu kontrollieren. Ein für Anfang 1966 anberaumter »Jazz und Folksongs«-Abend mit Mitgliedern des Hootenanny-Klubs, Manfred Krug und Eva-Maria Hagen wurde kurzerhand verboten, bereits aufgehängte Plakate wurden wieder überklebt. Stattdessen proklamierte die FDJ für das Frühjahr 1967 eine neue Veranstaltung unter dem Titel »Kommt und singt!« mit den inzwischen in »Oktoberklub« umbenannten Hootenannies die jetzt mit dem ErichWeinert-Ensemble der NVA auftraten. Zunächst begeisterte junge Sänger wie die später als kritische Liedermacherin bekannt gewordene Bettina Wegner stiegen daraufhin wieder aus. Zwei der auffällig gewordenen Jugendklubs in Prenzlauer Berg wurden geschlossen.22 Im September 1966 fällte der FDJ-Zentralrat den »Beschluss über die Entwicklung des Singens in der Freien Deutschen Jugend« und institutionalisierte mit der »Singebewegung« ein Alternativprojekt zum abgesagten Gitarrenwettbewerb. 23 Im Laufe des Jahres 1967 gründeten sich 21 Ministerbefehl 11/1966 vom 15.5.1966, vgl. auch das Interview mit MfS-Oberleutnant Schmidt, in: Rauhut/Kochan (Hg.): Bye Bye, Lübben City, S. 155-164. 22 Vgl. Stahl: Jugendradio, S. 111 ff. 23 Vgl. Rauhut: Rock in der DDR, S. 38.
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mehrere hundert Singeklubs. In den folgenden Jahren wurden es einige Tausend. Die jährlichen Werkstattwochen wurden von DT 64 mit einem umfassenden Programm begleitet und erhöhten die öffentliche Wahrnehmung. Die Singeklubs waren Ende der 1960er Jahre für viele die einzige Möglichkeit, internationale Popmusik selbst zu machen, wenn man nicht als Band um eine Spielerlaubnis kämpfen wollte. Der ursprüngliche Sinn des internationalen Protestsongs ging mit dem Kampf um staatliche Legitimation verloren, denn die Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen in der DDR musste ausklammert werden. In einer 1968 vom Ostberliner Eulenspiegel Verlag herausgegebenen Sammlung von »Protestsongs« finden sich zwar Lieder aus den USA, der Bundesrepublik, Spanien, England und Griechenland, darunter Titel von Bob Dylan, Georges Brassens, Franz Josef Degenhardt und Mikis Theodorakis. Die Adressaten des musikalischen Protestes befanden sich jedoch eindeutig jenseits der Mauer im Westen. Im Vorwort heißt es: »Natürlich können Lieder allein nicht die Veränderung bewirken, deren die kapitalistische Welt unserer Tage dringend bedarf – aber Songs gegen diese Welt und ihre Gebrechen sind einer der Schritte dazu.«24 Die Einhegungsstrategie der Partei gegenüber einem selbstbestimmten Gebrauch von Popkultur ging nur zeitweilig auf. Auch in der Bundesrepublik kämpften Folk und Protestsong um ihr Image als authentische Form musikalischer Gesellschaftskritik, die weniger auf Performanz denn auf Inhalte setzte. Allerdings wurde das Verhältnis von Sub- und Massenkultur im kapitalistischen Westen unter anderen Vorzeichen und mit anderen Akteuren ausgehandelt.
P OP ZWISCHEN P ROTEST , K ONTROLLE UND K OMMERZ Mit der wachsenden Popularität setzte in der Bundesrepublik die Kommerzialisierung der Protestmusik und des mit ihr assoziierten unangepassten Lebensstils ein. Die Berliner Literaturzeitschrift Alternative warnte bereits 1966: »Sobald die Kulturindustrie sich des Aufbegehrens der Protestierenden bemächtigte, drohte diese selbst […] zu festlich illuminierte[m] Protest zu verkommen.«25 Tatsächlich wurde das politische Engagement vieler Musiker in den folgenden Jahren zunehmend diffus. Einige Folkmusiker wie Donovan entsagten bald öffentlich dem politischen Engagement und wollten »nur noch Romantiker sein«.
24 Sellhorn: Protestsongs, S. 6. 25 Alternative Nr. 46/1966, zit. n. Siegfried: Time, S. 581.
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Eine Fraktion der Studentenbewegung, neben Dieter Kunzelmann und Fritz Teufel vor allem Rainer Langhans, sah genau darin die gesellschaftsverändernde Kraft der Popkultur. Sie versuchten, popkulturelle Elemente in einen antibürgerlichen Lebensstil zu integrieren. Die Studentenbewegung war bei der Deutung der revolutionären Potenziale des Pop und der mit ihm assoziierten antiautoritären Haltung der Jugend zunehmend gespalten. Rudi Dutschke und andere führende SDSler argumentierten eher theoretisch. Sie setzten am linken Defizit der Kulturkritik an und verknüpften den Rückgriff auf Horkheimer und Adorno mit einer fundamentalen Systemkritik, die dem Pop die Kapitulation vor dem Kapital vorwarf. Die Kommune I hingegen probierte nach dem Vorbild popkultureller Ikonen eine neue Form der Lebensgemeinschaft aus, um tradierte Hierarchien wie die Zweier-Beziehung zu sprengen. Im Gegensatz zu der Münchner Musikerkommune Amon Düül, aus der Uschi Obermaier kam und die für ihre chaotischen Zustände bekannt war26, blieben die Berliner stärker der theoretischen Rezeption verhaftet. Lediglich Rainer Langhans wollte ein Lokal aufmachen, »mit Musik […] und natürlich viel Licht und man soll tanzen«.27 Nach dem Zerfall der K 1 gab er die Vermarktung der Kommunen in einer linken Fotomodell-Agentur bekannt. In einem Arbeitspapier an andere Kommunarden sprach er von einer »Organisation der naturwüchsigen Tendenzen der Bedürfnisbefriedigung« und proklamierte selbstbewusst: »Wir müssen Popstars werden!«28 Kurz darauf verkündeten Langhans und Obermaier auf einer Pressekonferenz die Gründung eines Pop-Konzerns, der »neue Spiele kreieren, neue Werkstoffe erproben, Festivals organisieren und Haschisch besorgen« sollte, damit sie »in den nächsten Jahren ohne viel Anstrengung gut leben können«.29 Der Widerstand gegenüber unsinnlichen Theoretikern der Studentenbewegung hatte die zuvor im Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft vereinte Protestgemeinschaft gespalten. Darüber, welche gesellschaftsverändernde Kraft alternative Popkultur im Kapitalismus wirklich entfalten könne, war man uneinig. Mitte der 1960er Jahre hatte der aufkommende Underground in der Bundesrepublik den Beat als elektronisch verstärkte Alternative zum Folk abgelöst und den akustischen Sound weitgehend verdrängt. Neue Popstars wie Jimi Hendrix, The Doors und The Who kultivierten provokante Bühneninszenierungen und schockierten mit einem extrem hedonistischen Lebensstil, der nichts mehr mit den antikommerziellen und sozialkritischen Idealen der einstigen Folk-Idole zu tun hatte. Der offen zur Schau gestellte Hedonismus, gepaart mit einem mehr 26 Vgl. Schober, Tanz der Lemminge. 27 Vgl. Enzensberger: Die Jahre der Kommune I, S. 297. 28 konkret 1/1969 v. 31.12.1969. 29 Berliner Extra-Dienst, faksimiliert in: Kaiser: Fabrikbewohner, S. 74.
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oder weniger offensiven Individualismus erfasste immer weitere Kreise der alternativen Szene, die sich aus einer sehr breiten popkulturellen Angebotspalette bedienen konnte. Gleichzeitig erschütterte der exzessive Drogenkonsum vieler Musiker die Öffentlichkeit. 1970/71 starben Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison an Drogenmissbrauch. In der alternativen Zeitschrift papiermanschette appellierte man anlässlich von Hendrix’ Tod an die Konsumenten, dem Starkult abzuschwören: »Wir müssen dazu kommen, in den Popstars keine Beat-Götter zu sehen, sondern unseresgleichen.«30 Nicht ihr unangepasster Lebensstil, sondern die Vermarktungsstrategien der Kulturindustrie, so die Argumentation, trieben die Popstars in die Verzweiflung. Als mögliche Alternative bot sich der Entwurf einer Art kulturellen Räterepublik an, in der »Bedürfnisräte« über den Wert von Konsumartikeln als Gebrauchsgüter entscheiden sollten. Maßgeblich bei diesem Prozess, so der Pamphletband Befreiung des Alltags, sei die »von den Fesseln der Isolation befreite Fantasie aller Teilnehmenden« mit dem Ziel, »neue Medien der Selbstdarstellung« zu finden.31 Auch für den popbegeisterten Soziologen Walter Hollstein war klar, dass der kulturelle Untergrund durch einen neuen »Menschentyp mit neuen Bedürfnissen und anderer Wertordnung« den Kommerzialisierungsstrategien der Kulturindustrie erfolgreich trotzen könne: »Vor allem bestimmt sich der Mensch im Untergrund nicht fremd, sondern zeigt sich als selbsttätiges und selbstschöpferisches Wesen.«32 Der Idealismus hielt angesichts der um sich greifenden Kommerzialisierung der einstigen Gegen- hin zu einer Massenkultur nicht lange vor. Fand jugendspezifische Popmusik bis Ende der 1960er Jahre eher noch in kleinen Klubs statt, kamen jetzt Festivals mit einem Massenpublikum nach dem Vorbild von Woodstock auf, dessen Verfilmung 1970 in Deutschland in den Kinos anlief. Einen Markstein setzte das »Love-and-Peace«-Festival auf Fehmarn im September 1970 mit 25.000 Besuchern. Das ausufernde Angebot an alternativen popkulturellen Stilen führte auf längere Sicht dazu, dass sich die spezifischen Zielgruppen verkleinerten. Protestsänger wie Franz Josef Degenhardt feierten zwar auch jenseits alternativer Zirkel Erfolge – so erhielt er 1970 den Deutschen Schallplattenpreis und sein Song Befragung eines Kriegsdienstverweigerers gelangte 1972 auf Platz 1 der WDRHitparade. Ein Massenpublikum erreichte er aber nie. Zudem blieb er politisch umstritten. Degenhardt, der Ende der 1960er Jahre als Anwalt zahlreiche Demonstranten im Zusammenhang mit den Studentenprotesten verteidigt hatte,
30 papiermanschette, o. J. (Ende 1970). 31 Albus/Leube: Selbstbestimmung der Konsumenten, S. 37 f. 32 Hollstein: Der Untergrund, S. 112.
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wurde 1978 Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und trat regelmäßig in der DDR auf.33 Die dortige Argumentationslinie ähnelte den Verlautbarungen linker Publikationen in der BRD. Mit dem Hinweis auf die Drogenproblematik wurde vor einer Entgleisung der Popkultur gewarnt: »Mit Genugtuung haben die Herrschenden dieser [kapitalistischen] Gesellschaft verzeichnet, dass ›wer hascht, nicht demonstriert‹, und sie akzeptieren lieber eine Vielzahl Drogenopfer (Rauschgifttote, -frühinvaliden und -süchtige) als eine an der antiimperialistischen Bewegung beteiligte Jugend.«34 Während in der Bundesrepublik jedoch gerade das »Schmuddelkinder«Image für ein antibürgerliches und somit unangepasstes popkulturelles Statement entscheidend war, setzte man bei der »Jugendtanzmusik« der DDR weiterhin auf ein »sauberes« Erscheinungsbild.35 Deshalb wurden hier eher subtile Verweigerungsstrategien praktiziert, die das scheinbar Apolitische der Popkultur betonten und gerade dadurch die politische Führung provozierten. Die Nachahmung popkulturell inspirierter Rituale wie das gemeinsame Händeklatschen auf den Fußboden zum John-Lennon-Song Give peace a chance, wie es im Film Blutige Erdbeeren (The Strawberry Statement) von 1970 gezeigt wurde, konnte nicht als eindeutig systemkritische Haltung eingeordnet werden und wurde dennoch als Protest verstanden. Die politische Führung war angesichts der Begeisterung vieler Jugendlicher für westliche Popkultur verunsichert, zumal diese Entwicklung mit dem Prager Frühling zusammenfiel. In Beratungen der FDJ mit Vertretern aus dem ZK der SED und dem Kulturministerium über »Probleme der Tanzmusik und besondere Signale zur Beatmusik« plädierte man 1967 zwar für eine straffe Leitung, lehnte aber einen offenen Konfrontationskurs ab.36 Die westlichen Bands des Underground fanden auch in der DDR schnell ihre Fans. In ländlichen Gaststätten traten einheimische Bands auf und coverten die neuesten Sounds aus dem Westen. Die West-Konkurrenz erhöhte den Druck auf die SED-Führung abermals, bisher verfemter Musik Räume zu bieten, um das Publikum nicht vollends zu verlieren. Dem steigenden Bedarf des Rund- und Fernsehfunks an aktueller Popmusik war nur durch eine drastische Erweiterung des Angebotes beizukommen. Redakteure des Rundfunks agierten erneut als Brückenbauer und initiierten 1969 das Talentprojekt »Tag der offenen Tür«, bei 33 Vgl. Interview im Zeit-Magazin vom 9.10.1973. 34 Prokop: Studenten im Aufbruch, S. 69. 35 Das Lied Spiel nicht mit den Schmuddelkindern hatte Franz Josef Degenhardt 1965 bundesweit bekannt gemacht. Es war zu einem Klassiker der Protestbewegung geworden, vgl. Götsch: Linke Liedermacher, S. 659 f. 36 Vgl. Rauhut: Rock, S. 41.
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dem auch unbekannte Bands Studioaufnahmen bei Amiga machen konnten, die dann im Rundfunk ausgestrahlt wurden.37 1971 wurde das Talentprojekt unter die Schirmherrschaft des ZK der SED gestellt und unter dem Namen »Rhythmus« fortgesetzt. Bis 1978 erarbeiteten so genannte kulturpolitische »Entwicklungsgruppen« mit Bands und Solisten Programme, die in jährlichen Konzertveranstaltungen und auf Schallplatten vorgestellt wurden. Die Einführung der Sampler-Serie hallo wurde mit der Formel »Offensive durch Kooperation« begründet. Nur so, hieß es im Fachmedium Melodie & Rhythmus, könne man »die reaktionären Manipulierungsprodukte der kapitalistischen Schlagerindustrie wirkungsvoller als bisher zurückdrängen«.38 1970 wurde zudem das »Festival des politischen Liedes« ins Leben gerufen, das seitdem einmal jährlich in Ostberlin stattfand. Auf der ersten Veranstaltung sang die westdeutsche Band Die Conrads: Wem soll getraut werden im Kampf gegen den Imperialismus? und offenbarte damit – ganz im Sinne der antikapitalistischen Argumentationslinie der Veranstalter – die zunehmende Verunsicherung der westdeutschen Szene angesichts einer um sich greifenden Kommerzialisierung und politischen Desorientierung. 39 Das in den Medien stetig erneuerte kapitalistische Feindbild lenkte erfolgreich von der eigenen popkulturellen »Kommerzialisierungsstrategie« sozialistischer Prägung ab, die nach dem Machtwechsel zu Honecker offensiv verfolgt wurde. In den 1970er Jahren wurden kulturpolitische Entscheidungen immer stärker durch wirtschaftliche Rationalitätsprinzipien bestimmt. Publikumswünsche traten in den Vordergrund und verdrängten einstige ideologische Bedenken.40 Dazu gehörte auch, dass man das Auftrittsverbot missliebiger Bands überdachte, wenn diese weiterhin populär waren und gute Plattenverkäufe versprachen. So traten die Musiker der jahrelang verbotenen Klaus Renft Combo (später Renft) 1973 auf den Weltfestspielen der Jugend in Ostberlin wieder vor einem Millionenpublikum auf. Die erneute Verbotswelle nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 traf zwar einige Musiker, die wie Renft bei Inhalt und Stil keine Kompromisse machen wollten. An der etablierten Zusammenarbeit vieler Musiker mit der staatlichen Kulturpolitik änderte dies aber nichts. Der Rundfunk hatte sich als Talentsucher etabliert, der neue Strömungen zwar mit Verzögerung, aber stetig in das staatliche Unterhaltungsangebot integrierte.
37 Vgl. ebd., S. 49. 38 Melodie und Rhythmus 11/1971, S. 2, zit. n. Rauhut: Rock, S. 51. 39 Vgl. 1. Festival des politischen Liedes, Song‘70, Eterna 815053, 1970 [LP]. 40 Vgl. Larkey: Rotes Rockradio, S. 52 ff.
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A LTERNATIVE G EGENSTRATEGIEN ZU ETABLIERTEN P OP -S TRUKTUREN
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Als Gegenentwurf zur Kommerzialisierung des Underground in der Bundesrepublik versuchten einige Bands, sich den Vermarktungsstrategien der Plattenfirmen zu verweigern. Sie lebten als Musikerkommunen zusammen und produzierten ihre Musik selbständig. Der Folk als gemeinsame stilistische Klammer allerdings war Anfang der 1970er Jahre obsolet geworden. Der klassische Protestsong hatte eine Wandlung durchgemacht. Mit deutschen Texten und elektronisch verstärktem rockigen Sound gab man sich kämpferischer als die Folkbarden aus den 1960er Jahren. Die Westberliner Band Ton Steine Scherben entstand aus einem sozialkritischen Straßentheater, das mit dem Song Macht kaputt was euch kaputt macht! eine erste Single ohne die Hilfe eines Plattenlabels produzierte und selbst vertrieb.41 Die Band, die sich im Dezember 1971 an der Besetzung des leer stehenden Krankenhauses Bethanien in Kreuzberg beteiligte, gründete bald darauf das Independent-Label David Volksmund Produktion. Später folgte gemeinsam mit anderen alternativen Bands und der finanziellen Unterstützung des trikont-Verlages die Gründung des Plattenlabels Schneeball-Vertrieb der Musiker, das mithilfe von befreundeten »Städtevertretern« den Verkauf der Platten organisieren sollte. In einer Stellungnahme wurden auch andere Gruppen dazu aufgefordert, ihre eigenen »Schneebälle« zu machen und sie »den Bossen der Plattengesellschaften an die Backe zu schmeißen, dass ihnen das Pfeifen vergeht«.42 Doch die antikommerziellen Ideale waren schwer aufrechtzuerhalten. Schon früh wurde vor der Armutsfalle gewarnt, in die sich die Produzenten der alternativen Subkultur selbst hineinmanövrierten, und Selbstausbeutung als »ein strukturelles Moment alternativer Ökonomie« identifiziert.43 Ton Steine Scherben kehrten 1975 der auch durch die RAF sich radikalisierenden Szene Westberlins den Rücken und zogen auf einen Bauernhof in Friesland. Andere subkulturelle Akteure wie die Band Embryo suchten in Indien nach Alternativen.44 Mit der Popularisierung des Disco-Sounds und des Soul Mitte der 1970er Jahre schien Popkultur für alternative Lebensentwürfe im Sinne einer Gegenkultur kaum noch zu taugen. 41 Vgl. Sichtermann/Johler/Stahl: Keine Macht für Niemand, S. 19 f. 42 Zit. n. Hollstein/Penth: Alternativprojekte, S. 232. 43 Preußer: Zwangsalternativen, S. 7. 44 Vgl. Vagabundenkarawane. Eine Reise nach Indien mit der Gruppe Embryo, Deutschland 1978, 115 Minuten. Regie: Werner Penzel, Produktion: Werner Penzel Filmproduktion.
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In der DDR eroberte sich der Folk in seiner ursprünglichen Form mit der Zeit seine Geltung als probates Ausdrucksmittel einer selbstbestimmten Popkultur zurück. Die nachrückende Folkszene versuchte Distanz zu offiziellen Institutionen zu halten, was allerdings aufgrund der ausgereiften Einhegungstaktik staatlicher popkultureller Instanzen selten von langer Dauer war. Mitte der 1970er gründete eine Gruppe Leipziger Studenten, die sich in der Singebewegung der FDJ nicht mehr wohlfühlten, die Folkländer.45 Vorbild war die irische Folkband Sands Family, die durch die DDR tourte. 1976 riefen sie andere DDR-Folkmusiker zu einer Werkstatt zusammen, um der Szene jenseits offizieller Veranstaltungen wie dem Fest des deutschen Volkstanzes eine Plattform zu bieten. Daraus entstand das Folklore-Initiativ-Komitee (FINK), das vom Kulturministerium kurzerhand verboten wurde. Stattdessen versprach das Ministerium die Gründung einer speziellen Arbeitsgruppe und forderte von den Folkmusikern, sich auf deutsches Volksliedgut zu beschränken.46 Als Gegenleistung durfte 1977 eine zweite Folkwerkstatt in Berlin-Prenzlauer Berg unter der Schirmherrschaft der FDJ stattfinden.47 Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns im Herbst 1976 standen kritische Liedermacher unter besonderer Beobachtung. Veranstaltungsreihen wie der von Bettina Wegner organisierte »Eintopp« im Haus der Berliner Talente wurden bereits 1975 verboten.48 Weniger verdächtig waren Folk-Gruppen, die mit ihrem Repertoire aus deutschen und internationalen Volksliedern auf Mittelaltermärkten wie dem Krämerbrückenfest in Erfurt oder dem Folklorefestival in Rudolstadt auftraten. Doch auch mit deutschen Bänkelliedern bewegte man sich auf einem schmalen Grad. So wurde das Spottlied Schützenliputzhäusl der Folkband Liedehrlich, deren Sänger Stephan Krawczyk später als systemkritischer Solist bekannt wurde, 1979 verboten. Ähnlich wie in der Bundesrepublik mischten sich in den 1970er Jahren zunehmend die musikalischen Stile. Blues und Beat nahmen Folk-Anleihen auf. Deutsche Texte wurden mit rockigen Sounds gemischt. Wichtiger als unterschiedliche Musikvorlieben war ohnehin der gemeinsame alternative Lebensentwurf, mit dem man sich dem offiziell propagierten sozialistischen Kollektiv- und Arbeitsethos verweigerte.
45 Vgl. Wolff: Ade, ihr wackeren Volksvertreter. 46 Das Repertoire stammte vornehmlich aus einer Volksliedersammlung aus den fünfziger Jahren, die in der DDR nicht mehr aufgelegt wurde, aber 1979 im westdeutschen Verlag Zweitausendeins als Taschenbuchausgabe erschien und so Verbreitung in der DDR fand, vgl. Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters. 47 Vgl. Wolff: Ade, ihr wackeren Volksvertreter. 48 Auch die Folgeveranstaltung »Kramladen« im Jugendklub Weißensee wurde nach kurzer Zeit verhindert, vgl. Wegner, Wenn meine Lieder nicht mehr stimmen, S. 8 f.
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In Städten wie Jena, Halle, Dresden und Leipzig entstanden Anfang der 1970er Jahre Wohngemeinschaften, die ein pragmatischeres Lebenskonzept verfolgten als die frühen Kommunen in Westberlin. In den Altbauvierteln suchten sich Jugendliche leer stehende Wohnungen und übernahmen so nach und nach ganze Häuser und Straßenzüge, in denen sie gemeinschaftlich leben konnten.49 Auf ideologisch untermauerte Regeln wurde verzichtet. Wichtiger war die individuelle Selbstverwirklichung: »Wir hatten keine Literatur gelesen über Hausbesetzer oder Kommunen«, so Gerold Hildebrand, der damals in Jena wohnte. »Man wusste, dass es das gab, aber es war nicht so, dass man dem nacheiferte.«50 Außerhalb der staatlichen Kontrolle entstand dadurch eine alternative Szene, die neue Formen selbstbestimmter Popkultur entwickelte. Unter der Woche ging man seinen beruflichen Verpflichtungen nach und am Wochenende trampte man gemeinsam auf »Muggen« genannte Konzerte in die Umgebung. Biermanns Lieder blieben – besonders nach seiner Ausweisung 1976 – wichtig als Mittel dissidenter Selbstvergewisserung. Der feine, aber entscheidende Unterschied zwischen staatlich autorisierten und unangepassten Bands war am Verhältnis zum Publikum abzulesen. Gruppen wie Monokel und Renft zelebrierten ihre Konzerte als eigensinnige subkulturelle Statements gegen die Macht der Partei und ihre Versuche die Popkultur zu instrumentalisieren, auf die sich eine Vielzahl einst subversiver Bands eingelassen hatte. Anders als in der Bundesrepublik verfügten Musiker in der DDR jenseits von Live-Auftritten kaum über Möglichkeiten, ihre Musik zu vertreiben und damit Geld zu verdienen. Nur wenige, deren Auftritte in der DDR behindert wurden, konnten in der BRD Platten aufnehmen und auftreten.51 Ab Mitte der 1970er Jahre erlebte auch die Bundesrepublik ein Folk-Revival. Der Folk schien sich neben den vielen unverfänglichen Botschaften der unübersichtlich gewordenen Popmusik eine ursprüngliche und idealistische Note bewahrt zu haben und war deshalb besonders unter Studenten beliebt. Die Friedensbewegung, die nach dem NATO-Doppelbeschluss zur Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland 1979 enormen Zulauf erhielt, fungierte dabei als Verstärker. Wie in den 1960er Jahren auch, engagierten sich viele Folk-
49 Vgl. Grashoff: Schwarzwohnen. 50 Interview mit Gerold Hildebrand am 22.5.2012. 51 Prominenteste Ausnahme war, neben Wolf Biermann, Bettina Wegner, deren LP Sind so kleine Hände 1979 von der amerikanischen Plattenfirma CBS produziert wurde und eine Goldene Schallplatte gewann. 1981 trat sie mit Folk-Ikone Joan Baez vor 20.000 Zuschauern in der Berliner Waldbühne auf, bevor sie 1983 wegen angeblicher Devisenvergehen in der DDR angeklagt und ausgebürgert wurde.
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musiker und Liedermacher in West und Ost für dieses klassische Thema der internationalen Linken und traten als Begleitprogramm auf Demonstrationen auf. Als Gegenentwurf zu kommerziellen Konzerten etablierten sich eine Reihe alternativer Festivals. Die Veranstalter appellierten an das soziale Bewusstsein der Besucher und verstanden sich explizit als antikapitalistische Alternative. »Wir wollen kein Festival, bei dem ein Konsument mit dem Eintrittsgeld seine Eigenverantwortung an der Kasse abgibt«, begründeten die Veranstalter des Vlotho-Festivals »umsonst und draußen« ihr Unternehmen, das seit 1975 in einer nordrheinwestfälischen Kleinstadt stattfand, »wir wollen ein gemeinsames Fest, bei dem jeder die Möglichkeit hat, etwas einzubringen.«52 1976 wurden in der Bundesrepublik 18 Folkfestivals gezählt, nicht selten durch öffentliche Gelder gefördert. Die Konzerte auf der freien Wiese passten zu einem alternativen Lebensgefühl, das immer größere Gruppen der Gesellschaft erfasste und sich in den basisdemokratisch orientierten Bürgerbewegungen der 1970er Jahre ausdrückte.
F AZIT Der Folk war der erste popkulturelle Stil, der international erfolgreich Sozialkritik formulierte und zugleich die kommerziellen Strukturen der Popkultur infrage stellte. Anders als bei früheren Stilrichtungen des Pop wie dem Rock’n’Roll und dem Beat war das Mit-, Nach- und Selbersingen beim Folk zentral. Dadurch wurde das Verhältnis zwischen dem von der Plattenfirma abhängigen Musiker und einem bezahlenden Publikum vollkommen neu definiert. Folkmusiker popularisierten eine durch Musik und geteilte Ideale verbundene Pop-Gemeinschaft, die sich jenseits der kommerziellen Strukturen organisierte. Damit stand die Folkmusik, die durch ihre internationale Popularität den im sozialkritischen Arbeiterlied verankerten Protestsong revitalisierte, wie kein anderer Stil für eine selbstbestimmte Popkultur, die soziale Hierarchien infrage stellte. Vor dem Hintergrund der Studentenproteste, der Niederschlagung des Prager Frühlings, des politischen Tauwetters zwischen BRD und DDR sowie der Friedensbewegung wurden in der zunehmend deutsch singenden Folk- und Protestsong-Szene Konflikte formuliert, die keine institutionalisierten Räume für ihren Protest fanden. Mit ihrer Offenheit gegenüber unkonventionellen Lebensstilen grenzten sich der Folk und seine Vertreter aber auch gegen kulturkritische Erziehungsansprüche konservativer und linker Provenienz ab. Durch demonstratives »Gam-
52 Zum Vlotho-Festival »umsonst und draußen«, zitiert nach: Hollstein/Penth: Alternativprojekte, S. 233.
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meln« und gemeinsames Wohnen wurden neue Formen politischen Protests demonstriert, die privates und öffentliches Leben nicht mehr trennten und damit gesellschaftliche Teilhabe beanspruchten. Gerade in der DDR war die Möglichkeit, Kritik an den Verhältnissen durch subtile popkulturell inspirierte Mittel auszudrücken, ein wichtiges Instrument, um der umfassenden gesellschaftlichen Kontrolle etwas entgegenzusetzen. Im gemeinschaftlichen musikalischen Erlebnis trafen sich selbst gewählte stilistische Vorlieben mit selbstbestimmter Kollektivität. In der Hootenanny-Bewegung versuchte die FDJ, diese Impulse in staatlich kontrollierte Bahnen zu lenken und zu ideologisieren – mit durchwachsenem Erfolg. Der Folk forderte mit seiner Tradition, in privaten Räumen kreativ Protest zu formulieren, das Kontrollsystem der sozialistischen Diktatur per se heraus. Den Kulturwächtern der DDR gelang es nur durch eine offensive Popularisierung zunächst auch unbequemer Bands zu verhindern, dass die Jugend ihre popkulturellen Bedürfnisse allein über westliche Angebote stillte. Damit hatte die politische Führung zwar mit gezielt eingesetzten kommerziellen Mitteln eine staatssozialistische Kulturindustrie geschaffen, die den sozialkritischen Protestsong als Kapitalismusschelte instrumentalisierte. Das kritische Potenzial der aus der Folkbegeisterung entstandenen Protestlieder-Kultur konnte man damit aber nicht schmälern. In der Bundesrepublik hingegen waren die Möglichkeiten für die Herausbildung alternativer Strukturen ungleich größer. Die kommerzielle Verwertung des Pop und seines Protestpotenzials blieb der entscheidende Kritikpunkt vor allem linker Kulturproduzenten. Folkmusiker und Protestsänger waren aufgrund ihrer antikommerziellen Ideale umso stärker dem Vorwurf ausgesetzt, sich zu vermarkten, wenn sie Erfolg hatten. Neben sich liberalisierenden öffentlichen Kulturinstitutionen etablierten sich deshalb alternative popkulturelle Ökonomien. Das kommerzielle System der Kulturindustrie wurde dadurch zwar kurzzeitig herausgefordert, aber mitnichten abgeschafft. Es blieb hart umkämpftes und gleichzeitig hoch produktives Einfallstor und zugleich Negativmodell für kreative Gegengründungen und popkulturelle Neuerungen jeder Art.
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Deutsch Amerikani sche Freundschaft: Kebap Träume / Ein bisschen Krieg. Virgin Records 104 416 -100, 1982 [Single].
Chor und Orchester des Erich Weinert Ensembles, Chor und Orchester des Ensembles der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland: Jungs aus Moskau und Berlin. Sonderausgabe zum 40. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus und der Befreiung des deutschen Volkes, zum 30. Jahrestag der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand. VEB Deutsche Schallplatten 815093, 1985 [LP].
Kung Fu Pop? Zur Ästhetisierung des Körpers zwischen Dojo und Disco (Westdeutschland 1960er bis 1980er Jahre) M ARCEL S TRENG
Ist Pop ein westliches Phänomen? Hält man sich an Thomas Hecken und seine empirisch gesättigte Konzeptgeschichte des Pop, dann scheint auf der Hand zu liegen, dass es sich um ein Phänomen handelt, das »im Westen« entstanden ist und von hier aus vor allem im transatlantischen Raum expandierte.1 Der folgende Beitrag problematisiert diese implizite Vorstellung, indem er auf die Relevanz von asiatisch-pazifischen Elementen – hier des Kung Fu2 – für die Popgeschichte und dezidiert für eine Körpergeschichte des Pop hinweist. Allerdings bleibt dabei von vornherein offen, ob und wie es sich dabei überhaupt um »Pop-Geschichte« handeln kann – wenn unter dieser Bezeichnung vor allem Populärkulturen und kulturindustrielle Produktionsregime betrachtet werden, in denen Musikstile, Plattenlabels, Bekleidung und Jukeboxen im Zentrum standen.3 Schon zwischen dem so genannten asiatischen Kampfsport, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in Westdeutschland zum Breitensport entwi-
1
Hecken: Pop; vgl. auch Mrozek: Popgeschichte, S. 2. Ich danke Alexa Geisthövel und Bodo Mrozek, die die Entstehung dieses Beitrags mit kritischer Aufmerksamkeit begleitet und nicht zuletzt auch einschlägiges Material beigesteuert haben.
2
Vgl. jetzt: Gates/Funnell (Hg.): Transnational Asian identities. Andere Elemente sind denkbar, etwa die Manga-Kultur oder das Phänomen des Karaoke, die die transatlantische Popgeschichte zur Globalgeschichte ausweiten würden. Vgl. McCarthy: A brief history of manga; Stevens: Japanese Popular Music; Zhou/Tarocco: Karaoke.
3
Vgl. hierzu sowie zum klassisch sozialgeschichtlichen Zugang zur Popgeschichte den Beitrag von Klaus Nathaus in diesem Band.
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ckelte, und den intellektuellen Diskussionen, in denen das »kapitalistisch-demokratische«, »hedonistische«4 Phänomen Pop – als Pop-Art – etwa zur selben Zeit in die Welt gesetzt wurde, scheinen auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick Welten zu liegen. Selbst singuläre popsemiotische Ereignisse wie der internationale Soulhit Everybody was Kung Fu-Fighting des Jamaikaners Carl Douglas aus dem Jahr 1975 sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kung Fu mit der musikalischen Form des Pop nur wenige Gemeinsamkeiten aufwies. Um also zumindest von popgeschichtlichen Aspekten des Kung Fu in den langen 1970er Jahren sprechen zu können, sind zwei Präzisierungen notwendig: zum einen muss sich die Untersuchung des Zusammenhangs von Pop und Kung Fu – einem Gedanken Urs Stähelis folgend – im eskalierenden Spiel der Unterscheidungen und Stilisierungen bewegen, das sich in den 1960er Jahren ausgehend von der bildungsbürgerlichen Grundunterscheidung in Hochkultur und Sub-/Massen-/Populär- und Jugendkultur rasant entfaltete und das für das Phänomen Pop gewissermaßen konstitutiv ist, ohne sich dabei indes von vornherein auf eine Kunstform (Musik, Malerei, Film usw.) festzulegen.5 Zum anderen muss für die Analyse der Divergenzen, Konvergenzen und komplexen Übersetzungsprozesse zwischen Kung Fu und Pop unweigerlich der Körper ins Zentrum rücken – als Hauptadressat sowohl der Kampfkunsttechniken in deren Arena, dem Dojo, als auch der Hörgewohnheiten, Kleidungsstile und Tanztechniken bzw. -stile in der Disko. Vor diesem Hintergrund geht es im Folgenden um Prozesse an der Grenze von Pop und Kung Fu: auf der einen Seite um einen Prozess der Popkultivierung des Kung Fu und um spezifische, an Kung Fu anknüpfende Somatisierungsprozesse der Popkultur auf der anderen Seite.
A SIAN M ARTIAL A RTS : D ER A UFSTIEG DES K AMPFSPORTS IN W ESTDEUTSCHLAND NACH DEM Z WEITEN W ELTKRIEG Die Verbreitung asiatischer Kampftechniken verlief in (West-)Deutschland in drei großen Phasen.6 Erstmals greifbar sind sie in den 1920er und 1930er Jahren, als sich in der Weimarer Republik Jiu Jitsu etablierte. Getragen und mitunter durch spektakuläre Schaukämpfe beworben von wenigen, männlichen Protago-
4
Hecken: Pop, S. 136 ff.
5
Stäheli: Das Populäre, S. 146-167; Hecken: Pop, S. 51-92; vgl. zur Rationalität von Ästhetisierungsprozessen generell auch Luhmann: Die Kunst.
6
Vgl. zum Folgenden: Streng: Kampf – Kunst – Körper.
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nisten gewann diese von Japanern abgeschaute »Selbstverteidigungskunst«7 in Deutschland erste »Jünger«8, die sich teils in privaten Ausbildungsinstituten, teils in bestehenden Sportverbandsstrukturen oder in ersten Vereinen organisierten.9 Die Etablierung dieser Kampftechniken im Kanon der geläufigen Kampfsportarten Boxen und Ringen verlief dabei vor allem über öffentliche Institutionen wie Armee und Polizei, die von ihrer Effizienz als »waffenlose Selbstverteidigung«10 überzeugt werden konnten und sie in ihre Ausbildungsprogramme übernahmen. In der zweiten Phase nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich Judo als die versportlichte Form des Jiu Jitsu durch, ohne dass die Auseinandersetzungen mit Boxern und Ringern über die Legitimität dieser »Kampfweise«11 noch eine große Rolle gespielt hätten. Dagegen differenzierte sich das jetzt nachhaltig etablierte Feld der so genannten asiatischen Kampfkünste in den 1950er und 1960er Jahren immer stärker aus. Zu Judo kamen in dieser Phase in immer kürzeren Abständen neue Kampftechniken, zunächst Karate und Aikido, dann Taekwondo und Hapkido. Der Deutsche Judobund (DJB), der erste sportpolitische Dachverband in diesem Bereich, übernahm zunächst auch die Vertretung und Organisation für diese Kampftechniken. Dabei ist zu beobachten, dass das frühe Karate in der Bundesrepublik stark durch die Vermittlung der in den Westzonen stationierten GIs geprägt war.12 Um 1970 gingen diese Sportarten auch organisatorisch eigene Wege. Die dritte Phase setzte Mitte der 1970er Jahre durch die Rezeption nicht mehr nur japanischer und koreanischer, sondern vor allem chinesischer Kampftechniken ein. Die nun unter dem Label »Kung Fu« bekannt werdenden Wushuund Ving-Tsun-Systeme wurden in weit geringerem Ausmaß von Versportlichungsprozessen erfasst, die etwa für Judo und Karate in der Bundesrepublik prägend gewesen waren.13 Die auf chinesische Ursprünge zurückgeführten Kung-Fu-Techniken erwiesen sich bald als so vielfältig, dass das Feld der in der BRD bekannten und trainierten Kampftechniken sich im Verlauf der 1970er 7
O. A.: Was ist Judo? in: Judo 1 (1961) 6, S. 3.
8
Dauhrer: Der waffenlose Nahkampf, S. 6, 7, 52; Bach: Verteidige Dich selbst, S. 9, 10; Knorn: Das japanische Jiu-Jitsu, S. 9.
9
Pfister: The Fascination, S. 21 f.
10 Diwischek: Jiu Jitsu, S. 5. 11 Stephan: Körperkultur, S. 8. 12 Einer der prominentesten karateübenden Besatzungssoldaten war Elvis Presley. Seine Karatebegeisterung ist bekannt, und nicht von ungefähr erinnern die berühmten zweiteiligen jumpsuits an Karate-Gis, vgl. Carman: Elvis’s karate legacy. 13 Vgl. hierzu sehr kenntnisreich, wenn auch nicht stringent historisch argumentierend: Hintelmann: Fernöstliche Kampfkunst.
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Jahre stark ausdifferenzierte. Auf einem von Spezialverlagen mit Broschüren und Magazinen und von Versandhäusern mit Ausrüstungsgegenständen und anderen Gadgets wie Wurfsternen bestückten Markt erschienen die ersten Speziallexika, die das angewachsene Wissen und die Nomenklaturen ordneten.14 Nun war generell weniger die Rede vom Kampfsport als von der Kampfkunst, weniger von Kampftechniken als von Kampfstilen. In der Folge dieser Konjunktur verzeichneten in den 1980er Jahren selbst die inzwischen reichlich konventionell erscheinenden Sportarten wie Judo und Karate Spitzenwerte in ihren Mitgliederstatistiken: der DJB hatte Mitte der 1980er Jahre über 200.000 Mitglieder15, Karate etwa 180.000.16 Seit den Anfängen in den 1920er und 1930er Jahren waren die Selbst- und Fremdbeschreibungen derjenigen, die sich selbst als Kampfsportler oder Kampfkünstler verstanden, durch eine Leitsemantik geprägt – die Semantik der Gewalt. Unablässig hatten es die Vertreter der Kampftechniken mit dem Vorwurf zu tun, dass ihre Tätigkeit besonders durch körperliche Gewalt geprägt sei, dass sie körperliche Gewalt fördere, ja dass sie zu besonders effizientem, verletzungsträchtigem Gewalthandeln ausbilde.17 Der Macht dieses Diskurses ist es zu verdanken, dass sich das Feld der asiatischen Kampftechniken in Deutschland zunächst versportlichte, dass das mit zahlreichen Griffen, Tritten und Schlägen gegebene Verletzungsrisiko durch Wettkampfregeln minimiert wurde, dass sich selbst innerhalb des Feldes eine Differenzierung zwischen gewaltaffinen Techniken für den »Ernstfall« der Selbstverteidigung und vermeintlich »weicheren«, präventiven Techniken für die Persönlichkeitsbildung ergab.18 Freilich bestritten – und bestreiten – bürgerliche Beobachter_innen der asiatischen Kampftechniken diesen Diskurs bis heute mit einer asymmetrischen Unterscheidung, die wie ein fernes Echo des Grundthemas klingt, das für das Phänomen Pop in den 1960er Jahren konstitutiv war: asiatischer Kampfsport wurde und wird vorwiegend als Lieblingsbeschäftigung jugendlicher Männer aus der urbanen Unterschicht beschrieben. In einem Spiegel-Artikel von 1976 ist die schaudernde Faszination mit Händen zu greifen. Unter dem Titel Eins auf die Ohren, daß die Heide weint. Karate, 14 Vgl. Velte: Budo-Lexikon. 15 Vgl. Pfister: The Fascination, S. 24. 16 Goldner: Fernöstliche Kampfkunst, S. 12. Dabei sind Doppelzählungen nicht ausgeschlossen, weil viele Kampfsportbegeisterte beide Kampfsportarten trainierten. 17 Da zunächst vor allem Soldaten und Beamte mit Bürger_innenkontakt diese Kampftechniken trainierten, war das auch nicht von der Hand zu weisen – ein Hinweis auf ihre grundlegende Ambivalenz. Vgl. Streng: Kampf – Kunst – Körper. 18 Vgl. ebd.
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Taekwon-Do, Kung Fu – fernöstlicher Kampfsport in der Bundesrepublik veröffentlichte das Magazin eine umfangreich recherchierte Reportage über den »waffenlosen Körperkampf nach Art des Fernen Ostens […], für den sich Bundesbürger zunehmend interessieren«.19 Was sie dazu treibe, »ihre Hände wie Äxte zu gebrauchen«, sei »nicht auf Anhieb auszumachen«20, hieß es dort. Es sei wohl »ein Geflecht von Gründen und Anlässen«, das den »Boom des Fäusteballens« nähre und nun auch »eine Reihe von Akademikern« in die Ausbildungszentren führe: »Solche Kunden sind den Verteidigungs-Unternehmern […] besonders willkommen; denn häufig, so der Hamburger Kampfklubleiter Thomas Born, ›zieht der Karate-Sport Leute an, die von vielen doch als etwas primitiv angesehen werden‹«.21 Dieses Streben der Protagonisten nach Respektabilität relativierte der Bericht mit dem Hinweis eines Soziologen der Wiesbadener Polizei, »›dass sich in diesen Schulen natürlich auch Kriminelle tummeln, denn die kommen ja schließlich nicht mit einem Kainszeichen auf der Stirn‹«.22 Bereits auf dem Höhepunkt der gegenkulturellen Revolte, im August 1969, hatte sich der DJB offiziell bemüßigt gesehen, gegen ähnliche in der Öffentlichkeit erhobene Vorwürfe Stellung zu beziehen. Unter der Überschrift Judo, Karate, Aikido und Rowdies verfasste der Polizeikommissar Karl Böhlein einen langen Artikel für das Verbandsmagazin Judo, in dem er das Argument zu widerlegen versuchte, »dass solchen Jugendlichen [Halbstarke, Rocker und Rowdies, M. S.] durch Teilnahme am Judo und Karate in Sportvereinen die Möglichkeit geboten wird, sich Fähigkeiten besonderer Art anzueignen, die sie in vermehrtem Maße befähigen, ihren Unternehmungen zum Erfolg gegenüber wehrlosen Bürgern zu verhelfen.«23
Der Verfasser hielt dies für »völlig abwegig«. Das Gegenteil sei der Fall: »Durch die Beschäftigung mit Judo, Karate und anderen Budosportarten werden Jugendliche gleichzeitig zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen«.24 Auch Rolf Brand, seines Zeichens Sachbearbeiter für Budosportarten im DJB, war dieser Ansicht – ja mehr noch, schien in seiner Argumentation, die Böhleins Artikel 19 O. A.: ›Eins auf die Ohren, daß die Heide weint‹. Karate, Taekwon-Do, Kung Fu – fernöstlicher Kampfsport in der Bundesrepublik, in: Der Spiegel 19/1976, 3.5.1976, S. 100-108, hier S. 100. 20 Ebd., S. 100. 21 Ebd., S. 103. 22 Ebd., S. 104. 23 Karl Böhlein: Judo, Karate, Aikido und Rowdies, in: Judo 9 (1969) 8, S. 8-9, hier S. 8. 24 Ebd., S. 13.
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einführte, eine entschlossene Pädagogisierung des Judo auf: »Die Beherrschung hochwirksamer Techniken führt letztlich zur Gewaltlosigkeit. Allen verantwortungsbewussten Eltern wird […] ein Weg aufgezeigt, wie man junge Menschen durch Überwindung des ICH zum besseren Verständnis für den Mitmenschen führen kann«.25 Die Beziehung zwischen Judo und den Jugendkulturen, die in den 1950er und 1960er Jahren noch weitgehend kriminalisiert wurden26, war also grundsätzlich problematisch: wie konnten »Judo, Karate und andere Budosportarten«, wie konnte Kampfsport generell als Distinktionsmittel für Jugendliche attraktiv sein, wenn er zugleich von Polizisten und Ausbildern in den Rahmen einer pädagogischen Strategie gestellt wurde, die diese Jugendlichen tendenziell zu Anormalen machte, indem sie sie erst einmal performativ aus der gesellschaftlichen Normalität ausschloss? Diese Frage öffnet die Perspektive für die komplexen Übertragungswege von Kampftechniken in jugendkulturelle Milieus. Inwiefern taugten diese Selbstführungskünste, die auf spezifische Weise den Körper und bodily skills zur Distinktion einsetzten, als Selbstermächtigungstechniken? Welche Elemente des Kung Fu waren zitierfähig und zur Distinktion einsetzbar?
K UNG -F U -K ÖRPER : S UBJEKTIVIERUNGSSTRATEGIEN IN DER K AMPFKUNST AN DER G RENZE ZUM P OP Dass Kampfkunst und das Kung-Fu-Filmgenre gerade Jugendlichen ein starkes Identifikationsangebot machen, gehörte von Beginn an zu den Gemeinplätzen der Szene. So beschrieb der Judoka Claus Beissner in Judo die Subjektposition, die die »vielen jungen Menschen« gegenüber den Eastern-Filmen einnehmen konnten: »Kung oder Zhaoi, die Unbesiegbaren, machen es möglich, dass sich auch der Schwächere als Held fühlen kann. Handkantenschläge und Fußtritte lassen auch den härtesten Gegner geschlagen auf dem Kampffeld zurück«.27 Das Bruce-Lee-Poster in der Waschecke, in der sich »Toni Manero« alias John Travolta im Disco-Film Saturday Night Fever kurz nach der Kung-Fu-Welle im Jahr 1977 auf den abendlichen Diskobesuch vorbereitet, steht für den ikonischen
25 Rolf Brand: Sachbearbeiter für Budo-Sportarten im DJB, in: Judo 9 (1969) 8, S. 8. 26 Vgl. Mrozek: Die verkannte Generation, S. 118-130; vgl. grundlegend Siegfried: Time; Janssen: »Don’t knock the Rock!«, S. 257-265. 27 Claus Beissner: Die Unbesiegbaren, in: Judo 13 (1973) 11, S. 15.
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Status, der Bruce Lee unter jugendlichen Popadepten zumindest von den Produzenten des Films zugeschrieben wurde.28 Die Erzählstrukturen vieler Kung-Fu-Filme glichen sich bis in die 1980er Jahre weitestgehend: dem oder den Protagonist_innen wurde zu Beginn der Story erhebliches Unrecht zugefügt; im weiteren Verlauf fochten sie verschiedene Prüfungskämpfe mit Handlangern aus und kämpften sich zu den Verursachern des ursprünglichen Unrechts vor, bis der Konflikt im Finale durch den Sieg der Protagonist_innen aufgelöst wurde. In der Regel unterschätzten die Herrschenden die Rächer_innen, bis sie die ersten Schläge eingesteckt hatten. Dann war es für sie meist zu spät. Die Filme formulierten eine ganze Reihe moralischer Botschaften: Gewalt war legitim, solange sie zum Ausgleich eines Unrechts eingesetzt wurde – dies umso mehr dann, wenn die legitimen Ordnungshüter nicht eingriffen oder gar mit den Unrechtsurheber_innen gemeinsame Sache machten; viele Filme arbeiteten sich an Rache als Motivation ab, sei es, dass sie dem Helden oder der Heldin einen Meister zur Seite stellten, der darauf achtete, die körperliche Ausbildung und Vorbereitung auf die Mission durch eine Bearbeitung der Gefühle und der Seele zu ergänzen, um den vor Sorge, Wut und Trauer Blindwütigen die Augen zu öffnen, sei es, dass sie den Rächenden den Triumph verwehrten, indem sie selbst am Ende so schwer verletzt wurden, dass sie den Fieslingen ins Jenseits folgten. Und schließlich inszenierten die Filme die Gewissheit, dass sich vermeintlich Schwächere gegen Stärkere durchsetzen konnten, wenn sie, im Verlauf der Geschichte durch asiatische Kampftechniken an Körper und Geist geschult, die Hybris der Herrschenden gegen sie wendeten und zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzten. Die Möglichkeit, mithilfe von so genannten fernöstlichen Kampftechniken solche David-vs-Goliath-Situationen zugunsten Davids aufzulösen, spielte in der Werbung für diese Kampfkünste eine zentrale Rolle29, war sie doch schon dem Judo konstitutiv eingeschrieben: »Siegen durch Nachgeben« war die Maxime, mit der immer wieder herausgestellt wurde, dass es aufgrund der Körpertechni28 Geisthövel: Anpassung. 29 Vgl. etwa o. A.: Boy’s Judo – Sport – Defense, in: Black Belt. The Magazine of SelfDefense 1 (1962) 2, S. 50-51: »Judo is a form of knighthood training. The knowledge you gain will make you a strong, confident and self-controlled person. To be a bully is to be weak. To be quiet, calm, attentive and considerate is to be strong. When you are in trouble, you must clear your mind quickly so that you can do what is best. This takes much practice. It is too late to learn when trouble comes. If you try to learn judo only to hurt others, your mind is not clear and chances are you will be defeated. The goal of judo is to help make a better society by development of well adjusted individuals.«
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ken nicht auf überlegene Physis, sondern auf den geschickten Einsatz von Hebelgesetzen und den sparsamen Einsatz der eigenen Kräfte ankam, durch die sich die Kraft des Gegners gegen ihn wenden ließ. Wie die Ausführungen des weiter oben zitierten Polizisten Böhlein anzeigen, ging es der »Budo-Pädagogik«30 allerdings nie nur explizit um die Somatisierung von Techniken, mit denen stärkere Gegner überwunden werden konnten, sondern zugleich und vor allem darum, vermittels des Trainings die verletzende Wirkung der eigenen Mittel kennen und einschätzen zu lernen – mithin um Respekt vor der Kunst wie vor der Gesundheit des Anderen. Nur in einem solchen Rahmen machte es für die Meister japanischer Kampfkünste etwa Sinn, diese Techniken als »Homöopathie der Gewalt« zu bezeichnen.31 Vielfach spielten in oft fiktionalisierten Artikeln, in denen Jugendliche über erste Kontakte mit dem Kampfsport berichteten, demütigende Gewalterfahrungen eine initiative Rolle.32 Auch die in den 1980er und 1990er Jahren produzierten Karate-Kid-Filme (I-IV) inszenierten ihren durchaus klassischen Kung-FuFilmplot als Initiation eines schmächtigen, gemobbten und in seiner Identitätsfindung bedrohten pubertierenden Jungen. Dieser wird in der Obhut und unter Anleitung eines japanischen Meisters mit völlig willkürlich scheinenden Methoden vor allem in Demut gegenüber der Körperkunst und ihren Möglichkeiten ausgebildet, bevor er im Finale seine deutlich älter wirkenden und mit allen Attributen jugendlicher Maskulinität ausgestatteten Widersacher besiegen darf – auf der Wettkampfmatte. Der Kampfkunst-Diskurs war mithin konstitutiv sowohl gegendert als auch ethnisiert: es waren zurückhaltende, zaghafte, verunsicherte Jugendliche und mit schmächtigen, kleinen Körpern ausgestattete »Asiaten«, die sich mithilfe von Kampfkunst gegen mit kräftigen Körpern ausgestattete, maskulinisierte Weiße durchsetzten und zu Helden des Kung-Fu-Kinos avancierten. So scheint der Kampfkunstkörper in einem komplexen Verhältnis zum ideellen »Pop-Körper« der 1970er Jahre gestanden zu haben, der sich durch die Verwirrung der Gender-Grenzen auszeichnete.33 Kampfkunst etablierte – analog zu den Disco-Tanzstilen – ein differenziertes Körperwissen34, das eine grundlegende Distinktion einrichtete zwischen denen, 30 Vgl. Wolters/Fußmann (Hg.): Budo-Pädagogik. 31 Nocquet: Der Weg des Aiki-Do, S. 7. 32 Vgl. hierzu und zugleich als Beispiel für die Übertragbarkeit dieses Arguments diese Geschichte aus einer französischen Jugendzeitschrift: o. A.: Le judo: plus qu’un jeu, une philosophie, in: Salut les copains, 10.5.1963, S. 64-68. Dank an Bodo Mrozek für den Hinweis. 33 Linck: »Männer, Frauen und die übrigen Geschlechter«, S. 261-283. 34 Vgl. Keller/Meuser: Wissen des Körpers, S. 9-27.
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die über dieses Wissen verfügten und den zu ihrem potenziellen Schaden Unwissenden. Dieses Wissen um die körperlichen Ressourcen und Fähigkeiten, die sich mit geduldigem Kampfkunsttraining aufbauen und dann in Performances publikumswirksam herzeigen ließen, spielte im Rahmen westdeutscher Jugendkulturen der 1970er Jahre auf verschiedene Weise eine Rolle. Schon in der gesellschaftlichen Kommunikation der 1950er und 1960er Jahre mit und über Halbstarke, Rowdys und Rocker geriet etwa die Gewaltfähigkeit der jugendlichen Männerkörper zu einem ambivalenten Unterscheidungsmerkmal. Im bürgerlichen Diskurs wurden diese Gruppen regelrecht kriminalisiert, während sie ihrerseits mit dieser bürgerlichen Angst spielten.35 Seit Mitte der 1970er Jahre kamen Distinktionsmittel hinzu – Dinge, die Gewalt symbolisierten und aus der Kung-Fu-Kultur stammten. In einem längeren Artikel über Verbotene Waffen im Budosport. Zur rechtlichen Beurteilung des Gebrauchs von Nunchaku und Manriki-Gusari führte die Karate-Revue 1979 aus: »Als vor wenigen Jahren die Welle der fernöstlichen Karatefilme (sog. ›Eastern‹) in Deutschland ihren Höhepunkt erreichte, hatte dies neben einer bedeutenden Popularisierung des Karatesportes auch noch die Wiederentdeckung einiger Waffenkampfsportarten zur Folge. Die vielen Budosport-Versandhäuser konnten die überaus rege Nachfrage nach Kampfsportgeräten wie z. B. Nunchaku, Tonfa, Sai und Shuriken kaum noch bewältigen. Nachdem die Gefährlichkeit einzelner Waffen erkannt wurde und einige wie z. B. das Nunchaku zur Begehung von Straftaten benutzt wurden, hat der Gesetzgeber eingegriffen und strikte Verbote erlassen.«36
Dafür novellierte der Bundestag am 8. März 1976 das Waffengesetz (WaffG). Damit, so der Autor, habe der Gesetzgeber »umfassend deutlich gemacht, dass er alles untersagt, was man mit einem Nunchaku überhaupt machen kann: die Herstellung und die Reparatur, den Kauf und den Verkauf, das Leihen oder das Verleihen, selbst den Besitz«.37 Genau damit jedoch taugten diese Gegenstände erst recht zur Distinktion ihrer Träger: die Karate-Revue druckte direkt unter diesen Text eine Werbeanzeige für das Buch des »weltbekannten NunchakuMeisters Tadashi Yamashita« mit dem Titel: Nunchaku – die überlegene Selbstverteidigung.38
35 Vgl. Weinhauer: Staatsgewalt, S. 301-324; sowie Grotum: Die Halbstarken. 36 O. A.: Verbotene Waffen im Budosport. Zur rechtlichen Beurteilung des Gebrauchs von Nunchaku und Manriki-Gusari, in: Karate-Revue 4 (1979) 9, S. 30-32. 37 Ebd., S. 31. 38 Ebd.
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Allerdings wurde die Subjektposition der Jugendlichen, die sich mit den KungFu-Helden auf der Leinwand identifizierten, auch innerhalb der Kampfkunstszene problematisiert. Auf die Diskussion über die auseinandergehenden Einschätzungen bezüglich der Wirksamkeit einzelner Kampfkunst-Systeme, die auf vergleichsweise umfangreichen Leserbriefseiten geführt wurde und auch ein Spiel mit Distinktionen und Stilisierungen innerhalb der Szene war, ist schon hingewiesen worden. Hin und wieder wurde diese Frage vertieft wie etwa in einem Artikel des Karateka Freddy Gundlach, der sich in einer längeren Abhandlung über den Kampf, eine Analyse des menschlichen Verhaltens auf Soziologen und Psychologen bezog und die Ambivalenz des Kampfkunsttrainings an zwei fiktiven Fallbeispielen, Peter und Heinz, erläuterte. Kindheit und Jugend der beiden waren bezeichnenderweise durch Gewalterfahrungen geprägt – allerdings auf unterschiedliche Weise: »Peter ist 28 Jahre alt und beschäftigt sich mit den Kampfkünsten Karate, Jiu-Jitsu und Judo seit etwa 8 Jahren. Er hat es in allen drei Disziplinen bis zum Schwarzgurt gebracht. […] Peter wurde wegen seiner Schwächlichkeit im Schulalter von seinen Mitschülern immerzu gehänselt. Raufereien, die unter den Klassenkameraden immer üblich sind, ging er konsequent aus dem Wege. Zu oft schon hat er dabei den Kürzeren gezogen.«39
Gundlach zog hier im Einklang mit einem zentralen Gemeinplatz des westdeutschen Budo-Diskurses den Schluss, dass Peter wahrscheinlich »durch die ständige Unterdrückung seiner Mitschüler einen Minderwertigkeitskomplex entwickelte, dem er später den Kampf ansagte, indem er ihn mit Kampfkunst zu kompensieren versuchte«.40 Heinz dagegen hatte eine ganz anders lautende Geschichte: »Heinz ist 19 Jahre, schon zweimal wegen Gewalttätigkeitsdelikten vorbestraft und seit einem Jahr arbeitslos. Er lebt bei seinen Eltern unter den sozial ungünstigsten Verhältnissen: Sein Vater ist dem Alkohol zugetan, seine Mutter eine vom Schicksal gezeichnete Frau. Wenn der Vater besoffen vom Wirtshaus nach Hause kommt, gibt es meistens Streitereien, die dann auch in Prügel […] ausarten. Prügel – das war übrigens die einzige Methode, mit der Heinz ›erzogen‹ wurde.«41
39 Freddy Gundlach: Der Kampf – eine Analyse des menschlichen Verhaltens, in: Karate-Revue 4 (1979) 2, S. 43-45, hier S. 43. 40 Ebd. 41 Ebd.
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Und nun, eines Sonntagabends gegen 20 Uhr, wurden die beiden, die sich nicht kannten, vom Autor in den gleichen Kinosaal gesetzt, um sich einen Kung-FuFilm anzuschauen. »Während der von Natur aus introvertierte Peter interessiert an dem Geschehen auf der Leinwand Anteil nimmt, grölt der im Grunde cholerische Heinz, der keinerlei sportliche oder geistige Ambitionen hat, jedes Mal gerade dann, wenn der Kung Fu-Held seine Gegner […] trifft.«42 Der nachdenkliche Peter machte sich nach dem Abspann auf den Weg, um seine Ehefrau vom Bahnhof abzuholen, die von einem Besuch bei ihren Eltern zurückkehrte. Den Film hielt er für »Blödsinn, einschließlich der primitiv-brutalen Szenen«.43 Da lief ihm der »bullig-dickliche« Heinz über den Weg. »Heinz steuert direkt auf Peter zu und schreit ihn an, er müsse ihm Geld geben, damit er sich Zigaretten kaufen könne, da er ihm sonst mit seinen Stiefeln ins Gesicht treten müsse«.44 Er griff Peter mit einem Messer an und dieser musste nun den durch seine Abwehrbereitschaft wütend gewordenen »cholerischen Rowdy mit einer ganzen Serie von Schlag- und Tritt-Techniken [bombardieren], bis er blutverschmiert zusammenbricht und im Schmutz des Rinnsales vor Schmerz halb ohnmächtig liegen« blieb.45 Selbstverständlich leistete Peter erste Hilfe. Freddy Gundlachs Geschichte von Peter und Heinz übernahm innerhalb des Kampfkunstdiskurses die Leitsemantik, mit der das Feld von außen beobachtet wurde, und machte klar: als Identifikationsfigur von Kampfkünstlern, als Norm für richtiges Verhalten taugte eher der mit ganz und gar bürgerlichen Tugenden (Intellektualität, Selbstbeherrschung, Takt, Verantwortungsgefühl) ausgestattete Peter als der »cholerische Rowdy« Heinz, der mit vermeintlichen Attributen der Unterschicht (lärmend, betrunken, aggressiv, unbeherrscht, aus zerrütteten Familienverhältnissen) ausstaffiert war. Kein Zweifel, die Sympathie des jugendlichen Lesepublikums sollte Peter gelten, nicht Heinz. Die Jugendzeitschrift BRAVO veröffentlichte im Juli 1975 nicht nur einen Bruce-Lee-Starschnitt und erwies so einer weiteren Pop-Ikone ihre Reverenz: »Mit einem gewaltigen Satz springt Bruce Lee in Eure Buden«46 Sie nutzte die Gelegenheit auch, um einen Selbstverteidigungskurs abzudrucken. Der auf drei Hefte verteilte »Lehrgang« in Kung-Fu-Selbstverteidigung war in seiner Form – Griffe und Tritte waren schematisch und zeichnerisch sparsam, reduziert dargestellt – an die ansonsten in Umlauf befindlichen Anleitungen angelehnt.
42 Ebd., S. 44. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 BRAVO 25/1975, 12.6.1975. – Ich danke Alexa Geisthövel für diesen Hinweis.
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Entsprechend können sie als Verknüpfungspunkte zwischen dem gegenderten Selbstverteidigungsdiskurs auf der einen Seite und dem Disco-Diskurs auf der anderen Seite verstanden werden: »Kung Fu Fighting – jetzt für alle!«47 »Stellt Euch vor«, begründete die Redaktion dieses Unterfangen, »Ihr seid abends auf dem Weg von der Diskothek nach Hause. Da springt aus der Dunkelheit ein Typ auf Euch zu, um Euch Euer Geld abzunehmen: Für solche Fälle ist unser Kung Fu-Kurs gedacht.«48 Ausdrücklich wandte sich der Text nicht nur an die männlichen Bruce-Lee-Fans: »Nicht nur für Jungen: Auch Mädchen müssen sich wehren können!«, denn: »Was macht ein zierliches Mädchen, wenn es plötzlich von einem rücksichtslosen Typen aus dem Hinterhalt angegriffen wird? Es ist nicht so wehrlos, wie es im ersten Augenblick aussieht – wenn es die richtigen Selbstverteidigungstricks beherrscht. In der letzten Folge unseres Kung Fu Kurses zeigen wir speziell Mädchen, wie sie sich mit wenigen Griffen in gefährlichen Situationen retten können.«49
Natürlich war die mit Kampfkunst herstellbare Wehrhaftigkeit gerade beim Verlassen eines Ortes gefordert, der in der konservativen Öffentlichkeit als der jugendgefährdende Ort schlechthin galt und durch Überfälle auf junge Frauen auf dem nächtlichen Nachhauseweg von sich reden machte: der Disko.
K UNG F U , P OP -D ISTINKTION DES NEOLIBERALEN S ELBST
UND DIE
G ENESE
Viele der Texte, die bisher zur »Popgeschichte« entstanden sind, verweisen auf zwei Aspekte: zum einen auf eine ältere Tradition der popular culture bzw. popular culture studies und ihre normativen Begrifflichkeiten, insbesondere die konstitutive Unterscheidung von popular/sub-/youth- versus bourgeois oder high culture.50 Andererseits ist Pop historisch gesehen de facto ein Phänomen, das diese Unterscheidung permanent differenziert, überlagert, unterwandert, aufhebt, verwirrt, verschiebt, stilisierbar macht und Distinktionsmöglichkeiten neu setzt.51 Es ist zunächst unerheblich, ob man die Fähigkeit zum »richtigen« Gebrauch
47 Ebd. 48 BRAVO 29/1975, 10.7.1975. 49 BRAVO 31/1975, 24.7.1975. 50 Vgl. Mrozek: Popgeschichte; Hecken: Populäre Kultur, S. 5-140. 51 Vgl. Tietenberg: Der Dandy.
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dieser (feinen) Unterschiede an Positionen in der sozioökonomischen Struktur zurückbindet oder darauf verweist, dass das wuchernde Pop-Wissen vielfältige Wirklichkeitseffekte erzeugte und spezifische Subjektivitäten konstituierte – in jedem Fall geht es auch um Macht.52 Insofern wäre Pop seit seiner Entstehung in den 1960er Jahren und im Prozess seiner Entfaltung in den folgenden Jahrzehnten auch als Normalisierungsstrategie zu verstehen, in dem Sinn, dass der Raum der Distinktionen und Stilisierungen, des kulturell Normalen oder des normal als »Kultur« Konsumierbaren ständig ausgeweitet, restrukturiert – aber auch jeweils neu begrenzt worden ist.53 Inwiefern, könnte man an diesem Punkt fragen, konnte der flexible Kung-Fu-Körper diese Normalität verkörpern bzw. die zeitgenössisch immer stärker eingeforderte Flexibilität der Selbst- und Lebensführung nicht nur demonstrieren, sondern auch authentifizieren, zumal gerade Kampfkünstler darauf bestanden, dass das richtige Lernen den »ganzen Menschen« forderte und einen eigenen Lebensstil formte?54 In diesem Sinn lassen sich Erfolgsstorys über freestyle-Protagonisten wie den US-Amerikaner Joe Lewis in der Karate-Revue lesen: »Als lange amtierender Schwergewichtsweltmeister war Joe Lewis […] die außergewöhnlichste Figur des Profikaratesports der Welt. Er lebt nach seiner Art, steht mitten in der Nacht zum Training auf und isst dauernd Ice-Creams«.55 Die Beschreibungen von Joe Lewis – »er ist ein ›Sieger‹, der intelligent ist und der sich ausdrücken kann«56 – ergingen sich in Außergewöhnlichem und bauten damit eine exzentrische Norm jenseits des »Normalbürgers« auf, dessen Leistungsfähigkeit sich dann an dieser Norm messen lassen musste: »Für [Joe Lewis] beginnt der Tag [um drei Uhr nachts, M.S.] und er wird etwa zweimal so lange dauern wie beim Normalbürger. Joe Lewis funktioniert rein körperlich auf eine vom menschlichen Durchschnitt fundamental verschiedene Art und Weise. Sein Leben rollt nach keiner festen Regel ab, wie bei einem beliebigen Mitbürger, der kennt keinen steten Wechsel von Tag und Nacht. Er kennt auch keine sozialen Bedürfnisse, denen wir, die anderen, nolens volens gehorchen. Er kennt und gehorcht nur einem Gesetz: dem seines
52 Bourdieu: Die feinen Unterschiede; Foucault: Überwachen und Strafen, S. 39 f. 53 Holert/Terkessidis: Einführung, S. 5-19. Zum Begriff des flexiblen Normalismus vgl. Link: Versuch über den Normalismus, S. 323-362. 54 Dies wird insbesondere bei denjenigen deutlich, die Kampfkunst unter Bezug auf Budo-Philosophie und Taoismus als Existenzweise verstanden, vgl. Lippe: Am eigenen Leibe. 55 O. A.: Der neue Stern des Actionfilms, S. 21-32. 56 Ebd., S. 24.
282 | M ARCEL S TRENG inneren Instinkts, wie bei den Tieren. Und dieses Gesetz regiert allein seinen Lebensablauf.«57
Nicht nur stellte seine außergewöhnliche, quasi-animalische Körperlichkeit Joe Lewis in dieser Beschreibung außerhalb der Gesellschaft der Normalbürger, sie regierte sogar sein Leben und machte ihn unabhängig von sozialen Bedürfnissen. Diese Semantik des freien Einzelkämpfers eignete sich gut für die Rezentrierung hegemonialer männlicher Subjektivität in der Phase »nach dem Boom«.58 Eine 1985 auf die Rückseite der Ausgabe 21 des Pflasterstrand, des Szenemagazins des Frankfurter alternativen Milieus, gedruckte Werbeanzeige führte Kriterien auf, die diese vermeintlich grenzenlose, aber durch tägliches Training hart erarbeitete Freiheitlichkeit konstituierten. Die Jeans-Werbung zeigte einen Karatekämpfer mit Kopfband, der von links nach rechts durchs Bild flog – sogar die Gesetze der Schwerkraft galten für ihn nicht. Der Text erläuterte: »Leute von heute, von sich selbst fotografiert. Diesmal: Herbert Bieber, Meister in der Kunst der Selbstverteidigung. Er trägt den schwarzen Jiu Jitsu-Gürtel und war KarateEuropameister. Nebenbei hat er eine Kampfkomposition entwickelt, die zwar noch keinen Namen trägt, die er aber in einer eigenen Schule lehrt. Herbert Bieber macht, was er will. Und er trägt, was ihm paßt: Mustang-Jeans und Mustang-Blouson.«59
Das fotografische Selbstporträt zitierte nicht nur Bruce Lee, von dem die ersten breit medialisierten Aufnahmen eines fliegenden Kung-Fu-Körpers stammten, es verknüpfte Einzelkämpfertum mit Kompetitivität, männlicher Selbstbeherrschung und sozialem Erfolg, es formulierte eine Leitfigur der neoliberalen Wenden der 1980er und 1990er Jahre.60 Auch am Beispiel Bruce Lee lässt sich diese gouvernementale Konstellation quasi paradigmatisch erläutern. Im Jahr 1969 erschien sein Buch über Gung Fu, das einen Kampfstil explizit jenseits der und in Abgrenzung zur Hegemonie der 57 Ebd., S. 22. 58 Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael: Nach dem Boom, S. 127-130. Vgl. insbesondere die kritische Diskussion in Elberfeld/Eitler: Einleitung. Zum Verhältnis von hegemonialer Maskulinität, Neoliberalismus und Globalisierung vgl. Meuser/Scholz: Krise oder Strukturwandel. 59 Pflasterstrand Nr. 21/1985 [Backcover]. 60 Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst; Graf: Leistungsfähig, S. 139-157; Duttweiler: »Ein völlig neuer Mensch werden«, S. 130-146; Martin: »Flexible Körper«, S. 32-53; Connell/Wood: Globalization, und hierzu die Diskussion in: Elias/Beasley: Hegemonic Masculinity.
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»orthodoxen Systeme« entwarf: »Jeet Kun Do«61. Nach zwei Filmen in Hongkong zog er nach Kalifornien um und gründete in Hollywood eine Kampfschule. Für den martial arts-Kontext waren die Diskussionen zentral, die immer wieder um die Einordnung von Kampfkunststilen entbrannten und das Spektrum der »klassischen Systeme« verhandelten. Bruce Lee sprach diesen feldimmanenten Übergang in einem berühmt gewordenen Interview mit dem kanadischen Fernsehjournalisten Pierre Berton explizit an und machte zugleich deutlich, worauf es seiner Meinung nach ankam: »Actually, I don’t ›teach‹, you know, Karate, because I do not believe in ›styles‹ anymore, I mean, I do not believe that... there is no such thing as, like ›chinese way‹ of fighting or the ›japanese way‹ of fighting or whatever way of fighting, because unless human beings have three arms and four legs, we will have a different form of fighting... but basically we have only two hands and two feet... so, ›styles‹ tend to not only separate men, you know, because they have their own ›doctrines‹ and then the doctrine becomes the ›gospel truth‹, you know, that you cannot change, you know... and... but, if you do not have style, if you just say: here I am, you know, as a human being, how can I express myself... totally and completely... now, that way you won’t create a style because style is a cristallisation, you know, I mean, that way it’s a process of continuing growth.«62
Es kam also einmal mehr auf Persönlichkeitswachstum, auf freie Entfaltung des Selbst an. Auch das posthum veröffentlichte Buch über seine eigene Kreation Tao of Jeet Kune Do trug die Widmung: »To the Free, Creative Martial Artist.«63 Wichtig war die so genannte asiatische Kampfkunst aber auch – um die PopNormalisierung und die Frage der Transnationalität aufzunehmen – für die Identitätspolitik chinesischer Migranten in den USA und Europa.64 In Enter the Dragon stellte Bruce Lee den vom Land stammenden Cousin einer jungen chinesischen Migrantin in Rom dar, deren Geschäft von einer Mafia-Bande bedroht wurde. Seine Cousine zeigte ihm die Stadt, die den Protagonisten jedoch langweilte und äußern ließ, man könne die alten Gemäuer doch abreißen und Wohnblocks errichten. Beim Betrachten von Ruinenfeldern, die in Europa den Ursprung der westlichen Zivilisation symbolisieren, drängte sich dem chinesischen Bauernsohn aus dem maoistischen China scheinbar unwillkürlich die Platzver61 Lee: Tao. 62 Bruce Lee: The »lost« Interview. The Pierre Berton Show (Ausgabe v. 9.12.1971), Kanada, 1994, 30 min. Regie: Michael Rothery; Produzent: Elsa Franklin (Timecode 06:46-07:48). 63 Lee: Tao, S. III. 64 Vgl. Jackson/Balaji (Hg.): Global masculinities.
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schwendung auf. Im Sinn des Pop kann man hier einen fulminanten Angriff auf die »westliche Zivilisation« lesen, eine verbale Attacke auf den Inbegriff von westlicher High Culture. Auf der anderen Seite fand die Schlussszene, der finale Entscheidungskampf zwischen dem von Bruce Lee dargestellten Helden und dem von seinen Gegnern engagierten amerikanischen Karatemeister (Chuck Norris), in der Kulisse des Colosseums statt und nahm auf die Gladiatorenspiele Bezug. Auf die Dekonstruktion der High Culture folgte die ebenso eindrückliche popkulturelle Reinterpretation dieser zentralen abendländischen Tradition.
S CHLUSS In diesem Beitrag habe ich Pop als dynamisches Geschehen betrachtet, das die hierarchisierende Unterscheidung von High Culture und Popular Culture ausdifferenzierte, dehnte und flacher ausgestaltete (»demokratisierte«) und ein wucherndes Normalfeld kultureller Distinktionen einrichtete, dass die Anschlussund Kombinationsmöglichkeiten enorm vervielfältigte. Vor diesem Hintergrund wurde gefragt, welche Berührungspunkte so genannte asian martial arts seit den 1960er Jahren mit dem vermeintlich westlichen Phänomen Pop aufwiesen. Dabei hat sich die Vermutung eher bestätigt, dass es sich um zwei gegenläufige, miteinander verschränkte Prozesse handelte: auf der einen Seite durchlief das Feld der asiatischen Kampfkünste – zumindest im hier betrachteten Westen – eine homologe Entwicklung, insofern sich ein Normalisierungsprozess abzeichnet, der von relativ wenigen, mit offiziellen Regularien disziplinierten Systemen zu vergleichsweise vielen, individualisierten und normalisierten Stilen führte. Auf der anderen Seite gerieten asian martial arts unter dem Label Kung Fu auf dem Höhepunkt ihrer Popularität in den Sog der kulturindustriellen Produktion und erfuhren kurzzeitig eine Aufwertung als Distinktionsmöglichkeit innerhalb dieses als Pop bezeichneten Feldes. Im Hinblick auf die Körperlichkeit der Subjekte, die zwischen Kung Fu und Pop entworfen wurde, ist die Hegemonie politischer und moralischer Semantiken kaum zu übersehen: die Fremdbeschreibung der »asiatischen« Kampfkünste bzw. Kampfsportarten operierte ebenso mit dem Gewaltvokabular als Leitsemantik wie die Beschreibung der Jugendkulturen, der »Halbstarken« und »Rowdys«, und man kann beobachten, wie diese Semantik innerhalb des Feldes wiederkehrte – nicht nur als Unterscheidung zwischen dem »richtigen« Gebrauch der Kampfkunst zur Selbstverteidigung oder zur Persönlichkeitsbildung, sondern auch im Rahmen von Selbstermächtigungs- und Distinktionsstrategien von jugendlichen Kampfkunstadepten. Die Befähigung des physisch unterlegenen Kör-
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pers gegenüber dem überlegen-maskulinen Körper scheint dabei zunächst hegemoniale Genderzuschreibungen verschoben zu haben. Mit der Etablierung des Normalfelds sowohl innerhalb des Kampfsports wie innerhalb der Popkultur in den späten 1970er und den 1980er Jahren eignete sich das Training von Kampfkunst aber auch für Subjektivierungsstrategien, die sich unwillkürlich dem neoliberalen Trend zu mehr auferlegter Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung einpassten. Die Stargestalten der erfolgreichen Kampfkünstler mit internationalen Wettkampftiteln, eigenen Stilkreationen, Schulen und Filmrollen sollten in einer Genealogie des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling) seit den 1970er Jahren ihren Platz finden.
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Markus: Ich Will Spaß/Kling Klang Schicksalsmelodie. CBS A 2355, 1982 [Single].
»Let fury have the hour, anger can be power«1 Praktiken emotionalen Erlebens in den frühen deutschen Punkszenen H ENNING W ELLMANN
Mit der Entstehung der Punkbewegung in den 1970er Jahren entwickelte sich in Europa und den USA eine Subkultur, die stilisierte Selbstverletzungen, öffentliches Zur-Schau-Stellen von Wut und Aggression, Provokation durch neue Modetrends und veränderte Verhaltensformen sowie die Etablierung einer neuen musikalischen Ästhetik in die Erlebens- und Erfahrungswelt der Popkultur einbrachten. Durch die Erprobung veränderter Körperbilder und -praktiken, die Konstruktion neuer ästhetischer, kultureller und sozialer Wertemuster sowie durch die Erschaffung neuer emotionaler Erlebenspraktiken und -räume gelang es den Punkbewegungen, Formen von Selbstverhältnissen zu etablieren, die, weit über den subkulturellen Rahmen »Punk« hinaus, prägende Wirkung auf die weitere popgeschichtliche Entwicklung hatten. Punk in seiner Entstehungsphase, Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre, lässt sich als eine Synthese verschiedener Phänomene der englischen und US-amerikanischen Musik- und Jugendkultur beschreiben, deren Ursprung vor allem in London und New York lag.2 Mitte der 1970er Jahre entwickelten sich
1
Aus dem Song Clampdown von The Clash (London Calling, 1979, CBS Records).
2
Für ausführlichere Einordnungen des Phänomens mit dem Fokus England siehe Marcus: Lipstick Traces; Hebdige: Subculture; Savage: England’s Dreaming. Vergleichbares für die deutsche Punkgeschichte fehlt bisher. Interessante Einblicke liefern vor allem Skai: Punk; Archiv der Jugendkulturen: Keine Zukunft; Teipel: Verschwende
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hier zunächst kleinere, vom Mainstream unabhängige Musikszenen, deren Protagonisten die Abkehr vom damals vorherrschenden (Pop-)Musikgeschmack zelebrierten und mit der Rückbesinnung auf die musikalischen Strukturen des frühen Rock’n’Roll bzw. der Orientierung an so genannten Proto-Punk-/Pre-PunkGruppen und einem ungeniert ausgelebten musikalischen Dilettantismus versuchten, ihr Publikum zu finden.3 Essentieller Bestandteil dieser »Neuen Welle« war zudem ein aufsehenerregender neuer modischer Stil, der verschiedene ästhetische Strömungen der letzten Jahrzehnte aufgriff, vermischte und mit der Verwendung verschiedenster, eigentlich modefremder Artefakte (Sicherheitsnadeln, Ketten, Mercedes-Sterne etc.) kombinierte. Die neue Art der Musik4, das provokante modische Auftreten und die neuartigen, von einer aggressiven Spannung zwischen Band und Publikum geprägten Performances5 der Gruppen führten schnell zu der Etablierung stetig wachsender Szenen, die schließlich auch über die Geburtsstätten der Stilrichtung hinaus Wirkung erzielten. Der internationale Durchbruch gelang den frühen Punkszenen schließlich mit den ersten Veröffentlichungen einiger früher Punkbands6 und der medialen Aufmerksamkeit7, die diese aufkeimende Subkultur auf sich zog. deine Jugend und Büsser: If the Kids. Zur Entstehung des Punk in den USA siehe McNeil/McCain: Please Kill Me. 3
Kurze schnelle Stücke im 4/4-Takt, ohne ausschweifende Instrumentalsoli, simple Songstrukturen, relativ einfache Melodieführung und ein rauer Sound sind hier die vorherrschenden stilistischen Mittel; vgl. Frith: Sound Effects, S. 160. Einige der wichtigsten Vertreter der Proto-Punk/Pre-Punk-Gruppen aus den USA sind MC5, The Stooges, Velvet Underground und die New York Dolls. In England sind wichtige Vorreiter des Punk z. B. The Who, The Kinks, Eddie and the Hot Rods, The Stranglers, Dr Feelgood und the 101’ers.
4
Zu London vgl. Hebdige: Subculture, S. 25: »In fact punk claimed a dubious parentage. Strands from David Bowie and glitter-rock were woven together with elements from American proto-punk (the Ramones, the Heartbreakers, Iggy Pop, Richard Hell) from that faction within London pub-rock (the 101-ers, the Gorillas etc.) inspired by the mod subculture of the 60s, from Canvey Island 40s revival and the Southend r & b bands (Dr Feelgood, Lew Lewis, etc.), from northern soul and reggae.«
5
Diese Spannungen entwickelten sich allerdings auf Augenhöhe, da der ideelle und räumliche Abstand zwischen beiden minimiert wurde. Außerdem konnte der Dilettantismus dem Publikum das Gefühl verleihen, ohne große Anstrengungen Ähnliches zustande zu bringen und so an dieser »Neuen Welle« aktiv zu partizipieren.
6
Ausschlaggebend sind hier vor allem die ersten Alben von The Clash (The Clash) und den Sex Pistols (Never Mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols) und von The Ramones (The Ramones; Leave Home; Rocket to Russia).
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Im vorliegenden Beitrag soll herausgearbeitet werden, welches Potenzial eine auf Praktiken emotionalen Erlebens fokussierte Analyse popkultureller Subjektivierungsangebote für das Vorhaben einer Popgeschichtsschreibung eröffnen kann. Konzeptionell steht dabei die Frage im Vordergrund, wie sich das in den letzten Jahren gesteigerte Interesse an einer sozialwissenschaftlich geprägten Emotionsforschung, vor allem in Verbindung mit der Geschichtswissenschaft8, für die Beschäftigung mit Phänomenen des Pop fruchtbar machen lässt. Einen viel versprechenden Ansatz, einen analytischen Blickwinkel auf Emotionen in die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Popwelt zu integrieren, bietet die Hinwendung zu Fragen des Subjekts bzw. die Auseinandersetzung mit Prozessen der Subjektivierung9, wie sie besonders von Michel Foucaults Werk angestoßen wurde.10 Im Kern geht es hierbei um die Analyse und Rekonstruktion von bestimmten historischen Konstellationen sozialer Praktiken, Diskurse und Artefakte, die es Individuen ermöglichen, als intelligible soziale und kulturelle Wesen im Sinne eines Subjekts in Erscheinung zu treten und ein bestimmtes Selbstverständnis und -verhältnis anzunehmen.11 Bezogen auf den empirischen Fokus dieses Beitrags bedeutet dies zu untersuchen, welche Sinnhorizonte und Handlungs(an)gebote durch das Entstehen der Punkkultur verfügbar wurden und schließlich eine soziale und kulturelle (Selbst-)Positionierung als »Punk« ermöglichten. Die historischen Konstellationen oder auch symbolischen Ordnungen, in denen spezifische Subjektivierungen ermöglicht werden, enthalten nun, so meine These, auch immer bestimmte Anforderungen an bzw. Angebote von »richtigem« oder »falschem« emotionalen Erleben. Sie verfügen also über bestimmte 7
In Deutschland berichteten z. B. die Musikzeitschriften Sounds, Popfoto, Musikjoker und Bravo über Punk; vgl. Archiv der Jugendkulturen: Keine Zukunft, S. 12, 15. Der erste Bravo-Bericht über Punk erschien bereits 1976 in Deutschland; vgl. dazu Kuttner: Punk und BRAVO. Das Magazin Der Spiegel widmete Punk 1978 (Ausgabe 4) die Titelseite.
8
Vgl. Scheer: Emotions; Eitler/Scheer: Emotionengeschichte; Gammerl: Emotional styles; Reddy: Navigation of Feeling. Äußerst detailliert über die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit Emotionen: Hitzer: Emotionsgeschichte.
9
Reckwitz: Das hybride Subjekt; ders.: Subjekt; ders.: Unscharfe Grenzen.
10 Siehe z. B. Foucault: Subjekt und Macht. 11 »Die kulturwissenschaftliche Subjektanalyse zielt darauf ab herausfinden [sic], welches Know-How und welche Wunschstrukturen, welche körperlichen Routinen und welches Selbstverständnis, welche Abgrenzungsformen nach außen und welche Kompetenzen, welche psychisch-affektiven Orientierungen und Instabilitäten der Einzelne ausbildet, um jener ›Mensch‹ zu werden, den die jeweilige gesellschaftliche Ordnung voraussetzt.« Reckwitz: Subjekt, S. 10.
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Ordnungen angemessenen »emotionalen Verhaltens«. Sei es im Sinne einer Normierung emotionalen Ausdrucks oder der Bestimmung, welche Gefühlserlebnisse in welchen Situationen oder sozialen Räumen als erlebbar, erfahrbar und angemessen erscheinen. Grundlegend für das hier gewählte Vorgehen ist die Annahme der Einbettung jedweder emotionalen Erfahrung in ein breiteres soziales und kulturelles Sinn- und (Be-)Deutungsgerüst und damit ihre historische, soziale und kulturelle Situiertheit.12 Somit verweigern sich für diesen Ansatz Konzeptionalisierungen von Emotionen, die sie in einer rein individuellen Sphäre verorten. Vielmehr gehe ich davon aus, dass Emotionen Phänomene körperlicher Wahrnehmungen sind, die in ihren gesellschaftlichen und subjektiven Erscheinungen und ihrem subjektiven Erleben durch bestimmte soziale und kulturelle Vorstellungen von Angemessenheit, Adäquanz und Intelligibilität strukturiert werden. Zudem verzichte ich auf trennscharfe Unterscheidungen zwischen Gefühlen, Emotionen, Stimmungen oder Affekten, da sich mein Fokus generell auf solche sozialen und kulturellen Formen des Erlebens richtet, die im jeweiligen gesellschaftlich-historischen Kontext als emotional, sinnlich, affektiv oder die Gefühle betreffend dekodierbar und kontextualisierbar sind. Emotionen werden nicht als ihren sozialen und kulturellen Reglementierungen und Strukturierungen vorgängig und von ihnen schlicht als »im Zaum gehalten« verstanden13, sondern, in einer Art produktivistischer Wendung, als stets hervorgebracht, beeinflusst und transformiert von eben diesen regelnden Instanzen. Monique Scheer, die mit Rückgriff auf Bourdieu für ein Verständnis von »emotions-as-practices« plädiert und die körperliche Verankerung von Emotionen betont, schlägt hier überzeugend eine praxeologische Ausrichtung im wissenschaftlichen Umgang mit Emotionen vor: »(P)ractices not only generate emotions, but […] emotions themselves can be viewed as a practical engagement with the world. Conceiving of emotions as practices means understanding them as emerging from bodily dispositions conditioned by a social context, which always has cultural and historical specificity. Emotion-as-practice is bound up with and dependent on ›emotional practices‹, defined here as practices involving the self (as body and mind), language, material artefacts, the environment, and other people.«14 12 Griffiths/Scarantino: Emotions in the Wild. 13 Dies würde einem »hydraulischen« Verständnis entsprechen, »nach dem universell gleiche Emotionen unter der Körperoberfläche entstehen und dann hervorbrechen – bzw. gemäß den jeweils gültigen Gefühlsnormen gezeigt oder kontrolliert werden. Dieses Gefühlsmodell ist jedoch, wie Emotionshistoriker inzwischen gezeigt haben, selbst ein Ergebnis westeuropäischer Geschichte.« Hitzer: Emotionsgeschichte, S. 7 f. 14 Scheer: Emotions, S. 193.
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Mit diesem Verständnis des »practical engagement«15 werden die Emotionen somit aus der Sphäre der passiven »Syndrome«16 herausgelöst und in dem Bereich einer aktiven, wenn auch nicht unbedingt intentional gesteuerten, körperlichen Auseinandersetzung mit der Welt angesiedelt.17 Wie erwähnt erscheint es nun sinnvoll, diese Konzeptionalisierung von Praktiken emotionalen Erlebens stets in den breiteren Rahmen von Subjektivierungsprozessen einzuordnen, denn erst in diesen Kontexten erlangen diese Praktiken ihre historische Spezifität und ihre soziokulturelle Verankerung und treten damit als mögliche Subjektivierungsressource, als Angebote von bestimmten Selbstverhältnissen und -verständnissen in Erscheinung. Diese Angebots- und Anforderungsstrukturen sollen hier im popkulturellen Feld der deutschen Punkszenen18 der späten 1970er und frühen 1980er Jahre genauer untersucht werden. Denn Punk, so wird angenommen, hat nicht nur eine so bedeutende Rolle in der Geschichte der Popkultur der letzten 35 Jahre gespielt, weil es den verschiedenen Szenen gelungen ist, neue ästhetische Entwürfe in Musik, Mode und Kunst zu etablieren oder radikale Deutungsmuster gesellschaftlicher Verhältnisse »salonfähig« zu machen, sondern vor allem auch durch das Schaffen neuer emotionaler Erfahrungsräume und Selbstverhältnisse.
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Langeweile – dieses Gefühl, oder vielleicht besser die wahrgenommene Abwesenheit einer bestimmten emotionalen Reizung20, scheint im Zusammenspiel mit einer einhergehenden Frustration, wie bei vielen anderen Jugend- und/oder
15 Dieses »practical engagement« lässt sich dabei ganz im Sinne von Reckwitz’ Verständnis sozialer/kultureller Praktiken verstehen (der sich bei seinem Entwurf dieses Konzepts u. a. auch auf Bourdieu stützt), siehe dazu: Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 38 und ders.: Grundelemente. 16 So etwa Averill: Anger and aggression, S. 6: »emotions may be defined as socially constituted syndromes (transitory social roles) which include an individual’s appraisal of the situation and which are interpreted as passions, rather than as actions.« Herv. i. Orig. 17 Zur Körperlichkeit von Emotionen siehe: Eitler/Scheer: Emotionengeschichte. 18 Ich konzentriere mich hier auf die Punkszenen in der BRD. Für die Entwicklung der Punkszenen in der DDR siehe Furian/Becker: Auch im Osten. 19 Zeile aus dem Song Bored Teenagers von The Adverts: Crossing the Red Sea with the Adverts. 20 Weiter heißt es bei den Adverts: »Looking for love or should I say emotional rages«.
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Subkulturen auch, ein wesentlicher Motor der Entstehung der Punkbewegung, zumindest in Deutschland und England, gewesen zu sein. So schreibt etwa Hollow Skai: »Es war mal wieder einer dieser Tage, an denen du vor Langeweile fast umkommst, nur versuchen kannst, die Zeit hinter dich zu bringen, bis zum Abend… an dem du dann herumirrst, besessen von der Sehnsucht nach Action.«21 Die Zeit der Entstehungsphase des Punk, Mitte bis Ende der 1970er Jahre, war zwar geprägt von wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen, aber ebenso von einer Situation der Festgefahrenheit der Pop(musik)kultur22, die analog zur wirtschaftlichen Situation Zeichen von »Stagflation«, also der Stagnation bei gleichzeitigem Wertverlust (bzw. Inflation), aufwies. Auf der einen Seite stand die Erkenntnis des Endes des Nachkriegsbooms, des unendlichen Wachstums, das Aufkommen von Dauer- und Jugendarbeitslosigkeit sowie einschneidende Kürzungen im Sozialsystem.23 Auf der anderen Seite wurde vor allem die Musikindustrie von vielen als eine stagnierende, überdimensionierte und realitätsferne Verwertungsmaschinerie wahrgenommen. Disco und Progrock, die Mainstreammusik der Stunde, schien vielen Jugendlichen nicht mehr zugänglich, zu gesättigt und »abgehoben« und den sich wandelnden sozialen Verhältnissen nicht adäquat Rechnung tragend. Diese Spannung zwischen Umbruch und Stagnation, Veränderung und Langeweile erkennt auch Skai in der Entstehungssituation des englischen Punk: »Diese Haltung [Punk], als Ausdruck der Situation begriffen, auf dem Hintergrund einer sozialen Atmosphäre, die geprägt war/ist von fortschreitender Jugendarbeitslosigkeit, Zunahme staatlicher Repression in nahezu allen Bereichen, von der Langeweile die der Isolation und Monotonie moderner Schlafstädte – als Folgeerscheinung tief greifender Sanierungsprojekte Ende der 60er Jahre – entspringt, der Perspektivlosigkeit nicht nur von Schulabgängern, sondern auch bereits in überfüllten Schulen eingeengten Jugendlichen, allgemein: der Gewalttätigkeit, die in den Steinwüsten der Großstädte angelegt, dort ständig am Gären ist, diese Haltung also brachte den Zustand des englischen Musiksystems – stellvertretend für den Zustand der englischen Gesellschaft – nicht nur zum Ausdruck, sondern opponierte dagegen.«24 21 Skai: Punk, S. 22. Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine (wieder-)veröffentlichte Magisterarbeit (erstellt 1979/80), die aufgrund ihrer punkgemäßen Aufmachung (im Stile eines Punk-Fanzines und mit recht zynischem Ton) und der direkten Involviertheit des Autors (er war lange Zeit Fanzine-Macher in Hannover) irgendwo zwischen wissenschaftlicher Sekundärliteratur und historischer Quelle anzusiedeln ist. 22 Ebd., S. 48. 23 Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael: Nach dem Boom. 24 Skai: Punk, S. 46.
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Die Enttäuschung über die Nichteinlösung der großen Versprechen des Rock’n’Roll und der 68er-Bewegung (Partizipation, Rebellion, vielleicht sogar Revolution, zumindest aber tief greifende Veränderung) gepaart mit zunehmender Zukunftsangst25 und Entfremdung26 von der Mainstreamkultur führt bei vielen zu dem Wunsch der Abschaffung bis hin zur Zerstörung des Althergebrachten und der Kreation von etwas Neuem, Eigenem, Rebellisch-Verneinendem. Greil Marcus beschreibt dies folgendermaßen: »Der Wunsch beginnt mit dem Anspruch, nicht als Objekt, sondern als Subjekt der Geschichte zu leben, so zu leben, als hänge von dem, was du tust, tatsächlich etwas ab, und dieser Anspruch eröffnet neue Perspektiven. Die Musik verdammte Gott und den Staat, Arbeit und Freizeit, Heim und Familie, Sex und Vergnügen, das Publikum und sich selbst und machte es dadurch für kurze Zeit möglich, alle diese Dinge nicht als Tatsachen, sondern als ideologische Konstrukte zu sehen, als etwas Fabriziertes, das sich ändern oder völlig abschaffen ließ.«27
Oder in den Worten eines Berliner Szenemitglieds in der Beschreibung seiner Begegnung mit Punk: »In der grundschule wollte man uns im musikunterricht die Beatles und Rolling Stones als götter unterjubeln […]. Im Winter 76/77 erzählte mir ein Freund […] von einer verrückten Band in england, dessen Sänger seinen schwanz in schokoladenpudding legt, das publikum anpisst und dieses freut sich auch noch darüber. Ach ja und dann noch der name: Sex Pistols. Musik war bisher für mich immer nur verrat und betrug gewesen. Doch bald sollte mir anderes widerfahren. Ich hörte Musik, die mich total fesselte, in euphorische Begeisterung versetzte und ein umfeld eines mir bis dahin fremden lebens um sich herum aufbaute, für das es in meiner umgebung nichts vergleichbares gab.«28
Punk trat mit dem Versuch an, die Gefühle von angespannter Leere und Langeweile, gesellschaftlicher Entfremdung, Frustration und Unzufriedenheit durch ästhetische Bearbeitung in unterschiedlichen Bereichen, wie denen der Mode, 25 »Apocalypse was in the air and the rhetoric of punk was drenched in apocalypse: in the stock imagery of crisis and sudden change.« Hebdige: Subculture, S. 27. 26 »In punk, alienation assumed an almost tangible quality. It could almost be grasped.« Ebd., S. 28. 27 Marcus: Lipstick Traces, S. 12. 28 Holy War, Nr. 9, 1985, Hamburg. Im Folgenden werde ich alle Zitate aus Fanzines so originalgetreu wie möglich wiedergeben, ohne grammatische oder orthographische Unstimmigkeiten zu markieren.
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der Musik bis hin zur Lebensführung, in besonderer Weise zu kultivieren, ohne diese Gefühle aufzulösen oder durch etwas Positives zu ersetzen.29
»W AS
LANGE GÄRT WIRD ENDLICH
W UT « 30
Im Folgenden zeichne ich entlang dreier zentraler Spezifika der Szenen, erstens der Etablierung neuer Ästhetiken, zweitens veränderter Körperverhältnisse und drittens einer veränderten Positionierung innerhalb der Gesellschaft, die Hervorbringung und Kultivierung neuer emotionaler Erlebenspraktiken und Erfahrungsräume in den frühen deutschen Punkszenen nach. Wobei betont werden muss, dass die drei genannten Spezifika sich nicht strikt voneinander trennen lassen, sondern ineinandergreifen, sich durchdringen und in gegenseitiger Abhängigkeit stehen. Das Feld der Ästhetik in den Punkszenen stellt sich als ein schwer eingrenzbares und potenziell fast alle Lebensbereiche umfassendes dar. Dennoch lassen sich zwei besonders prägnante Bereiche ausmachen, in denen neue Ästhetikentwürfe besonders deutlich zutage traten und mit veränderten Praktiken emotionalen Erlebens Hand in Hand gingen: erstens im Bereich der Musik und der musikalischen Performances und zweitens im Bereich der Mode und der Gestaltung des eigenen Äußeren. In einem Beitrag in dem Hamburger Fanzine Funzine heißt es: »Der Erfolg einer Punkband hängt von 3 Eigenschaften ab: Dem Aussehen, der Aggressivität und Schnelligkeit. Die Musik spielt eine untergeordnete Rolle.«31 Auch wenn dieses Zitat eher ironischen Charakter hat, so trifft es doch einen essentiellen Punkt: Zwar spielte Musik in keinem Fall eine »untergeordnete Rolle« in den deutschen Punkszenen, allerdings traten die in der restlichen Popwelt der damaligen Zeit, vor allem in der Progrockszene, so wichtige Professionalität und das musikalische Können in den Hintergrund. Virtuosität, komplexe Songstrukturen und ausgefeilte Arrangements sowie eine wahrgenommene Unnahbarkeit und Idealisierung der damaligen Rock- und Popstars wurden ersetzt durch musi-
29 Diese Gefühle werden hier nicht als ursächlich in dem Sinne verstanden, dass sie rein individuelle Erscheinungen waren und durch ihre ästhetische Bearbeitung zur Entstehung des Punk führten. Vielmehr lässt sich gerade die Langeweile auch als eine soziokulturelle Form der Auseinandersetzung mit der Umwelt, als eine spezifische Haltung entziffern, die in ihrem Erleben und Ausleben historisch eingebettet und bedingt ist. 30 Hackfleisch, Nr. 3, 1985, Hannover. 31 Funzine, Nr. 1, 1982, Hamburg.
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kalische Einfachheit, energetisch-aggressive Performances und ein möglichst direktes, barrierefreies Verhältnis zwischen Künstler_innen und Publikum, was auch in folgendem Zitat anklingt: »und wenn der Song noch in ne schnelle Pogomelodie eingepackt wird, müßte er sich ja ganz gut anhören. Leider tut er das meistens nicht, was einfach daran liegt, daß wir alle zusammen anfangen und auch zusammen aufhören, aber in der Mitte des Songs ist meistens echt gut was los, was sich nicht immer positiv auf die Verbesserung des Klangniveaus auswirkt. Aber wir werden das schon hinkriegen. Immerhin sind wir die einzigste Band, die ich kenne, in der zwei Punx mit Brille spielen.«32
Dabei schlugen sich die musikalischen Aspekte dieser Neuordnung vor allem in kurzen, schnellen Songs mit einfachen Strukturen und Harmonieführungen nieder, in denen der Gesang oft an Gerufenes, Gebrülltes oder Geschrienes erinnerte. Außerdem entwickelte sich eine Soundästhetik, die versuchte, möglichst »schnörkellos« den Eindruck einer Unmittelbarkeit und Direktheit zu erzeugen und den Abstand zwischen dem Liveerlebnis und dem Hören der Aufnahmen zu minimieren.33 Auch die Texte veränderten sich radikal und begannen, gesellschaftliche Missstände, Gefühle der Entfremdung, Gewalt oder Zerstörung zu thematisierten und bildeten damit einen Gegenpol zu den damaligen Phantasiewelten des Progrocks, der Love-and-Peace-Einstellung der Hippies und den als oberflächlich wahrgenommenen Disco-Texten. Mit dieser Neuordnung der musikalischen Ästhetik und damit auch der Veränderung der ästhetischen Praktiken des Musizierens und der Musikrezeption (auf Konzerten, wie auch von Tonträgern) gingen veränderte emotionale Erlebenspraktiken einher. Musik war plötzlich direkt verknüpft mit anklagender Aggressivität, energiegeladener Wut oder auch bissigem Sarkasmus. In den Worten einer euphorischen Bandvorstellung von The Clash, erschienen in dem Fanzine Pretty Vacant, ca. 1978/79, kommt das wie folgt zum Ausdruck: »Sie sind über England gekommen mit Stärke eines Hurricans! Am Anfang ihrer Single ›White Riot‹ heult eine Sirene, zum Schluß klingelt ein Wecker. Prophetisch? Vielleicht. Die unterdrückten und mies behandelten Jugendlichen erwachen aus ihrem Schlummer 32 Testament, Nr. 2, Berlin. 33 Zum Teil geht diese Soundästhetik auf den Klang des so genannten Garage Rock oder Garage Punk der 1960er in den USA zurück. Allerdings waren die allermeisten Punkmusikproduktionen mit äußerst knappen finanziellen Mitteln ausgestattet und kamen oft in Eigenregie zustande, was zwangsläufig auch Einfluss auf den Sound hatte. Zur Ästhetik des »dreckigen Sounds« siehe von Appen: The Rougher the Better.
300 | H ENNING W ELLMANN und drängen sich in die Plattenstudios. Allen voran THE CLASH. […] Drei Akkorde. Hackender Rhythmus. Herausgebrüllte Texte. Aber Texte, die mehr zu sagen haben, die keine Leerformeln sind. Kleidungsstücke als nur wenig verbergende Fetzen. CLASH machen ihre eigene Mode: ein Schlag ins Gesicht der Travolta nacheifernden Schickeria. London brennt, singen THE CLASH, Ich hab’ die Nase voll von dir. Bestandteil einer jeden Bühnenshow, die jeden Abend anders ist. Visionär und Wild. Allerdings muß Joe Strummer manchmal die Show unterbrechen, weil irgendeiner mal wieder eine Schlägerei entfacht hat, oder so viele Bierdosen auf die Bühne geworfen worden sind, daß er kein Platz mehr hat. Einen Moment später steht das Aggressionsbündel Joe Strummer wieder im Mittelpunkt. Umgeben von bis an die Grenze ihrer Körperkräfte mitgehenden Fans.«34
Mit der Veränderung der musikalischen Ästhetik ging auch eine Veränderung der Performances bzw. der Konzerte einher. Neue Bewegungsformen wurden entwickelt, wie etwa das Pogo-Tanzen, welches sich durch wildes Herumspringen und gegenseitiges Anrempeln auszeichnet. Publikum und Künstler_innen standen zu jeder Zeit in engem Austausch, sei es durch Flaschen- und Bierdosenwürfe, Sprünge der Musiker_innen ins Publikum oder gegenseitiges Bespucken. Ein reger Alkohol- und Drogenkonsum der meisten Beteiligten begünstigte eine exzessive Stimmung. Außerdem herrschte oft eine angespannte, aggressive Atmosphäre, die sich nicht selten in körperlichen Auseinandersetzungen innerhalb des Publikums ausdrückte oder auch zu Konfrontationen zwischen Publikum und Band führte. Generell zeichnen zahlreiche Konzertberichte in den Fanzines der Szenen das Bild einer engen Verknüpfung zwischen Konzerterlebnis und körperlicher Gewalt. Neben den Auseinandersetzungen während des eigentlichen Konzertes fanden oft auch davor oder danach körperliche Konfrontationen statt, entweder untereinander oder mit anderen Jugendoder Subkulturen, wie Skinheads, Teds oder Rockern, aber auch mit der Polizei. Stellvertretend für eine Vielzahl sehr ähnlicher Berichte möchte ich hier aus einem Konzertbericht des Auftritts der Dead Kennedys am 10. Dezember 1982 im »SO36« in Berlin zitieren: »Die zum Teil betrunkene oder vollgekiffte Menge von Punx, die mit leeren aber auch halbvollen Bierbüchsen um sich und auf die anderen warfen, bemerkten zum grossen Teil den jux gar nicht. […] Die Sick Pleasure begannen, und auch das Getrete, Gespringe und Rumgeschubse begann. Die Punx nennen das POGO. (das wissen immer noch zu wenig Leute) Die Stimmung stieg ihrem Höhepunkt entgegen und die Leute kamen immer besser drauf. Der Pogo wurde härter und besser, aber unter den lieben netten Punx waren einige Arschficker, die einfach mit Würgern um die Flossen auf einige Leute ganz hintervötzig 34 Pretty Vacant, Nr. 1, ca. 1978/1979, Hamburg.
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einprügelten. Doch trotz dem hatten die Sick Pleasure und das Publikum einen geilen Einstieg geliefert. Dann kamen (lechz) MDC auch Millions of Dead Kops genannt auf die Bretter. Eine der besten US HC Gruppen. Sie spielten sehr schnell, wild und zerstörerisch. […] Die Dead Kennedys (doppel lechz). Sie begannen viel schneller als angenommen. […]…der Jello [Sänger der Dead Kennedys] hat ganz schön viel Mut denn seine abstecher ins Publikum waren ziemlich Riskant bei der Pogowütigen Menge. […] Die Leute, die sich nicht austoben konnten oder deren Erwartungen nicht befriedigt waren, mussten sich natürlich noch eine kleine Strassenschlacht mit unseren grünen Jungs liefern. Das war ja dann das I Tüpfelchen wie nach jedem Konzert.«35
Es zeigt sich in dem ästhetischen Feld der Musik also eine Verknüpfung »wütender Emotionen« mit bestimmten kulturellen Praktiken, wie der des Konzertbesuchs, des Musizierens oder der Musikrezeption von Tonträgern. Dabei greifen diskursive Sinnzusammenhänge und Deutungsmuster (zum Beispiel vermittelt durch Ungerechtigkeiten anklagende Songtexte), kulturelle Praktiken wie die des Pogo-Tanzens, und bestimmte ästhetische Entwürfe wie der raue Sound, die schreienden Stimmen und die schnellen Rhythmen der Songs, ineinander und formen spezifisch emotionalisierte Erlebens- und Erfahrungsangebote, die wiederum konkret mit bestimmten Entwürfen von Selbstverhältnissen verknüpft sind. Dies ermöglicht Individuen, eine »sinnvolle«, ästhetische und praktische Positionierung innerhalb ihres Umfelds, die gewisse Formen der Praktiken emotionalen Erlebens nicht nur toleriert, sondern im Wortsinne kultiviert. Somit zeigt sich, dass die weit verbreitete Annahme, dass Punkmusik und Punkkonzerte vor allem dazu dienten, ein Ventil für den Alltagsfrust junger Männer zu sein, zu kurz greift. Vielmehr wurde eine bestimmte Art der Emotionalität, inklusive der damit verknüpften Praktiken und Sinnzusammenhänge, erprobt, geschaffen, trainiert und eben kultiviert. Das vielleicht essentiellste Moment der Punkmode36 war die stilistische Rekontextualisierung und provokative Neukombination von bereits bedeutungsgeladenen kulturellen Artefakten. In den Worten Johnny Rottens: »People were extremely absurd and still stuck into flares and platform shoes and neatly coiffeured longish hair and pretending the world wasn’t really happening. It was an escapism that I resented. It was also a garbage strike going on for years and years and years and there was trash piled ten foot high. They seemed to have missed that. Wear the
35 Würg, Nr. 9, 1983, Berlin. 36 Zum Aspekt der Punkmode siehe auch Hebdige: Subculture, S. 25 f.; Savage: England’s Dreaming und Mrozek: Figuration Punk.
302 | H ENNING W ELLMANN garbage bag for god’s sake! And then you’re dealing with it. And that’s what I would be doing, I would wrap myself basically in trash.«37
In der Punkmode trafen und treffen sich die Lederjacke der 50er-Jahre-Halbstarken, verziert mit Nieten und selbst aufgemalten Bandlogos oder Parolen und einem abgebrochenen Mercedes-Stern als Symbol des »Anti-Bonzen-Tums«, mit Accessoires aus der Bondage- und SM-Szene, wie dem Nietenhalsband oder der Bondage-Hose38, Sicherheitsnadeln in Ohren und Wange und den Arbeitsschuhen und -stiefeln von Doc Martens. Vor allem in der Boutique von Vivienne Westwood und Malcolm McLaren in der Londoner Kings Road wurde diese eklektische Idee der Mode in den 1970ern vorangetrieben.39 Durch die Kombination von jugendkulturellen Kleidungsstilen, wie denen der Teds oder der Rocker, mit Accessoires und Kleidungsstücken aus der tabuisierten Bondage- und SMSzene wurde hier einem Kleidungsstil der Weg bereitet, der sich ab Mitte der 1970er Jahre in weiten Teilen Europas und der USA verbreitete. Dabei war für die äußere Erscheinung der Punks von Anfang an nicht nur die Mischung verschiedener Einflüsse prägend, sondern ebenso das Prinzip, dass jede_r selbst bei der Gestaltung des eigenen Äußeren kreativ Hand bzw. Schere, Spraydose oder Stift anlegen sollte. Weiteres, nicht nur für diese Zeit sehr untypisches, Merkmal der Punkmode war, dass sie oft auf geschlechtliche Unterschiede der Outfits verzichtete und es durchaus gängig war, dass Männer und Frauen die gleiche Kleidung trugen. Ähnliches galt für die Frisuren. Ganz entgegen vielen anderen modischen Trends der 1970er trugen die Punks der Zeit kurze Haare, die möglichst stachelig und strubbelig gestylt wurden. Recht schnell wurde auch mit dem Färben der Haare in allen möglichen, Aufsehen erregenden Farben experimentiert und Anfang bis Mitte der 1980er Jahre setzte sich schließlich der Irokesenschnitt als ultimatives Punkerkennungszeichen durch. Was Mode, in diesem speziellen Fall die Punkmode, so bedeutend für eine Auseinandersetzung mit den Praktiken emotionalen Erlebens macht, ist, dass die Gestaltung des eigenen Äußeren, des eigenen Körpers immer auch auf die ästhetische Sichtbarmachung und Inszenierung von Ähnlichkeit und Differenz, Zugehörigkeit und Ablehnung abzielt. Mit der Wahl eines bestimmten Kleidungsstils 37 John Lydon a.k.a Johnny Rotten, Sänger der Sex Pistols, über seinen Zugang zur Mode Mitte der 1970er Jahre in dem Film The Filth and the Fury von Julian Temple (2000). 38 Auch wenn sie nicht direkt aus der Bondage-Szene kamen, sollten Ketten, Riemen und Reißverschlüsse an den Hosenbeinen die Assoziation mit dieser Szene hervorrufen. 39 Siehe zur Geschichte dieser Boutique Savage: England’s Dreaming.
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geht nicht nur die nach außen gerichtete Präsentation der Sympathie, Zugehörigkeit oder Ablehnung von bestimmten (sub-)kulturellen, politischen oder sozialen Strömungen einher, sondern ebenso eine ganz praktische, performative Eigenpositionierung und Selbstvergewisserung der eigenen Vorlieben und des eigenen Geschmacks. »Ich will das mit Absicht zeigen, dass ich nicht zu den sozusagen normalen Leute gehöre, ne. Für die biste Außenseiter, wahrscheinlich nen Bescheuerter, irgendwie nen Gehirnkranker. Man kriegt nur Anti-Sympathie, also dass man als asozial oder als dumm bezeichnet wird, ne. Aber mir ist das egal, ich fühl mich wohl in meiner Sache und gerad’ in dem Moment, wo ich merke, dass die über mich lachen, ne, fühl’ ich mich bestätigt. Und daran merk’ ich ja, wie krank unsere Gesellschaft ist«,
erzählt Peter, Sänger der Kölner Punkband Cotzbrocken im Dokumentarfilm Randale & Liebe.40 Gerade die Punkmode zielte darauf ab, sich an gesellschaftlichen Schönheitsvorstellungen zu reiben, sie infrage zu stellen oder zu negieren, ohne dabei allerdings den Bezug zu ihnen zu verlieren und eine gänzlich unabhängige Ästhetik zu entwickeln. Oder in den Worten von Peter: »Das ist ’ne Anti-Mode.«41 Die Punkmode blieb auf ihr »bürgerliches«, »spießiges«, »normales« Gegenüber angewiesen, um in deren Verneinung einen bestimmten Sinn zu erlangen und somit in der Lage zu sein, ihre affektiv aufgeladene Bedeutung in der Kommunikation nach innen wie nach außen anzunehmen. »ML MONROE alias FRANZ HERIBERT BIELMEIER (noch dazu ich selbst) trug im mai 77 eine dermaßen zerfetzte hose, auf deren linkes bein ich ein herz mit pfeil und der inschrift ›mein führer‹ gemalt hatte. und aufgrund meines durch ausdauernde bemalung mit wandfarbe steinhart gewordenes einärmeligen t-shirts verbot herr wondracek seinem sohn den umgang mit mir.«42
Hier zeigt sich, wie die Verkehrung oder Missachtung gesellschaftlicher Ästhetikvorstellungen (zerfetzte Hose mit dem »Mein-Führer-Herz« und mit Wandfarbe bemaltes T-Shirt) als Mittel der Differenzmarkierung und Provokation eingesetzt und die Reaktion des Umgangsverbots quasi als Erfolg verbucht wurde. Die Andersartigkeit des eigenen Denkens und Fühlens oder der eigenen Vorlieben und Einstellungen wurden nicht als bloße Differenz, sondern durch negative Bezugnahme als provozierend und ablehnend inszeniert und somit vor allem 40 Randale & Liebe von Thomas Schmitt (1981). 41 Ebd. 42 The Ostrich, Nr. 8, ca. 1978/79, Düsseldorf.
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auch praktiziert. Durch das Gestalten des eigenen Äußeren wurde durch den Einsatz kultureller Zeichen sowohl Devianz präsentiert, als auch durch die performative Praxis des Sich-in-Szene-Setzens ein Akt der Selbstplatzierung, -erschaffung und -vergewisserung vollzogen. Beide Aspekte waren dabei direkt mit einer emotionalen Auseinandersetzung mit der kulturellen und sozialen Umwelt verknüpft. Einerseits durch das Etablieren einer neuen Ästhetik und damit einhergehend eines veränderten Geschmacks (inklusive aller Konsequenzen einer neuen Schönheitsvorstellung, etwa veränderter erotischer Attraktivität), andererseits durch das Kultivieren einer mit modischen Mitteln ausgedrückten Ablehnung, Kritik oder Devianz.
K ÖRPERVERHÄLTNISSE Punk war wesentlich mit einem veränderten Körperverhältnis verknüpft, welches im Kern eine »radikale Dekonstruktion hegemonialer Schönheitsideale betrieb«.43 Schon in der Entstehungsphase der ersten Punkszenen in Deutschland, wie in England und den USA, wurde der Körper als kultureller Code und Angriffsfläche sozialer Praktiken ganz bewusst ins Spiel der Bedeutungszuschreibungen eingebracht, mit Symbolen behaftet und selbst als Symbol verwendet. Einerseits fand dies, wie schon beschrieben, vor allem in der Mode seinen Ausdruck. Andererseits wurden durch die Etablierung veränderter sozialer Praktiken, vom neuen Tanzstil über das exzessive Alkoholtrinken, Schnorren und Pöbeln in der Öffentlichkeit bis hin zu häufigen körperlichen Auseinandersetzungen, neue Körperverhältnisse kultiviert. Dabei herrschte gerade in den Anfangsjahren der Bewegung, circa bis Anfang der 1980er Jahre, die Inszenierung der Körper als zerbrechliche Entitäten vor, auf denen die wütende Kritik, die Ablehnung und Aggression gegenüber der Gesellschaft und Mainstreamkultur sowie auch gegenüber dem Selbst sichtbare Spuren hinterlassen konnte und sollte.44 Offensichtlich wurde diese veränderte Haltung gegenüber dem Körper nicht nur in der zweckentfremdenden Verwendung verschiedener Artefakte, die durch diverse Körperteile getrieben wurden (beispielsweise Sicherheitsnadeln durch Wangen und Ohren), sondern vor allem auch in massivem, öffentlich zur Schau
43 Mrozek: Figuration Punk, S. 192. 44 Vgl. Büsser: Rebel in Society. In den Folgejahren tritt diese zur Schau gestellte Fragilität allerdings ein wenig in den Hintergrund und mit dem Aufkommen des Hardcore-Punk etabliert sich eine Präsentationsform des Körpers als kräftiges, starkes und aggressives Instrument im Kampf für die eigenen Ideale.
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gestellten und glorifizierten Drogen- und Alkoholmissbrauch. Mit dem Resultat der selbst verschuldeten und offen präsentierten Dysfunktionalität bis hin zum Verfall des Körpers und der eigenen körperlichen Fähigkeiten wurde durch Drogen- und Alkoholkonsum dem gesellschaftlichen Ideal der Körperbeherrschung und -pflege eine Absage erteilt. Auch die gezielte Inszenierung von Selbstverletzungen gehörte zum Repertoire auf den Körper bezogener Praktiken der Punkszenen. Hier waren es vor allem Künstler_innen, die sich in ihren Performances Wunden zufügten oder Schmerzen aussetzten.45 Doch trotz dieser Zurschaustellung der Fragilität und Verletzlichkeit blieb der Körper im Punk auch Repräsentant einer Aggressivität, Gefährlichkeit und Angriffslust, was sich zum einen durch das aggressive Gebaren – bis hin zu Gewalttätigkeiten – etwa auf Konzerten zeigte und sich zum anderen auch in der modischen Erscheinung vieler Punks manifestierte (durch Stacheln, Nieten, Kampfstiefel oder Patronengürtel). Der Körper wurde als ästhetische Projektionsfläche genutzt, auf der bestimmte ästhetische Konzepte und Vorstellungen präsentiert werden konnten. Auch die im Punk typischen Tanzstile des Pogo oder des Slamdancings46 bewegten sich im Spannungsfeld der Akzeptanz bzw. Herausforderung der eigenen Verletzlichkeit und der aggressiven, austeilenden Beteiligung am Geschehen, wobei es weniger um gezielte Gewalttätigkeiten ging, als vielmehr um das Ausleben des gespannten Verhältnisses zwischen Verletzlichkeit und Kraft. Punk eröffnete damit ein Spektrum der auf den eigenen Körper bezogenen Praktiken, die bestimmte, oft mit Wut, Aggressivität oder Zorn zusammenhängende, emotionale Erlebensweisen mit szenetypischen Praktiken verknüpften und vice versa. Damit einhergehend wurde der Körper als spezifisches kulturelles Zeichen in der sozialen Umwelt inszeniert, um das szeneinhärente emotionale Spannungsverhältnis zwischen Autoaggressivität und Angriffslust, Zerbrechlichkeit und Stärke, Wut und Resignation praktisch und ästhetisch zu (re-) präsentieren.
45 Berühmte Beispiele hierfür sind Auftritte der US-amerikanischen Band The Germs, der Punk-Ikone Sid Vicious als Bassist der Sex Pistols oder auch der Hamburger Band Coroners und der Düsseldorfer Gruppe KFC. 46 Ähnlich dem Pogo wird bei dieser Art des Tanzes auch wild herumgesprungen, allerdings schubsen sich die Teilnehmer_innen dabei heftig durch die Gegend und springen sich gegenseitig an. Dazu siehe auch: Tsitsos: Rules of rebellion.
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P OSITIONIERUNG
INNERHALB DER
G ESELLSCHAFT
Betrachtet man das Verhältnis der Punkszenen zur Mehrheitsgesellschaft, offenbart sich ein zentrales Moment dieser Subkulturen. Ähnlich wie im Bereich der Ästhetik handelte es sich um ein Verhältnis, das in Wechselwirkung mit den meisten anderen Spezifika dieser kulturellen Strömungen stand und dessen Charakter die Ausrichtung und Ausgestaltung aller anderen kulturellen Merkmale der Szenen, wie der Musik, der Mode oder der Körperverhältnisse, stark beeinflusste. Im Zentrum dieses Verhältnisses stand eine radikale Ablehnung des Mainstreams, die allerdings ihren Ausdruck nicht durch eine isolierende Abkehr von dieser fand, sondern vielmehr durch die Verkehrung ihrer Werte, Vorstellungen, Ästhetiken, Geschmäcker immer bezugnehmend mit ihr verbunden bleiben musste.47 Punk zielte nicht darauf ab, geschlossene »Parallelwelten« zu erschaffen, die von der restlichen Kultur abgeschirmt waren, sondern setzte stets auf den Verbleib in der gesellschaftlichen Sichtbarkeit, auf die Präsentation der Andersartigkeit im Kontext einer kritisierten und als Negativfolie dienenden Mainstreamkultur. Exemplarisch für diese Haltung lässt sich der Prozess anführen, der schließlich zur Entstehung der so genannten Chaostage (jährlich 1982-85) führte, einem großen und, wegen diverser gewaltsamer Auseinandersetzungen mit der Polizei, berüchtigten Punktreffen in Hannover. Auf zunehmende Diskriminierung und Aufenthaltsverbote für Punks in der Wuppertaler Innenstadt reagierte die Szene nicht mit Rückzug in andere Bereiche, sondern mobilisierte verstärkt zu weiteren und größeren Treffen in der Innenstadt. Als schließlich die Einführung einer bundesweiten »Punker-Kartei« in Hannover zur Diskussion stand, in der alle der Punkszene zuzurechnenden Menschen erfasst werden sollten, wurde die gleiche Taktik gewählt. Alle Punks wurden dazu aufgerufen, nach Hannover zu kommen, um den Versuch einer Erfassung aufgrund der schieren Massen von Punks unmöglich zu machen und ad absurdum zu führen. Besonders deutlich zeigt sich diese Einstellung auch in der Wahl der alltäglicheren Treffpunkte von Punks sowie anhand des Verhaltens an diesen Orten. Oft dienten zentrale öffentliche Orte, wie Marktplätze, Parks oder Bahnhöfe48, als Treffpunkte, um gemeinsam »rumzuhängen« und, oft Bier trinkend, die Langeweile zu vertreiben bzw. sie als eine spezifische Form des Zeitvertreibs zu kultivieren. Dabei wurde die Aufmerksamkeit, die diese öffentlichen Treffen mit sich
47 Vgl. auch Lau: Die heiligen Narren, S. 62 f. 48 Beliebte Treffpunkte in den Anfangsjahren waren z. B. das Kottbusser Tor in Berlin, der Spritzenplatz in Hamburg oder der Hauptbahnhof in Hannover.
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brachten, nicht nur durch die alleinige Präsenz einer sich rein äußerlich deutlich unterscheidenden Ansammlung von Menschen erregt, sondern vor allem durch ein abweichendes Verhalten (teils exzessiver Alkoholkonsum, das Hören lauter Musik, Betteln um Geld), was nicht selten zu Konflikten mit Ordnungshütern und Anwohnern führte und auch immer wieder mediale Echos hervorrief.49 Beides sorgte für eine weithin sicht- und hörbare Präsenz der Punks, die somit immer auch gezielt in Interaktion mit der sie umgebenden sozialen und kulturellen Umwelt traten. Sicherlich ist die Wahl dieser öffentlichen Orte zu einem gewissen Teil der Tatsache geschuldet, dass es zunächst wenige Möglichkeiten gab, sich an privateren Orten wie Jugendklubs zu treffen. Andererseits zog man sich jedoch eher selten an unbelebtere Orte zurück und suchte gezielt die Aufmerksamkeit der Innenstädte. Neben diesen öffentlichen Treffpunkten etablierten sich allerdings auch schnell Orte, an denen Punks mehr oder weniger unter sich sein oder auch Konzerte organisieren konnten. Bedeutsam waren hier unter anderem das »Krawall 2000« in Hamburg, das »SO36« und das »TEK« in Berlin, der »Ratinger Hof« in Düsseldorf oder die »KORN« in Hannover. Allerdings verblieben Teile der Punkszenen, nicht allein wegen der nur zeitlich begrenzt nutzbaren Rückzugsmöglichkeiten, auch immer in der öffentlichen Sichtbarkeit und allein die Tatsache, dass Jugendliche sich in aller Öffentlichkeit oft den ganzen Tag scheinbar ausschließlich mit »Rumhängen« und Alkoholkonsum beschäftigten, anstatt einer geregelten Arbeit oder Ausbildung nachzugehen, vermittelte eine äußerst provozierende Botschaft. Von der Körperhaltung bis zu den Praktiken des öffentlichen Trinkens und Schnorrens kommunizierten viele Punks damit eine Anti-Haltung, die sich trotz offensichtlicher Ablehnung nicht darauf beschränkte, der Gesellschaft den Rücken zu kehren und an einer besseren Zukunft zu arbeiten, sondern sie praktizierten die Verneinung und Verkehrung gesellschaftlicher Werte und Ideale, wie Arbeit, Leistung, Körperbeherrschung und -pflege, bewusst in aller Öffentlichkeit. Diese Inszenierung radikaler Andersartigkeit und Abgrenzung bediente sich dabei selten klassischer Formen des politischen Protests. Vielmehr wurde durch veränderte Praktiken und Ästhetiken ein Gegenentwurf zu etablierten sozialen und kulturellen Wertemustern kultiviert, in dessen Zentrum allerdings keine positive Utopie zu finden war, sondern die negative, spiegelbildliche Verkehrung des gesellschaftlich Etablierten.50 Durch diese Form
49 Siehe z. B. Klaus Pokatzky: Ungeliebte Punks, in: Die Zeit, Nr. 26, 25.6.1982. 50 Anfang der 1980er Jahre setzte eine Diversifizierung der Szenen ein. Inspiriert durch explizit politisch motivierte Strömungen, die vor allem aus der Hardcore-Punkbewegung kamen, entwickelten sich in Deutschland Gruppierungen, die diese »programma-
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einer impliziten Kritik, die zumindest nicht vordergründig auf eine tief greifende Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse oder den expliziten Entwurf eines besseren Lebens setzte, sondern zentral um den kritischen Gestus an sich organisiert war, eröffnete Punk neue Erfahrungs- und Erlebensräume, die maßgeblich durch affektive Zugangsweisen erschlossen werden konnten. Betrachtet man das Zusammenspiel der verschiedenen, hier skizzierten Ebenen, durch das es Punk gelang, neue Selbstverständnisse und -verhältnisse hervorzubringen und zu etablieren, so wird ersichtlich, dass damit eine Kultivierung spezifischer emotionaler Erfahrungs- und Erlebensräume einherging. Diese bezogen sich zentral auf das öffentliche Aus- und Erleben gesellschaftlich eher negativ konnotierter Gefühle wie Wut, Aggressivität, Hass oder Zorn, aber auch einer zynischen, kritischen bis ablehnenden Haltung gegenüber der politischen, ästhetischen und kulturellen Ausrichtung der Mehrheitsgesellschaft. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass Punk Praktiken und Räume entwickeln konnte, die eine gemeinschaftliche Erfahrung und eine (pop)kulturelle Signifizierung solcher Gefühle ermöglichte, die vormals weitestgehend nur im individuellen und privaten Bereich toleriert wurden und eher den Status der Ausnahme oder des Außergewöhnlichen hatten. Durch diese Kultivierung von im weitesten Sinne »wütenden Emotionen« gelang es Punk, Formen der emotionalen Erfahrung und des emotionalen Ausdrucks hervorzubringen und zu prägen, die maßgeblich zu der Entwicklung einer »wütenden Musikkultur« beigetragen haben. Vor allem die Genres des Hardcore(-Punk), einiger Spielarten des Heavy Metal (vor allem Thrash und Speed Metal) und des Grunge waren nicht nur musikästhetisch, politisch oder künstlerisch inspiriert von den Punkszenen, sondern, so lässt sich argumentieren, auch wesentlich geprägt von den Praktiken emotionalen Erlebens, die Punk in der Popkultur verankern konnte. Von der kritischen und anklagendwütenden Haltung in den verschiedenen Spielarten des Hardcore über die Aggressivität, die im Thrash Metal zu finden ist, bis hin zur selbstzerstörerischen, introvertierten Wut im Grunge reicht das Spektrum der emotionalen Referenzen, für die Punk den Grundstein gelegt hat. Es erscheint also durchaus lohnenswert, die Betrachtung und Untersuchung von Emotionen im Kontext ihrer sozialen, kulturellen und historischen Bedingtheit als eine Perspektive in die Popgeschichtsschreibung zu integrieren, um (pop-)historische Entwicklungen umfassender in den Blick nehmen zu können. Allein das Verständnis von popkulturellen Phänomenen (sei es der Konzertbesuch, die Auswahl der Kleidung oder die Aneignung von Tanzstilen) als wesentlich ästhetisch vermittelten legt eine detaillierte Beschäftigung mit der »emotiotische Leerstelle« durch politische Konzepte, Ideen und auch Aktionen zu füllen suchten.
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nalen Seite« der Popkultur nahe, ist doch eine sinnliche, affektive Komponente der ästhetischen Erfahrung unbedingt inhärent.51
D ISKOGRAPHIE Sex Pistols: Never Mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols, Virgin Records, V2086 A1/B1, UK, Okt. 1977 [LP]. The Adverts: Crossing the Red Sea with the Adverts, Bright, BRL 201, UK, Feb. 1978 [LP]. The Clash: The Clash, CBS Records, S CBS 82000, UK, Apr. 1977 [LP]. Dies.: London Calling, CBS Records, CBS CLASH 3, UK, Dez. 1979 [LP]. The Ramones: The Ramones, Sire Records, SASD-7520, USA, Apr. 1976 [LP]. Dies.: Leave Home, Sire Records, SA-7528-A, USA, Jan. 1977 [LP]. Dies.: Rocket to Russia, Sire Records, SR 6042, USA, Nov. 1977 [LP].
F ILMOGRAPHIE Randale & Liebe, 1981, 62 Minuten. Regie und Drehbuch: Thomas Schmitt. The Filth and the Fury, 2000, 108 Minuten. Regie: Julian Temple, Produktion: Anita Camarata, Amanda Temple.
L ITERATUR Appen, Ralf von: The Rougher the Better. Eine Geschichte des »dreckigen Sounds«, seiner ästhetischen Motive und sozialen Funktionen, in: Thomas Phleps/ders. (Hg.): Pop Sounds. Klangtexturen in der Pop- und Rockmusik. Basics – Stories – Tracks, Bielefeld: transcript 2003, S. 101-122. Archiv der Jugendkulturen (Hg.): Keine Zukunft war gestern. Punk in Deutschland, Berlin: Archiv der Jugendkulturen 2008. Averill, James: Anger and aggression. An essay on emotion, New York: Springer 1982. Büsser, Martin: If the kids are united… Von Punk zu Hardcore und zurück, Mainz: Ventil 1995.
51 Reckwitz: Erfindung der Kreativität, S. 26 ff.
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»L ET FURY HAVE THE HOUR «
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Globale Klänge »World Music« als Marktkategorie in den 1980er Jahren G LAUCIA P ERES DA S ILVA
Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts vollzogen sich auf internationaler Ebene große Veränderungen, die man mit dem Begriff »Globalisierung« zu fassen versucht. Diese Entwicklung betraf nicht nur ökonomische und politische Prozesse, sondern ereignete sich auch im Bereich der Unterhaltungsindustrie und der populären Kultur. Auf dem Musikmarkt einiger westlicher Länder entstand Mitte der 1980er Jahre ein neues Etikett: »World Music«, »Musique du Monde« oder »Weltmusik«. Heutzutage kennzeichnet es ein etabliertes Marktsegment und ein Genre in der Musikindustrie. Viele Labels, Musikläden, Manager, Musiker, Festivalveranstalter, Radiosendungen und Zeitschriften spezialisierten sich auf »World Music«, die auch durch Auszeichnungen, Charts und Fachmessen sichtbar wurde. In der Literatur sind eine Vielzahl von Definitionen und Herangehensweisen zum Begriff »World Music« zu finden.1 Der folgende Beitrag geht jedoch nicht 1
Musikologen, Musikethnologen, Popmusik-Forscher, Kulturwissenschaftler und Jazzmusiker definieren »World Music« unter anderem als: Zeichen für die Entstehung einer Globalkultur (Stockhausen: Weltmusik, S. 469), eine tief greifende Umwandlung in der Musikgeschichte (Ling: Is ›world music‹), die Gemeinsamkeiten aller Menschen (Berendt, Joachim E.: Über Weltmusik, in: Jazz Podium 24 (März) 1985, S. 9), die Ausbeutung nichtwestlicher Musiker (Stephan Voswinkel: Über die Vielfalt der Musik. Zu Berendts Artikel »Über Weltmusik«, in: Jazz Podium 24. (Mai) 1985, S. 10-11.), die Verpackung nichtwestlicher Musik im Westen (Frith: World Music, S. 5), den Kontakt zwischen westlichen und nichtwestlichen Musiken (Feld: Schizophonia, Manuel: Popular musics, Baumann: World music) oder die globale Postmoderne (Taylor: Global Pop, S. 201). »World Music« kann außerdem »human music«
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von einer bestimmten analytischen Definition aus.2 Er hat das Anliegen, die Praktiken der Akteure des Musikmarktes nachzuzeichnen, die sich mit »World Music« beschäftigen. Unter »World Music« wird im Folgenden daher jene Musik verstanden, die von den beteiligten Marktakteuren selbst so definiert wurde. Historisch betrachtet ist die Bedeutung von nichtwestlicher Musik im Westen und deren Verbreitung auf einem Markt keine Entwicklung des 20. Jahrhunderts. Erst in den 1980er Jahren wuchs aber die Marktnische für nichtwestliche Musik exponentiell, wobei sie zum ersten Mal im Mainstream der Musikindustrie ankam. Den Beginn dieser Veränderungen verbinden viele Autoren mit der Initiative zu einer Marketing-Kampagne von Vertretern elf unabhängiger Plattenfirmen 1987 in London, die »World Music« herausbringen wollten.3 Diese Kampagne habe einen Trend ausgelöst, »der nicht unerhebliche Teile vor allem der studentischen Jugend des Westens auf der Suche nach etwas ›Authentischem‹ und ›Ursprünglichem‹ auf den Ethno-Trip führte«.4 Es sei ein transnationaler Markt entstanden, in dem die »ethnische« Musik sich von den Rändern hin zum Mainstream der Musikindustrie bewegen konnte. Diese Geschichte wird inzwischen im Sinne eines Gründungsmythos erzählt, lässt sich jedoch auf reale Sozialbeziehungen zurückführen. Die Marktakteure, die sich an dieser Marketing-Kampagne beteiligten, bildeten ein Netzwerk von Plattenfirmen, Veranstaltern, Journalisten, Vertriebsunternehmen, Plattenläden, Public-Relations-Managern und Musikethnologen. In ihrer Zusammenarbeit schufen sie einen Markt um die Kategorie »World Music«. Soziologisch betrachtet sind Märkte keine neutralen abstrakten Mechanismen, sondern soziale Konstrukte, die von den Beziehungen zwischen Akteuren abhängen.5 Umgekehrt bedeutet dies, dass die sozialen Beziehungen die Märkte und deren Kategorien erzeugen. Im Fall des Musikmarktes sind die Kategorien Genrebezeichnungen, die »einen strukturierende, organisierende, normierende und damit konstituierende Wirkung« besitzen.6 Sie prägen seine Funktionsweise und haben nicht zuletzt Effekte auf die interne Organisation der Firmen. In kleinen Teams organisiert, spe(Nettl: Some aspects, S. 123) bzw. Musik sein, die wir überall auf der Welt antreffen (Bohlman: World Music, S. xi) oder, allgemeiner, Klänge der Welt bezeichnen (Tenzer: Introduction, S. 4). 2
Vgl. Peres da Silva: Wie klingt die globale Ordnung?
3
Guilbault: Umdeutung, S. 36; Taylor: Global Pop, S. 2-3; Frith: Popular music industry, S. 305-356; Fairley: The local, S. 276-279; Cottrell: Ethnomusicology, S. 16.
4
Wicke/Ziegenrücker/Ziegenrücker: Handbuch, S. 589.
5
Abramovay: Deus, S. 58, Zelizer: Pasts, S. 1061.
6
Wicke/Ziegenrücker/Ziegenrücker: Handbuch, S. 589.
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zialisiert sich das Personal auf Musikgenres und arbeitet mit einem begrenzt kalkulierten Budget, innerhalb dessen Grenzen es aber relativ hohe Gestaltungsfreiheit hat.7 Die Musikgenres gestatten somit die Segmentierung der Musiker und des Publikums, was den Erfolg jedes neuen Produkts besser kalkulierbar macht.8 Außerdem begrenzen Musikgenres den Wettbewerb. Da nur einer von acht neuen Musikern unter Vertrag erfolgreich genug ist, um Gewinn zu erzielen, gibt es einen zwangsläufigen Innovationsdruck in der Musikindustrie.9 Dabei werden ständig neue Label für Produkte und Richtungen kreiert, unter denen das Produkt dann »unvergleichlich dasteht«.10 Ein Genrebegriff stellt folglich keine »Abstraktion einer Klasse von Musikstücken« dar, sondern wird immer neu produziert und bringt als normative Vorgabe das hervor, was er doch vermeintlich nur bezeichnet.11 Auf dem Musikmarkt verbinden sich die Genrebegriffe mit »Praktiken des Musizierens, Objekten der Klangerzeugung und institutionalisierten Realisierungsorten musikalischer Praxis«. Die daraus folgende Definitionsmacht ist ein so entscheidender Faktor des Musikprozesses wie »die wirtschaftliche Kontrolle darüber«.12 Verschiedene Akteure bestreiten die Definition eines Genres – Labels, Musiker, Fans, Medien. In ihren Auseinandersetzungen erzählen sie Storys auf dem Markt, die letztendlich die Identität dieses Marktsegments bilden. Auf dieser Basis werden Marktteilnehmer ausgelesen und Produkte gestaffelt, wobei sich ein Markt für ein Genre entwickelt. Im Folgenden greife ich auf diese Erzählungen zurück, die über die sozialen Beziehungen, Bedeutungen und Werte Auskunft geben, die sich um die »World Music« herum bildeten. Somit wird eine soziologische Analyse der Entstehung des »World Music«-Marktes als historischer Prozess dargelegt. Auch wenn die Analyse hier auf die Ereignisse um das Jahr 1987 begrenzt wird, so erlaubt sie doch auch einen Ausblick auf darauffolgende Entwicklungen.
7
Negus: Producing Pop, S S. 15.
8
Ebd, S. 62-69.
9
Ebd., S. 40.
10 Wicke: Über die diskursive Formation, S. 164. 11 Ebd. 12 Ebd, S. 166.
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D IE B ILDUNG
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Im Sommer 1987 trafen sich Vertreter von unabhängigen Plattenfirmen, Festivals, Zeitschriften, einem Fernsehsender, Vertriebsunternehmen, Plattenläden und dem National Sound Archive sowie freiberufliche Journalisten und PublicRelations-Manager an drei Terminen in einer Londoner Kneipe.13 Ihr Hauptziel war, das Repertoire der teilnehmenden Plattenfirmen in den britischen Plattenläden zugänglicher zu machen. Auslöser dieser Aktivitäten war die Aussage des Direktors der Plattenfirma Ace Records, Roger Armstrong, die Plattenläden könnten das Repertoire eines seiner Labels, GlobeStyle, nicht auf schlüssige Weise ablegen. Seiner Meinung nach war es daher notwendig, ein neues übergreifendes Etikett zu finden, unter dem sein Repertoire in den Plattenläden zu identifizieren wäre. Damit könnten die Plattenläden seine Produkte besser bevorraten und die Endverbraucher die Kataloge leichter erschließen.14 Um dieses Ziel zu erreichen, sei eine Zusammenarbeit der interessierten Labels erforderlich. Durch das neu zu schaffende Etikett könnten die Labels ihre Produkte strategisch positionieren, den individuellen Wettbewerb zwischen Musikern oder Schallplatten einschränken und zugleich den Wettbewerb zwischen übergreifenden Kategorien auf einer neuen Ebene fördern. Beim ersten Treffen wurde die Einschätzung Armstrongs von 19 Teilnehmern aus zehn Unternehmen bestätigt. Sie wollten ihre Kataloge von den bereits existierenden Kategorien »International« oder »Ethnic« abgrenzen.15 Das Etikett »World Music« wurde per Handzeichen gewählt. In Partnerschaft mit kleinen Vertriebsunternehmen, die über das notwendige Expertenwissen verfügten, wollten sie die Plattenläden überzeugen, einen eigenen Platz für »World Music« zu schaffen. Dafür entwarfen die Akteure eine Marketingkampagne für den Handel mit Werbemitteln und besonderen Geschäftsbedingungen. Zugleich bewarben sie die neue Kategorie bei den Endverbrauchern durch die Veröffentlichung einer Kassette für die Zeitschrift NME – The World at One, mit der Veranstaltung Crossing the Border – The Festival of World Music in London und mit Presse-
13 Am 29. Juni sowie am 13. und am 27. Juli 1987. Die Protokolle sind auf der Website der Zeitschrift fRoots aufrufbar unter http://www.frootsmag.com/content/features/ world_music_history/minutes/ (Abruf am 12.8.2009). 14 Beispiele sind Rakotos Frahs Album Flute Master of Madagascar (1988), 3 Mustaphas 3 Album Shopping (1987) und Ofra Razas Album Yemenite Songs (1987). 15 Duran: Interview, Scott: Interview.
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mitteilungen.16 Die Kampagne war für den Oktober 1987 geplant. Ihre Kosten sollten alle teilnehmenden Labels anteilig je nach Größe ihres Katalogs tragen. Einige verstanden die Kampagne als eine Möglichkeit, ihre Haltung den anderen gegenüber zu verändern, da sie nun zusammenarbeiten und nicht mehr miteinander konkurrieren würden. Infolge dieses Treffens gab die Gruppe eine Pressemitteilung für den Handel heraus.17 Am zweiten Treffen nahmen 25 Vertreter von 18 Unternehmen teil. Einige Labels bestätigten ihr Interesse, sich daran zu beteiligen, während andere lieber austraten. Insgesamt wurden 68 Schallplatten ihrer Kataloge ausgewählt, die in der Kampagne beworben werden sollten. Zunächst bestand die Absicht, die Plattenläden dazu zu bringen, nur ein neues Fach für »World Music« in ihren Regalen einzurichten, um dann später ganze Abteilungen mit diesem Label zu eröffnen. Der Vertrieb zielte auf Einzelhandelsketten sowie unabhängige Plattenläden. Einige Teilnehmer schlugen vor, die Ladenbesitzer darauf aufmerksam zu machen, dass sie Schallplatten der Kategorie bereits in ihren Regalen hatten, ohne es zu wissen. Diese Idee fand jedoch keine Mehrheit. Stattdessen sollte die Musik als Neuigkeit eingeführt werden. Den Ladeninhabern wurde mitgeteilt, dass einige Plattenläden in Großbritannien und den USA bereits dazu übergegangen seien, »World Music«-Regalfächer zu etablieren. Die regelmäßige Veröffentlichung einer Hitliste sollte außerdem Vertrauen erzeugen. Gemeinsam stellten die Beteiligten zwei Pressereferenten ein, einen für die Kampagne und den anderen für langfristige Aufgaben. Für die NME-Kassette planten sie eine Kompilation mit Hör- und Tanzmusik.18 Am dritten Treffen beteiligten sich 17 Vertreter von zehn Unternehmen. Der Beitrag jedes Labels zur Kampagne betrug 50 Pfund pro Album. Das National Sound Archive schoss pauschal 100 Pfund zu. Insgesamt wurde die Kampagne mit 3.500 Pfund finanziert. Zwei Vertriebsunternehmen wirkten bei der Kampagne mit: Sterns/Triple Earth und New Routes. Sie schlugen vor, die Schallplatten in alphabetischer Reihenfolge nach Land, Namen des Musikers, Titel, Katalognummer und Label zu ordnen. Um die unabhängigen Plattenläden zu erreichen, arbeiteten sie mit anderen Vertriebsunternehmen zusammen. Im Fall der Einzelhandelsketten organisierten sie gemeinschaftliche Präsentationen für den Einkaufsleiter. Sie boten Vorbehaltskäufe für vier Monate an, während derer der Erfolg der Kampagne zu beurteilen war. Der Pressereferent sollte eine »World 16 In den 1980er Jahren veröffentlichte der britische New Musical Express eine Kassette mit Musik unterschiedlicher Stilrichtungen. Die Leser konnten Coupons in den Ausgaben der Zeitschrift sammeln und sich dafür die Kassetten zuschicken lassen. 17 Siehe Protokoll des Treffens vom 29.7.1987 auf der Webseite der Zeitschrift fRoots. 18 Siehe Protokoll des Treffens vom 13.7.1987 auf der Webseite der Zeitschrift fRoots.
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Music«-Hitliste in den Medien platzieren und Interviews mit »World Music«Musikern anbieten. Falls die Labels zu Interviews eingeladen würden, sollten sie anstelle ihrer eigenen Produkte »World Music« bewerben. So sollten sie die Stärke ihrer Zusammenarbeit betonen. Außerdem sollten sie darauf hinweisen, dass sie dem bereits existierenden Angebotsspektrum eine neue Art von Musik hinzufügten und damit auf eine wachsende Nachfrage des Publikums reagierten. In den Pressemitteilungen sollte eine Liste der »World Music«-Konzerte beworben werden, damit »World Music« nicht als eine künstliche Kategorie wahrgenommen werde, sondern als ein Musikereignis, das auf Bühnen präsentiert und im Radio gespielt wurde.19 Bei diesen drei Treffen knüpften die Beteiligten nicht nur enge Beziehungen zueinander, sie bildeten auch eine gemeinsame Auffassung von »World Music« aus. Somit entstand eine Netzwerkdomäne (»netdom« nach White) »einer gleichzeitigen ›Verbandelung‹ und Verdichtung von Themenfeldern und Beziehungen«.20 In ihrer Bewältigung der gemeinsamen Aufgabe, »World Music« als Kategorie zu etablieren, verstärkten einige der Beteiligten ihre Verbindungen untereinander. In diesem Prozess verhandelten sie die kommerziellen Bedingungen ihrer Zusammenarbeit und schufen gleichzeitig Bedeutungen und Werte, die sie miteinander teilen konnten. Auf diese Weise entstand eine spezifische Bewertungsordnung der »World Music«. Im Kern zielten die Akteure dabei auf den Verkauf von Schallplatten. Dafür mussten sie zwischen ihren verschiedenen Erfahrungen und unterschiedlichen Rollen innerhalb des Musikmarktes vermitteln, um zu einem Kompromiss zu finden. Sie arbeiteten in Plattenläden, Independent Labels, Vertriebsfirmen, als Musiker, Produzenten, Journalisten, Radiomoderatoren, Veranstalter und waren zugleich auch Musikfans. Sie sammelten Erfahrungen in vielen Stufen der Produktionskette und verkörperten manchmal mehrere Rollen auf dem Markt gleichzeitig. Im Kontext der Plattenläden waren sie als Ladenbesitzer, Lieferanten und Kunden miteinander verbunden. In der Situation eines Konzerts traten sie als Musiker, Veranstalter und Publikum auf. In der Plattenfirma wiederum waren sie als Musiker, Produzenten, Investoren und Händler verknüpft. Das führte zu einer Redundanz der Verbindungen dieses Kernnetzwerks. In diesen verschiedenen Kontexten konnten sie zuverlässige Informationen über die anderen beteiligten Akteure sowie über ihre Kontakte außerhalb des Netzwerks gewinnen, wodurch ihre zukünftigen Geschäftsbeziehungen besser planbar wurden. Diese dichten persönlichen Kontakte schufen das notwendige Vertrauen. Folglich wurde die Einladung zu den Treffen innerhalb des Netzwerks zunächst vor 19 Siehe Protokoll des Treffens am 27. Juli 1987 in der Webseite der Zeitschrift fRoots. 20 Mützel/Fuhse: Einleitung, S. 14.
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allem über diese Vertrauensverbindungen verbreitet, obwohl die Organisatoren sich auf die Idee stützten, dass sich alle Interessenten eingeladen fühlen sollten.21 Als Werte betonten sie Zusammenarbeit statt Konkurrenz und die Verbundenheit mit Praktiken des Hörens und Tanzens. Der ursprüngliche Vorschlag, dass es um eine bloße Neukategorisierung alter Musik ging, wurde zurückgewiesen. Stattdessen behaupteten sie, eine neue Art von Musik zu schaffen. Das Ziel, mehr Schallplatten zu verkaufen, wurde so zur Reaktion auf eine existierende Nachfrage umgedeutet. Diese Marktstrategie sollte den Anschein erwecken, es habe eine reale Verschiebung innerhalb der Musikwelt stattgefunden – und nicht die Neuerfindung eines Dachlabels über bereits existierenden Musikstilen. Auf diese Weise schufen diese Akteure performativ, was sie vermeintlich nur beschrieben. Diese Interpretation wurde in der zweiten Pressemitteilung zusammengefasst.22 Deren Autoren legten auch Wert auf ihren Status als unabhängige Schallplattenfirmen, die sich durch ein leidenschaftliches Engagement für die Musik selbst auszeichneten. Damit wollten sie sich von den großen Firmen mit dem Status von Majors unterscheiden, die durch die Orientierung auf kommerzielle Kriterien gekennzeichnet sind.23 Dieser Bezug auf ein Statussystem, das die Firmen in Indies und Majors einteilt, zeigt, wie das entstehende Netzwerk Werte von den benachbarten Musikmärkten, vor allem den Märkten um die Musikgenres Punk, Rock, Folk und Jazz übernahm.24 Einige Akteure des neuen Labels »World Music« interessierten sich für die Geschichte der aus dem Rock stammenden Musikstile, die sie als eine Kultur der Kennerschaft pflegten.25 Auf der Suche nach Neuentdeckungen durchkämmten andere Akteure systematisch Archive oder spezialisierte Läden, wobei das gemeinsame historische Interesse zum Netzwerk beitrug.26 Hinzu kam das Engagement für afrikanische Musik, das sich vom internationalen Erfolg des Reggae und Bob Marleys sowie von der Bewegung gegen Rassismus ableitete.27 Die 21 Mandelson: Interview. 22 fRoots, World Music History – Press Release 02. http://www.frootsmag.com/content/ features/world_ music_history/minutes/page07.html (Abruf am 12.08.2009). 23 Wicke/Ziegenrücker/Ziegenrücker: Hanbduch, S. 244. 24 Vgl. White: Identity, S. 106. 25 Straw: Systems, S. 377-378. 26 Ben Mandelson (Interview) sagt: »For me, discovering African music was a dischronous experience, because I heard things in the order that I found them, not in the order in which they were made. So I could hear something from 1958, 1971, 1966 in that order. So I didn’t have a sense of development, only a sense of discovering«. 27 Dave Cohen: My life as a footnote. http://www.bristolarchiverecords.com/people/ people_Dave_Cohen.html (Abruf am 21.01.2012).
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»World Music Movement« des Jazz, die aus dem Bebop entstanden war, wurde miteinbezogen und mit der Diskussion um die ökonomische Ausbeutung schwarzer Musiker durch weiße Agenten verbunden. Die Idee der Folk-Bewegung von der Erhaltung der Traditionen spielte ebenfalls eine Rolle, da die »Folk Music« eine universelle Sprache aufzuweisen schien, welche die Performer verwendeten, um sich für eine Gemeinschaft politisch zu äußern.28 In diesem Sinne griffen die Akteure Themen auf, die sie mit Vorstellungen von Unabhängigkeit, Antirassismus, Gemeinschaft und politischer Aktion verbanden. Für die Plattenfirmen gab es zunächst keine staatlichen Zuschüsse, wie es sie in der Livemusik-Branche für die gleiche Art von Musik durch die Visiting Arts gab.29 Aus diesem Grund konnten sie Schallplatten nur mit kleinen Budgets veröffentlichen. Mitte der 1980er Jahre wurden Produktionsmittel und Vertriebskanäle jedoch für mehr und mehr Menschen verfügbar, etwa eine bezahlbare Aufnahmetechnik. Das gestattete es, diese Musik ohne die gewöhnlichen Ausreden – »Oh, yeah, it’s very good, but it’s not listenable« – zu verkaufen.30 Auf diese Weise ließen sich die Einschränkungen überwinden, die sie bisher von den technologischen Qualitätsstandards der anderen Popgenres getrennt hatten. Damit wurde »World Music« mit bereits etablierten Genres vergleichbar und für ein breiteres Publikum verfügbar. Die Protagonisten der Kampagne propagierten begeistert diese neuen Möglichkeiten und waren davon überzeugt, dass sich mehr Menschen für die Musik gewinnen ließen. Solche Strategien wurden anfangs aber auch von einigen Beteiligten abgelehnt. Ihnen zufolge versuchte das »World Music«-Projekt Vorteile aus dem Nischenmarkt für afrikanische Musik zu ziehen, was den Verdacht erregte, hier würden wieder einmal schwarze Musiker ausgebeutet. Die Befürworter verwiesen auf ihre früheren Erfahrungen auf dem Musikmarkt, um plausibel zu machen, dass diese Art rassistischer Diskriminierung bei der Arbeit mit »World Music« nicht geschehen werde. Sie argumentierten dagegen, die MarketingKampagne sei notwendig gewesen, um diese Musik in größeren Mengen auf dem britischen Markt zu verkaufen. Die Schaffung eines eigenen Raums für »World Music« in den Plattenläden sei demnach von Vorteil für die Musiker. Die Korrektheit ihrer Arbeit bei der Lizenzierung von Materialien sollte sich in kontinuierlichen Beziehungen mit den Lizenzbesitzern erweisen. Das gängige Vorurteil, demzufolge »Dritte-Welt-Musik« roher und primitiver als westliche 28 Brocken: British folk revival, S. 2; Redhead/Street: Have I the right, S. 178. 29 Visiting Arts ist ein Referat des British Council, das sich zum Ziel gesetzt hatte, »to bring international and culturally diverse work from overseas to UK audiences«. Vgl. http://www.visitingarts.org.uk (Abruf am 20.8.2009). 30 Scott: Interview.
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Musik sei, lehnten sie als Kulturimperialismus ab und plädierten stattdessen dafür, alle Musik gleich zu behandeln.31 Folglich sollten faire Vertragskonditionen und die »aufrichtige« Haltung gegenüber der Musik sicherstellen, dass keine Ausbeutung geschehen würde. Statt Konkurrenz wurde die Idee der Zusammenarbeit propagiert. Unter diesen Bedingungen entstand die Bewertungsordnung der »World Music«: Die Akteure schufen ein ökonomisches Ethos, das informell bestimmte, wie man sich korrekt auf dem Markt verhalten sollte. So wurde ein Statussystem um die »World Music« für die Auslese der Marktteilnehmer aufgebaut. Roger Armstrong und Ben Mandelson vom Label GlobeStyle erläuterten die Kampagne wie folgt: »World Music hat bisher noch keine richtigen Strukturen. Wir wollen Musik herausbringen, die noch nicht erschlossen ist, und nicht solche, die schon einen gewissen Grad an Popularität hat. Niemand kann wissen, ob er das mag, was wir verkaufen, bis er es gehört hat. Wir müssen einen Markt erfinden.«32
D IE A USWIRKUNGEN DER M ARKETING -K AMPAGNE AUF DEN M USIKMARKT Im Oktober 1987 wurde die Marketing-Kampagne für »World Music« durchgeführt. Jedes Label wählte Schallplatten aus, die als »World Music« verkauft werden sollten. Am besten vertreten war das Label GlobeStyle mit 22 Schallplatten, dessen Katalog so zum Hauptbezugspunkt für »World Music« wurde.33 Die Mehrheit dieser Aufnahmen bestand aus lizenzierten Tonbändern mit tanzbaren afrikanischen und lateinamerikanischen Musiken.34 In den wenigen produzierten Aufnahmen wurde meist der Einsatz technischer Hilfsmittel wie Drumcomputer oder Keyboards vermieden, um ein Gefühl von »living performed musical art« zu vermitteln.35 Ein anderer Bezugspunkt für »World Music« war die NME-Kassette The World at One, die vor allem Musik aus Afrika enthielt. Das Festival Crossing the Border organisierte Partnerschaften zwischen europäischen Folkmusikern und afrikanischen Künstlern. Auf diese Weise war das »World Mu-
31 Mark Cooper: The best of all worlds, in: The Guardian, 24. Juli 1987, S. 16. 32 Ebd. 33 Bei der Kampagne wurden insgesamt 68 Schallplatten beworben. 34 Einige Schallplatten waren die Kompilationen: Verschiedene: Dance! Cadence!; Verschiedene: Fiesta Vallenata con GlobeStyle Records sowie Verschiedene: Kanda Bongo Man. 35 Mandelson: Interview.
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sic«-Etikett durch Musik zum Tanzen aus Afrika und Lateinamerika, aber auch durch europäische Folkmusik geprägt. Der Erfolg der Kampagne wurde anhand ihrer Auswirkungen auf den Musikmarkt ermittelt, die als Qualität wahrgenommen wurden.36 Die Bewertung der Qualität der »World Music« geschah durch die Käufer. Die Produzenten können nur Versandvolumina und Zahlungsverkehr beobachten, nicht jedoch Qualitäten oder deren Bewertungen.37 Daher ziehen sie die entsprechenden Produktionsvolumina aller Marktteilnehmer heran, um die Wahrnehmung von Qualität indirekt zu beobachten.38 Zum Zeitpunkt unmittelbar nach der Durchführung der Kampagne konnten die Produzenten die Bewertung durch die Käufer in zwei Kontexten deutlich beobachten: im Kontakt mit der Fachpresse und mit den Plattenläden, beides Broker zwischen den Labels und den Endverbrauchern. Im Allgemeinen feierten die Medien einerseits die Weltharmonie, die in der »World Music« repräsentiert sei, und kritisierten andererseits die paternalistische Haltung der dominierenden weißen Mittelschicht ihr gegenüber. Die Plattenläden hingegen unterstützten das Projekt durch die Schaffung eines Platzes für »World Music« neben Jazz und Klassischer Musik. Diese ambivalente Bewertung durch die Medien und das Engagement der Plattenläden kennzeichnet seitdem den »World Music«-Markt. Die Analyse von 150 Schallplatten, die bis 1987 auf »World Music«-Labels erschienen, zeigt, dass zwei Drittel lizenzierte Aufnahmen waren, während ein Drittel selbst produziert wurde. Bei der Lizenzierung nahmen die Labels Kontakt mit Verlagen und anderen Labels auf, die über die Rechte verfügten. Die 100 lizenzierten Schallplatten der Analyse verbanden die elf britischen Labels mit 56 Firmen aus 20 Ländern. Die Hälfte der lizenzierten Aufnahmen besaßen 23 Firmen, die den Status von Majors hatten, während der größere Teil aus 33 unabhängigen Firmen stammte. Rund ein Viertel dieser Aufnahmen waren bereits von transnationalen Majors in Deutschland, Frankreich, Spanien und den USA herausgebracht worden, als die »World Music«-Labels die Rechte für Großbritannien kauften. Vier Prozent der Aufnahmen stammten von den Tochtergesellschaften dieser Majors in Indien, Pakistan, Nigeria und Südafrika. Zehn Prozent hatten große nationale Firmen in Südafrika, Simbabwe, Israel und Nigeria herausgebracht. Elf Prozent wurden von den staatlichen Plattenfirmen der kommu36 White: Identity, S. 64. 37 White: Where do markets come from, S. 520-521. 38 White: Identity, S. 84. Die Perspektive kontrastiert mit der Tradition wirtschaftswissenschaftlicher Studien über »unvollständigen Wettbewerb«, die besagen, dass die Unternehmen auf Basis von Vermutungen über den Geschmack des Käufers über ihre Marktangebote entscheiden (ebd., S. 520).
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nistischen Länder (Kuba, Sowjetunion, Ungarn, Jugoslawien) lizenziert. Die großen Firmen spielten somit die Rolle der »Artists & Repertoire«-Abteilung, die sich auf die Suche und die Förderung neuer Talente konzentrierten, während die kleineren »World Music«-Labels die Marketing- und Vertriebsfunktion übernahmen. Diese Beziehung kehrte somit die übliche Arbeitsteilung zwischen kleinen und großen Firmen auf dem Musikmarkt um.39 Aus diesem Grund wurden die »World Music«-Labels als Liebhaber angesehen, die nun jene Musik auf den Markt brachten, die von den großen Firmen nicht mehr gefördert wurde.40 In den Verträgen mit kleinen Firmen kamen die Hauptanbieter aus Frankreich (27 Prozent), Großbritannien (21 Prozent) und den USA (18 Prozent). Unter ihnen stechen zwei französische und ein amerikanisches Label heraus: AfroRythmes (12 Prozent der Aufnahmen), Syllart Productions (9 Prozent) und Caimán Records (7 Prozent). Die beiden ersten Firmen gründeten afrikanische Immigranten in Paris, wo sie in Partnerschaft mit einem kleinen lokalen Vertriebsunternehmen arbeiteten. Sie förderten eine Anpassung der afrikanischen Musik an europäische Standards und wurden im Rahmen der Politik gegen Kulturimperialismus von der französischen Regierung unterstützt.41 Die andere Plattenfirma operierte in New York. Von einem Kubaner und einem Kolumbianer gegründet, spezialisierte sich das Label auf Salsa, vor allem aus Kuba. Aufgrund des Embargos der USA im Kontext des Kalten Kriegs, das die Verteilung der Urheberrechte für die Musiker in Kuba verhinderte, und der Abschaffung der Urheberrechtgesetze nach der Revolution war die Aufnahme kubanischer Musik günstiger.42 Dadurch wurde die Vermittlung von Musik aus Afrika und Lateinamerika nach Europa begünstigt, was als eine Inversion der kulturellen Beziehungen aus der Perspektive des Kulturimperialismus wahrgenommen wurde. Der Import afrikanischer und lateinamerikanischer Musik konnte als eine Reproduktion der kolonialen Beziehungen interpretiert werden, in denen Afrika und Lateinamerika den Rohstoff lieferten, während Europa produzierte und konsumierte. Um diesen Verdacht auszuräumen, betonten die britischen »World Music«Labels ihren Status als Unabhängige, denen die Leidenschaft für Musik wichtiger sei als das Geschäft. Neben Schallplatten und Radiosendungen spielten Konzerte eine wichtige Rolle beim Bekanntmachen neuer Musiker und Musiken. Auf Konzerten konnten die Labels zudem die Reaktionen des Publikums beobachten und daraus 39 Negus: Producing Pop, S. 17; Hesmondhalgh: Flexibility, S. 475-477; Frith: Popular music industry, S. 49. 40 John Peel: Out of Africa, in: The Observer, 2. Februar 1986, S. 27. 41 Stapleton: Paris. 42 López Cano: La salsa.
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Rückschlüsse auf den Erfolg noch zu produzierender Schallplatten ziehen: Positive Eindrücke konnten zu einem Vertrag mit einem Musiker führen. Das war bei einem Drittel des Katalogs der »World Music«-Labels der Fall. In den brancheninternen Storys über diese Aufnahmen wurden vier Veranstaltungen oft erwähnt: die Konzerte von Arts Worldwide, World of Music, Arts and Dance (WOMAD), des Durham Oriental Music Festival und The Music Village. Trotz einiger Unterschiede galten diese Events als Konzerte nichtwestlicher Musik, veranstaltet von britischen Produzenten. Die Veranstalter Arts Worldwide und WOMAD nahmen durch die Labels World Circuit und WOMAD Records an der Marketing-Kampagne teil. Arts Worldwide brachte seit Anfang der 1980er Jahre Musiker, die in ihrer Heimat populär waren, in das Vereinigte Königreich, wo sie noch unbekannt waren. Diese Konzerte besuchten die Angehörigen der jeweiligen Immigrant Communities und einige britische Interessierte. Die Festivals der WOMAD fanden seit 1982 jährlich in verschiedenen britischen Städten statt. Im Programm waren Tanz- und Musikgruppen, die nichtwestliche traditionelle, klassische und Popmusik sowie westliche experimentelle Folk-, Jazz-, Post-Punk-, Reggae- und Rockmusik spielten. Diese Vielfalt von Stilrichtungen zog ein gemischtes Publikum an, dazu etablierten die Veranstalter Partnerschaften zu so unterschiedlichen Akteuren wie Schulen, einer Kooperative von Bio-Lebensmitteln, Zeitschriften und Radiosendern. Zur Organisation solcher Konzerte trugen die mit den Immigrant Communities verbundenen Produzenten wesentlich bei, etwa Akie Deen (Sierra Leone), Chris Blackwell (Jamaika) oder Ibrahim Sylla (Senegal). An der Marketing-Kampagne beteiligte sich mit Lucy Duran auch eine Musikethnologin als Vertreterin des National Sound Archive, das eine Partnerschaft mit dem Label Rogue Records hatte. Sie hielt Vorträge in The Music Village und arbeitete an der Universität. Auch andere Musikethnologen arbeiteten mit und organisierten etwa das Durham Oriental Music Festival. Einige Musikgruppen traten auf diesen Festivals auf und brachten ihre Schallplatten in »World Music«-Labels heraus. Diese Position einer »strukturellen Äquivalenz« der Veranstaltungen gestattete Medienbeobachtern den Vergleich43: WOMAD wurde eher als eine Kombination ethnischer Musik und populärer Gruppen verstanden, die das Fremdartige aus dem Ghetto herausholte, in das die »well-intentioned seriousness« der Musikethnologie es eingeschlossen hatte.44 Die Partnerschaften der Musikethnologen mit den »World Music«-Labels hingegen schienen diese Musik zu beleben. Da die »World Music«-Labels mit dem WOMAD und einer 43 Strukturelle Äquivalenz ist die gegenseitige Positionierung von Identitäten, die gemeinsame Attribute teilen, eine Clique bilden oder äquivalente Positionen besetzen. 44 Mike Kidel: Burundi, Bath & West, in: The Observer, 25. Juli 1982, S. 27.
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Musikethnologin zusammenarbeiteten, suchten sie einen Mittelweg. Sie betonten folglich die Ähnlichkeiten mit dem WOMAD und hoben hervor, dass ihre Arbeit in den Aufnahmestudios einer ähnlichen Ethik folge wie die musikethnologische Forschung. Nicht nur wollte man den Musikern mit Respekt begegnen, auch sollte die Musik möglichst unverändert aufgenommen werden. Auf diese Weise wurde die wissenschaftliche Ethik zum Teil der Bewertungsordnung der »World Music«. The Musik Village präsentierte einige Musiker und Vortragende, die auch bei anderen vergleichbaren Festivals mitwirkten. Es wurde vom Arts Centre des Commonwealth Institute in Zusammenarbeit mit dem Greater London Council als Teil der Veranstaltungsreihe zur Unterstützung des Kampfs gegen Rassismus organisiert. An den Notting Hill Carnival anknüpfend, spielte dieses Festival 1984 eine bedeutende politische Rolle.45 Im Zusammenhang mit der Eskalation der Konflikte zwischen der Polizei und Jugendlichen der Immigrant Communities Ende der 1970er Jahre, die den Eindruck eines »Rassen-Krieges« erweckten, führte die britische Regierung offiziell den Multikulturalismus ein, um die »race relations« zu harmonisieren.46 Eine Commission for Racial Equality und ein Netzwerk lokaler Race Relation Councils wurden eingesetzt, um die Diskriminierung zu bekämpfen. In seiner Arbeit orientierte sich der Greater London Council am Ideal des Sozialismus. Das Projekt des Festivals The Music Village war ein Mittel, um den Dialog zwischen den »ethnischen Zugehörigkeiten« durch Musik, Tanz, Poesie, wissenschaftliche Vorträge, Gespräche, Filme, Familienveranstaltungen und Workshops zu stimulieren. Musikethnologen und Musiker, die mit den »World Music«-Labels verbunden waren, beteiligten sich am Programm. Der Greater London Council unterstützte ferner von der britischen »Anti-Apartheid«-Bewegung organisierte Konzerte. Auf diese Weise verbanden sich diese Musikveranstaltungen mit anderen Musikprojekten, die den Rassismus in Großbritannien thematisierten, wie das Label 2-Tone oder das Festival Rock Against Racism. Deren Betreiber kritisierten die unpolitische Haltung des Projekts Band Aid zu Afrika. Dieses musikalische Projekt hatte einige der erfolgreichsten britischen Popmusiker jener Jahre versammelt, die gemeinsam den Song Do they know it’s Christmas? aufnahmen.47 Mit den Umsätzen der Single und des Musikvideos kauften sie Lebensmittel und Medikamente, um den Hunger in Äthiopien zu
45 Vgl. zum Notting Hill Carnival den Beitrag von Sebastian Klöß in diesem Band. 46 Jackson: Street life, S. 220-221; Joppke: Multiculturalism, S. 479. 47 David Bowie, Phil Collins, Culture Club, Duran Duran, Paul McCartney, Sting, Paul Young, U2 u. a., vgl. http://liveaid.free.fr (Abruf am 25.08.2010).
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bekämpfen.48 Diese Idee wurde als Projekt USA for Africa mit dem Song We are the World neu aufgelegt und gab den Anstoß zu mehr als 20 weiteren Aid-Projekten weltweit. Dieses Pop-Phänomen wurde unter der Bezeichnung »charity rock« gefasst.49 Das Mega-Konzert Live Aid – The Global Jukebox (1985), das gleichzeitig in London und in Philadelphia stattfand, war der Höhepunkt dieses Phänomens. Dagegen nahmen nordamerikanische und britische Popmusiker die Single Sun City auf, um mit den Refrain »I ain’t gonna play Sun City«50 den kulturellen Boykott Südafrikas aufgrund der Apartheid zu thematisieren.51 Als Folge gründeten sie die Artists United Against Apartheid (AUAA), die eine britische Entsprechung in den Artists Against Apartheid (AAA) hatte.52 Das umstrittenste Ereignis dieser Zeit war die Veröffentlichung der Schallplatte Graceland (1986) von Paul Simon durch das Label Warner Brothers, an der viele südafrikanische Musiker trotz des kulturellen Boykotts mitwirkten. Der Umsatz war weltweit enorm. 1986 wurde Graceland als »Record of the Year« mit dem Grammy Award ausgezeichnet.53 Der kommerzielle Erfolg dieser Schallplatte war ebenso groß wie die Anzahl scharfer Kritiken an Paul Simon. Für die Kritiker war Graceland das Ergebnis eines Prozesses von Aneignung, Ausbeutung und Herrschaft.54 Zu den Reaktionen auf internationaler Ebene gehörte auch eine Meldung des United Nations Special Committee Against Apartheid, derzufolge die Käufer dieser Schallplatte das Handelsembargo gegen Südafrika missachtet hätten.55 Diese Ereignisse trugen wesentlich zum beispiellosen internationalen Interesse an populärer Musik aus Afrika bei.56 Auf diese Weise erhielten nicht nur viele afrikanischen Musiker Zugang zum westlichen Musikmarkt, auch wurde ein Gefühl von Zusammengehörigkeit erzeugt. Multikulturelle Fragen wurden aufgeworfen und eine politische Haltung mit einer neuen Moralität verbunden.57 48 Auf der Live-Aid-Webseite geben die Organisatoren einen Umsatz von mehr als zehn Millionen Pfund an, vgl. http://liveaiddvd.com (Abruf am 9.2.2013). 49 Garofalo: Understanding, S. 16. 50 Sun City ist ein Freizeit- und Vergnügungskomplex in Südafrika, für dessen Bau viele schwarze Südafrikaner umgesiedelt wurden. Der Videoclip kann unter http://youtu.be/ TlMdYpnVOGQ gesehen werden. 51 Lahusen: Rhetoric, S. 93. 52 Ebd., S. 94 und 101. 53 Meintjes: Paul Simon’s Graceland, S. 69. 54 Ebd., S. 47. 55 Ebd., S. 65. 56 Hamm: Afterword, S. 214. 57 Rijven: Rock, S. 200-204.
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Dieser Appell an die Menschlichkeit schien die Hungersnot zu entpolitisieren und dabei zugleich die Popmusik zu politisieren.58 In diesem Kontext war der Kontakt der »World Music«-Labels mit den afrikanischen Musikern auf dem Festival The Music Village sehr politisiert. Die »World Music«-Labels wollten eine moralische Haltung einnehmen, um sich gegen Rassismus zu stellen, an die Menschlichkeit zu appellieren und gleichzeitig scharfe Kritik (wie sie etwa Paul Simon getroffen hatte) an ihrem Modell zu vermeiden. Vor diesem hochpolarisierten Hintergrund wurden die Akteure des »World Music«-Marktes von den Antirassismus-Aktivisten als solidarisch und von den Konservativen als moderat wahrgenommen. Um diese Zwischenposition zu festigen, nahmen die »World Music«-Labels eine moralische Haltung ein, die verschiedene Elemente verband: die Ethik der musikethnologischen Forschung, die Identität unabhängiger Firmen von Liebhabern und ein ökonomisches Ethos.
F AZIT Der »World Music«-Markt entstand aus Verhandlungen innerhalb des »World Music«-Kernnetzwerks und von diesem Netzwerk aus durch Verbindungen mit Akteuren des Musikmarktes im Kontext der internationalen Migrationsströme, des Kampfs gegen Rassismus, der Einführung von Politiken des Multikulturalismus, des Kalten Krieges und der Kritik am Kulturimperialismus. Der Prozess der Entstehung eines neuen Musikmarktes war somit eng mit Prozessen und Konflikten der 1980er Jahre verzahnt. Er war Teil der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Diskurse jenes Jahrzehnts und muss in seinem spezifischen historischen Kontext interpretiert werden. In den Beziehungen der britischen »World Music«-Labels mit Vertriebsunternehmen, Journalisten, Radiosendern, Plattenläden, Konzert- und Festivalveranstaltern ebenso wie mit Musikethnologen, Politikern, Lizenzbesitzern und dem Publikum formte sich eine spezifische Vorstellung von »World Music« aus, die sich aus einem neuen ökonomischen Ethos, der Ethik der musikethnologischen Forschung, einer moralischen Haltung und der Identität unabhängiger Firmen von Liebhabern zusammensetzte. Mit der Kategorie »World Music« wurden alle Musiken gefasst, die sich nach westlichen Begrifflichkeiten nicht einordnen ließen. Trotzdem bezog sich »World Music« in der Entstehungsphase vor allem auf tanzbare Musik aus Afrika und Lateinamerika, die sich mit dem Folk-Genre vereinbaren ließ.
58 Simon Frith/John Street: Party Music, in: Marxism Today, June 1986, S. 29.
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Diese Musiken stellten jedoch kein fest umrissenes Denotat für »World Music« dar, sondern dienten als Bezugsrahmen für die Bedeutungen und Werte des »World Music«-Marktes, der sich seit Mitte der 1980er Jahre formierte. Durch die Beziehungen um die Idee von »World Music« flossen die britischen »World Music«-Labels um eine Bewertungsordnung ineinander und bildeten ein Statussystem heraus. Innerhalb der Musikindustrie fanden sie eine Position, von der aus sie die »World Music«-Sparte zu einem transnationalen Markt mit eigenen Abteilungen in den größten Musikhandlungen weltweit entwickelt konnten. Somit war die hier beschriebene Formierung des »World Music«-Marktes einer jener sozialen Prozesse, die zur Erhöhung des Umsatzes nichtwestlicher Musik im Westen in den Jahrzehnten um die Jahrtausendwende beitrugen. Nun konnte auch Musik verkauft werden, die vorher nicht erhältlich gewesen war. Die Verschiedenheit der Alben und Musiker beweist die zunehmende Belebung dieser Marktnischen, obwohl sich die Absatzzahlen nur schätzen lassen. Im Lauf der Zeit gewann »World Music« an Kontur, je mehr Musikgenres und neue Musik besonders für den »World Music«-Markt produziert wurden. Als Folge nahmen die Teilnehmer dieses Marktes ihre Zusammenarbeit als ein Zeichen der Globalisierung wahr, was auch daran deutlich wird, dass der Begriff »World Music« mehr und mehr zugunsten eines neuen Labels – »Global Music« – in den Hintergrund trat.
I NTERVIEWS Duran, Lucy. 30. Oktober 2009 in Kopenhagen. Mandelson, Ben. 14. Dezember 2010 in Berlin. Scott, Iain. 30. Oktober 2010 in Kopenhagen.
D ISKOGRAPHIE 3 Mustaphas 3: Shopping. GlobeStyle, ORB 022, 1987 [LP]. Artists United Against Apartheid: Sun City. Manhattan Records, 1A 006-20 0927, 1985 [Single]. Band Aid: Do they know it’s Christmas? Phonogram, FEED1, 1984 [Single]. Frah, Rakotos: Flute Master of Madagascar. GlobeStyle, ORB 27, 1988 [LP]. Raza, Ofra: Yemenite Songs. GlobeStyle, ORB 006, 1987 [LP]. Simon, Paul: Graceland. Warner Bros Records, W 8349T, 1986 [LP]. USA for Africa: We are the world. Columbia, USA 40043, 1985 [LP].
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Verschiedene: Dance! Cadence!, GlobeStyle, ORB 002, 1985 [LP]. Verschiedene: Fiesta Vallenata con Globestyle Records, GlobeStyle, ORB 011, 1986 [LP]. Verschiedene: Kanda Bongo Man, Non Stop Non Stop, GlobeStyle, ORB 005, 1985 [LP]. Verschiedene: The World at One. NME, NME035, 1987 [Kassette].
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»If you have to ask, you can’t afford it« Pop als distinktiver intellektueller Selbstentwurf der 1980er Jahre N ADJA G EER
Im Herbst 2007 beklagte Karl Heinz Bohrer, dass den Intellektuellen in Deutschland der Wille zur Macht fehle.1 Er diagnostizierte dem bundesrepublikanischen Bürgertum eine »kulturell und politisch schlaffe Bescheidenheit«2 und warf dessen Geisteselite vor, sich selbst den Zugang zum politischen System zu versperren. Indirekt gab Diedrich Diederichsen trotz seiner dezidierten Anti-Bürgerlichkeit Bohrer im Herbst 2010 recht, als er zugab, dass seine intellektuelle Peergroup niemals an den »Elendsnummern« »Verantwortung« und »Kalkül« interessiert gewesen sei.3 »Lyotards wahre Herren« zeichne ihr Außenseiterstatus aus, es handele sich bei ihnen um »experimentelle Maler, Popkünstler, Yippies und Eingesperrte«.4 Im Gegensatz zu Karl Heinz Bohrer blickte Diederichsen nicht ohne Stolz zurück auf die frühen 1980er Jahre, als er selbst und die »PunkLinken« das Verschwenden ihrer Intellektualität noch mit der gleichen Überzeugung praktiziert hatten wie das der eigenen Jugend: »Damals hätte man sich nicht im Traum vorstellen können, dass diese Verschwendung nicht zum großen Nutzen des Potenziellen und des Endlosen und über jedes Kalkül und jede Ökonomie der Lebensführung triumphieren würde, nicht im Traum hätte man gedacht, dass vielleicht gerade diese Verschwendung nichts anderes sein könnte, als der
1
Bohrer: Kein Wille, S. 667.
2
Ebd., S. 666.
3
Diederichsen: Menschen, S. 38.
4
Ebd.
338 | N ADJA G EER Verlust der Möglichkeit, für die eigenen Interessen einzutreten. Dass Verschwenden vielleicht einfach verzichten heißen kann – zum Beispiel auf Rechte, auf die langfristig entwickelte strategische Position.«5
Die »langfristig entwickelte strategische Position«, die Diederichsen nun auf einmal attraktiv erscheint – und die auch Bohrer fordert –, war den linken Popintellektuellen lange suspekt. Lieber erweiterten sie beständig ihr vor allem popkulturelles Wissen und wandten sich in »hochverfeinerten Mikrodebatten über Mikroprobleme«6 gegen den Effizienzgedanken der bürgerlichen Gesellschaft. Durch ihre gegen Verwertbarkeit gerichtete Form der Intellektualität erschwerten sie sich selbst den Zugang zur Politik. Indem sie statt an einer langfristig entwickelten Strategie an der inneren Verfeinerung und der Ausbildung eines »ästhetisch-snobistischen Diskurses«7 arbeiteten, setzten sie an die Stelle der herkömmlichen Politik ihre Politiken der Haltung und der Pose, getragen von einem ganz eigenen Denkstil. Dieser im Weiteren sophistication8 genannte Denkstil zeichnet sich durch eine anspielungs- und geistreiche Präsentation von Wissen aus und erweitert den popkulturellen Wunsch nach Distinktion um die Inszenierung des eigenen kritischen Denkens. In einer Mischung aus elitärem Spezialwissen und zitierter britischer working-class-Intellektualität verschmelzen Kritik, Narzissmus, Arroganz, Bildung, Witz und (juvenile) Unsicherheit – doch wozu? Zu einem subversiven Denkstil? Oder zu einer intellektuellen Pose? Hatte der 68er-Intellektuelle noch auf eine gesellschaftliche Umsetzung seiner revolutionären Gedanken hingearbeitet und der alternative Intellektuelle der 1970er Jahre zumindest auf die Diskussion seines Standpunkts in Universität und Schule gesetzt, so stellte der »Hip-Intellektuelle«9 der 1980er Jahre seine Kritik in Klubs, Bars, Romanen und Essays dar. Ihm reichte es, sich mit anderen Hip-
5
Ebd., S. 39.
6
Ebd., S. 36.
7
Baßler: Freund, S. 217.
8
Vgl. Arning: Sophistik, S. 1083: »Im 20. Jh. ist ›sophisticated‹ zu einem Modewort geworden, das ausdrückt, dass ein Mensch, eine Theorie oder eine Technik in der Entwicklung fortgeschritten ist. In diesem Sinne und in der englischen Form hat es Eingang in die deutsche Sprache gefunden.« Vgl. auch die Studie der Autorin zum Thema: Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose.
9
Vgl. Diederichsen: Sexbeat, S. 65: »Das Mischverhältnis Hipster/Hip-Intellektueller ist wichtig für die Qualität der Szene. Auf hundert Hipster darf höchsten ein Hip-Intellektueller kommen, aber der muß gut sein, schlechte Hip-Intellektuelle können alles verderben.«
»I F YOU HAVE TO ASK «
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Intellektuellen zu messen10 und stills und Standbilder zu liefern für die eigene stroboskopartige intellektuelle Verwirrung«.11 Aus dem britischen Popmusikjournalismus übernahm der deutsche Popintellektuelle nicht nur den provozierenden Ton, sondern auch Hipness als eine Kategorie.12 Wahrscheinlich nicht zufällig sickerte zur gleichen Zeit der Begriff »contemporary« in die Kulturtheorie ein13 und mit ihm die Idee, dass Kunst und Kultur gegenwärtig und zeitgeistig sein müssten, um intellektuell reizvoll und relevant zu sein. Pop stand in diesem Sinne für die Gegenwart in der Kultur. Dieses Gefühl der Gegenwärtigkeit und Zeitgenossenschaft vermittelte zum Beispiel Rainald Goetz 1983 in Klagenfurt: »Wir brauchen keine Kulturverteidigung. Lieber geil angreifen, kühn totalitär roh kämpferisch und lustig, so muß geschrieben werden, so wie der heftig denkende Mensch lebt. [...] Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop. [...] So übernehmen wir die Weltherrschaft. Denn alles alles alles geht uns an. Und jetzt, los ihr Ärsche ab ins Subito.«14
Der Tonfall und die Erwähnung einer bekannten Hamburger Underground-Bar, des »Subito«, intensivierten den Zeitbezug und stellten die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Jugendkultur aus. Der intellektuelle Habitus der deutschen Popszene Anfang der 1980er Jahre erscheint besonders durch zwei geistige Haltungen zur Welt geprägt: den Nachhall des »No Future« des britischen Punk mit 10 Ebd.: »Gemessen an London ist jeder Hamburger Hipster bestenfalls ein Pseudo-HipIntellektueller. Dagegen braucht sich ein Hamburger Hip-Intellektueller vor einem Londoner Hip-Intellektuellen nicht zu verstecken.« 11 Joseph Vogl: Einführung zu »Mehr«, Vortrag von Rainald Goetz und Diedrich Diederichsen im Rahmen von »Fortsetzung folgt…Formate des Seriellen in den Künsten und Medien«, einer Veranstaltungsreihe der »Mosse Lectures« der Humboldt-Universität zu Berlin im Sommersemester 2012, 3.5.2012, http://www.youtube.com/watch? v=i1cAk_RoAeQ&list=PLE2041BE984DAAF64&feature=player_embedded#
(Zu-
griff 16.9.2013). 12 Vgl. Burchill: Verdammt, S. 208 f.: »Jene Jahre [die 1980er Jahre, N. G.] waren so wichtig, weil sie die letzte Periode darstellten, in der Hip in der Welt von heute wirklich zu Hause war. Er nahm Positionen ein, vor denen alte Linke und Intellektuelle zurückscheuten – sei dreist, aber nicht zu dreist! –, und feierte das Vergängliche, die Möglichkeiten und Produkte neuer Industrien, die Bedeutung von Stil und Geschmack und die neue Freiheit, die aus der kulturellen Verwirrung entstand.« 13 Osborne: Anywhere, S. 18. 14 Goetz: Subito, S. 20 f.
340 | N ADJA G EER
der daraus resultierenden Gegenwarts-Apotheose und den französischen Poststrukturalismus. Mit seiner Volte, die Wirklichkeit der Wirklichkeit zu bestreiten – so in Jacques Derridas Grundhaltung, es gebe nichts außerhalb des Textes, und in Jean Baudrillards Idee, im Zeitalter der Massenmedien habe das »Simulakrum« längst die Stelle der Wirklichkeit eingenommen –, kam der Poststrukturalismus den deutungsbesessenen Popintellektuellen der 1980er Jahre gerade recht. Wie stark sie dieses »Irrealisierungsgefühl«15 prägte, beschrieb Diederichsen rückblickend: »Warum war denn Baudrillard so wichtig? […] Was hat das ausgelöst? Was war toll an Bands wie Frankie goes to Hollywood oder an PeterGreenaway-Filmen? […] Diese Koordinaten des Kalten Krieges wirkten so stark, gleichzeitig glaubte man sich auch im Zeitalter der Post-Histoire.«16 Während die Franzosen bei der Ausarbeitung ihrer oftmals radikalen Gedanken von einer Besonderheit ihres rigiden Bildungssystems profitierten – wer es einmal erfolgreich durchlaufen hatte, konnte sich gute Hoffnungen auf eine gesicherte Anstellung machen –, mussten sich die deutschen Pop-Poststrukturalisten andere Verdienstmöglichkeiten suchen. Die Hochschulreform der 1970er Jahre und mit ihr die Job-Schwemme an den neu gegründeten Universitäten war vorüber, Studenten der Geisteswissenschaften hatten es schwer, überhaupt eine Anstellung zu bekommen. Sie konnten kaum auf eine Stelle hoffen, die es ihnen ermöglicht hätte, vom Staat alimentiert kritische Gedankensysteme zu entwerfen. In ihrer prekären finanziellen Situation ergaben sich für die jugendlichen deutschen Popjournalisten, Popschriftsteller und Popkritiker der frühen 1980er Jahre – Andreas Banaski alias »Kid P.«, Diedrich Diederichsen, Thomas Meinecke, Rainald Goetz, Olaf Dante Marx und Clara Drechsler, um nur einige herausragende Vertreter zu nennen – Publikationsmöglichkeiten auf dem Buchmarkt, in den Stadtzeitungen, Ausstellungskatalogen und Popmusikzeitschriften. Die wuchernde Fanzine-Szene war zwar als Veröffentlichungsort interessant, nicht aber finanziell. Die außeruniversitäre Popintellektualität musste sich verkaufen, das heißt, sie musste auf dem Markt bestehen und ihren Markenwert steigern. Dafür wurde der bestehende intellektuelle Diskurs erweitert, verfeinert – im Sinne von sophistiziert – und mit dem Glamour der Popkultur versehen: »Mir ging das Anfang der 80er mit Diederichsen so. Ich hab die frühen ›Sounds‹-Sachen gelesen, zum Beispiel diese Saisonberichte, und ich fand das einen irren Ton, ne irre Art, eben nicht nur über Musik zu schreiben. Plötzlich hingen Fassbinder, Diana Ross, Lady 15 Diedrich Diederichsen: »So obskur, wie es gerade noch ging«. Interview, in: Jungle World 9/2013, 28.2.2013, S. 2-7, hier S. 6. 16 Ebd.
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Di, Documenta extrem zusammen, und es hatte, für mich zumindest, auch etwas total Glamouröses.«17
Die neue Rolle »Popintellektueller« funktionierte also im Hinblick auf die intellektuelle Inszenierung respektive Pose. Identitätspolitisch wirkte sie jedoch problematisch. Denn während man überwiegend dem deutschen Mittelstand entstammte und zumeist auch einen entsprechenden Bildungsweg eingeschlagen hatte, identifizierte man sich doch aufgrund der eigenen ökonomischen Verhältnisse – und natürlich auch aufgrund der Popmusik, die man hörte – nicht selten mit den britischen (Post-)Punks. Diese kamen (zumindest teilweise) wirklich aus der britischen Arbeiterklasse, wie Mark E. Smith, Frontmann der Post-PunkBand The Fall. Deren Haltung übernahm nun die popaffine bundesrepublikanische Kulturjugend, ohne dass die realen gesellschaftlichen Verhältnisse den britischen ähnlich gewesen wären. Man übernahm sie nicht zuletzt, weil die hippen Popmusikjournalisten des New Musical Express – und hier muss besonders die aus der englischen Arbeiterklasse stammende und diese Herkunft offensiv ausstellende Julie Burchill18 genannt werden – ihre klassenkämpferische Haltung so sexy vertraten. Man importierte also über die Popmusik und den Popmusikjournalismus eine Befindlichkeit. Die Väter von Diedrich Diederichsen und Rainald Goetz jedoch waren nicht Gewerkschaftsführer und Kommunisten – wie der Vater von Julie Burchill, ein Verehrer Stalins –, sondern sie waren Theaterkritiker (Diederichsen) und Chirurg (Goetz). Und auch wenn die Popintellektuellen im Westdeutschland der 1980er Jahre bestimmte Aspekte eines klassenspezifischen Habitus als Pop-Pose importierten, änderte das nichts an ihrer Anhängerschaft, den Käufern des Musikmagazins Spex und Büchern wie Irre und Sexbeat. Diese setzten sich aus den »Randzonen einer gymnasialen, kleinstädtischen Jugend-Boheme« zusammen und waren »mit Erwachsenenkulturen (etwa auch den Resten einer linken Arbeiterkultur) nicht kompatibel«.19 Die radikal-linke Haltung – wie schon Ralf Hinz bemerkte, eher ein »SalonBolschewismus«20 – war nicht das einzige kulturelle Muster, das man phantasmagorisch aus der britischen Arbeiterklasse übernahm: Wie man in Burchills 17 Eckart Schumacher in Meinecke u. a.: Pop hat eine harte Tür, S. 376. 18 In ihrer Autobiographie beschreibt Julie Burchill rückblickend, wie sehr in den 1980er Jahren eine Herkunft aus der Arbeiterklasse als »cool« empfunden wurde. Vgl. Burchill: Verdammt, S. 146. 19 Behrens: Partyfraktion, www.jungle-world.com/artikel/2008/46/29734.html (Zugriff vom 23.9.2013). 20 Hinz: Cultural Studies, S. 207 f.
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Autobiographie nachlesen kann21, waren die weibliche und die männliche Lebenswelt in der britischen working class streng getrennt, und diese unüberbrückbare Differenz findet sich in frühen Texten von Goetz und Diederichsen wieder, in denen das andere Geschlecht – nach allen Bestrebungen der 1970er Jahre, die Gleichberechtigung der Frau und das Gemeinsame der Geschlechter zu betonen – als »das Andere«, um nicht zu sagen: das »Abjekte«22, behandelt wurde. Pop war in den 1980er Jahren nicht nur an Jugend gekoppelt, sondern wurde als eine gelebte Ästhetik betrachtet und war von daher schlecht mit der distanzierten intellektuellen Beobachterposition in Einklang zu bringen. Dennoch wurde der Spagat zwischen Lifestyle und Kritik immer wieder versucht – nicht zuletzt war es das »existenzielle Besserwissen« (Diederichsen), das der popaffinen Kulturkritik ihre Leidenschaft und ihre Attraktivität gab. Gleichzeitig wurde der Popdiskurs theoretisch immer ambitionierter. In diesem Sinne könnte man sagen: Aus Popmusikjournalismus wurde Popkritik. Doch ihren Status als Berufsjugendliche gaben die Popintellektuellen damit noch lange nicht auf.
D IE 1970 ER J AHRE : T HEORIE
ALS
P OP ?
In dem Jugendkult der Popintellektuellen lag eine echte Differenz zu den linken Intellektuellen der 1970er Jahre, die sich wie zum Beispiel die Herausgeber der Zeitschrift Alternative: Zeitschrift für Literatur und Diskussion23 von der Jugendkultur wenig erhofften und folgerichtig auch Anfang der 1980er Jahre auf eher theorieferne Leitfiguren aus der DDR – insbesondere Heiner Müller – setzten, nachdem die »Konjunktur materialistischer Ansätze im Laufe der siebziger Jahre rasch abflaute«, was die »Sinnkrise der linken Intelligenz«24 beförderte. Die vorherige linksintellektuelle Blüte war einem Klima zu verdanken, in dem das
21 Burchill: Verdammt, S. 27. 22 So bei Goetz: Und Blut, S. 177: »Die Frau kennt nur Plural und Schleim, wabern, wogen, mal dies, mal jenes, sie kennt natürlich keine Entscheidung, sie ist nichts als Scheide«. Vgl. auch Goetz: Krieg, S. 114. 23 Die Literaturzeitschrift Alternative, 1964 bis 1982 von Hildegard Brenner herausgegeben, kann als Beispiel für die Intellektuellen-Kultur der »Neuen Linken« gelten, von der sich die Popintellektuellen absetzten. Sie steht für den Versuch, Theorie im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit in Schule und Universität zu diskutieren. Dem setzte die Pop-Linke ihre Orte – Bar, Klub, Rockkonzertsaal – und ihren Stil entgegen. 24 Neuffer: Ende der »Alternative«, S. 52.
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»schwer Verständliche und Verstiegene geradezu als erotisch galt«25, wobei der Suhrkamp-Verlag mit seinen beiden erschwinglichen Reihen »edition suhrkamp« und »suhrkamp taschenbücher wissenschaft« (stw) diesen Trend sicherlich intensiv förderte. In den Büchern der beiden Reihen wurde Theorie auf eine Weise vermittelt, die rückblickend mit Pop in Verbindung gebracht wird: »Die ›Generation stw‹ suchte weniger nach einer Theorie des Pop, vielmehr wurde Theorie selbst als Pop rezipiert: je anspruchsvoller, desto besser.«26 Theorie war also in den 1970er Jahren Pop, ohne sich mit Pop zu beschäftigen. Schaut man sich die Autoren von Suhrkamp Wissenschaft jener Zeit an – Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Siegfried Kracauer, Niklas Luhmann, Jean Piaget, Gershom Scholem beispielsweise –, dann erkennt man darüber hinaus sofort, dass es sich mit Ausnahme von Luhmann nicht um »Theorien zur Zeit« handelte, um den Untertitel des Musikmagazins Spex – »Musik zur Zeit« – aufzugreifen. Es waren Theorien, die zu einem Großteil nicht aus der Beschäftigung mit der alltäglichen Gegenwart entstanden waren. Offensichtlich nahm diese Form der kritischen Theorie gesellschaftliche Veränderungen nur unzureichend zur Kenntnis – Veränderungen der (medialen) Wirklichkeit, aber auch des Zeitgeists und der intellektuellen Befindlichkeit, die sich sicherlich auch auf den Begriff Pop bringen lassen. In den USA gab es seit 1967 einen wissenschaftlichen Diskurs über die populäre Kultur, der sich im Journal of Popular Culture widerspiegelte, dessen Redakteur Ray B. Browne 1984 sogar die »Popular Culture as the New Humanities« ausrief.27 In Großbritannien etablierte sich im Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) seit den 1960er Jahren die populäre Kultur als legitimes Anschauungsobjekt der Wissenschaft.28 Währenddessen brütete man in der Bundesrepublik immer noch über Ernst Bloch und Theodor W. Adorno. In diesem historischen Kontext, der »Popwüste Deutschland«29, ist es verständlich, dass Rainald Goetz 1986 schrieb, das Musikmagazin Sounds sei Deutschlands Rettung gewesen.30 In Sounds verfolgte auch Helmut Salzinger einen Ansatz weiter, den er schon in den 1960er Jahren neben Uwe Nettelbeck in der Wochenzeitung Die Zeit entwickelt hatte, als beide noch absolute Ausnahmen waren: Sie hatten Rock als »durchschlagende[n] Gegensatz zur herrschenden Gesellschaftsordnung«31 gefei25 Bürger: Stunde der Theorie, S. 6. 26 Ebd. 27 Vgl. Browne: Popular Culture. 28 Vgl. Mrozek: Popgeschichte. 29 Niemczyk: Wehret den Anfängen, S. 7. 30 Vgl. Goetz: Subito, S. 17. 31 Hecken: Pop, S. 243.
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ert und damit den eigenen kulturrevolutionären Standpunkt untermauert.32 Die ausdrückliche Pop-Euphorie der 1960er Jahre, die dazu geführt hatte, dass man sich in Deutschland im literarischen Kontext intensiv mit Pop auseinandergesetzt hatte33, war allerdings vorbei. Abgesehen von Salzingers Rock Power und dem Nachfolger Swinging Benjamin und vielleicht noch Klaus Theweleits Männerphantasien herrschte in den 1970er Jahren auf dem Büchermarkt eine mehr oder weniger strikte Trennung zwischen Rock- und Popaffinität und (kritischer) Theorie.34 Die Intellektuellenkultur überschnitt sich kaum mit der avancierten Popszene. Das änderte sich erst mit dem Berliner Merve Verlag, der Michel Foucault und später vor allem auch Gilles Deleuze und Félix Guattari mit ihrer »Popphilosophie«35 herausbrachte und Jean-François Lyotard veranlasste, mit Wolfgang Müller von der Berliner New-Wave-Band Tödliche Doris zu frühstücken.36 Was der deutsche Theoriediskurs der 1970er und der kritische Popdiskurs der 1980er Jahre jedoch teilten, war die Vorstellung, dass die Intellektuellen in Opposition zur herrschenden Klasse, der so genannten »Bourgeoisie«, ständen. Dieser Gedanke der Opposition zur Macht steigerte sich in der linken Poptheorie, die sich temporär als Teil einer revolutionären Bewegung verstand. Innerhalb des marxistischen Diskurses bewegte sie sich zwischen Louis Althusser und Antonio Gramsci, wobei letztlich wohl Gramsci gewann. Insbesondere die britischen Cultural Studies, und dort vor allem Dick Hebdige, sahen sich aufgrund der oben skizzierten historischen Situation in Großbritannien als organische Intellektuelle – mit anderen Worten: Sie identifizierten sich mit der Subkultur. Damit wurde Theorie zu einer identitätsstiftenden Konstante und Pop zu einem intellektuellen Selbstentwurf.
D IE 1980 ER J AHRE : P RAKTISCHER P OP ALS GELEBTE T HEORIE Die Idee der Subkultur, wie sie von den frühen Vertretern der britischen Cultural Studies in Theorie übersetzt wurde, stellte darüber hinaus die Bedeutung von Stil als Verweigerung in den Mittelpunkt. Stil sei subversiv, schrieb Dick Hebdige,
32 Schäfer: Nachwort, S. 309. 33 Vgl. Hecken: Pop, S. 252 f. 34 Salzinger: Rock Power; ders.: Swinging Benjamin; Theweleit: Männerphantasien. 35 Vgl. Deleuze/Guattari: Kafka. S. 38. 36 Müller: Subkultur, S. 167.
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und spitze Schuhe seien somit »tokens of a self-imposed exile«.37 So übertrieben diese Äußerung heutzutage wirkt: Zu ihrer Zeit markierte sie eine Art Aufbruch. Auf jeden Fall war sie – so lässt der Vergleich mit den Intellektuellen der 1970er Jahre erkennen – der Versuch, einer Ästhetik der Oberfläche Rechnung zu tragen. Hebdige deklinierte in seinem Klassiker verschiedene Formen von Stil im Pop durch – Stil als Bricolage, als Empörung, als Praxis, sogar Stil als Kunst (und warf damit einmal mehr die Frage auf, ob Pop in einem Kunstkontext zu sehen sei) –, doch er problematisierte in diesem Text nicht Stil als Pose. Dabei liegt hier einer der wirkungsmächtigsten Faktoren von Stil im Pop. In der Pose, in der Stil über den eigenen Körper essentiell und existenziell wird und von der eigenen Identität nicht mehr zu trennen ist, wandelt sich Stil in Sein. »Trägst du deinen Körper, steht dir alles, was du trägst«, sang 1981 die Düsseldorfer NewWave-Band DAF.38 Genau hier kam die Funktionsweise von Pop als einer »Authentizität zweiter Ordnung« (Thomas Düllo) ins Spiel. Pop fing an, mit den »Verhaltensmustern seiner eigenen Geschichte«39 zu experimentieren. In diese Selbstreflexivität einbezogen wurde der Bildraum des Musikvideos, den man kreativ in die eigene Pop-Identität einbaute. Posing konnte man jetzt im »Schau-zu-mach-mit-Verfahren« lernen, indem man Formel Eins oder ab 1987 MTV Europe einschaltete. Die visuelle Umsetzung der glamourösen Selbstinszenierung amerikanischer und britischer, aber auch deutscher Popstars erreichte nun direkt das elterliche Wohnzimmer und dieser »Glam« wirkte sich sowohl auf die Identitätsfindung der Jugendlichen als auch auf ihre Einbildungskraft aus. Plötzlich strebte man als Teenager in der Bundesrepublik nach einer Identität mit Glamour und einem Image, das essentiell war. Nichtauthentische Authentizitätsposen wollte man auch im Alltagsleben nicht mehr aufgeben, mit dem »Zitat-Pop«40 hatte die Geburtsstunde von Pop als Pose im Sinne einer »Figuration des Realen«41 geschlagen. Die Geburt des Musikvideos hatte also einen immensen Einfluss darauf, dass die Pose im Pop zu einer »Als-Ob-Authentizität«42 wurde, hinter die man nicht mehr zurücktreten konnte. Und so standen Mitte der 1980er Jahre auf den Schulhöfen der gelangweilten Bundesrepublik recht auffällige Typen herum. Durchgestylt von den spitzen Schuhen bis zum Hemd mit den eingewebten Rosen demonstrierten sie mit arro37 Hebdige: Subculture, S. 2. 38 Zeile aus dem Song der Düsseldorfer Band DAF Was ziehst du an heute Nacht, auf: Gold Und Liebe, Virgin 204 165, 1981. 39 Büsser: Gimme Dat Old Time Religion, S. 47. 40 Vgl. Schumacher: »Re-Make/Re-model«, S. 277 f. 41 Brandstetter: Pose, S. 48. 42 Düllo: Kultur als Transformation, S. 445.
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gantem Gesichtsausdruck ihre Überzeugung, viel besser auszusehen als alle anderen und auch die bessere Musik zu hören. Zu diesen »Posern«, wie man damals sagte, gab es Pendants in den Redaktionen der Musik- und Zeitgeistmagazine. Diese führten ihre Pose in einem ganz bestimmten Denk- und Schreibstil fort, dem die ästhetische Verfeinerung wichtiger war als die direkte Kommunikation. Ursprünglich im Jazz beheimatet, setzte sich die sophistication als intellektueller Habitus im Popdiskurs der 1980er Jahre in der Bundesrepublik fest. Neben der schon erwähnten Idee von Stil als Exil im Sinne Hebdiges kann ein elitäres Bewusstsein als Humus der sophistication gelten. Der »Narzissmus der kleinen Differenzen«43 drückte sich in einem gebrochenen, anspielungsreichen und ironischen Schreibstil aus, der vorrangig auf der Ebene des lustbesetzten Vorzeigens und Legitimierens des eigenen kulturellen Kapitals operierte. Der Popdiskurs und seine sophistication stellten in den 1980er Jahren in Deutschland die Hegemonialstellung der bürgerlichen Kultur sowohl auf inhaltlicher als auch auf performativer Ebene infrage. Gegen Helmut Kohls Bundestagswahlkampf-Slogan von 1980 einer »geistig-moralischen Wende« setzte man einen Denkstil, der extra performativ und amoralisch war. Gleichzeitig wandte sich die Pop-sophistication jedoch auch gegen die Gegenkultur der 1970er Jahre: »Wir wollten zwar weiter links sein, aber nicht moralisch links«.44 Das führte zu Ungereimtheiten, denn im »logischen Sinne stehen diejenigen, die gegen die Gegenkultur sind, affirmativ zur Gesamtkultur«.45 Dieser Widersprüchlichkeit versuchte man durch ein grundsätzliches Zerschlagen des »big Sinn[s]«46 entgegenzuwirken. Die jugendkulturelle Gegenbewegung zu den Hippies und ihrem Ideologem der Natürlichkeit fiel dabei so artifiziell aus, dass für die »punkaffine Intelligenz«47 über die Ironie sogar ein Eintreten in die CDU denkbar wurde – zumindest wurde dies literarisch durchgespielt: 43 Freud: Unbehagen, S. 79. 44 Diederichsen: Menschen der Steigerung, S. 38. 45 Frank: Nachfahren, S. 219. 46 Goetz: Subito, S. 19: »Da rief ich aus: Gehe weg, du blöder Sausinn, ich will von dir Dummen Langweiligen nie nichts wissen. Den sollen die professionellen Politflaschen, die Staatsidioten, diese ganzen fetten dummdreisten Kohls vertreten; den sollen die Peinsackschriftsteller vertreten, die in der Peinsackparade, angeführt von den präsenilen Chefpeinsäcken Böll und Grass, von Friedenskongreß zu Friedenskongreß, durch die Zeitungsfeuilletons und über unsere Bildschirme in der unaufhörlichen Peinsackpolonaise ziehen und dabei den geistigen Schlamm und Schleim absondern, den das Weltverantwortungsdenken, das Wackertum, unaufhörlich produziert, dieses ganze Geschwerl, dieses Nullenpack soll ruhig noch jahrelang den BIG SINN vertreten.« 47 Vgl. Geisthövel: Böse reden, S. 368.
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»Die 70er Jahre neigten sich dem Ende zu, in London rebellierten die Punks, in Hamburg die Popper. Das Jahrzehnt der Sozialdemokratie entartete in öffentlichen Gesamtschuleinrichtungen, Millionen Pädagogik-Studenten und -innen, J. J.-Cale-Musik, Schlaffheit. Jeder aufrechte Bürger wünschte den Sozialdemokraten den Tod, die das Land skandinavisiert hatten, verholländert, verdämmert. Der Schwung der frühen Jahre war dahin, geblieben war eine Haschisch-Mentalität: Alles nich’ so verbissen sehn. Als ich eines Tages miterlebte, wie zwei Polizisten sich an einem Sit-In beteiligten, für irgendwas, gegen irgendwas, Größenordnung vierte Novellierung der Rentenansprüche im Zweiten Hochschulrahmengesetz, und sich dabei Strohhalme in die über den Uniformkragen wuchernden Haare steckten, trat ich spontan in die CDU ein.«48
Das sich postmodern gebende, oberflächliche und ironische Pop-Denken führte allerdings dazu, dass die inhaltliche Stoßrichtung des sich als links verstehenden Popdiskurses nie ungebrochen in Erscheinung trat. Auch Erklärungen nahmen dem Wissen den Glamour: Sophistication als eine Mischung verschiedener Wissensschichten funktionierte nur, wenn man seine Quellen nicht nannte.49 So war Pop in den 1980er Jahren nicht mehr nur Popmusik, eine bestimmte Ästhetik in der bildenden Kunst oder eine Literaturrichtung, sondern wurde zu einer Art Oberbegriff für Informationen und Inhalte, deren Ort der Untergrund der Kultur war und über die es in einer der unterirdischen Kanalisation analogen Form zu kommunizieren galt. Schließlich ging es darum, »die Heerscharen zu benennen und zu kennzeichnen, ohne sie zu denunzieren oder soziologischer Analysierbarkeit zuzuführen«.50 Die neue Kommunikationsform sophistication arbeitete mit Ambivalenzen, Raffinements und Verfeinerungen, und diese erschwerten nicht nur den Soziologen ihre Arbeit, sondern führten auch zu Kommunikationsproblemen innerhalb des »Ensembles« der Popintellektuellen – Ensemble hier verstanden im Sinne Erving Goffmans als Gruppe von Individuen, »die gemeinsam eine Rolle aufbauen«.51 Wie Goffman schreibt, bringt das Ensemble Eindrücke hervor, die »für sich allein als drittes Phänomen zwischen 48 Lottmann: Mai, Juni, Juli, S. 163.
49 So der Punkmusiker Franz Bielmeier in Teipel: Verschwende deine Jugend, S. 95: »Peter Hein und ich, wir wollten Texte schreiben, und der Fernseher lief dazu. Es kam aber nur das Testbild. Also haben wir einen Text darüber gemacht. Das war seine Haltung – sehr sophisticated von ihm –, die ich ihm natürlich abgeguckt habe: dem Langweiligen zugewandt. Er hatte natürlich viel mehr gelesen als ich und wusste viel mehr. Der hat das einfach einfließen lassen und seine Einflüsse dafür nicht genannt. Aber die Erklärung wär ja auch scheiße gewesen.« 50 Diederichsen: Freiheit, S. 43. 51 Goffman: Theater, S. 5.
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der Einzeldarstellung einerseits und der Gesamtinteraktion der Gruppe andererseits«52 betrachtet werden können. Das dritte Phänomen, das das Pop-Ensemble hervorbrachte, war der mehr oder weniger geschlossene Diskurs. Gut brachte das Clara Drechsler in einer Äußerung über ihre frühe Zeit als Redakteurin der Musikzeitschrift Spex zum Ausdruck: »Etwas zu kapieren oder erklärt zu bekommen, war eine Belohnung, kein Recht.«53 Dass Wissen vorausgesetzt wird, zeigt das sophisticatete Wesen des deutschen Popkulturdiskurses, ganz im Sinne des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Joseph Litvak: »Where the question of sophistication is concerned, in fact, the cardinal principle would seem to be some version of the supercilious dictum used to show unwanted customers the door: If you have to ask, you can’t afford it.«54 Wie die von der sophistication garantierte Exklusivität im Popdiskurs der 1980er Jahre als Schranke gegen den nicht eingeladenen Mainstream eingesetzt wurde, veranschaulicht die Autorin Heike Blümner in einem Rückblick, wenn sie schreibt, dass ihre »überschaubare Welt von Formel Eins […] einen irreparablen Riss« dadurch erhielt, dass »ein blasierter 17jähriger« ein »Magazin namens Spex« mit sich herumtrug und »Musik grundsätzlich in die Kategorien ›wichtig‹ und ›unwichtig‹ unterteilte«.55 Diese Aufteilung basierte auf der Prämisse, dass es progressive und reaktionäre Popmusikformen gebe – eine Prämisse, die Heike Blümner offensichtlich nicht zu teilen bereit war. Der praktische Ausschluss wird noch durch etwas verstärkt, das Blümner im Nachhinein besonders ärgerte: »Wenn wir doch etwas hörten und fragten, wer das denn sei, wurde uns gesagt, dass uns das nichts angehe. Wir seien dafür noch nicht weit genug.«56 Auch wenn hier die blasierte Äußerung mit viel gutem Willen als Versuch gedeutet werden kann, über den Gedanken einer Fortschrittlichkeit in der Popmusik an die Idee des Cultural Marxism anzuschließen, so liegt doch die Deutung näher, dass es jugendlichen Popmusikhörern darum ging, sich von anderen Popmusikhörern abzugrenzen. Über den Wunsch nach Distinktion entfernte sich damit der intellektuelle Selbstentwurf Pop wieder von der Postmoderne und bildete eine Allianz mit dem modernen Selbstentwurf Bildungsbürger. So wie Pierre Bourdieu im Zusammenhang der Kunstbetrachtung die Fähigkeit des richtigen Sehens als abhängig vom bürgerlichen Wissenskanon beschrieben hat, wurde
52 Ebd. 53 Drechsler: Lebe sparsam, S. 56. 54 Litvak: Strange Gourmets, S. 1. 55 Blümner: Pop, S. 56. 56 Ebd.
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durch den in der Spex verbreiteten alternativen Kanon das Hören geprägt.57 Die neu erworbene Fähigkeit, Popmusik richtig zu hören und sie als Kunstform zu erkennen, lieferte der elitären Popszene eine ideale Ausgangsposition für einen kulturellen und diskursiven Machtkampf. Dass das elitäre Auftreten der jungen Popintellektuellen schnell den »Argwohn der Vertreter jener Sozialisierungsinstanzen« nach sich zog, »denen mit der Popmusik ein lästiger Konkurrent«58 erwuchs, ist nicht verwunderlich. Ein diskursives Kräftemessen zwischen den Bürgern – sprich: dem bürgerlich dominierten Feuilleton – und den Bohemiens des Pop begann.59 Um sich in der codierten und »historisierten« Popkultur der 1980er Jahre auszukennen, bedurfte es bald mehr als nur der Sinne. Ein Popfan zu sein hieß »eine Sprache beherrschen«.60 Diese Sprache klang so: »›Let it be‹‚ war ja schon in the first place ein Schwanengesang, das Gegenteil eines Birth Of A Nation (vielleicht der Birth von Daydream Nation?), an denen Laibach, von gleichnamigen Titeln bis zur »Klangniederschrift Einer Taufe«, über die Umtaufung von Nationen, immer so interessiert waren, war ihr Arbeitsgebiet also bisher Gründung von Staaten und ihre ideologische Verknüpfung mit Emotionszusammenhängen durch Musik, so scheint es jetzt seit ›Sympathy for the Devil‹ der für die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts existierende Mythos der alternativen Nationen, der Woodstock-Nations, zu sein, und wie sie sich auf Musik gründen.«61
In diesem einen Satz werden extravagant Anglizismen, Schubert, Sonic Youth, Griffith, Ideologien und Emotionszusammenhänge zu einem Urteil über ein Album der Band Laibach zusammengemixt, ohne auch nur ein Wort über das Album selbst zu verlieren – Laibachs Let it be war ein reines Coveralbum des gleichnamigen Albums der Beatles. Statt zu erzählen, was es zu hören und zu sehen gibt, führt Diedrich Diederichsen exemplarisch vor, was Thomas Meinecke später »die harte Tür« des Pop nennen wird: Wenn man nicht das erste Album der Band Laibach kannte, auf dem es eine Coverversion von Queens One Vision mit dem Titel Geburt einer Nation gab, dann ergab die Erwähnung von Griffiths Stummfilm aus dem Jahre 1915 wenig Sinn (den man natürlich auch erst einmal kennen musste). Etwas weniger kryptisch wiederum ist der Einbezug des Albums Daydream Nation der New Yorker Indieband Sonic Youth, wie Laibachs Platte 1988 er57 Bourdieu: Unterschiede, S. 19. 58 Hinz: Cultural Studies, S. 199. 59 Vgl. Geer: Humus oder Löschkalk. 60 Diederichsen: Subkulturen, S. 156. 61 Diederichsen: Schallplatten, S. 192.
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schienen. Die Kombination von Sympathy for the Devil mit dem Wörtchen »jetzt« lässt vermuten, dass sich der Autor hier vorrangig auf die Songversion von Laibach bezieht, ebenfalls 1988 erschienen. Alle diese Informationen setzt Diederichsen als gewusst voraus, sein Kommunizieren über Alben-, Song- und Filmtitel kann als eine typische Insiderkommunikation der 1980er Jahre angesehen werden. Was zur Schau gestellt wird, ist nicht im eigentlichen Sinne Musikwissen, sondern man könnte fast auf den Gedanken kommen, dass der Autor hier allein kommunizieren möchte, wie geistreich er ist. Andererseits könnte man natürlich auch annehmen, dass Diederichsen schlicht so gedacht hat und dass im »Modus Pop« zu denken einfach eine gewisse Form des assoziativen Denkens nahelegt. Ein anderes Beispiel für sophistication im Text ist die Szene »Und die Seele flog aus den Gliedern« des Stücks Heiliger Krieg von Rainald Goetz.62 Bereits der Szenentitel ist sehr sophisticated, verweist er doch auf Zeilen aus Homers Ilias: »Und die Seele entflog aus den Gliedern hinunter zum Hades, / Klagend über ihr Los und Mannheit und Jugend verlassend.«63 Diese Verse beschreiben den Tod Hektors, in leicht variierter Form tauchen sie auch beim Tod des Patroklos auf.64 Inhaltlich lassen sie sich als Kommentar auf das Ende der Punk- und New-Wave-Szene in der Bundesrepublik lesen, zu der Rainald Goetz gehörte. Es könnte sich allerdings auch um einen selbstironischen Kommentar handeln, denn schließlich ist es Goetz, der mit dem Eintritt ins dramatische Schreiben (und damit in den subventionierten Theaterbetrieb) um seinen Status als junger Wilder bangen muss: Die Jugend ist vorbei, die eigene und die der Gruppe, so scheint der Szenentitel anzudeuten. Dennoch ist es dem damals 30-Jährigen noch immer wichtig, die eigene Peergroup zu unterhalten. Der Witz, die drei Figuren der Szene »Stammheimer«, »Stockhausen« und »Heidegger« zu nennen, mochte nicht unbedingt von einem durchschnittlichen Theaterbesucher der 1980er Jahre verstanden werden, wohl aber von der »Gruppe der jungen Bolschewiken« um den »genialen Kulturkritiker Neger Negersen, genannt Stalin«65 – also, mit anderen Worten, von den Popintellektuellen. Diese werden den Text von Goetz mit sei-
62 Goetz: Krieg, S. 124. 63 Homer: Ilias, S. 465. 64 Dort heißt es: »Und die Seele den Gliedern entflog zum Hause des Hades,/ Klagend über ihr Los, verlassend Mannheit und Jugend.« Ebd., S. 349. 65 So nannte Rainald Goetz den Journalisten- und Intellektuellenzirkel um das Musikmagazin Spex in Köln. »Neger Negersen« bezieht sich auf das von Diedrich Diederichsen damals verwendete Pseudonym »Stalin Stalinsen«. Vgl. Goetz: Subito, S. 14.
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ner »Verweishölle«66 nicht nur verstanden, sondern, so ist anzunehmen, überaus witzig, geistreich und subversiv gefunden haben, kurz: sophisticated. 22. Und die Seele flog aus den Gliedern FERNE STIMME STAMMHEIMERS Prost FERNE STIMME STOCKHAUSENS Prost FERNE STIMME HEIDEGGERS Prost FERNE STIMME STOCKHAUSENS Prost ihr Ärsche Prost FERNE STIMME HEIDEGGERS Prost FERNE STIMME STAMMHEIMERS Prost FERNE STIMME HEIDEGGERS Hau weg die Scheiße Prost67
Rainald Goetz eröffnet hier drei Referenzsysteme: das der politischen (Zeit-) Geschichte über den Stammheimer, also die RAF, das der Avantgarde der elektronischen Musik über Karlheinz Stockhausen und das der Philosophie über ihren umstrittenen Repräsentanten Martin Heidegger. Goetz dekonstruiert diese drei seinerzeit noch heiß umkämpften Felder der deutschen Kulturgeschichte, indem er sie, personifiziert in drei Figuren, als einfachste Trinkgenossen zeigt. Die drei Figuren sagen nur »Prost« und »Prost ihr Ärsche Prost« und dann: »Hau weg die Scheiße Prost«. Letzteres ist aber signifikanter, als zuerst angenommen werden könnte, denn bei diesem Trinkspruch handelt es sich um den damals sehr beliebten Zitatpop. Goetz zitiert hier einen in einem anderen Kontext geprägten Spruch, er wendet also eine Art Objet-trouvé-Verfahren in der Literatur an. Denn Mitte der 1980er Jahre war ein Comic namens Werner68populär, in dem sich lächerliche Provinzrocker permanent »Hau weg die Scheiße« zugrunzten, bevor sie ihren »Bölkstoff«, Bier, literweise in sich hineinschütteten. Dass Goetz in seinem Theaterstück die banalste Popkultur mit geschichtsträchtigen ernsten Themen verbindet, stellt eine Subversion des einen Kunstsystems durch das andere 66 Vgl. Meinecke u. a.: Pop hat eine harte Tür, S. 367: »Was ich das Aufregende an Pop finde, ist, dass man sich aufmacht in die Verweishölle, die Pop ja immer ist.« 67 Goetz: Krieg, S. 124 f. 68 Das erste Buch einer Reihe um die gleichnamige Figur erschien 1981.
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dar, der Hochkultur durch die Popkultur. Damit desavouiert er den damaligen Kulturbetrieb, in dem noch eine strikte Trennung zwischen legitimer Kultur und »Trash« vorherrschte. Mit Josef Litvak könnte man auch sagen: Er führt eine desophistication des deutschen Kulturbetriebs durch.
P OPTHEORIE
ALS
K ONZEPTKUNST
DER
K ULTURKRITIK
Sicher war die sophistication als Denkstil an eine bestimmte Zeit gebunden. Doch der Versuch, Pop an Wissen zu koppeln und daraus eine eigene, jugendlich-auftrumpfende Form stroboskopartiger kritischer Intellektualität zu entwickeln, war mehr als nur Zeitgeist – er drückt vielmehr ein grundsätzliches Dilemma des kritischen Schreibens in Deutschland zwischen Kulturkritik und Gesellschaftstheorie aus. Denn fragt man sich, was diese hippe glamouröse Kommunikationsform in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext bewirkt hat, könnte man auf den Gedanken kommen: gar nichts. Das würde also Bohrers am Anfang zitierte Position auf die Popintellektuellen ausweiten. Andererseits kann man, was die Ökonomie des Symbolischen und damit letztendlich die Funktion der sophistication im Spiel um die Macht in der bundesrepublikanischen Kulturlandschaft angeht, schon konstatieren, dass der prätentiöse Stil der Popintellektuellen im Kontext der Aufmerksamkeitsökonomie hervorragend funktioniert hat – eben nicht als Kritik, sondern als Mittel der Selbstpositionierung. Im Feld Pop und Politik existiert also ein Widerspruch, der den Popdiskurs in Deutschland bis heute prägt und an dem der Denkstil sophistication nicht unschuldig ist. Die sophistication hat sich seit Beginn der 1980er Jahre in mehreren Fangstricken verfangen und das hatte seinen Grund in der Spannung zwischen Selbststilisierung und politischem Handeln. Einerseits wollte man mit ihrer Hilfe Kritik üben – besonders Kritik an der vorherrschenden bürgerlichen Kritik –, andererseits verführte der eigene Narzissmus und der Wunsch nach Coolheit die »männliche Kulturjugend«69 immer wieder dazu, der eigenen »Eitelkeit des Geistigen« zu erliegen.70 Damit wurde die Tendenz zur Selbststilisierung der Stolperstein des Popdiskurses auf seinem Weg in die Politik. Im Kontext der narzisstisch motivierten »Proto-Solipsist[en]«71 der 1980er Jahre und der Verklärung der Subkultur und ihrer Dandys wurde Stil zur Rebellion hochstilisiert. Die Ausgestaltung des eigenen Selbst wurde – im Einklang 69 Iris Radisch: »Total Normal«, in: Die Zeit Nr. 3/1992, 10.1.1992, www.zeit.de/1992/ 03/total-normal (25.08. 2014). 70 Goetz: Klage, S. 149. 71 Hebdige: Aneignungen, S. 121.
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mit Michel Foucault – als ausschlaggebend im Prozess gesellschaftlicher Veränderung erachtet, wichtiger als Handeln. Der Ursprung dieser seltsam passiven Form der Kritik liegt, so dürfte inzwischen deutlich geworden sein, sowohl in den philosophischen Prämissen des Poststrukturalismus und der Postmoderne, die eigentlich nur eine passive Revolution zuließen72, als auch in der Verklärung der Subkultur. Die Ideen in Hebdiges Grundlagentext The Meaning of Style sind im deutschen Popmusikjournalismus auf derart fruchtbaren Boden gefallen, dass bis in die Gegenwart das Schreiben über Pop als ein Ort »politischen Widerstands« diskutiert wird.73 Was ist das nun für ein Ort, den der (Pop-)Stil kreiert? Hat das alternative Pop-Wissen es wirklich geschafft, die Funktion eines »Vorzimmer[s] der Gesellschaft« zu etablieren, in dem die Popintellektuellen in geradezu idealer Weise ihrer Funktion als Gesellschaftstheoretiker und Kulturkritiker nachgehen können?74 Das wohl eher nicht, schließlich sind aus all den hier erwähnten Popintellektuellen respektable Mitglieder der Gesellschaft geworden – als Professor, Schriftsteller oder Übersetzerin gehen sie klassisch intellektuellen Berufen nach. Vielmehr muss man auch die von Ina Blom dem Stil zugeschriebene Funktion, nämlich nicht »als Instrument zur Kategorisierung [...] sondern als einen sozialen Ort künstlerischer Aktivität und Intervention«, in Bezug auf Pop modifizieren.75 Zwar lässt sich Ina Bloms Beobachtung, dass manche künstlerische Arbeiten nicht einfach nur Stil haben, sondern gleichzeitig »Arbeiten über die zeitgenössische Frage nach dem Stil sind, sowie über die ästhetisch-politischen Bezüge, die mit ihr eröffnet werden«, auf den Denkstil der sophistication im Pop anwenden.76 Auch hier trafen die Erscheinung eines bestimmten Stils mit der Beobachtung von Stil zusammen: Das Schreiben über Pop wurde selbst Pop, der HipIntellektuelle selbst zum Hipster. Dennoch war das Neue, das diese Form von Stil produziert hat, nicht progressiv, sondern schlicht alternativ. Der neue Denkstil half bei der Ausarbeitung einer alternativen popkritischen Subjektivität. Doch nicht in der dekorativen Ausarbeitung des eigenen Selbst, sondern in dem kreativen Erschaffen eines phantasievoll-glamourösen Theoriediskurses – man könnte hier sogar von einer Art Konzeptkunst der Kulturkritik sprechen – liegt 72 Vgl. Rehmann: Links-Nietzscheanismus, S. 10: »Trotz des historischen Abstands bleibt der Grundgedanke lehrreich, dass es sich bei der passiven Revolution um eine gesellschaftliche Umwälzung bei gleichzeitigem ›Fehlen einer Volksinitiative‹ handelt.« 73 Jacke: Zwischen Faszination, S. 59. 74 Vgl. Diederichsen: Gesellschaft, S. 333. 75 Blom: Stil, S. 165. 76 Ebd., S. 169. Herv. i. Orig.
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die wahre Errungenschaft der Popintellektualität der 1980er Jahre. Damit lassen sich künstlerische Aktivität und die Intervention, die die Beschäftigung mit Pop in den 1980ern hervorgebracht hat, auf einen Begriff bringen: Poptheorie – Theorie als kreatives Erschaffen diskursiver Wirklichkeiten zwischen Politik und Phantasma. Es ist somit die Einbildungskraft als notwendige und hinreichende Bedingung radikaler Theorie, in der Verschwendung Sinn ergibt. Als gelebte PopÄsthetik ist sie dahingegen überholt. Denn was ist Verschwendung in ihrer PopVariante des Live-Fast-Die-Young anderes als eine private Feier des Lebens? Hedonismus als Kulturkritik ist dated, wie man im Pop sagen würde, ein intellektueller Selbstentwurf, der derart nicht zufällig in den frühen 1980er Jahren in der Bundesrepublik entstand. Damals war noch nicht jeglicher Aufbruchsgeist von der »ewigen« Kanzlerschafts Kohls erstickt worden, die Wende – und die damit einhergehende Re-Politisierung – war noch nicht in Sicht und die Spaßgesellschaft hatte den Popintellektuellen den Spaß noch nicht genommen.
D ISKOGRAPHIE DAF: Gold und Liebe. Virgin 204 165, 1981 [LP]. Laibach: Let It Be. Mute STUMM 58, 1988 [LP]. Dies.: Sympathy For The Devil. Restless 7 71404-1, 1988 [Maxi]. Sonic Youth: Daydream Nation. Enigma Records 775403-1, 1988 [LP]. Queen: One Vision/A Kind of Magic. EMI 7462672, 1986 [LP].
L ITERATUR Arning, Ralf Heinrich: Sophistik; sophistisch; Sophist II, in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel: Schwabe Verlag 1995, S. 1082-1086. Baßler, Moritz: Der Freund. Zur Poetik und Semiotik des Dandyismus am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Alexandra Tacke/Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne, Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2009, S. 199-217. Blom, Ina: Stil als Ort. Eine Neudefinition der Frage nach Kunst und Sozialität, in: Karin Gludovatz/Michael Lüthy/Bernhard Schieder/Dorothea von Hantelmann (Hg.): Kunsthandeln, Zürich: Diaphanes 2010, S. 165-180.
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Blümner, Heike: Pop oder was aus einem verlockenden Versprechen wurde, in: Jochen Bonz (Hg.): Sound Signatures. Pop-Splitter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 55-60. Bohrer, Karl Heinz: Kein Wille zur Macht, in: Merkur 61 (2007), S. 659-668. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 8. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996. Brandstetter, Gabriele: Pose – Posa – Posing. Zwischen Bild und Bewegung, in: Bettina Brandl-Risi/dies./Stefanie Diekmann (Hg.): Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance, Berlin: Verlag Theater der Zeit 2012, S. 41-51. Brösel (d. i. Rötger Feldmann): Werner oder was?, Kiel: Semmel-Verlach 1981. Browne, Ray B.: Popular Culture as the New Humanities, in: The Journal of Popular Culture 4 (1984), S. 1-8. Bürger, Jan: Die Stunde der Theorie, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4 (2012), S. 5-10. Büsser, Martin: Gimmie Dat Old Time Religion. Pop-Werte im Wandel, in: Peter Kemper/Thomas Langhoff/Ulrich Sonnenschein (Hg.): »Alles so schön bunt hier«. Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute, Leipzig: Reclam 2002, S. 38-48. Burchill, Julie: Verdammt – ich hatte recht! Eine Autobiographie, Reinbek: Rowohlt 1999. Deleuze, Gilles/Félix Guattari: Kafka, für eine kleine Literatur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976. Diederichsen, Diedrich: Sexbeat. 1972 bis heute, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1985. Ders.: 1500 Schallplatten 1979-1989, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989. Ders.: Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll. 1990-93, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1993. Ders.: »Subkulturen schließen sich nicht nur aus politischen Reflexionsgründen zusammen«. Gespräch von Christoph Doswald, in: Paolo Bianchi (Hg.): Cool Club Cultures, Ruppichteroth: Kunstforum 1996, S. 154-159. Ders.: Allein mit der Gesellschaft. Was kommuniziert Pop-Musik?, in: Christian Huck/Carsten Zorn (Hg.): Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur, Wiesbaden: VS 2007, S. 322-334. Ders.: Menschen der Steigerung, Menschen der Macht: Die Nietzsche-Ökonomie, in: Sighard Neckel (Hg.): Kapitalistischer Realismus. Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik, Frankfurt a. M./New York: Campus 2010, S. 33-47. Drechsler, Clara: Lebe sparsam – und koche nach Rezept, in: Spex 10/1995, S. 56-59.
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Düllo, Thomas: Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, Bielefeld: transcript 2011. Frank, Dirk: Die Nachfahren der »Gegengegenkultur«. Die Geburt der »Tristesse Royal« aus dem Geiste der achtziger Jahre, in: Heinz Ludwig Arnold/Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur, München: Text und Kritik 2003, S. 218-233. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur [1930], in: ders.: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a. M.: Fischer 1994, S. 29-108. Geer, Nadja: Humus oder Löschkalk: Zum journalistischen (Unter-)Grund von literarischer Subversion am Ende der achtziger Jahre, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 1 (1995), S. 66-84. Dies.: Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose, Göttingen: V&R Unipress 2012. Geisthövel, Alexa: Böse reden, fröhlich leiden: Ästhetische Strategien der punkaffinen Intelligenz um 1980, in: Jens Elberfeld/Marcus Otto (Hg.): Das schöne Selbst: Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik, Bielefeld: transcript 2009, S. 367-399. Goetz, Rainald: Krieg. Stücke, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986. Ders.: Subito, in: ders.: Hirn, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 9-21. Ders.: Und Blut, in: ders.: Hirn, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 177-194. Ders.: Klage, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 2003. Hebdige, Dick: Subculture. The Meaning of Style, London/New York: Routledge 1988 (zuerst 1979). Ders.: »Is it really so strange?« Verschiedene Aneignungen: Morrissey und der Blues, in: Pop. Kultur und Kritik 1 (2012), S. 116-125. Hecken, Thomas: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009, Bielefeld: transcript 2009. Hinz, Ralf: Cultural Studies und Pop. Zur Kritik der Urteilskraft wissenschaftlicher und journalistischer Rede über populäre Kultur, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. Homer: Ilias, Übersetzung, Nachwort und Register von Roland Hampe, Stuttgart: Reclam 2010. Jacke, Christoph: Zwischen Faszination und Exploitation. Pop(musik)journalismus als Forschungsdesiderat, in: Jochen Bonz/Michael Büscher/Johannes Springer (Hg.): Popjournalismus, Mainz: Ventil 2005, S. 49-65. Litvak, Joseph: Strange Gourmets. Sophistication, Theory, and the Novel, Durham/London: Duke University Press 1997.
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Lottmann, Joachim: Mai, Juni, Juli. Ein Roman, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003 (zuerst 1987). Meinecke, Thomas/Benjamin von Stuckrad-Barre/Eckhard Schumacher/Kerstin Gleba: Pop hat eine harte Tür. Protokoll eines Gesprächs, in: Kerstin Gleba/ Eckhard Schumacher (Hg.): Pop seit 1964, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007, S. 365-399. Mrozek, Bodo: Popgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 6.5.2010, http://docupedia.de/zg/Popgeschichte?oldid=84650 (Zugriff vom 9.9.2013). Müller, Wolfgang: Subkultur Westberlin 1979-1989. Freizeit, Hamburg: Philo Fine Arts 2013. Neuffer, Moritz: Das Ende der »Alternative«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4 (2012), S. 50-61. Niemczyk, Ralf: Wehret den Anfängen. Ralf Niemczyk über das Popjahr 1982, in: Philipp Oehmke/Johannes Waechter (Hg.): 1982. Ein Jahr und seine 20 Songs, München: Verlag Süddeutsche Zeitung 2005, S. 7-15. Osborne, Peter: Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York: Verso 2013. Rehmann, Jan: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion, Hamburg: Argument Verlag 2004. Salzinger, Helmut: Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution? Ein Essay über Pop-Musik und Gegenkultur, Frankfurt: Fischer 1972. Ders.: Swinging Benjamin, Frankfurt a. M.: Fischer 1973. Schäfer, Frank: Nachwort, in: ders. (Hg.): Helmut Salzinger. Best of Jonas Überohr. Popkritik 1966-1982, Hamburg: Philo Fine Arts 2010, S. 309-346. Schumacher, Eckhard: »Re-make/Re-model« – Zitat und Performativität im PopDiskurs, in: Andrea Gutenberg/Ralph J. Poole (Hg.): Zitier-Fähigkeit. Findungen und Erfindungen des Anderen, Berlin: E. Schmidt 2001, S. 271-289. Teipel, Jürgen: Verschwende deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. Theweleit, Klaus: Männerphantasien, 2 Bde. Frankfurt a. M.: Roter Stern/ Stroemfeld 1977/1978.
Rational Youth: Dancing On The Berlin Wall/Close To Nature. Rams Horn Records, RHR 3814, 1989 [Maxi].
Guten Morgen, Deutschland. Die stärksten deutsch-deutschen Songs aus Ost & West. Inkl. 2 DM BILD Soforthilfe für die Kinder aus der DDR. Polystar 840 754-1, 1989 [LP].
Vinyl Culture und Zeitgeschichte Schallplattencover als Quellen der visual history K ALLE L AAR
Seit den 1990er Jahren wird in regelmäßigen Abständen das Revival der Schallplatte ausgerufen. Im Zeitalter der digitalen Medien bietet sie als analoges Objekt die Rückkehr zur fast schon nostalgisch anmutenden Vergegenständlichung von Musik und Klang. In der ökonomischen Gesamtbilanz der Musikindustrie spielt die Schallplatte damit zwar immer noch eine nur marginale Rolle1, die Aufmerksamkeit des Feuilletons ist ihr aber gewiss.2 Und die Aufmerksamkeit der Historiker? Blicken wir in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, wird – mit nur ganz wenigen Ausnahmen – die Schallplatte als Bestandteil der audiovisuellen Medien als Quelle nicht in Betracht gezogen.3 Sind die audiovisuellen Medien ohnehin ein Materialbestand, den sich Historikerinnen erst erschließen, so bleibt die Schallplatte hier meist außen vor.4 1
»Nach 40-prozentigem Wachstum in 2012 stiegen die Vinyl-Umsätze im Jahr 2013 sogar um 47,2 Prozent auf insgesamt 29 Millionen Euro an. Nach dem Tiefpunkt im Jahr 2006 macht das ›schwarze Gold‹ somit wieder zwei Prozent des Gesamtmarktes aus.« Der Bundesverband Musikindustrie e. V., in: Jahreswirtschaftsbericht 2013. http://www.musikindustrie.de/branchendaten/.
2
Vgl. Jörg Wunder: Die Welt ist eine Scheibe, in: Der Tagesspiegel, 9.10.2008; Oliver Hollenstein: Und sie dreht sich doch, in: Süddeutsche Zeitung, 26.1.2013; Lothar Baier: Nipper vor dem Trichter, in: Die Zeit, 17.1.2001; Philipp Krohn: Die Plattensammlung hat den Fonds geschlagen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.3.2009.
3
Vgl. Mrozek: Geschichte in Scheiben; ders.: Écouter l’histoire de la musique.
4
Vgl. Lindenberger: Vergangenes Hören und Sehen; Moltmann: Film- und Tondokumente. Moltmanns Argumente lassen sich auf die Schallplatte anwenden.
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Dies hat mehrere Gründe. Sofern sie nicht gerade klassische Musik anbietet – und gerade hier hat die CD sie fast vollkommen verdrängt –, hängt ihr der Makel von Popkultur und Massenware an, beides disqualifiziert sie als Kulturgut und Forschungsobjekt außerhalb einer sich selbst reflektierenden Popkultur. Zudem verspricht einerseits die Musikindustrie die Vollständigkeit des jemals eingespielten Repertoires auf CDs und suggeriert andererseits das World Wide Web eine ständige und unmittelbare Verfügbarkeit: Jede noch so obskure Klangäußerung steht angeblich in den Tiefen des Netzes zum Download bereit, so man nur in der Lage ist, sie zu finden. Hier liegen zwei Missverständnisse vor. Zum einen lässt sich die Schallplatte nicht auf ihren auditiven Inhalt reduzieren. Sie kommt als audiovisuelles Objekt auf die Welt und ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auch bewusst so konzipiert. Das Medium besteht aus der Plattenhülle, dem Cover, und dem Tonträger, der eigentlichen Schallplatte. Und gerade im Popbereich kommen noch wesentliche Merkmale hinzu, die ein Zusammenspiel von Interpret, Zielgruppe, Vermarktung bis hin zur Gestaltung des Umfelds anstreben und ermöglichen, um nur einige zu nennen. Das zweite Missverständnis ist folgenreicher. Der nostalgische Rückblick auf die Vinyl-Ära verstellt den Blick darauf, dass die Schallplatte in ihren Anfängen als ein modernes Medium galt. Und als solches wurde sie auch genutzt und rezipiert. Vor Einführung der Audiokassette war sie der wichtigste materielle Träger für Audioinhalte, und daher ist es einleuchtend, dass nicht nur die Musikindustrie sich ihrer bediente. Wer immer eine Botschaft verbreiten wollte, konnte auf die Möglichkeit zurückgreifen, Platten zu produzieren (oder sie produzieren zu lassen). Und was uns eben nicht mehr bewusst ist: »jeder« meint wirklich jeder. Präsent ist uns heute meist nur der überwältigende Kosmos aller Arten von Musik. Daneben gab es aber eine unübersehbare Menge an Produktionen aus Bereichen der Literatur, der Werbung, der Religion bzw. der Kirchen (und Sekten), der Medizin, des Sports, der Wissenschaften, der Kunst und auch der Politik.5
5
Einen Einblick vermittelt die Sammlung des Temporary Soundmuseum, eine Auswahl zeitgeschichtlich interessanter Schallplattencover ist online zu sehen unter http:// www.soundmuseum.com/Galleries/BRD.html. Zum Thema Religion vgl. die Abbildung Papst Johannes Paul II in München und Altötting (S. 153 in diesem Band), vergleichbare Veröffentlichungen sind so zahlreich, dass die »Papstplatte« ein eigene Genre bilden könnte. Ähnliches gilt für den weiten Bereich der Instruktionen und Lebenshilfen aller Art, z. B. zur »Aufklärung«, siehe hier als Beispiel die Abbildung Sex explained for children (S. 154). Die Fotorechte aller abgebildeten Cover liegen beim Verfasser.
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Dieses Material ist so gut wie unerschlossen.6 Das liegt einerseits daran, dass es kein Archiv gibt, das für eine möglichst vollständige Erfassung, auch von Teilbereichen, verantwortlich ist. In bestehenden Archiven, Bibliotheken und Sammlungen gibt es unterschiedlich große Abteilungen an Tonträgern, und mit dem Deutschen Musikarchiv besteht eine nationale Sammlung, die den Anspruch und als Teil des Deutschen Nationalarchivs auch den gesetzlichen Auftrag hat, alle in Deutschland erschienenen Tonträger zu archivieren. Dieses besteht allerdings erst seit 1970 und erst seit diesem Zeitpunkt wird dezidiert versucht, diesem Auftrag nachzukommen.7 Zwar wurden im Musikarchiv zahlreiche ältere Sammlungen zusammengefasst, doch bleibt der Grad der Vollständigkeit noch unklar.8 Will man in diesem Bereich recherchieren, steht man vor einem weiteren Problem. Es gibt zu Schallplatten in den genannten zeithistorischen Themengebieten im Unterschied zu Büchern so gut wie keine Katalogisierung oder Diskographie. Somit ist nur schwer herauszufinden, ob zu einem bestimmten Sachgebiet, Thema oder Zeitabschnitt möglicherweise Tonträger existieren, die man auf ihre Relevanz befragen könnte.9 Forscht man als Historiker etwa über die Geschichte der deutschen Teilung, ist zunächst einmal gar nicht ersichtlich, dass es in diesem Medium eine Fülle an Material zu entdecken gibt, das für eine Klanggeschichte fruchtbar gemacht werden kann, von musikalischen Vertonungen des Geschehens bis hin zu Sprachdokumentationen. Worin liegen nun die spezifischen Eigenschaften, welche die Schallplatte als historisches Dokument selbst im Zeitalter ihrer massenhaften Verbreitung für den Historiker interessant machen könnten?
6
Einzig im Bereich der Kunst gibt es Ausnahmen: Block/Glasmeier (Hg.): Broken Music.
7
Manchmal werden Schallplatten aus Bibliotheken auch einfach entsorgt, wie Flohmarktfunde des Autors einiger seltener Exemplare der Vinylserie Die Stimme der Wissenschaft der Akademischen Verlagsgesellschaft aus den frühen 1960er Jahren beweisen. Aufkleber belegen ihre Provenienz aus der Bibliothek der Hochschule für Philosophie München. Keine dieser Aufnahmen ist je auf CD oder einem anderen digitalen Medium erschienen.
8
Dies gilt nicht nur für den Zeitraum vor 1970. So finden nicht kommerziell produzierte Tonträger nicht notwendigerweise Aufnahme im Archiv, z. B. nicht für den Verkauf bestimmte Exemplare aus der Werbung, auch der Parteien- und Wahlkampfwerbung, siehe z. B. Union Orchester: Spiel mir das Lied vom Politischen Frühling, (S. 178 in diesem Band).
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Zeitgenössische Sprechplatten-Kataloge liefern nur unvollständige Hinweise: Littmann: Die deutschen Sprechplatten; Hartmann (Bearb.): Sprechplatten-Katalog.
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Es gilt grob zwischen zwei unterschiedlichen Bereichen zu unterscheiden: dem der Pop- und populären Musik10 und dem, was man vorläufig mit den Begriffen Dokumentation und Selbstdarstellung umschreiben kann, dem Bereich des gesprochenen Wortes.
P LATTENCOVER
ALS
B ILDSPEICHER
Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg weiß man, dass populäre Musik gesellschaftliche Prozesse nicht nur widerzuspiegeln, sondern auch zu beeinflussen in der Lage ist, wie eine Analyse der Hitparade der 1940er Kriegsjahre mit Titeln wie dem Hobellied oder Es wird einmal ein Wunder geschehen zeigt.11 Ein Hilfsmittel für den Aufstieg der Schallplatte zum allgegenwärtigen Unterhaltungsmedium der Nachkriegszeit war die Erfindung des bedruckten Plattencovers.12 Damit stehen nicht nur die Texte bereit zur Analyse des jeweiligen Zeitgeistes, sondern auch ihre bildliche Vermittlung und Ergänzung, die sich vielfach schon bald nicht nur bei Instrumentalplatten zur eigenständigen Ausdrucksform entwickelt. Seit ihrer Einführung Mitte der 1950er Jahre finden sich auf Schallplattenhüllen aktuelle Modeerscheinungen, Ängste, Zukunftstrends, Wünsche, Haltungen, Kontroversen und Statements aller Art bildlich und großformatig dargestellt, umgesetzt mit den jeweiligen graphischen und künstlerischen Mitteln und in der Bildsprache der Zeit.13 Der diesen Band durchziehende Bild-Essay aus gewählter Plattencover stellt exemplarisch vor, wie solche Motive zeitgeschichtliche Themen und Fragestellungen verhandeln.14
10 Vgl. dazu Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik, S. XII: »Populäre Musik [...] umfasst Schlager, Folklore, eine Reihe von nicht-westlichen Musikformaten; von PopMusik ist sie nur ein Bestandteil [...]. Vom Populären ist historisch schon sehr viel länger die Rede als von Pop-Musik. [...] Ich unterscheide daher zwischen Pop-Musik, deren Geschichte 1955 plus/minus fünf Jahre beginnt, und dem Populären und Populärkultur, die es schon vor der Pop-Musik gab und die auch weiterhin existiert.« 11 »Die Abfolge der Schlager in den Kriegsjahren war eine komplette Wiedergabe der Gefühle des deutschen Volkes in diesen Jahren.« Berghahn: In der Fremde, S. 247. Vgl. auch Geisthövel: Auf der Tonspur. 12 Vgl. Schmitz: Album Cover. 13 Vgl. zum Thema Zensur: Mrozek, Geschichte in Scheiben, S. 4; Seim/Spiegel (Hg.): Nur für Erwachsene; Siegfried: Sgt. Pepper & Co. 14 Siehe z. B. den Spiegel-Twist (S. 63) oder Ostersongs gegen die Bombe, (S. 39).
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Wenn etwa Hermann Leopoldi 1959 die Wirtschaftswunderkinder kritisch besingt, dann transportiert das Cover in einem typographischen State-of-the-artDesign die wesentlichen Wirtschaftswunderobjekte wie Auto, Fernseher und Eigenheim. Letzterem war dann auch der Bausparer-Hit der Landes Bausparkasse gewidmet, aus einer ganzen Serie von Werbeschallplatten der Bankenbranche. Und als in den 1960er Jahren mit dem Musical Haare Vietnamprotest und sexuelle Freizügigkeit mitten in Deutschland spielte, setzte der deutsche Schlagersänger Freddy mit Wir ein Statement gegen Gammler und Faulenzer und markierte damit einen alltagsästhetischen Kontrapunkt, wie in der Zeile »wer hat sogar so ähnliche Maschen,/ auch lange Haare,/ nur sind sie gewaschen« deutlich wurde. Die Inszenierung seiner markanten Gesichtszüge steht denen des Sergeants Barry Sadler nicht nach, der mit seiner Hymne auf die US-Eliteeinheit Green Berets ein musikalisches Statement für den Vietnam-Krieg im Marschrhythmus aufgenommen hatte.15 Der Protest gegen diesen Krieg wurde dann wiederum zu einem der großen politischen Themen der Pop- und Rockmusik dieser Zeit, Edwin Starr’s War ist nur ein Beispiel von vielen.16 Etwa zur gleichen Zeit (1969) sehen wir auf Wolf Biermanns LP Chausseestr. 131 sein Wohn- und Arbeitszimmer, auch zu lesen als Symbol des Rückzugs in den geschützt geglaubten privaten Raum. Mit dem Wissen um die 1976 erfolgte Ausbürgerung Biermanns als einem wichtigen zeithistorischen Ereignis wirkt das Bild im Rückblick fast wie eine Vorwegnahme des Konfliktes um Überwachung und Bürgerbewegung. Das Cover von Sexpresso bitte! folgt der frauenfeindlichen Ästhetik der so genannten Sex-Welle, wohingegen die Mitglieder der Frauenoffensive (auf Lieder von Frauen) den kraftvollen Fortschritt des Feminismus suggerieren. Und auch die zumindest vorübergehende Abschwächung bzw. Umdeutung und Spaltung dieser Bewegung in den eher hedonistisch geprägten Neunzigern spiegelt sich in den Plattenhüllen exemplarisch wider, von Madonna bis zu den punkigen Riot Grrrls.17
15 Siehe die Abbildungen auf S. 112 und 134 in diesem Band. Freddy Quinn distanzierte sich später: »Darin greife ich die jungen Leute an, weil sie lange Haare tragen. Das war idiotisch.« Interview in: Zeit-Magazin, 9.9.1999. 16 Siehe S. 133 in diesem Band. Geschrieben wurde der Song von dem bewährten Motown Songwriter-Team Norman Whitfield und Barrett Strong. Er behielt seine Aktualität und die britischen Gruppe Frankie Goes to Hollywood machte War 1984 noch einmal zu einem Hit. Nicht sehr viel später, 1972, erschien das einflussreiche Album der Gruppe Ton Steine Scherben Keine Macht für Niemand, siehe S. 177. 17 Riot Grrrl: Anfang der 1990er Jahre in den USA und Großbritannien entstandene postfeministische Punk-Bewegung.
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Ebenso lassen sich bewusste Vorgriffe oder unbewusste Befürchtungen gesellschaftlich relevanter Entwicklungen in diesem Medium verfolgen. Die Kraftwerk-Köpfe im Monitor der Computerwelt sehen darin durchaus auch gefangen aus, und Supertramp träumt bereits 1975 von der Krise und wie man es sich individuell in den resultierenden katastrophalen Umweltfolgen bequem machen kann. Und trotz beginnenden Umweltbewusstseins wünscht sich Markus 1982 vor allem Spaß.18 Im selben Jahr stellt sich das Duo Deutsch Amerikanische Freundschaft allerdings auch wieder Ein bisschen Krieg vor19, die Diskussionen um den NATO-Doppelbeschluss 1983 wurden auch in der Pop-Welt auf beiden Seiten der Mauer aufgegriffen und reflektiert.20 Mark Stewart bringt das »1984« früherer Zeiten bereits 1996 auf den damals noch gar nicht so gängigen Begriff der Datenkontrolle. Das vorläufige Ende der Vinyl-Ära in den späten 1980er Jahren fällt ziemlich genau zusammen mit dem Ende der deutschen Teilung, und so schwebt auf einer von der Bild-Zeitung mitproduzierten Platte ein Trabi symbolhaft über die Mauer, während Rational Youth Dancing on the Berlin Wall anstimmt, einen Titel, der bereits 1982 entstanden ist und hier zeitgemäß als Remix neu präsentiert wird. Das sind nur wenige Beispiele für zeitgeistige Bildgestaltungen aus dem wahrhaft riesigen Fundus der Popmusik. Zu musikalischen Genres, einzelnen Plattenlabels oder bestimmten Zeitabschnitten gibt es eine große Anzahl von Veröffentlichungen. Diese bleiben aber in der Regel selbstreferentiell und verstehen sich als Teil der Popkultur, retrospektiv und in nostalgischem Gewand.21
S PRACHPLATTEN
ALS
M EDIEN
DER
P OLITIKGESCHICHTE
Lassen wir für den Moment die meisten dieser Genres unbeachtet und widmen uns der politischen Schallplatte. Seit Erfindung der Schallplatte wurde diese auch als Medium für politische Zwecke genutzt. Der Aufruf von Kaiser Willhelm I. an das deutsche Volk und die Vaterländische Zonophon Aufnahme zur Mobilmachung zum 1. Weltkrieg seien aus den zahlreichen Beispielen der Grammophon-Ära herausgegriffen, zudem wurden viele Reden auf einzelnen
18 Siehe Pro Natur. Umweltlieder ’83 und Markus: Ich Will Spaß (S. 289/290). 19 Der Song liefert 2011 den Titel für ein Rammstein-Album. 20 Siehe Dein Und Mein Planet. 5 Jahre Rock Für Den Frieden und Wir wollen Leben. Lieder gegen den Untergang (S. 313/314). 21 Vgl. z. B. Thorgerson: Classic Album Covers; Kahn: The House That Trane Built.
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Tonträgern für den Rundfunk festgehalten.22 Allerdings war die Aufnahmezeit der Schellackplatten sehr begrenzt und für ausführlichere Botschaften nicht gut geeignet. Erst die Einführung der Langspielplatte Ende der 1950er Jahre machte längere Aufnahmen möglich und die Wiedergabe größerer Texte sinnvoll.23 In den Anfangszeiten der LP hatte das gesprochene Wort einen weitaus größeren Anteil an der gesamten Plattenproduktion als in den späteren Jahren, insbesondere nach Einführung und massenhafter Verbreitung des Fernsehapparates ging diese deutlich zurück.24 1952 wurde in Amerika von Barbara Holdridge und Marianne Mantell das Label Caedmon gegründet, das ausschließlich und sehr erfolgreich Literatur auf Schallplatten herausbrachte. »A new intimately experience« war eines ihrer Versprechen, auf der Suche nach der »connectedness«, der unmittelbaren Verbindung zum Hörer in seiner vertrauten Umgebung.25 Dies bezeichnet einen wesentlichen Aspekt dieses Mediums, der zumindest für einige Zeit relevant blieb. Damals galt die Schallplatte als modern, war nicht ganz billig und ließ sich als kulturell wertvolles Prestige- und Sammelobjekt zur Bildung von sozialem Status einsetzen.26 Schallplatten sprachen nicht wie die von professionellen Programmgestaltern kontrollierten Medien Radio und Fernsehen zu vielen gleichzeitig. Als Speichermedien ließen sie sich im Privathaushalt archivieren und zur eigenen Programmgestaltung nutzen. Auch das amerikanische Verteidigungsministerium, Abteilung Zivilschutz, nutzte die neuen Medien, um in den Privathaushalten vor den Gefahren und Folgen eines Atomkrieges zu warnen. Auf If the Bomb Falls gibt es keine »Duck and Cover«-Anweisungen, dort heißt es »Be alert, stay alert«.27
22 Vgl. Der Kaiser kommt – der Kaiser geht. Tondokumente von 1900 bis 1918, DHM Berlin/DRAF 2004 [CD]. 23 Der erste große Hörbucherfolg war 1954 der Faust I mit Gustav Gründgens, erschienen bei der Deutschen Grammophon, vgl. Rühr: Tondokumente. 24 Vgl. ebd., S. 74. 25 Zit. n. Smith: Spoken Word, S. 65. 26 Vgl. Blaukopf: Massenmedium Schallplatte, S. 50: »Ausgaben ausgewählter privater Haushalte für Schallplatten und Tonbänder je Haushalt und Monat 1965 bis 1974 in der Bundesrepublik Deutschland«. Vgl. zum Aspekt des sozialen Kapitals von Popmusik den Text von Nadja Geer im vorliegenden Band. 27 Duck and Cover ist eigentlich ein von der U.S. Federal Civil Defense Administration 1951 produzierter Zivilverteidigungsfilm für Kinder, bezieht sich aber generell auf die verharmlosende Propaganda amerikanischer Behörden. Siehe auch http://www. soundmuseum.com/Galleries/USA.html
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Und in der DDR wurde man mit der Single Zivil Verteidigung über die Bedeutung der verschiedenen Warnsignale aufgeklärt.28 Im Zuge des Erfolges von Literaturschallplatten begannen einige Verlage in Deutschland, Dokumentationen zu Ereignissen der jüngeren Geschichte zu produzieren oder auch zu speziellen Anlässen wie Gedenktagen oder Staatsbesuchen.29 Die bekannteste und am meisten reproduzierte Rede aus dieser Zeit ist die Kennedys am Schöneberger Rathaus in Berlin am 26. Juni 1963 (vgl. S. 89). Auch zu weniger spektakulären Ereignissen gab es die entsprechenden Tondokumente, wie etwa zum Besuch Charles de Gaulles oder zum Jahrestag des deutsch-israelischen Abkommens.30 Bei diesen Veröffentlichungen, die zum Teil mit Klappcover, eingebundenen Fotos und Beiheft vergleichsweise aufwändig gestaltet sind, handelt es sich nicht um reine Dokumentationen, sondern um eine kommentierte Auswahl, sei es im gesprochenen Text oder auf dem Cover. Anhand der Auswahlkriterien lässt sich die pädagogisch oder propagandistisch motivierte Interpretation der dargestellten Ereignisse aus zeitgenössischer Sicht verstehen. Seit Ende der 1950er Jahre finden sich verstärkt Politikerporträts, dokumentarisch-neutral aufgemacht oder parteienfinanziert, gesprochenes (oder gesungenes) Wahlkampfmaterial, Dokumentationen einzelner Reden und Selbstdarstellungen von politischen Akteuren jedweder Couleur, von Springer über Enzensberger bis Grass, Scheel, Schmidt und Strauß.31 Auf der anderen Seite der Mauer war die Schallplatte mangels Rohstoffen seltener und damit auch tendenziell wertvoller. Das galt allerdings nicht für die zahlreich produzierten Propagandaplatten des DDR-Regimes. Hier tat sich selbst das Ministerium für Staatssicherheit als Auftraggeber hervor.32 Auf den Stasi28 Siehe http://www.soundmuseum.com/Galleries/DDR.html. Zur Selbstinszenierung des Militärs siehe auch die Abbildung auf S. 40. 29 Siehe z. B. die Abbildung auf S. 18, Bildtondokument zum 17. Juni 1953. Hier sind auch die akustischen Jahreschroniken von Philips und der Ariola-Athena zu erwähnen, einem der Sprachplatte gewidmeten Unterlabel der Ariola. 30 De Gaulle in Deutschland. Im Zeichen europäischer Verständigung. Dokumente zur Zeitgeschichte, Deutsche Grammophon 1963 [LP]; Brücke in die Zukunft. Das deutsch-israelische Wiedergutmachungs-Abkommen vom 10. September 1952, Harmonia Mundi 1965 [LP]. 31 Zu Franz Josef Strauß vgl. S. 64. Vgl. auch http://www.soundmuseum.com/ Galleries/BRD.html. 32 Vgl. S. 199 und: Lebe dem Genossen Feliks nach, AWA 890006, 1974 [LP]. Diese Schallplatte wurde im Auftrage des Wachregiments Feliks Dzierzynski des Ministeriums für Staatssicherheit gestaltet; siehe auch http://www.soundmuseum.com/ Galleries/DDR.html.
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Platten wurden meist Märsche oder Gesänge der deutsch-sowjetischen Freundschaft angestimmt, die Ikonographie der Plattenhüllen ist aber auch hier einen genaueren Blick wert. So lässt sich zum Beispiel die der Jugend zugedachte Rolle an vielen Covern der DDR ablesen: Jungs aus Moskau und Berlin zeichnet die deutsch-sowjetische Verbindung als liebevolles Verständnis jugendlicher Pioniere, während auf Du unsere Republik die Zukunft der DDR von einer Kinderschar unter der Aufsicht eines Soldaten vor dem Palast der Republik verkörpert wird. Die Auswahl dieses Bild-Essays kann nur einen begrenzten Einblick gewähren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Zeitgeschichte in beiden deutschen Staaten, doch ist die visual history der Schallplatte global. In Kuba33 wie in Mexiko, in den Vereinigten Staaten und der UdSSR, in Europa und Asien, Nordvietnam und sogar in Nordkorea: Überall wurden politische Textquellen in Rillenform geschnitten und gepresst.34 Verschiedene Archive haben frühzeitig die Relevanz dieses Quellenmaterials erkannt, wie etwa die Library of Congress oder die British Library.35 Bereits 1980 hat die UNESCO auf die Wichtigkeit der Bewahrung des audiovisuellen Erbes hingewiesen, seitdem gilt der 27. Oktober als »Welttag des audiovisuellen Erbes«. Dennoch ist das Quellenmaterial bislang inhaltlich weitgehend unerschlossen, auch sein Gesamtumfang ist unbekannt.36 Vieles bedarf noch der Archivierung oder ist auf verschiedene Privatsammlungen und Rundfunkarchive verteilt, vor allem in Staaten, die bisher keine nationalen Phonotheken eingerichtet haben. In dem opulenten 2013 von der Bundeszentrale für politische Bildung publizierten Band Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen – 1889 bis heute finden politische Schallplatten der Nachkriegszeit keine Erwähnung.37 Es lässt sich daher resümieren, dass wir aus mediengeschichtlicher Perspektive nicht nur hinsichtlich der archivalischen Erschließung, sondern auch der empirischen Erforschung der Wirkungs- und Produktionsgeschichte der Schallplatte erst ganz am Anfang stehen.
33 Vgl. die Abbildung Fidel Castro: Declaracion de La Habana, S. 90. 34 Siehe auch hier http://www.soundmuseum.com/Galleries/International.html. 35 In anderen Ländern verläuft die Entwicklung unterschiedlich, so wurde z. B. die Österreichische Phonothek (jetzt Mediathek) bereits 1960 gegründet, in Mexiko wurde die Fonoteca Nacional als erste ihrer Art in Lateinamerika 2004 in der ehemaligen Villa von Octavio Paz eingerichtet. 36 Die einzige mir bekannte Publikation, die eine Art Geschichtsnacherzählung anhand von Schallplatten versucht, ist Bennett/Kun: And You Shall Know Us. 37 Vgl. Paul/Schock: Sound des Jahrhunderts.
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L ITERATUR Bennett, Roger/Josh Kun: And You Shall Know Us by the Trail of Our Vinyl: The Jewish Past as Told by the Records We Have Loved and Lost, New York: Crown Archetype 2008. Berghahn, Wilfried: In der Fremde, in: Gerhard Schmidt-Henkel/Horst Enders/ Friedrich Knilli/Wolfgang Maier (Hg.): Trivialliteratur. Aufsätze, Berlin: Literarisches Colloquium 1964. Blaukopf, Kurt: Massenmedium Schallplatte. Die Stellung des Tonträgers in der Kultursoziologie und Kulturstatistik, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1977. Block, Ursula/Michael Glasmeier (Hg.): Broken Music. Artists’ Recordworks, Berlin: Berliner Künstlerprogramm des DAAD/Gelbe Musik 1989. Diederichsen, Diedrich: Über Pop-Musik, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014. Geisthövel, Alexa: Auf der Tonspur. Musik als zeitgeschichtliche Quelle, in: Martin Baumeister/Moritz Föllmer/Philipp Müller (Hg.): Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 157-168. Hartmann, Helm (Bearb.): Sprechplatten-Katalog. Verzeichnis der Literatur- und Spezial-Schallplatten, 14. Jahrgang, Bielefeld: Bielefelder Verlagsanstalt 1973/74. Kahn, Ashley: The House That Trane Built. The Story of Impulse Records, New York: W.W. Norton & Co 2006. Lindenberger, Thomas: Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 1 (2004) 1, http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Lindenberger-1-2004. Littmann, Arnold: Die deutschen Sprechplatten. Eine kritische Bibliographie, München: Hueber 1963. Moltmann, Günter: Film- und Tondokumente als Quellen zeitgeschichtlicher Forschung, in: ders./Karl Friedrich Reimers (Hg.): Zeitgeschichte im Filmund Tondokument. 17 historische, pädagogische und sozialwissenschaftliche Beiträge, Göttingen: Musterschmidt 1970. Mrozek, Bodo: Geschichte in Scheiben: Schallplatten als zeithistorische Quellen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online Ausgabe, 8 (2011) 2, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/ 1612041-Mrozek-2-2011. Ders.: Écouter l’histoire de la musique. Les disques microsillons comme sources historiques de l’ère du vinyle, in: Le Temps des Médias. Revue d’histoire, 22 (2014), S. 92-106.
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Paul, Gerhard/Ralph Schock: Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen – 1889 bis heute, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Rühr, Sandra: Tondokumente von der Walze zum Hörbuch. Geschichte – Medienspezifik – Rezeption, Göttingen: V & R Unipress 2008. Schmitz, Martina: Album Cover. Geschichte und Ästhetik einer Schallplattenverpackung in den USA nach 1940. Designer – Stile – Inhalte, München: Scaneg 1987. Seim, Roland/Josef Spiegel (Hg.): »Nur für Erwachsene«. Rock- und Popmusik: zensiert, diskutiert, unterschlagen, Münster: Telos Verlag 2004. Siegfried, Detlef: Sgt. Pepper & Co. Plattencover als Ikonen der Popkultur, in: Gerhard Paul (Hg.): Bilder, die Geschichte schrieben. 1900 bis heute, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 189-195. Smith, Jacob: Spoken Word. Postwar American Phonograph Cultures, Berkeley: University of California Press 2011. Thorgerson, Storm: Classic Album Covers of the 60s, London: Collins & Brown 2009.
Autorinnen und Autoren
Braun, Anna, Doktorandin der Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Interdisziplinarität zwischen bildender Kunst und populären Musikformen, Interaktionsräume. Publikationenen: Die Kunst der Populärmusik. Tonträger als künstlerisches Medium (2010), in: Artefakt. Zeitschrift für junge Kunstgeschichte und Kunst Online: http://www.artefakt-sz.net/ wissenschaftliche-aufsaetze/die-kunst-der-populaermusik; Connections: Kunst, Musik und Pop im London der 1960er Jahre, unveröffentlichte Master-Arbeit an der Philipps-Universität Marburg 2001.
Danyel, Jürgen, stellvertretender Direktor und Leiter der Abteilung Zeitgeschichte der Medien und Informationsgesellschaft des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam. Arbeitsschwerpunkte: Eliten in der SBZ/DDR, Sozial- und Kulturgeschichte der Tschechoslowakei nach 1945, Geschichte der Computerisierung, Digitale Zeitgeschichte. Publikationen: mit Frank Bösch (Hg.): Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, Göttingen 2012; mit Jennifer Schevardo u. Stephan Kruhl (Hg.): Transit 68/89, Berlin 2009; mit Árpád von Klimó (Hg.): Pop in Ost und West. Populäre Kultur zwischen Ästhetik und Politik, in: Zeitgeschichte-online, Oktober 2011, URL: http://www.zeitgeschichteonline.de/thema/pop-ost-und-west
Funk, Thomas Peter, Doktorand am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Stadtentwicklung, Raumtheorie, Europäisierung. Publikationen: Unterm Asphalt. Die Kunden vom Lichtenberger Tunnel, in: Michael Rauhut /Thomas Kochan (Hg.): Bye Bye, LübbenCity. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2004, S. 94-106.
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Geer, Nadja, freie Autorin in Konstanz und Lehrbeauftragte am Fachbereich für Angewandte Literaturwissenschaften der Freien Universität Berlin, Mitherausgeberin der Zeitschrift Pop. Kultur und Kritik. Arbeitsschwerpunkte: Popkritik, Medienästhetik, Kulturtheorie. Publikationen: Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose. Göttingen: V&R Unipress 2012; Pop. Annäherungen an ein gegenwärtiges Phänomen, in: Pop. Kultur und Kritik 1 (2012), S. 108-115; »Wir müssen was für unser Land tun für unser Ego«. Distinktion oder Integration? Die populäre Musik in Deutschland zwischen dem Mainstream und den Minderheiten, in: Rosemarie Beier-de Haan/Jan Werquet (Hg.): Fremde? Bilder von den »Anderen« in Deutschland und Frankreich seit 1871, Berlin/ Dresden 2009, S. 142-159.
Geisthövel, Alexa, Projektmitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin. Arbeitschwerpunkte: Politische Kommunikation im 19. Jahrhundert, Wissenschaftsgeschichte der Psychologie und der Anthropologie, Geschichte medizinischer Aufschreibetechniken, Disco und Punk um 1980. Publikationen: mit Bodo Mrozek (Hg.): Popgeschichte. Band 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld: transcript 2014; Ein spätmoderner Entwicklungsroman: »Saturday Night Fever«/»Nur Samstag Nacht« (1977), in: Zeithistorische Forschungen 10 (2013) 1, S. 153-158; Auf der Tonspur. Musik als zeitgeschichtliche Quelle, in: Martin Baumeister/Moritz Föllmer/Philipp Müller (Hg.): Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 157-168.
Grotum, Thomas, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Historische Jugendforschung, Digital Humanities, Polizeigeschichte. Publikationen: Die Halbstarken. Zur Geschichte einer Jugendkultur der 50er Jahre, Frankfurt a. M./New York: Campus 1994; Jugendliche Ordnungsstörer. Polizei und »Halbstarken«Krawalle in Niedersachsen 1956-1959, in: Gerhard Fürmetz/Herbert Reinke/ Klaus Weinhauer (Hg.): Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945-1969, Hamburg: Dölling & Galitz Verlag 2001, S. 277302; Autoritätsverlust? Die westdeutsche Polizei und jugendliches Protestverhalten in den 1950er Jahren, in: Ute Schneider/Lutz Raphael (Hg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2008, S. 529-546.
A UTORINNEN UND A UTOREN
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Klöß, Sebastian, Volontär im Verlag Frank Nehring. Arbeitsschwerpunkte: Repräsentationen, Identität, Multikulturalismus. Publikationen: Notting Hill Carnival. Die Aushandlung des Eigenen im multiethnischen Großbritannien seit 1958, Frankfurt a. M. 2014; »We will show the Royal Borough what West Indian culture is all about«. (Wieder-)Herstellung eines Wir im Notting Hill Carnival vom Ende der 1970er bis zum Ende der 1980er Jahre, in: Gabriele Metzler (Hg.): Das Andere denken. Repräsentationen von Migration in Westeuropa und den USA im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York: Campus 2013; Representations of Identity at the Notting Hill Carnival in the late 1970s and early 1980s, in: International Journal of Arts & Sciences 13 (2011/4), S. 257-279 http://www. openaccesslibrary.org/images/IJAS_4-13.pdf.
Laar, Kalle Aldis, Klangkünstler, Komponist, Hörspielautor und DJ bei München und in Wien. Gründer des Temporären Klangmuseums soundmuseum.com. Arbeitsgebiete: Klangkunst, Sound und Wahrnehmung, Mediengeschichte der Schallplatte. Veröffentlichungen: (Hg.): Ernst Molden, Ho Rugg. Wien: Monkeymusic 2014 (LP/CD); Seelephonisches Oratorium, Hörspiel im Bayerischen Rundfunk 2011; Call me! Proceedings of the Digital Arts and Culture Conference, in: After media: embodiment and context, hg. v. d. University of California 2009, http://escholarship.org/uc/item/42f0d7sq#page-2.
Lüthe, Martin, Juniorprofessor am John-F.-Kennedy Institut der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: African American Studies, Popgeschichte, Kulturtheorie. Publikationen: Color-Line and Crossing-Over: Motown and Performances of Blackness in 1960s American Culture, Trier: WVT 2011; »We Missed a Lot of Church, So the Music Is Our Confessional«: Rap and Religion, Münster/Berlin: LIT Verlag 2008; mit Sonja Altnöder/Marcel Vejmelka (Hg.): Identität in den Kulturwissenschaften: Perspektiven und Fallstudien zu Identitäts- und Alteritätsdiskursen, Trier: WVT 2011.
Menzel, Rebecca, Doktorandin am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Arbeitsschwerpunkte: Pop-, Jugend- und Modekultur sowie gesellschaftlicher Wertewandel in BRD und DDR. Publikationen: »Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert!« Popkultur und linksalternative Szene in der Bundesrepublik 1968-1978, in: ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschungen 2011, Göttingen: Wallstein 2012, S. 116-131; Wittstock vs.
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Woodstock. Hippies Ost und Hippies West, in: Michael Rauhut/Thomas Kochan (Hg.): Bye Bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR (erweiterte Neuausgabe), Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2009, S. 536550; Jeans in der DDR. Vom tieferen Sinn einer Freizeithose, Berlin: Links 2004.
Mrozek, Bodo, assoziiert am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Dissertationsprojekt am Arbeitsbereich Zeitgeschichte des Friedrich-MeineckeInstituts der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Transnationale Geschichte, Popgeschichte, Historische Jugendforschung. Publikationen: mit Alexa Geisthövel (Hg.): Popgeschichte. Band 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld: transcript 2014; Écouter l’histoire de la musique. Les disques microsillons comme sources historiques de l’ère du vinyle in: Le Temps des Médias. Revue d’histoire 22 (2014), S. 92-106; Figuration Punk, in: Netzwerk Körper (Hg.): What Can a Body do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: Campus 2012, S. 191-196.
Nathaus, Klaus, Associate Professor in Western Contemporary History (after 1918) an der University of Oslo. Arbeitsschwerpunkte: Produktion populärer Kultur und Musik im 20. Jahrhundert; vergleichende Sozialgeschichte Großbritanniens und Deutschlands seit dem späten 19. Jahrhundert. Publikationen: (Hg.): Europop: The Production of Popular Culture in Twentieth Century Western Europe, Sonderheft des European Review of History 20 (2013/5); From Dance Bands to Radio and Records: Pop Music Promotion in West Germany and the Decline of the Schlager Genre, 1945-1964, in: Popular Music History 6 (2011) 3, S. 287-306; Vom polarisierten zum pluralisierten Publikum: Populärmusik und soziale Differenzierung in Westdeutschland, ca. 1950-1985, in: Martin Rempe/Jürgen Osterhammel/Sven-Oliver Müller (Hg.): Kommunikationschancen. Entstehung und Fragmentierung sozialer Beziehungen durch Musik im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2014.
Papenburg, Jens Gerrit, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theorie und Geschichte der populären Musik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Kulturgeschichte des technisierten Musikhörens, Popmusik und Medien, Sound Studies. Publikationen: Kosmische Musik, in: Michael Ahlers /Christoph Jacke (Hg.): Perspectives on German Popular Music
A UTORINNEN UND A UTOREN
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Studies, Surrey: Ashgate 2015 (i. E.); Soundfile. Kultur und Ästhetik einer Hörtechnologie, in: Pop. Kultur und Kritik Nr. 2 (2013), S. 140-155; »Stop/Start Making Sense!« Ein Ausblick auf Musikanalyse in Popular Music Studies und technischer Medienwissenschaft, in: Holger Schulze (Hg.): Sound Studies. Traditionen – Methoden – Desiderate, Bielefeld: transcript 2008, S. 91-108.
Peres da Silva, Glaucia, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Wirtschaftssoziologie, Soziologie der Musik. Publikationen: Wie klingt die globale Ordnung? Die Entstehung eines Marktes für World Music, Wiesbaden: VS 2014; O Mangue é um gênero musical?, in: Bruno Pichi: Caranguejos de Andada: Perspectivas interdisciplinares sobre o Movimento Manguebeat (i. E.); Considerações sobre aspectos modernos do processo de produção recente da indústria da música, ou porque o Mangue virou sucesso, in: IARA – Magazine of Fashion, Culture and Art 3 (2010), S. 88-117.
Schopp, Thomas, Referent der Studienstiftung des deutschen Volkes in Bonn. Arbeitsschwerpunkte: Klanggeschichte, Körpergeschichte, Theorie der Klubkultur. Publikationen: Eine Klanggeschichte der Diskjockey-Show im US-amerikanischen Radio von 1930 bis 1970 (unveröffentl. Dissertationsschrift, eingereicht an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg im Januar 2014); Sonix FX. Klang, Körper, Kontrolle, Humboldt-Universität zu Berlin: 2005, online: https:// www2.hu-berlin.de/fpm/wip/schopp_01.PDF (Magisterarbeit).
Streng, Marcel, Historiker in Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte: Wirtschaftsgeschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert; Körper- und Zeitgeschichte des Kampfsports in Westeuropa; Zeitgeschichte des Strafvollzugs in der Bundesrepublik. Publikationen: Kampf – Kunst – Körper. Zum Verhältnis von Körper- und Gewaltgeschichte in ›fernöstlichen‹ Kampftechniken in (West-)Deutschland (1920er bis 1980er Jahre), in: bodypolitics. Zeitschrift für Körpergeschichte 1 (2013) 2, S. 231-258; »Sozialtherapie ist eine Therapie, die sozial macht«. Therapeutisierungsprozesse im westdeutschen Strafvollzug der langen 1970er Jahre, in: Sabine Maasen/Pascal Eitler/Jens Elberfeld/Maik Tändler (Hg.): Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den ›langen‹ Siebzigern, Bielefeld: transcript 2011, S. 263-290.
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Tamagne, Florence, Maîtresse de conférences für Zeitgeschichte an der Universität Lille 3. Arbeitsschwerpunkte: Vergleichende Sozialgeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Geschichte der Geschlechter und Sexualitäten, Sozialgeschichte der Rockmusik. Publikationen: Le ›blouson noir‹: codes vestimentaires, subcultures rock et sociabilités adolescentes dans la France des années 1950 et 1960, in: Isabelle Parésys (Hg.): Paraître et apparences en Europe occidentale du Moyen Age à nos jours. Lille: Presses Universitaires du Septentrion 2008, S. 99114; Aux origines de la critique rock en France dans les années 1960: l’exemple de Disco Revue, in: Pascale Goetschel/François Jost/Myriam Tsikounas (Hg.): Lire, voir, entendre. La réception des objets médiatiques, Paris: Publications de la Sorbonne 2010, S. 242-261; Les festivals ›pop‹ et ›rock‹ en Europe: débats et enjeux (fin des années 1960-début des années 1980), in: Anais Fléchet/Pascale Goetschel/Patricia Hidiroglou/Sophie Jacotot/Caroline Moine/Julie Verlaine (Hg.): Une histoire des festivals XXe-XXIe siècle, Paris: Publications de la Sorbonne 2013, S. 89-97.
Wellmann, Henning, Promotionsstipendiat am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung; Arbeitsschwerpunkte: Populäre Musikkulturen, sozialwissenschaftliche Emotionsforschung, Macht und Widerstand in zeithistorischen Kontexten. Publikationen: Pop und Emotionsgeschichte, in: Alexa Geisthövel/Bodo Mrozek (Hg.): Popgeschichte, Band 1: Konzepte und Methoden. Bielefeld: transcript 2014, S. 201-226; Aktive Stadtgestaltung von unten: Ultras und Stadt. Forum Stadt 39 (2012), S. 193-204 (mit Thomas Berthold).
Wilke, Thomas, Akademischer Rat am Institut für Medienwissenschaft der Universität Tübingen. Arbeitsschwerpunkte: populäre und auditive Medienkulturen, Dispositiv- und Performativitätsforschung. Publikationen: mit Marcus S. Kleiner (Hg.): Performativität und Medialität Populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken. Wiesbaden: Springer VS, 2013; mit Sascha Trültzsch (Hg.): Heißer Sommer – Coole Beats. Zur populären Musik und ihren medialen Repräsentation in der DDR. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2010; Schallplattenunterhalter und Diskothek in der DDR. Analyse und Modellierung einer spezifischen Unterhaltungsform. Leipzig: Universitätsverlag Leipzig 2009.
Histoire Stefan Brakensiek, Claudia Claridge (Hg.) Fiasko – Scheitern in der Frühen Neuzeit Beiträge zur Kulturgeschichte des Misserfolgs Februar 2015, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2782-4
Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (3., überarbeitete und erweiterte Auflage) Februar 2015, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2366-6
Alexa Geisthövel, Bodo Mrozek (Hg.) Popgeschichte Band 1: Konzepte und Methoden November 2014, 280 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2528-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Histoire Katharina Gerund, Heike Paul (Hg.) Die amerikanische Reeducation-Politik nach 1945 Interdisziplinäre Perspektiven auf »America’s Germany« Januar 2015, 306 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2632-2
Sebastian Klinge 1989 und wir Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall März 2015, ca. 430 Seiten, kart., z.T. farb. Abb., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2741-1
Detlev Mares, Dieter Schott (Hg.) Das Jahr 1913 Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs September 2014, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2787-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Histoire Sophie Gerber Küche, Kühlschrank, Kilowatt Zur Geschichte des privaten Energiekonsums in Deutschland, 1945-1990 Dezember 2014, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2867-8
Ulrike Kändler Entdeckung des Urbanen Die Sozialforschungsstelle Dortmund und die soziologische Stadtforschung in Deutschland, 1930 bis 1960 Februar 2015, ca. 420 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2676-6
Sibylle Klemm Eine Amerikanerin in Ostberlin Edith Anderson und der andere deutsch-amerikanische Kulturaustausch Februar 2015, ca. 440 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2677-3
Anne Katherine Kohlrausch Beobachtbare Sprachen Gehörlose in der französischen Spätaufklärung. Eine Wissensgeschichte März 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2847-0
Felix Krämer Moral Leaders Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre Dezember 2014, ca. 430 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2645-2
Nora Kreuzenbeck Hoffnung auf Freiheit Über die Migration von African Americans nach Haiti, 1850-1865 Februar 2014, 322 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2435-9
Wolfgang Kruse (Hg.) Andere Modernen Beiträge zu einer Historisierung des Moderne-Begriffs Januar 2015, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2626-1
Livia Loosen Deutsche Frauen in den Südsee-Kolonien des Kaiserreichs Alltag und Beziehungen zur indigenen Bevölkerung, 1884-1919 Oktober 2014, 678 Seiten, kart., zahlr. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2836-4
Claudia Müller, Patrick Ostermann, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.) Die Shoah in Geschichte und Erinnerung Perspektiven medialer Vermittlung in Italien und Deutschland Dezember 2014, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2794-7
Peter Stachel, Martina Thomsen (Hg.) Zwischen Exotik und Vertrautem Zum Tourismus in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten November 2014, 296 Seiten, kart., 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2097-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie bei transcript Marcus S. Kleiner, Holger Schulze (Hg.)
SABOTAGE! Pop als dysfunktionale Internationale
2013, 256 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 E, ISBN 978-3-8376-2210-2 Funktionalität wird sabotiert! Dieses Buch untersucht an sieben populär- und popkulturellen Feldern, wie Sabotage entsteht, wie sie sich medial, technisch, gesellschaftlich, kulturell und politisch auswirkt – und wie sie selbst wiederum unterlaufen wird – durch Gegensabotage. Die Beiträge zeigen: Sabotage und Gegensabotage, Dysfunktionalisierung und Refunktionalisierung sind seit dem Entstehen populärer Kulturen im 19. Jahrhundert und von Popkulturen ab Mitte der 1950er Jahre gleichsam Motor und Narkotikum ihrer Formierungen und Fortschreibungen. Der Band unternimmt eine (Medien-)Geschichtsschreibung des Pop und des Populären anhand dieser Fokussierung, die bislang nicht im Blick der Populärkulturforschungen lag.
www.transcript-verlag.de
Zeitschrif ten bei transcript Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Thomas Hecken, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur und Kritik (Heft 4, Frühjahr 2014)
2014, 170 Seiten, kart., 16,80 E, ISBN 978-3-8376-2633-9 »POP. Kultur und Kritik« analysiert und kommentiert die wichtigsten Tendenzen der aktuellen Popkultur in den Bereichen von Musik und Mode, Politik und Ökonomie, Internet und Fernsehen, Literatur und Kunst. »POP« liefert feuilletonistische Artikel und Essays mit kritisch pointierten Zeitdiagnosen. »POP« bietet wissenschaftliche Aufsätze, die sich in Überblicksdarstellungen zentralen Themen der zeitgenössischen Popkultur widmen. Die Zeitschrift richtet sich sowohl an Wissenschaftler/-innen und Studierende als auch an Journalisten und alle Leser/-innen mit Interesse an der Pop- und Gegenwartskultur. Im vierten Heft geht es um Europa und Deutschland, die WM in Brasilien, Coverversionen, Camp, RTL, Artcore u.a.
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