Polnische Literatur in Bewegung: Die Exilwelle der 1980er Jahre [1. Aufl.] 9783839420324

Polnische diasporale Literatur zwischen Exil und Migration: Mit Blick auf die Emigranten der 1980er Jahre, etwa Artur Be

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German Pages 368 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Die literarische E-Migration der 1980er Jahre. Einführung
LITERATUR IN BEWEGUNG. NEUE RICHTUNGEN
Die polnische Emigration nach Jalta und die Migration der 1980er Jahre. Theoretische Überlegungen
E-Migranten. Zwischen Polen und Deutschland
Intransitive Vergangenheit? Die literarische Emigration der 1980er Jahre und das kollektive Gedächtnis
DIE KONDITION DES (E)MIGRANTEN
Wir und sie, oder von der (Un)möglichkeit,ein ›Einheimischer‹ zu werden. Die metaliterarischen Ideen Janusz Rudnickis und Zbigniew Kruszyńskis in ihren Erzählungen von der letzten polnischen Emigrationswelle nach Westeuropa
Emigrantentum und Nomadismus in Izabela Filipiaks Niebieska menażeria (Blaue Menagerie)
Unterwegssein, Fremdheit, Heimkehren. Zur conditio des lyrischen Ichs in Adam Zagajewskis Gedichten
Ironie, Groteske und Surrealismus oder Universalsprachen. Das Beispiel Natasza Goerke
(WIDER) DIE TRADITION DES EXILS?
Topographie der Emigration. Grenzen und Durchgangslager
Emigration als Trauma der Flucht. Christian Skrzyposzeks West-Berliner Blick über die Mauer
Emigration als Kastration. Polnische Männerliteratur in Deutschland (Oświęcimski, Niewrzęda,Stamm, Muszer, Rudnicki)
Emigrantenliteratur der 1980er Jahre. Die amerikanische Perspektive: Głowacki und andere
»GERMAN DREAM«?
Das Problem des Autobiografischen in der polnischsprachigen Prosa aus Deutschland nach 1989. Theoretische Anmerkungen und praktische Anregungen
Die deutsch-polnische Literaturedition »WIR«
Kann man aus Masuren emigrieren? Zur Prosa Artur Beckers
Migrieren in der Nachbarschaft. Über die Prosa von Krzysztof Niewrzęda
Zwischen den Sprachen und Kulturen. Sprachverweigerung, Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit von Schriftstellern polnischer Herkunft vor und nach 1989/90
AN DEN GRENZEN DES EXILS
Janusz Głowackis Amerika. Destruktion eines Mythos
Konturen der Vergangenheit. Polnischsprachige Literatur aus Israel
Der Geschmack des Exils. Zur Poetik der Erinnerung in Zagajewskis Lyrik
»Postanowiłem wrócić na dwór cesarza«. Zbigniew Herberts Pendelbewegungen zwischen Aufbruch und Rückkehr
Autorinnen und Autoren
Register der polnischen/polnischsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller
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Polnische Literatur in Bewegung: Die Exilwelle der 1980er Jahre [1. Aufl.]
 9783839420324

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Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.) Polnische Literatur in Bewegung

Lettre

Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.)

Polnische Literatur in Bewegung Die Exilwelle der 1980er Jahre

Die Übersetzungen im Band erscheinen dank der Förderung der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung. Gedruckt mit finanzieller Unterstützung vom Exzellenzcluster 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Stanisław Dróz˙dz˙, Mie˛dzy (Zwischen), 1977-2004, © Anna Dróz˙dz˙/Starmach Art Gallery. Lektorat & Satz: Katharina List, Linda Böhm-Czuczkowski, Veronika Süß Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2032-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Die literarische E-Migration der 1980er Jahre Einführung

Daniel Henseler/Renata Makarska | 9

LITERATUR IN BEWEGUNG. NEUE RICHTUNGEN Die polnische Emigration nach Jalta und die Migration der 1980er Jahre Theoretische Überlegungen

Wacław Lewandowski | 23 E-Migranten Zwischen Polen und Deutschland

Małgorzata Zduniak-Wiktorowicz | 31 Intransitive Vergangenheit? Die literarische Emigration der 1980er Jahre und das kollektive Gedächtnis

Wojciech Browarny | 47

DIE KONDITION DES (E)M IGRANTEN Wir und sie, oder von der (Un)möglichkeit, ein ›Einheimischer‹ zu werden Die metaliterarischen Ideen Janusz Rudnickis und Zbigniew KruszyĔskis in ihren Erzählungen von der letzten polnischen Emigrationswelle nach Westeuropa

Hanna Gosk | 69 Emigrantentum und Nomadismus in Izabela Filipiaks Niebieska menaĪeria (Blaue Menagerie)

Marta Cuber | 81

Unterwegssein, Fremdheit, Heimkehren Zur conditio des lyrischen Ichs in Adam Zagajewskis Gedichten

Daniel Henseler | 95 Ironie, Groteske und Surrealismus oder Universalsprachen Das Beispiel Natasza Goerke

Alina Molisak | 115

(WIDER ) DIE TRADITION DES EXILS ? Topographie der Emigration Grenzen und Durchgangslager

Renata Makarska | 133 Emigration als Trauma der Flucht Christian Skrzyposzeks West-Berliner Blick über die Mauer

Michael Zgodzay | 151 Emigration als Kastration Polnische Männerliteratur in Deutschland (OĞwiĊcimski, NiewrzĊda, Stamm, Muszer, Rudnicki)

Brigitta Helbig-Mischewski | 161 Emigrantenliteratur der 1980er Jahre Die amerikanische Perspektive: Głowacki und andere

Mieczysław Dąbrowski | 177

»G ERMAN DREAM «? Das Problem des Autobiografischen in der polnischsprachigen Prosa aus Deutschland nach 1989 Theoretische Anmerkungen und praktische Anregungen

Rainer Mende | 195 Die deutsch-polnische Literaturedition »WIR«

Marion Brandt | 213 Kann man aus Masuren emigrieren? Zur Prosa Artur Beckers

Christian Prunitsch | 227

Migrieren in der Nachbarschaft Über die Prosa von Krzysztof NiewrzĊda

Sławomir Iwasiów | 249 Zwischen den Sprachen und Kulturen Sprachverweigerung, Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit von Schriftstellern polnischer Herkunft vor und nach 1989/90

Hans-Christian Trepte | 269

AN DEN G RENZEN DES E XILS Janusz Głowackis Amerika Destruktion eines Mythos

Yvonne Pörzgen | 289 Konturen der Vergangenheit Polnischsprachige Literatur aus Israel

Urszula Glensk | 299 Der Geschmack des Exils Zur Poetik der Erinnerung in Zagajewskis Lyrik

Anja Burghardt | 317 »Postanowiłem wróciü na dwór cesarza« Zbigniew Herberts Pendelbewegungen zwischen Aufbruch und Rückkehr

Isabelle Vonlanthen | 335

Autorinnen und Autoren | 353 Register der polnischen/polnischsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller | 359

Die literarische E-Migration der 1980er Jahre Einführung D ANIEL H ENSELER /R ENATA M AKARSKA

D ER

SCHWIERIGE

ABSCHIED

VOM

E XIL

Nach dem Dezember 1981 kam es in Polen zu einem fast massenhaften politischen Exil. Laut den offiziellen Angaben waren es ca. eine Million Personen, die das Land bis 1989 verließen. Viele, die schon vor der Einführung des Kriegsrechts mit Touristenvisa ausgereist waren, kehrten nicht mehr zurück. Zweifelsohne kann man die sogenannte SolidarnoĞü-Emigration für die letzte politische Exilwelle in Polen halten. Unter den Exilanten waren nicht wenige namhafte oder künftige Schriftsteller, deren Werke oft mit einem zeitlichen Abstand, im nunmehr demokratischen Polen, publiziert wurden. Während diese Autoren selber also durchaus Teil des politischen Exils waren, kann ihre Literatur aus mehreren Gründen, mit denen wir uns im vorliegenden Band befassen werden, kaum zur Exilliteratur gezählt werden. Was aber ist sie dann? Wie kann man die polnische Literatur, die auch heute außerhalb Polens entsteht, jedoch in Polen publiziert wird, betrachten und interpretieren? Gibt es markante Unterschiede zwischen dem Werk von Schriftstellern, die noch zum politischen Exil gerechnet werden konnten, und demjenigen der zeitgenössischen migrierten Autoren? Mit der paradoxen Beschaffenheit der polnischen literarischen Emigration der 1980er Jahre befassen sich die meisten Texte des vorliegenden Bandes: mit dem schwierigen Abschied vom Exil, den neuen Richtungen und Themen der EMigration, mit der polnischen Literatur in/aus Deutschland sowie dem Migrationsdiskurs im Allgemeinen. Da dieses Phänomen zwischen dem Exil und einer freien Migration angesiedelt werden kann, haben wir uns entschieden, das vorliegende Buch in Anlehnung an eine Formulierung Ottmar Ettes (2001) mit »Polnische Literatur in Bewegung« zu überschreiben.

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Bereits 1989 verkündet Jerzy JarzĊbski mit einem Essayband den Abschied der polnischen Literatur vom Exil. Schließlich ist mit der demokratischen Wende die Aufteilung der Literatur in einen ersten (offiziellen) und zweiten Umlauf (im Untergrund) einerseits und in eine Exilliteratur andererseits aufgehoben worden. Kann man danach Autoren, die zwar im Ausland leben, jedoch in Polen veröffentlichen, immer noch zur Exilliteratur zählen? Sollte der Wohnort nicht eigentlich unwesentlich sein? Gleichwohl bleiben die Termini »Exil« und »Exilliteratur« nach wie vor in Gebrauch und werden auch auf die Gegenwart bezogen. Es gibt zu dieser Ansicht aber auch Gegenstimmen. Schon Anfang der 1990er Jahre spricht sich der in den USA lebende Dichter und Übersetzer Stanisław BaraĔczak gegen die Begriffe »Emigration« und »Exil« aus. »Wäre es nicht besser, auf den Terminus ganz zu verzichten und anstatt von einem ›Emigranten‹ einfach von einem ›Polen, der im Ausland lebt‹, zu sprechen?« (BaraĔczak 1992: 20), fragt er in einem Vortrag. Noch entschiedener protestiert er gegen die Weiterverwendung der Bezeichnung »Exil«/»wygnanie« (im Polnischen wörtl. »Vertreibung«) in Bezug auf die Gegenwart: »Schließlich hat mich doch keiner vertrieben«. (BaraĔczak 1992:16) Der Abschied vom Phänomen der Emigration, das die polnische Kultur seit dem 19. Jahrhundert wesentlich geprägt hat, erfolgte nicht sofort. Die Welle der »literarischen Emigration der 1980er Jahre« war und ist immer noch damit beschäftigt. Selbst im Jahr 2009 klangen die Worte des in Hamburg lebenden Schriftstellers Janusz Rudnicki noch wie eine Provokation: »Es gibt keine Exilliteratur mehr. Es gibt lediglich literarisch interessante Situationen«. (Robert 2009) In Anbetracht einer neuen politischen und kulturellen Situation der Literatur nach 1989 nehmen wir im vorliegenden Band eine Differenzierung der Begriffe vor: Wir sprechen von »der letzten politischen Exilwelle« und befassen uns immer noch mit den »Exilnarrationen und -topoi«, die in den Texten der untersuchten Autoren eine wichtige Rolle spielen. Von der »Exilliteratur« nehmen wir tatsächlich Abschied, denn diese hat – wie bereits betont wurde – mit der Abschaffung der Zensur zu existieren aufgehört. Die Situation des heutigen Migrierens bezeichnen die Autorinnen und Autoren der Beiträge im vorliegenden Band oft als »Postexil«; die Schriftsteller werden fast übereinstimmend als »migrierte Autoren« bezeichnet, und im Bezug auf die literarischen Werke wird von einer »migrierten Literatur« (bzw. »Migrationsliteratur«) oder »Diaspora-Literatur« (»literatura diasporna«) gesprochen. Die Schreibweise »e-migrierte Autoren« weist lediglich darauf hin, dass sich die Begrifflichkeiten noch nicht endgültig geklärt haben. Da die Vertreter der Exilwelle der 1980er Jahre oft mit einem zeitlichen Abstand publiziert haben, wird in unserem Band häufig von der »migrierten Literatur nach 1989« die Rede sein.

E INFÜHRUNG

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∗ Die Vertreter der literarischen Emigration der 1980er Jahre haben andere geografische Ziele gewählt als im Fall der Ersten (nach 1830) und Zweiten Emigration (nach 1945). Populär wurden auf einmal (und sind es zum Teil immer noch) die Bundesrepublik Deutschland (u.a. Janusz Rudnicki, Natasza Goerke, Dariusz Muszer, Krzysztof Maria Załuski, Brygida Helbig), Schweden (Zbigniew KruszyĔski), die USA (Edward RedliĔski, Janusz Głowacki, Izabela Filipiak, Ewa Kuryluk u.a.) und sogar Australien (Jurek Zielonka). Einige wenige Autoren haben die Tradition der früheren Emigrantenzentren z.B. in Frankreich fortgesetzt (Adam Zagajewski). Zweifellos befindet sich die polnische Literatur, die seit den 1980er Jahren außerhalb Polens entsteht, in einer Übergangssituation – einerseits knüpft sie (polemisch) an die polnische Exiltradition an, andererseits entwirft sie wahre Anti-Helden, die eine vermeintliche Mission des Exils (die so typisch für die polnische Literatur ist) in Frage stellen. Sie macht gleichzeitig den ersten Schritt in Richtung eines freien »Migrierens«. Als dessen Ausdruck steht nicht mehr die (nationale) Geschichte im Zentrum der Narration, sondern der Held als ein Abenteurer. Er versteht seine Heimatlosigkeit und Entwurzelung häufig nicht mehr als eine Strafe, sondern betrachtet sie vielmehr als Chance für einen neuen Lebensentwurf. Auf einmal reflektieren die Protagonisten nicht nur ›die polnische Situation‹, sondern werden zu Beobachtern der Fremde. Eine besondere Stellung genießt im Kontext der literarischen Emigration der 1980er Jahre die polnische Literatur in/aus Deutschland (beide Bezeichnungen verwenden wir als Arbeitsbegriffe). Ihr werden im vorliegenden Band entsprechend viele Aufsätze gewidmet, auch wenn nur ein Kapitel als »German dream« betitelt ist. Polnische Literatur in/aus Deutschland umfasst relativ viele Polnisch schreibende Autoren (die in Deutschland weitestgehend unbekannt bleiben) sowie ein paar Schriftsteller, die sich für einen Sprachwechsel entschieden haben (und ihrerseits dafür in Polen kaum rezipiert werden). So ist beispielsweise Janusz Rudnicki trotz einiger Übersetzungen dem deutschen Leser kaum bekannt, und von Artur Becker ist auf Polnisch bisher nur Kino Muza (2008) erschienen. Trotz der unterschiedlichen Rezeptionen und verschiedenen Zugehörigkeiten zu einem Literaturkanon bilden die Autoren selber ein dichtes Netz an Kontakten und gemeinsamen Projekten: Unabhängig von der Literatursprache kommentieren sie gegenseitig ihre Publikationen, führen miteinander Interviews, geben ihre Werke gegenseitig heraus und sind sogar füreinander als Übersetzer tätig.

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D RITTE E MIGRATION

ODER

P OSTEXIL ?

Nach 1989 entstand allmählich ein neuer Kanon polnischer Literatur ohne Aufteilung in In- und Ausland. Viele Autoren, darunter auch die prominenten Vertreter der Zweiten Emigration, kehrten nach Polen zurück (Czesław Miłosz, Sławomir MroĪek). Wieder andere setzten ihr Leben und ihr Schaffen im Ausland fort (Gustaw Herling-GrudziĔski oder Marian Pankowski). Im Fall der Emigration der 1980er Jahre behielten einige zwei Lebenszentren bei und wurden zu modernen Pendlern (Janusz Głowacki, Adam Zagajewski, Krzysztof Maria Załuski). Oft kehrten die späten Exilanten gar nicht zurück; es waren nämlich nicht allein politische Gründe gewesen, die sie in die Welt hinaus getrieben hatten. Brigitta Helbig-Mischewski urteilt in ihrem Beitrag sogar, dass die »polnische[n] Schriftsteller, die sich in den 1980er Jahren in Deutschland niedergelassen haben, […] hauptsächlich aus ökonomischen Gründen [emigrierten], seltener aus politischen«. Mit der Verortung der literarischen Emigration der 1980er Jahre beschäftigt sich das erste Kapitel des Bandes. Ob man dieses Phänomen überhaupt zum Exil zählen kann, bezweifelt WACŁAW LEWANDOWSKI. Er weist auf die Tradition der politischen Emigration in der polnischen Kultur hin: Die Exilwelle nach 1945, die auch als »Unabhängigkeitsemigration« oder »Emigration nach Jalta» bezeichnet wird, knüpfe direkt an die Traditionen der »Wielka Emigracja« (Große Emigration) der Romantikzeit an. Im Fall der zwischen 1980 und 1990 Ausgewanderten könne man häufig nicht zwischen politischen und wirtschaftlichen Gründen unterscheiden, außerdem hätten die Migranten dieser Dekade ihren Kontakt mit der polnischen Öffentlichkeit nicht verloren, wie dies für die Zweite Emigration der Fall gewesen sei. Die Literatur der Zweiten Emigration habe sich an das Exilpublikum gerichtet; die Vertreter der Exilwelle der 1980er Jahre hätten dagegen in Polen publiziert und ihre Werke gezielt an dieses Publikum adressiert, argumentiert Lewandowski. Mit der terminologischen Frage beschäftigt sich ausführlich auch MAŁGORZATA ZDUNIAK-WIKTOROWICZ, indem sie unterschiedliche Bezeichnungen, die in Bezug auf die Literatur nach 1989 verwendet worden sind, benennt und diskutiert: »Postemigration«, »Semiemigration« oder »Quasi-Emigration«, bzw. »Transmigration«. Sie erwähnt auch die nicht unbedeutende Tendenz, bei den alten Begrifflichkeiten zu bleiben und lediglich auf »das neue Paradigma« hinzuweisen. Keiner von den vorgestellten Begriffen habe sich jedoch bisher etabliert. Ein wenig metaphorisch spricht die Autorin selber von einer »Poetik des Auslands« (»poetyka zagranicy«). Nicht nur die Wahrnehmung dieser Literatur habe sich verändert, sondern auch ihre Ästhetik: Zweifelsohne hat sich die Figur des

E INFÜHRUNG

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klassischen exilierten Schriftstellers bis hin zum ›Gastarbeiter‹ oder ›Aussiedler‹ weiterentwickelt. WOJCIECH BROWARNY spricht in seinem Beitrag konsequent von einer »Diaspora-Literatur« und entsprechend von »migrierenden Narrativen«. Er beschäftigt sich auch mit dem »migrierenden Gedächtnis« und urteilt, dass das wesentliche Problem der literarischen Emigration der 1980er Jahre der Umgang mit dem kulturellen Gedächtnis darstelle. Eben deswegen täten sich vor allem die polnischen E-Mmigranten in Deutschland so schwer mit der deutsch-polnischen Vergangenheit. Der Autor fragt, ob die Erinnerung transitiv sein könne, ob sie auch Elemente der fremden Kultur in sich aufnehme. Im Fall mancher Autoren und Narrationen sei jedoch die Verbindung zu der eigenen (nationalen) Geschichte allzu stark. Dies betreffe sowohl das kulturelle Gedächtnis (hier finden der Zweite Weltkrieg, aber auch die Kreuzritter Erwähnung) als auch das kommunikative Gedächtnis, das im Fall der besprochenen Generation mit der Erfahrung der »ersten SolidarnoĞü« und der Gewalt des Kriegszustands zusammenhänge. Browarny geht vor allem auf das Schaffen polnischer Autoren in Deutschland ein, befasst sich aber auch mit dem Werk der in Amerika (Edward RedliĔski, Izabela Filipiak) oder Schweden (Zbigniew KruszyĔski) tätigen Autoren.

D IE

CONDITIO DER

E-M IGRANTEN

Die terminologische Verortung des Phänomens der literarischen Emigration der 1980er Jahre hängt mit der Reflexion über die Kondition der Exilanten zusammen. Während die Literatur der beiden großen Exilwellen eine »einseitige Konzentration auf das Schicksal der Emigranten bei einem wesentlich schwächeren Interesse für die fremde Gemeinschaft« charakterisiert habe, verändere sich dies in den Texten der gegenwärtigen Migrationsliteratur, urteilt HANNA GOSK. Die Unmöglichkeit, am neuen Ort und in einer neuen Gesellschaft heimisch zu werden, werde hier nicht mehr als Manko verstanden, sondern als Möglichkeit einer (neuen) Selbstschöpfung. Die Vertreter der letzten Exilwelle hätten das Narrativ um die Begegnung mit dem Anderen/Fremden bereichert und »die Handlung größtenteils in den Bereich der Sprache verlegt«. Hanna Gosk weist auf das Neue in der Literatur hin, die nach 1989 außerhalb von Polen entsteht: Das Werk von Janusz Rudnicki und Zbigniew KruszyĔski (zum Teil auch von Bronisław ĝwiderski) liest sie vor dem Hintergrund des Schaffens der Ersten und Zweiten Emigration.

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Der Begriff des Nomadismus fällt schon im Beitrag von Zduniak-Wiktorowicz. Der migrierende Autor der 1980er Jahre wird auch als Nomade oder Transmigrant wahrgenommen. Emigrantentum und Nomadismus unterscheidet als zwei fast gegensätzliche Begriffe MARTA CUBER. Sie schlägt eine Lektüre »der nomadischen Spuren« im Werk Izabela Filipiaks vor und stellt die weibliche Figur als »eine angespannte, postmoderne Reisende« in den Vordergrund. Filipiaks Erzählband Niebieska menaĪeria (Die Blaue Menagerie) liest Cuber mit Rosi Braidottis Nomadic subjects. Das Nomadische, das auch mit der Ursprünglichkeit, der Wildheit und dem Asozialen in Verbindung gebracht werde, lasse vor allem die unfertige Identität der Protagonisten zu. Ausdrücklich mit der conditio eines emigrierten Dichters, Adam Zagajewski, der im Hinblick auf die uns hier interessierende Thematik vielleicht noch schwerer einzuordnen ist als andere polnische Autoren im Ausland, beschäftigt sich DANIEL HENSELER. Zagajewskis Exilerfahrung ist keine nomadische, sie kann aber auch nicht auf einen Exilort reduziert werden. Der Dichter ließ sich 1982 zunächst in Paris nieder, verbrachte aber später jeweils einen Teil des Jahres in den Vereinigten Staaten, bis er schließlich 2002 nach Polen zurückkehrte. Henseler zeigt überdies auf, dass das lyrische Ich in Zagajewskis Gedichten »Merkmale eines Exilanten, Migranten, Reisenden, Touristen und Pilgers« aufweist und stets auch zwischen dem Verbleiben in der Fremde und dem Wunsch nach einer Heimkehr schwankt – wobei der Ort der angestrebten Rückkehr durchaus nicht immer Polen sein muss. In der »Identität in Bewegung« sieht ALINA MOLISAK ein wichtiges Element, worin sich Natasza Goerkes Prosa von anderen Migrationsliteraturen unterscheide. Sie betont die Verwendung der Mittel der Ironie und Groteske, welche die Autorin einsetze, um sich möglichst universell zu artikulieren. Goerkes Werk gehe auf die Tradition des Surrealismus zurück und spiele mit Irritation, Absurdität und Nonsens. Ein wichtiges Merkmal von Goerkes Prosa ist gemäß Molisak das »A-Polnische«; Polen als Raum trete in Goerkes Texten nur selten auf, und eine Mehrheit der Helden sei ohne festen Wohnsitz. In einer Weltsicht der Transkulturalität versuche Goerke, Fragen des Migrierens differenziert zu betrachten.

(W IDER ) D IE T RADITION DES E XILS ? Insbesondere die Autoren, die sich in der Bundesrepublik niedergelassen haben, schreiben sich in die Tradition der Exilliteratur ein. Sie polemisieren mit ihr, stellen sie in Frage, aber sie schaffen es nicht, die Tradition auszublenden – sie

E INFÜHRUNG

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können sich von Emigrationsnarrativen kaum trennen. Vor allem tun sie sich schwer mit der deutsch-polnischen Geschichte und Nachbarschaft. Dies wird bisweilen zum Hauptthema ihres Schaffens. Geschichte und Nachbarschaft dominieren einzelne Romane von Krzysztof Maria Załuski und Dariusz Muszer – zu einem Haupterlebnis eines Emigranten in der Bundesrepublik und zum wichtigsten Raum seiner Literatur wird das Durchgangslager für Spätaussiedler, das die Protagonisten immer wieder »mit anderen Lagern in Deutschlands Geschichte« in Verbindung bringen. Die Lagerbesessenheit polnischer Literatur in/aus Deutschland analysiert in ihrem Beitrag RENATA MAKARSKA. Sie zeigt auch auf, wie sich dieser heterotopische und vorläufige Ort ständig wandelt. Die Rolle eines Vorreiters der Exilwelle der 1980er Jahre in der Bundesrepublik nimmt in gewissem Sinne Christian Skrzyposzek ein, der sich bereits 1971 in Westberlin niedergelassen und dort bis zu seinem Tod im Jahr 1999 gelebt hat. Skrzyposzek ist der Inbegriff eines exkludierten Exilanten: Sein berühmtester Roman erschien zuerst in deutscher Übersetzung, die nach seinem Tod veröffentlichte deutschsprachige Annonce ist bis heute nicht ins Polnische übersetzt worden. Von der Emigration als Trauma (und zudem vom Trauma der Flucht) spricht im Kontext von Skrzyposzeks Romanen Wolna Trybuna (Freie Tribüne), Mojra und Annonce MICHAEL ZGODZAY. Die Auseinandersetzung mit der Volksrepublik Polen werde in den Romanen vom Trauma der Existenz im Exil und der Krankheit begleitet. Das Thema der conditio der männlichen Emigranten (Protagonisten) greift im gleichen Kapitel BRIGITTA HELBIG-MISCHEWSKI auf. Gleich im Titel kündigt sie an, dass die Protagonisten den Aufenthalt im Ausland deutlich als »Emigration« wahrnehmen, und diese wiederum als eine Art Kastration. Bevor vom Exil Abschied genommen werde, werde dieser vor allem entmythisiert. Viele Texte thematisierten die Demütigungs- und Entwürdigungserfahrungen eines Migranten. »Von den historischen Erfahrungen mit den Deutschen ist den Polen (den ›Kolonisierten‹) ein Gefühl der Demütigung, aber auch moralischer Überlegenheit geblieben«, schreibt Helbig-Mischewski. In ihrem Beitrag analysiert sie nicht nur Schilderungen dieser Demütigung, sondern auch Strategien der Wiedererlangung der Macht. Der Prozess der Entmythisierung des Exils, allerdings diesmal in Amerika, wird zum Thema des Aufsatzes von MIECZYSŁAW DĄBROWSKI. Er untersucht Prosawerke von Edward RedliĔski und Izabela Filipiak sowie Theaterstücke von Janusz Głowacki und kommt zum Schluss, dass die analysierten Werke nur am Rande mit der polnisch-amerikanischen Konfrontation zu tun haben; ihr Hauptthema sei die innerpolnische Diskussion: Im Grunde seien es Texte über Polen. Gerade in der Begegnung mit dem Anderen ergebe sich »eine verdichtete Be-

16 | DANIEL HENSELER/R ENATA M AKARSKA

schreibung des Nationalcharakters und der polnischen Identität«. Vor dem Hintergrund des Übergangs vom Exil zum freien Migrieren wird die Unmöglichkeit, in der Fremde Wurzeln zu schlagen, sichtbar: »Die Polen integrieren sich kaum, sie kommen nur langsam in einer neuen Umgebung mit neuen Gegebenheiten zurecht, und fremde zivilisatorische Maßstäbe können nur mühsam in ihr Bewusstsein vordringen.«

»G ERMAN

DREAM «?

Elf von insgesamt zwanzig Beiträgen dieses Bandes befassen sich ganz oder zum Teil mit dem Phänomen polnischer Literatur in/aus Deutschland. Dieser unübersehbare Schwerpunkt lässt sich zunächst durch den Umstand erklären, dass sich die Mehrheit der Emigranten der 1980er Jahre tatsächlich in der Bundesrepublik niedergelassen hat. Darunter waren nicht nur politische Flüchtlinge, sondern auch Spätaussiedler (dies thematisieren besonders deutlich die Romane von Krzysztof Maria Załuski und Wojciech Stamm). Trotz der großen Konzentration polnischer Autoren auf dem Gebiet Deutschlands werden diese von der Forschung kaum als Teil der deutschen interkulturellen Literatur betrachtet. In der Regel fehlen ihre Namen in den Kompendien zur interkulturellen Literatur. (Chiellino 2007) Die Wissenschaftler in Polen befassen sich fast ausschließlich mit den polnischsprachigen unter ihnen; die bisher solitäre Arbeit von Małgorzata Zduniak-Wiktorowicz (2010) konzentriert sich auf vier Namen: Janusz Rudnicki, Brygida Helbig, Krzysztof NiewrzĊda und Krzysztof Maria Załuski. Mit den in unserem Band versammelten elf Beiträgen versuchen wir die Lücke in den Literatur- und Kulturstudien sowohl in Deutschland als auch in Polen zu schließen. Einige von ihnen präsentieren wir im Kapitel »German dream«. Am Beispiel der polnischen Literatur in/aus Deutschland zeigt RAINER MENDE, wie Werke der Migrationsliteratur nicht nur in literaturwissenschaftlichen, sondern auch in literaturkritischen Texten häufig zur Informationsquelle über Autoren werden; das Autothematische und das Autobiografische bilden nämlich einen Schwerpunkt der Literatur der Emigranten der 1980er Jahre. Mende zeigt, von den Theorien von Philippe Lejeunes und Paul de Man ausgehend, dass das Spiel mit dem Autobiografischen nicht nur auf der Handlungs-, sondern auch deutlich auf der inter- und paratextuellen Ebene zu beobachten ist. Er weist nach, wie die von ihm gelesenen Texte auf unterschiedliche Art und Weise Spuren enthalten, welche eine autobiografische Lesestrategie initiieren und verstärken können.

E INFÜHRUNG

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Eine ganze Landschaft von (in der Regel zweisprachigen) polnischen Autoren in Deutschland stellt MARION BRANDT vor: die deutsch-polnische Zeitschrift »WIR«. Diese erschien seit 1994 in bisher insgesamt zehn Nummern. Zunächst als Literaturzeitschrift konzipiert, wandelte sich das Vorhaben zu thematischen Anthologien deutscher und polnischer Texte, wobei der Schwerpunkt auf der Literatur von Frauen sowie auf jüngeren Autoren lag. Die in »WIR« versammelten Autoren befassten sich mit den Problemen der Mehrsprachigkeit und der Interkulturalität – so hieß die erste Nummer Zweisprachigkeit – doppelte Identität – oder auch der Kultur ihrer deutschsprachigen Umgebung; eine Ausgabe widmete sich z.B. dem Werk von Gertrud Kolmar. Wie wenig man in diesem Zusammenhang noch von klassischer Emigrationsliteratur sprechen kann, zeigen mehrere ›Grenzüberschreitungen‹: Die Zeitschrift erschien zweisprachig, was bereits im Titel zum Ausdruck kommt, der auch als polnisch »wir« (für »Wirbel«, »Getümmel«) gelesen werden kann; Redaktion und Druckerei wanderten zwischen Berlin, Danzig und Stettin. Im Kontext der polnischen Autoren in Deutschland wird auch das Werk von Artur Becker gelesen, des bisher einzigen aus Polen stammenden ChamissoPreisträgers. Eigentlich hat Artur Becker seine Wurzeln in Masuren, weshalb CHRISTIAN PRUNITSCH im Titel seines Beitrags fragt, ob man denn aus Masuren emigrieren könne. Prunitsch diagnostiziert in Beckers Prosa, die sowohl als »deutsche Polenliteratur« als auch als Werk »eines entkulturierten Autors« wahrgenommen werden könne, eine Dominanz der Ästhetik über die Ideologie. Der Forscher bezieht sich auf fast alle Prosawerke des Autors aus Bartoszyce, von Milchstraße (2002) bis zu Der Lippenstift meiner Mutter (2010). Beckers Protagonisten leben in beiden Welten – in Deutschland und in Masuren, sie kehren jedoch immer wieder in die erste Welt zurück. Auf die im Titel gestellte Frage müsste man daher antworten: Von Masuren kann man sich nicht trennen. Mit Krzysztof NiewrzĊda stellt SŁAWOMIR IWASIÓW einen weiteren polnischen Autor vor, der seit den späten 1980er Jahren in Deutschland lebt. Iwasiów bezeichnet NiewrzĊda mit Blick auf dessen Essays Czas przeprowadzki (Zeit des Umzugs) und weitere Texte als einen Postemigranten, der in der europäischen Nachbarschaft, zwischen Berlin und Stettin, pendelt. Im Fall dieses Autors wird die uns interessierende Problematik teilweise verallgemeinert: »NiewrzĊdas Held ist immer in Europa und dabei zugleich zu Hause wie auch im Exil«, schreibt Iwasiów. Gerade dessen Bindungen zu verschiedenen Orten bewirkten die Entstehung eines »völlig neuen Typs des europäischen Bürgers, der eine transportierfähige, mobile Identität besitzt, je nach seiner Position auf der Karte«. Iwasiów plädiert daher für den Begriff einer Migrationsliteratur (»literatura migracyjna«), welche den Platz der Emigrationsliteratur einnehmen könne.

18 | DANIEL HENSELER/R ENATA M AKARSKA

Das wichtige Problem der Sprache und des Sprachwechsels untersucht in seinem Aufsatz HANS-CHRISTIAN TREPTE. Der Autor zeichnet zunächst die Tradition des Sprachwechsels im Exil und dieses Phänomen in der zeitgenössischen polnischen Literatur nach. Im Vergleich mit Autoren anderer Sprachen sind polnische Schriftsteller dem Sprachwechsel gegenüber eher zurückhaltend eingestellt. Die Beziehung zum Sprachwechsel verändere sich innerhalb der Vertreter/innen der Exilwelle der 1980er Jahre nicht rasant. Trepte weist jedoch auf die sogenannte ›Podolski-Generation‹ hin: Autorinnen und Autoren, die zum Teil in Deutschland aufgewachsen und daher »sozial und sprachlich fast vollkommen integriert sind«: Er stellt das Werk von in der deutschen Sprache gut beheimateten Schriftstellern wie Radek Knapp (geb. 1964), Magdalena Felixa (geb. 1972) oder Paulina Schulz (geb. 1973) vor.

AN

DEN

G RENZEN

DES

E XILS

Das abschließende Kapitel des vorliegenden Bandes erweitert den Blick auf das Phänomen der letzten polnischen Exilwelle und den Übergang von der Exil- zur Migrationsliteratur. Hier werden die geographischen Antipoden des Exils (Israel, Amerika) nachgezeichnet und »Grenzphänomene« betrachtet: polnischsprachige Literatur in Israel und das Werk von Zbigniew Herbert, der nie aus Polen emigriert ist, sich jedoch mit diesem Thema in seiner Dichtung sehr intensiv befasst hat. Sowohl für Herbert als auch für Zagajewski ist das Verbleiben in der Fremde oft mit einer ganz bewussten »Wanderschaft« durch europäische Kulturräume verbunden. Auf Janusz Głowackis Theaterstücke Polowanie na karaluchy (Schabenjagd) sowie Antygona w Nowym Jorku (Antigone in New York) geht YVONNE PÖRZGEN ein. Dabei interessiert sie besonders Głowackis Umgang mit dem Mythos Amerika. Es sei bemerkenswert, dass Głowacki diesen Mythos konsequent dekonstruiere und dadurch »bewusst den engen Kreis der ewigen polnischen Themen« durchbreche, denn die misslungene ›Neuerfindung als Amerikaner‹ betreffe nicht nur migrierte Polen. Głowackis Protagonisten repräsentierten zwar unterschiedliche Nationen, aber doch die gleichen gesellschaftlichen Randgruppen. An einen weiteren Schauplatz polnischer Literatur führt URSZULA GLENSK: Sie widmet ihren Beitrag den polnischsprachigen Schriftstellern in Israel und stellt die Zeitschrift »Kontury« vor, die zwischen 1988 und 2006 insgesamt 16 mal erschienen ist und vorwiegend Erinnerungsprosa veröffentlichte. Die mehreren Dutzend Autoren dieser Zeitschrift waren zu unterschiedlichen Zeiten nach Israel gekommen. Auch Glensk stellt die Frage nach einer geeigneten Begriff-

E INFÜHRUNG

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lichkeit in der Beschreibung dieses Phänomens und tendiert dazu, dieses gewissermaßen als etwas Drittes und Eigenes zu betrachten, ein »Sonderphänomen an den Rändern der (polnischen, jüdischen, israelischen und der Emigranten-) Literatur«. Die Bedeutung der Orte für Adam Zagajewskis Werk nimmt in ihrem Beitrag ANJA BURGHARDT wieder auf. Der zweimalige Wechsel der Lebensumstände (Lemberg-Krakau-Paris) schlage sich im dichterischen Umgang mit Orten nieder, und zwar besonders in der Perspektive der Erinnerung. Anhand der im Ausland entstandenen Gedichtbände Oda do wieloĞci (1983, Ode an die Vielheit), Jechaü do Lwowa i inne wiersze (1985, Nach Lemberg fahren und andere Gedichte) und Płótno (1990, Leinen) zeigt Burghardt auf, wie Zagajewski »einen europäischen – oder richtiger: abendländischen – Kulturraum entwirft, Teil dessen auch Polen ist«, wobei das verlassene Land gewissermaßen in einem »Raum der Dichtung« präsent gehalten werden könne. Im letzten Beitrag kommentiert ISABELLE VONLANTHEN die verschiedenen Auslandaufenthalte einer anderen überragenden Gestalt der polnischen Lyrik: Zbigniew Herbert. Obwohl sich dieser nie bewusst dafür entschieden habe, Polen zu verlassen, sei er doch mit Fragen der Emigration und den damit verbundenen Entscheidungsprozessen konfrontiert gewesen. Vonlanthen zeigt auch, dass Herbert auf seinen Reisen in Westeuropa und im Mittelmeerraum vor allem eine tiefer greifende Heimat gefunden hat, »ein kulturelles und geistiges Vaterland, das zum Angelpunkt seiner Dichtung wurde«. Herberts wiederholtes Weggehen aus Polen habe also nicht im Fluchtpunkt der Emigration geendet, »sondern in einer konstanten Pendelbewegung, einer immer wieder von neuem bewusst gewählten Rückkehr«.

∗ Die Texte dieses Bandes gehen auf die Konferenz »Polnische Literatur außerhalb Polens« zurück, die im Herbst 2010 an der Universität Tübingen stattgefunden hat. Fast gleichzeitig erscheinen sie jetzt in Deutschland und in Polen; der polnische Band wird unter dem Titel Poetyka migracji (Poetik der Migration) im Warschauer Verlag »Elipsa« veröffentlicht. Für die Unterstützung der Konferenz bedanken wir uns herzlich bei der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, für die Finanzierung der Übersetzungen bei der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung. Beide Publikationen verbindet neben dem fast identischen Inhalt auch das Umschlagbild, das die Installation der »konkreten Poesie« von Stanisław DróĪdĪ aus dem Jahr 1977 präsentiert. Der Titel der Installation »MiĊ-

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dzy«/»Zwischen« kann auch auf die Situation der »literarischen Emigration der 1980er Jahre« bezogen werden: zwischen Exil und Migration, in Bewegung zwischen verschiedenen Lebensorten. Für die Bildrechte bedanken wir uns ganz herzlich bei Frau Anna DróĪdĪ sowie bei der Starmach Art Gallery in Krakau. Gedankt sei schließlich all jenen Personen, die an der Vorbereitung des Buches wesentlich mitbeteiligt waren, insbesondere Katharina List, Linda BöhmCzuczkowski und Veronika Süß für ihre aufmerksamen Lektüren.

L ITERATUR Ette, Ottmar (2001): Literatur in Bewegung, Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Weilerwist. BaraĔczak, Stanisław (1992): »›Emigracja‹: co to znaczy?«. In: Marta Fik (Hg.): MiĊdzy Polską a Ğwiatem. Kultura emigracyjna po 1939 roku, Warszawa, 10-20. Chiellino, Carmine (2007) (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart. JarzĊbski, Jerzy (1998): PoĪegnanie z emigracją: o powojennej prozie polskiej, Kraków. Robert, Maciej (2009): »Rudnicki – pisarz krajowy w delegacji. Rozmowa z Januszem Rudnickim«, Dziennik 09.02.2009, zit. nach: http://www.dziennik.pl/kultura/article313592/Rudnicki_pisarz_krajowy_w_delegacji.html (20.09.2009). Ostaszewski Robert (2012): »Dystans jak powietrze. Rozmowa ze Zbigniewem KruszyĔskim«. In: artpapier, 12.09.2012, http://artpapier.com/?pid=2&cid= 1&aid=373 (18.09.2012).

Literatur in Bewegung. Neue Richtungen

Die polnische Emigration nach Jalta und die Migration der 1980er Jahre Theoretische Überlegungen W ACŁAW L EWANDOWSKI

Die polnische politische Emigration nach dem Krieg, die auch als Emigration nach Jalta (emigracja pojałtaĔska), als Unabhängigkeitsemigration (emigracja niepodległoĞciowa) oder Zweite Emigration bezeichnet wird, hatte ihr Zentrum in Großbritannien und ihre informelle Hauptstadt in London. Hier residierte die polnische Regierung seit der Zeit der Kapitulation Frankreichs, als sie zusammen mit dem britischen Expeditionskorps evakuiert wurde, das in der kurzen Verteidigungskampagne der Franzosen teilgenommen hatte, nachdem die Truppen des Dritten Reichs Frankreich angegriffen hatten. Zusammen mit der polnischen Regierung gelangten auch polnische Heeresformationen nach Großbritannien, der Kern der Polnischen Streitkräfte im Westen (Polskie Siły Zbrojne na Zachodzie), woraus in Schottland das I. Polnische Korps geschaffen wurde, sowie eine große Anzahl ziviler Flüchtlinge. Als sich nach der Konferenz von Jalta die Hoffnungen verflüchtigten, das Kriegsende könnte Polen seine Unabhängigkeit zurückgeben, wurden diese Flüchtlinge zu Emigranten: Sie entschieden sich für einen jahrelangen Aufenthalt in der Fremde, der eine Art »Protestexistenz« sein sollte, eine Demonstration der polnischen Unzufriedenheit mit der politischen Nachkriegsordnung, wie sie von den Siegermächten, der Anti-Hitler-Koalition, in Europa installiert worden war. Die Zweite Emigration hatte ihren Ursprung im Krieg; viele ihrer Vertreter wurden vom Ende der Kriegshandlungen auf deutschem Boden überrascht (z.B. die Soldaten der 1. Panzerdivision unter General Stanisław Maczek), wo sie im Rahmen polnischer Formationen bei der Britischen Armee die Rolle von Besetzern in einzelnen Abschnitten der britischen Besatzungszone ausübten. Nach Beendigung dieses Dienstes zogen die

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Polen jedoch nach England, wo sie die Reihen des Polnischen Ausbildungs- und Verteilungskorps (Polski Korpus Przysposobienia i Rozmieszczenia, PKPR) verstärkten, wie zuvor die Soldaten des II. Korps unter General Władysław Anders nach der Überführung von Italien auf die Britischen Inseln, wo ihre Kriegstätigkeit zu Ende ging. Nach England gelangten auch Soldaten, die in Deutschland zu Kriegsgefangenen geworden und von britischen oder amerikanischen Truppen aus den deutschen Lagern befreit worden waren. In den Besatzungszonen der Alliierten in Deutschland befand sich auch eine beträchtliche Anzahl polnischer Zivilpersonen – ehemalige KZ-Häftlinge sowie Zwangsarbeiter, die ins Dritte Reich umgesiedelt worden waren. Ihnen brachte das Kriegsende den miserablen Status von displaced persons (DP), die dem Schutz der UNRRA unterstellt waren: Sie gaben entweder bald der amerikanischen Agitation zugunsten einer Rückkehr in die Heimat nach oder sie bemühten sich hartnäckig um Ausreisevisa in die USA, nach Kanada oder Australien und wollten auf keinen Fall in Deutschland bleiben. Unter der deutschen Bevölkerung galten displaced persons als besonders rachsüchtig, weswegen es nicht erstaunt, dass nur ein kleiner Prozentsatz von ihnen sich dafür entschied, sich ständig in Deutschland niederzulassen. Ein beträchtlicher Teil dieser Umsiedler ließ sich von den polnischen Wachttruppen anwerben, wo der Dienst mit dem Versprechen eines amerikanischen Visums nach Ablauf der Dienstpflicht verbunden war.1 Wer aber grundsätzlich die Möglichkeit dazu hatte, strebte von Deutschland nach England oder (seltener) in andere Zentren der Zweiten Emigration. Deutschland galt unter den Emigranten nicht als Traumland, um sich niederzulassen, was man zweifelsohne (bis zu einem bestimmten Grad) durch die Kriegstraumata erklären kann, vor allem aber durch das politische Bewusstsein dieser Emigration, die in den ersten Nachkriegsjahren noch die Hoffnung auf einen baldigen bewaffneten Konflikt der USA und Großbritanniens mit der Sowjetunion sowie auf einen erneuten Aufbau polnischer Streitkräfte durch die Briten hegte. Man versicherte den nach Großbritannien strömenden Soldaten des II. Korps, die Demobilisierung sei nur eine vorübergehende: »Twój pobyt na tej wyspie stanowi prowizorium. Nie jesteĞ ›zdemobilizowany‹, tylko rozbrojony. […] Musimy byü w stanie mobilizacji moralnej do chwili, gdy zacznie siĊ waliü ›nowy ład‹, zapoczątkowany przez Wielką TrójkĊ mocarstw, które dokonały rozbioru Polski w Jałcie.« (Nowakowski 1946: 20)

1

Das Schicksal von displaced persons sowie ihren Entscheid für oder wider die Migration zeigt Andreas Lembeck (2007) am Beispiel von »Maczków« (Haren) im Emsland auf.

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[Dein Aufenthalt auf dieser Insel ist ein Provisorium. Du wirst nicht ›demobilisiert‹, nur entwaffnet. […] Wir müssen im Zustand einer moralischen Mobilisierung bleiben bis zum Augenblick, wenn die ›neue Ordnung‹ einzustürzen beginnt, welche die große Troika der Großmächte mit ihrer in Jalta vorgenommenen Teilung Polens eingeleitet hat.]

Eine umgekehrte Welle (von England nach Deutschland) kam ins Rollen, als die Amerikaner in München das Radio Free Europe mit dem polnischen Sender des Radios Freies Europa lancierten. Dieses Projekt zog eine bedeutende Gruppe polnischer Literaten nach München, die dort für das Radio arbeiten wollten. An den Englischen Garten kamen auch welche, die zuvor Deutschland verlassen hatten, um nur das Beispiel Tadeusz Nowakowski zu nennen, der schließlich bis zum Ende der Jalta-Ordnung in München bleiben sollte, um dann im hohen Alter ins heimatliche Bydgoszcz zu ziehen. Im Fall der Schriftsteller, die für RFE arbeiteten, muss man meistens – anders als für Nowakowski – von einem vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland sprechen. Viele von ihnen kehrten nach England zurück, sobald ihr Vertrag beim Radio ausgelaufen war (etwa Michał Chmielowiec oder Zygmunt JabłoĔski). Den Aufenthalt im abgeschlossenen amerikanischen Milieu auf dem Boden Münchens kann man allerdings schwerlich als Lebensabschnitt innerhalb der deutschen Gesellschaft bezeichnen. Wenn man die bedeutenden Ausnahmen (die allerdings die Regel bestätigen!) weglässt, – wie etwa diejenige des herausragenden Romanschriftstellers Józef Mackiewicz, der 1955 von England nach München zog (übrigens nicht der Zusammenarbeit mit dem RFE wegen, denn er war ein politischer Gegner des Senders), wo er bis zu seinem Tod blieb, oder diejenige der Redaktion der Tageszeitung »Ostatnie WiadomoĞci« (Mannheim; Neuste Nachrichten), die aus den polnischen Wachttruppen erwachsen war – muss man festhalten, dass Westdeutschland auf der Karte der Zweiten Emigration keinen wichtigen Fleck darstellte. Trotz der Existenz anderer Zentren des polnischen Denkens in der Emigration, die mit London zu konkurrieren versuchten (mit Paris an der Spitze, genauer gesagt Maison-Lafitte, wo das Redaktionsgebäude der Zeitschrift »Kultura« sowie des Instytut Literacki von Jerzy Giedroyü angesiedelt waren), wurde die ›Hauptstadtfunktion‹ von London nicht hinterfragt und diente als wichtiger Faktor für die Integration der Emigrationsgemeinschaft. Hier residierten der Emigrationspäsident der Polnischen Republik und die Regierung der Republik im Ausland, hier wirkten die wichtigsten gesellschaftlichen und militärischen Organisationen, hier auch blühten das polnische Herausgeberwesen und das literarische Leben der Emigration. Im ›polnischen London‹ konnte man am ehesten den spezifischen, ›staatlichen‹ Charakter der Zweiten Emigration wahrnehmen, der die Folge des von den Emigranten angenommenen Grundsatzes

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eines Unabhängigkeitslegalismus war. In einer Situation, wo eine ›echte‹ unabhängige staatliche Existenz nicht gegeben war, schuf man im Ausland so etwas wie einen ›alternativen Staat‹, oder anders gesagt, eine institutionalisierte Vertretung der unabhängigen polnischen Staatlichkeit in der freien Welt. Eben diese Vertretung, und nicht die durch die Sowjetunion begrenzte Staatlichkeit in Polen selbst, sollte die Fortsetzung der Zweiten Republik der Jahre 1918 bis 1939 darstellen und zugleich eine sichtbare Erinnerung an das Recht der Polen auf Unabhängigkeit und ein Zeugnis der Zugehörigkeit der polnischen Kultur zur Kultur des Westens sein. Diese ›Staatlichkeit‹ der Emigration stellte die Emigrationsschriftsteller vor die äußerst schwierige Aufgabe, ihr Schaffen in einer grundsätzlich veränderten Kommunikationslandschaft fortzusetzen. Schnell wurde nämlich klar, dass in der Wirklichkeit eines in politische Blöcke und Einflusssphären geteilten Europas, mit einem ›Eisernen Vorhang‹ dazwischen, die Werke der Emigranten nicht nach Polen selbst gelangen würden und der Emigrationsschriftsteller für eine begrenzte Gemeinschaft von Rezipienten in der Emigration schaffen würde. Die nachfolgenden Beschlüsse des Polnischen Schriftstellerverbands im Ausland, worin die Schriftsteller erklärten, sie würden sich der Zusammenarbeit mit den Verlagen in Polen verweigern (von 1947 und 1956; siehe dazu DanilewiczZieliĔska 1999: 141-147), waren, auch wenn sie nicht die Unterstützung aller Schreibenden hatten, eine wichtige Bestätigung für die Spezifik der kommunikativen Situation des Schaffens in der Emigration. Selbst wenn man glaubte, die in der Emigration entstandene Literatur werde es bis zum Rezipienten in Polen schaffen, dachte man, dass dies erst in einer fernen Zukunft geschehen werde, kaum aber noch zu Lebzeiten der Autoren. Im Jahr 1947 schrieb Herminia Naglerowa an den Dichter Tadeusz Sułkowski: »W krótkim czasie bĊdziemy pisarzami bez czytelników. Bo, Īe nikt nas (to znaczy – naszych ksiąĪek) nie bĊdzie przemycał do kraju, to pewne. Stąd jeden wniosek, Īe musimy pisaü rzeczy na wyrost, aby kiedyĞ, kiedyĞ trafiü do czytelników, którzy są jeszcze teraz niemowlĊtami, albo w ogóle nie narodzili siĊ.« (Brief vom 22. Juni 1947, zitiert nach ûwikliĔski 1987: 90) [In Kürze werden wir Schriftsteller ohne Leser sein. Denn dass niemand uns (das heißt – unsere Bücher) ins Land schmuggeln wird, ist gewiss. Von daher gibt es nur eine Schlussfolgerung: Wir müssen auf Vorrat schreiben, um irgendwann, irgendwann bis zu den Lesern zu gelangen, die jetzt noch Säuglinge sind oder gar noch nicht geboren.]

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Über die besondere Kommunikationssituation der Literatur in der Zweiten Emigration entschied also der Kreis ihrer Rezipienten, der auf die Emigrationsgemeinde eingeschränkt war. Es waren dies also nicht Werke, die an den Rezipienten in Polen gerichtet waren, zumindest nicht an den zeitgenössischen Leser im Land (mehr darüber in Lewandowski 2005: 5-9). Für die Beschreibung des Wesens (und der Eigenart) der Emigrationsliteratur ist dies eine fundamentale Frage, die leider von den Literaturhistorikern in Polen selbst nicht immer erkannt wird: Diese weichen der Frage der literarischen Kommunikation oft aus, um umso einfacher die beiden Umläufe (im Land und in der Emigration) der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts künstlich miteinander verbinden zu können. Über solche Praktiken schreibt Halina Filipowicz: »Nacisk na kontekstowe ujmowanie literatury emigracyjnej nie obejmuje kwestii publicznoĞci literackiej. Dla kogo powstała owa twórczoĞü? W Polsce badacze odpowiadają na to pytanie jednoznacznie: dla odbiorców krajowych. Przyznają oni, oczywiĞcie, Īe czytelnicy emigracyjni i krajowi róĪnią siĊ w ocenach autorów i ich dzieł. Niemniej, wybory emigracyjnej publicznoĞci literackiej są uprzejmie choü stanowczo zbywane bądĨ dyskredytowane jako anachroniczne. […] Problemem jest tu […] dokonująca siĊ w krajowym centrum ›reterytorializacja‹ czy zmiana ›zasiĊgu terytorialnego‹ twórczoĞci eks-centrycznej. Innymi słowy, instytucja krytyki w Polsce precyzyjnie okreĞla (z)deterytorializowany kontekst emigracyjnej twórczoĞci literackiej; równoczeĞnie wykorzystuje ona swoje ›dyscyplinarne‹ prerogatywy do okreĞlenia ›zasiĊgu terytorialnego‹ pisarstwa emigracyjnego za pomocą kryteriów (u)sankcjo-nowanych przez centrum krajowe, by w ten sposób pozbawiü ów fenomen jakichkolwiek zewnĊtrznych uwarunkowaĔ.« (Filipowicz 1988: 53) [Das Beharren auf dem Erfassen des Kontexts der Emigrationsliteratur umfasst nicht die Frage der literarischen Öffentlichkeit. Für wen entstand das Werk? In Polen antworten die Forscher auf diese Frage eindeutig: für die Rezipienten in Polen. Sie gestehen selbstverständlich ein, dass sich die Leser in der Emigration und in Polen in ihrer Bewertung der Autoren und ihrer Werke unterscheiden. Nichtsdestotrotz werden die Vorlieben der literarischen Öffentlichkeit in der Emigration höflich, aber entschieden als anachronistisch abgehandelt oder diskreditiert. […] Das Problem ist hierbei […] eine im Land selbst stattfindende ›Reterritoralisierung‹ oder eine Veränderung der ›territorialen Reichweite‹ des exzentrischen Schaffens. Mit anderen Worten, die Institution der Kritik in Polen definiert präzise den entterritorialisierten Kontext des literarischen Schaffens in der Emigration; zugleich nutzt sie ihre eigenen ›disziplinarischen‹ Prärogative zur Bestimmung der ›territorialen Reichweite‹ des Schaffens der Emigration mit Hilfe von Kriterien, die vom Zentrum, von Polen selbst, sanktioniert werden, um auf diese Weise jenes Phänomen jeglicher innerer Bedingtheiten zu berauben.]

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Es lohnt sich zu ergänzen, dass solche Bemühungen der Kritik die Diagnose der wesenhaften Eigentümlichkeit der Emigrationsliteratur verunmöglichen und zu einer Annullierung der Terminologie führen, mit deren Hilfe man das Phänomen ›Emigration‹ beschreiben könnte. Dabei waren auch jene Schriftsteller, von denen man in der Regel annimmt, sie hätten das Phänomen ›Emigration‹ als solches bestritten, sich doch bewusst, dass sich ihr Werk vor allem an die Rezeptionsgemeinschaft in der Emigration selbst richtet. Selbst Witold Gombrowicz, der gewöhnlich als wichtigster Emigrationskritiker betrachtet wird, hat sich in seinem Dziennik (Tagebuch) erlaubt, eine Geste von Adam Mickiewicz aus dessen KsiĊgi pielgrzymstwa polskiego (Die Bücher der polnischen Pilgerschaft) zu wiederholen. Während Mickiewicz den Emigranten nach dem Novemberaufstand 1830/31 erklärte, sie seien keine Flüchtlinge, die ziellos herumirrten, sondern Pilger, deren Weg ein Ziel habe, so verkündete Gombrowicz den Teilnehmern der Zweiten Emigration, die erzwungene Abwesenheit von der Heimat könne eine Gelegenheit zur Stärkung der schöpferischen Kräfte und zu tieferen künstlerischen Erkenntnissen und Leistungen sein. Das sieht wahrlich nicht nach einer Distanzierung von Rezipienten in der Emigration aus…2 Der Zwang, sich auf den Rezipienten in der Emigration auszurichten, bestimmte die Besonderheit der Literatur der Zweiten Emigration gegenüber der Literatur in Polen selbst auf der Ebene der Sprache, der Genealogie und der Thematik und machte aus ihr eine eigentümliche Literatur mit einer sich deutlich manifestierenden Identität. Die Emigrationsgemeinschaft, innerhalb derer und für die diese Literatur entstand, bewahrte sich Kohärenz und Zusammenhalt grundsätzlich bis Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre. Der Tod Kazimierz WierzyĔskis (den die Emigranten für den wichtigsten Dichter der Zweiten Emigration hielten) und die bald darauf folgende Überführung seiner Überreste nach Polen sowie der Tod von General Władysław Anders, dem charismatischen Führer von Monte Cassino und der höchsten politischen Autorität des ›polnischen London‹, sind symbolische Zäsuren am Beginn einer Zeit des Niedergangs, die durch demografische Gegebenheiten von Jahr zu Jahr noch verstärkt wurde. Man muss hinzufügen, dass die Zweite Emigration bis 1980 nicht durch den Zufluss jüngerer Generationen aus Polen verstärkt wurde, wenn man von der Welle von Polen jüdischen Glaubens absieht, die in den Jahren 1968-69 aus Volkspolen vertrieben wurden und übrigens in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht in die Emigrationsmilieus eintraten, sondern eigene Milieus des literarischen Lebens schufen.

2

Siehe »Mowa wygłoszona do narodu na bankiecie w goĞcinnym domu pp. X, u schyłku A. D. 1953«. In: Gombrowicz 1997: 95-96.

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Die Soziologen, welche Migrationsbewegungen untersuchen, sind sich einig, dass man im Fall der Auswanderung aus der Volksrepublik Polen in den 1980er Jahren (besonders in der Zeit seit der Legalisierung der Gewerkschaft SolidarnoĞü bis hin zur Einführung des Kriegsrechts) die politische nicht von der wirtschaftlichen Motivation trennen oder gar sagen könnte, welcher dieser beiden Faktoren dominiert habe. Natürlich wurde der politische Faktor als solcher in der Regel deklariert, denn dies verlangte das Asylverfahren; man kann aber nicht ausschließen, dass er in Tat und Wahrheit nicht der entscheidende Faktor war. Laut Angaben des Statistischen Amtes emigrierten von 1980 bis 1990 fast 300.000 Personen aus Polen, aber laut der Ansicht von Kennern ist die tatsächliche Zahl noch deutlich höher und beläuft sich auf eine bis eineinhalb Millionen. Die statistischen Angaben umfassten nämlich diejenigen Personen nicht, die längere Zeit im Ausland weilten, ohne ihren rechtlichen Status zu regeln (siehe KnyĪewski 2003: 43-54). Die Geographie der Migration der 1980er Jahre unterscheidet sich von derjenigen der Zweiten Emigration. Häufigstes Ziel war nun die Bundesrepublik Deutschland, weitere Ziele waren die Vereinigten Staaten, Kanada und Österreich. Die Wahl Deutschlands als Zentrum dieser größten Emigrationswelle aus der Volksrepublik Polen erstaunt nicht, wenn man die wirtschaftlichen Motivationen der Emigranten in Betracht zieht. Waren doch für die Bürger der Volksrepublik Polen während der ganzen 1970er Jahre gerade die Touristen aus der Bundesrepublik die am häufigsten angetroffenen Vertreter der westlichen Welt, eine Art Visitenkarte des ›reichen Westens‹. In Polen bewunderte man ihren Wohlstand, ihre Autos, die Kaufkraft ihrer Währung. Als daher in der Zeit der Legalisierung der SolidarnoĞü die Möglichkeiten zu einer Ausreise in den Westen zunahmen, wurde Deutschland für viele Polen zu einer Quelle der Hoffnung auf ein besseres Leben, zu einer Art Gelobtes Land. Dass sich unter den Migrierenden auch Schriftsteller befanden, begründet noch nicht automatisch eine Ähnlichkeit zwischen der Migration der 1980er Jahre und der Zweiten Emigration. Wer in den 1980er Jahren Polen verließ, stand nicht vor der Notwendigkeit eines Verlusts des Kontakts mit der Öffentlichkeit im Land; die Kommunikationslandschaft, in denen diese Schriftsteller tätig sein würden, änderte sich nicht. In Polen hatte sich seit einigen Jahren bereits ein Zweiter Umlauf entwickelt, ein Verlagswesen im Untergrund, was dazu führte, dass die polnischen Schriften, die in der Bundesrepublik oder in Westberlin gedruckt wurden, beinahe unverzüglich als Nachdrucke im Zweiten Umlauf in Polen selber erschienen. Ein Schriftsteller, der sich im Ausland aufhielt, konnte sich also weiterhin auf den Rezipienten sowie die Institutionen des literarischen Lebens im Land ausrichten, allerdings nicht auf die offiziell tätigen,

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sondern nur auf diejenigen im Untergrund. Seine Kommunikationssituation blieb unverändert. Und ebendies führt dazu, dass man in diesem Fall von der Migration von Schriftstellern sprechen muss, nicht aber von Emigrationsschriftstellern, auch wenn ihr Werk bestimmte Emigrationsthemen und -clichés aufweist, die auch der Emigrationsliteratur sensu stricto eigen sind. Aus dem Polnischen von Daniel Henseler

L ITERATUR ûwikliĔski, Krzysztof (1987): Idea i rzecz, Londyn. Danilewicz-ZieliĔska, Maria (1999): Szkice o literaturze emigracyjnej półwiecza 1939-1989, Wrocław. Filipowicz, Halina (1998): »Polska literatura emigracyjna – próba teorii«. In: Teksty Drugie 3-4, 43-62. Gombrowicz, Witold (1997): Dziennik 1953-1956, Kraków. KnyĪewski, Krzysztof (2003): »Społeczne aspekty polskiego wychodĨstwa lat osiemdziesiątych«. In: Mariusz Gizowski (Hg.), Studia i szkice z dziejów polskiej diaspory na Ğwiecie, GdaĔsk, 43-54. Lembeck, Andreas/Wessels, Klaus (2007): Wyzwoleni ale nie wolni. Polskie miasto w okupowanych Niemczech, Warszawa. Lewandowski, Wacław (2005): »…strofy dla mew i mgieł…«. Z dziejów literatury Drugiej Emigracji (i jej relacji komunikacyjnych), ToruĔ. Nowakowski, Zygmunt (1946): Na przystanku. List do nieznanego przyjaciela, płynącego do Anglii, Londyn.

E-Migranten Zwischen Polen und Deutschland M AŁGORZATA Z DUNIAK -W IKTOROWICZ

Gemäß Schätzungen von Maria KalczyĔska (2001; 2004) leben in Deutschland über 200 Polen, die im weitesten Sinne mit der Kultur verbunden sind – verstanden als Umsetzung verschiedener Erscheinungen des Polentums auf deutschem Boden. Dazu zählen selbstverständlich Schriftsteller, die in Polen gut bekannt sind (allen voran Janusz Rudnicki), aber auch weniger bekannte (Brygida Helbig, Krzysztof NiewrzĊda) sowie eher vergessene Prosasautoren (wie etwa Krzysztof Załuski1). Ich habe die eben erwähnten Autoren gewählt, um mit ihrer Hilfe den Zustand des E-Migrantentums am deutsch-polnischen Beispiel aufzuzeigen. Er zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sich in der Prosa dieser Autoren der Lebensakt des Helden/Erzählers in ein Artefakt verwandelt, denn das Leben wird hier zu einem Aufzeichnen (oder Erzählen) der Existenz in der Emigration mit ihrem stark identitätskonstituierenden Potenzial. Wer außerhalb Polens lebt und schreibt, situiert sich im ›Dazwischen‹, befindet sich in einem »Spagat«2. Rudnickis vielsagende Metapher (wie auch ande-

1

Dies könnte sich vielleicht wieder ändern, denn dieser Autor, der 2004 aus der Emigration nach Polen zurückgekehrt ist, hat wieder einen Prosaband mit Emigrationsthematik, WypĊdzeni do raju (Vertrieben ins Paradies), herausgegeben; Załuski 2010.

2

Das Leben im »Spagat zwischen Polen und Deutschland« hat zur Folge, dass die Grenze bei ihm »in der Gegend des Perineums« verlaufe, wie Janusz Rudnicki sich ausdrückt. Siehe: »…jestem głuchy na pozaziemskie tam-tamy. Z Januszem Rudnickim rozmawia Krzysztof NiewrzĊda« (2005). In: Jerzy Eysymont/Piotr KrupiĔski/Krzysztof NiewrzĊda (Hg.), Piastów 75, Szczecin, 82-85.

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re Metaphern des Autors3) kann man auf viele Ebenen des Funktionierens dieser Prosaautoren beziehen. Einige davon möchte ich hier zur Diskussion stellen. Bereits die Art und Weise ihrer Präsenz im literarischen Leben deutet auf einen gewissen Status von Transmigranten hin, die sich im Leben auf beiden Seiten ihres aktuellen Existenzpols engagieren, auf beiden Seiten der Grenze: Aktiv in Deutschland und in Polen, verbinden sie ihre Tätigkeit ›dort‹ und ›hier‹ miteinander, doch entspricht diesen beiden Polen keine Trennung mehr in ›früher‹ und ›jetzt‹. Helbig, NiewrzĊda oder Rudnicki verfolgen ihre literarischen Interessen sowohl in dem Land, aus dem sie ausgereist sind, wie auch in dem Land, in dem sie sich niedergelassen haben, wo sie sich wiederum eigene Seilschaften und Interessensgruppen schaffen. Dies lässt sich beispielsweise an den Interviews ablesen, die sich die Autoren gegenseitig erteilen: Janusz Rudnicki antwortet auf die Fragen Krzysztof NiewrzĊdas (siehe Fußnote 2); NiewrzĊda (2000; 2001) schreibt über Dariusz Muszer; Krzysztof Załuski unterhält sich mit Jakub Malukow-Danecki4; Muszer übersetzt Artur Becker (Becker 2008); Brygida Helbig und Krzysztof Załuski fungieren gemeinsam als Herausgeber (Helbig-Miszewski/Załuski 2000) und später gibt Załuski wiederum Helbig heraus5; NiewrzĊda arbeitet im Rahmen der Zeitschrift B1 mit Załuski und Natasza Goerke zusammen; viele Autoren finden sich als Nachbarn in Anthologien wieder (Geist 1996); gemeinsam äußern sie sich zu verschiedenen Themen6; mitunter geben sie ihren Texten ähnliche Titel7; und schließlich lenken sie die Aufmerksamkeit der Leser auch auf andere, weniger bekannte Vertreter der polnischen Kultur in Deutschland8.

3

Siehe auch die Metapher von der Fahrradkette: »Mehrmals pro Woche verlassen Tausende von »Emigranten« Polen und kehren nach Deutschland zurück, um am nächsten Wochenende wieder nach Polen zurückzukehren. Ein Teil kehrt zurück, der andere reist aus. Wie die Glieder einer Fahrradkette, die sich dreht, weil die Grenzen gefallen sind«. (Rudnicki 1996: 129; übersetzt von Henryk Bereska)

4

»KiedyĞ to pisarzom Īyło siĊ... Z Jakubem Malukowem-Daneckim rozmawia Krzysztof M. Załuski«. In: Pogranicza 2001/1, 45-48.

5

Pałówa erschien unter den Auspizien des Europäischen Forums der Kultur B1 e.V., das auch die Zeitschrift »B1« herausgibt, die Załuski leitet.

6

Siehe die Umfrage »Byü polskim pisarzem w Niemczech«, Dekada Literacka 2002/56, 75-76.

7

Krzysztof Załuski: WypĊdzeni do raju (Aussiedlerblues) (Załuski 2010) und Dariusz Muszer: Gastarbeiterski Blues (Muszer 1996).

8

Siehe u.a. Helbig über Iwona Mickiewicz im Interview »O Berlinie, współczesnej literaturze emigracyjnej, Marii Komornickiej i kilku innych kwestiach. Z Brygidą Hel-

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Gäbe es nicht diese gegenseitig erwiesenen ›Dienstleistungen‹, eine Aktivität, die sich ihre eigenen, spezifischen Bahnen schafft, wäre das Material für Lektüre und Forschung viel schmaler. Diese milieubedingten Kontakte dringen allerdings wiederum in die Prosa selbst ein. Mit Anioły i Ğwinie. W Berlinie! (Helbig 2005; Engel und Schweine. In Berlin!) von Brygida Helbig haben wir nämlich einen Text vor uns, der an ein Buch von Leszek OĞwiĊcimski anknüpft und dieses zugleich weiterschreibt (Klub Kiełboludów, OĞwiĊcimski 2002; Der Klub der Wurstmenschen). Helbigs Erzählung »Kallemalle« (Helbig 2008) endet wiederum mit einer Erinnerung an den ebenfalls in Berlin aktiven Wojciech Stamm (Lopez Mausere). In Krzysztof NiewrzĊdas Prosa nimmt das ›Zusammenwirken‹ die Form einer Intertextualität innerhalb des uns interessierenden ›engen Kreises‹ an. In seinem Essayband Czas przeprowadzki (Zeit des Umzugs) lesen wir etwa: »[...] I ponownie ruszyü w drogĊ. I dalej iĞü. I kątem oka patrzeü na tych, którzy idą obok, którzy równieĪ pytają: ›No, sprawia przyjemnoĞü?‹ i z nimi iĞü. Stanąü przy jakimĞ Ĩle zaparkowanym samochodzie, wetknąü za wycieraczkĊ kartkĊ: NAUCZ SIĉ PARKOWAû i iĞü dalej. I nie daü siĊ wyprzedziü. Pilnowaü, by nikt nie wysunął siĊ do przodu. Pilnowaü i iĞü.« (NiewrzĊda 2005: 32) [Und sich wieder auf den Weg machen. Und weiter gehen. Und aus dem Augenwinkel heraus diejenigen betrachten, die nebenher gehen, die ebenso fragen: »Na, macht’s Spaß?«, und mit ihnen gehen. Bei irgendeinem schlecht geparkten Auto stehenbleiben und eine Notiz an den Scheibenwischer heften: LERN MAL RICHTIG ZU PARKEN und weiter gehen. Und sich nicht überholen lassen. Aufpassen, dass sich niemand nach vorne drängt. Aufpassen und gehen.]

Noch bevor der Autor am Schluss des Kapitels »German dream« in einer Anmerkung selber einen entsprechenden bibliographischen Hinweis anbringt, erkennen wir hier das Element der rasenden Erfahrung Janusz Rudnickis, den NiewrzĊda als Patron für seine eigenen Prosawanderungen durch Deutschland anruft. Hier zeigt sich eine Ereignishaftigkeit à la Rudnicki (die Bewegung, die Hast, das Umherziehen), eine ähnliche literarische Diktion stellt sich ein (Ironie verbunden mit der Informationsfunktion dynamischer Sätze). Rudnicki dient dabei auch als eine etymologische Quelle für Anekdoten, etwa für jene aus dem

big-Mischewski rozmawiała Aleksandra Kosuda«. In: Nowy Przemytnik 2008/1 (http://www.pogranicza.pl/-o-berlinie-wspolczesnej-literaturze-emigracyjnej-mariikomornickiej-i-kilku-innych-kwestiach-,85.html, Zugriff: 15.02.2011).

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bekannten Zyklus Kaffee und Kuchen, und ist zugleich deren Hauptgestalt. NiewrzĊda schreibt: »Mój goĞü, prowadząc swoją prelekcjĊ, głównie skupił siĊ na omawianiu powszechnego w Niemczech obrzĊdu spoĪywania kawy i ciasta. Wzbogacając swoje wystąpienie wspaniałym happeningiem, ukazał, na przykładzie powszechnie wyznawanego kultu, mizeriĊ jego jakoĞci.« (NiewrzĊda 2005: 37) [Mein Gast hielt seine Vorlesung ab und konzentrierte sich dabei hauptsächlich auf die Erörterung des in Deutschland verbreiteten Kaffee und Kuchen-Rituals. Er bereicherte seinen Auftritt durch ein glänzendes Happening und zeigte am Beispiel eines allgemein ausgeübten Kults das Jämmerliche an dessen Qualität.]

Man könnte weitere ähnliche Beispiele anführen. Das ›Dazwischensein‹, das sind die Bemühungen der Autoren, in beiden Ländern gleichermaßen präsent zu sein, wobei ihre Aktivität, wie man sieht, mitunter die Eigenschaften von Interaktion und Intertext trägt.

W ER

UND WANN ?

Betrachten wir die uns interessierende Problematik nun von einer ein wenig anderen Seite. Eine weitere Ebene, auf der man den Status der Autoren und ihres Schaffens im ›Dazwischen‹ beobachten kann, sind ihre Werkzeuge, genauer gesagt die Nomenklatur, die bei der Analyse dieser Prosa angewendet wird. Wir befinden uns nämlich zwischen dem Begriff ›Emigration‹, der als onomatologische Grundlage dient, und all jenen anderen Termini, durch die man ihn zu ersetzen sucht. Um es so knapp wie möglich zu halten: Seitdem in den 1990er Jahren der »Abschied von der Emigration«9 verkündet worden ist, bezeichnet man Schriftsteller, die sich außerhalb Polens aufhalten, natürlich nur noch ungern als Emigranten; mehr noch: Über ihr Schaffen in Begriffen der Emigration zu sprechen schickt sich gewissermaßen nicht mehr. Meine Lektüre dieser Prosa wird allerdings von der Frage danach geleitet, ob denn – angesichts des Zerfalls des Ethos einer bis dahin traditionell verstandenen Emigration – auch das damit verbundene Bedeutungsfeld verschwindet? Dessen bin ich mir nicht sicher.

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JarzĊbski 1998: 233-245. Eine frühere Ausgabe des Texts findet sich in »Fraza« 1995/10.

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Schon allein der terminologische Boom, mit dem wir es in Polen zu tun hatten: post- (Maciejewski 2001: 17), semi- (Klimaszewski 2001: 31), quasi-emigracja (Klejnocki 2004: 503; Quasi-Emigration) auf der einen, sowie auf der anderen Seite die deutschsprachigen Versuche, diese Prosa als »emigrierte Literatur« zu bezeichnen (der Begriff erscheint bei Trepte 2001: 417 sowie bei Schlott 2004), zeugen von einer beträchtlichen Spannung. Als ich die verschiedenen Auffassungen vom Emigrantentum nach 1989 untersuchte, konnte ich eine wahre Verwirrung im Hinblick darauf beobachten, wovon und wie gesprochen wird; die onomatologischen Widersprüche ließen sich sogar innerhalb eines einzigen Textes feststellen.10 Obwohl also »Versuche unternommen werden, neue Sprachen zu entwerfen, die den konzeptuellen und analytischen Rahmen bereitzustellen vermögen, um Menschen zu beschreiben, die nicht mehr durch Grenzen von Nation und Staat eingeschränkt sind, wie dies einst der Fall war« (Hastings/Wilson 1999: 10), wird das Wort ›Emigration‹ selbst nicht zurückgewiesen; es gibt dafür in den hier zitierten Ausführungen keine unmittelbare, eindeutige Alternative.11 Die Vorsilben semi-, quasi- oder ex- verneinen das Emigrantentum nicht als Ganzes; vielleicht sollte man sie also nicht als Zeugnis des Abschieds vom Zeichencode der Emigration sehen, nicht als Verschwinden eines bestimmten status quo, sondern als einen Ansporn, die später eintretenden Phänomene zu betrach-

10 Witkowski (2001: 110-115) analysiert beispielsweise die Nützlichkeit von traditionellen Begriffen aus dem Umfeld der Emigration. Und obwohl der Autor meint, dass »das Wort ›tułacz‹ (Flüchtling, Emigrant) bzw. ›tułaczka‹ (Flüchtling, Emigrantin) ganz aus dem Wörterbuch der ausreisenden oder im Ausland bleibenden Dichter verschwunden ist«, verwendet er doch selbst mit Vorliebe das Wort »obczyzna« (die Fremde, das Exil); Stanisław BaraĔczak, der sich nur schwer in die Schublade der Emigration pressen lässt, bezeichnet er als »uchodĨca« (Flüchtling); und im Hinblick auf die letzten Jahre spricht er von »wychodĨstwo« (Exil). 11 Selbstverständlich gibt es in den Forschungen auch einige Umschreibungen, die vielleicht als einzige einigermaßen das Potential haben, sich vom Begriff ›Emigration‹ zu befreien. Einige seien hier erwähnt: »Literatur im Ausland« (literatura za granicą; Browarny 2002); Literatur, die »Emigrationsmotive« (motywy emigracyjne; Browarny 2002) behandelt; Literatur, die »außerhalb Polens entstanden ist« (powstała poza krajem; Klimaszewski 2001b); »polnische literarische Veröffentlichungen im Ausland nach 1989« (polskie publikacje literackie za granicą po roku 1989; Gosk/Kowalczyk 2004); »Romane, welche das Emigrationsleben behandeln« (powieĞci dotyczące Īycia emigracyjnego; CzapliĔski 2003); »das ausländische Polen« (Polska zagraniczna; Płachecki 2004).

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ten, die aber doch (auch durch direkte Negation) in einem engen Bezug zu einer breit verstandenen conditio des Emigranten stehen? Hier drängt sich eine Assoziation mit dem Postkolonialismus auf, wo das temporale Präfix ›post‹ ja ebenfalls als ein »Indikator für kritische und schöpferische Interaktion zwischen dem Erbe des Kolonialismus« (Rzepa 2003/2004: 20) und der gegenwärtigen Situation funktioniert. Wenn man annimmt, dass es im Kontext des postkolonialen Diskurses Platz gibt »für ein Denken in den Kategorien von Fortschritt und für eine Überzeugung, dass nach Jahren der Unterdrückung ›bessere Zeiten‹ anbrechen« (DomaĔska 2008: 167), dann nimmt auch eine ›Postemigration‹, so gesehen, andere Formen an und eröffnet weitere Perspektiven, aus denen heraus man sie betrachten sollte. Um ein vollständiges Bild von der im uns interessierenden Bereich angewendeten Nomenklatur zu bekommen, muss man allerdings daran erinnern, dass am anderen Pol der beschriebenen onomatologischen Perspektiven sich ein soziologischer oder soziolinguistischer Zugang findet, wie er beispielsweise von Małgorzata Warchoł-Schlottmann (2002) postuliert wird. In ihren Forschungen werden die Begriffe »emigracja« (Emigration) und »emigrant« (Emigrant) nicht von einem Gefühl der Sackgasse begleitet, im Gegenteil: Warchoł-Schlottmann argumentiert, dass wir es im Hinblick auf die uns interessierenden Schriftsteller mit einem »neuen Paradigma der Emigration nach 1989« sowie einem sich »verändernden Ethos der Emigranten zu tun haben« (Warchoł-Schlottmann 2002: 382; Hervorhebungen – M. Z.-W). Ganz ähnlich verhält es sich bei Maria KalczyĔskas Forschungen aus soziobiologischer Perspektive. Indem sie sich unter anderem auf Interviews mit polnischen Schriftstellern in Deutschland stützt, stellt die Autorin fest, dass die Frage, »ob Personen, die nach 1989 nach Deutschland gekommen sind, zur Emigrationsgemeinde gerechnet werden können«, immer noch »eine ungelöste Frage ist«. (Warchoł-Schlottmann 2002: 392) Das geschieht auch deshalb, weil sich in der Beschreibung kultureller Gruppen die Sprache der soziologischen Analyse anbietet, da sie bestrebt ist, die Besonderheit einer bestimmten Gruppe zu definieren, sie zu begründen, nach Unterscheidungsmerkmalen zwischen der gegebenen Gruppe und dem ›Rest‹ zu suchen, Ziele oder die Regeln ihrer Aktivitäten (ihres Funktionierens), ihren Lokalcharakter zu skizzieren. (Vgl. Dąbrowski 2005: 19) Es versteht sich, dass auch die Autoren selbst das Wort ergreifen und sich zu ihrem Emigrantenstatus äußern, wobei sicher Krszysztof NiewrzĊda am häufigsten Meisterschaft zeigt im Lavieren bei der Frage, ob er nun Emigrant ist oder nicht oder nur manchmal. Seine Haltung zur Frage sieht anders aus, wenn man ihn zum eigenen Emigrantentum befragt, als wenn er selbst in der Rolle des Befragers auftritt. 2002 hat NiewrzĊda Janusz Rudnicki gefragt:

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»[...] jak ci na emigracji? Nie zadałbym oczywiĞcie tego pytania, gdyby mnie wciąĪ go nie zadawano. Szczerze mówiąc, wydaje siĊ ono dzisiaj całkiem bezsensowne, w kontekĞcie Polski i Niemiec [...]. No ale co z tymi, którzy mentalnie siedzą w latach osiemdziesiątych.«12 [Wie geht es dir in der Emigration? Ich würde diese Frage natürlich nicht stellen, wenn sie nicht auch mir ständig gestellt würde. Ehrlich gesagt scheint sie heute, im Kontext von Polen und Deutschland, völlig sinnlos. [...] Aber was ist dann mit denen, die mental noch in den 1980er Jahren sitzen.]

In einem Interview hingegen, das NiewrzĊda in der Zeitschrift Akant dem Dichter Józef Pless aus Grudziądz erteilte, antwortete er auf die Frage »Für mich ist und bleibt ein Mensch, der außerhalb der Grenzen seines Heimatlandes lebt, ein Emigrant, also zum Beispiel auch ein Dichter, der in Bremen lebt. Stimmst du dem zu?« wie folgt: »OczywiĞcie. Bycie emigrantem nie zaleĪy przecieĪ od powodów przebywania poza krajem rodzinnym, tylko od samego faktu opuszczenia swojego kraju. Inną zaĞ sprawą jest to, czy twórczoĞü pisarzy emigracyjnych jest emigracyjną literaturą. W takim sensie, jak miało to miejsce lat temu czterdzieĞci, czy sto, na pewno juĪ nie. To, co powstaje dzisiaj poza krajem, jest o wiele bardziej zróĪnicowane. MogĊ tak powiedzieü patrząc choüby tylko na swoje ksiąĪki. KaĪda z nich musiałaby zostaü uplasowana w innej kategorii. Bo o ile poplątanie moĪna zaliczyü do literatury emigracyjnej, to na pewno nie moĪna tego zrobiü w przypadku w poprzek. A dotarły do mnie jeszcze takie głosy, które moją powieĞü umieszczają w sferze literatury imigracyjnej. I muszĊ przyznaü, Īe chociaĪ Poszukiwanie całoĞci przebiega, przede wszystkim, na linii jednostka-jednostka i jednostka-społeczeĔstwo (bez wprowadzania narodowoĞciowych dekoracji), to kwestia imigracyjna odgrywa w nim rzeczywiĞcie znaczącą rolĊ. No, ale Īeby byü imigrantem, najpierw trzeba zostaü emigrantem. Tego faktu wielu piszących nie chce jednak przyjąü do wiadomoĞci. Wydaje siĊ im, Īe koniecznie muszą przeciwstawiü siĊ emigracyjnemu wątkowi, Īe on ich w jakiĞ sposób obciąĪa.«13

12 »… jestem głuchy na pozaziemskie tam-tamy. Z Januszem Rudnickim rozmawia Krzysztof NiewrzĊda« (2005). In: Jerzy Eysymont/Piotr KrupiĔski/Krzysztof NiewrzĊda (Hg.), Piastów 75, Szczecin, 83. 13 »Nie w rzĊdzie czyli w ›poprzek‹. Z Krzysztofem NiewrzĊdą rozmawia Józef Pless«. In: Akant 2000/4, (http://www.ppiw-forma.pl/piastow75/08_10_1998_w_poprzek/kn_wywiad.htm, Zugriff: 15.02.2011).

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[Selbstverständlich. Das Emigrantsein hängt schließlich nicht von den Gründen ab, deretwegen man sich außerhalb des Heimatlandes befindet, sondern nur von der Tatsache selbst, dass man sein Land verlassen hat. Eine andere Frage ist es allerdings, ob das Werk der Emigrationsschriftsteller auch Emigrationsliteratur ist. Sicher nicht mehr in demselben Sinn, wie dies vor 40 oder 100 Jahren der Fall war. Was heute außerhalb Polens entsteht, ist sehr viel differenzierter. Ich kann das sagen, wenn ich nur schon meine eigenen Bücher anschaue. Jedes davon musste in einer anderen Kategorie angesiedelt werden. Denn so sehr man poplątanie (Durcheinander) zur Emigrationsliteratur rechnen kann, so wenig kann man das im Fall von w poprzek (Querdurch) tun. Und es gelangten auch Stimmen zu mir, welche meinen Roman im Bereich der Immigrationsliteratur einordnen. Und ich muss gestehen, obwohl sich Poszukiwanie całoĞci (Die Suche nach der Ganzheit) vorwiegend auf der Ebene Individuum-Individuum und Individuum-Gesellschaft abspielt (ohne nationale Dekoration), so spielt das Immigrationsthema darin tatsächlich eine bedeutende Rolle. Aber um Immigrant sein zu können, muss man zunächst einmal Emigrant werden. Diese Tatsache wollen viele Schreibende allerdings nicht zur Kenntnis nehmen. Es scheint ihnen, sie müssten sich der Emigrationsthematik unbedingt entgegenstellen, diese belaste sie in gewisser Hinsicht.]

Die Selbstdiagnosen, die die Prosaautoren hinsichtlich ihres künstlerischen und geografisch-biografischen Status stellen, zeugen also von einer weit fortgeschrittenen Eliminierung der Identität eines Emigrantenschriftstellers; die polnische Literatur hat vom klassischen exilierten Schriftsteller, bzw. vom Soldatenemigranten, hin zum ›Gastarbeiter‹ oder ›Aussiedler‹ einen weiten Weg zurückgelegt. Die von den Autoren gestellten Diagnosen betreffend unterscheiden sich die neuesten Versionen des Emigrantentums voneinander ebenso sehr, wie sich die Umstände ihrer Ausreise aus Polen nicht gleichen – von der Motivation und dem Zeitpunkt der Ausreise bis hin zum erreichten Popularitätsgrad. Die Veränderung der Werte in der Emigration (Trepte 2006a: 280-281) und die Distanz, mit der man an das Spielen der Rolle von polnischen Emigranten herangeht, nehmen verschiedene Ausmaße an; den einen Autoren macht dieses Thema Spaß, die anderen nervt es, wieder andere bedrückt es und einige hebt es geradezu aus der Masse heraus.14

14 Das bisher gesammelte Material erlaubt auch die Feststellung, dass zur Beschreibung des Phänomens des Emigrantentums zwei Typen von Bezeichnungen und Äußerungen verwendet werden. Eine Gruppe von Begriffen stellt den lebenden Beweis für die These vom Abschied von der Emigration dar; die Begriffe in diesem Bereich dokumentieren mit Nachdruck die Endlichkeit dieses Phänomens. Der andere Typ scheint sich nicht ganz für die allgemein geheiligten Begriffe zu interessieren und konstruiert

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W ORÜBER Und schließlich die Prosa selbst. Jenes ›Dazwischensein‹ wirkt sich nämlich auch auf den Inhalt der Werke aus. Wie aber tut es dies? Ein polnischer Schriftsteller in Deutschland ist vor allem ein polnischer Schriftsteller außerhalb Polens, einer, der sich außerhalb seines eigenen Landes aufhält – und dieses ist monoethnisch, postsozialistisch, katholisch. Daher spiegelt auch die in Deutschland geschriebene polnische Prosa diesen Stand der Dinge in erzählerischer Weise wieder. Aber natürlich nicht ausschließlich, denn als zweiter Bezugspunkt dient dabei immer Deutschland – erstens das alltägliche, (aus polnischer Sicht) stereotyp Germanische (Erzähler und Helden wehren sich gegen die Verdeutschung), aber zweitens auch als ein Land der Koexistenz vieler Kulturen. Das so verstandene biografische und geografische ›Dazwischen‹ verlangt von den Autoren nach Diagnosen. Die Analyse der Berichte aus der Emigration in Werken wie MoĪna Īyü (Rudnicki 1992; Es lässt sich leben), Tam i z powrotem po tĊczy (Rudnicki 1997; Hin und zurück auf dem Regenbogen), ChodĨcie, idziemy (Rudnicki 2007; Kommt, wir gehen) als Beispiele für Rudnickis Prosa, Pałówa und Anioły i Ğwinie. W Berlinie! (Engel und Schweine. In Berlin!) von Brygida Helbig (2000 und 2005), Poszukiwania całoĞci (Die Suche nach der Ganzheit) und Czas przeprowadzki (Zeit des Umzugs) von Krzysztof NiewrzĊda (2009 und 2005) und schließlich Szpital Polonia (Hospital Polonia) sowie WypĊdzeni do raju (Vertrieben ins Paradies) von Krzysztof Maria Załuski (1999 und 2010) erlauben es unter anderem, folgende wiederkehrende Motive und Handlungsstränge zu verzeichnen: das Verlassen des Hauses, der Familie, der Stadt, der Region; die Ausreise aus dem Land, der Grenzübertritt, das Betreten von Grenzregionen und ›Transitzonen‹ (Bahnhöfe, Flughäfen); alle möglichen Aktivitäten, die mit der Emigration verbunden sind, und die Umstände der Ausreise selbst – es kommt vor, dass der Leser die Motive für die Emigration erfährt, aber zum Beispiel auch die Transportmittel und die Reiseroute, welche die Helden bei der Ausreise benutzten oder welche sie heute beim Grenzübertritt gewöhnlich benutzen. Mancher ist daher nicht mehr Emigrant, sondern Pendler und bewegt sich regelmäßig zwischen Heim und Arbeit im allgemeinsten Sinn, er ist ein

eher eine Atmosphäre des Niedergangs des traditionellen Emigrationsparadigmas, den wir in diesem Verfallsprozess beobachten können. Anna Frajlich, eine Autorin, die in den Vereinigten Staaten lebt, hat anlässlich einer Diskussion über die Konsequenzen des Umbruchs nach dem Sinn eines »Emigrierens aus der Emigration« gefragt. Möge diese Sichtweise als Klammer für das binäre Denkverhalten dienen, das in den hier thematisierten Fragen zum Ausdruck kommt.

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»wahadłowiec, kursacz« (Pendler), wie sich Hans-Christian Trepte ausdrückt (Trepte 2006b: 126). Heute sind wir eher geneigt, solche Beschreibungen – einst Zeugnisse des Emigrierens – als Beispiele für das Migrieren zu lesen. Das Emigrantentum vermischt sich nämlich mit dem Immigrantentum, das einen weiten Bereich von Themen und Ereignissen eröffnet, der die Helden dieser Werke eben zu Immigranten macht. Anhand der Schaffung von Figuren, die inmitten von Deutschen in Berliner Stadtteilen leben (Helbig), anhand von Wohnvierteln in Bremen (NiewrzĊda) oder Hamburg (Rudnicki), an den Mitarbeitern von deutschen Firmen und Institutionen (u.a. Załuski) beobachten wir Fragen aus dem Bereich des Zusammentreffens der Kulturen und des Lebens an von Immigration geprägten Schauplätzen. Nicht immer geht es harmonisch zu und her, was sich etwa in einem unangenehmen Vorfall in Brygida Helbigs Erzählung »Polin in Berlin« (Helbig 1997) zeigt. Ein deutscher Rentner zittert vor Wut auf die Ausländer, die er in der U-Bahn sieht, und beschimpft die Protagonistin als eine »von ihnen«, die ganz allgemein fremd ist, nicht ausdrücklich eine Polin. »Ausländer« klingt in der Erzählung als weit gefasste Beleidigung. Es ist dies also eine jener Situationen, die man besser nicht dem Modell von einem Polentum in der Emigration zurechnet, sondern eher mit dem Modell von der ›Andersartigkeit der Immigration‹ mit ihrem multinationalen Charakter in Verbindung bringen sollte. Schriftsteller sein zwischen Polen und Deutschland bedeutet also in der untersuchten Prosa sowohl die literarische Ausbeutung von Motiven, welche die Protagonisten mit dem zurückgelassenen Heimatland verbinden, als auch die Beobachtung von Erlebnissen und Handlungen der Helden, die in einen für die Immigration charakteristischen Bereich neuer Erfahrungen hineingeworfen worden sind. Letztere markieren Fragen des kulturellen Kontakts, und zwar ebenso auf der Ebene der durch die Kultur gebildeten alltäglichen menschlichen Verhaltensweisen, wie auch der breiter verstandenen nationalen Kulturen. Daher treten in Rudnickis Prosa zum Beispiel ganze Scharen von Deutschen auf: •





Anständige: in der Erzählung »Odwiedziny« (Der Besuch) aus dem Band MoĪna Īyü kommt eine Gruppe von Nachbarn der im Auto eingeschlossenen Mutter des Erzählers zu Hilfe und stellt ihr anschließend ihre Toilette zur Verfügung (Rudnicki 1992); Sittenwächter: Treffen in den Wohnquartieren mit Gratiskaffee und hausgemachtem Kuchen – »Kaffee und Kuchen«; auf den Tisch Klopfen zum Abschied); Verteidiger der für die Deutschen so wichtigen Ordnung: Etwa wenn sie dem Erzähler in »Trzecia w prawo i druga w lewo od ksiĊĪyca« (Die dritte rechts

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und die zweite links vom Mond) eine wichtige Lektion zum Thema ›Parken lernen!‹ erteilen (ebd.).

D ER / DIE / DAS ? Zum Schluss möchte ich noch auf ein weiteres wichtiges ›Dazwischen‹ zu sprechen kommen und kurz in die Werkstatt von Helbig, Załuski, NiewrzĊda und Rudnicki hineinschauen. Sie verleihen nämlich ihren mit dem Emigrantendasein ringenden Helden sehr gerne und mit erstaunlicher Regelmäßigkeit Züge von Schriftstellern, wobei sie ziemlich viel Aufmerksamkeit den Fragen des schriftstellerischen ›Ich‹ widmen. Diese Werke sind oft durch eine Syllepse gekennzeichnet. Ihr eifrigster Anhänger scheint der Autor von MĊka kartoflana (Kartoffelqual; Rudnicki 2011) zu sein, der seinen Helden mehrmals mit Vor- und Nachnamen vorstellt – nämlich als Janusz Rudnicki. In diesem Kontext stellt sein Lieblingsattribut »rudnicki« (»rudnicka« sytuacja, »rudnicki« list; eine »rudnickische« Situation, ein »rudnickischer« Brief) ein »Eintreten des Autors in den Text« (Nycz 2002: 109) dar, ganz frei von Skrupeln und Furcht. Aber auch Krzysztof M. Załuski vermischt ein erdachtes ›Ich‹ mit dem wirklichen ›Ich‹, ein autoreflexives, schriftstellerisches Ich: »[...] nie wyznaczam juĪ sobie Īadnych celów. Zwłaszcza takich, które pragnąłbym osiągnąü za pomocą pisania. Nie robiĊ tego, poniewaĪ tak naprawdĊ Īadna metoda, zwłaszcza, jeĞli chodzi o Polaków zagranicą, nie zdaje egzaminu.« (Załuski 2010: 17) [Ich stecke mir keine Ziele mehr. Schon gar nicht solche, die ich mit Hilfe des Schreibens erreichen möchte. Ich tue das deshalb nicht, weil wirklich keine Methode die Prüfung bestehen wird, besonders wenn es um die Polen im Ausland geht.]

Der sylleptische Blick auf die Wirklichkeit in der Emigration bewirkt wiederum, dass in diesen Werken auch Fragen der Übersetzbarkeit vom Polnischen ins Deutsche diskutiert werden. Das am Zusammentreffen der beiden Systeme entstehende Potenzial verrät einen kritischen Zugang vieler Autoren und Protagonisten gegenüber diesem Aspekt hinsichtlich der Situation des Immigranten: »Na mój widok rozłoĪył bezradnie rĊce. UĞmiechnąłem siĊ krzywo, bo cóĪ. Powiedziałem: ja spieszĊ siĊ bardzo, ja jadĊ na dworzec moją matkĊ odebraü, ja mam proĞbĊ, moĪemy my paĔskie auto troszeczkĊ do przodu popchnąü, Īebym ja pas zmieniü mógł. ĩaden

42 | M AŁGORZATA Z DUNIAK-W IKTOROWICZ problem, odpowiedział. PopchnĊliĞmy. Ja dziĊkujĊ, Īe pan mi naprzeciw wyszedł, powiedziałem, jak na mój gust, nazbyt uprzejmie. ĩaden problem, powiedział jeszcze raz.« (Rudnicki 1992: 12-13; Erzählung »Odwiedziny«)15 [Bei meinem Anblick zuckte er ratlos mit den Achseln. Ich lächelte schief, was auch sonst. Ich sagte: Ich bin sehr in Eile, ich fahre zum Bahnhof, meine Mutter abholen, ich habe eine Bitte, können wir Ihr Auto ein wenig nach vorne verschieben, damit ich den Streifen wechseln kann. Kein Problem, antwortete er. Wir schoben. Ich danke, dass Sie mir entgegen gekommen sind, sagte ich, für meinen Geschmack zu höflich. Kein Problem, sagte er noch einmal.]

Der ironische Zugang zu den systembedingten Möglichkeiten der deutschen Sprache als solche, der potenziell dem Ausdruck des ›erneuerten Selbst‹ dienen soll, nutzt die Exotik der deutschen Syntax und die sprachlich-kulturelle Distanz, die in alltäglichen sprachlichen Situationen ihren Niederschlag findet. In der Erzählung »Trzecia w prawo i druga w lewo od ksiĊĪyca« schreibt Rudnicki: »ĝwiat, my mówimy – ten Ğwiat, a oni, Niemcy okreĞlają go rodzajnikiem ĪeĔskim. Co to znaczy, nauczyü siĊ jĊzyka tak, aby móc w nim pisaü? Nauczyü siĊ widzieü nagle Ğwiat w rodzaju ĪeĔskim?« (Rudnicki 1992: 140) [Wir sagen ›Ğwiat‹ – ›der Welt‹, und sie, die Deutschen, betrachten ihn als weiblich, ›die Welt‹. Was heißt das, eine Sprache so lernen, dass man in ihr schreiben kann? Lernen, ›den Welt‹ plötzlich als weiblich aufzufassen?]

Die Problematik des Kontakts zwischen zwei Sprachsystemen führt also zu einer Gruppe literarischer Verfahren, die ich als einen für diese Prosa charakteristischen Stil bezeichnen würde, als ›poetyka zagranicy‹, als ›Poetik des Auslands‹. Das ›za‹ (›aus‹) bezeichnet hier vor allem einen Ort, der auf der anderen Seite (von unserer polnischen Perspektive aus) gelegen ist, und in diesem Sinn dient er der Verdeutlichung dessen, was der Prosaautor von jener gegenüberliegenden Seite aus beobachtet. Eine solche Beobachtung jedoch dient bekanntlich der Wahrnehmung dessen, was neu ist, aber ebenso auch der Eigenheiten der zurückgelassenen und in diesem Sinn ›alten‹ Kultur, die wir aus den Werken der

15 Anmerkung des Übersetzers: Die direkte Rede übernimmt hier Eigenheiten der deutschen Syntax. U.a. wird das Personalpronomen ›ja‹ (ich) hier stets verwendet, obwohl es im Polnischen eigentlich nur gebraucht wird, wenn es betont ist. Auch die Wortstellung ist stark dem Deutschen angeglichen.

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Emigration herauslesen können. Ihr Hinterland bilden Deutschland und Polen als ein eigentümlicher Raum des Übergangs, wobei Deutschland nicht die »Endstation« (Trepte 2006a) ist, sondern viel eher eben ein »Transitraum« (Adam et al. 2007). Aus dem Polnischen von Daniel Henseler

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I NTERVIEWS MIT S CHRIFTSTELLERN »Byü polskim pisarzem w Niemczech (ankieta)« (2002). In: Dekada Literacka 56, 75-76. »…jestem głuchy na pozaziemskie tam-tamy. Z Januszem Rudnickim rozmawia Krzysztof NiewrzĊda« (2005). In: Jerzy Eysymont/Piotr KrupiĔski/Krzysztof NiewrzĊda (Hg.), Piastów 75, Szczecin, 82-85. »KiedyĞ to pisarzom Īyło siĊ... Z Jakubem Malukowem-Daneckim rozmawia Krzysztof M. Załuski« (2001). In: Pogranicza 1, 45-48. »Nie w rzĊdzie czyli w ›poprzek‹. Z Krzysztofem NiewrzĊdą rozmawia Józef Pless« (2000). In: Akant 4 (http://www.ppiw-forma.pl/piastow75/08_10_1998_w_poprzek/kn_wywiad.htm, Zugriff: 15.02.2011). »O Berlinie, współczesnej literaturze emigracyjnej, Marii Komornickiej i kilku innych kwestiach. Z Brygidą Helbig-Mischewski rozmawiała Aleksandra Kosuda« (2008). In: Nowy Przemytnik 1 (http://www.pogranicza.pl/-o-berlinie-wspolczesnej-literaturze-emigracyjnej-marii-komornickiej-i-kilku-innychkwestiach-,85.html, Zugriff: 15.02.2011).

Intransitive Vergangenheit? Die literarische Emigration der 1980er Jahre und das kollektive Gedächtnis W OJCIECH B ROWARNY

Der Titel dieses Aufsatzes ist erklärungsbedürftig. Emigranten nehmen persönliche Erinnerungen und historisches Wissen über die kollektive Geschichte mit ins Ausland. Ist ihre Erinnerung transitiv? Kann auch sie den ›Transit‹ über die politische, kulturelle und sprachliche Grenze vollziehen, sich den neuen existenziellen und sozialen Gegebenheiten anpassen? Oder ist sie eher intransitiv, bewahrt sie trotz der veränderten Bedingungen in der Fremde ihren integralen Charakter und die vormalige Bedeutung oder wird sie mit der Zeit unwesentlich, unverständlich, uneins mit dem außer Landes gebrachten Vergangenheitsbild? Möglicherweise kann die Erinnerung des Emigranten – und jedes Menschen, der einen längeren Auslandsaufenthalt hinter sich hat – sich nicht endgültig von der heimischen Betrachtung (Interpretation und Bewertung) der Vergangenheit lösen, sondern büßt in einem neuen gesellschaftlichen Kontext ihre Glaubwürdigkeit ein, wird relativ. An die Überlegung, ob eine sozial und kulturell transitive Erinnerung des Emigranten möglich ist, schließt sich die Frage nach den Konsequenzen einer etwaigen Transitivität an. Wenn ein Emigrant oder jemand, der sich längere Zeit im Ausland aufhält, seine Einstellung zum kollektiven Gedächtnis seiner Heimat ändert, bestimmt er dann seine Identität neu, interpretiert er sie dann anders? Wenn ja, in welcher Weise geschieht das, auf welcher Grundlage? Trennt er seine persönliche Erinnerung von den kulturellen Ikonen der Vergangenheit, die er seiner nationalen oder sozialen Herkunft verdankt? Kann der Emigrant sich noch des kollektiven Gedächtnisses bedienen, wenn er die daraus resultierenden moralisch-ideologischen Verbindlichkeiten ablehnt (etwa das Gefühl der nationalen

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Identität)? Und führt die Analyse der Erinnerung aus der Emigrationsdistanz und die Kreuzung mit abweichenden Vergangenheitsbeschreibungen dazu, das Gedächtnis als gesellschaftliches Konstrukt anzuerkennen, als kulturellen Schemata unterliegendes, stets historisches Artefakt, das von individuellen Erfahrungen unberührt bleibt? Oder ermöglicht sie im Gegenteil erst eine subjektive Haltung, beispielsweise eine bewusste, autonome Entscheidung über die Denk- und Redeweise über das Vergangene?

L ITERATUR

ALS

M EDIUM

DER

V ERGANGENHEIT

Um die formulierten Fragen in einer literaturwissenschaftlichen Arbeit über die literarische Repräsentation der Vergangenheit klären zu können, setze ich voraus, dass Texte Träger des individuellen und kollektiven Gedächtnisses sein können, ja, dass sie nicht allein als ›Speicher‹ fungieren, sondern auch als Medien bei der Übertragung von Inhalten und ihrer Darstellungskonventionen vermitteln können, dass sie Metatexte des Gedächtnisses sein können, die das Verhältnis zwischen Text, Gedächtnis und Vergangenheit interpretieren. Nach Astrid Erll sind literarische Texte nicht nur Gedächtnisarchive, sie erfüllen auch »vielfältige erinnerungskulturelle Funktionen, wie die Vermittlung von Schemata zur Kodierung von Lebensverläufen, die Herausbildung von Vorstellungen über vergangene Lebenswelten, die Zirkulation von Geschichtsbildern, die Aushandlung von Erinnerungskonkurrenzen und die Reflexion über Prozesse und Probleme des kollektiven Gedächtnisses.« (Erll 2005: 249)

Erll betont die mediale Rolle der Literatur, die in ihrer Konzeption vor allem der Speicherung, Verbreitung und Abrufung bzw. der Zirkulation des Gedächtnisses dient. Mit Maurice Halbwachs und Harald Welzer kommt sie zu dem Schluss, die Literatur schaffe einen medialen Rahmen, der den Erinnerungen und dem kollektiven Gedächtnis rhetorische Formen verleiht, die wiederum den gesellschaftlichen Regeln der Gedächtnisübermittlung und des Erinnerns selbst entsprechen. Erll unterscheidet vier rhetorische Modi: (1) erfahrungshaftig, (2) monumental, (3) antagonistisch und (4) reflexiv. Der erfahrungshaftige Modus entsteht durch »[e]ine Dominanz von Darstellungsverfahren, durch die der literarische Text als erfahrungsgesättigtes Medium und die in ihm dargestellte Wirklichkeit als spezifische Lebenserfahrung einer Epoche oder sozialen Gruppe inszeniert werden«, zum monumentalen Modus führt dagegen »[e]ine Dominanz von Verfahren, die den literarischen Text als traditionshaltiges, geformtes und

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verbindlichen Sinn stiftendes Medium« der Vergangenheit, in Übereinstimmung mit den Praktiken des kulturellen Gedächtnisses, mit Symbolen und Allegorien erscheinen lassen. (Ebd.: 268) »Der antagonistische Modus basiert auf literarischen Strategien, die dominant darauf abzielen, bestehende Gedächtnisnarrative affirmativ zu verstärken oder aber subversiv zu dekonstruieren und durch andere zu ersetzen«, die ihn realisierenden Texte »vermitteln Identität, Werte und Normen bestimmter sozialer oder kultureller Formationen und desavouieren zugleich die Sinnwelten anderer Gruppen und Nationen« (Ebd.: 269) Der vierte, reflexive Modus liegt vor, »wenn das literarische Werk eine erinnerungskulturelle Selbstbeobachtung ermöglicht«, wenn es »Funktionsweisen und Probleme des kollektiven Gedächtnisses inszeniert«. (Ebd.) Dieser Modus ist in besonderer Weise diskursiv und metaliterarisch. Er thematisiert nicht nur die Abhängigkeit zwischen symbolischer Kultur, gesellschaftlicher Kommunikation und Repräsentation des Vergangenen. Birgit Neumann ergänzt nach der Analyse von Textverfahren zur Semantisierung von Vergangenheit: »Zur Inszenierung von individueller und kollektiver Erinnerung können literarische Texte auf ein breites Spektrum narrativer Verfahren zurückgreifen, das von Besonderheiten der erzählerischen Vermittlung über Innenwelt-, Zeit- und Raumdarstellung bis hin zur Gestaltung der Plotmuster reicht.« (Neumann 2005: 165)

F ORMEN VON G EDÄCHTNIS Die Gedächtnisforschung betrachtet verschiedene Gedächtnisarten, die sich zumindest analytisch unterscheiden.1 In Anknüpfung an Halbwachs befindet Jan Assmann, dass »das individuelle Gedächtnis sich in einer bestimmten Person kraft ihrer Teilnahme an kommunikativen Prozessen auf[baut]. Es ist eine Funktion ihrer Eingebundenheit in mannigfaltige soziale Gruppen, von der Familie bis zur Religions- und Nationsgemeinschaft.« (Assmann 1992: 36f.) »Vom Individuum aus gesehen stellt sich das Gedächtnis als ein Agglomerat dar« (ebd.: 37), das durch die Verarbeitung individueller Erfahrungen im Bezug auf das Gedächtnis anderer und seine Ausdrucksmöglichkeiten entstanden ist, durch die

1

Ewa BieĔkowska erklärt in ihrer Beschreibung der Verbindungen zwischen individuellem und kollektiven (bzw. kulturellem) Gedächtnis vor dem Hintergrund sozialer Phänomene der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass diese Gedächtnisformen in der Erfahrung des modernen Menschen praktisch nicht voneinander zu trennen sind. (Vgl. BieĔkowska 1995: 20f.)

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»Rhetorik des Gedächtnisses«. Assmann bestreitet die mögliche Existenz individueller Erinnerungen nicht, meint aber, diese ließen sich nur in der zwischenmenschlichen Kommunikation verbal artikulieren. Das kollektive Gedächtnis wirkt affektiv und politisch stabilisierend auf das kommunikative Gedächtnis. Aleida Assmann spricht vom »generationen- (und individuelle Lebensläufe – W.B.) übergreifenden sozialen Langzeitgedächtnis«: »Das kollektive Gedächtnis ist ein politisches Gedächtnis. Im Gegensatz zum diffusen kommunikativen Gedächtnis [z.B. dem Generationsgedächtnis – W.B.], das sich von selbst herstellt und wieder auflöst, ist es außengesteuert und zeichnet sich durch eine starke Vereinheitlichung aus.« (Assmann 1999: 42)

Kennzeichnend für diese Gedächtnisform sind damit (1) inhaltlicher Minimalismus bzw. die Fixierung auf eines oder mehrere historische Ereignisse, symbolischer Reduktionismus, der zu einer (2) »affektiven Besetzung von Geschichtsdaten« führt, zu einer (3) Immunisierung gegen »alternative Wahrnehmungen von Geschichte« und zu einem (4) »symmetrische[n] Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft«, sodass »aus der Stabilisierung einer bestimmten Erinnerung eine eindeutige Handlungsorientierung für die Zukunft resultiert«, eine politische, fordernde Instrumentalisierung der Vergangenheit. (Ebd.: 42) Das kommunikative Generationsgedächtnis, das »individuelle Erinnerungen« integriert und vereinheitlicht, wandelt sich mit der Zeit zum kulturellen Gedächtnis, das die vorläufige, auf historischen Erfahrungen beruhende Übereinkunft durch eine langfristige Sichtweise ersetzt. Aleida Assmann betont in Abgrenzung zum kollektiven Gedächtnis die Rolle von Zeichen und kulturellen Institutionen: Schriftgut, Architektur und Plastik, Denkmäler, Brauchtum und Feste, Lehrpläne. Diese Medien, die für das kollektive Gedächtnis »lediglich einen Signalwert haben und als reine Merkzeichen oder Appelle für ein gemeinsam verkörpertes Gedächtnis dienen«, ermöglichen die Ausbildung eines Gedächtnisses in langfristiger historischer Perspektive und die Verstetigung einer kollektiven Identität durch die Bindung an die Tradition. (Ebd.: 49f.) »Aufgrund seiner medialen und materiellen Beschaffenheit widersetzt sich das kulturelle Gedächtnis den Engführungen, wie sie für das kollektive Gedächtnis typisch sind. Seine Bestände lassen sich niemals rigoros vereinheitlichen und politisch instrumentalisieren, denn diese stehen grundsätzlich einer Vielzahl von Deutungen offen.« (Ebd.: 50)

Das kulturelle Gedächtnis stützt sich, so Assmann, im Unterschied zum kollektiven auf einen »komplexen Überlieferungsbestand […], der im historischen

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Wandel einer beständigen Deutung, Diskussion und Erneuerung bedarf, um ihn jeweils mit den Bedürfnissen und Ansprüchen der jeweiligen Gegenwart zu vermitteln«. (Ebd.: 49f.) In ihrer Analyse des kollektiven Gedächtnisses unterscheidet Astrid Erll die subjektive Seite (»collected memory«) mit ihren kulturell und symbolisch geprägten individuellen Erfahrungen und deren Artikulationen von der objektiven (»collective memory«), die sie zu den institutionellen Praktiken der Vergangenheitserschließung zählt. (Erll 2005: 250f.) Im vorliegenden Kontext ist der subjektive Part des kollektiven Gedächtnisses von besonderem Interesse. Ich verwende kollektives Gedächtnis als übergeordneten Begriff, der sowohl das kommunikative Gedächtnis (einer Generation, beruhend auf historischen Erfahrungen) als auch das (selektive, eindeutige, affektive und politisierte) kollektive Gedächtnis im eigentlichen Sinne und das (vieldeutige, in Zeichen und kulturellen Institutionen vermittelte, zur Neuinterpretation der Vergangenheit tendierende) kulturelle Gedächtnis umfasst.

E MIGRATION

UND HISTORISCHE

E RFAHRUNGEN

Bogusław Bakuła schrieb über die Veränderungen in der polnischen Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts: »Miejsce zamieszkania utraciło rangĊ kryterium porządkującego, podobnie jak kryteria polityczne. WiĊkszoĞü pisarzy mieszkających poza Polską moĪe swobodnie publikowaü w kraju. Na miejscu literatury emigracyjnej i polonijnej powstaje nowe zjawisko, literatura diasporna, aliĞci o zatartych i nieokreĞlonych granicach. Jej istnienie jest moĪliwe tylko w otwartej strukturze literatury globalnej. Granice nie stanowią tu przeszkody. Obiektami zainteresowania wiĊkszoĞci współczesnych twórców są kultura polska i literatura pozbawione ograniczeĔ zewnĊtrznych i wewnĊtrznych, ale za to uwikłane w twórcze związki z kulturą uniwersalną.« (Bakuła 2001: 35) [Wie die politischen Kriterien hat auch der Wohnort seine Bedeutung als Ordnungskriterium eingebüßt. Die meisten im Ausland lebenden Polen können problemlos im Inland publizieren. An die Stelle der Emigrations- und Polonia-Literatur ist als neues Phänomen die Diaspora-Literatur mit ihren verwischten und unbestimmten Grenzen getreten. Sie kann nur in den offenen Strukturen der globalen Literatur existieren. Grenzen stellen dabei kein Hindernis dar. Die meisten zeitgenössischen Schriftsteller interessieren sich für polnische Literatur und Kultur ohne Beschränkungen nach innen oder außen, dafür aber im Kontext der universalen Kultur.]

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In Übereinstimmung mit dieser Feststellung unterscheide ich die Emigrationsbzw. Diaspora-Literatur (ich verwende beide Begriffe synonym) von der NichtEmigrationsliteratur nicht hinsichtlich eines abweichenden Publikationsweges, sondern mache den Unterschied an der abweichenden Kommunikationssituation im Text selbst fest. Das Vergangenheitsbild in Texten aus der Emigration steht unter dem Einfluss der heimischen Gedächtnisrhetorik, wird aber auch mit dem kollektiven und (multi)kulturellen Gedächtnis des Auslands durchsetzt. Die in der Diaspora-Literatur repräsentierte Vergangenheit muss nicht nur Erinnerungen verarbeiten, sondern auch verschiedene, häufig einander widersprechende Ausdrucks- und Interpretationsweisen. Daher verhandeln Diaspora-Autoren eher das polnische kollektive Gedächtnis, als seinen Präsuppositionen automatisch zu erliegen, sie stehen auch im Dialog mit den historischen Erfahrungen anderer Kulturen und den dort geltenden Regeln zur Erzählung der Vergangenheit. »Die Diaspora-Literatur bleibt zumeist auf das Interesse am polnischen Bewusstsein und am Flüchtlingsschicksal beschränkt. Sie stellt heute eine wichtige Form der Kritik am kollektiven Bewusstsein dar.«2 Geschrieben wird sie von Autoren, die anhand ihrer Erfahrungen mit dem Ausland oder dem »kulturellen Universum« der modernen Welt »ihre Wurzeln und die polnische Wirklichkeit der 1980er und 1990er Jahre rekonstruieren« (ebd.: 59; rekonstrujący swoje korzenie i polską rzeczywistoĞü lat 80-90). Das kommunikative (Generations-)Gedächtnis von Emigranten der 1980er Jahre umfasst vor allem die »erste SolidarnoĞü«, die lang anhaltende Wirtschaftskrise, die politische Gewalt während des Kriegszustandes sowie die sozialen und existenziellen Probleme ihrer ersten Auslandsjahre. Auf diesen Fakten und Erlebnissen beruht die schnelle Verständigung zwischen den Figuren in den Werken von Zbigniew KruszyĔski, Janusz Rudnicki, Krzysztof M. Załuski, Piotr Siemion, Wojciech Stamm, Jerzy Łukosz, Izabela Filipiak, Manuela Gretkowska u.a.3 Die Gedächtnisnarrative in ihren Texten sind jedoch vielschichtig. Die frischen Erfahrungen, die sich in den Lebensläufen der Helden niedergeschlagen haben, verschränken sich mit Bildern der ferneren Vergangenheit, insbesondere des Zweiten Weltkriegs, der Morde von KatyĔ, des Warschauer Aufstands, der

2

»Literatura diasporna przewaĪnie pozostaje w sferze zainteresowaĔ ĞwiadomoĞcią polską i losem uchodĨcy. Jest ona dziĞ waĪną formą krytyki zbiorowej ĞwiadomoĞci.« (Bakuła 2001: 60)

3

Beispielsweise My zdies’ emigranty (Gretkowska 1991), ĝmierü i spirala (Filipiak 1992), Schwedenkräuter (KruszyĔski 1995), Grabarz królów (monodram) (Łukosz 1997b), MoĪna Īyü (Rudnicki 1991), Niskie Łąki (Siemion 2000), Czarna Matka (Stamm 2008), Szpital Polonia (Załuski 1999).

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Judenvernichtung, der nationalsozialistischen Repressionen gegen die polnische Bevölkerung und der Migrationsbewegungen nach dem Krieg.4 Aus dieser Verschränkung resultieren nun ein reduktives Geschichtskonzept, das sich zwischen zwei Grenzpfeilern der gemeinsamen Geschichte bewegt – dem letzten Krieg und dem Kriegsrecht – sowie ein Arsenal von ›Kriegs‹-Gedächtnisikonen und eine rhetorische Formel zur Beschreibung der jüngeren und entlegeneren Vergangenheit. Emigranten haben ein politisch oder moralisch begründetes Bild der Nationalgeschichte im Gepäck, das durch das kollektive Gedächtnis sanktioniert wird. Zu diesem Sanktionierungsakt, der sich der Vergangenheit bedient, zählen das Verhältnis des kommunistischen Regimes zu Opposition und Gesellschaft, aber auch die Beziehungen zwischen Völkern (vor allem Polen und Deutschen) und zwischen der in der polnischen Gesellschaft dominierenden Gruppe und verschiedenartigen Untergruppen (z.B. Männer/Frauen). Als Leitbild des Gedächtnisses fungieren jedoch Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und mit der deutschen Besatzung, die der nationalen Vergangenheit einen Sinn verleihen und die aktuelle Anspruchshaltung der Emigranten als späte Opfer jener Tragödie erklären. So begründen beispielsweise die Erzählerfiguren in Werken von Łukosz und Rudnicki ihre Erwartungen an die Deutschen, wenn sie – nicht ganz ernst gemeint – soziale Privilegien aufgrund der historischen Geschehnisse fordern.

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Zeitlich weiter zurückreichende Assoziationen sind eher selten. Doch auch sie modellieren das individuelle Gedächtnis in ähnlicher Weise. Der Erzähler in Mały Larousse/Der Kleine Larousse von Adam Zagajewski erinnert sich zum Beispiel an eine Szene vom 13. Dezember 1981, als die Jäger auf den Milizkommissariaten ihre privaten »dubeltówki i sztucery« (»Doppelflinten und Stutzen«) abgeben mussten. »Obraz ten został w mojej pamiĊci, chociaĪ tego samego dnia działo siĊ wiele innych spraw, waĪniejszych, bardziej dramatycznych. Dopiero póĨniej zrozumiałem, dlaczego tak siĊ stało. Ci myĞliwi, w swoich kurtkach, przepasanych płaszczach, zimowych czapkach, wysokich butach, mĊĪczyĨni róĪnych pokoleĔ, niosący na ramieniu strzelby, przypominali powstaĔców, byli rozproszoną powstaĔczą armią. To Powstanie Styczniowe składało broĔ, kapitulowało przed Grudniem.« (Zagajewski 2002: 87) Deutsch: »Dieses Bild ist mir im Gedächtnis geblieben, obwohl am selben Tag viele andere Dinge geschehen waren, die wichtiger und dramatischer waren. Erst später verstand ich, woran das lag. Diese Jäger in ihren Jacken, gegürteten Mänteln, Wintermützen und Schaftstiefeln, Männer verschiedener Generationen, erinnerten an Aufständische, wie sie da ihre Gewehre auf der Schulter trugen – das war eine zerstreute Armee von Aufständischen. Da streckte der Januaraufstand die Waffen vor dem Dezember.« (Zagajewski 1986: 103)

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Diese Anspruchshaltung geht einerseits auf die antideutsche, nationalistische Propaganda der polnischen Kommunisten zurück, die besonders in den 1960er und 1970er Jahren mit politischen Gesten, in Publizistik, Bildungswesen und Film betrieben wurde, sie speist sich aber auch aus der zur SolidarnoĞü-Zeit und während des Kriegszustandes so vitalen Märtyrerstimmung.5 Es nimmt nicht wunder, dass die Diaspora-Autoren diese ›Verkürzung‹ unseres kollektiven Gedächtnisses aufmerksam und zumeist kritisch betrachten.6 Wenngleich der Erzähler in Janusz Rudnickis MoĪna Īyü sagt: »[W]ojna przestała mnie na dobrą sprawĊ obchodziü dopiero tu, w Niemczech« (Rudnicki 1991: 52; Der Krieg hat mich eigentlich erst hier, in Deutschland, nicht mehr beschäftigt), sind doch seine Erinnerung und seine Fantasie weiterhin mit Bildern von Krieg und Aufstand gesättigt. Nicht durch Vergessen befreit er sich von ihnen, sondern durch intensive Gedächtnisarbeit, durch die Abrufung kultureller Vorstellungen von einer heroischen Märtyrervergangenheit, die angesichts einer gewöhnlichen Realität, prosaisch gebraucht, nur noch als Witz, Spott, Absurdität oder Phrase daherkommen. So erinnert sich der Protagonist in Rudnickis »Odwiedziny«7, wie er seiner deutschen Geliebten näher kam: »To wtedy właĞnie, podczas pierwszego razu, chcąc wyjĞü z tego bilateralnego stosunku zwyciĊsko, wyhamowywałem orgazm wyĞwietlając sobie pod powiekami rowy, piece i szubienice […] wyobraĪałem sobie, Īe karzĊ w Barbarze, karzĊ dosłownie w niej, w coraz to innej pozycji dojĞcie Hitlera do władzy i wszystkie tego skutki. Płonął Reichstag, płonĊły skandujące pod nim tłumy, Barbara pojĊkiwała w pokorze i wyczekująco, a ja oblewałem ich wszystkich armatą wodną, ha! zwalałem ich z nóg, latali w powietrzu jak demonstranci!« (Ebd.: 78f.) [Damals, beim ersten Mal, wollte ich siegreich aus dieser bilateralen Beziehung hervorgehen, da habe ich den Orgasmus ausgebremst und Gräben, Öfen und Galgen unter meinen

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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet und immer noch lebendig ist die nationaldemokratische Sicht auf die polnische Geschichte als einen tausendjährigen Konflikt mit den Deutschen; auf dieses Motiv des kollektiven Gedächtnisses kann aber hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden.

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Mehrere Emigranten der 1980er Jahre stellen sich in die von Witold Gombrowicz, Stanisław Dygat, Sławomir MroĪek u.a. begründete Tradition der kritischen Beschreibung des polnischen Bewusstseins. (Vgl. Bakuła 2001: 60)

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Ein Fragment dieser Erzählung ist in der Übersetzung von Roswitha Matwin-Buschmann erschienen in: Deutsch-Polnische Ansichten zur Literatur und Kultur. Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts, 5/1993 (1994), 149-166 (Anm. d. Übers.).

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geschlossenen Lidern flimmern lassen […] ich habe mir vorgestellt, dass ich in Barbara, buchstäblich in ihr, in immer neuen Stellungen Hitlers Machtergreifung mit sämtlichen Konsequenzen bestrafe. Der Reichstag brannte, die skandierende Menge davor brannte, Barbara wimmerte demütig und erwartungsvoll, aber ich spritzte sie alle mit dem Wasserwerfer ab, ha, ich haute ihnen die Beine weg, dass sie wie die Demonstranten durch die Luft flogen!]

Der Erzähler dieser in Hamburg spielenden Geschichte fantasiert ununterbrochen von Kämpfen mit Deutschen, er versteht seinen rhetorischen Heldenmut als moralischen Freibrief gegenüber seinen Landsleuten, räumt aber gleichzeitig ein, er könne sich keinen echten Krieg vorstellen. (Ebd.: 94-111) Lediglich klischierte literarische und filmische Darstellungen aus der sozialistischen Massenkultur von Zusammenstößen mit ZOMO-Einheiten8 stehen ihm zu Gebote. Rudnickis Held muss sich in der Emigration nicht vom Krieg befreien, der ja längst vorbei ist, sondern von den eingeschliffenen Assoziationen, Bildern und historischen Vorwürfen, die dieser im polnischen Bewusstsein hinterlassen hat. Ähnlich versucht auch eine Figur in Zbigniew KruszyĔskis Szkice historyczne (Historische Skizzen) der Vergangenheit Herr zu werden, indem sie mit der sprachlichen Natur des Gedächtnisses abrechnet. Das Narrativ des Romans berührt die Erfahrungen der 1980er Jahre in der Volksrepublik Polen nur indirekt über die damals gängige Kommunikationspraxis. Erst der Versuch des ständig mit einer fremden, andersartigen Welt konfrontierten Emigranten, seine Erinnerungen schriftlich niederzulegen, verhilft diesen zu identitätsstiftender Bedeutung. Beim Anblick einer Münze, wohl einer schwedischen Krone, sagt der Erzähler schlicht »bez orzełka, a z koroną« (KruszyĔski 1996: 216; ohne Adler, aber mit Krone) und verknüpft damit persönliche Erinnerungen, die Darstellung einer Beobachtung aus dem polnischen kollektiven Gedächtnis und die Bekräftigung einer realen Andersartigkeit mit einem Signal der Teilhabe an der historisch-politischen Gemeinschaft seiner Heimat. Authentizität im Narrativ der Diaspora und ein Erzählen im Einklang mit individuellen, konkreten Erfahrungen sind nur in der (potenziell reflexiven) Berührung mehrerer Modi der Vergangenheitsrepräsentation möglich. Monumentale und antagonistische Vorstellungen von Vergangenheit entpuppen sich im Ausland, gerade wenn sie besonders gefestigt und natürlich erscheinen, eher als rituelle, formalisierte Gesten denn als eingeschriebene individuelle

8

ZOMO (Zmotoryzowane Odwody Milicji Obywatelskiej): Motorisierte Reserve der Bürgermiliz, paramilitärische Abteilung der Polizei in der Volksrepublik Polen (Anm. d. Übers.).

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Erfahrungen. Besonders deutlich wird dies bei den Narrativen der Diaspora, die sowohl auf die Probleme der nationalen und kulturellen Identifikation als auch auf die Lebenswirklichkeit im Ausland konzentriert sind.

G EDÄCHTNIS

IM

AUSNAHMEZUSTAND

Um die emotionale, moralische und politische Bedeutung von Gedächtnisnarrativen in der Emigrantenliteratur bewerten zu können, müssen auch die rhetorischen Modi berücksichtigt werden, mit denen die Vergangenheit in den Texten dargestellt und analysiert wird. Der erfahrungshaftige Modus verwendet vorwiegend Formen wie die autobiografische, ›mündliche‹ Ich-Erzählung, innere Monologe oder Tagebücher. Charakteristisch sind weiterhin konventionelle Formen der Exposition existenzieller Erfahrungen wie Romanze, Bildungsroman, Reiseroman oder Pikareske. (Vgl. Erll 2005: 268) Edward RedliĔskis Dolorado (RedliĔski 1984) ist die ›mündlich‹ erzählte Geschichte eines gescheiterten Emigranten. In der Komposition dieser Erzählung wird bereits im Rahmentext durch die Information, der Erzähler »spreche zum Apparat«, die erfahrungshaftige Modalität ostentativ in den Vordergrund gerückt. Die beiläufig eingestreuten Kommentare legen nahe, dass hier ein zwischen Erzählung und Einpersonenstück angesiedelter Text vorliegt. Der erfahrungshaftige Modus verheißt dem Leser, die beschriebenen Figuren und Ereignisse entstammten dem individuellen oder dem (kommunikativen) Generationsgedächtnis des Ich-Erzählers, das durch eigenes Erleben und persönliche Teilhabe beglaubigt ist. Der Autor identifiziert das »Ich« der Erzählung mit dem Subjekt des autobiografischen Gedächtnisses im Text, etwa mit Zwischentiteln wie »przecieĪ pamiĊtam« (das weiß ich noch genau)9 oder Eröffnungen im Plauderton: »[M]ogĊ ci opowiedzieü ze swojego Īycia coĞ« (Ich kann etwas aus meinem Leben erzählen; Łukosz: Grabarz królów). Wenn der Erzähler – wie in Dolorado – einräumt, dass er fabuliert, so gibt er zu verstehen, dass er reale Episoden seiner Biografie von fiktionalen und damit Erfahrung von Fantasie trennt. Derlei Signale sind trügerisch. Die Artikulation des Gedächtnisses ist eine Funktion sozialer Kommunikation, die Erzählung eines Emigranten aktiviert unterschiedliche Sprechzusammenhänge. Und die Narrative seines Gedächtnisses verweisen auf die gestörte, zweideutige Gedächtnisrhetorik. Wird dieser Zustand nun im Text enthüllt oder problematisiert, bewirkt er ein Umschlagen vom erfahrungshaftigen in den reflexiven Modus. »To chyba taka reakcja na róĪnice kul-

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Rudnicki 1991: »Paluszko, nie wpuszczaj tramwai!«

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tur« (Das ist wohl so eine Reaktion auf kulturelle Unterschiede), überlegt die Erzählerin in Natasza Goerkes Fractale, als sie versucht, die ›chiffrierte‹ Geschichte ihrer Vergangenheit zu entwirren. (Goerke 1994: 105) Der Emigrant erinnert sich nicht einfach so. Wenn er Vergangenheit erzählt, spricht er anderswo oder zu anderen mit anderen »Du-« oder »Ihr-«Kompetenzen, er spricht an der Grenze zweier Begriffs- und Sprachsysteme. Der Erzähler in KruszyĔskis Schwedenkräuter räumt ein: »Niewiele pamiĊtam, zimno, głowa. Starzy mdleli, dzieci wymiotowały. Tak, moĪe odwrotnie, nie pamiĊtam. Dwa razy milknął silnik, kołysanie stawało siĊ jak do snu, równiejsze, a w ciszy słychaü było nie koĔczące siĊ toasty fal o burtĊ. Potem znów zaskakiwał i pracował z wysiłkiem, jakby morze wznosiło siĊ pod górĊ. Nie rozumiem, dlaczego nazywacie go jeziorem.« (KruszyĔski 1995: 6) [Viel weiß ich nicht mehr, die Kälte, der Kopf. Die Alten wurden ohnmächtig, die Kinder übergaben sich. So war es, oder umgekehrt, ich weiß es nicht mehr. Zweimal verstummte der Motor, dann wurde man gleichmäßiger geschaukelt, wie in einer Wiege, und in der Stille hörte man, wie die Wellen pausenlos Toasts auf die Bordwand ausbrachten. Dann sprang er wieder an und mühte sich, als ginge das Meer bergauf. Ich verstehe nicht, wie ihr es See nennen könnt].

Das Wort ›Bałtyk‹ (Ostsee) fällt nicht, der polnische Kommunikationsrahmen wird lediglich durch das Pronomen »go« (es) angezeigt, der schwedische durch das semantisch und generisch zweideutige Substantiv (Meer/See, Genus Utrum, ›maskulin-feminin‹). Emigranten sind immer von Missverständnis und Unverständnis bedroht, daher müssen sie nachdenken, die Artikulation aussetzen, nach dem schwammigeren Ausdruck suchen, Phraseologismen auseinandernehmen und Idiome vergleichen, mit der Sprache spielen und sich erzählend erklären. Als sich der Erzähler in Dolorado beim Fabulieren ertappt, erklärt er, er müsse so die Amerika-Erfahrung begreifen, um sie dann in fiktiver Form den anderen erzählen zu können. Die subjektiven und gleichzeitig in unterschiedliche Kommunikationssituationen getauchten Narrative in der Prosa KruszyĔskis, Goerkes, RedliĔskis, Filipiaks und Rudnickis überschreiten also ständig die Grenze zwischen Text und Metatext, zwischen erfahrungshaftiger und reflexiver Vergangenheitsrepräsentation. Das Narrativ des monumentalen Gedächtnisses erfordert einen modellhaften oder allegorischen Zugriff, der die Vergangenheit erst mit symbolischer Bedeutung aufladen kann. So greift der Erzähler in Piotr Siemions Niskie Łąki (dt. Picknick am Ende der Nacht, 2000) in seiner Schilderung der Migration einer

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Gruppe von Freunden aus Wrocław in die ›freie Welt‹ auf das mythologisierte Gedächtnis der Umsiedlungen im Mitteleuropa der Nachkriegszeit zurück. Doch die Lebensläufe der Figuren wollen sich nicht zu einem Epos über den Verlust der Heimat fügen, da sie nicht die prototypischen Schicksale wiederholen und in ihrer Summe keine in mythische Opfer- und Heldenzyklen eingeschlossene gemeinsame Geschichte ergeben. Für den Erzähler in Niskie Łąki, der die romantische Historiosophie mit Skepsis betrachtet, taugt das Modell der Völkerwanderung nicht mehr als Quelle, es hat mit den Emigranten der 1980er Jahre nichts mehr zu tun. Statt die nationale Identität als martyrologische Mission zu festigen, wird sie durch das Narrativ des monumentalen Gedächtnisses faktisch diskreditiert. Der monumentale Modus ist in der Diaspora-Literatur vergleichsweise häufig anzutreffen, er schlägt aber schnell in die antagonistische oder reflexive Form um. Christian, Hauptfigur und Erzähler in Krzysztof M. Załuskis Szpital Polonia (Hospital Polonia), ruft sich die Vergangenheit ins Gedächtnis, indem er von einem Dach in GdaĔsk aus die tausendjährige Geschichte der Stadt metaphorisch in den Blick nimmt. Zur Inszenierung dieser Geschichte »mit den Augen des Gedächtnisses« werden »elektryka, który wstrząsnął Ğwiatem« (der Elektriker, der die Welt erschütterte) und »papieĪa z dalekiego kraju« (der Papst aus fernen Landen) aufgerufen, um schließlich den Preußen, Kreuzrittern, Deutschen, Russen und Kommunisten »tylko nasz« (das allein uns gehörige) GdaĔsk entgegensetzen zu können. (Załuski 1999: 30) Das Monumentale dieser Fantasie, die Anführung historischer Wegmarken, ändert nichts an der Tatsache, dass es sich hier um ein plattes antagonistisches Narrativ handeln würde, wenn der Erzähler selbst an die Konsequenz der Stadtgeschichte geglaubt hätte. Dem ist aber nicht so. Bevor GdaĔsk endlich »unser« ist, stellt der Erzähler – der bereits außerhalb der polnischen Geschichte spricht – den Sinn der Vergangenheitserzählung in den Kategorien von Anfang, Umbruch und Ende in Frage, den Sinn eines traditionellen, finalen Narrativs des kollektiven Gedächtnisses, das eine »endgültige« Ordnung herstellt. Ohne diesen Glauben lassen sich die unterschiedlichen Ansichten nicht zu einer Geschichte fügen. Ähnliches gilt für die Prosa Manuela Gretkowskas. Wenn die Ich-Erzählerin in My zdies’ emigranty (Wir sind hier Emigranten) die Geschichte der heiligen Hure und ewigen Vagabundin Maria Magdalena rekonstruiert, erhebt sie das Leben einer modernen Emigrantin zum sakralen Mythos. Doch sie realisiert neben dem monumentalen Modus auch den antagonistischen, wenn sie eine herstory schafft und den reflexiven Modus, indem sie parallel die Geschichte über die Arbeit an einer anthropologischen Studie zu Geschichte und kulturellem Gedächtnis entwickelt.

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Der Modus des antagonistischen Gedächtnisses wird argumentativ, polemisch oder stereotyp artikuliert. Sichtbar wird diese Rhetorik in der Emigrationsliteratur der 1980er Jahre beispielsweise in der analogen Situation10 des polnischen und des afghanischen Volkes, die beide gegen denselben Besatzer um ihre politische Souveränität kämpfen (Gretkowska, Filipiak), im Vergleich des Kriegsrechtes mit dem Zweiten Weltkrieg und der jüngsten Emigrationswelle mit den Massenumsiedlungen der Nachkriegszeit. Meist entspricht dem antagonistischen Modus ein Dialog oder ein diskursiver Monolog. In »Odwiedziny«, der ersten und umfangreichsten Erzählung aus Rudnickis Debütband MoĪna Īyü (Es lässt sich leben), gibt ein den Kapiteln jeweils vorangestelltes argumentum im Stil einer Kurzerzählung aus dem 18. Jahrhundert den Rahmen vor. Es nimmt die folgenden Abenteuer und Schimpfkanonaden sarkastisch vorweg. Geschickt macht sich der Autor die Form einer Erzählung mit einer oder sogar mehreren Botschaften zunutze, da die Figuren (Mutter, Stanisław, ein deutscher Polizist) die Vergangenheit durch unterschiedliche kollektive Gedächtnisse präsentieren. So kann sich der Ich-Erzähler entweder auf eine Seite schlagen oder die verschiedenen Vergangenheitsnarrative vergleichen, ohne sich gänzlich mit einem zu identifizieren. Die Arithmetik des Diaspora-Gedächtnisses läuft bei Rudnicki auf eine nicht-antagonistische Lösung hinaus, da die widerstreitenden Gedächtnisse und Anti-Gedächtnisse in der Summe ein groteskes, unlogisches Informationsgetöse und Wortgeklingel ergeben. Das Emigrationsgedächtnis ist nicht konkludent. Auf der amerikanischen Existenz der Figuren bei Filipiak, Siemion oder RedliĔski lastet das Märtyrerbild der polnischen nationalen Identität, das als »Īywy trup« (lebender Leichnam), Zombie oder Frankenstein ausgemacht wird, als »kreatura ulepiona z trupów« (aus Leichen geknetete Kreatur). Die literarisch-filmische Allegorie des »lebenden Leichnams« ist doppelt besetzt. Einerseits als vertrauter, romantischer, wenngleich subversiver »Frankenstein narodów« (Frankenstein der Völker), andererseits als Ikone der amerikanischen Kultur. Der »lebende Leichnam« erhebt das Generationsgedächtnis der Emigranten aus den 1980er Jahren zum monumentalen kulturellen Gedächtnis. Erst als Bild, als kulturelles Zeichen, kann die Erfahrung überdauern und in einer unbeständi-

10 In der Diaspora-Literatur wird diese Analogie nur oberflächlich behandelt, da die Ähnlichkeiten die Unterschiede im Vergleich der Erinnerungen von Emigranten aus beiden Ländern nicht aufwiegen. So steht bei Łukosz das mythische Afghanistan metonymisch für das Polen der 1980er Jahre, aus der Perspektive der amerikanischen Liebhaberin ein exotisches Nonsens-Land, aber auch das Paradies der ersten Liebe. (Vgl. Łukosz 1997a)

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gen ›Gedächtnisrhetorik‹ bedeutsam werden. In Bezug auf die polnische kollektive Identität muss diese Auffassung jedoch beleidigend, provokativ, aber auch reflexiv erscheinen, speist sich die Identität doch noch in den 1980er Jahren aus der katastrophen- und opferreichen Geschichte, in der man sich eingerichtet hatte. Diese Historiosophie antagonistisch ›beim Namen‹ zu nennen, ist in der Emigration unter dem Einfluss diametral entgegengesetzter Geschichtsbilder fast unausweichlich. Das Emigrationssubjekt ist der heimischen Gedächtnisrhetorik verhaftet, steht aber gleichzeitig in Kontakt mit einer multikulturellen Realität und dem moralisch heterogenen Migrantenmilieu in New York, Paris oder Hamburg. Unter diesen Umständen kann die Anpassung des individuellen Gedächtnisses an das kollektive nicht reibungslos verlaufen. Bei jedem Aufruf des monumentalen oder antagonistischen Modus der Vergangenheitsrepräsentation wird im narrativen »Ich« das Gefühl der Distanz zum dauerschizophrenen Gedächtnis wach. Wenn die Erzählerin in Filipiaks ĝmierü i spirala (Tod und Spirale) sich auf ihre persönlichen Erfahrungen rund um den politischen Studentenstreik bezieht, kann die Vergangenheitserzählung nicht rein mythisch-rituell ausfallen. Das Narrativ eines heroischen Lebens nach dem traditionellen Kulturmuster passt nicht zu den erotischen und emanzipatorischen Wünschen der New Yorker Immigrantin. Es festigt nicht etwa ihre soziale Identität, sondern verkompliziert sie. Aus ähnlichen Gründen können bei Manuela Gretkowska, Grzegorz Musiał, Janusz Rudnicki, Natasza Goerke und Piotr Siemion die Figuren mit anderen sexuellen Orientierungen oder einer ironischen Haltung zur nationalen Tradition und Geschichte oder zur gesellschaftlichen Rolle des polnischen Emigranten nicht im polnischen kollektiven Gedächtnis ›heimisch‹ werden. Das soll nicht heißen, dass bei diesen Autoren nicht auch monumentale und antagonistische Vergangenheitsrhetorik greifen würden, dies ist sogar recht häufig der Fall, sie schlagen aber schnell ins Reflexive um. Der reflexive Modus ist mit autothematischen und metaliterarischen Signalen verbunden, die beispielsweise von einer Spaltung des erzählenden Ichs unter dem Einfluss zweideutiger Erinnerungen künden (RedliĔskis Dolorado), von einer Bewegung des Subjekts aus der subjektiven Vergangenheitserzählung zu einer allgemeinen Reflexion über die Mechanismen des Gedächtnisses oder der Historiografie (Gretkowskas My zdies’ emigranty), von der undurchsichtigen und mehrdeutigen Repräsentation der vergangenen Welt im Text (KruszyĔskis Schwedenkräuter und Szkice historyczne) oder von der Widersprüchlichkeit historisch begründeter moralischer oder politischer Argumente (Rudnickis MoĪna Īyü). Jedes Reflexivitätssignal lässt das Subjekt die Gedächtnisarbeit im Text beobachten, das Ersetzen der Vergangenheit durch Zeichen und Bilder. Damit un-

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tergräbt die reflexive Rhetorik das ›natürliche‹ kollektive Gedächtnis. Die typische literarische Form hierfür ist die Metafiktion. Sie umfasst in der Diaspora-Literatur mindestens drei Erzählkonventionen: (1) thematisierte Reflexion über Literatur, (2) Erzählung über das Schreiben und (3) Autorentagebuch. Die erstgenannte bezieht sich am direktesten auf den monumentalen und den antagonistischen Gedächtnismodus. Literarische Traditionen – von Filipiaks Tagebuch der ›alten Sarmaten‹ bis zu Rudnickis ›Mickiewicz-Gedichten‹ – entsprechen dem kulturellen Gedächtnis, das mit der nationalen Identität korrespondiert. Wer an sie anknüpft, schafft im Text den fernen symbolischen Hintergrund des existenziellen und künstlerischen Bewusstseins eines Emigrationsschriftstellers, das zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen einer kreierten Biografie und dem realen Leben, zwischen einem Weltbild und der Welt selbst oszilliert. Filipiak bedient sich in Niebieska menaĪeria (Blaue Tierschau) des autobiografischen, monumentalen und antagonistischen Gedächtnisses, positioniert sich aber durch ihre merklich distanzierte Haltung zur Mentalität im sarmatischen Tagebuch kritisch gegenüber jedem allzu vertrauten Weltbild. »Gdybym chciała kiedyĞ napisaü prawdziwy diariusz, jak to czynili dawni Sarmaci, […] pozwoliłabym teĪ sobie na przesłanie: Aby pamiĊtaü od czasu do czasu, iĪ ta rzeczywistoĞü, którą właĞnie oglądasz, nie jest jedyną i ostateczną, Īe prawa przez nią stworzone nie pochodzą od wyroczni, lecz od ludzi, Īe są tylko czĊĞcią wiĊkszego, nieustannie zmieniającego siĊ, pulsującego obszaru słów i zmysłów, pojĊü i pragnieĔ, Īe znajdują siĊ poza nią teĪ inne, podobnie realne, niewyczerpane moĪliwoĞci.« (Filipiak 1997: 207) [Sollte ich einmal ein echtes Tagebuch schreiben wollen, wie das die alten Sarmaten getan haben, […] würde ich mir auch eine Botschaft gönnen: Zur Erinnerung daran, dass die Wirklichkeit, die du gerade betrachtest, nicht die einzige und letztgültige ist, dass die aus ihr abgeleiteten Rechte nicht gottgegeben, sondern menschlicher Natur sind, dass sie nur Teil einer größeren, sich beständig wandelnden, pulsierenden Sphäre von Worten und Sinnen, Begriffen und Wünschen sind, dass darüber hinaus auch noch andere, nicht weniger reale, noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten existieren.]

In einer Erzählung über das Schreiben oder das Tagebuch eines Schriftstellers können die rhetorischen Modi zwar anders gewichtet sein als bei einer thematisierten Metafiktion, der Ich-Erzähler funktioniert aber in ähnlicher Weise. Die autobiografische Übereinkunft in den Texten Gretkowskas, Musiałs und Rudnickis aktiviert in erster Linie den erfahrungshaftigen Modus der Gedächtnispräsentation. Dagegen hebt sie das metafiktionale Narrativ ins Politische, Histori-

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sche und Metaliterarische, wenn monumentale und antagonistische Vergangenheitsauffassungen zur Sprache kommen. Doch selbst vor diesem Hintergrund stiften individuelle Erfahrungen mit kommunistischen Schikanen oder SolidarnoĞü-Streiks keinen gemeinschaftlichen Mythos. Warum ist das so? Die metaliterarische Arbeit des Subjekts verleiht den Erinnerungen zwar Symbolcharakter, ermöglicht aber nicht deren Aufnahme ins integrale kollektive Gedächtnis, da die Gedächtniserzählung in der Metafiktion im reflexiven Modus erscheint, der in jedem Bild einer ausgesprochen zweifelhaften Vergangenheit das Konventionelle und Partielle demaskiert.

D AS

MIGRIERENDE

N ARRATIV

Die Gedächtnisnarrative in den Texten von Emigranten basieren auf unterschiedlichen rhetorischen Modi. Werden diese Verbindlichkeiten auch eingehalten, entsprechen die Gedächtnisnarrative tatsächlich den rhetorischen Rahmen und Signalen, die sie dem Leser suggerieren? Auf den ersten Blick schon. Den allgemeinsten erfahrungshaftigen Rahmen der Vergangenheitspräsentation füllen individuelles und Generationsgedächtnis. Das im Grunde existenzielle Thema in der Emigrantenliteratur der 1980er Jahre findet seine Bestätigung in der Identifizierung des Ich-Erzählers mit dem Gedächtnis-Subjekt, in der Beschreibung der Vergangenheit in quasi-dokumentarischer Skizzen- oder Tagebuchform. Andererseits haben die Diaspora-Autoren traditionelle Metaphern und Symbole des Emigrantenschicksals zur Hand, die das Bild der individuellen oder kollektiven Vergangenheit leicht ins Monumentale steigern und dem Rezipienten diese Lesart nahelegen können. Auch die Verwendung des antagonistischen Modus erscheint natürlich, passt er doch zur gesellschaftlichen Lage des Emigranten. Nationale oder soziale Ansprüche lassen sich leicht in Form einer konfliktreichen und dramatischen Erzählung über die kollektive Geschichte artikulieren. Derselbe gesellschaftliche Kontext – gleichzeitige Teilhabe an mehreren Gemeinschaften – führt allerdings dazu, dass das Recht des heimatlichen historischen Narrativs auf Ausschließlichkeit in Frage gestellt wird. Es gibt zwar nur eine wahre Vergangenheit, das Gedächtnis ist aber immer alternativ, da sich ein und dasselbe unterschiedlich erzählen lässt. In der Emigration, die ja auch die Begegnung mit einer anderen Geschichte bedeutet, kann dieser Umstand nicht ausgeblendet werden. Damit wandelt sich der (erfahrungshaftige, monumentale oder antagonistische) Text des Diaspora-Gedächtnisses zu einem Text über die Schwierigkeiten der Gedächtnisweitergabe. Der Emigrationserzähler, der eine nichtreflexive Rhetorik vorgibt, kann diese nicht bis ans Ende durchhalten.

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Noch ein letztes Beispiel: Der titelgebende »königliche Totengräber« bei Jerzy Łukosz erzählt, er habe vor seiner Tätigkeit in einem Krematorium als Gastarbeiter in Deutschland um politisches Asyl gebeten. Dieser Asylantrag sollte das monumentale und antagonistische Narrativ eines ›Märtyrers aus dem Osten‹ sein und war es auch. »Zacząłem mówiü o zniewolonym kraju. Mówiłem jak SołĪenicyn, Harry Wu i Nelson Mandela razem wziĊci, z Michnikiem na przyczepkĊ. Strzelałem z ciĊĪkiej armaty. UĪyłem metafor, których starczyłoby na cały heroiczny epos, na kilka batalistycznych poematów i przynajmniej jedną elegiĊ. Ale za nic w Ğwiecie, za nic w niebie i piekle nie mogłem przypomnieü sobie nazwiska tego generała, o którym mówił cały Ğwiat. Tego, co wypowiedział wojnĊ społeczeĔstwu i przegnał mnie z kraju. […] Przypomniałem sobie nazwiska całej generalicji Stalina, wszystkich marszałków Napoleona; jak Īywa stanĊła u wrót mej pamiĊci pretoria Aleksandra MacedoĔskiego, po tytułach i po funkcjach. […] PamiĊü wróciła mi dopiero na schodach, ale juĪ było za póĨno.« (Łukosz 1997b: 35) »Ich berichtete von meinem unfreien Land, dem geknebelten und vergewaltigten. Ich sprach wie Solschenizyn, Harry Wu und Nelson Mandela zusammen, vielleicht mit Michnik noch als Zugabe. Ich feuerte Salven aus den schwersten Geschützen ab. Ich gebrauchte Metaphern, die ausgereicht hätten für ein ganzes heroisches Epos, für einige batallistische Gedichte und mindestens eine Elegie. Aber um nichts auf der Welt, um nichts, im Himmel und in der Hölle, konnte ich mich an den Namen des Generals erinnern, von dem damals die ganze Welt sprach. Jenes Generals, der seinem Volk den Krieg erklärt hatte und dem es gelungen war, mich aus dem Lande zu ekeln. Zu verjagen. […] An alle Generäle Stalins konnte ich mich erinnern, an die Marschalle von Napoleon; wie lebendig standen in meinem Gedächtnis die Prätorianer des Alexander von Mazedonien. Mit allen Titeln konnte ich sie aufzählen und ihren Funktionen. […] Die Erinnerung kehrte mir auf der Treppe zurück – doch da war es zu spät.« (Łukosz 2000: 15)

Monumentales Vergangenheitsnarrativ statt konkretem kommunikativem Gedächtnis – esprit d’escalier. Im rhetorischen Rahmen des polnischen kollektiven Gedächtnisses der 1980er Jahre hätte diese Geschichte funktioniert, nicht aber in der deutschen Ausländerbehörde. Der Sprecher des Monologs erzählt aus zeitlicher Perspektive einem privaten Rezipienten, wohl einer Freundin, von seiner Emigration. Ist also das Gedächtnisnarrativ im erfahrungshaftigen Rahmen korrekt und gelungen? Vielleicht handelt es sich ja lediglich um eine persönliche Erklärung, die als wahrscheinliche Inszenierung einer Emigrationserfahrung zu lesen ist? Nein. Auch als existenzielle Erzählung ist das Gedächtnisnarrativ unglücklich, da dem Protagonisten bewusst wird, was das deutsche Krematorium

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für seine Zuhörerin bedeuten kann, deren »Großeltern die Deutschen durch den Schornstein gejagt haben«.11 Das erzählende Subjekt wechselt also zur antagonistischen, antideutschen Gedächtnisrhetorik, allerdings nur zum Schein und auf Zeit, da seine Worte wie schwarzer Humor klingen. »Polen, Griechen und Jugos verbrennen Deutsche. Bald hör ich noch, dass Juden Deutsche durch den Schornstein jagen.« Ist die Grenze der gesellschaftlichen Gedächtnisrhetorik überschritten, lässt sich die Vergangenheit nicht mehr definitiv und überzeugend erzählen. Allenfalls lässt sich mit immer neuen rhetorischen Modi wieder und wieder zur passenden Erzählung ansetzen.

Z URÜCK

ZU DEN

F RAGEN

Für die eingangs formulierten Fragen habe ich keine einfachen Antworten parat. Das migrierende Gedächtnis ist transitiv, konformistisch, könnte man sagen, da es sich der Gedächtnisrhetorik der Diaspora anpasst, und es ist intransitiv, da es für den sprechenden Erzähler in einer anderen Umgebung und in einer veränderten Kommunikationssituation gefühlsmäßig unverständlich, lächerlich oder unglaubwürdig wird, wenn es im monumentalen oder antagonistischen Modus die alten Bedeutungen beibehält. Tatsächlich universal und beiderseits der Grenze vertrauenswürdig erscheint der reflexive Modus der Vergangenheitspräsentation, praktisch teilt er aber gerade einmal mit, dass die verinnerlichten Verständigungsregeln außerhalb ihres Raumes und ihrer Zeit unzureichend und irreführend sind. Und wie ist es um die Identität als Gedächtnisgemeinschaft bestellt? Indem der Emigrant auf Distanz zur Nationalgeschichte und zu kollektiven Vergangenheitsbildern geht, verändert (problematisiert) er potenziell seine Identität; die Neuinterpretation von Tradition und Vergangenheitssymbolen – gemäß der Leitfunktion des kulturellen Gedächtnisses – ist eine wirksame Stütze für die Gedächtnisgemeinschaft. Er könnte sie dagegen zerstören, wenn er das kulturelle Gedächtnis als unwandelbar und unzweifelhaft interpretierte, ohne die Aufforderung zur ständigen Erneuerung zu erkennen. Und die moralische und politische Bedeutung (die Verbindlichkeit) des kollektiven Gedächtnisses? Das in reflexiver Rhetorik gehaltene Vergangenheitsnarrativ in der Diaspora-Literatur kann den Inhalt des kollektiven Gedächtnisses von den damit verbundenen weltanschaulichen Forderungen trennen. Jedoch desillusioniert der reflexive Modus ei-

11 Der Held in Grabarz królów (Der königliche Totengräber), der Leichen routiniert und mit provozierender Lust verbrennt, erinnert an den Vorarbeiter Tadek bei Tadeusz Borowski.

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gentlich dieses Gedächtnis und offenbart sein künstliches, interaktives Wesen, weshalb aus einer etwaigen Trennung zwangsläufig die Verminderung seiner Autorität und seiner politischen Wirkungsmacht resultiert. Das kollektive Gedächtnis ist entweder integral (konjunktiv: fordernd, alternativlos, selektiv und gefühlsbetont) oder es existiert überhaupt nicht. Und was ist mit Individualität und Subjektivität? Wenn das kollektive und das kulturelle Gedächtnis ein gesellschaftliches, intersubjektives Phänomen sind, kann der Erzähler einer DiasporaGeschichte nur im Metanarrativ als ihr Subjekt auftreten. Damit ergibt aus seiner Sicht der Streit um die Deutung der Vergangenheit weniger Sinn als die Diskussion über die Schemata und Sprachen der Erinnerung, da er hier als Subjekt agiert. Und für den Emigranten ist diese Diskussion keineswegs abstrakt. Wenn das Vergangenheitsnarrativ als relativ erkannt wird, was in jedem Gespräch mit dem Anderen, Fremden geschehen kann, erhält der Unterschied in den Regeln des Erinnerns eine Dimension des Realen, Erfahrenen. In der Niederschrift dieses Unterschieds kann der Erzähler Subjekt bleiben, Gedächtnis mit Erfahrung aussöhnen und Gesellschaft und Individuum diesmal auf seine Weise zusammenführen. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler

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Die Kondition der (E)Migranten

Wir und sie, oder von der (Un)möglichkeit, ein ›Einheimischer‹ zu werden Die metaliterarischen Ideen Janusz Rudnickis und Zbigniew KruszyĔskis in ihren Erzählungen von der letzten polnischen Emigrationswelle nach Westeuropa H ANNA G OSK

Wenn Polen aus politischen Gründen ins Ausland reisten, um sich dort niederzulassen, so taten sie dies vor 1989 entweder als Flüchtlinge oder wurden von den Machthabern der Volksrepublik Polen dazu gezwungen (Letzteres betraf etwa Menschen jüdischer Herkunft nach 1968 und einige SolidarnoĞü-Aktivisten nach 1980). Daneben trugen auch wirtschaftliche Faktoren zur Emigration bei. Nach dem Systemwandel gehörte die politische Emigration der Vergangenheit an, doch gab es weiterhin individuelle Entscheidungen, ins Ausland überzusiedeln. In beiden Fällen kam es zu einer Begegnung mit dem Anderen/Fremden, doch bis 1989 stand der auswandernde Pole zugleich im Kontext der Erzählung vom Emigrantenschicksal, die sich in zahlreichen literarischen Überlieferungen, deren Wurzeln bis in die Zeit der Romantik und der Großen Emigration nach dem Aufstand von 1830 zurückreichten, herausgebildet und nach 1945 durch die Erzählungen über die Emigration infolge des Zweiten Weltkriegs und der in Jalta festgeschriebenen Nachkriegsordnung weiter an Kraft gewonnen hatte. Sie stellte eine Version der Großen Erzählung vom polnischen Schicksal1 überhaupt dar,

1

Über das Bild des Polen, den polnischen Charakter und seine historischen wie literarischen Formulierungen ist von Literatur- und Kulturwissenschaftlern sowie Historikern viel geschrieben worden. Beispielshalber seien folgende Arbeiten zum ›polnischen Schicksal‹ erwähnt: BłoĔski 1985; CywiĔski 1985; CzyĪak 1997; Fiut 1995;

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wobei sie sich durch ihren erhebend-pathetischen, Opfer- und Heldenkult kultivierenden und zugleich normativen Charakter auszeichnete – ein erster Entwurf dazu findet sich bei Adam Mickiewicz in KsiĊgi narodu i pielgrzymstwa polskiego (1832; Bücher des polnischen Volkes und des polnischen Pilgertums). Zu beachten ist, dass diese Erzählung ihren Objekten zum einen patriotische Pflichten auferlegt und ein würdiges Verhalten fordert, im Gegenzug aber den Status von Angehörigen eines auserwählten Volkes zuspricht. Sie hatte folglich einerseits kompensatorischen Charakter, indem sie die schwierige Lage der Emigranten erleichterte, die oft schlecht behandelt wurden und durch die Umstände gezwungen waren, erniedrigende Tätigkeiten auszuüben. Andererseits aber stellte sie das Schicksal der Emigranten, ihre Verbindungen mit dem Vaterland und die Pflichten diesem gegenüber in den Mittelpunkt, nicht ihr Verhältnis zu dem Staat, in dem sie sich niedergelassen hatten. Insofern ebnete sie nicht den Weg zur Anpassung, stellte kein Instrument dar, das dazu beigetragen hätte, die Probleme zu lösen, die sich beim Kontakt mit der neuen Gemeinschaft ergaben. Stattdessen war sie eher ein Verbindungsglied zur Vergangenheit in der Heimat, ein Schutzwall gegen das Aufgehen in der fremden Umgebung. Diese Erzählung muss als Artikulation bestimmter Lebenspraktiken und zugleich als ein Sprechen über diese aufgefasst werden (als Rezept für die Wirklichkeit und als deren Beschreibung). In der letzteren Funktion wies sie Merkmale eines diskursiven Textes auf, d.h. bediente sich entsprechender Überredungstechniken und rhetorischer Figuren. Die ›Aktion‹ dieser Botschaft spielte sich auch auf sprachlicher Ebene ab und unterlag Operationen der Dekonstruktion und Rekonstruktion. Der letzten polnischen Emigrationswelle, die in den 1980er Jahren Richtung Westen schwappte, fiel diese Erzählung als Erbe von allen vorhergegangenen Emigrationswellen des 19. und 20. Jahrhunderts zu; für sie handelte es sich folglich um eine Erzählung die ›einiges mitgemacht hatte‹ und ›eine bewegte Vergangenheit‹ besaß, wenn man so sagen darf – sie war vielschichtig und mit historisch motivierten Bedeutungen gesättigt. Ihre einseitige Konzentration auf das Schicksal der Emigranten bei einem wesentlich schwächeren Interesse für die fremde Gemeinschaft hatte, wie schon bemerkt, zur Folge, dass in dieser Erzählung nicht über mögliche Vorteile epistemologischer, axiologischer oder sogar ontologischer Art reflektiert wurde, die sich für die Emigranten aus der Begegnung mit dem Anderen ergeben konnten. Sie betrachtete die Emigranten aus der Perspektive der Gemeinschaft der von

JarzĊbski 1998; Łepkowski 1987; Piskor 1988; Mencwel 1997; CzapliĔski 2000; CzapliĔski 2009.

W IR

UND SIE

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ihnen verlassenen Landsleute, nicht jedoch aus dem Blickwinkel der Gemeinschaft, zu der sie unterwegs waren und für die sie die Anderen darstellten. Das Anderssein/Fremdsein des Subjekts formt bekanntlich das Modell der Wirklichkeitswahrnehmung, wie beispielsweise das Erzählen von Verrückten, Krüppeln, Kranken und Menschen zeigt, die freiwillig oder aus gesellschaftlichem Zwang ein Außenseiterdasein führen. Hier kommen sehr unterschiedliche literarische Helden in Frage: Kinder in der Erwachsenenwelt (wie in der Prosa von Tadeusz Konwicki, Andrzej Kijowski, Henryk Grynberg, Paweł Huelle und Izabela Filipiak), Außenseiter in einer ›gesunden‹ Dorfgemeinschaft (bei Tadeusz Nowak oder Olga Tokarczuk), Dörfler in der Stadt (in den Erzählungen von Julian Kawalec, Tadeusz Nowak und Józef ŁoziĔski) und umgekehrt (bei Edward RedliĔski oder Andrzej Stasiuk), junge Menschen voller Träume unter reifen, verbitterten und zynischen Gestalten (in den Erzählungen von Marek Hłasko), Rebellen unter alten Hasen (bei Edward Stachura), Kranke unter Gesunden (in der Prosa von Jerzy KrzysztoĔ oder Leo Lipski) oder Juden unter Nicht-Juden (bei Grynberg und Krall). In der Literatur über die letzte polnische Emigrationswelle wurde dieser Aspekt der Beziehung zwischen dem Ich und der fremden Gemeinschaft, aber auch zwischen der jeweiligen Gemeinschaft und dem Fremden, von Autoren wie Zbigniew KruszyĔski, Bronisław ĝwiderski oder Janusz Rudnicki ausgenutzt, indem sie die Erzählung über das polnische Emigrantenschicksal um einen zweiten Aspekt bereicherten und die Handlung größtenteils in den Bereich der Sprache verlegten. Dies ist vor dem Hintergrund der aktuellen Faszination für die Erkenntnisse der postmodernen Anthropologie mit ihrer Textualisierung der Wirklichkeit und für die Leistungen der Narrationsforscher zu verstehen, die behaupten, der einzige Zugang zur Wirklichkeit sei die Information über sie. Es sei hier an die bekannte Skizze von Ryszard Nycz (2001: 69-84) erinnert, in der literarische Identitätsmuster des 20. Jahrhunderts besprochen und mit Beispielen aus Werken von Miłosz und Gombrowicz illustriert werden, deren Subjekte Emigranten sind. In der Analyse des genannten Forschers gewinnen diese Werke den Status von universalen Diagnosen, welche die Veränderungsprozesse der Conditio humana generell definieren. Nycz unterscheidet bekanntlich zwei grundsätzliche Reaktionen auf das gegenwärtig verbreitete Gefühl der Unbehaustheit und Orientierungslosigkeit in der Welt. Die eine bezeichnet er als Strategie des Heimischwerdens und illustriert sie mit dem Miłosz-Zitat: »gdziekolwiek jesteĞ, nie zdołasz byü obcy« (ebd. 2011: 513; Wo auch immer du bist, dir gelingt es nicht, fremd zu sein). Dieser gegenüber steht die Strategie der Fremdheit, im Sinne von Gombrowiczs Botschaft: »BądĨ zawsze obcy« (ebd. 1986: 194; Sei immer fremd). Für die erste Haltung sei die Andersheit eine Maske un-

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erkannter Vertrautheit. Das Individuum suche im Verhältnis zum Fremden das Gemeinsame und finde im Lokalen das Universale, wobei es sich dessen bewusst sei, dass das Begrenzende es zugleich heraushebt, dass seine Beschränkungen zugleich zu den Umrissen seiner Identität werden. Die zweite Haltung verhelfe dem ›Fremden‹ zum objektiven Blick, sobald er sich von den ihm durch die Gemeinschaft auferlegten Fesseln befreit habe; der Verzicht auf die konventionelle Situation des Heimischwerdens zwinge ihn zur Anstrengung der Selbstschöpfung. Daher lohne der Versuch, das literarische Porträt des Emigranten so zu lesen, dass es in der Gegenwart einen globalen Sinn gewinnt. Der Ortswechsel und der Umgang mit dem Fremden (die definitionsgemäß zum Emigrantendasein gehören) erweisen sich als dauerhafte, natürliche Merkmale des gegenwärtigen Daseins, und die Entwurzeltheit wird immer mehr in affirmativer Weise als allgemein verbreitete Eigenschaft und positiv empfundene Erfahrung verstanden. Unter anderem solche Sinnschichten sind es, die sich in vielen literarischen Bildern von Emigranten aus der Zeit nach 1989 finden. *** In der polnischen Prosa der letzten Jahrzehnte machen diese Bilder eine Transformation durch, die auf einer endgültigen Abwendung vom romantischen Muster beruht, auf einem Ersetzen des romantischen begrifflich-ästhetischen durch das gegenwärtige diskursive Bewusstsein, dessen Aufgabe nicht so sehr im Aufzeigen künstlerischer Qualitäten von Bildganzheiten, sondern in der diskursiven Neuinterpretation von Wirklichkeit besteht. Anstelle der naheliegenden Sicht der Realität als Stoff sui generis tauchen nun die Begriffe der Information, der Codes, der Systeme auf, höher organisierter Ganzheiten aus Bestandteilen, die auf einer anderen Ebene wiederum selbst Ganzheiten sind; damit wird eine Sphäre sichtbar, die eine Herausforderung für die traditionelle Weltwahrnehmung darstellt und für die es von entscheidender Bedeutung zu sein scheint, dass die Sprache die Rolle eines Subjekts übernimmt. Die Abkehr von den im 19. Jahrhundert verankerten Denkschablonen und Klischeebildern vollzog sich schrittweise. Wenn man diesen Prozess mit literarischen Beispielen illustrieren wollte, die nach zurückgehender begrifflich-bildlicher Darstellungsart und anwachsender Autonomie der Sprache angeordnet sind, dann ließe sich eine Liste mit Werken zur Situation der Emigranten aufstellen, die von folgenden Autoren stammen: Edward RedliĔski, Manuela Gretkowska, Stanisław Esden-Tempski, Janusz Rudnicki sowie Izabela Filipiak, dazu noch Zbigniew KruszyĔski sowie Bronisław ĝwiderski.

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Das Bild des Emigranten, wie es sowohl in bekannten Texten RedliĔskis (TaĔcowały dwa Michały, 1985, Szczuropolacy, 1991, Dolorado, 1994) als auch Gretkowskas (My zdies’ emigranty, 1991), und ebenso bei Rudnicki (Cholerny Ğwiat, 1994) und Filipiak (ĝmierü i spirala, 1992, Niebieska menaĪeria, 1997) auftaucht, erscheint verhältnismäßig traditionell, wenn auch die Verwurzelung in der Tradition unterschiedlich tief ausfällt.

1. Beginnen wir mit Janusz Rudnicki.2 Der 1994 in Buchform veröffentlichte Text Cholerny Ğwiat enthält eine Passage über die deutsch-polnischen Beziehungen am Beispiel eines Flugblatts, das zur betreffenden Zeit in Hamburg von der deutschen Verwaltung in von Polen bewohnten Häusern verteilt wurde (ebd.: 192196). Dieses Flugblatt stellt der Autor auf hintergründige Weise mit Zitaten aus Mickiewiczs KsiĊgi narodu polskiego i pielgrzymstwa polskiego zusammen und führt so eine ironische Konfrontation zweier Erzählungen herbei, die stereotyp operieren, doch ein bestimmtes Verständnis von Fremdheit enthalten, das jeweils unterschiedliche Gefühle vermittelt – in der polnischen Variante aus dem 19. Jahrhundert: Erhabenheit, in der deutschen aus dem 20. Jahrhundert: Erniedrigung. »[...] Prosimy pranie w mieszkaniu nie gotowac i nie suszyc. Meble wilgotnieja przez to i pewnym czasie osiada sie grzyb. Z tego samego powodu·[…] garnki przykrywac. (Obok dwa rysunki: garnek, w którym koszula – przekreĞlone, i wtyczka, z boku płomieĔ.) A jeĞli ktoĞ z Was powie: Oto jesteĞmy pielgrzymowie bez broni, a jakĪe mamy odmieniaü porządek w paĔstwach wielkich i potĊĪnych? ZaprawdĊ powiadam Wam: nie Wy macie uczyü siĊ cywilizacji od cudzoziemców, ale macie uczyü ich prawdziwej cywilizacji chrzeĞcijaĔskiej. Duzo domow maja cienkie sciany, dlatego prosimy wziasc wzglad na sasiadow i radio, telewizor nie za glosno puszczac. (Telewizor narysowany, z którego płyną sobie nutki.) PamiĊtajcie, Īe jesteĞcie wpoĞród cudzoziemców, jako trzoda wĞród wilków i jako obóz w kraju nieprzyjaciela, a bĊdzie miĊdzy Wami zgoda [...].« (Rudnicki 1994: 193)

2

Rudnicki 1994. In den Zitaten aus diesem Werk wurden die Hervorhebungen und die Orthographie des Originals beibehalten.

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[…] Bitte keine Wasche in der Wohnung kochen oder zum Trocknen aufhangen. Dadurch werden die Mobel feucht und nach einiger Zeit bildet sich Schimmel. Aus demselben Grund bitte auch die Deckel auf den Topfen lassen. (Zwei Zeichnungen. Durchgestrichen: ein Topf, in dem sich ein Hemd befindet; daneben: eine Steckdose mit Flamme.) Und so einer unter Euch spricht: und siehe da, wir sind Pilger ohne Waffen, wie können wir verändern die Ordnung der Dinge in den großen und mächtigen Staaten? Wahrlich, ich sage Euch: Ihr sollt die Zivilisation nicht von den Fremden lernen, sondern Ihr sollt diese lehren die wahre christliche Zivilisation. Viel Hauser haben dunne Wande, nehmen Sie daher bitte auf die Nachbarn Rucksicht und machen Sie Radio und Fernseher nicht zu laut. (Zeichnung eines Fernsehers, aus dem Noten fliegen.) Denket Euch, dass Ihr unter den Fremden seid wie die Herde unter den Wölfen und wie das Lager im feindlichen Lande, und es wird unter Euch Eintracht sein […].« (Rudnicki 1994: 193, Herv. i.O.)3

Der in unbeholfenem Polnisch verfasste Text des deutschen Flugblatts enthält Regeln angemessenen Verhaltens in der Gemeinschaft. Die ganze Botschaft ist von der Annahme diktiert, dass ihren primitiven Adressaten als Fremden (und Schlechteren) die entsprechenden Regeln unbekannt sein müssen. Der Protagonist, Erzähler und Autor von Cholerny Ğwiat protestiert durch die spezielle Textanordnung gegen den ihm von der deutschen Umgebung aufgezwungenen Status des Anderen/Fremden/Schlechteren. Indem er so Beweise dafür vorbringt, dass er würdig ist, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, nimmt er an einer Art Aufführung teil. Wer aber Teil einer Aufführung ist, so Zygmunt Bauman, der wird zu einem Mitspieler.4 Der Fremde ist sich seiner Rolle bewusst, folglich tritt er vor der Gesellschaft als eine Bühnenperson auf, die ständig beobachtet wird. Der Held und Erzähler von Rudnickis Werk hält die Reaktion der deutschen Umgebung, die ihn als Fremden betrachtet, für falsch, distanziert sich mittels Ironie von ihr und erringt somit gewissermaßen ein Übergewicht. Er nutzt seine Fremdheit zur ›Dekonstruktion‹ der Welt der ihn umgebenden Gesellschaft mit ihren Ordnungen und Wertehierarchien. Aus dieser Perspektive erscheint die deutsche Umgebung als besessen von Ordnungswahn und unfähig zu einem offenen, vorurteilslosen Denken, so dass ihr Anspruch auf Überlegenheit die Basis verliert. In der Erzählung wird die Hauptrolle von kulturellen Mustern gespielt, die zusätzlich von ei-

3

Mickiewicz-Zitate nach Mickiewicz 1833: 40, 48, 55; Orthografie leicht modifiziert

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Bauman 2009: 253-260.

[Anm. d. Übers.].

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ner literarischen Tradition (hier: Mickiewicz) verstärkt werden; Letztere dient als wertende Schablone, die fertige Interpretationen des Verhältnisses von polnischem Ich und Anderen suggeriert. Die Zusammenstellung hat zur Folge, dass letztlich beide Gesellschaften – die deutsche wie die polnische – dekonstruiert werden.

2. Zbigniew KruszyĔski und Bronisław ĝwiderski wiederum machen praktischen Gebrauch von der Annahme, dass in der postindustriellen Gegenwart »Zeichen nicht mehr imitiert, sondern auf der Basis eines kulturellen Codes vervielfältigt werden.« (Jamroziakowa 1994: 115-116) Die Figur des literarischen Helden ist in ihren Werken ein bewusst eingesetztes Element des literarischen Codes, eine sprachliche Mitteilung, nicht so sehr ein (notwendigerweise vermittelter) Bezug auf ein reales Seiendes, auf ein Fundament des kulturellen Musters. Der Emigrant als literarischer Protagonist, jemand also, der die Situation des Menschen von heute symbolisiert, wird in der Prosa von Autoren wie KruszyĔski und ĝwiderski als Ganzheit »dritter Stufe« konstruiert, als Derivat konventioneller Bilder ähnlicher Gestalten, die in kulturellen, u.a. literarischen, Botschaften auftauchen und allgemein zu ebenso naheliegenden wie unscharfen, da oft ganz banalen Assoziationen Anlass geben. Im Bewusstsein eines solchen Helden tauchen »Aufführungsschichten« auf, die aus Zitaten, Entleihungen, Fragmenten, Kopien, sich überlagernden Bildern und Spielen mit Sprachstrukturen, etwa mit Redewendungen, bestehen. Auf diese Weise konstruiert Zbigniew KruszyĔski den Protagonisten seines Romans Schwedenkräuter (1995). Diese Figur erlebt schon im ersten Satz des Werkes eine quasi-romantische Transformation, aus der sie als Namenlos Nirgendwoher hervorgeht (womit die Verwandlung von Mickiewiczs Helden Gustaw in Konrad parodiert und umgekehrt wird): »Nazywam siĊ... I tak nie wymówicie – czytamy. – Zjadłem zresztą swój paszport, smakował urzĊdowo. [...] UchodĨstwo znikąd jest ostatnio tak praktykowane, Īe wkrótce bĊdziecie musieli zatrudniü tłumaczy niemoty.« (KruszyĔski 1995: 5) [Ich heiße… Das könnt ihr sowieso nicht aussprechen. Außerdem habe ich meinen Pass gegessen, hat amtlich geschmeckt. […] Die Emigration von nirgendwoher ist in letzter Zeit so häufig geworden, dass ihr bald Stumme als Übersetzer anstellen müsst.]

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In der Schlüsselszene des Romans wiederum wird auf das in der Romantik geprägte, gegen die Anderen gerichtete Ethos angespielt, wonach man sich seinen Landsleuten gegenüber treu und solidarisch verhalten soll; auch die ebenso romantische Obsession mit dem Verrat wird berührt. »Das stimmt nicht, ich habe nichts gesagt, was sie nicht vorher schon gewusst hätten«, rechtfertigt sich der Held vor sich selbst oder einer unbestimmten Zuhörergruppe, weil er als Übersetzer von der Polizei zum Verhör eines anderen Polen herbeigerufen wurde. »Ich weiß nicht, früher oder später wäre ihm das sowieso passiert, man kann dem Schicksal nicht entfliehen«, schließt er fatalistisch. (Ebd.: 157) Sowohl in KruszyĔskis Roman als auch in ĝwiderskis Słowa obcego (1998; Die Worte eines Fremden) ist die Figur des Emigranten konstruiert auf der Basis eines Diskurses, der den gerade eben über diesen Emigranten geschriebenen Text interpretiert, eines Diskurses, in dem es um die Fragen geht, ob ein bestimmtes Bild als stichhaltig gelten kann und wie es kulturell konstituiert ist. Neben ihrer Diskursivität zeichnet sich die neue Darstellung von Emigranten als literarische Helden durch ein Hervorheben des kulturellen und literarischen Kontextes sowie der Problematik von Sprache, Bedeutung und Signifikation aus. Die literarischen Gestalten der beiden Autoren arbeiten professionell mit Sprache, sie sind Übersetzer oder Polnischlektoren an ausländischen Universitäten und haben ein Bewusstsein dafür, dass die Situation des Emigranten ein Text ist, den Zitate aus vielen Quellen konstituieren, ein Text, über den Stereotype, Posieren, Künstlichkeit sowie das Aneignen, Wiederholen und Nachahmen anderer Kulturinhalte entscheiden. Die Wirklichkeit eines solchen Textes erscheint dank ihrer Bildsprache und Semantik vervielfältigt, denn sie wird nicht durch einen einfachen Bezug auf die Materie der Realität hergestellt, sondern durch sylleptische Bilder und Sprachstrukturen5, durch höher strukturierte Ganzheiten also. Michel Riffaterre (1980) versteht die Syllepse als literarische Figur, die gleichzeitig auf zwei Weisen verstanden wird, indem man ihre kontextuelle und interkontextuelle Bedeutung erfasst, ihre Bedeutung und ihren Sinn. So versu-

5

Mit »sylleptisch« ist gemeint, dass sie dem gezielten Aufdecken der Bedeutungsvielfalt eines Wortes dienen. Vgl. GłowiĔski et al. 1976: 432. Nycz schreibt: »Die Trope der Syllepse beruht darauf, dass ein und derselbe Ausdruck homonym, d.h. gleichzeitig auf zwei verschiedene Weisen aufgefasst wird: wörtlich und in einem übertragenen, figurativen Sinne.« (Nycz 1997: 107: »Syllepsa jest tropem polegającym na rozumieniu tego samego wyrazu homonimicznie, na dwa odmienne sposoby równoczeĞnie, z których jedno jest znaczeniem dosłownym, literalnym, drugie zaĞ – przenoĞnym, figuralnym.«)

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chen also der namenlose Held KruszyĔskis und ĝwiderskis Protagonist, der mit der Initiale »B« bezeichnet wird, offen als Wesen zu existieren, die zugleich auf Empirie und Text verweisen, wobei die Empirie eine mehr oder weniger verborgene (auto)biografische Dimension besitzt, die von der Lebenserfahrung des Textverfassers bestätigt wird. Auf diese Weise gewinnen bei der literarischen Konstruktion von Emigranten diejenigen ihrer Züge größere Bedeutung, welche die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Ebene der sprachlichen Aussage lenken, während die Komponenten des kulturellen Musters an Gewicht verlieren.

3. Die mir hier als Beispiel dienenden Emigrantenfiguren in Werken wie Zbigniew KruszyĔskis Schwedenkräuter und Janusz Rudnickis Erzählung »Dziennik pokładowy mojej skołowanej głowy« (Bordtagebuch meines geräderten Kopfes) aus dem Band Cholerny Ğwiat bestätigen, dass die Zeichnung einer Gestalt, die als Ich in Beziehung steht zu dem Anderen/Fremden, dabei hilft, ein »schwaches Bewusstsein«6 sichtbar zu machen – das heißt ein solches, das für das analysierte System in der einen oder anderen Hinsicht peripher ist – und auf diese Weise bisher verborgene Bedeutungen ebendieses Systems zu erhellen. Wenn es in einer vertrauten Welt lebt, wählt das Ich aus ihren vielen Bedeutungen nur bestimmte aus, was ein Verbergen, Auslöschen oder Unterdrücken der übrigen Bedeutungen zur Folge hat. Das Auftauchen des Anderen/Fremden holt sie hervor und macht sie sichtbar, dekonstruiert also gewissermaßen das bestehende System. Jacques Derrida hebt hervor, dass die Dekonstruktion nicht auf dem Übergang von einer Bedeutung zur anderen beruht, sondern auf dem Sturz und dem Verschieben einer begrifflichen (aber auch nichtbegrifflichen) Ordnung, mit der jene in Verbindung steht. (Ebd.: 25) Der Andere/Fremde setze Mechanismen der Kritik in Gang, er mobilisiere eine Gesellschaft zur Suche nach neuen Lösungen, um seine Andersheit/Fremdheit irgendwie einzuebnen oder sie der bestehenden Ordnung als neuen Bestandteil einzuverleiben und diese so zu stabilisieren. In dieser neuen Ordnung komme es zu einer Zerschlagung etablierter Sinne, gleichzeitig finde ein dauerndes Ergänzen von Bedeutungen statt. In der von der Emigration der 1980er Jahre erzählenden Prosa löst die Konfrontation der literarischen Figur mit dem Anderen/Fremden – sei es im ethni-

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Ein von Derrida bei der dekonstruktionischen Textanalyse verwendeter Begriff (vgl. Derrida 1993).

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schen, ideologischen (wie bei Anhängern und Gegnern eines bestimmten politischen Systems) oder kulturellen Sinne (Einheimische und Emigranten) – in dieser Figur einen Impuls zur Selbstdefinierung und Selbstschöpfung aus und macht ihr zugleich die Macht identitätsstiftender Gruppenbindungen bewusst, welche in den Denkstereotypen und konventionellen literarischen Schablonen aufgehoben sind, die gewöhnlich zur Formulierung dieser Problematik dienen; all dies führt zur spezifischen Vertextung dieser Konfrontation. Nur dass der Dialog des Ichs mit dem Anderen/Fremden in Werken, die der Emigrationsproblematik gewidmet sind, kein partnerschaftlicher Dialog ist. Vielmehr zeigt er Züge eines asymmetrischen, eines Gewaltdialogs, in dem der Fremde meist auf verlorenem Posten stehen müsste, wenn wir Gemeinschaft und Vertrautheit traditionsgemäß als Werte voraussetzen. Denn »fremd zu sein bedeutet zur Bestätigung seiner eigenen Zugehörigkeit aufgerufen zu sein und zugleich keine Möglichkeit zu besitzen, diese zu bestätigen. Und zwar nicht deswegen, weil man nicht zur Gemeinschaft gehört, sondern weil man die Zugehörigkeit nicht bestätigen kann. Es gibt keine Sprache, in der die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft sich bestätigen ließe, denn kein Ritual zur Einführung in die Gemeinschaft lässt sich beschreiben, und jedes Ritual, das sich auf der Grundlage der Gemeinschaft beschreiben lässt, ist bereits nicht mehr aktuell – man kann nur das beschreiben, woran man nicht mehr teilnimmt.« (Pajor 1999: 171)7 Daher erfahren wir aus Werken, in denen die Emigrationsproblematik berührt wird – obwohl sie in den letzten Jahrzehnten ein tieferes Bewusstsein vom diskursiven Charakter dieser Problematik entwickelt haben – immer noch etwas mehr über die Heimatgesellschaft (zu der man nicht mehr gehört) als über die neue, für die man ein Fremder ist, was eine schöne Illustration der anthropologischen Erkenntnis darstellt, dass jede Beschreibung eher den Beschreibenden als das Beschriebene beschreibt. In der Sicht dieser Werke wird der Emigrant als Protagonist entweder zu einem Schauspieler, der eine eingeübte Rolle spielt oder zu einem Outsider-Beobachter (wie bei KruszyĔski). Er ist weder ein Fremder noch ein Einheimischer, sondern jemand anders, dem wertenden Blick der Mit-

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»byü obcym to byü powołanym do potwierdzania własnej przynaleĪnoĞci i jednoczeĞnie pozbawionym moĪliwoĞci dokonania tego potwierdzenia. I to nie dlatego, Īe siĊ nie przynaleĪy do wspólnoty, ale poniewaĪ nie moĪna tego potwierdziü. Nie ma jĊzyka, którym dałoby siĊ potwierdziü przynaleĪnoĞü do wspólnoty, bo Īaden rytuał wprowadzenia do wspólnoty nie moĪe byü opisany, a kaĪdy rytuał, który da siĊ opisaü na gruncie wspólnoty, jest juĪ nieaktualny – moĪna opisaü tylko to, w czym siĊ juĪ nie uczestniczy.«

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glieder der Gemeinschaft ausgesetzt, die er verlassen hat, oder der neuen, deren Mitgliedschaft er anstrebt.8 Aus dem Polnischen von Sven Sellmer

L ITERATUR Primärtexte: KruszyĔski, Zbigniew (1995): Schwedenkräuter, Kraków. Rudnicki, Janusz (1994): Cholerny Ğwiat, Wrocław. ĝwiderski, Bronisław (1998): Słowa obcego, Kraków. Sekundärliteratur: Bauman, Zygmunt (2009): Postmoderne Ethik, Hamburg. BłoĔski, Jan (1985): Kilka myĞli, co nie nowe, Kraków. CywiĔski, Bogdan (1985): Rodowody niepokornych, ParyĪ. CzapliĔski, Przemysław (2000): »Polak naszych czasów«. In: Gazeta Wyborcza v. 29./30. Juli. CzapliĔski, Przemysław (2009): Polska do wymiany. PóĨna nowoczesnoĞü i nasze wielkie narracje, Warszawa.

8

In diesem Schlussakzent lasse ich mich von Ausführungen Pajors inspirieren. Diese Forscherin betont das Paradoxe der beschriebenen Relation, indem sie schreibt: »Wenn man zu einer Gemeinschaft gehört, muss man nicht nachweisen, dass man die Aufnahmebedingungen erfüllt, aber insofern man nachweist, dass man zur Gemeinschaft gehört, erfüllt man nicht die Aufnahmebedingungen […] nur ein Fremder kann in die Gemeinschaft aufgenommen werden. Zugleich aber beruht das Dasein des Fremden darauf, nicht in die Gemeinschaft aufgenommen werden zu können, denn es zeigt sich, dass es so jemanden wie einen Fremden nicht geben kann – um ihn in die Gemeinschaft aufnehmen zu können, müsste er aufhören, ein Fremder zu sein (nur ein Fremder kann nicht in die Gemeinschaft aufgenommen werden).« (Ebd.: 172-173: »jeĞli jest siĊ włączonym do wspólnoty, to nie trzeba wykazywaü, Īe spełnia siĊ warunki włączenia, ale o ile wykazuje siĊ, Īe naleĪy siĊ do wspólnoty, o tyle nie spełnia siĊ warunków, na podstawie których moĪna byü włączonym do wspólnoty [...] tylko ktoĞ obcy moĪe byü włączony do wspólnoty. A zarazem istnienie obcego jest niemoĪliwoĞcią włączenia go do wspólnoty, poniewaĪ ujawnia siĊ, Īe ktoĞ taki jak obcy istnieü nie moĪe, bo, Īeby moĪna go było włączyü do wspólnoty musi przestaü byü obcym (tylko ktoĞ obcy nie moĪe byü włączony do wspólnoty).«)

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CzyĪak, Agnieszka (1997): ĩyciorysy polskie 1944-1989, PoznaĔ. Derrida, Jacques (1993): Pismo filozofii, Kraków. Filipiak, Izabela (1992): ĝmierü i spirala, Wrocław. Filipiak, Izabela (1997): Niebieska menaĪeria, Warszawa. Fiut, Aleksander (1995): Pytanie o toĪsamoĞü, Kraków. GłowiĔski, Michał/Kostkiewiczowa, Teresa/OkopieĔ-SławiĔska, Aleksandra et al. (Hg.) (1976): Słownik terminów literackich, Wrocław/Warszawa/Kraków/GdaĔsk. Gombrowicz, Witold (1986): Dzieła zebrane, Bd. 7: Dziennik, Kraków. Gretkowska, Manuela (1991): My zdies’ emigranty, Kraków. Jamroziakowa, Anna (1994): Obraz i metanarracja. Szkice o postmodernistycznym obrazowaniu, Warszawa. JarzĊbski, Jerzy (1998): »Samopoczucie polskie«. In: ders., PoĪegnanie z emigracją. O powojennej prozie polskiej, Kraków, 120-139. Łepkowski, Tadeusz (1987): RozwaĪania o losach polskich, Londyn. Mencwel, Andrzej (1997): PrzedwioĞnie czy potop. Studium postaw polskich w XX wieku, Warszawa. Mickiewicz, Adam (1833): Die Bücher des Polnischen Volkes und der Polnischen Pilgerschaft, ohne Ort. Miłosz, Czesław (2011): Wiersze wszystkie, Kraków. Nycz, Ryszard (1997): JĊzyk modernizmu. Prolegomena historycznoliterackie, Wrocław. Nycz, Ryszard (2001): »KaĪdy z nas jest przybyszem. Wzory toĪsamoĞci w literaturze polskiej XX w«. In: ders., Literatura jako trop rzeczywistoĞci, Kraków, 69-84. Pajor, Magdalena (1999): »Przemoc jako kategoria filozoficzno-artystyczna«. In: Sztuka i Filozofia 17, 163-174. Piskor, Stanisław (1988): O toĪsamoĞci polskiej, Kraków. RedliĔski, Edward (1985): TaĔcowały dwa Michały, Warszawa. RedliĔski, Edward (1991): Szczuropolacy, Warszawa. RedliĔski, Edward (1994): Dolorado, Warszawa. Rudnicki, Jerzy (1994): Cholerny Ğwiat, Wrocław. Riffaterre, Michael (1980): »Syllepsis«. In: Critical Inguiry 6, 625-638.

Emigrantentum und Nomadismus in Izabela Filipiaks Niebieska menaĪeria (Blaue Menagerie) M ARTA C UBER

U NVERFÜHRBAR : V IRGINIA W OOLFS O RLANDO ALS B IBEL DES WEIBLICHEN N OMADISMUS Im schönsten Liebesbrief, den je eine Frau einer Frau schrieb – und den die westeuropäische Literatur nur als Roman zur Kenntnis nahm1 –, findet sich eine Anekdote, die auf einen Nomadismus verweist, der in den Biografien fast aller Autorinnen anzutreffen ist. Virginia Woolf reduziert ihren allerdings auf das Motiv der irrigen Suche nach einem Manuskript, wobei sie vertraulich feststellt, das Landstreichertum einer kreativen Frau müsse unweigerlich mit dem Schreiben verbunden sein: »Sie [Orlanda – M.C.] ging ohne nachzudenken weiter, eine Straße hinauf, eine andere hinunter, vorbei an riesigen Fenstern voller Handtaschen und Spiegeln und Morgenröcken und Blumen und Angelruten, und Picknickkörben; während Stoffe aller Schattierungen und Muster, aller Dicke und Dünne, über und über gebauscht und gewunden und geschlungen waren. Manchmal kam sie durch Straßen mit gesetzten Bürgerhäusern, die nüchtern und sachlich mit ›eins‹, ›zwei‹, ›drei‹ nummeriert waren, und so weiter, bis hinauf in die zwei- oder dreihunderter, jedes eine Kopie des anderen, mit zwei Säulen und sechs Stufen und einem Paar ordentlich zurückgezogener Vorhänge und dem Mittagessen

1

So Vita Sackville-Wests Sohn Nigel Johnson zur Adressatin der Widmung des Romans.

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für die Familie auf dem Tisch und einem Papagei, der aus einem Fenster, und einem Bediensteten, der aus einem anderen sah, bis ihr der Kopf schwindelte vor lauter Monotonie. Dann kam sie an große, offene Plätze mit schwarzen, schimmernden, bis obenhin zugeknöpften Statuen von dicken Männern in der Mitte und sich bäumenden Schlachtrossen und aufsteigenden Säulen und fallenden Fontänen und flatternden Tauben. So ging und ging sie über Trottoirs zwischen Häusern, bis sie sehr hungrig war und etwas, das über ihrem Herzen flatterte, ihr den Vorwurf machte, es völlig vergessen zu haben. Es war ihr Manuskript, ›Der Eich-Baum‹«. (Woolf 1992: 194-195)

Es ist schwer zu sagen, ob die Autorin des Manuskripts, verwirrt von der Hyperaktivität des Raums, noch ein »in der Vielzahl, in dem Wogenden, in der Bewegung, in dem Flüchtigen und Unendlichen« (Baudelaire 1989: 222)2 Aufenthalt nehmender Flaneur war, oder ob sie sich eher mit einer modernistischen Nomadin identifizierte, etwa mit der zurückgezogen lebenden russischen Prinzessin, die in Izabela Filipiaks Niebieska menaĪeria (Blaue Menagerie) kompromisslos erklärt: »[…] ich bin die, die betrachtet.« (»[…] jestem tą, która siĊ przygląda«, Filipiak 1997: 1363). Ist Orlanda mit ihrem wie bei einem Schlachtross oder einer Taube flatternden Herzen vielleicht aber auch die Ruhigstellung des Tieres, das »[…] nur schaut und überhaupt nicht zeigt, ob es etwas will« (»tylko patrzy, zupełnie nie pokazuje, czy czegoĞ chce«, ebd.: 28)? Oder, anders betrachtet, eine pausenlos angespannte, postmoderne Reisende mit einer Rückenlinie, die ebenso schön und veränderlich ist wie die eines Kampfhundes oder einer widerspenstigen Katze? Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass sie sich nicht von der – in Bezug auf Baudelaire verspäteten – Figur des aristokratischen Streuners und der durch den Stadtraum streifenden Frau verführen lässt. Die »Pracht des Lebens in den Hauptstädten der zivilisierten Welt […], der Glanz des militärischen, des eleganten, des galanten Lebens« (Baudelaire 1989: 239) verlocken Orlanda nicht, denn sie und ihre jüngeren Schwestern pflegen ihre Inkognitos und ihre Unabhängigkeit hartnäckig zu bewahren. Sie sind eingenommen von der Bewegung um sie herum; sie bleiben wandelbar, austauschbar und involviert in den grundlegenden

2

In Wirklichkeit sind die Protagonistinnen und Erzählerinnen in Woolfs und Filipiaks Prosa aus diversen anderen Gründen nicht imstande, die Figur des ›flâneurs‹ zu evozieren. Der wichtigste liegt wohl im Verhältnis der Verkörperung der angesprochenen Figur zur Weiblichkeit, das die Gestalt maskierter Abneigung und einer suspekten, restriktiven Faszination annimmt. (Vgl. Hohmann 2000)

3

Alle Zitate stammen aus dieser Ausgabe und werden im Folgenden nur mit der Seitenzahl zitiert.

E MIGRANTENTUM

UND

N OMADISMUS IN I ZABELA F ILIPIAKS N IEBIESKA M ENAĩERIA

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Wandel, den die Postmoderne für die Wirklichkeit bedeutet – die Beschleunigung der Geschwindigkeit, mit der sich die Gesellschaft formiert (oder auch nicht formiert). Sie vermögen auch ihrem Entschluss zu emotionaler Undurchdringlichkeit treu zu bleiben. In der Gegenüberstellung der Texte von Baudelaire und Woolf zeigt sich daher eine grundlegende Differenz zwischen männlicher Berechnung und weiblichem Überdruss am Raum, der mit der Suche nach einer Verankerung im Schreiben einhergeht. Ian Chambers prägt in seiner Arbeit Border Dialogues: journeys in postmodernity dafür das paronomastische Begriffspaar »flâneur – plâneur« und erklärt, die Bedingungen weiblicher Mobilität verlagerten sich von nun an auf das Feld der neusten Technologien (die postmoderne Orlanda bewege sich nicht mehr per pedes fort, sondern im Auto oder Flugzeug; vgl. Chambers 1990). Virginia Woolfs Roman, um den sich so viele Missverständnisse ranken, allen voran das Missverständnis bezüglich des Geschlechts seines Protagonisten4, könnte die Funktion einer Bibel des weiblichen Nomadismus erfüllen: Er vermochte es, sich nicht nur auf die Präsentation einer aus sechs oder sieben Existenzen zusammengesetzten Biografie zu beschränken5, sondern auch die sich wandelnde Dynamik der Moderne zu erfassen und den jahrhundertelangen Prozess der Modernisierung von Fortbewegungstechnologien zu dokumentieren. In einer der ersten Szenen des Romans sehen wir Orlando auf Schlittschuhen. Die in ihrem Automobil durch London jagende Orlanda aus der letzten Szene bot Woolf hingegen Gelegenheit, dem Leser die Problematik der fragmentarisierten, nomadischen Identität zu schildern: »[…] und tatsächlich ähnelt der Prozeß, London im Automobil zu verlassen, so sehr dem kleingehackt Werden der Identität, das der Bewußtlosigkeit vorausgeht, und vielleicht dem Tod selbst, daß es eine offene Frage ist, in welchem Sinn sich von Orlando sagen läßt, sie habe im Augenblick der Gegenwart existiert.« (Woolf 1992: 216)

4

»Orlando […] ist der Vorschlag einer Ästhetik und einer Erotik, in der das Geschlecht wandelbar, austauschbar, trügerisch und gerade dadurch anziehend wird« (»Orlando […] to propozycja takiej estetyki i takiej erotyki, w której płeü bĊdzie zmienna, zamienna, myląca, i właĞnie przez to pociągająca«; Graff 2001: 204).

5

Woolf schrieb, dass »[…] eine Biographie schon als vollständig gilt, wenn sie nur sechs oder sieben Ichs berücksichtigt, wohingegen ein Mensch gut und gerne ebenso viele Tausend haben mag«. (Woolf 1992: 217) Damit verspottet sie natürlich die Beschränkungen der patriarchalischen Literatur des persönlichen Dokuments.

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In der Liebeserklärung, die an Vita Sackville-West adressiert und in eine meisterhaft unleserliche autobiografische Metapher verpackt ist, gelang es der Autorin der Drei Guineen also, die gesamte Symbolik des späteren Frauennomadismus unterzubringen, wobei sie das weitgefächerte Bedeutungsspektrum der Technologie in den Vordergrund rückte. Das Auto, das Dampfschiff und das Flugzeug als Figuren weiblicher Mobilität belebten schließlich auch das psychologische Vokabular zur Beschreibung von Identität, indem sie mit dem Klischee der Undarstellbarkeit des weiblichen Subjekts in mechanisierten Kategorien brach. (Braidotti 1994)

U NBEZEICHENBAR : Z WISCHEN T RANS - GENDER UND C ROSS - OVER G ENRE Fast alle Geschichten in Niebieska menaĪeria werden von einem weiblichen Subjekt dominiert, das in dieser Prosa die führende Rolle spielt. Das heißt aber keineswegs, dass das ihm mitunter zur Seite gestellte männliche Subjekt, das von sich sagt: »[…] ich bog in die andere Richtung ab und fand mich in einem Tierverschlag wieder« (»ja skrĊciłem w drugą stronĊ i znalazłem siĊ w szopie dla zwierząt«, Filipiak 1997: 27), eine minderwertige Funktion erfüllt. Filipiak wollte, wie BłaĪej Warkocki schrieb, eine »Lesbierin ›außerhalb der Rolle als Lesbierin‹« zeigen und im Zusammenhang damit einen Text konstruieren, der auch jenseits von Gender-Kategorien lesbar ist. (Vgl. Warkocki 2007: 135-179) Niebieska menaĪeria entstand somit als bewusste Repetition von Virginia Woolfs Roman Orlando, dem es gelang, aus grammatischer Uneindeutigkeit mehr zu machen als nur eine interpretatorische Herausforderung. Indem sie die Problematik hauptsächlich auf das Moment der Transgression sowie auf »den Versuch, die Geschlechterdualität zu überwinden und eine flexible erotische Identität zu entwickeln« (»próba przekroczenia dwoistoĞci płci i zbudowania ruchomej toĪsamoĞci erotycznej«, Graff 2001: 204), reduziert, verweist Agnieszka Graff zufällig auf einen noch wichtigeren Aspekt – die Suspendierung der traditionellen Geschlechtsfunktionen in Filipiaks Prosa, was diese nicht nur gegen Versuche immunisiert, die Grammatik in allzu eindeutigen biologischen Kategorien zu mobilisieren, sondern sie auch komplett von allen anderen Operationen an Begriffen mit einer geschlossenen Semantik abrückt. Mit anderen Worten steht der Nomadismus in Niebieska menaĪeria einer Charakterisierung ihres Subjekts als bisexuell im Weg. Und er zwang Filipiak dazu, ein gesundes Verhältnis zu der Erzählung von der geheimen Beziehung zwischen Vita Sackville-West und Violet Trefusis zu entwickeln. Dadurch hellte Niebieska menaĪeria seinen autobio-

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grafischen Plot auf (und machte ihn zu einem zentralen Teil des Buches) und bewegte sich in Richtung einer Verbindung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Elementen, ohne diese terminologisch voneinander abgrenzen zu müssen. Woolfs Roman aus dem Jahr 1928 errang also nicht nur den Status des literarischen Flaggschiffs des europäischen Lesbianismus. Als weitaus interessanter (und inspirierender für Autorinnen wie Filipiak) erwiesen sich ihre transgressiven Ambitionen in gattungsmäßiger Hinsicht, die Orlando zu einem Buch über Grenzüberschreitungen sowohl in Gender- als auch in Genrefragen machen. Das heißt aber nicht, dass die Protagonistin von Filipiaks Reiseerzählungen sich weniger als Touristin und Nomadin denn als Einheimische und Siedlerin fühlen würde. Die Emigration bleibt im Roman eine Präfiguration der Migration, und diese wiederum geht dem Nomadismus als Phänomen einer Identität voraus, die ihre Energie aus dem ständigen In-Bewegung-Sein schöpft und von einem Ort zum anderen versetzt und verschoben wird. Nicht von ungefähr lese ich Izabela Filipiaks 1997 erschienenen Roman zusammen mit Rosi Braidottis drei Jahre älterem Buch über nomadische Subjekte. Denn meiner Meinung nach könnte der Satz der italienischen Philosophin »Dieses Buch beschreibt mehr als eine intellektuelle Reise; es reflektiert auch die existenzielle Situation eines multikulturellen Einzelnen, eines Migranten, der zum Nomaden geworden ist« (Braidotti 1994: 1) auch aus einem Kommentator von Niebieska menaĪeria stammen. Dort beschriebe er die Wandelbarkeit der Rollen der Romanheldin, aus der nichts hervorgeht als eine weitere Version der berühmten Feststellung, »der Träumende ist dort, wo er nicht ist, und er ist nicht da, wo er ist« (»marzący jest tam, gdzie go nie ma, a nie ma go tu, gdzie jest«; vgl. Janion 1991: 30), die bei der Autorin von KsiĊga Em so klingt: »Das, was ich ersehne, ist das, wovor ich fliehe« (»To, czego pragnĊ, jest tym, przed czym uciekam«, Filipiak 1997: 226).

U NEINDEUTIGKEITEN : D IE R EDE DER M ETAPHERN W IE DIE S PRACHE DAS S UBJEKT INKORPORIERT

ODER

Eine Sprache jenseits der Metapher wäre nicht zu ertragen. Dafür ist die Metapher nicht unbedingt immer der Anker, der das Subjekt am Grund festmacht und das Wort an der Bedeutung; sie setzt nicht so sehr fest, sie setzt aus und verurteilt zur Verbannung. Wenn man bedenkt, dass die Metapher nicht nur fähig ist, Bedeutungen zu separieren, sondern auch auf die Separation zu verwiesen und die spezifische kulturelle Bedeutung topischer Figuren wie Migrantin, Exilantin und Nomadin – die letztlich auch für feministische Studien und die Definition

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des weiblichen Subjekts kanonisch sind – zu präzisieren, ihre subversive Kraft gleichzeitig aber jeder Vereindeutigung entgegenwirkt, dann wird klar, dass Izabela Filipiak auf kein fertiges Begriffsinventar zurückgreifen konnte. Und die Protagonistin von Niebieska menaĪeria, wiewohl sie tatsächlich emigriert und reist, wird dadurch nicht zu einem weiteren authentischen weiblichen Flüchtling. Die Metaphern der Migration, Emigration und Verbannung – die am engsten an den kulturell ungesicherten und labilen Faktor der weiblichen Biografie anliegen – verzeichnen die Abhängigkeit des Subjekts von einer festen Relation, einer stabilen Realität, etwas grundsätzlich Unbeweglichem und Stetem. Die Sprache von Filipiaks Erzählungen meidet die genannten Begriffe zwar nicht – »Wir leben hier wie Emigranten« (»ĩyjemy tu jak emigranci«, ebd.: 280); »er ist einer von den Echten, er ist ein Flüchtling« (»on jest z tych prawdziwych, jest uchodĨcą«, ebd.: 197); »die Ursache für Abdullahs zeitweiligen […] Wahnsinn lag in einer natürlichen Schwäche seines Charakters, verstärkt durch die Vereinsamung in der Emigration« (»przyczyną chwilowego […] szaleĔstwa Abdula była naturalna słaboĞü jego charakteru, podraĪniona przez emigracyjne osamotnienie«, ebd.: 102) –, kontert sie aber recht schmerzhaft und schmälert ihre Bedeutung für die Schlüsselfigur der Nomadin. »Der Nomade steht nicht für Obdachlosigkeit oder zwanghafte Ortswechsel; er ist eher die Figuration eines Subjekts, dass auf jegliche Idee von bzw. Wunsch oder Sehnsucht nach Beständigkeit verzichtet hat. Diese Figuration illustriert die Sehnsucht nach einer Identität, die sich konstituiert über transitorische Zustände, eine Abfolge von Verschiebungen und koordinierte Veränderungen; ohne und gegen die Einheit des Wesens. Eine solche Einheit geht allerdings dem nomadischen Subjekt nicht gänzlich ab; die Kohärenz des Nomaden gewährleisten bestimmte, saisonbedingte Muster der Bewegung auf festen Pfaden. Es ist eine Kohärenz, die sich aus Wiederholung, zyklischer Bewegung und rhythmischen Ortswechseln speist«. (Braidotti 1994: 22)6

Woolf beschreibt in ihrer modernen Auslegung des Nomadismus die Reisen ihrer Protagonistin in Metaphern, die eng mit der modernen Technik zusammenhängen. Orlandas Beobachtungen, dank derer die Tatsache, dass die Welt geschrumpft und eine andere geworden ist, schneller zu uns gelangt als es in jeder anderen Konstellation möglich wäre (etwa einer linear erzählten Fabel mit einer geschlechtlich eindeutig bestimmten Hauptfigur), sind ein Teil dieser Metaphernsprache. Auf ähnliche Weise wirkt die Metaphorik der Mobilität in der postmodernen Auslegung des Nomadismus. Die Metaphern des Netzes, des

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Ins Deutsche übersetzt von Daniel Henseler.

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Durchströmens und der Reise wirken in Niebieska menaĪeria rhetorisch überzeugend, weil sie in wesentlichen Teilen mit Gegenwartserfahrungen aus dem globalen Wandel übereinstimmen, die den Schluss nahelegen, der Raum sei nicht länger grenzenlos7. So musste Niebieska menaĪeria mit seiner von politischen Bedeutungen freien Metaphorik der Emigration, der Flucht und des Nomadismus letzten Endes als ›Bibel der anderen Globalisierung‹ gelesen werden8. In den Erzählungen eines Bandes aus dem Jahr 1997 entfernt sich Filipiak aber so weit vom Denken in geschlechtlichen Kategorien, dass man das Buch selbst dann ohne Berücksichtigung der Invasion des Lesbianismus lesen kann, wenn man von der Existenz eines kognitiven Subjekts ausgeht und versteht, dass das Wort ›Lesbierin‹ die binären Beschränkungen infrage stellt, die das System der obligatorischen Heterosexualität der Geschlechtlichkeit aufzwingt. Und entgegen Monique Wittigs Argumentation, das Aufkommen individueller Subjekte erfordere zunächst die Elimination der Kategorie des Geschlechts und ›Lesbierin‹ sei der einzige Begriff, der diese Kategorie transzendiere (vgl. Wittig 1980), findet die Autorin von Absolutna amnezja einige bessere Transgender-Begriffe. Dazu bedient sie sich eines Inventars gemäßigt stereotyper Ausdrücke wie: Hund, Katze, Siedler, Emigrant, Flüchtling oder sogar Schrankbewohner. Auf diese Weise kehrt sie deren konventionell begründete Bedeutungen um und verwandelt sie in ein literarisches Minenfeld, indem sie sie in Niebieska menaĪeria aus dem engen gesellschaftspolitischen Kontext (politische Emigration, ökonomische Emigration, Nomadismus als Form soziologischer Mobilität; vgl. Urry 2000) löst und mit ihnen von der Labilität der Persönlichkeit, von den Zu- und Abflüssen von Energie und von den Annäherungen und Distanzierungen von Menschen erzählt, das heißt von einer (auch innerhalb des Subjekts geknüpften) Relation, die durch lange Dauer bedingt ist. Die Figurationen eines unzweifelhaft geschlechtslosen Subjekts, das bei Filipiak nach dem von Judith Butler propagierten Grundsatz agiert, Geschlechtsidentitäten müssten radikal unglaubwürdig gemacht werden (vgl. Butler 1991), sind natürlich etwas komplexer. Um seine geschlechtliche und räumliche Unabhängigkeit zu unterstreichen, bezeichnet sich das Subjekt in »Muzeum« als »Steckbrief« (»list goĔczy«, Filipiak 1997: 19). Das hindert es allerdings nicht

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Bei Zygmunt Bauman lesen wir: »Heute sind wir alle in Bewegung. Viele von uns ändern ihren Aufenthaltsort, indem sie ihr Zuhause wechseln oder zwischen Orten hin und her reisen, die nicht unser Zuhause sind. […] wir fühlen uns nirgends heimisch.«, Bauman 1998: 77. [Übersetzt aus dem englischen Original von Daniel Henseler]

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Es gibt Parallelen zwischen der Prosa Izabela Filipiaks und den Arbeiten von Naomi Klein.

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daran, seine irrtümlich festgelegte Identität als »verzweifelt« (»zdesperowana«) und »vereinsamt« (»osamotniona«, ebd.: 22) zu charakterisieren und sich andere Emigranten als Leidensgenossen im Gefühl der Verlorenheit zu suchen. Wenn es aber dieses politisch kontaminierte Veteranenwort gebraucht, versteckt es sich im Dickicht unklarer Metaphern und stellt nur fest: »ĩyjemy tu jak emigranci. Oszukujemy na podatkach, na dochodach, na wszystkim, jak emigranci. Nie mamy innego wyjĞcia. […] kombinujemy i krĊcimy jak umiemy najlepiej. […] Ale my tutaj własnych oszustw nie traktujemy powaĪnie, trudno je zresztą traktowaü powaĪnie, to raczej przejaw zdrowego rozsądku, to jest powszechna amoralnoĞü, dla nas ten przykład idzie z góry, właĞciwie w dobrym tonie jest byü odrobinĊ niekonsekwentnym, nadmiar skrupułów to gorzej niĪ brak gustu, a w dole znów inaczej, serdecznoĞü i tolerancja, najwaĪniejsze jest w koĔcu połapaü siĊ w tym, przeĪyü, nie traktujemy powaĪnie naszych drobnych oszustw, które nie są oszustwami, ale najprostszym sposobem na rozwiązanie kwestii nie na nasze głowy. Zachowujemy dla siebie rozległe obszary zrozumienia, jak emigranci, dla emigrantów.« (Filipiak 1997: 280) [Wir leben hier wie Emigranten. Wir betrügen bei der Steuer, bei den Einkünften, überall, wie Emigranten. Wir haben keine andere Wahl. […] wir schlagen uns durch so gut wir können. […] Aber wir nehmen unsere Betrügereien hier nicht ernst, man kann sie auch schwerlich ernst nehmen, sie sind eher Ausdruck von gesundem Menschenverstand, allgemeiner Unmoral, das Vorbild kommt von oben, es gehört zum guten Ton, ein bisschen inkonsequent zu sein, ein Übermaß an Skrupeln ist schlimmer als ein Mangel an Geschmack, und unten ist es wieder anders, Herzlichkeit und Toleranz, man muss sich ja vor allem zurechtfinden, überleben, wir nehmen unsere kleinen Betrügereien nicht ernst, die keine Betrügereien sind sondern die einfachsten Lösungen für Probleme, die nicht für unsere Köpfe gemacht sind. Wir bewahren uns weite Felder des Verständnisses, wie Emigranten, für Emigranten.]

Auch für die Hauptfiguren von »Haarlem« besteht Emigrantentum vor allem in der praktischen Befähigung, das eigene Leben zu organisieren; das Schicksal zu »beschummeln«, das Gesetz auszutricksen, Prinzipien zu umgehen. Das Subjekt hat längst aufgehört, diese politischen Kategorien zu verstehen, weil ihm bewusst wurde, dass sein eigener transitorischer Charakter auf stärkeren als politischen Bindungen gründet. »WłaĞnie wróciłam do Polski. Powrót nie jest rzeczą, którą przeĪywa siĊ za jednym zamachem, wraca siĊ i jest po wszystkim, i – juĪ siĊ jest. Nie, wraca siĊ warstwami, coraz to głĊbszą warstwą, do szpiku koĞci, do bólu, do oszołomienia. W ten sam sposób teĪ siĊ

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rozstaje. Odrywając po kawałku to, co było w nas wspólne, naleĪało do nas i innych ludzi, do nas i innego miejsca. […] to jest wielka sztuka, cały ten kunszt odrywania siĊ i przylegania.« (Filipiak 1997: 5) [Ich bin gerade nach Polen zurückgekommen. Rückkehr ist nichts, was man auf einen Schlag erlebt, man kommt zurück, alles ist vorbei und – man ist wieder da. Nein, man kehrt in Schichten zurück, in immer tieferen Schichten, bis aufs Knochenmark, bis zum Schmerz, bis zur Betäubung. Auf dieselbe Weise trennt man sich auch. Indem man stückwiese ausreißt, was an Gemeinsamem in uns war, was uns und anderen Menschen gehörte, zu uns und zu dem anderen Ort. […] das ist eine große Kunst, diese ganze Kunst des SichHerausreißens und Wiedereinsetzens.]

Der Einleitungsabschnitt von »Marzenie«, mit dem Niebieska menaĪeria eröffnet, erhellt das Wesen der neuen Bedeutung von Emigration. Aus einem kollektiven, politischen, ethischen und wertenden Begriff ist ein partikulärer, ja sentimentaler geworden. Sätze wie »Ich werde an das Leben denken, das ich zurückließ, und es wird mir vor Trauer das Herz zerreißen. So habe ich mich einst nach Polen gesehnt« (»BĊdĊ myĞleü o Īyciu, które zostawiłam i bĊdzie mi pĊkało z Īalu serce. Tak kiedyĞ tĊskniłam do Polski«, Filipiak 1997: 7) grenzen an emotionalen Kitsch. Die Emigration wurde kitschig als ein weiteres Requisit aus einer alten semantischen Kollektion und sie wird so auch bleiben.9 Ihr Gegenteil will das Postemigrantentum sein, ein Zustand des Aufgehens in der Gegenwart in einem Grad, der die Nostalgie überbietet. In der Erzählung »Perszing« (Pershing) lesen wir: »Es muss etwas geschehen sein. In diesem Text gibt es kein Gestern und kein Morgen, auf ein Heute folgt ein anderes Heute. […] In ein paar Jahren könnte ich noch eine Stimme hinzuschreiben, […] wieder ins Heute.« (»CoĞ musiało siĊ staü. W tekĞcie tym nie ma wczoraj ani jutro, po jednym dziĞ nastĊpuje kolejne dziĞ. […] Za kilka lat mogłabym dopisaü jeszcze jeden głos, […] znowu w dziĞ«, ebd.: 109). Die interessanteste Verankerung des Subjekts in der Sprache sind bei Filipiak aber wohl die Tierfiguren. Unter Berufung auf Beispiele aus Texten von Co-

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Die Entdeckung von Kitsch in Filipiaks Fabeln geht unmittelbar auf Jerzy JarzĊbskis Feststellung vom Niedergang des Emigrationsparadigmas zurück, das seine Befriedigung daraus zog, dass es sich mit Andenken an das verlorene Vaterland umgab. Wenn die Autorin von Niebieska menaĪeria sich seinen Überresten zuwendet, erhellt und entblößt sie die Funktionsmechanismen der Emigration als emotionalen Kitsch, der insofern gefährlich ist, als er dominant ist und eine andere Wahrnehmung der multikulturellen Welt behindert. (Vgl. JarzĊbski 1998: 233-245)

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lette, Zofia Nałkowska und insbesondere auf Clarissa Pinkola Estés populärwissenschaftliche Version des Mythos von der wilden Frau Die Wolfsfrau geht Filipiak im Band Twórcze pisanie dla młodych panien (Kreatives Schreiben für junge Damen) davon aus, dass »[…] eine kreative Frau normalerwiese einen Begleiter hat – ein mit ihr befreundetes Tier direkt aus dem Wald. […] mein inneres Tier ist ein kämpferisches Pitbull-Weibchen, gewissermaßen auch eine schwarze Hündin.« (»[…] twórcza kobieta ma zwykle swego towarzysza – jakieĞ zaprzyjaĨnione z nią zwierzĊ prosto z lasu. […] moim wewnĊtrznym zwierzątkiem jest waleczna pitbullica, poniekąd teĪ czarna suka«; Filipiak 1999: 266267). Es sind diese beiden Erzählungen, »Perszing« und »Pitbullica« (Das PitbullWeibchen), die in Niebieska menaĪeria am eindringlichsten und interessantesten die Geschichte des nomadischen Subjekts erzählen: »Sag mir nur, warum du dich so gerne in einen Hund verwandelst? […] Ich habe bloß eine andere Form gewählt [erzählt die Protagonistin; M.C.], eine indirekte, eine Art Metapher. Bis ich am Ende zum Hund wurde.« (»Tylko powiedz, dlaczego tak chĊtnie zamienisz siĊ w psa? […] Wybrałam tylko inną formĊ, nie wprost, jak metaforĊ. AĪ w koĔcu stałam siĊ psem.« Filipiak 1997: 108). In »Perszing« führt die Identifikation des Subjekts mit einem Tier nicht zur Reinigung des Raums vom Überschuss an Niederem, wenn man liest: »BiegnĊ przez miasto. Jest noc (druga, trzecia nad ranem?). […] BiegnĊ wiĊc […], nie chcĊ siĊ zatrzymaü, nie potrzebujĊ. Nie czujĊ zimna ani wyczerpania. Jestem całoĞcią, jestem wolna, nie brak mi szczĊĞcia ni miłoĞci. AĪ spod nóg wyskakuje mi coĞ rudego.« (Filipiak 1997: 84) [Ich laufe durch die Stadt. Es ist Nacht (zwei, drei Uhr morgens?). […] Ich laufe also […], ich will nicht anhalten, ich brauche es nicht. Ich fühle weder Kälte noch Müdigkeit. Ich bin eine Ganzheit, ich bin frei, mir fehlen weder Glück noch Liebe. Bis unter meinen Füßen etwas Rothaariges hervorspringt.]

denkt man zuerst an die Ursprünglichkeit, die Wildheit und das Asoziale des Nomadismus; an sein vampirisches, nächtliches Wesen, das am Tage nicht zu ertragen ist; an seine Arroganz, das Brechen von Herzen und Übertreten von Grenzen, an Transgression. Die Frau und der Hund sind aber nicht nur Nomaden; sie dringen in die Sprache auch als Objekte ein, die sich dem System wiedersetzen und sich nicht kolonisieren lassen. Als Kriminalverbrecher. »Ich wollte jenseits der Peripherie sein, ich habe mich schon dort angesiedelt« (»Ja chciałam byü poza marginesem, juĪ siĊ tam osadziłam«, ebd.: 97).

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Die Protagonistin von »Pitbullica«, die ihre Sexualität viel deutlicher als in anderen Geschichten radikalisiert, indem sie von einer Männerbeziehung erzählt, die mit ihrer Ausreise nach Polen endete, ist demgegenüber eine Geisel des Satzes »irgendwann muss man anhalten, wenn man etwas haben will, wenn man einen Hund haben will« (»kiedyĞ siĊ trzeba zatrzymaü, jeĞli chce siĊ mieü cokolwiek, jeĞli chce siĊ mieü psa«; ebd.: 97). Wenn die Lektüre der nomadischen Spuren in Niebieska menaĪeria einen erstaunlich inkohärenten Eindruck hinterlässt, so liegt das daran, dass die ihr zugrunde liegende Verbindung der Mobilitätserfahrungen von Rosi Braidotti und Izabela Filipiak – wie sich zeigt – nicht in Einklang gebracht werden konnte. Bei Braidotti lesen wir, dass das Bild des weiblichen Flüchtlings heute in zwei praktischere Symbole aufgespalten wurde: die Nomadin als Synonym für die Frau des Geistes und Intellektuelle, die den Ort ihrer Bestimmung nicht kennt, und die Migrantin, die den Ort ihrer Bestimmung kennt und sich aus einem bestimmten Grund auf den Weg macht, aber nicht immer mit der Protagonistin von Filipiaks Erzählungen identisch ist. In dem es sie zu einer Identität zusammenführte, hat sich das Subjekt der postmodernen Literatur befreit, denn indem es die Geschwindigkeit seines Handels erhöhte, brach es ein für allemal mit dem jahrhundertealten Gebot der Passivität. (Vgl. Braidotti 1994) Es wird aber nicht vor eine abgeschlossene Reihe konkreter Aufgaben gestellt, sondern lediglich vor attraktive, wenngleich nicht immer zueinander passenden Möglichkeiten: Es kann Emigrantin sein, Postemigrantin, Flüchtling, Pittbull-Weibchen, eine blaue Katze, ein Steckbrief und auch eine Siedlerin an der Peripherie. Indem Braidotti ein anarchisches Aufbäumen an die Stelle der Tradition der Bindung der Frau an einen Ort setzt, verwickelt sie sich in die Rhetorik der Dilemmata, aus der Filipiak eine offene, in der nomadischen Sprache nicht übersehene Aporie des ›Eine-Andere-Seins‹ (»Ausländer, Fremde sind die anderen«; »Obcokrajowcy, cudzoziemcy są inni«, Filipiak 1997: 225) und des Wunsches, nützlich zu sein (»Ich will nützlich sein, gebraucht werden, vielleicht sogar in der Sprache schreiben, in der es childhood, emigration und love gibt«; »ChcĊ byü uĪyteczna, przydatna, moĪe nawet pisaü w jĊzyku, gdzie jest childhood, emigration i love«, ebd.: 225) macht. In Braidottis kämpferischen Essays sind Alterität und Identität jedoch politisch aufgeladen, während für Filipiak diese beiden Kategorien unübersehbare Hindernisse bilden, die das Subjekt zur Translokation in angenehmere Regionen als Geschlecht und Politik einladen. »Das Schreiben […], die einzige Sache, die etwas bedeutet, die mich in mir verankert.« (»To pisanie […], jedyna rzecz, która znaczy cokolwiek, która mnie w sobie osadza«, ebd.: 227)

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»N UR N AMEN ,

UND DENNOCH «

Emigration und Migration sind in Niebieska menaĪeria Synonyme für eine Bewegung irgendwohin oder eine Wanderung mit einem Ziel, die Filipiak als gänzlich unbequeme Ereignisse infrage stellt, wobei sie auch die politische Dimension beider Begriffe berücksichtigt. Es ist für sie weitaus praktischer, sich statt des Emigrationsphantasmas vom Sein hier (an einem neuen Ort) und dort (mit dem Geist im Heimatland) dem Begriff des Nomadismus zu bedienen, das heißt der unfertigen Identität, auch im Sinne einer Karte »dessen, wo er (sie) schon war; er (sie) kann sie immer a posteriori rekonstruieren, als eine Sammlung der während der Reiseroute vollzogenen Schritte«. (Braidotti 1994: 1410) Das heißt aber nicht, dass sie den Begriff unkritisch verwendet. In der Szene der Begegnung mit der anorektischen Lena artikuliert das Subjekt einen bemerkenswerten Protest: »Jej eterycznoĞü, motyle istnienie, jakie dla siebie wymyĞliła, wydawało siĊ przerysowaniem, niemal parodią mojego własnego i zaprzeczało teĪ temu, by dotknąü, poczuü, zrozumieü, wreszcie byü. I gdzieĞ zostaü.« (Filipiak 1997: 259-260) [Ihre ätherische Erscheinung, das Schmetterlingsdasein, das sie sich für sich selbst ausgedacht hatte, wirkte wie eine Überzeichnung, fast eine Parodie meiner eigenen Existenz und sprach auch dagegen, zu berühren, zu fühlen, zu verstehen, letztlich zu sein. Und irgendwo zu bleiben.]

Filipiaks heterogene, listige, Sprachschablonen parodierende Prosa erweist sich subversiv gelesen – also anders, als sie gerne gelesen werden würde – als größter Lobpreis des »Schmetterlingsdaseins«, als Freude am Reisen, Affirmation des Nichtseins. Misst man sie an den Kategorien eines Richard Rorty, der über das Wesen der Sprache witzelt11, oder gar einer Braidotti, die ein so ephemeres Phänomen wie die nomadische Sprache schuf (vgl. Braidotti 1994: 15-20), so gelangt man letztlich zum Schluss, das von keiner Beschreibung des subjektiven Umherirrens, zumal keiner auf Orlando gegründeten, ein klares Urteil über die

10 Übersetzt von Daniel Henseler. 11 »So etwas wie eine Sprache gibt es nicht, jedenfalls nicht, wenn eine Sprache irgend etwas der Art ist, wie zumindest die Philosophen es angenommen haben.« (Rorty 1989: 39) [Hervorhebung im Original; Rorty zitiert hier Donald Davidson; Anm. der Hrsg.]

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Existenz zu erwarten ist. Vielmehr wird eine jede derartige Beschreibung mit aller Kraft davor fliehen – in scheinbaren Unernst, Schwindel, Belanglosigkeit12. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, die Übersetzung wurde durchgesehen von Daniel Henseler

L ITERATUR Baudelaire, Charles (1989): »Der Maler des modernen Lebens.« In: ders.: Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857-1860, München, 213-258. Bauman, Zygmunt (1998): Globalization. The human consequences, Cambridge. Braidotti, Rosi (1994): Nomadic subjects. Embodiment and sexual difference in contemporary feminist theory, New York. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. Chambers, Iais (1990): Border Dialogues: journeys in Postmodernity, London 1990. Filipiak Izabela (1997): Niebieska menaĪeria, Warszawa. Filipiak Izabela (1999): Twórcze pisanie dla młodych panien, Warszawa. Graff, Agnieszka (2001): ĝwiat bez kobiet. Płeü w polskim Īyciu publicznym, Warszawa. Hohmann, Angela (2000): »Der Flaneur. Gedächtnis und Spiegel der Moderne.« In: Die Horen 4, 123-145. Janion Maria (1991): Projekt krytyki fantazmatycznej. Szkice o egzystencjach ludzi i duchów, Warszawa. JarzĊbski Jerzy (1998): PoĪegnanie z emigracją. O powojennej prozie polskiej, Kraków.

12 Dieses Phänomen betreffen alle Reflexionen über die Freuden des Reisens, die sich in Niebieska menaĪeria nur finden lassen, angesiedelt in der Nachbarschaft von Sätzen, die sich einer solch einfachen Darstellung der Problematik entgegenstellen. Z.B.: »[…] das Einzige, was ich darin finde [die Rede ist von der autobiographischen Erzählung einer Schmugglerin, die auf internationalen Flugstrecken unterwegs ist; M.C.], ist die rein kindliche, ungestörte Lust auf Abenteuer und Raum, auf ungetrübte schöne Landschaften, fremde Länder, auf berauschende, exotische Eindrücke« (»[…] jedyne co w niej odnajdujĊ, to czysto dzieciĊce, nie zakłócone pragnienie przygody i przestrzeni, niezmącenie piĊknych krajobrazów, obcych lądów, doznania oszałamiających, egzotycznych wraĪeĔ«, Filipiak 1997: 238).

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Rorty, Richard (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. Urry, John (2000): Sociology beyond societies. Mobilities for the twenty-first century, London. Wittig, Monique (1980): »On ne naît pas femme«. In: Questions féministes 8, 75-84. Woolf, Virginia (1992): Orlando. Eine Biographie, Frankfurt a.M.

Unterwegssein, Fremdheit, Heimkehren Zur conditio des lyrischen Ichs in Adam Zagajewskis Gedichten D ANIEL H ENSELER

Im Gedicht »PodróĪny« (Reisender) aus dem Band Ziemia ognista (1994: 40; Feuerland) schreibt Adam Zagajewski: »[…] podróĪny co chwilĊ kładł dłoĔ na piersi, nieufnie sprawdzając czy wciąĪ ma przy sobie bilet powrotny do miejsc zwyczajnych, w których my mieszkamy.« »[…] hob der Reisende deshalb seine Hand alle Augenblicke an die Brust, mißtrauisch prüfend, ob er noch bei sich hatte die Rückfahrkarte zu den gewöhnlichen Orten, in denen wir wohnen.« (Zagajewski 1996: 55)1

Hier wird ein Themenkomplex angesprochen, der für das Werk des seit Beginn der 1980er Jahre im Ausland lebenden Dichters eine wichtige Rolle spielt. Es geht dabei um eine Existenz, die sich zwischen einem steten Unterwegssein und der Möglichkeit (dem Wunsch oder auch nur der Option) einer Rückkehr

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Deutsche Übersetzungen, bei denen auf die Literaturliste verwiesen wird, stammen immer von Karl Dedecius (aus verschiedenen Publikationen); alle anderen Übersetzungen sind von mir, D.H.

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abspielt. Die Reflexion dieses Themas nimmt in Zagajewskis dichterischem Werk wie auch in seinen Essays breiten Raum ein. Auf der einen Seite erkundet das lyrische Ich dabei die eigene Befindlichkeit unter den Bedingungen der Fremdheit, der es sich ausgesetzt sieht als jemand, der oft unterwegs ist. Auf der anderen Seite bleibt aber auch der Gegenpol stets im Blickfeld: die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, vor Anker zu gehen, anzukommen, heimzukehren. In den zitierten Zeilen werden bereits provisorische Antworten gegeben. Es fallen dabei zumindest zwei Aspekte in die Augen: Die Rückkehr wird nicht – zumindest nicht explizit – mit dem Vaterland Polen in Verbindung gebracht. Ja, mehr noch: In gewissem Sinn wird hier eine paradoxe Definition von Rückkehr gegeben, wenn faktisch als Heimat die »miejsca zwyczajne« (gewöhnlichen Orte) bezeichnet werden, an denen ›wir‹ uns offensichtlich schon jetzt befinden. Jedenfalls scheint der Ort, zu dem eine Rückkehr hinzuführen hätte, nicht so klar fassbar, wie dies vielleicht zu erwarten wäre. Damit hängt zweitens aber auch die Tatsache zusammen, dass im Gedicht zwar von einem Reisenden die Rede ist, nicht aber von einem Emigranten. Ein denkbarer absoluter Gegensatz zwischen erzwungener Ausreise und der Sehnsucht nach einer Rückkehr nach Polen wird in diesen Zeilen also mehrfach entschärft. Das lyrische Ich inszeniert sich in Zagajewskis Gedichten nicht als typischer (politischer) Emigrant, dessen Denken einzig auf Polen gerichtet ist. Im vorliegenden Artikel betrachte ich zunächst die Umstände von Adam Zagajewskis (geb. 1945) Ausreise aus Polen, da sie den Kontext bilden, auf dessen Hintergrund sich auch das lyrische Ich in den Gedichten situiert. Im Anschluss daran versuche ich, die conditio dieses lyrischen Ichs zu umreißen, wie sie sich in den Gedichtbänden seit Anfang der 1980er Jahre konstituiert2: Es weist Merkmale eines Exilanten, Migranten, Reisenden, Touristen und Pilgers auf und wird besonders von der Erfahrung der ›Fremdheit‹ geprägt. Schließlich frage ich nach dem Heimkehren in Zagajewskis poetischem Werk. Dabei gehe ich im Besonderen auf den Band Powrót (Zagajewski 2003a; Rückkehr) ein. Hier wird die Rückkehr, oder genauer gesagt: eine bestimmte Rückkehr, nämlich diejenige des lyrischen Ichs nach Krakau, zum dominierenden Thema, dem sich alles unterordnet.

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Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Zagajewski die hier interessierenden Themen auch in seinen Essays thematisiert (Zagajewski 2002, 2007a, 2007b). Aus Platzgründen kann ich jedoch auf die Essays nicht näher eingehen.

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UNTERWEGS

Bereits ein Blick auf seine Biografie zeigt, dass man bei Adam Zagajewski nicht von einem typischen Emigranten oder Exilanten sprechen kann. Zum einen hat der Autor Polen in mehreren Etappen verlassen, zum anderen kann man dabei kaum von einer ›Vertreibung‹ sprechen. Seit 1979 hielt sich Zagajewski im Rahmen eines DAAD-Austauschprogramms in Berlin-West auf. Es schlossen sich Reisen in die USA und nach Frankreich an. 1982 ließ sich der Dichter zunächst in Paris nieder; ab 1989 verbrachte er einen Teil des Jahres jeweils in Houston, Texas, wo er ›creative writing‹ unterrichtete. Im Jahr 2002 kehrte er nach Krakau, die Stadt seiner Studienjahre, zurück. Auch heute noch ist Zagajewski oft im Ausland unterwegs; seit 2007 unterrichtet er zeitweise in Chicago. Eine eigentliche Exilerfahrung, als eine durch die Umstände erzwungene Flucht, gibt es in Zagajewskis Biografie aber dennoch. Diese ist allerdings mit der frühesten Kindheit verbunden, als kurz nach Kriegsende die Familie mit dem damals wenige Monate alten Säugling von Lwów nach Polen fliehen musste, wo sie sich in Gliwice niederließ. Selbstverständlich konnte der Dichter dieses frühe Ereignis nicht bewusst erleben. Gleichwohl ist es aber in seinem Werk zu einem wichtigen, bisweilen mythisch überhöhten Thema geworden. Es genügt hier vorläufig, an den programmatischen Titel eines Gedichtbandes, Jechaü do Lwowa i inne wiersze (1985; Nach Lemberg fahren und andere Gedichte), und das Schlüsselgedicht darin, »Jechaü do Lwowa« (ebd.: 35-37; Nach Lemberg fahren), zu erinnern. Lwów und die Flucht aus dieser Stadt sind also ebenfalls Teil von Zagajewskis literarischem Diskurs über das Unterwegssein. In der Biografie des Dichters vermischen sich demnach unterschiedliche Elemente, die ein weites Spektrum von Erfahrungen abdecken, die sich aber wiederum zwischen zwei Polen bewegen: Auf der einen Seite steht die Flucht der Familie aus Lwów, zu der es womöglich keine Alternative gab, auf der anderen Seite die freiwillige, bewusst angestrebte Wanderschaft des schon erwachsenen Zagajewski, sofern man den Wunsch nach Aufenthalten und Reisen im Westen so bezeichnen will. Diese Sachlage schlägt sich auch in Zagajewskis dichterischem Werk nieder. Die conditio des lyrischen Ichs nimmt verschiedene Elemente in sich auf und lässt sich nicht auf das Stichwort ›Migrant‹ reduzieren.

D IE

CONDITIO DES LYRISCHEN I CHS

Eine poetische Reflexion der conditio des lyrischen Ichs betreibt Zagajewski in seinen Gedichtbänden seit List. Oda do wieloĞci (1983; Ode an die Vielheit), und

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dies auch über das Ende Volkspolens hinaus, nämlich bis hin zu Niewidzialna rĊka (2009; Die unsichtbare Hand), dem bisher letzten veröffentlichten Band. Die Intensität der Behandlung des Themas kann sich dabei von Band zu Band freilich ändern, bestimmte Elemente können mitunter dominieren, um später wieder in den Hintergrund zu geraten. Das lyrische Ich erhält in Zagajewskis Gedichten verschiedene Zuschreibungen: Der Dichter realisiert in seinen Gedichten ganz allgemein ein Ich, das unterwegs ist. Dabei findet sich durchaus auch der Begriff »emigrant« (Emigrant), doch bleibt dieses Element bei der Selbstbenennung des lyrischen Ichs eher im Hintergrund. Das gilt besonders für die Gedichtbände nach 1989. Häufiger bezeichnet sich das lyrische Ich als »podróĪny« oder »podróĪnik« (Reisender), als »wĊdrowiec« (Wanderer) oder »pielgrzym« (Pilger). 3 Auch die Bezeichnung »uchodĨca« (Flüchtling) kommt vor, sie wird allerdings nicht auf das lyrische Ich, sondern nur auf andere Figuren bezogen. Vorweg kann man festhalten: Als Reisender sucht das lyrische Ich berühmte, historisch bedeutsame und sehenswerte Orte auf. Als Pilger besichtigt es Kathedralen und Kirchen und setzt dabei auf Erfahrungen der Transzendenz. Der Spaziergänger und Wanderer schließlich erfährt und reflektiert in Begegnungen und in Erlebnissen mit anderen Menschen das Leben in seiner Gesamtheit. Das lyrische Ich ist dabei an verschiedensten Orten unterwegs, vornehmlich jedoch in Europa (Italien, Frankreich, Deutschland, Schweiz, u.a.) und in den USA. Einige Beispiele sollen die genannten Aspekte verdeutlichen, ohne sie freilich erschöpfend darstellen zu können. Das Wort »emigrant« (Emigrant) erscheint – außer in dem programmatischen Gedicht »Piosenka emigranta«, von dem noch die Rede sein wird – vorwiegend mit Bezug auf andere Figuren. In »Czytając Miłosza« (2005: 14; Bei der Lektüre von Miłosz) bezeichnet Zagajewski Czesław Miłosz als »biedak« (Armer), »emigrant« (Emigrant) und »samotnik« (Einzelgänger) – und spricht dabei vielleicht auch über sich selbst bzw. das lyrische Ich seiner eigenen Gedichte. In »Wielkie statki« (Große Schiffe) im selben Band Anteny (ebd.: 52; Antennen) erinnert Zagajewski an die Schiffe mit Auswanderern früherer Jahrhunderte: »Pod pokładem ubodzy emigranci grali w karty i nikt nie wygrywał« (Unter dem Deck spielten arme Emigranten Karten und niemand gewann); und in »Europa w zimie« (ebd.: 67-68; Europa im Winter) ist von einem russischen Emigranten die Rede. Vor dem Hintergrund dieser Gedichte könnte der Eindruck entstehen, Zagajewskis lyrisches Ich empfände sich selbst nicht als wirklichen Emigranten. Dennoch funktioniert das Emigran-

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Anna Czabanowska-Wróbel überschreibt ein Kapitel ihres Buches mit »WĊdrowiec« (2005: 15-67; Der Wanderer), und Jarosław Klejnocki (2002: 109) nennt Zagajewski einen »flaneur«.

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tenschicksal anderer immer wieder als Spiegel für das lyrische Ich bei Zagajewski. Überhaupt finden sich in Zagajewskis Werk verschiedentlich Gedichte, die das Unterwegssein nicht am lyrischen Ich selbst, sondern auch an anderen Personen darstellen. So werden etwa im Gedicht »Eliade« (1990: 43) dessen verschiedene Reisen erwähnt, und über Iosif Brodskij wird vermerkt, er sei »wciąĪ w podróĪy, od Meksyku do Wenecji« (»Temat Brodski«, 2005: 34; Thema Brodskij, stets auf Reisen, von Mexiko bis Venedig). Als »wĊdrowiec« (Wanderer) bezeichnet sich das lyrische Ich hingegen öfter selbst. Als programmatisch kann hier das gleichnamige Gedicht aus Jechaü do Lwowa i inne wiersze gelten, worin aber auch die Schwierigkeit zum Ausdruck kommt, sich für eine Richtung zu entscheiden: »WchodzĊ do poczekalni dworcowej, gdzie duszne powietrze. W kieszeni mam ksiąĪkĊ, czyjeĞ wiersze, Ğlady natchnienia. Obok, na ławkach, dwóch włóczĊgów i pijak (albo dwóch pijaków i jeden włóczĊga). Na drugim koĔcu sali, patrząc gdzieĞ w górĊ, w stronĊ Italii i nieba, siedzi wytworne starsze małĪeĔstwo. Zawsze byliĞmy podzieleni. LudzkoĞü, narody, poczekalnie. ZatrzymujĊ siĊ na moment, Niepewny do którego przyłączyü siĊ cierpienia. Wreszcie siadam poĞrodku, czytam. Jestem sam, ale nie samotny. WĊdrowiec, który nie wĊdruje. GaĞnie olĞnienie. Góry oddechów, duszne doliny. WciąĪ trwa dzielenie.« (Zagajewski 1985: 65) »Ich betrete den Wartesaal des Bahnhofs, dessen Luft stickig ist. In der Tasche habe ich ein Buch, irgendwessen Gedichte, Spuren einer Eingebung. Nebenan, auf den Bänken, hocken zwei Landstreicher und ein Säufer (oder zwei Säufer und ein Landstreicher). Am anderen Ende des Saals sieht man

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ein vornehmes älteres Ehepaar nach oben blicken, in Richtung Italien und Himmel. Immer waren wir geteilt. Die Menschheit, die Völker, die Warteräume. Ich bleibe einen Augenblick stehen, Unsicher, welchem Leid ich mich anschließen soll. Endlich nehme ich in der Mitte Platz, lese. Ich bin allein, aber nicht einsam. Ein Wanderer, der nicht wandert. Die Verzauberung erlischt. Berge von Atemzügen, stickige Täler. Die Teilung dauert ständig.« (Zagajewski 2003b: 49)

Das lyrische Ich löst hier das Problem, zumindest für den Augenblick, indem es sich für die Mitte entscheidet. Das ›Dazwischensein‹ ist ein wichtiges Stichwort in Zagajewskis Philosophie.4 In »Lekcja fortepianu« (2009: 18; Klavierlektion) erinnert sich das achtjährige lyrische Ich an seine Kindheit und an die Klavierstunden bei der Nachbarin, einer Armenierin, und vergleicht deren Wohnung mit derjenigen der eigenen Familie: »Ormianie mają dywany, w powietrzu wĊdruje pył przywieziony jeszcze ze Lwowa, Ğredniowieczny kurz. U nas nie ma dywanów ani wieków Ğrednich. Nie wiem, kim jesteĞmy – chyba wĊdrowcami. Czasem myĞlĊ, Īe wcale nas nie ma. Tylko inni są. ĝwietna akustyka w mieszkaniu naszych sąsiadów.« (Zagajewski 2009: 18) [Die Armenier haben Teppiche, in der Luft wandert der Staub, der noch aus Lemberg herbeigebracht worden war, der mittelalterliche Staub. Bei uns gibt es weder Teppiche noch Mittelalter. Ich weiß nicht, wer wir sind – vielleicht Wanderer. Manchmal denke ich, dass es uns überhaupt nicht gibt. Nur die anderen sind. Herrlich, die Akustik in der Wohnung unserer Nachbarn.]

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Siehe dazu Bodzioch-Bryła 2009: 8.

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Hier wird das Bewusstsein, dass man »Wanderer« ist, schon für die Kindheit angenommen, und es scheint sich dementsprechend auf die erst wenige Jahre zurückliegende Flucht aus Lwów zu beziehen. Zugleich spricht hier aber wohl auch das schon erwachsene lyrische Ich mit, das inzwischen auf lange Jahre der Wanderschaft zurückblicken kann und deswegen solche Momente besonders fein registrieren kann. Im Band Niewidzialna rĊka fallen überhaupt die vielen Gedichte auf, die aus früheren, polnischen Jahren berichten, mithin also eine Art Rückschau auf die Kindheit (und Jugendzeit) betreiben. Auch beim Stichwort »Wanderer« wird die Erfahrung des lyrischen Ich öfters wieder in größere Zusammenhänge eingebettet, etwa im ersten Gedicht »Muszla« (1994: 5; Muschel), wo von den Sybillen die Rede ist, die zu den Wanderern gesprochen haben. Schließlich ist zu erwähnen, dass neben dem Substantiv »Wanderer« auch das Verb »wĊdrowaü« (wandern) verschiedentlich vorkommt (2005: 59; 2009: 28). Auch dabei dienen andere Wanderer wiederum als Spiegel für das lyrische Ich. In einem Zbigniew Herbert gewidmeten Gedicht heißt es etwa: »Lubiłem sobie wyobraĪaü twoje spacery w Ligurii czy Umbrii […] Lubiłem sobie wyobraĪaü twoje wĊdrówki w górach poezji, poszukiwanie tego miejsca, w którym milczenie nagle wybucha mową. […]« (»PoĪegnanie Zbigniewa Herberta«; Zagajewski 1999: 56) [Ich mochte es, mir deine Spaziergänge vorzustellen in Ligurien oder Umbrien […] Ich mochte es, mir deine Wanderungen vorzustellen in den Bergen der Poesie, ich mochte die Suche nach diesem Ort, wo das Schweigen plötzlich in der Sprache explodiert.]

Man kann auch das wiederum mit Bezug auf Zagajewskis eigene Wanderschaft (und diejenige des lyrischen Ichs seiner Gedichte) lesen. Im genannten Gedicht wird zugleich ein weiteres Wortfeld eröffnet, nämlich das Spazieren/die Spaziergänge. Hierzu sei nur ein Beispiel erwähnt, welches das Wort bereits im Titel trägt, nämlich das Gedicht »Na spacerze« (1994: 30; Auf einem Spaziergang). In engem Bezug zum semantischen Feld des Wanderns und Spazierens steht dasjenige des Reisens, das sich etwa in den Begriffen »podróĪny« und »podróĪnik« ausdrückt. Im Gedicht »Wiatr w gałĊziach« (Der Wind in den Zweigen) wird die Freiheit des Windes der Unwissenheit der Bäume gegenübergestellt:

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»Wiatr w gałĊziach, zagubiony, zaspany. On, wielki podróĪnik, libertyn, szalejący reporter, i drzewa, które nic nie wiedzą, nigdzie nie były, drewniane i prowincjonalne. Wiatr w gałĊziach. Muzyka urodzi siĊ z tego spotkania.« (Zagajewski 1985: 17) [Der Wind in den Zweigen, verloren, verschlafen. Er, ein großer Reisender, Libertin, rasender Reporter, und die Bäume, die nichts wissen, nirgends gewesen sind, hölzern und provinziell. Der Wind in den Zweigen. Die Musik wird aus dieser Begegnung entstehen.]

Auch wenn in diesem Gedicht kein lyrisches Ich direkt in Erscheinung tritt, so wird hier doch auch wieder über dessen conditio gesprochen. Das Unterwegssein wird positiv belegt, wenn auch eine gewisse Ironie (»libertyn«; »szalejący reporter«) mitschwingt. Es erweist sich jedoch, dass die Bäume – denen zunächst ein negatives Urteil gesprochen wird – dann doch ebenso notwendig sind, damit Musik entstehen kann. Da Musik bei Zagajewski stets auch für die Poesie stehen kann, ist hier auch ein metapoetischer und zugleich auch existentieller Kommentar mitzulesen: Sowohl das Leben als auch das poetische Werk sind nicht denkbar ohne die beiden Pole Unterwegssein und Ruhen. Allerdings heißt es im Gedicht »Syrakuzy« (Syrakus) in der letzten Strophe wiederum: »O północy łodzie rybackie, Ğwiecące ostrym Ğwiatłem, dopominają siĊ o modlitwĊ za zaginionych i samotnych, za ciebie, miasto porzucone na skraju kontynentu, i za nas, uwiĊzionych w podróĪy.« (Zagajewski 2005: 56) [Um Mitternacht verlangen die Fischerboote, leuchtend von stechendem Licht, nach Gebeten für die Umgekommenen und die Einsamen, für dich, die Stadt, die zurückgelassen wurde am Rand des Kontinents, und für uns, die wir in der Reise gefangen sind.]

Das lyrische Ich (und seine Begleitung? seine Generation?) sind also auch ein Stück weit zum Unterwegssein verdammt. – Das Reisen ist natürlich in allen

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Bänden seit Jechaü do Lwowa i inne wiersze ein Thema, in vielen Fällen zumindest implizit durch die Nennung von Orten, Ländern, Sehenswürdigkeiten. Das Gedicht »Albi« (1994: 36) eröffnet mit den Zeilen: »Der Reisende begrüßt die fremde Gegend,/in der er Glück erfahren/und vielleicht sogar das Gedächtnis wiedergewinnen möchte« (1997: 79, »PodróĪny pozdrawia nieznaną okolicĊ,/chciałby w niej zaznaü szczĊĞcia/a moĪe nawet odzyskaü pamiĊü«). Hier verbleibt der Reisende zunächst in der dritten Person, doch in der nächsten Strophe wird sich das lyrische Ich als dieser Reisende zu entdecken geben. Das Unterwegssein, soviel wird hier zumindest angetönt, meint bei Zagajewski auf jeden Fall nicht bloß die Flucht von etwas; sondern es bedeutet immer auch die Suche nach etwas, nach dem Glück etwa, nach einer Begegnung mit dem Transzendenten, nach der Poesie. In gewissem Sinn ist für das lyrische Ich auch das Leben nach dem Tod (oder der Tod selbst) mit dem Reisen verwandt: »Unsere Toten wohnen nicht in diesem Land/– seit Jahren sind sie auf Reisen« (2005: 17, »Widokówki«/Ansichtskarten, »Nasi zmarli nie mieszkają w tym kraju/– od lat są w podróĪy«). Auch der Ausdruck »turysta« (Tourist) kommt hie und da vor (»Sénanque«, 1999: 63; »Pełnia lata«, ebd.: 40; Die Fülle des Sommers). Die Suche nach Gott, nach Erfahrungen der Transzendenz, nach Momenten der Epiphanie5 verdichtet sich im Vokabular von Zagajewskis Gedichten im Wortfeld »pielgrzym« (Pilger) bzw. »pielgrzymstwo« (Pilgerschaft). Zwar werden diese Ausdrücke meist auf andere Personen bezogen. Aber in »Trzej królowie« (1994: 12-13; Die drei Könige) spricht das lyrische Ich selbst als einer der drei Könige. Diese ersten christlichen Pilger kommen im Gedicht zu spät. Zugleich wird die conditio desjenigen, der unterwegs ist, mit allen ihren Aspekten geschildert. Die drei Könige des Gedichts sind allerdings ›heutige‹ Pilger, worauf verschiedene Realia im Text selbst hindeuten. Gerade diese Übertragung in die Gegenwart erlaubt es, das Gedicht als eine Reflexion über das Unterwegssein in der heutigen Zeit zu lesen. In »Wakacje« (Ferien) beobachtet das lyrische Ich in einem Dorf am Meer das Treiben: »Oddychasz z ulgą – to tylko zmĊczeni pielgrzymi wracają do domu, niosąc słodki chleb zapomnienia, szczĊĞcie, milczenie.« (Zagajewski 1990: 23)

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Siehe dazu besonders Shallcross 2000.

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»Du atmest erleichtert – es sind nur müde Pilger, die heimkehren Und das süße Brot des Vergessens tragen, das Glück, Das Schweigen.« (Zagajewski 1997: 22)

Hier wird, wie oft in Zagajewskis Gedichten, auch schon eine Heimkehr nach Hause mitgedacht. »Wczesne godziny« (2005: 6; Frühe Stunden) erwähnt die »pielgrzymka« (Pilgerschaft) der Träume, und in »Kiedy ojciec wĊdrował« (2009: 28), einem Erinnerungsgedicht an den Vater, werden dessen Wanderungen durch die Berge mit den Pilgerfahrten nach Spanien verglichen. Der Vollständigkeit halber sei zum Schluss noch auf den Begriff des »Flüchtlings« hingewiesen, ein Thema, das etwa im Gedicht »UchodĨcy« (Flüchtlinge) behandelt wird. Darin wird das Flüchtlingsschicksal evoziert, wobei unerheblich ist, aus welchen Gründen und vor wem die Menschen flüchten müssen: »To moĪe byü BoĞnia, dzisiaj, Polska we wrzeĞniu 39, Francja osiem miesiĊcy póĨniej, Turyngia w 45, Somalia lub Afganistan, Egipt.« (Zagajewski 1994: 22) »Es könnte Bosnien sein, heute, Polen im September 39, Frankreich acht Monate später, Thüringen 45, Somalia oder Afghanistan oder Ägypten.« (Zagajewski 1997: 68)

Fassen wir zusammen: Das lyrische Ich konstituiert sich in Zagajewskis Gedichten als eines, das unterwegs ist. Mit Blick auf sich selbst, aber auch im Vergleich mit Anderen reflektiert das Ich der Gedichte seine conditio als diejenige eines Reisenden, Wanderers, Pilgers, Migranten und Flüchtlings. Es scheint dabei in all diesen Begriffen Elemente zu finden, die einen Teil seiner Erfahrungen widerspiegeln; zugleich ist aber auch keiner von ihnen geeignet, allein die Erfahrungen des lyrischen Ich abzudecken. Hier nimmt das Ich der Gedichte die Situation von Zagajewski selbst auf, dessen Unterwegssein weder als Flucht noch als Emigration oder Urlaub bezeichnet werden kann. Auch wenn sich das lyrische Ich der Gedichte immer wieder mit anderen vergleicht, so wird letztlich seine Ausreise aus Polen individuell dargestellt, und nicht etwa als Teil einer breiteren Emigrationswelle. Auch hat das lyrische Ich im Ausland keinen besonderen Beruf: Es ist kein Gastarbeiter, wie dies etwa bei Edward RedliĔski der Fall war,

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der seine Erfahrungen in den USA in verschiedenen Büchern geschildert hat (1985, 1994). Zagajewskis lyrisches Ich verharrt selbstverständlich auch nicht an einem einzigen Ort: Nicht einmal ein eigentliches ›Exilland‹ wird in den Gedichten klar benannt. Allerdings spielen Städte in Zagajewskis Lyrik eine besondere Rolle, wie verschiedentlich festgehalten worden ist.6

F REMDHEIT In dieser conditio des lyrischen Ichs, das sich stets in Bewegung befindet, schält sich ein Aspekt heraus, der für das Verständnis des lyrischen Ich von besonderer Bedeutung ist: nämlich diejenige der Fremdheit, des Unvertrauten, des Unbehausten. In den Gedichten drückt sich das vorwiegend in einer Semantik von »obcy« (fremd) bzw. »obcoĞü« (Fremdheit) aus. Diese Fremdheit ist allerdings nur zum Teil durch die Tatsache zu erklären, dass das lyrische Ich seine Heimat verlassen hat. Sie ist daher nicht nur in den Gedichten der eigentlichen ›Exilzeit‹ ein Thema, sondern bis hin zu den neuesten Bänden Anteny und Niewidzialna rĊka. Die Erfahrung von Fremdheit wird in Zagajewskis Gedichten viel breiter verstanden. Sie gehört für das lyrische Ich der Gedichte zwangsläufig zur menschlichen Existenz, dies freilich besonders dann, wenn sich der Mensch für ein Leben im Unterwegs entschieden hat, unabhängig davon, ob dieses freiwillig oder gezwungenermaßen zustande gekommen ist. Auch wenn der Eindruck von Fremdheit zunächst durch die Ausreise aus Polen ausgelöst worden sein mag und später dem lyrischen Ich aufgrund seines steten Unterwegsseins immer bewusst bleibt, so erweist sie sich doch letztlich vor allem als eine existentielle: Sie betrifft jeden, der sich auf einer Suche befindet. In Zagajewskis Gedichten finden sich immer wieder Reminiszenzen an eine Heimat als einem Gegenpol zu den Orten der Fremdheit. Diese wird hie und da auch benannt, als Lemberg, Krakau, Polen oder Vaterland. Öfter ist die Heimat allerdings nur indirekt präsent, etwa wenn Zagajewski in Ausdrücken wie »ein anderer Himmel« oder »fremde Stadt« nur implizit auf sie verweist. So eröffnet das Gedicht »Dla M.« (1994: 7; Für M.) mit den Zeilen »Unter den Sternen eines anderen Himmels lag ich/um Mitternacht im schwarzen Gras« (1997: 52, »Pod gwiazdami innego nieba leĪałem/w czarnej trawie o północy«). Freilich ist an solchen Stellen oft nicht einmal sicher, ob hier tatsächlich auf die Heimat oder aber bloß auf einen weiteren Etappenort der Wanderschaft verwiesen wird. Der

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Siehe besonders Nyczek 2002: 132-158 (über Lwów, Gliwice und Kraków). Zur Bedeutung Berlins für Zagajewski siehe Danielewicz-Kerski 2010.

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ruhende Gegenpol zum Unterwegssein bleibt unbestimmt. Im Gedicht »Daleko od domu« (1994: 10; Fern von zuhause) ist nicht eindeutig zu entscheiden, wo das im Titel genannte Haus, mit dem gemeinhin Heimat oder doch ein fester Wohnort assoziiert würde, tatsächlich zu verorten wäre. Es erstaunt denn auch nicht, dass das lyrische Ich in dem Gedicht »Rodzinny dom« (2009: 21; Vaterhaus) Jahre später zu sich selber sagt: »Hierher kommst du wie ein Fremder,/dabei ist das dein Vaterhaus« (»Przychodzisz tu jak obcy,/a to jest twój rodzinny dom«). Letztendlich kann der Ort, auf den sich die Fremdheit in Zagajewskis Gedichten bezieht, immer wieder ein anderer sein. Jeder Ort, an dem das lyrische Ich sich gerade befindet oder nicht befindet, kann das Attribut des ›Fremden‹ zugeschrieben erhalten. Im Gedicht »Piosenka emigranta« aus dem Band Jechaü do Lwowa i inne wiersze lässt sich diese conditio des Fremdseins exemplarisch verdichtet mitverfolgen: »Piosenka emigranta W obcych miastach przychodzimy na Ğwiat, nazywamy je ojczyzną, lecz niedługo wolno nam podziwiaü ich mury i wieĪe. Ze wschodu na zachód idziemy a przed nami toczy siĊ wielka obrĊcz płonącego słoĔca, przez którą lekko jak w cyrku przeskakuje oswojony lew. W obcych miastach oglądamy dzieła dawnych mistrzów i bez zdziwienia rozpoznajemy własne twarze na starych obrazach. IstnieliĞmy juĪ wczeĞniej i nawet znaliĞmy cierpienie, tylko brakowało nam słów. W cerkwi prawosławnej w ParyĪu ostatni biali siwi Rosjanie modlą siĊ do Boga, który jest młodszy od nich o stulecia i tak samo bezradny jak oni. W obcych miastach pozostaniemy, jak drzewa, jak kamienie.« (Zagajewski 1985: 16) [Lied des Emigranten In fremden Städten kommen wir zur Welt, wir nennen sie Heimat, doch nicht lange ist es uns erlaubt, ihre Mauern und Türme zu bewundern. Von Ost nach West gehen wir, und vor uns

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rollt der große Reifen der brennenden Sonne, durch den ganz leicht wie im Zirkus ein gezähmter Löwe hindurch springt. In fremden Städten betrachten wir die Werke alter Meister und ohne Staunen erkennen wir die eigenen Gesichter auf den alten Bildern. Wir existierten schon früher und kannten das Leiden, nur fehlten uns die Worte. In der orthodoxen Kirche in Paris beten die letzten weißen grauen Russen zu Gott, der um Jahrhunderte jünger ist als sie und ebenso ratlos wie sie. In fremden Städten werden wir bleiben, wie Bäume, wie Steine.]

Hier ist zwar im Titel noch vom Emigranten die Rede, aber später wird dieses Wort in Zagajewskis Gedichten kaum noch in Erscheinung treten. Wichtiger scheinen hier jedoch die fremden Städte (»obce miasta«), womit im Gedicht sowohl die Heimatstädte wie auch die Exilorte bezeichnet werden. So wird bestätigt, dass die Erfahrung von Fremdheit letztlich überall stattfinden kann. Damit wird erneut auch der Exildiskurs in Zagajewskis Gedichten abgeschwächt, denn es gibt bei ihm kein lyrisches Ich, das sich stets nur nach Hause sehnt. Fremdheit ist überall, und sie steht in der Mehrzahl: »Mieszkam w obcych miastach i niekiedy rozmawiam z obcymi ludĨmi o rzeczach, które są mi obce.« (»Autoportret«; Zagajewski 1999: 79) »Ich wohne in fremden Städten und unterhalte mich manchmal mit fremden Menschen über Dinge, die mir fremd sind.« (»Selbstbildnis«; Zagajewski 2003b: 102)

Die Erfahrung von Fremdheit wird in den Gedichten gerade mit Bezug auf die Städte immer wieder thematisiert. Dabei gilt aber auch festzuhalten, dass sie keineswegs nur negative Zuschreibungen erhält, wie das folgende Beispiel zeigt: »W obcych miastach jest radoĞü nieznana, zimne szczĊĞcie nowego spojrzenia.« (»W obcych miastach«; Zagajewski 1990: 24) »In fremden Städten wohnt unbekannte Freude, das kalte Glück eines neuen Blicks.« (»In fremden Städten«; Zagajewski 1997: 19)

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So lauten die ersten Zeilen des Gedichts. Ganz ähnlich in »W obcym mieĞcie« (2005: 25; In einer fremden Stadt), wo in einer nicht genannten Stadt am Mittelmeer ebenfalls das Glück gefunden wird. – Das Thema des Fremdseins weicht, wie schon erwähnt, auch nach 1989 nicht aus Zagajewskis Gedichten, zu einem Zeitpunkt, als die Heimat für den Autor wieder erreichbar geworden ist. Das Ich sucht in ihm »fremden« Städten auch weiterhin nach etwas Vertrautem oder aber Neuem, es wendet sich der Natur, der Kunst, dem Meer und dem Leben zu. Und doch erfährt es auch jetzt noch Lektionen der Fremdheit. Stets ist das lyrische Ich aber bemüht, an Bekanntem anzuschließen und sich in der für es zunächst fremden Umgebung zu verorten. Das Unterwegssein ermöglicht auch die Erinnerung und das Gedenken: Begegnungen, Gegebenheiten, Bäume, Kirchen, das Meer an den bereisten Orten können in mannigfaltiger Weise die Erinnerung auslösen. Letztlich sucht das lyrische Ich an den fremden Orten die Momente des Dauerns. Es sucht sie in Architektur, Literatur, Kunst und Religion. Diese Sehnsucht nach dem Festhalten des Augenblicks mag besonders für ein lyrisches Ich bezeichnend sein, das unterwegs ist und immer wieder neuen Situationen ausgesetzt ist. Das lyrische Ich in Zagajewskis Gedichten inszeniert sich eher als dasjenige eines Reisenden denn als das eines Vertriebenen. Es hat sich aber – vielleicht gerade wegen der ursprünglichen Erfahrung des Exils – eine besondere Sensibilität für die Erfahrungen des Fremdseins bewahrt. In dieser Perspektive könnte man Zagajewski als Reiseschriftsteller bezeichnen, der in Versen schreibt.

D AS H EIMKEHREN Auch wenn Adam Zagajewski in seinen Gedichten kein typisches EmigrantenIch entwirft – wie wir festgestellt haben –, so spielt doch auch das Motiv des Heimkehrens eine wichtige Rolle. Es ist in seinen Bänden immer wieder ein Thema und kulminiert schließlich im Band Powrót aus dem Jahr 2003, wo es zum dominierenden Thema wird. Das Heimkehren ist allerdings bei Zagajewski nicht unbedingt in erster Linie eine Rückkehr in die polnische Heimat, die vor allem das Ende eines Exils markieren würde. Gemäß den bisherigen Überlegungen macht das lyrische Ich überall die Erfahrung von Fremdheit. Es ist daher auch nicht so einfach, das Ziel einer allfälligen Rückkehr geografisch zu verorten: Wo läge denn überhaupt dieser Ort, an den das lyrische Ich zurückkehren könnte? Lwów, Kraków, Gliwice – oder aber eine ganz andere Stadt? Jedenfalls ist dieser Ort bei Zagajewski durchaus nicht automatisch Polen. Es stellt sich sogar die Frage, ob unter den genannten Bedingungen – das Ich definiert sich ge-

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rade über sein stetes Unterwegssein – eine endgültige Rückkehr überhaupt möglich ist. Es geht beim Heimkehren in Zagajewskis Gedichten daher eher um den Gedanken einer Reintegration des Früheren ins Leben, um ein Schließen des Kreises, um ein Ankommen in der Fülle des Lebens, letztlich sogar um eine Begegnung mit Gott. Dieser Zustand wird nun zwar angestrebt, bleibt aber zugleich weitgehend ein Ideal, dem sich das lyrische Ich wohl anzunähern versucht, das es aber nicht unbedingt auch erreicht – und wenn, dann höchstens für einen Augenblick. Das Heimkehren ist deshalb eher als ein Prozess zu verstehen, der vielleicht mehr über den Wunsch des lyrischen Ich aussagt, sich mit sich selbst eins zu fühlen, als über die Koordinaten der ›Heimat‹ selbst. Der Wunsch nach Rückkehr wird schon früh im berühmten Gedicht »Jechaü do Lwowa« machtvoll formuliert: »Jechaü do Lwowa. Z którego dworca jechaü do Lwowa, jeĪeli nie we Ğnie, o Ğwicie, gdy rosa na walizkach i właĞnie rodzą siĊ ekspresy i torpedy. Nagle wyjechaü do Lwowa, w Ğrodku nocy w dzieĔ, we wrzeĞniu lub w marcu.« (Zagajewski 1985: 35) »Nach Lemberg fahren. Von welchem Bahnhof nach Lemberg, wenn nicht im Traum, bei Tagesanbruch, wenn Tau die Koffer bedeckt und Schnellzüge und Expresse eben geboren werden. Plötzlich nach Lemberg fahren, um Mitternacht, tags, im September oder im März.« (»Nach Lemberg fahren«; Zagajewski 2003b: 43)

Hier wird in Infinitiven der Wunsch nach einer Reise nach Lemberg ausgedrückt – der Stil lehnt sich aber auch an die Sprache eines Rezepts an. Von einer Rückkehr ist allerdings im Gedicht nicht die Rede; das Heimkehren ist nur indirekt präsent in den Erinnerungen an die Stadt, besonders durch die Verortung über die Familie, wenn später von Tanten und Onkeln die Rede ist, aber auch durch einen Einschub wie »pamiĊtasz« (weißt du noch), wenn etwa die Lemberger Kathedrale evoziert wird. Lwów wird in elegischer Stimmung und mythisch überhöht als eine Art verlorenes Paradies beschrieben. Das Gedicht gipfelt im Ausspruch »Lwów jest wszĊdzie« (Lemberg ist überall), der drei Deutungen erlaubt: Die Bewohner des alten Lwów sind nun überall verstreut und haben ihre Stadt in ihren Erinnerungen mitgenommen, man muss sie sich also im Exil zusammensuchen. In diesem Sinne wäre aber eine Rückkehr in das frühere

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Lwów nicht physisch, sondern nur in diesen Erinnerungen möglich. Die zweite Lesart: Jeder mag so ein verlorenes Paradies haben, für die einen ist es Lwów, für die anderen Wilno usw. In einer dritten Interpretation könnte man aber gerade auch argumentieren, dass das lyrische Ich überall Heimat finden kann, auch jenseits des konkreten Ursprungsorts. Es spielt dann auch keine Rolle mehr, dass im Gedicht in gewissem Sinn die Reise in die falsche Stadt thematisiert wird, denn es geht ja um einen Ort, den Zagajewski nicht direkt kennen konnte – jedenfalls nicht aus frühester eigener Anschauung. Die erste Erfahrung von Exil und Fremdheit – und eben auch von Rückkehr! – liegt damit also jenseits der für den Autor tatsächlich biografisch fassbaren Erfahrung. Das ist vielleicht bezeichnend, wird hier doch das Fremdheitsthema bei Zagajewski vielleicht ursächlich und mythisch überhöht auf jene frühe Flucht zurückgeführt.7 Die zweite Sehnsuchtsstadt in Zagajewskis Werk, Krakau, die Stadt der Jugendzeit und des Studiums, in der er sich vom Herbst 1963 bis zur Ausreise 1982 aufgehalten hat, wird im selben Band aufgerufen, und zwar an prominenter Stelle, nämlich im letzten Gedicht »Widok Krakowa« (1985: 76-77; Panorama von Krakau). Hier wird die räumliche Distanz zwischen lyrischem Ich und der Stadt vorerst bloß durch das Kunstmittel einer Gesamtschau aufgehoben: »Przede mną Kraków w szarej kotlinie« (1985: 76; Vor mir Krakau im grauen Talgrund; 2003b: 59), beginnt das Gedicht, doch wird im Kontext des Bandes deutlich, dass hier Krakau nur herbeigesehnt, nicht aber tatsächlich wiedergewonnen wird. Ganz ähnlich wird um viele Jahre später in einem anderen Gedicht mit Hilfe eines Fotos noch einmal Lwów vergegenwärtigt: »PatrzĊ na fotografiĊ miasta, w którym siĊ urodziłem.« (2009: 76-77; Ich schaue ein Foto der Stadt an, in der ich geboren wurde). Die erwähnten Gedichte sind also in der Tat weniger Rückkehrgedichte als vielmehr ›Rücksehngedichte‹, welche aber eine Rückkehr in als Heimat verstandene Regionen gleichwohl thematisieren, indem sie ihre Möglichkeit ausloten. Die tatsächliche Rückkehr führt den Dichter schließlich dann nach Krakau, wo er sich 2002 niederlässt. Literarisch wird sie im Band Powrót sehr ausführlich protokolliert. Hier wird die Rückkehr als ein langsames, allmähliches Wiederinbesitznehmen Krakaus dargestellt. Auf dem Titelblatt des Bandes ist eine Türklingel abgebildet, welche eine Rückkehr nach Hause andeutet. In den Gedichten evoziert Zagajewski immer wieder die Stadt Krakau, obwohl sie namentlich nicht genannt wird. Sie ist nur über die Namen von Straßen oder anderen

7

Tadeusz Nyczek schreibt: »Lwów jest najwiĊkszym mitem polskim dwudziestego wieku« (Nyczek 2002: 135; Lemberg ist der größte polnische Mythos des 20. Jahrhunderts).

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Orten als solche zu erkennen. Auch Kirchen, Stadtviertel oder der Botanische Garten werden aufgerufen. Das Wort »ulica« (Straße) erscheint insgesamt 22 Mal. Über diese topografischen Eckpunkte betreibt Zagajewski eine Anrufung und Vergegenwärtigung Krakaus, eine Art Invokation der Stadt, die zugleich Erinnerungen an früher heraufbeschwört. In mehreren Spaziergängen spannt das lyrische Ich des Bandes eine Art Koordinatennetz über die Stadt, um sich diese in einem Prozess der Landnahme neu anzueignen. Die Stadt wird wieder in das Leben des lyrischen Ichs integriert. Sie wird abgeschritten, vermessen, inventarisiert (mehr dazu in Henseler 2010). Dabei vermischen sich die frühere und die heutige Stadt. Nach einem Einleitungsgedicht »Wieczorem« (2003a: 5; Abends) werden in einem Zyklus »W drodze« (ebd.: 6-8; Unterwegs) in 14 nummerierten kurzen Gedichten noch einmal die Reisen des lyrischen Ich evoziert. Ob die Zahl 14 auch auf eine Art Kreuzweg verweist, bleibe dahin gestellt. Allerdings ist eine religiöse Thematik im Band nicht von der Hand zu weisen, wird doch die Reintegration des Früheren auch als ein Ankommen bei Gott geschildert. Doch dieser Zyklus ist keine eindeutige Vorbereitung auf Krakau, denn die darin evozierten Orte befinden sich überall und es ergibt sich keine klare Linie, die allein auf Krakau zuführen würde. Der Subzyklus konterkariert schon eher das im Band sonst geschilderte Heimkehren nach Krakau und macht noch einmal die Bedeutung des Unterwegsseins für das lyrische Ich bewusst. Später werden in einem Gedicht die Krakauer Parkanlagen »Błonia« wegen ihrer Form mit Sizilien verglichen – ebenfalls ein Hinweis dafür, dass auch im Ankommen das Reisen präsent bleibt (»Sycylia«; ebd.: 10; Sizilien). Powrót erkundet ganz allgemein die Möglichkeit nach einer Heimkehr. In der Beschreibung der Ulica Długa sinniert das lyrische Ich, ob eine vollständige Rückkehr tatsächlich möglich ist: »Tutaj spĊdziłeĞ pierwsze lata w renesansowym, dumnym mieĞcie, […] a teraz zastanawiasz siĊ, czy potrafisz powróciü do zachwytu tamtych lat, czy jeszcze potrafisz tak nic nie wiedzieü i tak mocno pragnąü« (ebd.: 17) [Hier verbrachtest du die ersten Jahre in einer stolzen Renaissance-Stadt, […] und jetzt überlegst du, ob es dir gelingen wird, zum Entzücken jener Jahre

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zurückzukehren, ob es dir noch einmal gelingen wird, so nichts zu wissen und so sehr zu wünschen]

In »Czy warto« fragt sich das lyrische Ich außerdem, ob es sich gelohnt habe, so lange unterwegs zu sein, um die Antwort dann offen zu lassen: »Lohnt es sich, abzureisen und zurückzukehren, lohnt es sich –/ja nein ja nein – nichts ankreuzen« (ebd.: 41, »czy warto odjechaü i wróciü, czy warto –/tak nie tak nie – nic nie skreĞliü«). Dennoch fällt das bestätigende Wort »wróciłem« im Band immer wieder – alleine im Gedicht »TĊcza« (ebd.: 22; Regenbogen) dreimal. Und schließlich gibt es auch die Augenblicke, während denen das Zusammenführen von früher und heute gelingt: »Poranek […] Nadszedł moment, kiedy po długich negocjacjach, zrywanych i znowu podejmowanych, i porzucanych, przeszłoĞü, mądra i sucha jak niektóre pergaminy, postanowiła siĊ pogodziü z błahoĞcią dnia, z improwizacją tego poranku, jego wilgotnym oddechem, z wilgotnoĞcią moich myĞli, moim niepokojem, i delegacja umarłych – poeci, ale i nocni stróĪe, doĞwiadczeni w badaniu ciemnoĞci, i połoĪne, które widziały, jak otwierały siĊ ciała – zgodziła siĊ, Īeby nastała najwyĪsza chwila, w ciszy, w niedzielny poranek, kiedy spokojnie płoną drzewa, zgodziła siĊ warunkowo, Īebym odĪył i zrozumiał, Īe nadszedł moment, nadszedł moment – i wkrótce przeminie.« (Ebd.: 20) [Der Morgen […] Der Augenblick ist gekommen, wo nach langen Verhandlungen, abgerissen und wieder aufgenommen, und wieder aufgegeben, die Vergangenheit, weise und trocken wie gewisse Pergamente, beschlossen hat, sich mit der Belanglosigkeit des Tages zu versöhnen, mit der Improvisation dieses Morgens, seinem feuchten Atem, mit der Feuchtigkeit meiner Gedanken, mit meiner Unruhe, und eine Delegation von Toten – Dichter, aber auch Nachtwächter, erfahren im Erforschen der Dunkelheit, und Hebammen, welche gesehen haben, wie Körper sich öffnen – eine Delegation hat eingewilligt, dass der höchste Augenblick kommen mag,

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in der Stille, an einem Sonntagmorgen, wenn ruhig die Bäume brennen, hat bedingt eingewilligt, dass ich wieder zum Leben erwache und dass ich begreife, dass der Augenblick gekommen ist, der Augenblick gekommen ist – und bald vorbei sein wird.]

Damit wäre das lyrische Ich tatsächlich endgültig in Krakau angekommen. Zugleich ist der »höchste Augenblick« auch ein Moment der Präsenz Gottes in der Gegenwart. Nicht von ungefähr läuft das Geschehen hier am Tag des Herrn ab. Freilich bleibt dieser Moment des Absoluten hier brüchig – er ist nicht dauerhaft. Das Heimkehren ist nur denkbar vor dem Hintergrund der vorangegangenen Jahre des Unterwegsseins, und folglich vermischen sich hier wiederum verschiedene Elemente: Es geht natürlich auch um eine Rückkehr in die Heimat und eine Rückkehr zur Zeit der Jugend. Zugleich bedeutet diese Rückkehr aber auch das erneute Ankommen bei der Poesie und bei Gott. Hierin manifestiert sich noch einmal die conditio des Menschen als diejenige eines Suchenden, der gerade über die Erfahrungen der Wanderschaft und des Fremdseins schließlich doch wieder zu sich selber finden und den Kreis schließen kann. Im Gedichtband Powrót kehren der Wanderer und Reisende, der Vertriebene und Getriebene, der Pilger wieder nach Hause zurück. Aber das Zuhause ist eine Heimat, die viel größer ist als eine Stadt oder ein Land es sein kann. Es ist der Moment, in dem das lyrische Ich zur Ruhe kommen und, wie im Gedicht »Poezja jest poszukiwaniem blasku« (Die Poesie ist eine Suche nach Glanz), in Anlehnung an Goethe ausrufen kann: »Pozwól mi wytrwaü« (ebd.: 43; Gestatte mir, zu dauern).

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Ironie, Groteske und Surrealismus oder Universalsprachen Das Beispiel Natasza Goerke A LINA M OLISAK »Nasza literatura pozbawiona wszelkiego istotnego indywidualizmu, umiała zdobyü siĊ jedynie na afirmacjĊ narodu.« (GOMBROWICZ, DZIENNIK) »Unsere Literatur […], der es an wirklichem Individualismus immer fehlte, brachte nur eine Affirmation der Nation zustande.« (WITOLD GOMBROWICZ, TAGEBUCH 1957)

Was einst als Emigration bezeichnet wurde, hat sich an der Schwelle zum 21. Jahrhundert weit vom traditionellen Paradigma entfernt. Der klassische Emigrationsbegriff, der historisch mit dem gezielten, intentionalen Verlassen eines Wohnortes und der (mitunter erzwungenen) Wahl eines neuen verbunden war, scheint an Bedeutung zu verlieren. Weitaus häufiger liegt Migrationen heute die Suche nach vielfältigen Alternativen zugrunde, wenngleich ökonomische oder politische Faktoren für den Aufbruch in einen neuen Lebensraum nach wie vor eine entscheidende Rolle spielen. Ein wichtiger Bestandteil der postmodernen Welt sind jedoch auch Migrationsbewegungen auf der Suche nach einem alternativen Lebensstil, aus Interesse an anderen Kulturkreisen oder als Votum für eine unkonventionelle Art, die Welt zu erfahren. Heute können Ortswechsel, eher Migrationen im Allgemeinen als Emigrationen, wohl aus einer anderen Perspektive betrachtet werden, zumal im Lichte der fortschreitenden Globalisierung oder der Diagnosen Zygmunt Baumans über die

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Verfasstheit des heutigen Individuums und seine flüchtige Identität (»liquid identity«). Diese allgemeinen Feststellungen lassen sich auch auf die Situation von Künstlern übertragen, die früher als Schriftsteller der Emigration bezeichnet worden wären. Wie lässt sich das Werk Izabela Filipiaks einordnen, die ihr Debüt in New York vorlegte und später sowohl in Polen als auch in Kalifornien schrieb? Auch das (nur zum Teil im Ausland entstandene) Werk Manuela Gretkowskas ist mit den traditionellen Kategorien nicht zu fassen, und diese Liste ließe sich noch erweitern. Es ist wohl angebracht, einige Autoren heute als Schriftsteller der Migration zu bezeichnen.1 Das Schaffen Polnisch schreibender Autoren außerhalb Polens in den vergangenen zwanzig Jahren möchte ich grob einteilen in Texte, die häufig und explizit von ›Verstrickungen ins Polnischsein‹ handeln, und Texte, die sich eher universell mit dem menschlichen Schicksal befassen. Dabei sind die ›Verstrickungen‹ recht weit gefasst, da sie sich in der Gegenwartsliteratur meist weniger in Sentimentalität oder harscher Kritik äußern, sondern in der Revision von Stereotypen oder ebenso häufig im Spiel mit starren, schematischen Vorstellungen über das polnische kulturelle Erbe. Ein Musterbeispiel für die zweite, ›universelle‹ Strategie, die seltener anzutreffen ist, liefert die Prosa Natasza Goerkes. Die Analyse ihres Schaffens soll verdeutlichen, wie die Autorin den originellen literarischen Gedanken der (post)modernen Literatur polnischer Migranten (die keine Emigranten mehr sind) formuliert. Inwiefern sich das Schaffen Natasza Goerkes von anderen Prosawerken der ›Migrantenliteratur‹ abhebt, soll an einigen Charakteristika vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse und im Kontext der zeitgenössischen Literatur veranschaulicht werden. In besonderer Weise kennzeichnend für Goerke scheinen Ironie und Groteske zu sein, die die Autorin nicht zuletzt einsetzt, um sich möglichst universell artikulieren zu können. Natürlich haben auch die anderen Autoren die Literatur des 20. Jahrhunderts gelesen, sie reagieren jedoch ganz anders darauf, wenn sie polnische Haltungen wie bereits erwähnt spielerisch oder in einem neuen Licht auf die Welt treffen lassen.

1

Ein weiteres Merkmal, das beinah in der gesamten polnischen Literatur der mittleren und jungen Generation anzutreffen ist, habe ich als »Grenzüberschreitung« beschrieben. Besonders stark ausgeprägt ist es bei Schriftstellern, die außerhalb Polens schreiben. »Grenzüberschreitungen« finden auf ganz unterschiedlichen Ebenen statt. (Vgl. Molisak 1996: 7-11)

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Ein erstes wichtiges Merkmal ist das A-polnische der Goerkeschen Prosa. Sie schreibt zwar Polnisch, lässt in ihren Texten aber nur selten Polen als Raum auftreten, der die Andersartigkeit der Welt erfahrbar macht. Wenn doch einmal Anzeichen oder Signale für eine Bezugnahme auf das kulturelle Erbe vorhanden sind, so wird es überwiegend distanziert oder humorvoll mit Ironie und sanftem Spott bedacht. Ein polnischer Akzent in »Bramin« (Der Brahmane) ist die von Ravi Shankar gesungene Melodie von »MaryĞ, moja MaryĞ«. Einer der Protagonisten erklärt das folgendermaßen: »Mein Cousin Ravi erinnert sich nicht so gern an seine früheren Inkarnationen, und seit er in einer höheren Kaste inkarniert ist, überhaupt nur noch beim Baden« (Goerke 2004: 24, » Mój kuzyn Ravi niechĊtnie wspomina swe poprzednie wcielenia, a odkąd inkarnował siĊ w godziwej kaĞcie, czyni to jedynie podczas kąpieli«). Mit diskretem ironischem Humor wird in der Porträtstudie »Sosoma Granda« die schematische polnische Identität auf die Schippe genommen. So wird die an die Titelheldin gerichtete fundamentale Frage »Wer bin ich?« mit einer Pointe kommentiert: »I to juĪ koniec historii: wszak Īycie to nie spacer w czapce niewidce, ani ksiąĪka o Indianach Bella Bella, ani wesołe miasteczko; co wiĊcej: to nawet nie piknik urządzany przez Kwakiutlów pod palmą czy zupa z ryjków miĊczaków. ĩycie jest schabowym kotletem, który trzeba jeĞü, trawiü i nie kombinowaü.« (Goerke 1997a: 73) »Und das ist auch schon das Ende der Geschichte: Das Leben ist weder ein Spaziergang mit Tarnkappe noch ein Buch über die Bella-Bella-Indianer, es ist kein Rummelplatz, ja, nicht einmal ein von den Kwaktiukli2 unter den Palmen veranstaltetes Picknick oder gar ihre berühmte Suppe aus Molluskenrüsselchen. Das Leben ist ein Schweinekotelett. Man muß es essen und verdauen, statt müßig zu spekulieren.« (Goerke 1997b: 53)

Bei Goerke finden sich auch noch an anderer Stelle derlei kleine, scherzhafte Anspielungen. Im Unterschied zu anderen Autoren, die sich der außerpolnischen Realität stellen, verzichtet sie aber auf das typische ›gefährliche Andere in mir‹,

2

Eigentlich »Kwiatukl«, daher möglicherweise ein Tipp- oder Lesefehler des Übersetzers Henryk Bereska [Anmerkung des Übersetzers, T.W.].

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das allgegenwärtige, unbequeme (wenngleich geerbte) Polnischsein, das vielfältigen Exorzierungsversuchen unterzogen wird.3 Interessant ist auch der Umgang mit dem Raum in Goerkes Prosa. Ein Großteil ihrer Helden ist typischerweise ohne festen Wohnsitz, sie wohnen mal hier, mal da. Häufig kehren die nicht gegebene feste Verortung, fehlende Wurzeln und der Mangel an verlässlichen Bezugspunkten in den Texten wieder. Sie könnten überall auf dem Globus zu finden sein, Polen nimmt hier nie eine Sonderstellung ein. Bei Goerke gibt es nicht den einen Ort, den man verlässt und dem man verbunden bleibt, oder den anderen, den man sich langsam zu eigen macht. Vielmehr ist eine Neuerschließung von Räumen zu beobachten, eine Art Interim, eine bewusste, umfassende Nicht-Aneignung. Eine Heldin in »Przed burzą« (Vor dem Sturm) studiert vom Reisefieber gepackt die Weltkarte und ist begeistert von der Vielzahl der Orte: »Ich hätte nie gedacht, dass es so viele Länder auf der Erde gibt. Fürstentümer, Königreiche, Republiken – und diese Namen, diese Einfälle!« (Goerke 2004: 9, »Nawet nie przypuszczałam, Īe tyle krajów istnieje na Ziemi. KsiĊstwa, królestwa, republiki – a co za nazwy, co za pomysły!«). Fantastische Länder kommen vor, darunter wahre Zungenbrecher wie Mnumbwa: »Die Menschen, die ihrem Land so einen Namen gegeben haben, müssen wirklich ein Volk der Dichter sein« (ebd., »Ludzie, którzy swojemu krajowi nadali takie imiĊ, muszą byü doprawdy narodem poetów«). Die Länder, in die die Helden aufbrechen, wenn sie ihr Leben umkrempeln, können ganz unterschiedlich aussehen. Freizügigkeit ist allgemein akzeptiert. Als Personifizierung des Nomadentums erscheint Christian Pst aus der Erzählung »Balast« (Ballast), der »ein geheimnisvolles Dasein führte: Lautlos bewegte er sich durchs Leben, mied einmal besuchte Orte und zog einen Faden hinter sich her« (Goerke 2004:133, »istniał tajemniczo: bezgłoĞnie poruszał siĊ po Īyciu, unikał tych samych miejsc, ciągnął za sobą sznurek«). Er erklärt selbst, dass kärglicher Besitz und die Reduzierung jeglicher Bindung dem modernen Leben geschuldet sind: »Was nützen dir Anker, wenn kein Hafen da ist, seufzte er und hastete blindlings weiter« (ebd., »Po co kotwice, skoro brak portu, wzdychał i leciał, nie patrząc dokąd«). Der Raum erscheint in vielen Ausprägungen eher als Raum der Vielfalt, der Aktion, des Ortswechsels, der Ausreisegedanken und der Konkretisierung von

3

Trefflich und hochironisch spielt Goerke mit der Legende von Wanda (die keinen Deutschen wollte) und der Erwähnung der Himalaya-Bergsteigerin Wanda Rutkiewicz in der Erzählung »Waiting underground (transgresje)« (Goerke 2002: 80-81), »Waiting underground – Übergänge« (Goerke 2000: 101-108).

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Reiseplänen. So schafft er wiederum Raum für die Erzählung menschlicher Schicksale und verschiedener Daseinsformen. Ein wesentliches Merkmal der meisten Subjekte in Goerkes Texten ist das In-Bewegung-sein, der Ortswechsel. Selbst wenn die Erzählung zeitweise an einen Ort gebunden ist, wird das Vorübergehende dieses Zustands fast immer betont. Die Migration des Subjekts stellt nicht mehr (wie noch im alten, auch außereuropäischen Topos) automatisch eine Bedrohung für die Identität des Einzelnen dar. Er konstruiert sich ja seine Identität, indem er eine Auswahl aus den Varianten trifft, die er als Weltenbummler vorfindet. In der Abgrenzung gegen eindeutige Festlegungen und Identifizierungen innerhalb kultureller Konstrukte, etwa der binären Gegensatzpaare männlich/weiblich oder polnisch/fremd, erhält er seine Unabhängigkeit und die Chance zur Selbstverwirklichung (z.B. ›doing gender‹ oder ›doing ethnicity‹). Ein anschauliches und witziges Beispiel für ›doing gender‹ ist die Erzählung »Powrót« (Rückkehr), die mit dem Bekenntnis eines männlichen Ich-Erzählers eröffnet: »Ich wusste, dass ich wieder eine Frau bin. Meine Form gefiel mir, und ich bewegte mich so frei in ihr wie ein Schauspieler, der bereit ist für eine neue Rolle.« (Ebd. 116, »Wiedziałem, ze znowu jestem kobietą. Moja własna forma bawiła mnie i poruszałem siĊ w niej ze swobodą aktora otwartego na nową rolĊ«). Ein weiterer Punkt, in dem sich die Prosa Goerkes von anderen Migrationsliteraturen unterscheidet, ist die Identität, die als ›Identität in Bewegung‹ beschrieben werden könnte und die als Grundpfeiler der Existenz angesehen wird. Die Diskussion der beiden Protagonisten in der längeren Erzählung »Trzeci brzeg« (Das dritte Ufer) dreht sich um die Wahl der nächsten Orte: Weil es in Dänemark immerzu regnet, könnte man nach Polen oder Tibet gehen, Australien und Kanada scheiden eher aus, denn von dort ist es »überall hin zu weit« (Goerke 1997b: 8; Goerke 2004: 95f.: »wszĊdzie za daleko«). Die dramatischen Versuche der Heldin, sich aus den Verstrickungen zwischen dem Buddhisten Kalsang und dem imaginären, aber sehr präsenten Piechocki zu befreien, kulminieren in der Erklärung: »Ich gehe vor mich hin […]. Und ich werde mein Ufer finden, ein Ufer, zu dem man nicht emigrieren muß – Buddha wird für uns drei am Kreuz sterben, die einzige Jahreszeit wird Lachen sein« (Goerke 1997b: 16; Goerke 2004: 102: »IdĊ przed siebie […]. Sama sobie znajdĊ taki brzeg, i to taki na który nie trzeba emigrowaü – Budda umrze za nas troje na krzyĪu, jedyną porą roku bĊdzie Ğmiech«). Nicht der Ort soll also das Dasein bestimmen, sondern der Weg, der Weg des gewählten Fortgangs. Selbst in den Lehren des alten Meisters in der Erzählung »Spadek« (Erbe) findet sich ein ganz konkreter Hinweis. Der Schüler, der Jahre über seinen Büchern zubringt, sich für einen Intellektuellen hält und keine Zeit für fruchtlose

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Spaziergänge aufbringen möchte, wird deutlich zurechtgewiesen: »Jerzy, du liest zu viel und gehst zu wenig […]. Wer tausend Bücher gelesen hat, sollte wenigstens tausend Meilen gegangen sein« (Goerke 1997b: 40f.; Goerke 2004: 79: »Jerzy, za duĪo czytasz, a za mało chodzisz […]. Po przeczytaniu tysiąca ksiąg powinno siĊ przejĞü co najmniej tysiąc mil«). Das Immobile der mit fremden Weisheiten gefüllten Bibliothek muss, so der Meister, mit der peripatetischen Praxis konfrontiert werden. Wichtig ist die Bewegung selbst, nicht das Ziel: »Całe Īycie włóczyłem siĊ najróĪniejszymi ulicami Ğwiata. Niektóre płynĊły, niektóre wysychały, niektórych po prostu nie zauwaĪałem. Przebiegałem je, jak przebiega siĊ drogĊ ze Īłobka do biura: nie wiadomo kiedy, nie wiadomo po co, w poĞpiechu« (Goerke 2004: 67) [Mein Leben lang bin ich die unterschiedlichsten Wege dieser Welt gegangen. Manche strömten, manche trockneten aus, manche habe ich einfach nicht wahrgenommen. Ich habe sie zurückgelegt, wie den Weg von der Krippe ins Büro: ich weiß nicht wann, ich weiß nicht wozu, in Eile],

so die Definition des eigenen Lebens durch den Protagonisten in »Niemaroberta piĊü« (Robertistweg fünf). Migration und Ortswechsel sind hier erlebte, erfahrene Realität und ein anhaltender Prozess der Existenzbildung, der Neuformierung des Ich und der Beziehungen zu anderen. Das Protagonistenpaar in »KoĔ na biegunach« (Das Schaukelpferd) ist real auf Reisen, sieht sich aber selbst als diejenigen, die »in den Salons der Wirklichkeit [herumirrten]« (»bezradnie błąkali siĊ po salonach rzeczywistoĞci«) und dabei in Richtung »mit Abstraktheiten gepflasterter Seitenwege« (»wysłanych abstrakcją traktów«) abdriften. Das Paar tauscht sich aus, indem es sich gegenseitig lokalisiert: »– Kochanie, jestem w Kalkucie! – oznajmiłam przez telefon w dniu, w którym polecieü mieliĞmy na grzyby do Norwegii. […] – BoĪe, kamieĔ spadł mi z serca! – ucieszył siĊ Salomon. – Za chwilĊ wylatujĊ do Toronto w związku z pewnym sympozjum i zupełnie nie wiedziałem, jak ciĊ zawiadomiü…« (Goerke 1997a: 25f.) »›Liebling, leider bin ich in Kalkutta gelandet!‹ verkündete ich durchs Telefon an dem Tag, an dem wir nach Norwegen zum Pilzesammeln hatten fliegen wollen. […] ›Großer Gott, mir fällt ein Stein vom Herzen‹, rief Salomon erfreut. ›In wenigen Minuten fliege ich zu einem Symposion nach Toronto und zerbreche mir den Kopf, wie dich verständigen …‹« (Goerke 1997b: 74)

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Zwischenmenschliche Beziehungen ergeben sich aus der ständigen Bewegung der Figuren, und auch die Figuren selbst erschaffen sich vor dem Hintergrund ihrer Reisen, in der Auseinandersetzung mit den vielen Gesichtern der Welt. So kommt ein Held in »Sklepy przeĞcieradłowe« (Die Bettlakenläden) zu dem Schluss: »Meine Identität war die Synthese aus allen Regenbogenfarben: sie war weiß. Auch die Konturen meines Wesens wurden zunehmend unscharf, sie verschwammen allmählich mit den Konturen der Formen in meiner Umgebung« (Goerke 2004: 40f., »ToĪsamoĞü moja stanowiła syntezĊ wszystkich kolorów tĊczy: była biała. TakĪe kontury mojej istoty coraz bardziej traciły ostroĞü i stopniowo zlewały siĊ z konturami otaczających mnie zewsząd form«). Reisen, Migration und Ortswechsel verbinden viele der so unterschiedlichen Figuren in Goerkes Prosa, aber auch in den Gegenwartsdiagnosen der Autorin: »TuryĞci i migranci to jedynie dwie biegunowe grupy na mapie ludzkich wĊdrówek. PomiĊdzy przyjemnoĞcią a przymusem roztaczają siĊ bowiem niezmierzone połacie ruchomych oceanów i lądów – to ci wszyscy, którzy przemieszczają siĊ w innych celach i z innych powodów: goĞcie jadący w odwiedziny, gastarbajterzy i gastprofesorowie, studenci i stypendyĞci, sezonowi robotnicy i zarobkowi emigranci, Īołnierze na (pokojowych) misjach, misjonarze, managerowie, urzĊdnicy na delegacjach, wĊdrowni artyĞci, komiwojaĪerowie czy inkarnacje nomadów ze skłonnoĞcią do globetrotterstwa. Oraz ci, którzy wĊdrują w myĞlach z tymi, którzy wyjechali naprawdĊ.« (Goerke 2010: 4f.) [Touristen und Migranten sind nur die beiden Pole auf der Karte menschlicher Wandergruppen. Zwischen Vergnügen und Zwang liegen schließlich die unendlichen Weiten mobiler Ozeane und Kontinente – all jene, die aus anderen Gründen und mit anderen Zielen unterwegs sind: Besuchsreisende, Gastarbeiter und Gastprofessoren, Studenten und Stipendiaten, Saisonarbeiter und Arbeitsmigranten, Soldaten in (Friedens-)Missionen, Missionare, Manager, Beamte auf Dienstreise, Straßenkünstler, Handelsvertreter oder Inkarnationen der Nomaden mit Globetrotter-Gen. Und jene, die in Gedanken mit denen mitreisen, die tatsächlich aufgebrochen sind.]

Einige Erzählungen behandeln ganz unmittelbar die Verfassung des Emigranten, etwa »Przesłuchanie emigranta« (Verhör eines Emigranten) aus dem Band Fractale. Ein Emigrant (vermutlich polnischer Herkunft), der dem zurückgelassenen Leben nachtrauert und seine Erinnerungen auf eine weiße Wand projiziert, ist nur darauf bedacht, den Kontakt zu seinem vorherigen Leben nicht abreißen zu lassen. Verzweifelt ob der schmerzlich empfundenen Desintegration, gehört er irgendwann selbst zu »denen« – selbst der Mensch, der ihm am nächsten ist und

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der die Welt mit den Worten »ihr dort« – »wir hier« sortiert, ordnet ihn so ein (Goerke 2004: 111-113). Eine andere Diagnose zur Verfassung des Emigranten stellt Siergiej Pies, der Held in »WichrowatoĞü« (Das Windschiefe; ebd.: 144-149). Diese Figur ist insofern besonders, als sie aus der Emigrantenrolle heraus versucht, die fundamentalen Unterschiede zu erkennen. So waren für Siergiej diejenigen, die unter »fremder Sonne« lebten, ihrer Natur nach fröhlich, während die Emigranten üblicherweise farblos und einsam sind. Im Ausland stellt er Fragen, die die (osteuropäischen) Emigranten insgesamt betreffen: »Wir haben doch Kartoffeln, Birnen – müssen wir denn wirklich das triviale Glück unter Palmen suchen, statt in Würde in unserer eigenen Kultur unglücklich zu sein?« (Ebd.: 144, »mamy wszak ziemniaki, mamy gruszki – czy rzeczywiĞcie zamiast z godnoĞcią czerpaü nieszczĊĞcie z naszej własnej kultury, musimy szukaü trywialnego szczĊĞcia pod palmami?«). In einem weiteren Text wird folgende Diagnose gestellt: »oto przekrój poprzeczny mózgu emigranta […] juĪ na pierwszy rzut oka widaü anomalie: chorobliwa gĊstoĞü fałd, spłaszczenie stoĪka wzrostu, zanik błĊdnika. Wygląda toto na martwe, ale jednak Īyje – Ğwiadczy o tym szereg subtelnych impulsów emitowanych z oĞrodka pamiĊci.« (Ebd.: 161) [Hier ein Querschnitt durch das Emigranten-Gehirn […] die Anomalien sind auf den ersten Blick zu erkennen: krankhafte Faltendichte, abgeflachtes Scheitelmeristem, Labyrinthschwund. Sieht ziemlich tot aus, lebt aber – das ist an den vielen kleinen Impulsen aus dem Gedächtniszentrum zu erkennen.]

Die Identitätsfragmente des Emigranten tragen stets das Siegel der Vergangenheit, ein Dialog mit der Welt ist manchmal unmöglich und manchmal zu kompliziert (nicht nur wegen der babylonischen Sprachverwirrung). In der bereits erwähnten Erzählung »WichrowatoĞü« wird Siergiej Pies die Figur der Alicja gegenübergestellt, die Bewegung und Ortswechsel akzeptiert, »zakochana w pakowaniu walizek« (mit Vorliebe Koffer packt), ständig unterwegs ist und Orte verlässt, die zu einer Stabilisierung führen könnten. Ihre Reflexionen münden in die Frage: »Geht das immer so weiter? Strampeln, Fähren, Flugzeuge – immer weiter, immer höher?« (Ebd.: 147, »Czy […] tak juĪ bĊdzie zawsze? Machanie nóĪkami, promy, samoloty – byle dalej, byle wyĪej?«). Hier kommt sie der Sicht einer weiteren Goerke-Heldin nahe, die versucht, jenseits der Dimension des Andersseins, des Emigrantentums zu leben. Diese Figur aus »Kuszenie Zofii« (Die Versuchung Zofias) fürchtet die »Entwicklung« und ver-

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bleibt entgegen ihrer Intuition und allen guten Ratschlägen in der zweidimensionalen schwarz-weißen Welt. Dabei wäre der Ratschlag für alle zu beherzigen, für Sesshafte genauso wie für Emigranten, Migranten und Nomaden: »Wenn du eingewickelt bleibst, stolperst du früher oder später über deinen eigenen Schwanz, glaubst plötzlich an Anfang und Ende und erstickst an der eigenen Ernsthaftigkeit, ohne den kosmischen Witz zu erkennen« (Ebd.: 73, »JeĞli pozostaniesz zwiniĊta, prĊdzej czy póĨniej zaplączesz siĊ we własny ogon, uwierzysz w początek i koniec i udusisz sie własną powagą, nie rozpoznawszy kosmicznego Īartu.«) Mit »kosmischer Witz« ist aus dieser Warte das menschliche Leben, das Leben überhaupt treffend umschrieben. Zwei weitere Aspekte, die mir bei Goerke (und nicht nur bei ihr) wichtig erscheinen, hat Wolfgang Welsch in Kategorien gefasst – die transkulturelle Zugehörigkeit der Figuren und die Berücksichtigung der Verbindung zwischen Ästhetik und Anästhetik (Welsch 1990). Die Weltsicht, die die Autorin anbietet, ist eben eine Sicht der Transkulturalität, die nicht identisch ist mit Globalisierung oder Kosmopolitismus. Transkulturalität ist keine Pop-Version, nicht moderne Massenkultur, sondern die differenzierte Betrachtung konkreter Fragen. Dazu zählt der Aufbau kultureller Netze, wenn Lebensstile bestimmte Kulturkreise verlassen, wenn die Unterschiede zwischen unserer eigenen und einer anderen Kultur verwischen. Bei Goerke finden sich sehr häufig solche zusätzlichen Bestimmungen ihrer Helden. Beispielhaft genannt sei hier eine Aussage der Erzählerin in »Trzeci brzeg« (Das dritte Ufer), die über den Neujahrskarten sitzt: »ĝwiąt na Ğwiecie jest doĞü, samych Nowych Roków jest co rok co najmniej dwieĞcie i ja mam tych Ğwiątecznych kartek juĪ cały stos. Nie wiem tylko, komu je wysłaü, Īeby nie poobraĪaü uczuü. Bo to są kartki perfidne, odbicie stanu mojego umysłu. Najlepsze są kolaĪe: Chrystus na kwiecie lotosu, Budda na krzyĪu.« (Goerke 2004: 98) »Die Welt ist voller Feiertage, es gibt allein zweihundert Neujahre pro Jahr, und ich besitze einen Riesenstapel von selbstgemachten Gratulationskarten zum Neuen Jahr. Ich weiß bloß nicht, wem ich sie schicken soll, um niemanden zu verletzen; denn es sind perfide Karten, Spiegelungen meines Geisteszustands. Am besten sind meine Collagen: Christus auf der Lotosblume, Buddha am Kreuz.« (Goerke 1997b: 10)

Ein weiteres Beispiel für Transkulturalität ist eine längere Erklärung zum Dasein von Buddhisten in Europa, die die aus Polen stammende Heldin gegenüber einem Tibeter abgibt, mit dem sie in Dänemark zusammenlebt:

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»[…] tu siĊ nie rodzisz buddystą, tu przechodzisz na buddyzm, gdy jesteĞ naprawdĊ nieszczĊĞliwy. Po prostu nagle odkrywasz w sobie taki obszar, którego zaczynasz siĊ baü – czujesz siĊ zły, coraz bardziej zły. A wokół ciebie, tak na dobicie, sami dobrzy, ĞwiĊci ludzie. WiĊc zamiast ich smuciü, zamiast zawracaü im dupĊ i wpĊdzaü w niepokój, zaczynasz udawaü jednego z nich. AĪ coĞ pĊka, staczasz siĊ do piekła: masz ochotĊ przyłoĪyü zakonnicom w te ich rumiane mordy, masz ochotĊ wyjąü kardynała z sutanny, wrzuciü go do wrzątku i czytając mu Pismo ĞwiĊte, obserwowaü jak siĊ zachowa. OczywiĞcie tego nie robisz, ale musisz zrobiü coĞ w zamian: zaczynasz piü, otwierasz sklep albo, właĞnie wtedy przechodzisz na buddyzm.« (Goerke 2004: 96) »Hier wird man nicht als Buddhist geboren, hier trittst du zum Buddhismus über, wenn du wirklich unglücklich bist. Du entdeckst in dir plötzlich so eine Region, die dich ängstigt – du kommst dir böse vor, zunehmend böser. Und um dich herum lauter gute Menschen, lauter Heilige. Also statt sie zu betrüben, statt sie zu nerven und in Unruhe zu versetzen, beginnst du dich wie sie aufzuführen. Aber dann zerbirst etwas in dir, du stürzt ab: Du möchtest den Nonnen in ihre rosigen Visagen schlagen, du möchtest den Kardinal aus seinem Habit holen, in siedendes Wasser tauchen und, während du ihm die Heilige Schrift vorliest, beobachten, wie er sich verhält. Natürlich tust du nichts dergleichen, aber du mußt etwas tun: Also fängst du an zu trinken, machst einen Laden auf oder trittst zum Buddhismus über.« (Goerke 1997b: 8)

Wie in vielen weiteren Texten wird die Hybridität als Merkmal vieler moderner Kulturen hervorgehoben und die Transkulturalität als Effekt des Hybriden. Dabei handelt es sich nicht so sehr um eine chaotische Vermischung von Kulturen, eher um die bewusste Auswahl einzelner Elemente. Diese Wahl wiederum geht zurück auf den Weg der Selbsterkenntnis, auf dem die Helden zahlreiche, nicht nur geografische Grenzen überschritten haben. In »Korzenie umysłu« (Von den Wurzeln des Geistes) beschreibt die Erzählerin ihren Reifeprozess und die entscheidende Erkenntnis: »Ich begann meine psychosomatischen Wanderungen damit, den mir vertrauten heimatlichen Kontinent zu erforschen. Leider steckten die Wurzeln meines Geistes viel tiefer als die Wurzeln meiner kulturellen Zugehörigkeit« (Goerke 1997b: 47; Goerke 1997a: 90: »Swą psychosomatyczną wĊdrówkĊ rozpoczĊłam od penetracji rodzimego kontynentu. Niestety, korzenie mego umysłu okazały siĊ siĊgaü daleko głĊbiej, niĨli korzenie mej kulturowej przynaleĪnoĞci«). Die Moderne wird auch in ironisch-scherzhaft dargebotenen Inhalten transkulturell markiert, wenn es zu einer Doppelkodierung von Zeichen aus Hochund Populärkultur kommt, wie sie die technische Entwicklung mit ihren medialen Netzen begünstigt.

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Die Dekonstruktion tradierter Verhaltensmuster, auch in den Einstellungen von Emigranten, geht einher mit dem Betreten und der Aneignung des transkulturellen Raumes. Pani Zero (Frau Null), die Heldin aus »PoĪegnania plazmy« (Abschied vom Plasma), versucht das wie folgt zu beschreiben: »Das Stroh brannte nicht länger in den Stiefeln oder auf dem Dach der heimischen Scheune, das Stroh wurde zum Strohhalm in Cocktails, die man in den Clubs von London, Vancouver oder New York trank« (Goerke 2000: 40; Goerke 1999: 28: »Słoma nie płonĊła juĪ w butach czy na dachu rodzimej stodoły, słoma stała siĊ słomką w koktajlu spijanym w pubach Londynu, Vancouver czy Nowego Jorku«). »Vaterland und Ehre hatte der kosmopolitische Teufel mit einem Zungenkuss verführt« (Goerke 2000: 40f.; Goerke 1999: 28: »[O]jczyznĊ i honor pocałował z jĊzyczkiem diabeł-kosmopolita«) – aus dieser Tatsache ergab sich nicht die Emigration, sondern die Migration junger Menschen, die nach ganz neuen Erfahrungen jenseits der alten Traditionsmuster suchten. Die Identität dieser jungen Menschen resultiert, wie Goerke in ihrer Prosa gekonnt darstellt, aus der transkulturellen Formierung des Individuums. Ein weiterer spannender Aspekt bei Goerke hat mit einem Phänomen zu tun, das Welsch mit dem Doppel Ästhetik und Anästhetik beschreibt. Welsch zeichnet die Geschichte der Ästhetik nach und weist darauf hin, dass sie auf das Schöne verengt worden sei. Macht man diese Einschränkung wieder rückgängig, lässt sich Ästhetik weiter fassen als »Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen.« (Welsch 1990: 9f.) Während die Ästhetik insgesamt den kognitiven Pol betonte, bezieht sich die Anästhetik auf den Bereich der Empfindungen. Beide sind jedoch eng miteinander verbunden, thematisiert doch die Anästhetik den Mangel an Empfindung, den Verlust, die Einschränkung oder Unterbindung der Empfindungsfähigkeit. Welsch stellt fest, dass die allgemeine Ästhetisierung vor unseren Augen in Anästhetisierung umschlägt und eine Desensibilisierung mit sich bringt, die uns der Fähigkeit zur kontemplativen Betrachtung beraubt. Dies führe im öffentlichen Raum zu einer wachsenden Gleichgültigkeit angesichts einer »ästhetisch narkotisierten Zweidrittel-Gesellschaft.« (Ebd.: 15) Natasza Goerke scheint mir einen ähnlichen Blick auf die Gegenwart zu pflegen. Wenn sie über touristisches Reisen und Migration schreibt, stellt sie einen grundsätzlichen Unterschied fest: Der Tourist gehört zur Welt der Ästhetisierung, der moderne Migrant kann dagegen als anästhetisches Element im ästhetisierten Raum betrachtet werden. Veranschaulichend sei eine längere Passage aus einem eher publizistischen Goerke-Text angeführt:

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»Migrant nie szuka wraĪeĔ i wĊdrówki swej bynajmniej nie pragnie uwieczniü: nie wysyła pocztówek i nie lubi, by go fotografowano. Choü tĊskni za domem, to nie chce wracaü tam, skąd wyruszył. Migrant – w przeciwieĔstwie do turysty – wĊdruje bezpowrotnie. Bywa, Īe turysta i migrant udają siĊ w podróĪ do tego samego miejsca. Na przykład na LampeduzĊ, albo do malowniczej Ceuty. Spotykają siĊ tam jednak bardzo rzadko, a jeĞli juĪ, to na bezpieczną odległoĞü. ĝwiat turystów oddzielony jest bowiem od Ğwiata migrantów murem strachu i kolczastym drutem, i pilnie strzegą go ustawy, konwencje, patrolowe łodzie i noktowizory. Oraz sprawdzone na polowaniach wykrywacze ciepła, które niezawodnie wykrywają to wszystko, co – Īywe lub półĪywe – usiłuje siĊ ukryü lub przemknąü – na otwartej przestrzeni, w obszarach zalesionych oraz wĞród gĊstej roĞlinnoĞci (np. w polu kukurydzy). Mimo to bywa, Īe migrantowi uda siĊ do Ğwiata turystów nie tylko przedostaü, ale teĪ w nim pozostaü. Jego wĊdrówka dobiega wtedy koĔca: migrant osiedla siĊ, zadomowia i z czasem, jeĞli tego zapragnie, sam staje siĊ turystą.« (Goerke 2010: 4) [Der Migrant sucht nicht nach Eindrücken und will seine Wanderung durchaus nicht verewigt sehen, er verschickt keine Postkarten und möchte nicht fotografiert werden. Obwohl er Heimweh hat, möchte er nicht dorthin zurück, wo er herkommt. Die Wanderung des Migranten ist im Unterschied zu der des Touristen unumkehrbar. Bisweilen reisen Migrant und Tourist an denselben Ort. Nach Lampedusa, zum Beispiel, oder ins malerische Ceuta. Sie begegnen sich dort aber höchst selten, und wenn, dann mit Sicherheitsabstand. Die Welt der Touristen ist nämlich von der Welt der Migranten durch eine Mauer aus Angst und Stacheldraht getrennt, die mithilfe von Gesetzen, Konventionen, Patrouillenbooten und Nachtsichtgeräten streng überwacht wird. Und mit jagderprobten Wärmedetektoren, die zuverlässig alles auffinden, was sich – lebendig oder noch nicht tot – auf freiem Feld, in Waldgebieten oder dicht stehenden Pflanzen (z.B. einem Maisfeld) verstecken oder dort unterschlüpfen will. Und doch gelangt bisweilen ein Migrant in die Welt der Touristen und kann sogar dort bleiben. Dann geht seine Wanderung zu Ende: Der Migrant wird sesshaft, heimisch und mit der Zeit, wenn er denn will, seinerseits zum Touristen.]

Die Anästhetisierung birgt nach Welsch in der von Bildern geprägten Medienwelt ein gewaltiges Potential. Überflutet von Reizen wird der Kontakt zum Konkreten immer schwächer. Andererseits erweist sich die Anästhetisierung, da das

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tradierte Vertrauen in die allgemeine Erfahrung, in die Sinne, nicht mehr zeitgemäß, ja gefährlich ist, als segensreich.4 Die Prosatexte Natasza Goerkes lassen sich meiner Ansicht nach auch als Werke lesen, die sich der allgemeinen Ästhetisierung und der bestehenden Anästhetisierung bewusst sind. Sie konzentrieren sich auf wenige Empfindungen der Helden und beschränken sich auf eine Momentaufnahme. Mit ironischer Distanz sind sie desensibilisiert für alles, was im Übermaß auf uns einstürzt. So gesehen böte das Bewusstsein angewandter Anästhetik in der Kunst literarischen Schreibens die Chance ästhetischer Originalität. Ein amüsantes Beispiel für eine Reflexion über die auf das Schöne verengte Ästhetik liefert die Erzählung »Upiorna strofa« (Eine grässliche Strophe), die im Grunde ein polonistischer Scherz ist. Der gesamte Prosatext besteht eigentlich aus einem Dialog zwischen Adam und Maryla. Der Text beginnt mit einer zitierten Gedichtstrophe, Maryla kommentiert sie und verlangt von Adam schönere Poesie. Der Einspruch des Dichters, der »der offensichtlichen Wahrheit, die aus jedem Winkel lugt« (»oczywistoĞci prawdy wyzierającej z kaĪdego kąta«) treu bleiben möchte, wird mit der Zuweisung der Rolle, die er für die Nachwelt spielen soll, entkräftet. Maryla sagt: »Wenn du die Kunst des Verschweigens nicht beherrscht, dich nicht in Metaphern, Hyperbeln und Diminutiven übst, wenn du dich, von verhängnisvoller Aufrichtigkeit geblendet, ordentlich zur Schau stellst, was sollen dann die Nachgeborenen noch zwischen den Zeilen lesen können?« (Goerke 2004: 45, »JeĞli nie opanujesz sztuki przemilczenia, nie wyüwiczysz siĊ w metaforach, hiperbolach i zdrobnieniach, jeĞli – urzeczony zgubną szczeroĞcią – na dobre siĊ odsłonisz, to cóĪ zostawisz potomnym do wyczytywania miĊdzy liniami?«). Sie überzeugt den Dichter schließlich mit den Worten: » Anstelle von Geheimnissen hinterlässt du nur jämmerliches Exhibitionistengeschrei im Elfsilbler, grässliche Strophen, über die bestimmt kein Magister, der etwas auf sich hält, seine Doktorarbeit schreibt.« (Ebd.: 46, »Zamiast tajemnicy zostawisz po sobie jedynie Īałosny, jedenastozgłoskowcem pisany wrzask ekshibicjonisty – upiorne strofy, z których na pewno Īaden szanujący siĊ magister nie napisze doktoratu«). Hier handelt es sich nicht nur um ein intertextuelles Spiel mit der polnischen Literatur, sondern auch um einen Hinweis auf die Debatte um das Wesen der Kunst. Indem ein weiter gefasster Ästhetikbegriff zugrunde gelegt wird, kann auch das Anästhetische berücksichtigt werden. Damit eröffnet sich außerhalb des

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Welsch nennt als Beispiel das Spiel eines Erwachsenen, der im Fernsehen noch nicht von der Tschernobylkatastrophe gehört hat, mit seinem Kind in der Sonne. (Vgl. Welsch 1990: 18)

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polnischen Kontextes auch eine universale Lesart, die die Frage nach der Kategorie des Schönen in den Mittelpunkt stellt. Eine weitere Metareflexion über das Schreiben findet sich in dem wohl am stärksten autobiografisch geprägten Text PoĪegnania plazmy, wenn von den Erzählungen aus der Feder der Protagonistin die Rede ist. Diese wären »sehr kurz, ohne Handlung und, wie man sagte, ungenießbar. Eine Porträtskizze, der Umriss einer Situation, der darauf wartet, mit Wachsmalkreide ausgefüllt zu werden; irritierend auch das Fehlen von Schlüssen« (»bardzo krótkie, pozbawione akcji i, jak powiadano, niestrawne. Ot, szkic do portretu, czekający na wypełnienie woskową kredką kontur sytuacji, irytujacy brak zakoĔczeĔ«). Die schriftstellernde Pani Zero verteidigt sich und bezeichnet ihre Texte als einen Spiegel »der mit einem bunten Schleier verhängt war« (»przysłoniĊt[y] wielobarwną woalką«). Denjenigen, die ihr die Ungenießbarkeit ihrer Texte vorwerfen (das dürften die polnischen Kritiker sein), entgegnet sie, ihre Verdauungsbeschwerden rührten nicht von der Lektüre ihrer Prosa her, sondern »von dem Übermaß an Schweinefleisch auf den heimischen Speisezetteln« (Goerke 2000: 40; Goerke 1999: 27: »z nadmiaru wieprzowiny w rodzimych jadłospisach«).5 Das Schaffen Natasza Goerkes geht in gewisser Weise auf jene künstlerische Tradition des 20. Jahrhunderts zurück, der alle tradierten Ästhetikkonventionen suspekt waren. Ähnlich wie bei den Surrealisten, aus deren Quellen die Autorin schöpft, spielen auch bei ihr Fantasie, Distanz zur Konvention und die Erschaffung einer Welt auf der Grenze von Wachen, Schlaf und Halluzination eine zentrale Rolle. Nicht platter Rationalismus bestimmt ihre Erzählungen und kleinen Prosatexte, sondern eine Art alternative Logik. Selbst Belangloses wird dramatisiert, Irritation, Absurdität und Nonsens sind wesentliche Elemente ihres Schreibens. So gesehen darf man Goerke bescheinigen, eine moderne Strategie zur Ausweitung der Ästhetik zugunsten einer ästhetisch-anästhetischen Doppelbewegung gefunden zu haben. Goerkes Prosa ist sich nicht nur der Vielzahl möglicher Existenzparadigmen bewusst, sie verrät auch eine besondere Sensibilität angesichts »des unbeendbaren Doppelverhältnisses von Erschließung und Ausschluß, Gewinn und Verlust, Bekundung und Verdrängung.« (Welsch 1990: 38) Bezeichnend ist die witzigironische Selbstreflexion des Helden in »Ekskluzywny miĞ« (Der exklusive

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Justyna Sobolewska erinnert sich: »›Die Erzählungen Natasza Goerkes interessieren einen nach zehn Seiten, bestürzen einen nach zwanzig und langweilen einen nach den nächsten zehn‹, schrieb Przemysław CzapliĔski in einer Rezension zu KsiĊga pasztetów, in der er im Übrigen nachwies, dass die Autorin bedeutsam und die Lektüre lohnend sei.« (Sobolewska 2001)

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Teddy): » Es kann doch nicht sein, schloss Stanisław, dass ich nur ein exklusiver Teddy bin; so viele Wesen schlummern in mir, so viele einander ausschließende Existenzen. Sanktioniert nicht das Bewusstsein die Form, hat denn der Geist nur die Form eines Teddys?« (Goerke 2004: 141, »To niemoĪliwe, doszedł do wniosku Stanisław, Īebym był tylko ekskluzywnym misiem; tyle istot przecieĪ we mnie drzemie, tyle wykluczających siĊ bytów. CzyĪ to nie ĞwiadomoĞü sankcjonuje formĊ, czyĪ umysł ma wyłącznie formĊ misia?«). Bei Goerkes Texten handelt es sich nicht um leicht konsumierbare Miniprosa, sie erfordern ein Innehalten und eine Konzentration auf die verwendete Sprache. Das gilt selbst für das Spiel mit dem wahrhaft minimalistischen Projekt »Opowiadania« (Erzählungen), bei dem drei Erzählungen aufgezählt werden, die jeweils lediglich aus Titel und Bestimmung des Subjekts bestehen. Die Titel lauten »Rozpad« (Zerfall), »PamiĊü« (Gedächtnis), »Powrót« (Rückkehr), die Bestimmungen sind lediglich Verbalisierungen der Titel. Hinzu tritt ein ironischer Kurzkommentar, der die Zeitersparnis hervorhebt und anregt, die vorgegebenen Schemata mit eigenen Erzählungen zu füllen. Die Prosa Natasza Goerkes, die den Rahmen der traditionell definierten oder eng mit dem polnischen kulturellen Erbe verbundenen Emigrantenliteratur (bzw. der außerhalb Polens geschriebenen Literatur) sprengt, scheint mir das Postulat zu erfüllen, das Welsch als bewusste Ästhetik der Anästhetik bezeichnet, eine Art Störung, ein staunender, distanzierter Blick auf die Welt der Menschen und Tiere (hier tut sich ein weiteres Feld auf) aus der Position des bisweilen irritierten Beobachters. Er betrachtet aufmerksam die vielen Masken, die die Helden anprobieren, die Veränderungen, Metamorphosen und Reinkarnationen der Figuren. Letztlich sehe ich im Schaffen Natasza Goerkes erfüllt, was Botho Strauß in seiner Rede zum Büchner-Preis 1989 über die Rolle des Dichters sagte: »Inmitten der Kommunikation bleibt er […] zuständig für das Unvermittelte, den Einschlag, den unterbrochenen Kontakt, die Dunkelphase, die Pause. Die Fremdheit.« (Strauß 1989: 65, zit. nach Welsch 1990: 40) Aus dem Polnischen von Thomas Weiler

L ITERATUR Goerke, Natasza (1997a): KsiĊga pasztetów, PoznaĔ. Goerke, Natasza (1997b): Sibirische Palme. Erzählungen, Hamburg. Goerke, Natasza (1999): PoĪegnania plazmy, Wołowiec.

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Goerke, Natasza (2000): Abschied vom Plasma. Erzählungen, Hamburg. Goerke, Natasza (2002): 47 na odlew, Warszawa. Goerke, Natasza (2004): Fractale, Warszawa. Goerke, Natasza (2010): »DziesiĊü miesiĊcy i dwa dni. Fragmenty«. In: RitaBaum 15, 4-6. Gombrowicz, Witold (1957): Dziennik 1953-1956, ParyĪ. Gombrowicz, Witold (1988): Tagebuch 1953-1969, München. Molisak, Alina (1996): »Vorwort«. In: Verein zur Förderung deutsch-polnischer Kontakte (Hg.), Grenzen überschreiten. Polens junge Generation erzählt, München, 7-11. Sobolewska, Justyna (2001): »PoĪegnania plazmy«. In: Gazeta Wyborcza 16, 19.01.2001, http://wyborcza.pl/1,75517,108327.html (Zugang 06.03.2012). Strauß, Botho (1989): »Die Erde ein Kopf. Rede zum Büchner-Preis 1989«. In: Die Zeit 44, 27.10.1989, 65f. Welsch, Wolfgang (1990): »Ästhetik und Anästhetik«. In: ders.: Ästhetisches Denken, Stuttgart, 9-40.

(Wider) Die Tradition des Exils?

Topographie der Emigration Grenzen und Durchgangslager R ENATA M AKARSKA

0. E INFÜHRUNG Dass die Exilanten der SolidarnoĞü-Zeit andere Zielländer als die früheren Emigrantengenerationen wählten, ist leicht nachvollziehbar. Plötzlich standen nach den bisherigen Zentren des polnischen Exils – Frankreich, England oder die USA (1968 auch Israel oder Schweden) – vor allem die Bundesrepublik Deutschland, zum Teil auch Schweden oder gar Australien im Mittelpunkt des Interesses der Flüchtlinge. Weniger selbstverständlich klingt die Annahme, dass die Verschiebungen in der Exilgeographie auch zur Entstehung von neuen Topographien der polnischen Exilliteratur und neuen symbolischen Orten geführt haben. In der Literatur der Exilanten der 1980er Jahre1 spielen die Grenze und das Motiv der Grenzüberschreitung (oder gar Flucht) eine wichige Rolle; immer wieder greifen die Autorinnen und Autoren auch nach dem Thema des Durchgangslagers. Dem Lager kommt vor allem in der polnischen Prosa aus Deutschland eine große Bedeutung zu: in Die Freiheit riecht nach Vanille (1999) von Dariusz Muszer, Poszukiwanie całoĞci (1999, Die Suche nach der Ganzheit) von Krzysztof NiewrzĊda, Anioły i Ğwinie. W Berlinie! (2005, Engel und Schweine. In Berlin!) von Brygida Helbig, Czarna Matka (2008, Schwarze Mutter) von Wojciech Stamm und schließlich auch in WypĊdzeni do raju (2010, Vertrieben ins Paradies) von Krzysztof Maria Załuski. Das Motiv spielt auch in Schwe-

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Die ersten literarischen Texte der Emigration der 1980er Jahre wurden in den 1990ern veröffentlicht.

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denkräuter von Zbigniew KruszyĔski (1995) und in Tadzio von Jurek Zielonka (2000) eine große Rolle.2 Beide symbolischen Orte – die Grenze und das Durchgangslager – lassen sich ebenso als Metapher lesen. Das Lager ist nicht nur ein physischer Ort, es steht auch für die Exilsituation als solche. Auch die gesamte Literatur der letzten Exilwelle, für die ich die Emigration der SolidarnoĞü-Zeit halte, ähnelt einer Quarantäne: Sie befindet sich in einer ›Durchgangssituation‹. Das Thema des Durchgangslagers wird von der Literatur kurz vor dem definitiven »Abschied vom Exil«3 aufgegriffen, noch vor dem Übergang zum ›freien Migrieren‹; dies ist ein Moment der verstärkten Wahrnehmung der Exilsituation als Exklusion und Unfreiheit. Die Intensität, mit der auf dieses Thema in Werken der Exilautoren zurückgegriffen wird, lässt vermuten, dass sich die polnische Literatur mit der deutsch-polnischen Nachbarschaft und Geschichte schwer tut. Da, wo man eine Reflexion und Revision alter Bilder erwarten würde, erscheinen feste Stereotype und bekannte Traumata. Die Darstellungen von Durchgangslagern spielen immer wieder eine mögliche Assoziation mit den Lagern der Nazizeit aus. Die Deutschen werden dort beinahe als Vertreter des Dritten Reiches angesehen, die polnischen Protagonisten als unterdrückt, missbraucht und auf jeden Fall als untergeordnet dargestellt. Nach wie vor herrscht hier die Denkweise der Kolonisierten und Traumatisierten. Die polnische Literatur, die seit den 1980er Jahren in Deutschland entsteht, läuft quasi auf eigenen Wunsch eine ›Lagerquarantäne‹ des Exils und der Geschichte durch, bevor sie die ›Gewässer‹ der transkulturellen Migration erreicht. Ähnlich wesentlich ist für die polnische Exilliteratur seit den 1980er Jahren das Motiv der Grenze und ihrer Überschreitung. Zwar ist es nicht das Hauptthema, denn die Protagonisten passieren die Grenze fast unmerklich, um anschlie-

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Alle genannten Autoren haben Polen in den 1980er Jahren verlassen: Dariusz Muszer lebt seit 1988 in Hannover; Brygida Helbig verließ Polen 1983; Wojciech Stamm wohnte seit den späten 1980er Jahren im Ruhrgebiet, danach in Berlin; Krzysztof M. Załuski lebte 1987-2004 im Ausland (zuerst in England, dann in Deutschland); Krzysztof NiewrzĊda lebt seit 1989 in Deutschland (zuerst in Bremen, dann in Berlin); Zbigniew KruszyĔski lebte 1984-2002 in Schweden; Jurek Zielonka wohnt seit 1981 in Perth (Australien). Von den genannten Autoren hat sich nur Dariusz Muszer ursprünglich für einen Sprachwechsel entschieden, alle anderen publizierten und publizieren konsequent in polnischer Sprache.

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Diesen Begriff prägte Jerzy JarzĊbski mit seinem 1998 erschienenen Buch PoĪegnanie z emigracją. O powojennej prozie polskiej (Der Abschied vom Exil. Über die polnische Prosa der Nachkriegszeit).

G RENZEN

UND

D URCHGANGSLAGER

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ßend in ein Durchgangslager aufgenommen zu werden. Die Überschreitung der Grenze hat aber auch eine zweite, metaphorische Dimension, und zwar in Bezug auf die Grenzen der Sprache und der politischen Korrektheit.4 Im Folgenden befasse ich mich mit dem Motiv der Überschreitung der Grenze(n) sowie mit dem Raum des Durchgangslagers und zeige dabei, dass sich die Literatur, die in den 1990er Jahren außerhalb Polens entsteht, im Wandel und in einer Übergangszeit befindet: Anstatt sich vom Exil endgültig zu verabschieden, übernimmt sie die Topoi des Emigranten, der mit Polen und dem Polentum hadert, und kreiert immer noch Protagonisten, die von der Geschichte überwältigt werden und in den Kategorien der kolonisierten Untergeordneten denken. In meiner Lektüre der Texte der letzten Exilwelle interpretiere ich den immer wiederkehrenden Raum des Durchgangslagers als eine »Heterotopie« im Sinne Michel Foucaults (1976/2006). Die beschriebenen Lager befinden sich als heteroi topoi, andere Orte, außerhalb der geographischen und sozialen Zentren: Dort werden die Elemente einer Kultur und Gesellschaft zugleich repräsentiert, ausgeschlossen und in ihr Gegenteil verkehrt.5

I. D IE Ü BERSCHREITUNG

DER ( SPRACHLICHEN )

G RENZEN

Die Überschreitung der Grenze lässt sich als eine Form des Übergangsritus (van Gennep, 2005) interpretieren oder – narratologisch betrachtet (Semiosphäre von Jurij Lotman, 2004) – als ein Beginn der Narration überhaupt. In den von mir analysierten Texten ist der Schwellencharakter der Grenze nicht immer bemerkbar; die Grenze ermöglicht lediglich die nächste Etappe der ›Reise‹, das Purgatorium, die Quarantäne – den Zutritt zum Durchgangslager für Flüchtlinge oder Spätaussiedler. Dort werden die Protagonisten sortiert, vor einer neuen Etappe der Reise oder der Biografie. Oft wird der literarische Held jedoch bereits beim Überschreiten der Grenze (legal oder illegal) zum ersten Mal definiert – entweder durch sich selbst oder durch die Umgebung. Manchmal ist das Passieren der Grenze so unspektakulär, dass es nicht einmal erwähnt wird; dies geschieht etwa in der Prosa von Brygida Helbig oder in NiewrzĊdas Poszukiwanie całoĞci. Oft enthält der Grenzübertritt

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Für die Diskussion darüber bedanke ich mich bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz »Polnische Literatur außerhalb Polens – die Emigranten der 1980er Jahre«, die im Herbst 2010 an der Universität Tübingen stattgefunden hat, insbesondere bei Alina Molisak.

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Vgl. Warning 2009: 11-13.

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aber bereits Anzeichen des späteren Schicksals des Protagonisten – er weist auf die Notwendigkeit der äußeren oder inneren Umwandlung hin. Der Erzähler in KruszyĔskis Schwedenkräuter (1995) verlässt Polen illegal und legt dabei seine Identität ab, d.h. vernichtet seinen Pass: »Ich habe meinen Pass […] aufgegessen […]. Keine Papiere mehr, ein durchsichtiges Gedächtnis, keine besonderen Kennzeichen, keine Zunge im Mund« (»Zjadłem [...] swój paszport [...]. ĩadnych papierów, przezroczysta pamiĊü, ani znaków szczególnych, ni jĊzyka w gĊbie. [...]«, KruszyĔski 1995: 5). Dadurch wird er zum Menschen aus dem Nirgendwo, ›ohne Eigenschaften‹ und mit neuen Möglichkeiten. Die Protagonisten in der Satire von Leszek Herman Der Klub der polnischen Wurstmenschen (2004)6 bekommen dafür gleich eine neue Identität. Man möchte sie in einer Zeit, in der ein striktes Verbot der Einfuhr polnischer Wurstwaren in die Bundesrepublik herrscht, als Wurst-Menschen über die Grenze schmuggeln. Als Leser soll man jedoch nicht glauben, es handle sich bei Hermans Buch wirklich um »die Wurst«; der Titel und die Idee der Geschichte ähneln einem Schüttelreim: In Wirklichkeit möchten polnische Bürger nach Deutschland einreisen; hierfür müssen sie eine fremde (absurde) Identität vortäuschen. Auch auf den Protagonisten von Załuskis WypĊdzeni do raju (2001-2010) wirkt sich die Grenze stark aus: »Kiedy nad ranem pierwszego maja 1989 roku niemieccy pogranicznicy wyciągali mnie za kołnierz (rycząc przy tym sznela sznela [...]) z przedziału ekspresu cisalpino, jadącego ze Stuttgartu do Mediolanu, domyĞliłem siĊ, Īe miejscowoĞü Singen jest przystankiem granicznym – i to zarówno w sensie dosłownym, jak i metaforycznym...« (Załuski 2010: 12) [Als mich die deutschen Grenzschützer am 1. Mai 1989 in der Früh am Kragen aus einem Abteil des Cisalpino von Stuttgart nach Mailand herauszerrten (sie schrien dabei »Schnella Schnella […]«), dachte ich mir schon, dass Singen tatsächlich eine Grenzstation sei, und zwar sowohl wortwörtlich als auch metaphorisch.]7

In der Nähe der Grenze muss er eine lange Quarantäne durchlaufen, um das Bleiberecht für Deutschland zu erhalten.

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Die polnische Ausgabe erschien bereits 2002 als Klub Kiełboludów, die deutsche Übersetzung stammt von Adam Gusowski und Michał Szalonek, sie wurde als Leszek Herman (2004): Der Klub der polnischen Wurstmenschen in Berlin veröffentlicht. Vgl. auch den Beitrag von Brigitta Helbig-Mischewski im vorliegenden Band.

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Wenn nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von der Verfasserin.

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Das physische Passieren der Grenzen wird von einer metaphorischen Überschreitung der sprachlichen Grenzen begleitet: Dies ist vor allem in der Prosa der polnischen Autoren der letzten Exilwelle in Deutschland zu beobachten. Das Immigrantentum des Protagonisten scheint es ihm zu erlauben, die eigene (oder auch die fremde) Sprache ohne Rücksicht auf irgendwelche (auch politische) Korrektheit zu benutzen. Dieses Phänomen ist nicht der polnischen Prosa alleine vorbehalten, schließlich hat Feridun Zaimo÷lu bereits 1995 in Kanak Sprak8 die Grenzen der korrekten Sprachverwendung gesprengt. Zaimo÷lus Verfahren beschränkt sich nicht nur auf die Verwendung von Umgangs- und obszöner Sprache, mit großer Vorliebe jongliert sein Text auch mit den türkischen Selbststereotypen und der diskriminierenden Darstellung der Deutschen. Ein Forscher nannte Zaimo÷lu, der über »Kümmeltürken«, »Bastarde«, »hungrige Schmarotzer« und Kannibalen« auf der einen Seite und über »arische Säue«, »Weißarschmotzer« und »Unbeschnittene« auf der anderen Seite berichtet, »einen subversiven Sprachanarchisten«9. In Bezug auf eine ähnliche Ästhetik in den Werken der Immigranten aus Mittel- und Osteuropa spricht Dirk Uffelmann (2009) von einer »Selbstorientalisierung«, obwohl sich hier die sprachliche Wut nicht ausschließlich gegen die eigene Gruppe richtet. Wie Zaimo÷lu gezeigt hat, ist die sprachliche Grenzüberschreitung ein zweischneidiges Schwert, das niemanden verschont.10 Die sprachliche Grenzüberschreitung im Fall polnischer Autoren aus Deutschland geht ebenso auf Kosten von beiden Gruppen (Polen und Deutsche), schließlich werden auch andere Immigranten nicht nur aufs Korn genommen, sondern regelrecht beschimpft. Der Erzähler in WypĊdzeni do raju beherrscht zu Beginn seines Singen-Aufenthaltes nur rudimentäres und zum Teil obszönes ›Ausländerdeutsch‹: »hajhitla, [...] hendehoch, polniszeszfajn, sznela sznela, cajg mir dajne muszi...«.11 (Załuski 2010: 24) Zugleich hat er eine stereotype Meinung über die Deutschen, die Ärzte hierzulande hält er beispielsweise für »treue Mengele-Schüler« (»wierni uczniowie doktora Mengele«, ebd.: 114). Die Freiheit riecht nach Vanille teilt die Welt in »arme Schlucker aus Osteuropa«, »stinkende

8

Der vollständige Titel lautet: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft.

9

Siehe Gerdes 2008; die genannten Beispiele stammen von den Seiten 69-70.

10 Der »egalitäre« Charakter der Beschimpfungen kommt noch besser im »Imigrantenkabarett« zum Ausdruck. Für seinen radikalsten Vertreter im Moment halte ich Serdar Somunçu, der alle Minderheiten aufs Korn nimmt, dabei aber auch die Mehrheit nicht verschont, z.B. indem er aus Mein Kampf vorliest; siehe el Hissy 2012. 11 Ich bleibe hier bei der Originalortographie von Załuski.

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Polacken« (Muszer 1999: 130f.) und »deutsche blonde Weibstücke« ein. (Ebd.: 57) Muszers Protagonist kann sich sprachlich kaum beherrschen und macht zum Ziel seiner Schimpftirraden auch eine kasachische Familie aus dem Lager in Friedland: »Du sollst Kamele in deiner verdammten Wüste treiben. Was suchst du hier, bei uns, in Europa? Ab nach Asien! Verpiß dich in die Wüste!« (Ebd.: 70) Auch die Erzählungen von Janusz Rudnicki sind voll von ähnlichen Sprachverwendungen. Neben wörtlichen Beschimpfungen finden sich dort auch stereotype und diskriminierende Bilder des Eigenen und des Fremden. Es sei hier nur auf den Erzähler aus MoĪna Īyü (1991, Es lässt sich leben) hingewiesen, der während des Beischlafs »Hitlers Machtergreifung mit sämtlichen Konsequenzen« in seiner Partnerin bestrafen möchte (Rudnicki 1991: 52; »dojĞcie Hitlera do władzy i wszystkie tego skutki«)12, oder auf das Bild der Roma am Lagerfeuer im ehemaligen KZ Bergen-Belsen, die einen gebratenen (die Titelfigur – den tschechischen) Hund verzehren (Rudnicki 2010).13 Politisch inkorrekte und obszöne Sprache bildet ein Charakteristikum vieler Werke der interkulturellen Literatur aus Deutschland. Der Protagonist, ein Fremder, ein Immigrant, der oft die Sprache seiner Umgebung nicht ausreichend beherrscht, verortet sich selber am Rande der Gesellschaft (eine paradoxe Situation der Freiheit und Unterwerfung zugleich). Diese Randposition lässt sich literarisch kreativ verfremden, indem die Protagonisten in eine Genealogie der literarischen Randgestalten aufgenommen werden. Ihre Vorläufer lassen sich in Till Eulenspiegel, Lazarillo de Tormes oder generell dem Picaro-Typus erkennen. Polnische Prosa aus Deutschland erinnert daher häufig an alte Schelmenromane. Die Situation einer marginalisierten, nicht ganz ernst genommenen Figur erlaubt ihr einen Ausbruch aus der offiziellen Welt, von der sie nicht akzeptiert wird. Dieses Modell trifft vor allem auf die Protagonisten Rudnickis und Załuskis zu: »›Rudnicki‹, das literarische alter ego des Autors« – schreibt in einer Rezension zu ĝmierü czeskiego psa (Tod des tschechischen Hundes) Eliza Szybowicz – »ist eine ostentativ plebejische Figur, ein Picaro oder ein Eulenspiegel«14.

12 Vgl. den Aufsatz von Wojciech Browarny aus dem vorliegenden Band. 13 Hier die Titelerzählung. 14 Vgl. 2012).

http://www.dwutygodnik.com/artykul/207-neurozy-sowizdrzala.html

(1.10.-

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II. L AGER 1. Grenzdurchgangslager Der Erzähler und Protagonist aus Die Freiheit riecht nach Vanille ist in seiner Hybridität untypisch für die polnische Literatur aus Deutschland. Er ist nicht einfach ein (polnischer) Emigrant, seine Identität wird bewusst verkompliziert. Er definiert sich selbst als »das kleinste schwarze Arschloch im Universum. […] ein Massenmörder« (Muszer 1999: 5), der »irrtümlicherweise auf uralten sorbischen Gräbern« geboren wurde. (Ebd.: 8) Er ist ein Sorbe, ein Deutscher, ein Pole oder auch ein Jude, wie sich später herausstellt. Die Identität seines Vaters bleibt zuerst eine offene Stelle: Es soll entweder ein Soldat des Deutschen Grenzschutzes oder ein russischer Offizier gewesen sein. Erst im weiteren Verlauf des Romans wird der Vater als ein Jude aus dem galizischen Czortków/Tschortkau beschrieben.15 Noch als Kind zieht der Protagonist mit seiner Oma von der Lausitz auf die andere Seite der Oder, nach Rzepin. Die gesellschaftliche Randstellung der Figur wird hier zusätzlich durch deren ethnisches und geographisches Grenzgängertum betont. Als der bereits erwachsene Held seine Frau und die Kinder verlässt, bricht er auf – nach einer Zwischenstation als Obdachloser auf dem Hannoverschen Bahnhof – nach Friedland, in das Durchgangslager für Spätaussiedler.16 Die Strecke aus Hannover nach Friedland legt er zum Teil mit der Bahn, zum Teil zu Fuß zurück, der Weg ähnelt einer Pilgerschaft oder einem Bußgang: »Es sei eine Art Brauch in Niedersachsen, ein Canossagang für Arme, ein Bußgang für jeden Aussiedler deutscher Herkunft«. (Muszer 1999: 46) Die Schilderung des Durchgangslagers lässt immer wieder an die KZ der Nazizeit denken. Es ist zwar keine Todesfabrik17, aber doch eine Art Fabrik, wo Deutsche ›produziert‹ werden: »Man darf das Lager von Friedland mit anderen Lagern aus Deutschlands Geschichte unter keinen Umständen verwechseln! Das möchte ich betonen, damit niemand auf falsche

15 Im Roman als »Czortkow«, vgl. Muszer 1999: 111. 16 Das Grenzdurchgangslager in Friedland bei Göttingen wurde bereits 1945 von den Briten ins Leben gerufen. Bis zum heutigen Tag sind durch das Lager mehr als vier Millionen Menschen durchgegangen, vgl. die Angaben auf der neuen Homepage des GDL Friedland: http://www.grenzdurchgangslager-friedland.niedersachsen.de (01.10.2012); für 2014 ist die Eröffnung eines »Museum Friedland« geplant. (Vgl. ebd.) 17 Ich denke hier an die Bezeichnung von Erich Kulka und Ota Kraus: Továrna na smrt (1946).

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Gedanken kommt! [...] Friedland ist ein Lager der besonderen Art. Man nennt es bescheiden und phantasielos das Grenzdurchgangslager. [...] Friedland ist ein Lager, in dem man aus normalen, gewöhnlichen Menschen, zur Zeit hauptsächlich aus dem östlichen Europa und Asien, richtige Deutsche macht, egal, wer du bisher, also eigentlich dein ganzes Leben lang, warst. Gehst du als Russe, Litauer, Pole, Rumäne oder Kasache hinein, kommst du als Deutscher wieder heraus. Man produziert dort Deutsche haufenweise! Und es ist gut so.« (Muszer 1999: 47-48)

Der Erzähler beendet die Beschreibung des Lagers mit der Feststellung: »Und es ist gut so«, die sich als eine Art Zustimmung oder sogar Sympathie dem neuen Schöpfungsakt gegenüber interpretieren lässt. Gerade durch das Abstreiten jeglicher Ähnlichkeiten mit »anderen Lagern aus Deutschlands Geschichte« bezieht sich Muszers Prosa ununterbrochen auf die vermeintlichen Gemeinsamkeiten. Friedland ist ein Ort der Massenproduktion von Deutschen, es handelt sich hierbei um einen sehr schnellen Prozess, denn im Fall des Protagonisten dauert der Aufenthalt dort lediglich zwei Tage und endet mit dem Erhalt eines »Registerscheins« (»eines der beiden wichtigsten Dokumente, die ein Schäferhund deutscher Abstammung besitzen kann«, ebd.: 74) und des »Vertriebenenausweises«. Der Held verlässt das Lager zudem »auf eigenen Beinen [...] und nicht durch den Schornstein«. (Ebd.: 75) Zurück in Hannover lässt er sich gleich die Nummer des Registerscheines auf seinen Arm tätowieren und setzt die Reise als bereits »frisch gebranntes Vieh« fort. (Ebd.: 78) Die Trennung von Friedland ist der letzte Moment, in dem der Protagonist auf die Lager-Parallele hinweisen kann; dies tut er ziemlich direkt. Das Lager ist bei Muszer der Ort einer kurzen Quarantäne und einer Umwandlung der äußeren Identität (der Held bekommt neue Papiere). Es ist ein polykultureller Raum (»[…] ich fand […] schließlich einen guten Platz. Er befand sich […] zwischen einer Familie aus Kasachstan und einer Familie aus Oberschlesien«, ebd., 58f.) und ein Ort der Vereinheitlichung der Menschen zugleich. Das Lager in Friedland wird einerseits als eine Domäne der (gesprochenen) demokratischen Parolen dargestellt, andererseits – der ethnischen und sozialen Ungleichheit, wo die Antragsteller mit der deutschen Nationalität und der deutschen Staatsangehörigkeit »beschenkt« werden. (Vgl. ebd.: 48). In manchen Romanen bekommen die Protagonisten in den Lagern auch neue Namen geschenkt. Dies wird in Anioły i Ğwinie. W Berlinie! von Brygida Helbig (2005) ironisch kommentiert: »Jadwiga wurde zu Hedwig und Wojciech zu Adalbert umgewandelt, aus Katarzyna wurde Kasza, aus GaĞ – Gasz, aus Musiał – Muzijal« (»Jadwiga zostawała Hedwigą, Wojciech Adalbertem, Katarzyna Kaszą, GaĞ Gaszem, a Musiał Muzijalem«, Helbig 2005: 18). Der Austausch der

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Identität, die zusätzlich durch einen neuen Namen betont wird, bildet ebenso ein Motiv in Kino Muza von Artur Becker (2003). Ein Mitarbeiter des gleichen Durchgangslagers – in Friedland – rät dem aus Bartoszyce in Masuren stammenden Protagonisten18 zu einem neuen Vornamen, damit die Wandlung auch vollkommen ist: »Wie wär’s denn mit Arnold? Das ist eine einmalige Chance – dazu kostenlos!« (Becker 2004: 13) Aus einem Antek wird daher ein Arnold Haack. Die Rückbezüge auf »andere Lager aus Deutschlands Geschichte« sowie die Stereotype der deutsch-polnischen Beziehungen lassen sich auch in Czarna Matka (2008) von Wojciech Stamm beobachten. Nicht zufällig kommen hier solche Lexeme wie »Menge«, »Selektion«, »Transport« (tłum, selekcja, wywózka) vor (Stamm 2008: 212f.); das Aussehen eines der Beamten löst zudem beim Protagonisten eine Assoziation mit einem Gestapooffizier aus: »ganz in Schwarz, in einer Lederhose und einem Ledermantel« (»w czarnej skórze, w skórzanych spodniach, w skórzanym płaszczu«, ebd.: 224). Das Aussiedlerlager wird diesmal in Ramstein angesiedelt, in einer Kaserne; Włodzimierz Wolek (so heißt der Protagonist) begegnet dort nicht nur Beamten, sondern auch deutschen Soldaten. Diese Tatsache setzt eine weitere (alte) Assoziation in Gang: »[...] byłem w jakiejĞ krainie, w czarno-białym filmie z czasów wojny; [...] z ust urzĊdnika wyĞwietlała siĊ kronika z czasów Hitlera [...]. Tak, byłem w obozie KrzyĪaków, byłem Jagienką... Jankiem z Czterech pancernych wĞród JapoĔczyków, Jankiem Klossem wĞród łowców głów«. (Stamm 2008: 215)19 [Ich war in irgendeinem Land, in einem Schwarzweißfilm aus der Kriegszeit; [...] im Mund des Beamten sah ich eine Chronik aus Hitlers Zeiten ablaufen [...]. Ja, ich war im Lager der Kreuzritter, ich war Jagienka..., Janek aus Vier Panzersoldaten unter den Japanern, Hans Kloss unter den Headhuntern.]

Das Lager in Ramstein ist ebenso ein Ort der Verwandlung des Protagonisten, obwohl diese eher im Imaginären zu verorten ist: »Ich werde nie wieder wie früher sein. Ein Panzer wird mir wachsen. Meine Augen bekommen einen neuen

18 Ähnlich wie Becker selber. 19 Die genannten Figuren sind alle ausschließlich fiktional. Jagienka ist eine Protagonistin aus Henryk Sienkiewiczs Roman KrzyĪacy (Kreuzritter); mit Janek ist einer der vier Panzersoldaten aus dem gleichnamigen Roman von Janusz Przymanowski und aus dessen Verfilmung (1966-1967) gemeint; Janek (Hans) Kloss wiederum ist eine Figur aus dem polnischen Serienfilm Stawka wiĊksza niĪ Īycie (dt. Sekunden entscheiden, 1967-1968). Zu Hans Kloss vgl. Loose 2011.

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Glanz, einen Stahlblick« (»juĪ nie bĊdĊ taki jak przedtem. WyroĞnie mi pancerz. Moje oczy nabiorą innego blasku, stalowego wejrzenia«, ebd.: 215). »Die Verwandlung«, die der Erzähler mehr befürchtet als herbeisehnt, wird hier jedoch eindeutig als »Verrat« (ebd.: 210) und »Verkauf der eigenen Seele« (ebd.: 234) bezeichnet. Da der Held jedoch nur dank deutscher Abstammung das Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik erlangen kann, gibt er sich im Gespräch mit dem Lagerbeamten als Deutscher aus. Das Durchgangslager ist demzufolge ein Ort der Metamorphose, wo die Protagonisten die bisherige (›schlechtere‹) Identität ablegen und eine (in der konkreten Situation) ›bessere‹ und gefragtere erhalten – die deutsche. Erstaunlich finde ich in den bisher zitierten Texten, dass häufig fast überspielt wird, dass es sich dabei um ein Lager für Spätaussiedler handelt, für Personen also, die nach Friedland oder Ramstein freiwillig kommen und sich ebenso ungezwungen ›germanisieren‹ lassen. Als Freiwillige möchten sie ›um jeden Preis‹ (auch wörtlich gemeint) Deutsche werden. Eine Ausnahme bildet der erwähnte Roman von Wojciech Stamm, der immer wieder vom »Verkauf der Seele« spricht. Gerade der Spätaussiedler wird dort aufs Korn genommen: »Das ist ein Verräter, ein Volksdeutscher, das ist einer, auf den es nicht einmal lohnt, zu spucken. Das ist einer, der fürs Geld seine Heimat, seine Mutter verleugnet, der ihr ins Gesicht spuckt, der dem Herrn Jesu ins Gesicht spuckt« (»To zdrajca, to zaprzaniec, to jest folksdojcz, to jest ten, na którego nie warto nawet splunąü. To ktoĞ, kto dla pieniĊdzy swojej ojczyzny siĊ zapiera, swojej matki, w twarz jej pluje, pluje w twarz Panu Jezusowi«, ebd.: 216), wobei in der zitierten Passage nicht nur die Ambivalenz dieser Figur deutlich wird, sondern auch die nationale Rhetorik der sog. ›echten Polen‹.20 Czarna Matka stellt einen Protagonisten dar, der sich selber selbstkritisch gegenüber steht und sich seiner Situation bewusst ist: Er wird zwar von stereotypen Vorstellungen und Visionen heimgesucht, trotzdem entscheidet er sich aber für den »Verkauf der Seele«. Er bemitleidet sich dabei nicht, denn er weiß genau, dass man nur auf eigenen Wunsch zu einem Opfer wird (»ofiarą zawsze jest siĊ na własną proĞbĊ«, ebd.: 210).

20 Dies sind im Roman Worte und Argumente eines Priesters, die der Protagonist während einer Beichte zu hören bekommt.

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2. Das Lager »wo die Karte zu Ende ist« Das Lager für Aussiedler, im neusten Roman von Krzysztof Maria Załuski »Vertriebenenlager« genannt, liegt in Singen, »wo die Karte zu Ende ist, ganz unten in Deutschland«. (Załuski 2010: 11) Es wird einfach mit dem deutschen Wort »Lager« bezeichnet. (Ebd.: 12) Dies ist ein Ort, wo sich die Bewohner gegenseitig Angst einjagen »mit einem noch zu Hitlers Zeiten eingeführten Verbot, im öffentlichen Raum auf Polnisch, Russisch, Jugoslawisch und Zigeunerisch zu sprechen« (»wydany jeszcze za pana Hitlera zakaz mówienia w miejscach publicznych po polsku, rusku, jugolsku i cygaĔsku«, ebd.). Die Metamorphose, die hier beschrieben wird, hat nichts mit einer äußeren Ästhetik zu tun; sie ist ein Prozess, der im Inneren der Aussiedler stattfindet. Beinahe alle Bewohner des Lagers (insbesondere einige Frauen, die sich oft noch an die Kriegsjahre erinnern können) halten sich für Deutsche. Die vom Erzähler geschilderten älteren Frauen täuschen Personen vor, die sie selber nie waren: »Singen anno domini 1989 war wie die Landung auf einem fremden Planeten. […] die ›späten‹ Aussiedler versuchten – um die Zeit nachzuholen, die sie hinter dem Eisernen Vorhang verloren haben – deutscher zu werden, als dies die gebürtigen Deutschen selbst überhaupt waren« (»Singen anno domini 1989 było jak lądowanie na innej planecie. [...] ›spóĨnieni‹ przesiedleĔcy, aby nadrobiü czas stracony za Īelazną kurtyną, próbowali staü siĊ bardziej niemieccy od rodowitych Niemców«, ebd.: 13). Das Lager, manchmal auch »Armenhaus« (przytulisko), »Herberge« (schronisko), »Heim« oder »Kolchose« (kołchoz)21 genannt, ist ebenso eine Metapher des Exils als solchen – der Erfahrung der Einsperrung oder der allgegenwärtigen Sinnlosigkeit. Den Entschluss zu emigrieren bezeichnet der Erzähler als »den idiotischsten aller idiotischen Einfälle« (»najidiotyczniejszy z idiotycznych pomysłów«, ebd.: 69). An einer Stelle heißt es im Roman: »Die Emigration hat doch absolut keinen Sinn… Keinen, mit der Ausnahme der Herbeiführung einer endgültigen Hirnlosigkeit« (»Emigracja nie ma przecieĪ Īadnego sensu... ĩadnego, z wyjątkiem ostatecznego odmóĪdĪenia...«, ebd.: 21). Der Erzähler vergleicht seine eigene Situation mit der eines exotischen Aquarienfisches, der zwar am Leben gehalten wird, von der Freiheit jedoch kaum profitiert: »Mnie [...] coraz bardziej wydawało siĊ, Īe stajĊ siĊ egzotyczną rybą, jakimĞ glonojadem, skalarem czy inną molinezją, która przez szybĊ wyjątkowo zasyfionego akwarium obser-

21 Vgl. Kapitelüberschrift: »Kołchoz z widokiem na Alpy« (Eine Kolchose mit Alpenblick), ebd.: 39.

144 | RENATA M AKARSKA wuje Ğmieszne, dwunogie, pozbawione łusek i poczucia humoru istoty zwane tubylcami; i Īe te blade stwory o jasnych włosach i nalanych, czerwonych gĊbach, zamiast mnie pozbawiü Īycia, wsypują mi do wody suszone, witaminizowane dafnie i Īywe, tłuste rureczniki.« (Załuski 2010: 25) [Immer stärker kam es mir vor, dass ich mich in einen exotischen Fisch verwandle, einen Algenfresser, einen Skalar oder sonst einen Kärpfling, der durch das Glas eines außerordentlich schmutzigen Aquariums seltsame zweibeinige Lebewesen von hier beobachtet, die schuppenlos und ohne Sinn für Humor sind. Und dass die blassen Ungeheuer mit hellen Haaren und dicken roten Fressen mir, anstatt mir das Leben wegzunehmen, getrocknete vitaminierte Daphnien und große lebende Ringelwürmer ins Wasser schmeißen.]

»Das Lager, wo die Karte zu Ende ist«, wird von manchen Heimbewohnern für einen Beweis der Wohltätigkeit des deutschen Staates und für eine Art Patriotismus oder Solidarität mit den Deutschen aus Mittel- und Osteuropa gehalten. Das Lager ist in Załuskis Prosa jedoch ein gänzlich negativer Ort, der Mythos des »guten Gospodin Kohl« (»dobrego gospodina Kohla«) wird sofort entlarvt. Der eigentliche Grund für die rollende Welle der Spätaussiedler ist die Erkenntnis der langsamen Alterung der deutschen Gesellschaft. (Ebd.: 13) Die gleiche Ursache für die gesteuerte Migration aus dem Osten nennt die Prosa von Brygida Helbig, indem sie »ein paar Züge mit jungen, nach Abenteuer und Wohlstand gierigen Menschen« erwähnt, die die Bundesrepublik aus Polen importierte (»kilka pociągów młodych, Īądnych przygody i dobrobytu ludzi«, które Republika Federalna importowała z Polski«, Helbig 2005: 12). 3. Das Lager – ein Kurhaus Während die Aussiedlerheime in Deutschland zu Orten der äußerlichen oder innerlichen Metamorphose (eigentlich: Germanisierung) werden, weisen andere Beispiele auf die Aufgabe einer Regeneration der Bewohner hin. Zwar besitzen die Durchgangslager immer einen heterotypischen Charakter, sie liegen an der äußersten Peripherie des Landes (häufig ganz unten auf der Karte oder ganz oben in den Bergen), sie können jedoch ihre Funktionen ändern. Das Lager, dessen Erfahrung der Flüchtling aus Schwedenkräuter macht, erinnert an ein Feldspital: »UmieĞcili nas chwilowo w szkole, w drewnianych pawilonach pod samym lasem. [...] DostaliĞmy koce, mnóstwo koców, moĪna by nimi zasłaü boisko piłkarskie. PielĊgniarka,

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dobra i piĊkna jak bogini, rozdawała lekarstwa. [...] Współpraca słuĪby zdrowia i informacyjnej układa siĊ doskonale, z obustronną korzyĞcią.« (KruszyĔski 1995: 9f.) [Sie platzierten uns vorläufig in einer Schule, in hölzernen Pavillons an der Grenze des Waldes. [...] Wir bekamen Decken, eine ganze Menge von Decken, man hätte mit ihnen ein ganzes Fußballfeld auslegen können. Die Krankenschwester, gut und schön wie eine Göttin, verteilte die Arzneien. [...] Die Zusammenarbeit zwischen dem Gesundheitswesen und dem Informationsdienst verlief wunderbar – mit beidseitigen Vorteilen.]

Der Protagonist in Tadzio von Jurek Zielonka (2000) lernt wiederum ein Flüchtlingslager in den österreichischen Alpen kennen. Er fährt nach Wien mit dem Auftrag seines Onkels, die Flüchtlings- und Heiratspläne seines Cousins zu durchkreuzen. In Treiskirchen macht Tadzio ein Gebäude der alten Kaserne ausfindig, wo sich das Flüchtlingslager befindet; den Cousin mit seiner Verlobten trifft er jedoch erst in einer Lagerfiliale, die in den Alpen liegt – in einer kleinen Ortschaft namens Bergen. Diesmal wurde keine Kaserne und keine Schule zum Lager umfunktioniert, die Flüchtlinge werden in einem Gasthaus namens »Goldener Hirsch« (ebd.: 36) untergebracht. Der Ort wird aber von Anfang an als ein Kurhaus (sanatorium) bezeichnet22: »Die Fachleute aus Treiskirchen fanden offensichtlich, dass genug Freizeit, die Bergluft und eine kalorienreiche Ernährung die besten Methoden sind, um uns endgültig vom Bazillus des Kommunismus zu befreien« (»SpecjaliĞci z Treiskirchen uznali widocznie, Īe wolny czas, górskie powietrze i wysokokaloryczna dieta to najlepsze sposoby, aby uwolniü nas raz na zawsze od bakcyla komunizmu«, ebd.: 38). Die Lager in der polnischen Prosa aus Deutschland und bei Zielonka zeigen kaum Gemeinsamkeiten. In Tadzio scheinen sie tatsächlich eine antikommunistische Maßnahme der westlichen Gesellschaften zu sein. In WypĊdzeni do raju sind sie eine notwendige Bleibe im Prozess der Erneuerung der deutschen Gesellschaft. Während in Singen vor dem Lagergebäude nur deutsche Automarken zu sehen sind (»mercedesy, fałweje, beemwuchy i audice«; Merzautos, BMW und Audi, Załuski 2010: 13) – die Aussiedler möchten schließlich als Deutsche gelten –, stehen vor dem Kurhaus-Lager in Zielonkas Roman eine lange Reihe von schneebedeckten Autos der Marken Syrena, Fiat und Trabi mit Kennzeichen aus verschiedenen Regionen Polens sowie zwei Orbis-Busse (Zielonka 2000: 34; »długi rząd przysypanych Ğniegiem syren, fiatów i trabantów z numerami rejestracyjnymi z róĪnych stron Polski oraz dwa autokary Orbisu«).

22 Damit wird natürlich auf Thomas Manns Zauberberg verwiesen.

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Der in die Familien- und Liebesgeschichte verwickelte Tadzio ist auch in den Ort selber verstrickt; dieser liegt zwar bereits in der Freitheitszone, bleibt jedoch für die Bewohner geschlossen. Es ist ein vorläufiger Raum und zugleich auch eine Etappe in der Warteschleife zum Status eines Asylanten in Österreich oder auf dem Weg zu einem Traumland. Die Visionen vom Kurhaus selber und einem ›Urlaub in den Bergen‹ werden lediglich durch die Geschichten anderer Bewohner des Kurhauses unterbrochen. Aus der Vergangenheit ragen einzelne Erzählungen heraus: über drei albanische Messerstecher (ebd.: 49), über Frau Mateczko, die jede Nacht vom Passamt träumt (ebd.: 59), oder über die Rumänen im Nebenzimmer, die – um nach Bergen zu gelangen – »über einen Stacheldraht klettern, über einen gepflügten Acker kriechen, wo man sie beschossen hat, und dann noch die Donau durchschwimmen mussten, wobei sie die Eisschollen wegräumten« (»musieli przełaziü przez druty kolczaste, czołgaü siĊ przez zaorane pole, gdzie do nich strzelano, a potem przepłynąü Dunaj, odgarniajac na bok kry«, ebd.: 55). Die Zeit verbringt Tadzio mit erfolglosen Versuchen, seinen Cousin zur Rückkehr nach Polen zu überreden, mit Spaziergängen mit dessen schöner Verlobten, sowie mit Beobachtungen, wie andere skifahren, in die Disco gehen oder einkaufen. Das Kurhaus-Lager in Bergen scheint tatsächlich zu einer anderen Welt zu gehören, mehr als eine Metapher des Verschlossenseins ist es ein Zeichen der Hoffnung auf die Freiheit. Diese wird hier wiederum nicht mit der Politik, sondern mit Reisen und Abenteuern assoziiert: »Jak wszystko dobrze pójdzie, juĪ wkrótce dostaniemy papiery i wyrwiemy siĊ stąd. I cały Ğwiat stanie przed nami otworem: Australia, Azja, Afryka! [...] Jestem pewien, Īe bĊdzie to równie ciekawe jak te «Tomki» Szklarskiego, które czytałeĞ mi w Mielnikach! PamiĊtasz?« (Ebd.: 50) [Wenn alles gut läuft, bekommen wir bald die Papiere und verlassen den Ort. Und die ganze Welt wird uns offen stehen: Australien, Asien, Afrika! [...] Ich bin überzeugt, dass dies genauso spannend sein wird wie die ›Tomek-Hefte‹ von Szklarski23, die du mir in Mielniki vorgelesen hast. Erinnerst du dich?]

23 Gemeint sind hier die Abenteuerromane von Alfred Szklarski (1912-1992), die in Polen seit den 1950er Jahren erschienen und mehrere Generationen von Jugendlichen begeisterten. Ihr Protagonist heißt Tomek Wilmowski.

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III. D ER D URCHGANGSCHARAKTER DER L ITERATUR DER LETZTEN POLNISCHEN E XILWELLE Die dargestellten Durchgangslager – obwohl sie einen festen Platz in der Struktur der Gesellschaft einnehmen, denn es wird sie sicherlich immer geben – behalten ihren Vorläufigkeitscharakter. In architektonischer Hinsicht handelt es sich hier fast ausschließlich um Häuser mit einer ursprünglich anderen Verwendung: Es sind ehemalige Schulen, Krankenhäuser, Kasernen oder Herbergen, sekundär umgewandelt in Lager. Die Flüchtlings-, Aussiedler- oder einfach Durchgangslager scheinen eine Domäne der Vorläufigkeit zu sein, im Gegensatz zur Gesellschaft, die sie abbilden. Diese möchte als eine Oase der Festigkeit und Unveränderbarkeit gelten. Die Vorläufigkeit wird zusätzlich durch die periphere Lage der Häuser verstärkt. Sie liegen nicht nur symbolisch am Rande der Gesellschaft, sondern auch ganz wörtlich an peripheren Orten – in der Nähe von Staatsgrenzen (wie Singen) oder in den Bergen. Es gibt kaum Darstellungen von Durchgangslagern in der polnischen Literatur, die stärker miteinander kontrastieren als diejenigen in den Werken polnischer Autoren aus Deutschland und diejenigen in der Prosa von Jurek Zielonka. Im ersten Fall sind die Protagonisten stark in die Geschichte verwickelt, sie emigrieren zwar freiwillig nach Westdeutschland und versuchen ihre angeblich deutsche Abstammung plausibel darzustellen, betonen jedoch auf Schritt und Tritt ihre untergeordnete Position in der neuen Gesellschaft. In Tadzio hingegegen spielt nicht die Kategorie der Geschichte die Hauptrolle, sondern die des Abenteuers (Szklarski!). Schließlich porträtiert Zielonkas Prosa nicht Spätaussiedler, sondern entschlossene Flüchtlinge, die zugleich aus politischen und wirtschaftlichen Gründen emigrieren wollen. Die österreichisch-polnische Geschichte wirkt auf die Protagonisten nicht so beklemmend wie die deutsch-polnische. Die Lagerdarstellungen lassen sich auch, als Heterotopie, auf den Charakter der letzten Exilwelle beziehen. Sowohl die Emigranten selber als auch ihre Literatur befinden sich zwischen den beiden Polen: zwischen der Exiltradition und dem Übergang zum freien Migrieren. Kennzeichnend für diese Übergangsphase ist eine Kulmination der Reflexion über den Exilstatus. Er wird als gesellschaftliche Exklusion und emotionale Quarantäne wahrgenommen. Das Bild der Emigration als einer Exklusion (im besten Fall – einer Quarantäne) begleiten jedoch erste Anzeichen einer postexilen Phase der Literatur, in der das Migrieren die exkludierenden Zuschreibungen ablegt und sich auf die Attraktivität neuer Narrationen konzentriert.

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Emigration als Trauma der Flucht Christian Skrzyposzeks West-Berliner Blick über die Mauer M ICHAEL Z GODZAY

Nachdem 1983 der Roman Freie Tribüne von Christian Skrzyposzek (19431999) im Berliner Rotbuchverlag erschienen ist, publiziert im Januar 1984 der deutsch-jüdische Schriftsteller und Satiriker Edgar Hilsenrath, der das Ghetto in der Bukowina überlebte und nach Stationen in Lyon und New York wenige Jahre nach Skrzyposzek, im Jahr 1975, nach West-Berlin gekommen war, in der Zeitschrift »Der Spiegel« eine humorvolle Besprechung des Romans. Statt sich direkt mit dem quantitativ gewaltigen Text auseinanderzusetzen, beschreibt er eine »polnische Intellektuellenparty in der Berliner Wohnung des Dichters Christian Skrzyposzek« (Hilsenrath 1984: 129), auf der zwischen Wodka, Zigaretten und Bigos über das neu erschienene Werk diskutiert wird – und zieht sich damit geschickt aus der Affäre. Statt als Kritiker selbst zu sprechen, überlässt er das Urteil lieber den fiktiven polnischen Gästen der Party: »›Skrzyposzek ist der größte lebende polnische Dichter‹, sagt ein graumelierter Herr mit einer schwarzen Hornbrille. ›Was würden unsere Klassiker wohl dazu sagen, zum Beispiel Słowacki, KrasiĔski oder gar der große Mickiewicz, wenn sie wüssten, dass Christian Skrzyposzek seinen polnischen Traum von der ›Freien Tribüne‹ in Berlin träumen musste, in einer ummauerten Stadt, fern der Heimat, verstehen Sie?‹« (Ebd.)

Neben anderen fiktiven Stimmen der debattierenden Partygäste, die sich für eine mögliche Rezension des Romans einen weniger pathetischen Akzent wünschen oder sich für den vulgären Gestus erwärmen, mit dem die Figuren der Freien Tribüne das ›wirkliche‹ Leben in der Volksrepublik schildern, neben denen, die die Farce auf eine degenerierte dystopische Gesellschaft oder die essayistische Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus hervorgehoben wissen

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möchten, repräsentiert der graumelierte Herr den traditionellen Topos der Emigration. Hilsenrath zitiert ihn offensichtlich ironisch, so wie man augenzwinkernd einer Tradition gegenüber seine Schuldigkeit tut und dabei auf die zeitliche Distanz und veränderte Bedingungen des Exiliertseins hinweist. Denn diese sind nach der Zäsur von 1980 ganz andere als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am auffälligsten ist der Abschied von der Idee des Exils, der sich am nationalen Identitätsdiskurs orientiert, an der Tragödie des Verlustes der Heimat. Schon die wichtigsten Vertreter der sogenannten politischen Emigration nach 1945, wie Miłosz, Gombrowicz, Stempowski, Herling-GrudziĔski oder Bobkowski, betonen die Relativierung ihrer nationalen Identität zugunsten einer existenziellen Erfahrung des Fernseins, des Reisens, der Einsamkeit und des Pilgerns, die für das Schreiben und die intellektuelle Arbeit konstitutiv wird (vgl. Olejniczak 1999). Auch diejenigen, die zur Generation der 1968er gezählt werden, allen voran Zagajewski und BaraĔczak, die nach 1981 emigriert sind, befinden sich bereits gewissermaßen in der Nachfolge der politischen Emigration und definieren ihr Fern- und Unterwegssein auf eigene Weise, ohne sich auf die Kategorien des Exils oder der Emigration ausdrücklich zu beziehen. Auch sie wollen in der Ausreise und dem Aufenthalt außerhalb Polens vor allem die existenzielle Dimension sehen. (Vgl. LigĊza 2000; Olszewska 2007) Zur Generation der 68er wird zuweilen auch der 1943 in Chorzów geborene Christian Skrzyposzek gezählt, der jedoch schon 1969, nachdem er sich im März 1968 im Zusammenhang mit der antisemitischen Kampagne und den Studentenprotesten plötzlich, wie er sagte, in der Opposition befand, Polen verließ. Die Publikation seines Debütromans Kabotyn (Der Schmierenkomödiant) wurde gestoppt, das Theaterstück Pat (Das Patt) erschien noch im Januar 1969 in der Zeitschrift »Dialog«, wurde aber sofort mit Aufführungs- und Rezensionsverbot belegt. (Skrzyposzek 1969) 1971 ist Skrzyposzek dann über Wien nach WestBerlin gekommen und wurde neben Arnold Słucki und Witold Wirpsza zu einer wichtigen Gestalt des damaligen polnischen Kulturlebens in der Stadt. In seiner Wohnung trafen sich sowohl Polen als auch Deutsche beider deutscher Staaten. (Vgl. Szaruga 2001) Gleichwohl bleibt die Bedeutung Skrzyposzeks für die polnische Literatur ambivalent, zunächst aus dem einfachen Grund, weil sein erstes Debüt verhindert wurde – in Polen durch das Publikationsverbot und in Berlin durch die Krankheit, die die Arbeit an der Freien Tribüne immer wieder unterbrach, Skrzyposzek 1983 zu einem Pflegefall machte und ihn am 7. Mai 1999 schließlich in den Freitod trieb. Die polnische Ausgabe des Romans Wolna Trybuna erschien erst 1985 im Berliner Emigrationsverlag »Pogląd«. Eine wirkliche Rezeption des Buches in Polen konnte erst verspätet mit der Publikation durch den

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Verlag »W.A.B.« in Warschau 1999, kurz nach dem Tod des Autors, einsetzen (Skrzyposzek 1985; 1999). Man könnte auch von einem zweiten Debüt Skrzyposzeks sprechen, nämlich mit dem 1996 bei W.A.B. erschienenen Roman Mojra (Moira). Darin wird die autobiografisch-literarische Auseinandersetzung mit seiner Lähmungskrankheit zu einem Text, in dem die Krankheit als solche zu einer komplexen Metapher transformiert wird. Der Hauptprotagonist dieses Romans sieht sich einer veränderten Wirklichkeit gegenüber. Die Grenzen zwischen Polen und Deutschland sind durchlässig, er kann ungehindert aus Berlin in das polnische Tatragebirge reisen. Doch die postkoloniale Realität in Mittelosteuropa hat in den Augen des Protagonisten eine neue Art der Unfreiheit hervorgebracht, die für ihn mit einer unheilvollen Herrschaft des Kapitalismus und der instrumentellen Vernunft zusammenhängt. Das nicht allzu umfangreiche Werk Skrzyposzeks sollte in der Forschung zusammen mit dem auf Deutsch entstandenen und vom Autor nicht überarbeiteten Roman Die Annonce betrachtet werden, den Petra Skrzyposzek, die Lebensgefährtin des Schriftstellers, redigiert und 2005 in Berlin veröffentlicht hat. Er entstand in den krankheitsbedingten Unterbrechungen der Arbeit an der Freien Tribüne und widmet sich der deutsch-deutschen Geschichte einer tödlich endenden Flucht aus Ost-Berlin, die aus der quasi-naiven Sicht einer Katze erzählt wird, einem anpassungsfähigen Tier, das seinen Traum vom Konsumwohlstand im Westen träumt, jedoch, im Westen angekommen, sich den Hunger paradoxerwiese wieder herbeiwünscht. Skrzyposzek arbeitet in seinen Texten weder an der Heroisierung noch an der Entmythologisierung der Emigration mit. Dass seine Prosa dennoch etwas von der Erfahrung vermittelt, die mit dem Topos der Emigration zusammenhängt und somit auch zu einer Aufzeichnung dieser Erfahrung wird, liegt vor allem an dem als Flucht empfundenen und traumatisierenden Moment der Ausreise, den die Texte subkutan permanent reflektieren. Jenes spezifische Moment konstituiert bei Skrzyposzek ein Erzählen, in dem die Erfahrung der Heimatlosigkeit und der Fremde noch keinen Platz hat. Das Trauma der Flucht lässt vielmehr die Erfahrung des Eingesperrtseins beständig wiederkehren. Auf der Flucht sieht der Fliehende im Zurückblicken noch den Ort, den er verlässt, und fragt noch mehr nach dem, was ihn bewogen hat, diesen Ort zu verlassen, als danach, was ihn an einem anderen Ort vielleicht erwartet. Für Skrzyposzek war die Ausreise nach West-Berlin eine Bedingung für das Schreiben, wie er in dem Interview für die deutsch-polnische Literaturedition »WIR« anmerkt. In der deutschen Ausgabe der Freien Tribüne wird der Autor folgendermaßen zitiert: »1969 verließ ich Polen mit der Absicht, es aus der Distanz zu beschreiben. So begann mein Exil, das bis heute andauert.« (Skrzyposzek 1983: 446) Gleichzeitig aber wurde die konti-

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nuierliche Arbeit an der Freien Tribüne selbst eine Bedingung dafür, dass die Ausreise aus Polen nicht bloß eine Flucht, d.h. eine Tat der Verzweiflung wurde: »[D]iesem Unterfangen [d.h. der Fertigstellung des Romans, M.Z.] musste ich einfach gerecht werden, andernfalls wäre meine Ausreise aus Polen nicht die bewusste und zielgerichtete humanistische Mission eines Autors gewesen, der keinen anderen Ausweg sah, sondern sie wäre zur Flucht geworden.« (Skrzyposzek 1996b: 56-57) Damit bezieht sich Skrzyposzek durchaus auf den Topos der Emigration. Tatsache ist jedoch, dass die Idee zur Freien Tribüne und erste Skizzen schon in Polen entstanden sind. Zunächst war es ein, wie Skrzyposzek zu berichten weiß, höhnisches Postulat eines Kollektivromans, den er im Koordinationskomitee des Jugendverbands ZMS und des Verbands Junger Autoren vorbrachte. Als das Projekt durch den baldigen Vertrauensentzug des Vorstandes abgeblasen wurde, beschloss Skrzyposzek, selbst einen Roman zu schreiben, der die Form einer kollektiven Textarbeit parodiert. »Die fünfzig, sechzig ersten Seiten der Freien Tribüne schmuggelte ich in den Westen – zusammengerollt und zwischen Carmen-Zigaretten gestopft.« (Ebd.: 68) Durch die mehr als zehnjährige Arbeit an der Freien Tribüne in West-Berlin verleiht Skrzyposzek biografisch dem Moment seiner eigenen Ausreise eine paradoxe Dauer. Schon die geographische Nähe zu Polen scheint zu unterstreichen, dass er soweit gar nicht gekommen ist, dass er unmittelbar hinter der Grenze stehen bleibt, damit sein Blick sich noch auf den Ort richten kann, dem er ›entkommen‹ ist. Und weil dieser Blick noch dort haften bleibt, ist er ihm noch gar nicht entkommen. Er muss sich in ihm geradezu versenken, ihn sogar dämonisieren und auf diese Weise die psychosoziale und mentale conditio der verwalteten Bevölkerung Volkspolens in der Fiktion zu Ende denken. Damit wird seine Emigration paradoxerweise zur Erfahrung des Eingesperrtseins und einer scheiternden Flucht. Das Bild, welches Skrzyposzek von der Volksrepublik zeichnet, ist ein antiutopisches, allegorisches und satirisches zugleich. Vordergründig ist das Projekt der Freien Tribüne ein aus Anlass des (in der Fiktion antizipierten) nahenden 50. Jahrestags der Gründung Volkspolens für die Öffentlichkeit eingerichtetes anonymes Tagebuch – »[...] w postaci nowego modelu badaĔ społecznej, intelektualnej i duchowej sytuacji tzw. Ğrodowisk zamkniĊtych.« (Skrzyposzek 1999: 17; als neues Modell zur Erforschung der gesellschaftlichen, intellektuellen und geistigen Lage der sog. geschlossenen Milieus) In den dafür vorgesehenen und mit Schreibmaschinen ausgestatteten Räumen darf der Bürger so schreiben bzw. sprechen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Es entsteht eine Loseblattsammlung, die den Zustand einer Gesellschaft abbildet, die seit 50 Jahren im Realsozialismus lebt. Neben konformistischen schriftlichen Auftritten im Stil des Parteijargons kommt vor allem auch die zynische und vulgäre Realität der Volksre-

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publik zur Sprache. Auf der narrativen Ebene wird das anonyme Tagebuch zu einer Autoexposition dessen, was im Roman das ›verzweifelte Bewusstsein‹ einer Gesellschaft im Käfig des Realsozialismus genannt wird. Dieser Ausdruck stammt aus den Denkschriften der Oppositionellen-Gruppe, die eine Änderung der Verhältnisse durch eine sogenannte ›Fakto-Therapie‹ (Skrzyposzek 1999: 425) herbeiführen will – nicht nur in Form von theoretischen Analysen, sondern auch durch Gewalt-, Zerstörungs- und Selbstzerstörungsakte. Parteimitglieder werden ermordet und die Hauptstadt Warschau soll – ein Haus ums andere – in Schutt und Asche gelegt werden. Die deutlich auktorial gefärbten Passagen, die sich der theoretischen Abrechnung mit dem Marxismus widmen, lassen in dem ›verzweifelten Bewusstsein‹ (ebd.: 276) die reale Seite des ideologisch applizierten ›revolutionären Bewusstseins‹ erkennen. In dieses verzweifelte Selbstverhältnis einer Gesellschaft ›versenkte sich‹ Skrzyposzek imaginär von der WestBerliner Insel aus. Sein Blick nach Osten registriert schmerzlich eine Gesellschaft unter Verschluss, in der einzig der Überlebenswille eine Handlungsmaxime darstellt. Das Leben derer, die im Käfig sitzen, reduziert sich auf die bloß animalische Dimension, der Skrzyposzek in einem allegorischen Bild Ausdruck verleiht. Das Projekt der Freien Tribüne wird nämlich von einem pseudowissenschaftlichen, makabren Experiment mit Laborratten begleitet. Der Käfig, in dem die irrsinnige und sadistische Dr. Znachor ihre Ratten hält, symbolisiert Polen im verkleinerten Flächenmaßstab und ist in einen Sektor mit optimalen Lebensbedingungen und in einen Sektor mit absolut lebensfeindlichen Bedingungen unterteilt. Im Fokus des sadistischen Experiments steht das Rattenverhalten. ›Untersucht‹ wird die Bereitschaft der Individuen, aus dem ›benachteiligten Sektor‹ in den ›privilegierten‹ zu gelangen, und die Strategien, die sie dabei entwickeln. In diesem allegorischen Kernstück des Romans setzt Skrzyposzek den animalischen Überlebenswillen und das Konsumverhalten in ein Identitätsverhältnis und stützt damit seine polemisch zugespitzte Analyse des real existierenden Sozialismus als einer im Grunde kapitalistischen Realität, die schizophren durch den ideologi-schen Selbstkommentar aufrechterhalten und zu einem sadistischen Experiment irrsinniger Eliten wird. In dieser Hölle scheint die Flucht, sei es faktische, sei es psychische oder mentale, die einzige Möglichkeit, der Zerstörung individueller Existenz und kollektiver Praxis durch das theoretische Experiment des Sozialismus zu entkommen. Der schmerzliche Blick in den Osten von der West-Berliner Insel ist auch in dem – faktisch nicht autorisierten – nur auf Deutsch vorhandenen Roman Die Annonce zentral. Skrzyposzek wollte den Roman seiner zweiten Frau Petra widmen, deren Flucht aus der DDR er 1974 organisierte. Er betrachtete das Ro-

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manprojekt jedoch als gescheitert und führte es nicht zu Ende. Die Annonce scheint im Kontext der hier aufgerissenen Problematik der Emigration als Trauma der Flucht ein wichtiger Paralleltext zur Freien Tribüne zu sein. Das Motiv der Flucht wird hier ganz konkret am Beispiel der deutsch-deutschen Grenze thematisiert. Skrzyposzek konstruiert in dem Roman eine kritische Doppelperspektive jenseits und diesseits der Berliner Mauer, die den Blick auf den »Sozialismus mit seinen kapitalistischen Träumen und den Kapitalismus mit seinen sozialistischen Sehnsüchten« (Skrzyposzek 2005: 162) eröffnet. Die Geschichte der Flucht des Doktoranden Alexander und der Studentin Katja aus Ost-Berlin, die sich ursprünglich gegenseitig bespitzeln sollten, aber zum Liebespaar werden, wird aus dem Blickwinkel von Katjas Katze erzählt, deren Träume von Freiheit und Wohlstand ihren emblematischen Ausdruck in einer Dose Whiskas Katzenfutter finden. Der unzuverlässige, miauende Erzähler versinnbildlicht den Überlebensinstinkt eines Individuums, das ständig auf den besseren Morgen warten muss, während das bessere Heute anderswo stattfindet. In ihrem Tagebuch zeichnet die Katze ihre Beobachtungen auf. Etwa den Fensterblick in den Westen, der Aus-schnitte einer imaginierten Idylle enthüllt: »Aus dem Wohnzimmer, wenn ich auf dem Fensterbrett sitze, sehe ich ein Fragment des Westens. Es ist nicht viel: zwei alte Bäume und dazwischen eine Straßenlaterne. Abends leuchtet die Laterne und strahlt ein warmes Licht aus. Die Bäume scheinen dann viel jünger, als sie tatsächlich sind. Und das ist alles.« (Ebd.: 58) Der naive Erzähler beobachtet, wie zwei Eichhörnchen auf einem der Bäume, die vom Fensterbrett aus zu sehen sind, mit einer Nuss spielen, wobei eines der Eichhörnchen sie geschickt vor dem anderen versteckt. (Ebd.: 59) Das scheinbar unschuldige Spiel hat jedoch eine weniger unschuldige Referenz. Die Tierparabel, die Skrzyposzek häufiger in seine Texte einbaut, um gesellschaftliche Strukturen abzubilden, gerät hier zu einer eher plakativen These über den sozialen Kampf in der westlichen Warengesellschaft. Von einem anderen Aussichtspunkt im Osten Berlins ist auch die Warenwelt des Westens zu sehen, z.B. der Hinterhof eines Discounters mit den eintreffenden Waren. Aber auch nichtssagende Ausschnitte des Westens sind gut genug für eine Projektionsfläche: »Man sieht nicht gerade sehr viel […] doch wenn man Phantasie hat, reicht das übriggebliebene Bild, um die Hoffnung nicht ganz zu verlieren.« (Ebd.: 112) Der Traum von der Reise in den Westen soll zwar für den Katzen-Erzähler in Erfüllung gehen, doch für das Liebespaar endet die Flucht tragisch. Beim Übertritt über die grüne Grenze, weit weg von Berlin, geraten die beiden in einen Hinterhalt. Alexander verschwindet im Walddickicht und Nebel (man hört nur Schreie), Katja wird erschossen. Einzig die Katze, die von Katja im Korb getragen wurde, überlebt und wird nach West-Berlin gebracht. Der Leser ahnt jedoch,

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dass es sich nicht ganz so zugetragen hat, dass er es wahrscheinlich nicht mit einer erzählenden Katze zu tun hat, sondern mit Alexander selbst, der die Katzenidentität angenommen hat und in der West-Berliner Psychiatrie landet. Die gescheiterte Flucht ist nicht nur eine dramatische Zuspitzung der Erzählung. Sie verweist in der psychologischen Schicht des Textes auf die Unmöglichkeit der Flucht aus einem gesellschaftlichen Gefüge, das sich mit seiner ›Gefängnisstruktur‹ den Individuen als Obsession einschreibt. Skrzyposzek gibt diesem Motiv die Bedeutung der eigenen Emigrationserfahrung, die durch die empfundene Bedrohung eines möglichen Scheiterns seiner Vorstellung von politischer und sozialer Freiheit geprägt war. Im Dialog zwischen Alexander und Katja, die mit den Vorbereitungen ihrer Flucht aus Ost-Berlin beschäftigt sind, wird diese obsessive Bedeutung des Fluchtmotivs deutlich: »›Seit Jahren beschäftigt mich das mehr als alles andere‹, fuhr Alexander leise fort. ›Ich kann nicht mehr träumen, denn kaum schließe ich meine Augen, sehe ich sofort die Mauer vor mir, die Grenze, die Soldaten... Keinem anderen Problem habe ich so viele Gedanken geopfert… Das Thema Flucht ist für mich zur Obsession geworden…, zu einer qualvollen Zwangsvorstellung… Nichts anderes erscheint mir so wichtig… Ich muss dieses hoffnungslose Land verlassen, bevor ich die Selbstkontrolle verliere und einem Parteifunktionär an die Kehle springe… Ich kann nicht mehr hier leben, weder als Henker noch als Opfer, denn sich mit dieser Sorte von Herrschern zu verbrüdern, ist gegen meinen Stolz. Andererseits bin ich zu stark, um ein Schicksal als ihr Opfer hinzunehmen… Das ist alles ausweglos…, es sei denn, der Weg führt über die Grenze...‹ ›[…] Hast du Angst mitzumachen?‹ […] ›Ehrlich gesagt, ja, ich habe Angst‹, sagte sie. ›Doch sie ist winzig im Vergleich zu der Angst, hier weiterzuleben. Meine Vorsicht, mehr noch meine Skepsis ist nicht nur rationaler Natur. Mich verfolgt seit Jahren schon ein Traum, dessen Inhalt eine misslungene Flucht darstellt.‹ [...]« (Ebd.: 167-169)

Der Traum Katjas wird zu einer self-fulfilling prophecy, die vor allem das psychologische Moment der ›Unmöglichkeit‹ einer Flucht bezeichnet. »›Arme Katja‹, lächelte Alexander mitfühlend und legte seine Hand auf die ihre. ›Die Mauer hat uns alle in potentielle Psychopathen verwandelt... Hoffentlich bist du nicht abergläubisch...?‹« (Ebd.: 169) Die autobiografische Lesart lässt vermuten, dass Skrzyposzek die Krankheit als Folge der schwerwiegenden Entscheidung zu einer Flucht hier bewusst reflektiert. In Die Annonce muss die Flucht scheitern, weil sie ein bloß instinktives Verhalten darstellt, das in sich eine Beschränkung und eine Falle zu sein scheint. Trotz der Überwindung einer realen Grenze bleibt die Erfahrung der Unfreiheit dem Individuum eingeschrieben.

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Auch im Westen beobachtet der unzuverlässige Erzähler spielende Eichhörnchen. Er steht wieder am Fenster einer West-Berliner Wohnung, blickt über die Mauer nach Osten und sieht, wie die Nagetiere einen wilden Kampf austragen. Dass sie um ein Objekt des Begehrens, d.h. um die allegorische Nuss kämpfen, scheint offensichtlich. Doch diese ist nicht zu sehen. Der soziale Kampf ist umso wilder und umso verzweifelter, je weniger es zu verteilen gibt: »Nichts. Einfach nichts. Die spielen nur so... Nur so. Beißen sich zu Tode... Vielleicht, um nicht aus der Übung zu geraten. Die Nuss gibt es gar nicht... Noch nicht... Oder schon nicht mehr....« (Ebd.: 209) Im ›freien‹ Westen wird der Erzähler als ›Zonenflüchtiger‹ das Schicksal vieler Sozialhilfeempfänger teilen. Für seine gewonnene Freiheit fehlt ihm ein materielles Existenzminimum. Der motivische Blick über die Mauer in Richtung Osten ist von Resignation geprägt: »Vom Fenster sieht man einen kleinen Straßenabschnitt von Ost-Berlin. Es dämmerte schon, doch während in der unmittelbaren Umgebung immer neue Lichter auftauchten, blieb die Ferne dunkel wie ein grenzenloser Wassergraben. Und je länger ich auf dem Fensterbrett saß, desto unwiderlegbarer überkam mich der Eindruck, auf einem kaum spürbar sinkenden Schiff zu sein, das gegen die unsichtbare Flut nicht mehr ankämpfte, sondern in voller Illumination unterging.« (Ebd.: 203) Skrzyposzeks Texte sind in ihrer autobiografischen Dimension ein Zeugnis des verzweifelten Kampfes gegen die isolierenden Bedingungen eines ›beschädigten Lebens‹. Nicht nur, dass das Leben und die Arbeit an der Freien Tribüne auf der West-Berliner Insel für den Autor zur steten Erinnerung an den sozialistischen Rattenkäfig wurde. Auch die fortschreitende Lähmungskrankheit wurde zu einer leidvollen Verlängerung der Erfahrung des Eingesperrtseins. In Die Annonce war sie als eine mögliche Folge der Flucht angedeutet. In dem Roman Mojra schließlich rückt die Krankheit ins Zentrum des Erzählens und wird zur Metapher der Unmöglichkeit der Flucht. Der Erzähler spricht bereits aus dem Jenseits und berichtet von der Lähmung, an der er in seinen letzten Jahren in West-Berlin litt, die ihm das Gehen unmöglich machte, und von seinen Versuchen, die Krankheit zu besiegen. Da die Grenzen in Mittelosteuropa verschwunden sind, wird umso deutlicher, dass der Begriff der Freiheit für Skrzyposzek zunehmend zu einem Problem wurde, dem er eine metaphysische Bedeutung gibt und den er vollends mit seiner eigenen psycho-physischen Verfassung identifiziert. Der Erzähler entschließt sich zu einer Reise, die ihn zurück nach Polen führen soll, wo er mit Hilfe einer in der Einsamkeit der Hohen Tatra lebenden Biotherapeutin seine Krankheit besiegen will. Die Reise ist jedoch ebenso vom Scheitern bedroht, wie schon die Flucht nach West-Berlin. Die Stadt hört zwar auf, eine um-

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mauerte Insel zu sein und erlebt die Freude der Wiedervereinigung, doch bleibt der Erzähler ein Gefangener der Krankheit, die die Biotherapeutin als Hybris der Vernunft diagnostiziert. Die neue Topographie Berlins erinnert den Erzähler umso schmerzlicher an ein Gefängnis, das er in sich trägt: »[...] schroniłem siĊ w kawiarni na dachu Ğródmiejskiego wieĪowca, i tam, wpatrzony w fosforyzującą panoramĊ tego miasta, którego – dopóki Īyło jednym płucem i jedną komorą serca – nigdy nie udało mi siĊ pokochaü, gdyĪ za bardzo przypominało mi moją własną poraĪkĊ, a i zbyt wiele w nim przecierpiałem, a które teraz, ponownie zjednoczone, kaĪdym przejawem euforii zmartwychwstania wdzierało siĊ w mój letarg niby chichot pijanego szczĊĞciem klowna, wiĊc wtedy […] przysiągłem sobie, Īe nie powrócĊ do tego miasta, dopóki nie wydĨwignĊ siĊ ze stanu upoĞledzenia, bo chociaĪ głĊboko pragnąłbym podzielaü jego radoĞü wolnoĞci, jak długo moja osobista niewola nie znajduje kresu, jego radoĞü sprawia mi tylko ból.« (Ebd.: 87) […] ich habe mich in ein Café im obersten Stockwerk eines Hochhauses in der Innenstadt geflüchtet, und während ich dort das phosphoreszierende Panorama dieser Stadt betrachtete, jener Stadt, die zu lieben – solange sie nur mit einer Lunge und einer Herzkammer lebte – mir niemals gelungen ist, weil sie mich zu sehr an meine eigene Niederlage erinnerte und ich zu viel in ihr durchleiden musste, und die jetzt, wieder vereint, mit jedem Zeichen der Euphorie ihrer Auferstehung wie das Gelächter eines betrunkenen Clowns in meine Lethargie eindrang, damals also […] habe ich mir geschworen, dass ich in diese Stadt solange nicht zurückkehren werde, bis ich den Zustand meiner Behinderung überwunden habe, denn obwohl ich schon sehr wünschte, ihre Freude an der Freiheit zu teilen, solange meine persönliche Unfreiheit nicht beendet werden kann, verursacht mir diese Freude nur Schmerzen.] (Übers. M.Z.)

In der autobiografischen Schicht der drei Romane von Christian Skrzyposzek lässt sich die Aufzeichnung eines Traumas entziffern, in dem die Auseinandersetzung mit der Volksrepublik Polen zu einem obsessiven Kampf gegen degradierende (geopolitische) Bedingungen der Existenz wird und damit auch universellen Inhalt bekommt. Die Topographie der Stadt Berlin vor der Wende fällt in Skrzyposzeks Texten mit der inneren Topographie des Erzählenden zusammen, dem die Überwindung der Grenzen zu einer Frage nach den Möglichkeiten der Selbstüberwindung werden musste.

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L ITERATUR Gałecki, Łukasz/Kerski, Basil (2000) (Hg.): Die polnische Emigration und Europa 1945-1990, Osnabrück. Hilsenrath, Edgar (1984): »Polen, zehn Jahre nach 1984«. In: Der Spiegel 1, 129-131. Kryszak, Janusz (2001): ĩycie literackie drugiej emigracji niepodległoĞciowej, ToruĔ. LigĊza, Wojciech (2000): JaĞniejsze strony katastrofy. Szkice o twórczoĞci poetów emigracyjnych, Kraków. Nechamkis, Włodzimierz (2001): Vom Ende einer ›zielgerichteten humanistischen Mission‹. Zum Freitod des Exilschriftstellers Christian Skrzyposzek. Unkorrigiertes Manuskript für den Deutschlandfunk, Hintergrund/Feature. Erstsendung: 10. April 2001. Olejniczak, Józef (1999): Emigracje. Szkice, studia, sylwetki, Katowice. Olszewska, Kinga (2007): Wanderers across language. Exile in Irish and Polish literature of the twentieth century, London. Skrzyposzek, Christian (1969): »PAT«. In: Dialog 1, 5-30, Warszawa. Skrzyposzek, Christian (1983): Freie Tribüne, oder das Buch der Randbemerkungen zur allpolnischen Integrationsbewegung der jungen sozialistischen Intelligenz, Berlin. Skrzyposzek, Christian (1985): Wolna Trybuna, Berlin. Skrzyposzek, Christian (1996a): Mojra, Warszawa. Skrzyposzek, Christian (1996b): »Es gab in Polen keine oppositionelle Literatur...«, Gespräch mit A. Hadrysiewicz. In: WIR 3, 55-69. Skrzyposzek, Christian (1999): Wolna Trybuna, Warszawa. Skrzyposzek, Christian (2005): Die Annonce, Berlin/St. Petersburg. Szaruga, Leszek (2001): »ĩycie literackie emigracji w Berlinie Zachodnim«. In: Janusz Kryszak (Hg.), ĩycie literackie drugiej emigracji niepodległoĞciowej, ToruĔ, 73-79. Wilkiewicz, Zbigniew R. (1991): Polnische Exilliteratur, 1945-1980. Eine Bestandsaufnahme, Köln/Wien.

Emigration als Kastration Polnische Männerliteratur in Deutschland (OĞwiĊcimski, NiewrzĊda, Stamm, Muszer, Rudnicki) B RIGITTA H ELBIG -M ISCHEWSKI

Emigration kann Frustration, manchmal auch Degradierung bedeuten – jedenfalls in der Literatur, auf die ich hier einen Blick werfen möchte. Viele polnische Schriftsteller in Deutschland, vor allem Männer mittleren Alters, verarbeiten in ihren Werken Demütigungserfahrungen eines Migranten. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind von komplizierten Emotionen geprägt. Von den historischen Erfahrungen mit den Deutschen ist den Polen (den ›Kolonisierten‹) ein Gefühl der Demütigung, aber auch moralischer Überlegenheit geblieben. Den Deutschen dagegen ein Gefühl der Schuld und kultureller Überlegenheit. Diese Erfahrungen prägen bis heute die interkulturellen Beziehungen beider Gesellschaften auf öffentlicher und privater Ebene. Und so erwuchs die Schaffenstätigkeit der polnischen Migranten auf dem Boden einer kulturell vererbten und auch selbst durchlebten Entwürdigungserfahrung. Auf dieser Grundlage entstand der ›Club der Polnischen Versager‹ in Berlin, der diese Erfahrung grotesk hyperbolisierte, parodierte und paradoxerweise zum Erfolgsmotor transformierte. Die Erfahrung der Entwertung/Degradierung machen im Westen Europas vor allem Migranten aus Ost- und Südeuropa, aus der Türkei und den arabischen Ländern (Amerikaner oder Franzosen, also so genannte ›Westausländer‹ bleiben meist davon verschont). Betroffen sind beide Geschlechter, Männer allerdings auf eine andere Weise als Frauen. Die ausländische Frau repräsentiert vor allem die ›Andersartigkeit‹ ihres eigenen Geschlechts und wird daher als geringere Bedrohung als der ausländische Mann wahrgenommen. Man kann sich zum Beispiel in sie verlieben und so ihre Andersartigkeit ›vereinnahmen‹ – die Faszination kann (wenigstens ansatzweise bzw. vorübergehend) Angst oder Hass außer

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Kraft setzen. Außerdem wird Erfolg im öffentlichen Raum (und der materielle Erfolg) vor allem vom Mann erwartet. Wenn dieser – wie es relativ häufig bei den ›Ausländern‹ der Fall ist – ausbleibt, werden Männer stärker als Frauen als ›loser‹ geächtet. Polnische Schriftsteller, die sich in den 1980er Jahren in Deutschland niedergelassen haben, emigrierten hauptsächlich aus ökonomischen Gründen, seltener aus politischen. Sie kamen aus einem ›ärmeren‹ Land und beherrschten in den meisten Fällen die deutsche Sprache nicht. Die ungenügende Kenntnis der Sprache prädestiniert uns bekanntlich für die Rolle eines nicht vollwertigen und ziemlich machtlosen Wesens. So waren diese Schriftsteller, die meisten mit akademischen Abschlüssen, darauf angewiesen, sich körperlicher Arbeit anzunehmen bzw. von Arbeitslosenhilfe zu leben – mit all den dazu gehörenden Unannehmlichkeiten. Einige von ihnen provozieren bis heute mit (selbstironisch?) gebrochenem Deutsch, was aber nicht die Regel ist – Dariusz Muszer schreibt z.B. in Deutsch. Die deprimierenden Erlebnisse der Schriftsteller – der Intellektuellen, die in die Rolle des Tapezierers oder gar des Bettlers herabgedrängt und respektlos behandelt wurden, blieben nicht ohne Bedeutung für ihr Selbstwertgefühl und fanden, meist ironischen, Ausdruck in ihren literarischen Kreationen. Im Fokus meines Interesses stehen männliche Autoren, die zwischen 1956 und 1965 geboren sind und vor 1989 nach Deutschland emigrierten. Nur eine kurze Zeit (bis der ›Eiserne Vorhang‹ fiel) lebten sie als von ihrem Land isolierte Emigranten im eigentlichen Sinne dieses Wortes. In der Regel haben sie keine größere politische Mission in der Fremde zu erfüllen gehabt. Der Mauerfall machte aus ihnen Pendler, die zwischen beiden Ländern driften, beheimatet im Zugabteil, im Auto, in der E-mailbox, später vielleicht auf Facebook. Es sind: Dariusz Muszer, Krzysztof NiewrzĊda, Leszek OĞwiĊcimski und Wojciech Stamm. Nur ansatzweise gehe ich auch auf Janusz Rudnicki ein, den ältesten und wohl bekanntesten von ihnen, über den bereits viel geschrieben wurde. All diese Autoren haben sich u.a. in autobiografischen, um die Identitätsproblematik kreisenden Narrationen versucht, die man allerdings nicht als realitätsgetreue Abbildung ihres eigenen Lebensweges betrachten sollte. Ich werfe einen Blick auf einige Aspekte ihres Schaffens, auf einzelne Texte, um erste Gedanken und Hypothesen zu formulieren.

E NTWÜRDIGUNG

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AUSLÄNDER

Eine der demütigendsten Erfahrungen, die die Protagonisten dieser Literatur machen, ist die Weigerung der Vertreter des Ankunftslandes, ihre polnischen Na-

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men (oftmals identisch mit den Autorennamen) richtig auszusprechen. In Janusz Rudnickis Erzählung »Trzecia w prawo i druga w lewo od ksiĊĪyca« (Die dritte rechts und die zweite links vom Mond) aus dem Band MoĪna Īyü (Es lässt sich leben) wird der Hauptheld Rudnicki (richtige polnische Aussprache: ›Rudnitzki‹) von den Deutschen ›Rudniki‹ genannt. (Rudnicki 1993: 141) Eine solche Aussprache seines Namens findet er zwar herabsetzend, gleichzeitig jedoch auch witzig. Aus der Situation der Demütigung bringt Rudnickis Erzähler vor allem die Komik hervor. Lachen statt Kampfaufnahme (eine der Anspielungen auf Transatlantik von Witold Gombrowicz – das leuchtende Vorbild der polnischen Migranten-Literatur) ist die tückische Antwort des Erzählers auf die Ignoranz und Arroganz der Vertreter der Mehrheitskultur, die deren Autorität untergräbt. Ein analoges Motiv, jedoch stärker mit bitterem Humor durchtränkt, finden wir in einem Gedicht von Krzysztof NiewrzĊda: »ich heiße niewrzĊda/also wenn schon hier/jemand/meinen namen nicht verdreht/weiß ich sofort, dass ich es mit einem asiaten zu tun habe/in weißen socken/der rest/praktiziert den europäischen brauch vorzutäuschen/dass alles von dort/unaussprechlich/schlechter ist (NiewrzĊda 1999: 58, »nazywam siĊ niewrzĊda/jeĞli wiĊc tutaj/ktoĞ/nie przekrĊca mojego nazwiska/od razu/wiem iĪ mam do czynienia z azjatą/w białych skarpetkach reszta/uprawia europejski zwyczaj udawania/Īe wszystko stamtąd/jest niewymownie/gorsze«). Auf raffinierte Weise kehrt NiewrzĊda hier die semantische Besetzung der Opposition ›europäisch – asiatisch‹ um. Das Europäische (Westliche) wird mit fehlender Kultur und Arroganz (mit einer ›Kolonialhaltung‹), das Asiatische dagegen mit einer höheren persönlichen Kultur assoziiert. So übt der Betroffene literarisch ›Vergeltung‹ aus. Ein anderes Beispiel: Im deutschsprachigen Roman von Dariusz Muszer Die Freiheit riecht nach Vanille (Muszer 1999) werden ein Pole und ein Serbe von ihren deutschen Arbeitskollegen, die sich gegen die Aneignung der slawischen Phonetik sträuben, nach den in ihren Heimatländern populären alkoholischen Getränken benannt – »Wodka« und »Sliwowitz«. (Muszer 1999: 158) Entwürdigend sind ebenfalls abwertende bzw. belehrende Bemerkungen, die die Vertreter der deutschen Kultur an die eingewanderten Protagonisten richten, wie zum Beispiel »Parken lernen!« (Rudnicki 1991: 119), »Wurstmann go home« (OĞwiĊcimski 2002: 39) oder »Deutsch sprechen!« (an die Türken »zum 55. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges« gerichtet, NiewrzĊda 1999: 31). Bei NiewrzĊda ist die ironische Verbitterung bei der Beschreibung solcher Erscheinungen am stärksten, so z.B. in der Erzählung »Alf« aus dem Band Poszukiwanie całoĞci (Die Suche nach der Ganzheit; NiewrzĊda 1999a, 2008). »Alf« handelt von Ausschluss- und Mobbingerfahrungen eines Fremden, der anders als die Mehrheit spricht und sich anders ernährt, in einer feindseligen Um-

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gebung. Der auf einem Schrottplatz arbeitende polnische Protagonist wird von seinen deutschen Kollegen nicht nur auf provozierende Weise mit negativen Stereotypen seiner Nationalität konfrontiert (»wie viele Autos haben deine Landsmänner schon geklaut?«, NiewrzĊda 1999a: 58) sondern auch dazu genötigt, mit seinem einzigen, imaginären Freund Alf Deutsch zu sprechen. Gegen diese Einschüchterungsmaßnahmen leistet der Frustrierte wenig Widerstand. Er selbst trennt die Welt ebenfalls in »wir« und »die Anderen« bzw. in »hier« und »dort« und verschafft sich Luft, indem er die verhasste Fremdheit der deutschen Sprache (»Gebell«) seinerseits entwertet, ihre Redewendungen (»alles klar«, »alles in Ordnung«, ebd.) als sinnentleert und militärisch angehaucht entlarvt und die Mentalität, deren Ausdruck sie sind, verspottet. Hier ist das ›Fremde‹ gleichzeitig das ›Feindselige‹, von einer interkulturellen Bewegung oder Grenzüberschreitung kann – auf beiden Seiten – nicht die Rede sein. Dem Protagonisten bleibt Flucht in Vergeltungsphantasien, Einsamkeit oder seelischen Tod. Mit einer ähnlichen Barriere haben wir es in der Erzählung »Mokre rĊkawiczki« (Die nassen Handschuhe) von NiewrzĊda zu tun, in der ein Vater seinem Sohn übel nimmt, dass dieser sich immer mehr der »Leitkultur« des Gastgeberlandes, auch sprachlich, anpasst. (NiewrzĊda 1999a: 119-132) Auch das lyrische Subjekt einiger Gedichte von NiewrzĊda1 empfindet eine Abneigung gegen den Klang der deutschen Sprache, die in ihm automatisch den Zweiten Weltkrieg ins Gedächtnis ruft, der von vielen Migranten-Schriftstellern immer wieder ins Spiel gebracht wird, als wäre er eine ganz frische Erfahrung. In »Mokre rĊkawiczki« gibt es keine Leiderleichterung durch Humor oder Selbstironie, auch wenn es ansonsten Strategien sind, die für die Migrantenliteratur besonders charakteristisch sind. (Die Migrationserfahrung scheint den Einsatz von Ironie, Selbstironie und Humor zu begünstigen. Auf dem poetologischen Hintergrund verbündet sie sich oft mit einer Vorliebe für die Parodie, das Groteske und Absurde sowie mit einer Neigung zu autobiografischen Identitätsnarrationen.) Letztendlich wird Alf, der imaginäre Freund des Protagonisten, von seinen Peinigern grausam zerstückelt. Das Massaker an Alf, dem Doppelgänger des Ich-Erzählers, versinnbildlicht dessen Ängste vor dem Identitätszerfall und der Vernichtung in einer fremden Umgebung und ist eine symbolträchtige Visualisierung des Emigrationstraumas. Es bleibt festzuhalten, dass NiewrzĊda in diesem frühen Band (später wird er das modifizieren)2 mit einem statischen, geschlossenen Modell der

1

Z.B.: »tłumaczenie z coraz bardziej obcego jĊzyka« (Übersetzung aus einer immer

2

Z.B. in Czas przeprowadzki (Zeit des Umzugs, NiewrzĊda 2005).

fremderen Sprache) oder »adres« (Adresse) in NiewrzĊda 1999: 67, 71.

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Nationalkulturen operiert und nicht mit hybriden Identitäten experimentiert. Er erzählt von der Kreuzigung eines »Fremden«, nicht jedoch von seiner Erlösung. Die meisten Demütigungen erfahren die (Anti)helden der polnischen Migrantenliteratur in Umsiedlungslagern für Spätaussiedler. Aus selbstironischer Sicht der Erzählerfiguren von Muszer (1999), Stamm3 (2008) oder Załuski (1996 und 1999) verkaufen sich Spätaussiedler aus Polen gewissermaßen an die Deutschen. Sie verraten ihr Vaterland, indem sie sich auf ihre vermeintliche deutsche Abstammung berufen, um ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu bekommen und ein gleichberechtigtes Mitglied der hiesigen Gesellschaft zu werden, was ihnen trotzdem nicht gelingen kann. In Stamms Roman Czarna Matka (Schwarze Mutter) verspottet der Protagonist Wolek die Scheinheiligkeit der Polen, die einerseits ihre Vorurteile gegenüber den Deutschen pflegen und gleichzeitig nur zu gern die materiellen Zuwendungen des deutschen Staates in Anspruch nehmen – »sie würden sich für materielle Güter sogar kastrieren lassen« (Stamm 2008: 223, »daliby siĊ wykastrowaü dla dóbr materialnych«). Der Protagonist lässt sich übrigens auch selbst kastrieren. Eine groteske Kulminierung von Unannehmlichkeiten, die ihm im Lager Ramstein, einem Ort des Übergangs in die neue, ›deutsche‹ Identität, widerfahren, ist eine ärztliche Untersuchung (Wolek hat einen Ausschlag auf der Eichel und wird von der AIDS-Angst geplagt), bei der eine deutsche Ärztin, zu einer ›Nazi-Frau‹ 4 stilisiert, ihm Befehle erteilt und anschließend rektal Fieber misst. Es handelt sich um einen symbolischen Vergewaltigungsakt an einem polnischen Mann durch eine deutsche Frau – also um eine doppelte Demütigung, als Pole und als Mann. »Sie sind ein Nichts, ein Flüchtling, also niemand. Sie sind kerngesund. Sie müssen sich öfter waschen. Raus, ich habe zu tun, auf Wiedersehen« (Stamm 2008: 221)5, sagt die energische Ärztin und beendet damit ihre zivilisatorische Mission. Zum Glück heitert sich der Held, wie bei Stamm üblich, mit Hilfe ironischer »Autobarbarisierung«6 auf – einer übertriebenen, sich bis ins Absurde steigenden Übernahme der Vorurteile der Gastgeberkultur gegenüber sich selbst, und ihrer Parodierung. Diese Strategie ist charakteristisch für die Vertreter des ›Clubs der Polnischen Versager‹, zu denen auch Stamm gehört – ein Veteran der Danziger Untergrundbewegung der 80er Jahre (der auch OĞwiĊcimski entstammt).

3

Stamm publizierte ebenso unter dem Pseudonym Lopez Mausere.

4

»Hitlerówka/Hitlers Anhängerin«, »Alien in Gestapouniform« (Stamm 2008: 218).

5

Deutsch im Original.

6

Vgl. Uffelmann 2003: 277-305, Helbig-Mischewski/Graszewicz 2006: 315-322.

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Viele Protagonisten der polnischen Migrantenprosa balancieren am Rand der Gesellschaft und rutschen in die Welt der Arbeits- und Obdachlosen hinab. In NiewrzĊdas Erzählung »Mokre rĊkawiczki« sind die ›Saufkumpanen‹ von der Straße die einzigen Freunde des Ich-Erzählers. Der deutsche Obdachlose hört in dieser Literatur mehr oder weniger auf, ein Deutscher zu sein, er verliert die Position des Vertreters einer privilegierten Kultur.7 Auf dieser Ebene, Verlierer zu Verlierer, verläuft die interkulturelle Kommunikation am einfachsten. Es ist also nicht hauptsächlich die nationale Zugehörigkeit, d.h. das Deutsch- oder Polnisch-Sein an sich, die für Konflikte sorgt, sondern vielmehr der gesellschaftliche Status, die sich meist mit dieser verbindet (Zugang zu Macht und Geld). Eine vergleichbare Freundschaft zwischen »arm« und »arm«, die die nationalen Grenzen sprengt, geht der »Kiełboluda DuĪy« (große Wurstmensch) in OĞwiĊcimskis Klub Kiełboludöw (Der Klub der polnischen Wurstmenschen) mit dem Deutschen Frank ein. Frank ist ein von seiner Frau verlassener, arbeitsloser Ingenieur mit ›gutem Herzen‹. Sowohl bei NiewrzĊda als auch bei OĞwiĊcimski sind es die erlebten Niederlagen und die nie in die Tat umgesetzten Phantasien von einem spektakulären Erfolg (eine Spezialität der Polen), die eine ›Versager‹Gemeinschaft zwischen Deutschen und Polen stiften.8

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Doch die Degradierungserfahrungen der Protagonisten, die nicht mehr, wie es in der früheren polnischen Emigrantenliteratur der Fall war, von dem stolzen Gefühl getragen werden, im Exil eine wichtige politische Mission zu erfüllen, beziehen sich (wie bereits in Bezug auf Stamm angedeutet) nicht nur auf ihre ›nationale‹, sondern auch auf ihre ›geschlechtliche‹ Zugehörigkeit. Es sind oft Männer, die von ihren polnischen Frauen (die sich im Westen eine Verbesserung ihres materiellen Status erhofften) verlassen wurden. Der größte Erfolg einer Frau ist in unserer Gesellschaft bekanntlich immer noch, einen erfolgreichen Mann zu treffen. Deshalb geht in den Migrantennarrationen die Frau exakt in den Mo-

7

Zitat: »Zniknął ten podział na ›tu‹ i ›tam‹. KaĪdy był poza.« (NiewrzĊda 1999a: 124; Die Teilung in ›hier‹ und ›dort‹ ist verschwunden. Jeder war draußen.)

8

Ein anderes Beispiel einer Verlierer-zu-Verlierer-Beziehung: Der Protagonist der bereits erwähnten Erzählung von Rudnicki freundet sich mit der Alkoholikerin Uschi an (Deutsche mit polnischen Wurzeln), vor der er sich ekelt und für die er sich gleichzeitig verantwortlich fühlt, auf die er seine eigenen Ängste vor dem sozialen Abstieg projiziert.

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ment, in dem der Mann versagt. Um diese Problematik dreht sich u.a. der noch unveröffentlichte Roman von Leszek OĞwiĊcimski Aleja Bukowa (Buchenallee), eine Fortsetzung von Klub Kiełboludöw. Aber auch bei anderen polnischen Autoren finden wir ähnliche Motive. Dem Protagonisten der Erzählung »Mokre rĊkawiczki« von NiewrzĊda bleibt, nachdem die Frau gegangen ist, nur ein Ersatz in Form einer Videokassette mit privaten Sexaufnahmen mit ihr übrig. Sie selbst kehrt nach Polen zurück und meistert dort erfolgreich ihr Schicksal, während er stufenweise in Apathie und in die Sucht versinkt. Auch einer der Helden Rudnickis (MoĪna Īyü) wird von seiner Frau verlassen, als er in die Nähe sozialer Abgründe rutscht. Frauen sind in dieser Literatur überhaupt ziemlich gefährlich. So wird z.B. der »Kiełboluda Gruby« (dicke Wurstmensch) in OĞwiĊcimskis Kriminalromanparodie von einer kalten, gerissenen Agentin namens Alicja verfolgt, die zu allem bereit ist, bis hin zum Mord. Berechnende und unberechenbare Frauenfiguren, die Männern Gewalt antun, tauchen auch bei Muszer auf – zum Beispiel im Gedichtband Jestem chłop (Muszer 2004; Ich bin ein Kerl)9, einer eigensinnigen Antwort auf die Herausforderungen des Feminismus. Aus dem Gedicht »Zmartwienie« (Kummer) zitiert: »Er hat einen kleinen Penis,/und würde gern einen größeren haben wollen./Es bekümmert ihn/und lässt ihn nachts nicht schlafen./Seine Frau hat einen großen Fuß,/sie tritt ihn oft.« (Muszer 2004: 29, »Ma małego penisa,/a chciałby mieü wiĊkszego./Martwi go to/i nie pozwala w nocy spaü./Jego Īona ma duĪą stopĊ,/czĊsto go kopie«). Die (Tragi-)Komik dieses Bildes ergibt sich aus dem radikalen Bruch mit einem kulturellen Tabu: Kaum ein Mann bekennt sich dazu, von einer Frau geschlagen zu werden, denn es würde einem Eingeständnis von Schwäche gleichkommen. In Polen ist dieses Tabu noch viel stärker als in Deutschland. Dass Muszer den Mut hat, das Thema anzusprechen, kann davon zeugen, dass er sich von der Ankunftskultur in seiner Sichtweise auf Männer und Frauen beeinflussen lässt, also keine separatistische Haltung ihr gegenüber einnimmt. In Westeuropa werden Männer zunehmend auch in ihrer geschlechtlichen Konditionierung und nicht nur als Vertreter universeller Menschlichkeit wahrgenommen. Was Muszer ebenso wenig wie die Gewaltausübung seitens der Frauen gefällt, ist ihre Neigung, Männer zu Versorgungszwecken auszubeuten, nach dem Motto »masz łeb i chuj to kombinuj« (hast’n Kopf und hast’n Schwanz, dann denk dir was aus), wie es »pan Jurek« aus OĞwiĊcimskis Roman formuliert. (OĞwiĊcimski 2002: 111) Auf ein ähnliches Motiv stoßen wir in Stamms Roman,

9

Der Titel ist eine polemische Anspielung auf den Gedichtband von Anna ĝwirszczyĔska Jestem baba (Ich bin ein Weib, 1972).

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dessen Protagonist von seinem Schwiegervater und seiner Frau dazu genötigt wird, die Funktion des Familienversorgers zu übernehmen, was bei ihm Schweißausbrüche auslöst. »Wenn du unsere Existenz nicht sicherst, bringe ich mich um«, erpresst ihn seine mit Drillingen schwangere Freundin (Stamm 2008: 202, »JeĞli nam nie zapewnisz bytu, zabijĊ siĊ«). In Muszers Gedicht »Sikam na stojąco« (Ich pinkle im Stehen) fühlt sich das Subjekt gleich doppelt, als Pole und als Mann, in der Kultur der deutschen links-liberalen Intellektuellen unterdrückt, die in all seinen Handlungen (sogar im Pinkeln im Stehen) Anzeichen von Chauvinismus oder Schlampigkeit sieht. Werfen wir einen Blick auf die Schlusszeilen des Gedichts: » Ich bin böse,/denn ich pinkle im Stehen.//Wenn ihr mir befehlt/dabei zu sitzen,//werde ich noch/böser« (Muszer 2004: 6, »Jestem zły,/gdyĪ sikam na stojąco.//Jak mi kaĪecie/przy tym siadaü,//bĊdĊ jeszcze bardziej/zły«). Muszers lyrisches Subjekt widersetzt sich der Fremdbestimmung durch die deutsche bzw. westeuropäische Kultur und beansprucht die Wertschätzung seiner Andersartigkeit, selbst wenn diese anachronistisch oder patriarchalisch scheint. Auf humorvolle Weise verarbeitet das Gedicht das Aufeinanderprallen von Kulturen im Alltag eines Individuums. Das Subjekt (der Migrant, der Mann) ist bei ihm eine aktive Instanz (nicht ausschließlich ein Opfer), die Würde und Gleichberechtigung einfordert und Frust in Witz transformiert. Es wird deutlich, dass sich Muszer von der deutschen Kultur zwar nicht abgrenzt, aber andererseits auch nicht fremdbestimmen lässt. In Muszers Roman Die Freiheit riecht nach Vanille widersetzt sich der kriminelle Hauptheld der von Frauen praktizierten Benutzung von Sex als Druckmittel. »Mein Penis gehört mir« (Muszer 1999: 137), protestiert er mutig und paraphrasiert dabei den feministischen Slogan ›mein Bauch gehört mir‹. Noch größere Probleme mit seinem Penis hat allerdings der hysterische Wolek, die Hauptfigur von Stamms Czarna Matka. Auch er zettelt eine groteske und politisch inkorrekte Diskussion mit dem als männerfeindlich und gewalttätig (miss)verstandenen Feminismus an. Der »große Wurstmensch« bei OĞwiĊcimski wiederum, eine Karikatur des Autors, nutzt erst die Zuneigung eines »Chors der Lesben und anderer Frauen« (OĞwiĊcimski 2002: 89), wird aber dann von den Feministinnen für eine chauvinistische Äußerung abgewiesen – eine Gegebenheit, die er in metaphysischen bzw. pseudo-psychoanalytischen Kategorien als Ausdruck des Geschlechterkampfes interpretiert: »Die Wurst hat halt eine phallische Form« (OĞwiĊcimski 2002: 89, »Jak by nie patrzył, kiełbasa posiada kształt falliczny«). Sein Wurstmensch kann sich mit dem ideologischen Eifer der Feministinnen nicht anfreunden, er vermisst bei ihnen Distanz zu sich selbst, Selbstzweifel und Humor.

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Neben den Ängsten vor Frauen oder der Wut auf diese tauchen in den untersuchten Texten Sehnsüchte nach Mütterlichkeit auf, nach einem anderen, weiblicher geprägten kulturellen Paradigma, das den männlichen Figuren ermöglichen würde, sich von den Anforderungen einer Leistungsgesellschaft zu erholen. Es ist die Sehnsucht nach einer »schwarzen Mutter« bei Stamm, nach der mitfühlenden Heiligen Jungfrau bei OĞwiĊcimski, oder einer dicken »Mutter« bei NiewrzĊda (»Mokre rĊkawiczki«). Das Verhältnis zum Patriarchat ist also komplex: Einerseits Polemik gegen die Feministinnen, andererseits Sehnsucht nach einer nicht-patriarchalischen Kultur und nach der Außerkraftsetzung des strengen ›Vaterrechts‹. Die oberflächliche Rezeption des Feminismus, wahrscheinlich in seiner Pop-Version, lässt die Autoren keine Idee darüber entwickeln, dass sie den Feminismus zu ihrem Verbündeten ummünzen könnten. Migration in der Literatur geht meist mit einer tiefen Krise einher, mit Lähmung, Machtverlust, Selbsthass sowie mit diversen Formen von Selbstaggression (Depressionen, Neurosen). Häufig nimmt die Aggression die Form von ›Beleidigt-Sein‹ auf die Kultur des Gastlandes an: Man panzert sich ein und gibt höchstens die eingesteckten Hiebe zurück, allerdings oft nur in der Phantasie. Wie drückt sich das Paradigma der Selbstaggression in der Literatur aus? Wolek aus Stamms Roman ist Neurotiker und Hypochonder, außerdem Feigling und Verräter. Alle »Wurstmenschen« aus OĞwiĊcimskis Roman (alter ego der Vertreter des ›Clubs der Polnischen Versager‹) haben die Tendenz zu tiefen Selbstzweifeln und eine Schwäche für Alkohol. Depressionen und der Alkoholismus plagen auch den Protagonisten von NiewrzĊdas »Mokre rĊkawiczki«. Alkoholiker ist der am häufigsten von den Migranten-Schriftstellern bestätigte deutsche Polenstereotyp – wahrscheinlich weil sich die Neigung zum Alkohol mit einer tieferen seelischen Sensibilität in Verbindung bringen lässt. Der Held von NiewrzĊdas »Mokre rĊkawiczki« kämpft nicht einmal mehr um seine Existenz, sondern versinkt zunehmend in einer Welt der Erinnerungen und sexueller Phantasien. Zum Schluss pinkelt er sich ein – dieses Motiv (eine Kompromittierung des Mannes) springt auch bei Stamm ins Auge. In der grotesken Hyberbolisierung der Schwächen seiner Protagonisten ist Stamm am radikalsten. Während des SolidarnoĞü-Streiks im Jahre 1980 vergießt sein Hauptheld Urin anstelle von Blut – eine äußerst antiheroische Narration. Stamms Wolek verstümmelt sich darüber hinaus selbst und wird obendrein noch kastriert. Zuerst reißt er sich beim Onanieren versehentlich beinahe den Penis ab. (Selbstbefriedigung mangels Partnerin ist auch ein beliebtes Thema der ›Versager-Literatur‹.) Der Penis hält zwar noch, und doch fällt er anschließend bei einer Busfahrt des Protagonisten aus der Hose und kullert wie ein Würstchen über den Boden. Daraufhin bekommt Wolek eine Penis-Prothese, die im Romanfinale von einem Geldautoma-

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ten eingezogen wird. Der Geldautomat fungiert als: »ein Beichtstuhl der Kapitalisten. Dort erhält man (oder auch nicht) die Absolution in Form von Geld« (Stamm 2008: 345, »taki konfesjonał kapitalistyczny. Dostajesz bądĨ nie dostajesz rozgrzeszenia pod postacią pieniĊdzy«). Wolek bekommt sie nicht, denn es ist ihm nicht gelungen, in der korrupten Welt des polnischen Showbusiness Fuß zu fassen, und so verliert er seine Potenz. Er kann sich weder mit den Werten der traditionellen polnischen (patriotisch-religiös geprägten) Kultur identifizieren noch kommt er mit dem derzeitigen polnischen Turbokapitalismus, dem Konsumverhalten und der neoliberalen Unternehmenskultur klar. Dies sei, sagt er, für die »verlorene Generation« von Schriftstellern, die in den 60er Jahren geboren sind und im Kult um Stachura aufwuchsen, charakteristisch. Sie seien romantisch veranlagt, träumerisch und unpraktisch. (Stamm 2008: 285) »Lieber Rheumatismus/als widerwärtiger Pragmatismus«, heißt es in Stamms Gedicht »Bez czapki« (Mausere 1997: 16; Ohne Mütze, »Lepszy reumatyzm/niĪ wstrĊtny pragmatyzm«). Es kann jedoch noch schlimmer kommen, die Aggression kann noch stärker im ›Außen‹ ausagiert werden. So ist zum Beispiel Muszers Held in Die Freiheit riecht nach Vanille Psychopath und Verbrecher. Er nennt sich selbst »Arschloch« (Muszer 1999: 5) und glaubt nicht, dass er Liebe von irgendjemandem verdient. Er sieht sich selbst mit den Augen der Mehrheitskultur – mit einer Mischung aus masochistischer Wut und Ironie. Die unterdrückte Wut, aber auch das gewalttätige Erbe der Ahnen, verführt ihn zu kriminellen Gewalthandlungen gegen Deutsche, Polen und seine eigene Familie – er ist ein Mörder.

S TRATEGIEN

DER

W IEDERERLANGUNG

DER

M ACHT

Was tun die Romanfiguren und die Schriftsteller selbst, um die Opferrolle zu verlassen? Die Strategie des ›Clubs der Polnischen Versager‹ wurde bereits umrissen. Aus der Position eines Narren, eines tollpatschigen, sympathischen »slawischen Brüderchens« heraus, leistet der Club, »politisch nicht ganz korrekt und gefördert von niemand«10, seinen Beitrag zur Destabilisierung der »Leitkultur«, ob wir sie als deutsche, westeuropäische oder Unternehmenskultur wahrnehmen, und fordert (mit Erfolg!) Wertschätzung anderer Lebensstile und Identitäten ein.11 Beispielhaft sind dafür Stamms Antiheld Wolek oder OĞwiĊcimskis

10 Eine Formulierung aus dem wöchentlichen newsletter der Versager. 11 Vgl.: Helbig-Mischewski/Graszewicz 2006: 315-322. Vgl. auch Zduniak-Wiktorowicz 2010.

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Wurstmensch. Beide, ein wenig naiv und hilflos, machen das Ausbleiben des Erfolges zum Programm und stellen die scheinbar selbstverständlichen Regeln und Wertehierarchien der Mehrheitskultur in Frage. Eine andere von den ›Versagern‹ gern eingesetzte Strategie der Neutralisierung von Demütigungserfahrungen ist die rebellische Dekonstruktion von kulturellen Stereotypen. Sie kann z.B. (wie in Stamms Gedichten oder im Roman von OĞwiĊcimski) die Form der Projektion kultureller Antagonismen auf das Innenleben der Figuren annehmen. So kann ein Held gleichzeitig Deutscher, Pole, Jude und ›Russe‹ sein, die nationalen Konflikte werden in seinem Inneren ausgetragen. In einem Gedicht von Stamm kommt es soweit, dass der Familienname des lyrischen Subjekts (eine autobiografische Kreation) seinen Vornamen bekämpft. Der reale Wojciech Stamm nahm als Autor erst das Pseudonym Lopez Mausere an, um sich von der deutsch-polnischen Zwiespältigkeit seines Namens (und der damit suggerierten Zerrissenheit) zu distanzieren. Nicht ohne Grund nimmt Leszek OĞwiĊcimski für die deutsche Version des »Wurstmenschenclubs« als Autor den Namen Leszek Herman an und bringt in seinem Roman die berühmte Hermannsschlacht im Teutoburger Wald ins Spiel. Damit experimentiert er mit nationalen Identitäten, zeigt sich nicht abgeneigt, Anteile vom heroischen Germanentum auch in sich selbst zu entdecken. Weitere Beispiele von hybriden Identitäten bei OĞwiĊcimski: Einer der Romanhelden, der Deutsche Kommissar Klotz, ist polnischer Herkunft, seine Großmutter heißt von Oswiecimsky. Der Erzähler betont auch die polnische Herkunft von Friedrich Nietzsche und lässt für die Produktion der Wurstmenschen, Wesen aus polnischer Wurst, deutsche Halberzeugnisse verwenden. Die Hybridität manifestiert sich auch auf sprachlicher Ebene: In den polnischen Titel seines Romans verwebt OĞwiĊcimski das deutsche ›ö‹. (Vgl. OĞwiĊcimski 2002) Rudnicki wiederum kreiert in seinem Erzählband MoĪna Īyü eine deutsch-polnische Mischsprache. Die Homogenität nationaler Identitäten wird also an vielen ›Baustellen‹ unterwandert. Bei Muszer nimmt die Kumulierung nationaler Konflikte im Erbgut einer Person tragische Ausmaße an. Die Vorfahren des Protagonisten sind Polen, Deutsche, Juden und Lausitzer Serben – Henker und Opfer zugleich. Das von grausamer Gewalt geprägte historische Erbe Europas determiniert den Helden und macht aus ihm ein Monster, obwohl er, ursprünglich ein Ankömmling aus dem Kosmos und ein unbeschriebenes Blatt, eigentlich jemand ganz anderes hätte werden können – wenn ihn der boshafte Zufall nicht nach Osteuropa verschlagen hätte. Ein interessantes Gegenmittel gegen das Gefühl der Entwertung in der Fremde finden wir bei OĞwiĊcimski. Seinen »Wurstmenschen«, die den Typ des sen-

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siblen Romantikers repräsentieren, mangelt es an Selbstvertrauen und Entschlossenheit. Ihre anhaltenden Selbstzweifel wertet der Erzähler jedoch um – in eine exportwürdige polnische Tugend. Es ist eine kreative, ›transkulturelle‹ Lösung jenseits des Opfer-Syndroms. Es ist nicht so, so die Botschaft des Romans, dass die Polen der westlichen Kultur nichts anzubieten haben, ihre Überlegenheit anerkennen und sich entweder assimilieren oder aber verschanzen und Widerstand leisten müssen. Die Idee OĞwiĊcimskis ist, dass die Polen nicht nur ihre Wurst exportieren, sondern auch ihre Unsicherheit, Neigung zu Selbstzweifeln, romantische Zerrissenheit, Bescheidenheit sowie das Bewusstsein eigener Beschränkungen auf den deutschen Boden verpflanzen und somit die hiesige Gesellschaft ›von innen aufmischen‹ könnten. Sie könnten Deutsche vor übertriebener Arroganz bewahren und bestimmte Tendenzen der heutigen Leistungs- und Konsumgesellschaft, wie den Zwang zur Selbstdarstellung und übertriebener Selbstsicherheit, zur Effizienz und Schnelligkeit in Frage stellen. Der Wurstmensch ist bezeichnenderweise ein Mischwesen, er hat keine homogene Identität und ist gegen ideologischen Eifer und Verbissenheit immun – alles möglicherweise exportwürdige Persönlichkeitsmerkmale (so scheint es OĞwiĊcimski mit einem Augenzwinkern zu vermitteln). Stürmen doch jeden Samstag die Vertreter der Mehrheitsgesellschaft den ›Club der Polnischen Versager‹, angelockt durch die spöttische, jedoch nicht feindselige Haltung der polnischen Migranten gegenüber den nationalen Heiligkeiten beider Kulturen. Übrigens wurde der neue Clubsitz in der Ackerstraße am ersten September 2002 (Jahrestag des Kriegsausbruchs) unter dem ironischen Motto »Krieg und Zimmer« eröffnet – ein unkonventioneller Beitrag zur interkulturellen Verständigung. Eine der wichtigsten Strategien zur Neutralisierung des Emigrationstraumas in den Werken und den Biografien der untersuchten Autoren ist jedoch die Annahme der prestigeträchtigen Rolle eines Schriftstellers. Viele männliche Romanfiguren von OĞwiĊcimski, Stamm, Rudnicki und Muszer sind Literaten. Die schriftstellerische Tätigkeit gibt sowohl den Romanhelden als auch den Autoren selbst ihre Würde zurück. So schreiben sich die Migranten aus dem AusländerParadigma heraus. »Die Literatur vermag wenig« – sagt OĞwiĊcimskis Erzähler – »sie war nicht in der Lage, die auf Warschau fliegenden Bomber aufzuhalten und auch nicht diejenigen, die nachts auf Dresden zustürmten. Tonnen von Papier, gegen Kriege und Armut angeschrieben, bewirkten nichts. Aber anscheinend besitzt das geschriebene Wort wenigstens noch so viel Macht, solch ein großes Stück Wurst in eine gute Stimmung zu versetzen« (OĞwiĊcimski 2002: 85, »Nie zatrzymała bombowców lecących na WarszawĊ, ani tych sunących nocą na Drezno. Tony papieru zapisane przeciwko wojnom i biedzie nie odniosły

E MIGRATION

ALS

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Īadnego skutku. Ale widaü tyle ma słowo pisane jeszcze w sobie mocy, Īeby w dobre samopoczucie wprowadziü nawet taki duĪy kawałek kiełbasy«). Auch die Radikalisierung der eigenen Andersartigkeit durch ihre Verlagerung in eine kosmische, metaphysische Dimension und die Wahrnehmung seiner selbst als ein Wesen von einem anderen Planeten, also die Flucht in eine Würde rettende Phantasie, kann das Emigrationstrauma in eine Kraftquelle transformieren. Die in der Migrantenliteratur relativ populäre Metapher eines außerirdischen Wesens verlagert die Narration in eine universelle Dimension, in der es um das Fremdsein an sich, vielleicht auch um die Kondition des Menschen in der Welt geht. Dies ist in NiewrzĊdas »Alf« der Fall, ähnlich ist es auch bei Muszer. Auch OĞwiĊcimskis Wurstmensch ist kein normales menschliches Wesen, sondern etwas Surreales, nicht von Gott Geschaffenes. Obwohl ihm die Beamten den Menschenstatus absprechen, avanciert er (mit seiner Ungewissheit, von wem und zu welchem Zweck er geschaffen wurde und der Gewissheit, jederzeit zu einem Stück Fleisch reduziert werden zu können) zu einer Metapher der menschlichen Existenz. Er ist ein von Deutschen und Polen gleichermaßen verfolgter und gehetzter zeitgenössischer Messias, der die Welt vielleicht erlösen könnte, wenn die Menschen nur etwas von seiner ›Selbstunsicherheit‹ und der Fähigkeit zu zweifeln (auch an eigenen Ideologien und starren Identitätskonzepten) übernehmen würden.

M ÖGLICHKEITEN

DER

L ITERATUR

Die Migrantenliteratur ist eine Herausforderung sowohl für die Ausgangs- als auch die Ziel/Ankunftskultur der Autoren. In jüngster Zeit haben viele Germanisten und Kulturwissenschaftler dieses Phänomen erkannt und widmen sich verstärkt der Literatur der türkisch- oder russischstämmigen Autoren in Deutschland. Die Migrationsliteratur kann den ›einheimischen‹ Lesern erfrischende Impulse dafür geben, sich selbst aus einer anderen Perspektive zu betrachten, die Auto- und Heterostereotype zu revidieren, den Mechanismus der Projektion von Inhalten, die aus dem eigenen Selbstbildnis verdrängt wurden, auf den Fremden, zu erkennen. Der Migrant ist eine anders beheimatete Person, er wird zum Vorläufer auf dem Gebiet der Herausbildung prozessualer ›Patchwork-Identitäten‹ in der globalisierten Welt. Es ist nicht so, dass sich ein Migrant nach seiner Umsiedlung um eine weitere, zweite Sichtweise bereichert und sich kulturelle Prägungen in seiner Persönlichkeit einfach addieren. Im Identitätsprozess, den der Migrant durchläuft, kommt es nicht zu einer einfachen Synthese der Herkunfts- und Ankunftskultur,

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sondern zu einer gegenseitigen Durchdringung, in dessen Ergebnis eine dritte, hybride Identität entstehen kann. Diese dritte Identität (Homi Bhabha spricht hier von einem »dritten Raum«, vgl. Bhabha 2000) ist in den letzten Jahren in den Interessensfokus der so genannten interkulturellen Literaturwissenschaft gerückt. Diese sieht die kulturelle Identität als ein fließendes, dynamisches, prozessuales (kein essentielles) Phänomen. Sie wäre demnach ein Ergebnis von ›Verhandlungen‹, vom Dialog, und würde sich in der Begegnung mit dem Fremden, also durch das Erfahren der Differenz, konstituieren. Das Konzept einer solchen Literaturwissenschaft, die u.a. an literarischen Strategien im Umgang mit dem Fremden interessiert ist, stellte u.a. der Germanist Michael Hofmann vor. (Hofmann 2006) Hofmann sieht gerade in der Literatur die Möglichkeit, den Tendenzen zur Homogenisierung und Totalisierung unserer Kulturen nach westeuropäischem oder amerikanischem Vorbild entgegenzuwirken und die repressiven, »kolonialen« Vorurteile zu dekonstruieren. In Anlehnung an Elisabeth Bronfen (Bronfen 1997) vertritt er die Meinung, dass die Literatur zu einem Trainingsplatz für die in der heutigen, polyzentrischen Welt benötigten Fähigkeiten eines multiperspektivischen Sehens und der Experimentierbereitschaft mit nicht einheitlichen Identitäten werden kann. Der schreibende Migrant (die Migrantin) hat also die Chance, vielleicht nicht Messias, aber ein Experte auf dem Gebiet der interkulturellen Kommunikation zu werden. Diese Chance wird m.E. desto größer, je mehr er (sie) in der Lage ist, seine (ihre) ›Zwischenstellung‹ bzw. seine (ihre) Transkulturalität zu akzeptieren. Dies würde einen Verzicht sowohl auf die separatistische (Opfer-)Haltung als auch auf eine vollständige Assimilation mit der Mehrheitsgesellschaft (Verdrängung der eigenen Wurzeln, Fremdbestimmung) bedeuten. Diese beiden extremen Haltungen, meist stark mit Wertung behaftet und – aus psychologischer Sicht – mit Angst besetzt, verwehren den Migranten den Zugang zu dem »dritten Raum«, dem Quell größter Kreativität. Aus dem Polnischen von Radosław Ciesielski

L ITERATUR Bhahba, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen. Bronfen, Elisabeth (1997) (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismus-Debatte, Tübingen.

E MIGRATION

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176 | B RIGITTA H ELBIG -MISCHEWSKI

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Emigrantenliteratur der 1980er Jahre Die amerikanische Perspektive: Głowacki und andere M IECZYSŁAW D ĄBROWSKI

F AKTOGRAFIE Zahlreiche polnische Autoren befanden sich nach dem Krieg in Amerika, viele weitere kamen in den Emigrationswellen nach 1956 bzw. 1968 dazu. Entsprechend umfangreich ist die Literatur, die in der amerikanischen Emigration oder im Anschluss daran entstand. Für die Emigrationswelle während des Kriegsrechtes in den 1980er Jahren stehen bedeutende Namen wie Janusz Głowacki, Edward RedliĔski oder Izabela Filipiak; von ihnen wird im Folgenden die Rede sein. Janusz Głowacki machte durch zwei Theaterstücke auf sich aufmerksam, die unmittelbar aus seiner Emigrationserfahrung erwachsen sind: Polowanie na karaluchy (Schabenjagd)1 und Antygona w Nowym Jorku (Antigone in New York)2. (Vgl. Głowacki 1996: 1159ff.) RedliĔski schrieb Szczuropolacy (Rattenpolen)3, außerdem Dolorado (1985) und TaĔcowały dwa Michały (Tanzten ein-

1

Entstanden 1986, Jahr der amerikanischen Ausgabe 1987, auf Polnisch erschienen in

2

Zuerst erschienen in »Dialog« 10/1992.

3

Zuerst erschienen 1994, in der dritten Auflage 1997 nicht nur unter dem neuen Titel

»Dialog« 5/1990.

Szczurojorczycy (Rattenyorker), sondern auch mit Veränderungen in der Binnenstruktur und dem erzählerischen Material; auf dieser Grundlage entstanden das Theaterstück Cud na Greenpoincie (Das Wunder von Greenpoint) und Janusz Zaorskis Film SzczĊĞliwego Nowego Jorku (1997).

178 | M IECZYSŁAW DĄBROWSKI

mal zwei Michałs)4. Viele der ›amerikanischen‹ Texte Izabela Filipiaks finden sich in den Erzählbänden ĝmierü i spirala (1992, Tod und Spirale) und Niebieska menaĪeria (1997, Die Blaue Menagerie). Die Erfahrungen der 1980er Jahre sind also nicht in allen Fällen auch in jenem Jahrzehnt publiziert worden, diese Eigenart der Literatur gilt es zu akzeptieren. Während einige Texte als exotische und heute zum Teil schon historische Aufzeichnungen erscheinen (etwa RedliĔski oder die frühe Filipiak), weisen andere (die Theaterstücke Głowackis und die späteren Erzählungen Filipiaks) über die polnische Perspektive hinaus und haben damit die Chance, auch auf längere Sicht literarisch zu funktionieren. Charakteristisch für alle hier betrachteten Texte ist die Thematisierung des Emigrantendaseins. RedliĔski schreibt sich selbst in seine Texte ein als Autor von Konopielka (1973, Der Flachsgeist), Dolorado usw. Głowacki macht einen polnischen Schriftsteller und eine Schauspielerin (»ER« und »SIE«) zu den Protagonisten in Polowanie na karaluchy und verarbeitet auch in seiner Autobiografie Z głowy (2004, Aus dem Kopf) viele Details seiner Emigrationserfahrung. Auch die meisten Filipiak-Texte enthalten ein in der Regel kaum verhohlenes autobiografisches Moment. Somit ergeben sich mehrere Fragen: • • •



Wie weit reicht die Intimisierung des Textes und welchen Raum nimmt sie ein (›Selbstzeugnis‹)? Wie wird der intime Text gezielt rhetorisch aufgeladen, und wie gewinnt die biografische Erfahrung an ästhetischem Wert (Kunsterfahrung)? Wie fällt die Konfrontation von persönlichem/nationalem Idiom mit dem Außendiskurs aus, worin besteht sie und was sind die Konsequenzen (Autound Heterostereotypisierung)? Welche Bereiche des allgemeinen Diskurses interiorisiert die polnische Emigrantenliteratur und unter welchem Vorzeichen (›Multikulti‹, Postkolonialismus, Rassismus, Sexismus, Xenophobie etc.)?

D ER C HARAKTER

DER

T EXTE

Hinsichtlich ihrer Intimität und des dokumentarischen Charakters sind die Texte recht heterogen. Am stärksten ausgeprägt ist dieses Element bei RedliĔski, am wenigsten wohl bei Głowacki, der jedoch in publizistischen Beiträgen über die

4

Gemeinsame Ausgabe 1994 mit der Anmerkung, TaĔcowały dwa Michały sei 1985 in zehn wöchentlich erschienenen Folgen im »Przegląd Polski« abgedruckt worden, einer Kulturbeilage des in New York erscheinenden »Nowy Dziennik«.

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UND ANDERE

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Entstehungsgeschichte des jeweiligen Textes Auskunft gibt. RedliĔski nutzt ein reiches Arsenal intimisierender Mittel: Er macht sich selbst oder zumindest einen Vertreter der schreibenden Zunft zur Hauptfigur, erzählt von seinen Amerikaerfahrungen, spielt mit dem Wissen über sich selbst als Schriftsteller, als Autor von Konopielka usw. In dieser Hinsicht ähnelt er Janusz Rudnicki. Dieses Narrativ ist natürlich verführerisch, doch Vorsicht scheint geboten, lassen doch die zahlreichen Elemente bewusster Konstruktion eine literarische Arbeit im Gegensatz zur unmittelbaren, ästhetisch nicht ausgeformten Niederschrift erkennen. RedliĔski lebte von 1981 bis 1991 in den USA, Dolorado und Szczuropolacy sind aber erst 1994 erschienen. Aus dem Roman Szczuropolacy geht hervor, dass er zwischen 1991 und 1993 geschrieben wurde, in New York und in Polen – schon darin wird deutlich, dass RedliĔski seine Amerika-Erfahrung erst nachträglich zu Literatur macht. Anders liegt der Fall bei TaĔcowały dwa Michały, einem Text, der 1985 in New York veröffentlicht wurde, wenn auch in etwas anderer Form. In den Frauenfiguren der Texte Izabela Filipiaks mag mancher die Autorin vermuten, allerdings ist diese Deutung gewagt, was in der Erzählung »Szosa warszawska« (Warschauer Straße) aus dem Band Niebieska menaĪeria besonders deutlich wird. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Autorin ihre Emigrationserfahrung konsequent camoufliert und künstlerisch verarbeitet. Noch weiter geht Janusz Głowacki, der in seinen Stücken nicht als Figur wiederzufinden ist, sondern allenfalls seinen Berufsstand aufnimmt. So ist der Held in Polowanie na karaluchy ein Schriftsteller, über dessen Identität der Erzähler sagt: »Bohaterowie naszej opowieĞci wybrani zostali zupełnie przypadkowo spoĞród olbrzymiej masy zwykłych ludzi«, [którzy] »na początku lat osiemdziesiątych« [przyjechali do Stanów Zjednoczonych] »w poszukiwaniu wolnoĞci i chleba« (Głowacki 1996: 84; Ergänzungen M. D.) [Die Helden unserer Geschichte sind rein zufällig aus der riesigen Menge gewöhnlicher Menschen entnommen, die Anfang der 80er Jahre auf der Suche nach Freiheit und Brot in die Vereinigten Staaten kamen.]

Auf die vielfältigen intertextuellen Bezüge der Głowacki-Stücke kann hier nicht näher eingegangen werden. Erwähnt sei lediglich, dass Polowanie na karaluchy deutliche Schnittmengen mit Tadeusz RóĪewiczs Kartoteka (Die Kartei) aufweist, namentlich, in Form von Werktiteln oder wiedererkennbaren Situationen, tauchen Goethe, Dostoevskij, Kafka, Milton, Genet und Baudelaire auf, und das Finale erinnert an Jacek Kaczmarskis populäres, bitter tragisches Lied von »un-

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serer Klasse«, die über die ganze Welt verstreut ist. In Antygona w Nowym Jorku sind die Anspielungen auf das Sophokles-Drama und das Theater Maeterlincks und Becketts nicht zu übersehen. So arbeiten die Texte überwiegend mit künstlerischer Sprache und nicht mit der Sprache von ›Selbstzeugnissen‹ (falls diese Unterscheidung heute überhaupt noch sinnvoll ist) – sofern ihnen eine intime, biografische Erfahrung zugrunde liegt, wurde sie literarisiert. Bei RedliĔski äußert sich dies vor allem in der bewussten Konstruktion der Geschichte, in der lebendigen und flüssigen Erzählweise, den listenartigen Aufzählungen und vielen weiteren Stilmitteln zur Schaffung eines künstlerischen Textes: künstlerisch geformte Dialoge der Hausbewohner in Szczuropolacy, literarischer (gesprochener) Brief an den Freund in Dolorado, der zusätzlich Mitte der 1980er Jahre von jemandem geschrieben/gesprochen wurde, der von New York nach Polen gereist (›geflohen‹) war. Szczurojorczycy heißt im Untertitel Podsłuchowisko (Ein Abhörspiel), als Erzähler tritt ein Mann auf, der sich von Samstag auf Sonntag einen Schlafplatz in einer Wohnung polnischer Gastarbeiter mietet, sich schlafend stellt und alle Gespräche in sich aufsaugt. Bereits hier wird deutlich, dass der Text zwar ›natürlich‹ wirken mag, im Grunde aber eine im Wortsinne konstruierte Geschichte ist. Das bedeutet auch, dass anstelle von Vulgarismen gemäßigtere Ausdrücke wie »fanzolisz« (labern) verwendet werden und eine Einteilung in regelmäßige Einheiten stattfindet (»Sonntag I«, »Sonntag II« usw.). Izabela Filipiak gibt ihren Erzählerinnen/Protagonistinnen verschiedenste Namen (häufig Anna) und legt beispielsweise Situationen an, in die sie sich selbst kaum begeben hätte. Ihre Prosa ist streng fiktional, wenngleich der Leser die eine oder andere Textstelle zu Recht biografisch deuten mag. Es gilt aber, darin eine moderne Form der Fiktionalität zu erkennen, bei der autobiografische Elemente trotz persönlicher Erzählung in der ersten Person als Handlungsstränge auf anderer Ebene behandelt werden, die auf besondere Weise fiktional sind. Głowacki geht hier also noch einen Schritt weiter.

K ONTEXTE Alle Autoren verbleiben jedoch im Sinne der erzählten Geschichte auf dem Niveau des einfachen, konkreten Alltagslebens: Wohnung, Schlafen, Essen, Arbeit. Lediglich Izabela Filipiak setzt sich in einigen der späteren Texte aus Niebieska menaĪeria darüber hinweg, während in ĝmierü i spirala das Emigrantendasein im Grunde noch recht unzweideutig beschrieben wird. Und doch finden sich auch hier einzelne Texte, die die Problematik der Emigrationserfahrung in erzählerischen Konstruktionen aufheben und sie auf Personen außerhalb des polni-

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schen Milieus übertragen; polnische Motive erscheinen dann lediglich als Einschübe, vgl. »W tango« (Auf Tour), »Piramida« (Die Pyramide), oder sie psychologisieren (vgl. »Zdobycz« (Beute), »Maska« (Die Maske), »Przytul mnie« (Drück mich), »Magiczne oko« (Das magische Auge)). Stellt man kontrastierend AAAmeryka von Miron Białoszewski (1988) dagegen, einen Text, der formal in dieselbe Zeit gehört (ein Gedicht trägt den Titel »Buffalo 27/28 paĨdziernika 1982«; Buffalo 27./28. Oktober 1982), erkennt man die gewaltigen Unterschiede. Grundlegend verschieden ist die Lebenssituation des Erzählers: Białoszewski hält sich für wenige Wochen in den USA auf, um einen Literaturpreis entgegenzunehmen und eine Lesereise durch mehrere Städte zu machen, in erster Linie ist er jedoch Tourist. Die Helden der anderen Autoren sind dagegen alle in gewissem Sinne Gastarbeiter, deren größte Sorge das Geldverdienen ist. Und dieser Unterschied legt die Perspektiven fest: Białoszewski läuft durch die Stadt (die Städte), sucht Kinos und Pornokinos auf: »porno takie, porno siakie« (Białoszewski 1988: 113; diese und jene Pornos), wohnt in netten, kleinen Hotels oder bei Freunden, geht ins Museum (eher selten und pflichtschuldig), beobachtet Straßen und U-Bahn-Stationen, als wollte er Baudrillard Genüge tun, demzufolge »in New York nur die Straßen und nicht die Museen [Beachtung verdienen]« (Baudrillard 2004: 137; Anmerkungen M. D.), sieht sich in Geschäften um, kauft Platten mit klassischer oder exotischer (Ethno-)Musik und Pornoheftchen fürs Hotel. Der Realität der amerikanischen Auslandspolen begegnet er nur, wenn sie nach seinen Lesungen fragen, was es in Polen nicht zu kaufen gibt (1982!), um danach ihre Päckchen zusammenzustellen, wenn sie fragen »was passiert im Land, was mit dem Primas, was mit WałĊsa« (Białoszewski 1988: 72; »co siĊ dzieje w kraju, co z prymasem, co z WałĊsą«). Białoszewski bleibt jedoch auf Distanz: »ich lasse mich nicht polackisieren« (ebd. »ja siĊ broniĊ przed zapolaczeniem«). Nebenbei erwähnt er, er treffe viele Emigranten von früher, aus der Nachkriegsund 1968er-Welle, aber auch Neuankömmlinge (wie unsere Beispielautoren), die noch nicht wissen, ob sie für immer hier bleiben wollen oder nur »auf Zeit«. Der Dichter interessiert sich für die Straßen von New York, für Buffalo, Boston, Cambridge (»jest to nudniejsze od Pragi« – ebd.: 102; das ist langweiliger als Prag) und andere Städte, die er genau und etwas stereotyp darstellt, um sich die Räume aneignen zu können. Im bekannten Zitat beschreibt er ein kleines Hotel: »Brązowy hol. ĝwiĊty Józef z gipsu. Portret papieĪa. Cisza. Jak w Sieradzu. Jazda windą na siódme piĊtro. Pokoik z turystycznym wyrkiem. Na Ğcianie Serce Jezusa. Roleta w oknie. Wychodeczek. Prysznic. StajĊ w oknie i patrzĊ. Domy wielkie, ale cicho i pusto. Jak w Przasnyszu. WłaĞciwie to dobrze. Na razie Īadnych pułapek.« (Ebd.: 59)

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[Die Lobby braun. Der heilige Josef aus Gips. Papstporträt. Stille. Wie in Sieradz. Der Lift fährt in den siebten Stock. Ein Zimmerchen mit Touri-Pritsche. Herz Jesu an der Wand. Rollladen vor dem Fenster. Klo. Dusche. Ich stehe am Fenster und schaue. Die Häuser groß, aber still und leer. Wie in Przasnysz. Gut eigentlich. Erst mal keine Fallen.]

Und dann noch der typische Satz: »die Klo-Situation ist hier richtig schlecht« (ebd.: 64; »Bardzo Ĩle przedstawia siĊ sprawa wychodków«); der Held ist dadurch ständig auf der Suche nach einer »Pinkelbude«. Sieht er auf seinen Spaziergängen Geschäfte mit Straßenauslagen, bemerkt er: »wie vor dem Krieg in Warschau auf der Nalewka-Straße« (ebd.: 69; »Jak przed wojną w Warszawie na Nalewkach«). Oder zu Buffalo: » ich schau mich um, straßenweise Eingeschosser. Wie in Rembertów oder Otwock« (ebd.: 83: »Rozglądam siĊ, same ulice parterowe, domki. Jak w Rembertowie, w Otwocku«). Der riesige Raum USA, den Baudrillard so unglaublich pathetisch beschrieben hat, wird sowohl bei Białoszewski, als auch bei RedliĔski auf bekannte Erfahrungen zurückgeführt und damit assimilierbar gemacht (Pank, der Held in Szczuropolacy, sagt über Manhattan: »da, Grajewo, weit wie eine ganze Woiwodschaft, gespickt mit Hochhäusern…« (RedliĔski 1994a: 54: »Ot, Grajewo, rozległe jak województwo, poprzetykane wieĪowcami…«). Landschaftsmotive oder Sittenbilder von der Straße finden sich hier kaum, wo sie bei Filipiak auftauchen, werden sie stark psychologisiert. Der Grund dafür dürfte darin zu suchen sein, dass Białoszewskis Text deutlich intime Züge trägt, während sie bei den anderen Autoren nur anklingen und leicht camoufliert werden – der Unterschied ist frappierend. Bei den amerikanischen Emigranten gibt es keinerlei Reflexion über die Erfahrungen von Andersartigkeit/Fremdheit, Andersartigkeit der Kultur, Fremdheit in Aussehen, Hautfarbe, Brauchtum oder Sexualität. Bei Filipiak sagt die Erzählerin in »Piramida« jedoch über eine Reise durch Lateinamerika: »weiße Haut heißt erst Amerika; Feinheiten, Unterschiede und Europas können später kommen« (Filipiak 1992: 54; »Biała skóra najpierw oznacza AmerykĊ; subtelnoĞci, róĪnice, Europy mogą pojawiü siĊ póĨniej«).

AMERIKA ALS H INTERGRUND

UND

K ATALYSATOR

Die Hauptfiguren der erwähnten Texte dringen kaum in die kulturelle Materie New York vor. Über andere Ethnien äußern sie sich mit polnischen Stereotypen – für Pchełka ist »Portoryk« (der Puertoricaner) (und damit auch Anita-Antigone) immer schlechter als er selbst (»Ty pieprzony Portoryku!« – Głowacki

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1996: 25; Du Scheiß-Puertoricaner!), ähnliches gilt für den Juden, der »Russki« sieht sich denselben kolonialen und zivilisatorischen Vorwürfen ausgesetzt wie in Polen: Sasza ist als russischer Jude doppelt degradiert (»bo wy, ruscy ĩydzi, nienawidzicie Polaków« – ebd.: 24; weil ihr russische Juden Polenhasser seid; »ZamordowaliĞcie oficerów w Katyniu i zwaliliĞcie na Niemców!« – ebd.: 61; ihr habt die Offiziere in KatyĔ ermordet und es dann den Deutschen angehängt!). Nur die völlige Einsamkeit Pchełkas selbst im Tompkins Square Park, wo er haust, lässt ihn Sasza nicht gleich zurückweisen, sondern in ihm einen Freund und Vertrauten suchen, dem er Lügengeschichten über seine irrealen Heiratsund Aufstiegsfantasien etc. auftischen kann. Geldverdienen und Sparen markieren den Horizont der polnischen Emigranten, die sich zudem in Greenpoint, dem polnischen Ghetto, auferlegen. Erfolge in der alten Heimat – in Polowanie na karaluchy spielte SIE Shakespeare-Rollen, ER war ein bekannter Schriftsteller – interessieren und zählen hier nicht. Die Figuren stecken in der kulturellen Zwickmühle, da polnische Regeln ihr Alltagsleben bestimmen, während sie im amerikanischen Wirtschaftssystem funktionieren müssen. Der Hauptunterschied, auf den Baudrillard in seinem lehrreichen Essay hinweist, besteht darin, dass die Amerikaner ihre Ideen sofort in die Realität (ins Leben) umsetzen, während die Europäer ihre Ideen aus der bestehenden Realität ableiten. Für die Amerikaner steht die Vision der Realität im Vordergrund (»Die Fiktion […] nimmt das Imaginäre vorweg, indem sie es realisiert.« – Baudrillard 2004: 131), für die Europäer die Erfahrung. Amerika ist das Land der Visionäre, Europa das der Opportunisten, in dem sich jeder der existierenden Realität anzupassen versucht. In RedliĔskis Dolorado bemerkt ein Gesprächspartner des Erzählers, die polnische Variante dieses Opportunismus resultiere aus einem Mangel an Freiheit und der Unmöglichkeit, für sich selbst zu entscheiden. Baudrillards Aussage betrifft aber ganz Europa, auch den freien ›Westen‹, also steckt noch mehr dahinter. Die Hauptschwierigkeit des polnischen Emigranten besteht in der Konfrontation und der Unfähigkeit (dem Unvermögen), die mentale Schwelle zu überwinden. In RedliĔskis TaĔcowały dwa Michały wird geschildert, wie der Autor selbst (so jedenfalls die Erzählung) von einem gewissen PieroĪek übers Ohr gehauen wird. Jener PieroĪek, ein Krakauer Schauspieler, der einmal in Konopielka gespielt hatte, gab bei RedliĔski ein Monodrama in Auftrag, dieser schrieb ein Stück über die Erfahrungen eines Polen in Amerika (»bohaterem bĊdzie biało-czerwony«, ebd.: 81; mit einem weiß-roten Helden), mit dem sie gemeinsam die Welt erobern wollten, doch dann zog PieroĪek selbst los und stand mit dem Text auf vielen Bühnen in Kanada und den USA. Der dem polnischen (europäischen) Denkmodell verhaftete RedliĔski bewertet dies vor allem in moralischen Kategorien als Sauerei, Missbrauch und Betrug, er würde seinen unredlichen Partner

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gerne mit entsprechenden Anzeigen in einer New Yorker Zeitung diskreditieren, um die Monate intensiver Arbeit wenigstens irgendwie entlohnt zu bekommen. Vom Standpunkt der europäischen Ethik aus betrachtet, ist er im Recht, die amerikanische Ratio der wirtschaftlichen Effektivität spricht allerdings für PieroĪek. Dieser hat sich einen modus operandi erdacht und ihn dann konsequent in die Tat (Realität) umgesetzt, was ihm, wie RedliĔskis Erzähler berichtet, deutliche finanzielle Vorteile sowie Popularität und Ansehen bei den Auslandspolen eingebracht hat, wie die Geschichte um einen Auftritt in Chicago belegt. Die Amerikaner »wollen nicht die Wirklichkeit auf den Begriff bringen, sondern den Begriff und die Ideen verwirklichen […], aber auch die Träume, die wissenschaftlichen Werte und die sexuellen Perversionen«, schreibt Baudrillard. »Dort fabriziert man Reales, von Ideen ausgehend, hier transformiert man Reales in Ideen oder Ideologien.« (Baudrillard 2004:117) TaĔcowały dwa Michały weist auch auf das polnische (europäische) Verstricktsein des Helden in Ethik und Bewusstsein hin. RedliĔski, oder Michał Wieloisty, wie er seinen Erzähler nennt, spaltet sein Selbst in zwei Erscheinungsformen: der fortschrittliche, städtische, faustische Michał WĊdrus verlangt nach der Moderne und der Befreiung von traditionell polnischen Gewohnheiten, während Michał WieĞniak eben diese bewahren möchte und aus Angst, sich in der großen Welt zu verlieren, deren Regeln und Versuchungen abschwört und sich für ein traditionelles Leben auf dem Lande entscheidet. Seine Emanation könnte ein Ignac Potejto in Szczuropolacy sein, ein Bauer aus der ostpolnischen Provinz, der seit drei Jahren zwei Schichten in einem New Yorker Schlachthof schiebt, die Dollars nach Polen schickt, um den Hof auf die Beine zu bringen, und der voller Gottvertrauen darauf hofft, unverändert aber etwas reicher heimzukehren (eine ähnliche Figur schuf zuvor schon Sławomir MroĪek in Emigranci (Emigranten). Sein Bewusstsein ist fest und eng in einen Satz wirtschaftlicher (vgl. die Eierdiskussion mit dem Professor) und moralischer Überzeugungen gepresst, die katholisch fundiert sind (so verweigert er sich einer sexuellen Gelegenheit wegen des Gebots der bedingungslosen ehelichen Treue, das ihm mit der kirchlichen Trauung auferlegt worden ist). Viele seiner Landsleute akzeptieren dagegen schnell das Prinzip, man benötige zwei Moralvorstellungen und zwei Lebensstile, einen polnischen in Polen und einen amerikanischen in Amerika (»Wiadomo, człowiek tymczasowy« – RedliĔski 1994a: 38; Ein Mensch auf Zeit, versteht sich). Letzterer lässt zahlreiche Verhaltensweisen zu, die das polnische System verbietet (von einem Vater, der seine Tochter prostituiert, »pracując [z nią – M. D.] po domach« (ebd.: 83; mit der er ›hausieren geht‹), heißt es, das seien »bardzo porządni ludzie« (grundanständige Leute), Teresa erörtert mit ihrem Bruder Azbest den Vorschlag Riczis, für zusätzliche 50 Dollar pro Woche

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oben ohne für ihn zu arbeiten etc.) – alles im Namen der abstrakten Annahme, in Amerika sei man eigentlich gar nicht man selbst, sondern jemand anderes und sich zeitweise sogar fremd. Diese schizophrene Situation erlaubt es, so glauben sie, die Zeit der Emigration glimpflich zu überstehen und dann in Polen wieder zum »wahren Ich« und unversehrter Identität zurückzukehren.

S CHIZOPHRENES B EWUSSTSEIN RedliĔskis Helden, die deutlich seine eigene Haltung repräsentieren, gelingt die Bewusstseinsspaltung jedoch nicht. Im Bestreben, ihre geschlossene Identität zu wahren, geraten sie in Konflikt mit besser angepassten (Auslands-)Polen. Im Grunde sind es Polen, denn die meisten Erzählungen und Romane berichten kaum von der Konfrontation Polen-Amerika, sondern von Polen und Polen, die aus der Naivität der Neuankömmlinge Profit schlagen und sich mit dem falschen Versprechen von Obdach und Freiheit (wie Lojer in Szczuropolacy) schwer an ihnen vergehen. Mit ihnen haben die eingewanderten Gastarbeiter im Alltag hauptsächlich zu tun, sie sind ihr ganzes Amerika. Riczi nennt sie die »bitwinpipł« (RedliĔskis Englisch ist phonetisch notiert), »juĪ nie Polacy, a jeszcze nie Amerykanie« (ebd.: 194; nicht mehr Polen und noch nicht Amerikaner). Über dieses Problem, das Spiel mit der ›mitgebrachten‹ Identität, hat Głowacki ein ganzes Theaterstück geschrieben. Anita-Antigone entstammt exakt demselben Paradigma. Ihr Gefühl für Zugehörigkeit und Schuldigkeit ist unzweideutig und stammesbezogen, sie akzeptiert ohne zu zögern das patriarchalische Lebensmodell unter Männern und ist bereit, noch den letzten Groschen für ein »würdiges« Begräbnis ihres »Freundes« John auszugeben. Baudrillard beschreibt die amerikanische Gesellschaft als eine »primitive Gesellschaft der Zukunft, als die der Komplexität, der Gemischtheit und der größten Promiskuität […], deren Immanenz uns staunen macht, die aber keine Vergangenheit hat, in der sie sich spiegeln könnte.« (Baudrillard 2004: 17) Sie zeige aber auch ihren »hyperbolischen und unmenschlichen Charakter.« (Ebd.) In Głowackis Stück werden zwei Paradigmen einander gegenübergestellt: Stammeskultur und bürokratische Kultur. Natürlich ist bei dieser Diskussion die Stammeskultur moralisch im Recht, da sie dem Individuum nahe ist und den Mythos als Grundprinzip für Verhaltensregeln ansieht. Die bürokratische Kultur ist primitiv, da sie in ihrer Unmenschlichkeit alles Handeln auf schriftlich niedergelegte Gesetze zurückführt, statt auf natürliches Mitgefühl und Empathie. Der Polizist spricht für den bürokratischen Primitivismus, Anita verteidigt pathetisch den Primitivismus des Stammes; wiewohl grundsätzlich verschieden, sind beide Paradigmen doch

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strukturell auf einer Ebene angesiedelt, sie liegen nur (bildlich gesprochen) in unterschiedlichen ›Fächern‹. Baudrillard konstatiert: »Diese Konformität bringt die amerikanische Gesellschaft der primitiven nahe; in ihr wäre es absurd, moralische Entscheidungen durch Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Kollektiv erzielen zu wollen.« (Baudrillard 2004: 127) Anita tut nur, was das eherne Stammesritual aus ihrem alten Leben von ihr verlangt, aber eben diese Strenge löst in der bürokratisch geprägten Gesellschaft, die sich von traditionellen Verhaltensweisen entfernt, eine Art kathartischen Schock aus.

P OLNISCHE I DENTITÄT Die Figur des Pchełka in Antygona w Nowym Jorku verkörpert die ganze Bandbreite des ›Polentums‹: primitive Religiosität, Xenophobie, Antisemitismus, Intoleranz gegenüber jeglicher Andersartigkeit, Leben in nationalen (»A ty w ogóle wiesz, kto to był Szopen?« – Głowacki 1996: 27; weißt du überhaupt, wer Chopin war?) und privaten Mythen (»Ja czytam gazety i ja wiem dokładnie, jak do czegoĞ dojĞü w Ameryce« – ebd.: 79; ich lese Zeitung, und ich weiß genau, wie man es in Amerika zu etwas bringt), Gier, Schlitzohrigkeit, Alkoholismus etc. Obwohl er ganz unten angekommen ist und keinerlei Aufstiegsperspektiven hat, fantasiert er sich in Worten und kuriosen Taten durch Gegenwart und Zukunft und will etwa ein fremdes Bild als das seine ausgeben. Pchełka hat für einen Mann »aus dem Kellerloch« (Dostoevskij) eine recht elaborierte Identität. Er ist keine Beckett-Figur, da er zu konkret angelegt und mit einer nationalen Identität versehen ist, er könnte aber – sicher ganz im Sinne des Autors – eine Symbolfigur sein, verkörpert er doch den Typus des Immigranten/Nomaden im Zustand der sozioökonomisch bedingten Auflösung. Allerdings wird Symbolkraft zumeist mit bescheidenen Mitteln erreicht, während Pchełka in seiner Lage lebhaft und präzise charakterisiert wird. Die polnischen Emigranten sind in toto mit einer zwar irritierenden und nicht reformierbaren, auf wenigen schlichten, reaktionären Überzeugungen fußenden Identität ausgestattet, die jedoch unter den Bedingungen der Emigration deutlicher an Kontur gewinnt: Teresa gesteht im Gespräch mit Pank unter Anspielung auf seinen Irokesenschnitt, dass sie Angst hat, ja sich regelrecht davor scheut, aufzufallen (RedliĔski 1994a: 40), und dass die Frauen aus ihrer Wohnung »nach der Kirche« trinken. (Ebd.: 49) Sie müssen sich dem Anderen aussetzen, obwohl ihr Lebensmittelpunkt das Polenghetto ist, und so errichten sie eine Art ›polnischer Front‹ gegen jegliche Andersartigkeit, ihre negativen Züge werden eigentümlich verstärkt. In dem Abschnitt um das faule Ei ist davon die Rede, dass die

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polnische ›Ehre‹ verletzt worden sei: »Polak został oszukany przez Araba! […] MoĪe mu siĊ polska morda naszego Potejta nie podoba?« (ebd.: 16; Der Araber hat einen Polen betrogen! […] Vielleicht hat er was gegen die polnische Visage von unserem Potejto?) Eine Ausnahme ist der Professor, der über ein ausgeprägteres historisches und ökonomisches Bewusstsein verfügt, von ihm stammen die Bezeichnung »szczurowisko« (Rattennest) und einige sehr kritische Äußerungen über den polnischen Amerikamythos und Amerika selbst. Auch Marek Kamela, der Erzähler in Szczuropolacy, schaut resigniert auf die nächste Welle von Polen, die diesen »oszustwa zwanego Ameryką« (ebd.: 166; Amerika genannten Betrug) suchen wie die Motten das Licht, um im Gefühl allgemeinen Verfalls, gehetzt und elend an seiner Peripherie ihr Dasein zu fristen (ebd.: 165). Er selbst schreibt als Ghostwriter die Biografie eines doppelten ›Patrioten‹, eines gealterten Auslandspolen, der sich eines Instrumentariums widersinniger, auf Stereotypen und Mythen beruhender Werkzeuge bedient. Baudrillard verstieg sich in Anspielung auf das mechanische Lächeln zu der exzentrischen Formulierung: »Aus Mangel an Identität haben die Amerikaner ein wunderbares Gebiß.« (Baudrillard 2004: 51) Weder ist es ein Verkäuferlächeln, noch freundlich, sondern eine reflexhafte mimische Regung, die den Eindruck einer empathischen, offenen Gesellschaft vermittelt. Lojer, einer der alt eingesessenen Polen in Szczuropolacy, hält eine große Rede über das Lächeln. Er sieht den Hauptunterschied zwischen Amerikanern und Polen in der Fähigkeit zu lächeln. Für ihn haben die Polen ein »ehrliches« Gesicht, auf dem sich Emotionen direkt und in Echtzeit niederschlagen, in Amerika gehöre das Gesicht dagegen zur Garderobe: »Twarz ma byü elegancka – i koniec!« (RedliĔski 1994a: 117; Das Gesicht hat elegant zu sein. Punkt.) Das Thema des »ehrlichen Lächelns« taucht auch in Polowanie na karaluchy auf, vgl. Głowacki 1996: 86. Gesicht, Augen, Mimik und Ausdruck sollen Vertrauen und Empathie hervorrufen und nicht über Seelen- und Vermögenslage informieren, nicht einer existenziellen Wahrheit entsprechen, sondern einer kulturellen. Auch nach Jahrzehnten in den USA und bei allen persönlichen Schwierigkeiten ist Lojer von der Vitalität Amerikas noch fasziniert, versucht aber die polnischen Immigranten davon zu überzeugen, sie müssten »oderwaü siĊ od polskiego cycka« (RedliĔski 1994a: 125; sich von der polnischen Brust losreißen), um Amerikaner zu werden, sie müssten brechen mit dem Polenghetto und der polnischen Mentalität, mit ihrer alten Identität. Sie müssten in der Fernsehrealität ankommen, empfinden doch die meisten Neuankömmlinge die soziale und kulturelle Landschaft der USA und vor allem New Yorks als unwirkliches Kunstprodukt, als Kino- oder Fernsehbild. Teresa beschreibt ihren ersten Kontakt mit der Stadt folgendermaßen: »mnie siĊ wydawało, Īe ja nie w Nowym Jorku, ale w… telewizji. W Ğrodku te-

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lewizora, tam gdzie widaü obraz.« (Ebd.: 53; ich hatte das Gefühl, nicht in New York zu sein, sondern… im Fernsehen. Innen drin im Fernsehgerät, da, wo man das Bild sieht.) Baudrillard spricht hier von »Hyperrealität« und dem »perfekte[n] Simulakrum« (Baudrillard 2004: 45) oder der »verwirklichte[n] Utopie« (ebd.: 107) und dem »Kino«: »das Leben ist Kino.« (Ebd.: 137) »ĩeby tu daü radĊ, musiałbym siĊ cały przenicowaü. Zmieniü charakter.« (RedliĔski 1994a: 145; um hier klarzukommen, müsste ich mich komplett auf den Kopf stellen. Meinen Charakter ändern), kommentiert der Professor.

»V ON P OLE

ZU

P OLE «

Die analysierten Texte haben nur ganz am Rande mit der polnisch-amerikanischen Konfrontation zu tun, ihr Hauptthema ist die innerpolnische Diskussion. Dabei geht es vor allem um das Aufeinandertreffen von Polen und Auslandspolen, aber auch um das Nebeneinander unterschiedlicher Haltungen angesichts der frischen Emigrationserfahrung. Zu Konfrontationen kommt es am Arbeitsplatz, in den engen Mietwohnungen, durch den Sparzwang, den grassierenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verfall und vor allem im Konflikt mit der amerikanischen Wirtschaft, die nur die Qualität und den Wert der verrichteten Arbeit ansieht und belohnt, nicht aber zivilisatorische oder kulturelle Unterschiede, die aus Übersee eingeschleppt wurden: »In Amerika […] kann man sich über das beinahe natürliche Vergessen des Status und die Ungezwungenheit und Freiheit der Beziehungen nur wundern.« (Baudrillard 2004: 128) Eine derart zugespitzte Analyse der polnischen kleingeistigen und verqueren Natur, eine so weit gehende »Abjektivierung« (Kristeva) des Polnischen ist in jener Zeit allenfalls in ähnlichen Texten Krzysztof Maria Załuskis oder Janusz Rudnickis anzutreffen. Deutschland-Immigranten treffen sich mit anderen Polen zumeist bei Feierlichkeiten, etwa den rituellen Versammlungen der Auslandspolen, Amerika-Immigranten sind in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht ganz auf sich allein gestellt; sie rotten sich zusammen und offenbaren so das Polentum in konzentrierter Form. Dabei wird die Diskussion sowohl auf symbolischer, als auch auf profaner (pragmatischer) Ebene geführt. Das amerikanische Bewusstsein wird vor allem als praktisch und pragmatisch dargestellt, es steht im Zeichen des Dollars, während das polnische gespalten ist in patriotische Rhetorik, traditionelle Vorstellungen von Polentum und dem Wunsch, es durch den mythisch überhöhten wirtschaftlichen Erfolg zu überwinden. Ein charakteristisches Beispiel für das symbolische Bewusstsein ist der Professor in Szczuropolacy: Er ›zerfällt‹ zwar rasant wegen seines Alkoholkonsums, agiert aber gleichzeitig auf der Höhe

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des historischen, ökonomischen und kulturellen Bewusstseins; seine Diagnosen zu Amerika, Polen und den polnischen Immigranten sind ausgereifter, scharfsinniger und argumentativ besser gestützt als die der anderen. Seine Weltsicht ist deutlich konturiert und kritisch reflektiert. Auch Pank und der Erzähler Marek Kamela gehören in diese Kategorie. Ihre Möglichkeiten symbolisch zu denkenberuhen auf nichtreligiösen Werten, während Potejto sich sowohl des symbolischen, als auch des praktischen Systems bedient. Beide Systeme funktionieren dabei nach primitiven Maßstäben – es geht ums Geldverdienen und die unreflektierte Einhaltung der Gebote der katholischen Kirche. Zur Karikatur eines Akteurs nach dem polnischen symbolischen System wird Pchełka in Antygona w Nowym Jorku, der es gewohnheitsmäßig reproduziert, selbst darin aufgeht und in den Augen seiner Umgebung dadurch gewinnt. Das verleiht ihm zeitweise ein Überlegenheitsgefühl und ermächtigt ihn, nach seiner Logik, die ParkbankNachbarn dreist zu betrügen. Die Helden in Polowanie na karaluchy sind intelligent und mutig genug, beide Systeme bewusst zu dekonstruieren, sie flüchten sich im Zwiegespräch bewusst in Ironie und Groteske. Beispielhaft sei hier ein Dialog über den Neid der polnischen Bekannten angeführt: »ON Jak to czego? On wyemigrował tylko do ParyĪa, a ja jestem w Nowym Jorku i mam sukces. ONA Ale ty nie masz Īadnego sukcesu. ON Ale on tego nie wie.« (Głowacki 1996: 93) [ER Er ist doch bloß nach Paris ausgewandert, aber ich bin in New York und habe Erfolg. SIE Du hast doch überhaupt keinen Erfolg. ER Das weiß er aber nicht.]

Oder die folgende Szene: »ONA Janek, zrób dla mnie jedną rzecz. Na emigracji wszyscy wariują, błagam ciĊ przestaĔ kłamaü, bo niedługo zaczniesz wierzyü w te kłamstwa, tak jak Krzysiek wierzy, Īe krĊci filmy, Zosia, Īe pracuje dla CBS, ostrzegam ciĊ: zwariujesz. Skoczysz z mostu Washingtona.

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ON Nie martw siĊ. ĩeby siĊ tam dostaü, trzeba mieü samochód.« (Ebd.: 106) [SIE Janek, tu mir einen Gefallen. Alle drehen durch in der Emigration, ich flehe dich an, hör auf zu lügen, sonst glaubst du bald noch selber dran, so wie Krzysiek glaubt, dass er Filme dreht und Zosia, dass sie für CBS arbeitet, ich sag's dir, du drehst durch. Und springst von der Washington-Brücke. ER Mach dir keine Gedanken. Ohne Auto kommt man da nicht hin.]

F AZIT Wie in der obigen Analyse deutlich wurde, sind die polnischen Texte über Amerika im Grunde Texte über Polen. Aus der Isolation des Einzelnen, der in Amerika auf Schritt und Tritt lauernden Begegnung mit dem Anderen, der Zuspitzung zwischenmenschlicher Beziehungen im Zusammentreffen von Menschen, die ihrem familiären und heimatlichen Dunstkreis entrissen sind, ergibt sich eine verdichtete Beschreibung des Nationalcharakters und der polnischen Identität. In dieser Situation wird auch das polnische Denken über andere offenbar, das zumeist auf Stereotypen, Vorurteilen und einer xenophoben Grundeinstellung beruht. Die Polen integrieren sich kaum, sie kommen nur langsam in einer neuen Umgebung mit neuen Gegebenheiten zurecht, und fremde zivilisatorische Maßstäbe können nur mühsam in ihr Bewusstsein vordringen. Um dem Druck der neuen Gegebenheiten standhalten zu können, bilden sie ein schizophrenes Bewusstsein aus, dessen harter polnischer Kern unantastbar bleibt. Bestimmte Verhaltensweisen werden jedoch als existenziell und unter den gegebenen Umständen als alternativlos eingestuft, was sie als fremd kennzeichnet. Daraus ergeben sich entweder Sittenbilder mit exotischer Note (wie bei RedliĔski), oder Darstellungen, die (wie bei Głowacki und Filipiak) pathetisch und grotesk zugleich sind. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler

L ITERATUR Baudrillard, Jean (2004): Amerika, Berlin. Białoszewski, Miron (1988): Obmapywanie Europy. AAAmeryka. Ostatnie wiersze, Warszawa. Filipiak, Izabela (1997): Niebieska menaĪeria, Warszawa.

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Filipiak, Izabela (1992): ĝmierü i spirala, Wrocław. Głowacki, Janusz (2004): Z głowy, Warszawa. Głowacki, Janusz (1996): ĝcieki, skrzeki, karaluchy, Utwory prawie wszystkie, Warszawa. RedliĔski, Edward (1994a): Szczuropolacy, Warszawa. RedliĔski, Edward (1994b): Dolorado, Warszawa.

»German dream«?

Das Problem des Autobiografischen in der polnischsprachigen Prosa aus Deutschland nach 1989 Theoretische Anmerkungen und praktische Anregungen R AINER M ENDE

1. M IGRANTENTEXT = AUTOBIOGRAFIE ? Texte migrierter Autoren – nicht nur polnischer Herkunft – erfreuen sich seit geraumer Zeit in der Literaturwissenschaft großer Beliebtheit. Sie dienen jedoch nicht nur Philologen als Arbeitsgrundlage. Nicht selten nutzen beispielsweise Kulturwissenschaftler, Historiker oder Soziologen sie für ihre Untersuchungen als Quellen. Dabei spielt es oft keine Rolle, ob die verwendeten Texte faktografischen, epistemologischen oder künstlerisch-ästhetischen Charakter haben – ein Verfahren, das übrigens auch in der Literaturwissenschaft selbst häufig anzutreffen ist, wie Leslie Adelson monierte: »Obgleich man allgemein einsieht, dass Politikwissenschaft und Literaturanalyse sich auf unterschiedliche Begriffe, Medien und analytische Verfahren berufen, scheint das wachsende und vielfältige Feld der Migrationsliteratur der heute wohl einzige Gegenstand der Literaturwissenschaft zu sein, bezüglich dessen ein fest verwurzelter soziologischer Positivismus weiterhin vorherrscht. Dieser positivistische Ansatz setzt voraus, dass Literatur empirische Wahrheiten über Migrantenleben widerspiegelt und dass die Biografien von Autoren ihre Texte […] erklären […].« (Adelson 2006: 38)

Die Lektüre literaturwissenschaftlicher Publikationen über migrierte Autoren und ihre Texte bestätigt in vielen Fällen diese These. Unabhängig davon, ob es

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um Feridun Zaimo÷lu und Salman Rushdie oder um Brygida Helbig und Krzysztof Maria Załuski geht, werden immer wieder literarische Texte zur Gewinnung biografischer Informationen herangezogen, während in umgekehrter Richtung die Autorenbiografie die Grundlage der Textinterpretation ist. Oder kürzer formuliert: Es dominiert eine (auto)biografische Lektüre der Texte migrierter Autoren. Um diese pauschale Eingangsthese zu fundieren, möchte ich im Folgenden einige ausgewählte Beispiele aus verschiedenen Bereichen anführen, die illustrieren, in welchen Kontexten Autor, Narrationsinstanz und Figur eines Textes gleichgesetzt werden. Dabei beschränke ich mich auf Texte über polnischsprachige Migranten, die in Deutschland leb(t)en – nicht ohne darauf hinzuweisen, dass es erheblich mehr Beispiele gäbe und die Ausführungen problemlos auf Autoren anderer Herkunft ausgedehnt werden könnten. Beginnen möchte ich mit literaturwissenschaftlichen Texten, in denen man am ehesten eine gesunde Skepsis gegenüber der Identifikation von Autor und Narrationsinstanz bzw. Figur im Text erwarten würde. Doch selten bekennt sich dort jemand so offen zu seinen Verfahren wie Janina Abramowska (1996: 58), die zugab, jahrelang in Seminaren ihren Studenten gepredigt zu haben, dass Rückschlüsse von einem Text-Ich auf ein Autoren-Ich unzulässig und anachronistisch seien, gleichzeitig jedoch bedenkenlos selbst dieses Verfahren praktiziert habe. So, wie es Katarzyna RóĪaĔska (2005: 3) tat, die freimütig zu ihrer Untersuchung polnischsprachiger Autoren aus Deutschland bekannte: »Am Beispiel der Literatur versuche ich […] zu untersuchen, welche Beziehungen in Deutschland lebende Schriftsteller zu Polen haben.« Auf vergleichbare Weise formulierte Agnieszka Palej (2004: 11) im Vorwort ihrer Untersuchung der Werke polnisch-österreichischer Autoren, dass sie auf den folgenden 250 Seiten ihrer Dissertation die »Bikulturalität der Autoren und ihrer Werke […] analysieren« wolle. Eine Trennung des ›Lesens‹ ihrer Biografien und des Lesens ihrer Texte, so kann man leicht dem Inhaltsverzeichnis entnehmen, nahm Palej nicht vor. Eine solche Herangehensweise kann man sogar bei der Interpretation lyrischer Texte finden, wie etwa bei Maria KalczyĔska: »Wymowne są takĪe strofy wierszy K. NiewrzĊdy z Bremy, który po 20 latach pobytu w Niemczech, nadal nie potrafi przystosowaü swej wraĪliwoĞci twórczej do niemieckiej mentalnoĞci […].« (KalczyĔska 2004: 65; Vielsagend sind auch die Strophen der Gedichte von K. NiewrzĊda aus Bremen, der nach 20 Jahren Aufenthalt in Deutschland nach wie vor seine schöpferische Empfindsamkeit der deutschen Mentalität nicht anpassen kann.)1

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Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders genannt, vom Verfasser des Artikels.

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Literarische Texte werden nicht nur in literaturwissenschaftlichen, sondern auch in literaturkritischen Texten häufig als Informationsquelle über Autoren verwendet. Um beim Beispiel Krzysztof NiewrzĊdas zu bleiben: Piotr PiaszczyĔski (2006: 186) stufte dessen Buch Czas przeprowadzki (Zeit des Umzugs) – ohne Begründung – insgesamt als autobiografisch ein: »WspomnieĔ tego rodzaju pojawia siĊ na stronicach Czasu przeprowadzki o wiele wiĊcej, co czyni go opowieĞcią nie tylko berliĔską, lecz zarazem w sporej mierze autobiograficzną.« (Erinnerungen dieser Art tauchen auf den Seiten von Czas przeprowadzki noch viel häufiger auf, was das Buch nicht nur zu einem Bericht über Berlin, sondern gleichzeitig zu einem autobiografischen macht.) Ähnlich verfuhr Mieczysław Orski (2006: 71) mit dem Erzähler der Texte Janusz Rudnickis und ihrem Verfasser: »Z […] goryczą, rozczarowaniem uciekiniera za Īelazną kurtynĊ nieumiejącego i tam znaleĨü miejsca dla siebie (po roku 1981), choü z sarkazmem i znaczącą dawką autoironii literacko poĪytkuje swe doĞwiadczenia Īyciowe […] Janusz Rudnicki w swoich tomach opowiadaĔ […].« [Mit der […] Bitterkeit und Enttäuschung eines Flüchtlings hinter den Eisernen Vorhang, der auch dort (nach 1981) keinen Platz für sich finden kann, nutzt […] Janusz Rudnicki, wenn auch mit Sarkasmus und einer ordentlichen Dosis Selbstironie, seine Lebenserfahrungen in seinen Erzählbänden literarisch aus …]

Derlei Rückschlüsse von Texten auf die Autorenpersönlichkeit beschränken sich nicht auf literarische Texte, sondern betreffen alle Textsorten, die mit dem Autorennamen signiert sind. So formulierte Inga Iwasiów in Bezug auf sehr unterschiedliche Texte – Essays, Kritiken, Prosa – auf der Homepage von Brygida Helbig: »Da ich nun die Homepage der Autorin kenne und den Roman, Gedichte und Artikel von ihr gelesen habe, beginne ich ihre – vorgeblich von der meinen abweichende – Geschichte anders zu sehen« (Iwasiów 2003: 55, »Kiedy mam juĪ homepage Brygidy, przeczytałam jej powieĞü, wiersze, artykuły, zaczynam tĊ samą historiĊ jej – rzekomo odległej od mojej – biografii widzieü inaczej«). Es lassen sich aber noch wesentlich originellere Gleichsetzungen von intraund extratextuellen Personen finden. So schreibt beispielsweise Natalia GaĔko (2008) in einem journalistischen Artikel über polnische Putzfrauen in einer Passage zu Brygida Helbig: » Brygide [sic!] begegnete den polnischen Putzfrauen zum ersten Mal im Regionalexpress aus Szczecin« (»Brygide [sic!] po raz pierwszy spotkała polskie sprzątaczki w pospiesznym ze Szczecina.«) Diese Erwähnung weist erstaunliche Bezüge zu einer Passage aus Helbigs Roman Anioły i

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Ğwinie. W Berlinie! (Engel und Schweine. In Berlin!) auf, in der es über die Hauptfigur heißt: »Der Zug der Putzfrauen war für Gisela ein Ort, wenn nicht der einzige Ort auf der Welt, an dem sie sich gut, warm und geborgen fühlte« (Helbig 2005: 47, »Pociąg paĔ sprzątaczek był bodaj czy nie jedynym miejscem na Ğwiecie, w którym Gisela czuła siĊ dobrze, ciepło, bezpiecznie«). Auch wenn dies nicht eindeutig beweisbar ist, liegt doch die Vermutung nahe, dass die Quelle für GaĔkos Artikel nicht ein Interview mit Brygida Helbig war (was GaĔko auch nicht behauptet), sondern die Lektüre ihres Buchs. Diese wenigen Beispiele, die stellvertretend für zahlreiche nicht genannte stehen sollen, bestätigen die grundsätzliche These Peter von Matts: »Wer an der Literatur arbeitet, tritt unausweichlich in die biografische Falle. […] Wo liegt die biografische Falle? Sie liegt darin, dass die Qualität des Buches mich zur Suche nach der Person des Autors zwingt, die Person des Autors aber wiederum die Qualität des Buches verändert.« (von Matt 2006: 23)

So sehr sich auch die Literaturwissenschaft – vor allem die in strukturalistischer Tradition stehende – darum bemüht, Autor und Text streng voneinander zu trennen, so selten gelingt es ihr. Besonders im Falle von Texten migrierter Autoren, deren Bearbeitung oft von der Autorenbiografie und weniger der Beschaffenheit der Texte inspiriert ist, kann man immer wieder autobiografische Interpretationen feststellen, auch wenn diese selten explizit benannt oder bewusst reflektiert werden. Es ist also an der Zeit, das Problem theoretisch etwas genauer zu beleuchten.

2. E INIGE

THEORETISCHE

ANMERKUNGEN

Für tiefgründige theoretische Ausführungen fehlt an dieser Stelle leider der Platz, weshalb ich mich stark verkürzt auf einige wesentliche Punkte beschränken möchte. Dreh- und Angelpunkt des autobiografietheoretischen Diskurses der letzten Jahrzehnte ist nach wie vor Philippe Lejeunes (1994) Konstrukt eines »autobiografischen Pakts«. Dessen Originalität besteht darin, dass er nicht – wie viele seiner Vorgänger – versuchte, die Autobiografie als Textgattung mit fixen strukturellen Eigenschaften zu beschreiben, sondern diese als einen dem Text impliziten Lektürevertrag zwischen Leser und Autor beschrieb. Dieses Denkmodell, das u.a. das Problem löste, dass Autobiografisches in Prosatexten ebenso wie in Gedichten oder Dramen vorkommen kann, fand viele Befürworter. In Po-

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len griffen vor allem Regina Lubas-BartoszyĔska und Małgorzata CzermiĔska auf Lejeunes Modell zurück und entwickelten es weiter. Im Zuge vor allem der poststrukturalistisch ausgerichteten literaturtheoretischen Debatten gab es jedoch auch immer wieder kritische Widerworte. Mängel stellte beispielsweise Elisabeth Bruss auf der pragmatischen Ebene fest: »Man kann im eigentlichen Sinne nicht sagen, es gebe einen ›autobiographischen Pakt‹ zwischen einem Schriftsteller des 18. Jahrhunderts und einem Leser des 20. Jahrhunderts, da ja ein solcher Schriftsteller außer Stande wäre vorauszusagen, auf welche Weise ein künftiger Leser der Literatur oder der Welt gegenüber stehen werde […].« (Bruss 1998: 259, Fußnote 1)

Bruss stellte die dialogische Funktion des Pakts in Frage. Noch grundsätzlicher griff Claudia Gronemann Lejeunes Ansatz an, indem sie die Kategorie des Autors insgesamt in Zweifel zog: »Lejeunes Bestimmung der literarischen Autobiographie liegt ein Subjektverständnis zugrunde, welches das Ich im Anschluss an Descartes als ein intentionales Bewusstsein beschreibt. […] Lejeunes Modell kann damit gerade jene autobiographischen Diskurse nicht erfassen, denen der Autor als intentionales Bewusstsein nicht mehr vorausliegt.« (Gronemann 2002: 26f.)

Wenn also das Autobiografische als Aussage eines Autors über sich selbst verstanden, die Kategorie des Autors aber theoretisch untergraben wird, stellt sich zwangsweise die Frage, ob Autobiografie überhaupt möglich sei. Das Problem illustriert auch anschaulich die weiter reichende semiotische Fragestellung, ob ein Zeichen überhaupt auf etwas referieren könne – was Michel Foucault (1974: 101) anzweifelte: »Es gibt keinen den Zeichen äußerlichen oder vorausgehenden Sinn, keine implizite Präsenz eines vorher existierenden Diskurses, den man wiederherstellen müßte, um die autochtone Bedeutung der Dinge an den Tag zu bringen.« Ein solcher nicht existenter Sinn wäre das Leben eines Autors, so dass nach Foucault die Autobiografie eben NICHT auf ihren Autor referieren kann – und damit die bereits genannte, herkömmliche Definition obsolet ist. Zu diesem Schluss kam auch Monika Wagner-Egelhaaf (2000: 76): »Der autobiographische Text […] kann sich nur auf autobiografische Texte beziehen. Es gibt kein Jenseits des Sprachlichen, und der einzige Referent der Autobiografie ist die Autorschaft des Autors.« Bei ihrer Aussage schwingt mit, was Pierre Bourdieu (2000) als »biografische Illusion« beschrieb – dass dem Leben durch Biografie retro-

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spektiv ein übergeordneter Sinn verliehen werde (der Voraussetzung für eine Bezugnahme im Text ist), obwohl dieses diskontinuierlich verlaufe. Die Autobiografie schafft also erst in der Narration eine sequenzielle, oft teleologische Ordnung, verweist dabei aber nicht auf einen bereits existierenden Sinn (in diesem Falle die Autorenbiografie), sondern konstituiert diesen erst. Damit entfällt die referenzielle Funktion eines autobiografischen Textes. Er kann ein Leben nicht beschreiben, sondern es lediglich schreiben – womit sich eine Autobiografie in Bezug auf ihre Referenz nicht von einem Roman unterscheiden würde. Sollte man die Kategorie ›Autobiografie‹ also abschaffen? Dies ist schwer vorstellbar, denn parallel zur theoretischen Problematisierung des Autobiografischen wuchs das Interesse an autobiografischen Texten. Einen möglichen Ausweg aus diesem theoretischen Dilemma schlug Paul de Man (1993) in einem oft zitierten, aber äußerst selten angewendeten Aufsatz »Autobiographie als Maskenspiel«2 vor. Er bezeichnete dort die Autobiografie als »figure of reading or understanding« – als »Lese- oder Verstehensfigur«. Er löst sich also von der Tradition, die Autobiografie über ihre Referenz zu definieren, und spart ebenfalls den Bezug auf den Autor (wie bei Lejeune) aus. Stattdessen konzentriert er sich auf die Rezeption, beschreibt das Phänomen also pragmatisch. Daraus folgend gibt es also keine per se autobiografischen Texte (und somit auch keine Gattung namens Autobiografie), sondern lediglich solche, die autobiografisch rezipiert werden. Die Texte selbst enthalten lediglich ›Spuren‹3, welche eine autobiografische Rezeption auslösen und fördern können. Solche Spuren sind selbstverständlich nicht nur in den Texten selbst enthalten, sondern nur im Zusammenspiel mit weiteren Spuren im para- und extratextuellen Umfeld les- und interpretierbar. Der populäre Fall des Buchs Bruchstücke von Binjamin Wilkomirski (1995) illustriert das hervorragend – das ursprünglich autobiografisch rezipierte Buch wurde erst 1998 nach Informationen, dass der Autor Bruno Dössekker das beschriebene Schicksal nicht erlitten haben könne, als Fiktion gelesen – ohne dass sich an der Textgestalt selbst etwas geändert hätte. (Vgl. Schabacher 2007: 178f.)

2

Die polnische Übersetzung von Maria BoĪena Fedewicz »od-twarzanie« (de Man 1986) gibt den Doppelsinn der originalen Formulierung »de-facement« besser wieder – hier bleibt das Spiel mit dem Wort ›Gesicht‹ (›face‹ bzw. ›twarz‹) erhalten.

3

Diesen Terminus findet man bereits im viel zitierten Text über den »Tod des Autors« von Roland Barthes (1968: 192). Jerzy Smulski (1988: 87) benutzte den Terminus »sygnał«, Ryszard Nycz (2001: 10f.) das verwandte »trop« (Fährte).

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Dabei kann allgemein davon ausgegangen werden, dass sich auch nicht philologisch geschulte Leser meist bewusst sind, dass auch im herkömmlichen Sinne autobiografische Texte fiktionale Elemente enthalten. Insofern sind schon in dieser Hinsicht autobiografische schwer von nicht autobiografischen Texten zu unterscheiden. Bei der Definition des Autobiografischen als Lesestrategie wird die Grenze noch unschärfer, denn theoretisch ist es möglich, jedes Textelement autobiografisch zu interpretieren. Insofern können lediglich besser oder schlechter begründbare Vermutungen unterschieden werden. Die theoretischen Erörterungen sollen nun anhand einiger Beispiele praktisch erprobt werden. Wo können solche Spuren gefunden werden? Wie interagieren Text, Paratext und außertextuelle Welt miteinander? Ist das Bewusstsein ihrer Wirkung ein Ausweg aus Peter von Matts »biografischer Falle« oder Leslie Adelsons »soziologischem Positivismus«?

3. P RAXIS I –

INTRATEXTUELLE

S PUREN

Wie bereits erwähnt, sind für eine autobiografische Lektüre meist Bezüge zwischen dem Text und seiner Umgebung ausschlaggebend. Es gibt jedoch auch Spuren im Text, welche eine autobiografische Lesestrategie – das, was de Man als »Lese- und Verstehensfigur« bezeichnete – auslösen und verstärken können. Dies sind vor allem autoreferenzielle Passagen, in denen der Text Aussagen über sich selbst tätigt. Selten geschieht dies in Gestalt einer expliziten Aussage wie beispielsweise »dieser Text beschreibt mein Leben«. Wie vielfältig solche Aussagen, die sich auf den Autor beziehen, sein können, sollen einige Beispiele zeigen. Am augenfälligsten sind mit Sicherheit Äußerungen, welche sich direkt auf den Text beziehen, wie beispielsweise der Satz aus der Erzählung »Parasol« (Regenschirm) von Natasza Goerke: »Die Erzählung zieht sich ohnehin bis in die Ewigkeit« (Goerke 2004: 59, »Narracja i tak bĊdzie siĊ ciągnąü w nieskoĔczonoĞü«). Wesentlich seltener findet man in literarischen Texten Einfügungen des Verfassers, wie sie üblicherweise in Zitaten und Übersetzungen vorkommen. Einen solchen ›Stilbruch‹ enthält der achte »Brief aus Hamburg« von Janusz Rudnicki, in dem ein Eingriff in die Typografie mit dem Monogramm des Autors (!) gekennzeichnet ist: »Aber zur Sache, z u r S a c h e ! (Die letzten Worte habe ich eigenhändig auseinandergezogen – J. R.)« (Rudnicki 1992: 82, »Ale do rzeczy, d o r z e c z y! (Ostatnie słowa rozstrzelałem własnorĊcznie – J. R.)«). Auch hier verweist der Text über sich selbst hinaus auf seinen Entstehungskontext, seine Materialität und den Autor, der im Paratext in der Textüberschrift ge-

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nannt ist. In ausgebauter Form sind solche Äußerungen in Krzysztof Maria Załuskis (1999a: 35) Roman Szpital Polonia (Hospital Polonia) zu finden. Dort berichtet der Ich-Erzähler in einem Interview von seinem Vorhaben, ein Buch namens »Szpital Polonia« zu schreiben, welches mit dem Gebaren der Polonia abrechnen solle. Es liegt nahe, dass es sich bei dem genannten Buch um Szpital Polonia selbst handelt, da nicht nur der Titel übereinstimmt, sondern auch der geplante Inhalt darin zu finden ist. Etwas abstrakter und deshalb schwieriger nachzuweisen ist ein Verweis des Textes auf sich selbst auf stilistischer Ebene. Ein solches Beispiel enthält Brygida Helbigs (2000a: 24–29) Buch Pałówa, in dem es eine Art ›Roman im Roman‹ gibt – es wird vorgeführt, wie derselbe Sachverhalt in einer anderen, weniger experimentellen Form geschildert werden könnte. Die Passage erinnert an die realistische Prosa des 19. Jahrhunderts und weicht damit deutlich von der postmodernen Form des Buchs ab. Sie unterstreicht damit, dass der Text von jemandem in einer bestimmten Form geschrieben wurde und in anderen Kontexten eine andere Form erhalten könnte. Ebenfalls nur durch die Berücksichtigung der stilistischen Ebene ist eine autoreferenzielle Aussage lesbar, welche in Natasza Goerkes Langtext 47 na odlew (Rasante Erstarrung) bei der Beurteilung eines Buchs enthalten ist: »Nie pomyliłem siĊ, była to bardzo zła proza – splecione z pajĊczyny dialogi, fabuła niespójna, utkana z przypadków i łatana w porywach rozpaczliwej inwencji za pomocą uroków i zaklĊü.« (Goerke 2002: 46) »Ich hatte mich nicht getäuscht, es war übelste Prosa, spinnwebenartig verflochtene Dialoge, eine inkohärente Handlung, die nur aus Zufälligkeiten gewirkt und in anfallsartigen verzweifelten Geistesblitzen mit Hilfe von Zaubersprüchen und Fluchformeln zusammengeflickt war.« (Goerke 2003: 63)

Diese Aussage ist nur bei Kenntnis der Texte Natasza Goerkes dechiffrierbar, denn sie lässt sich auch auf diese problemlos anwenden – nicht nur das genannte Buch, sondern auch fast alle anderen Texte, welche mit dem Autorennamen »Natasza Goerke« überschrieben sind. Hier wird also auf den Schreibprozess nicht nur eines Textes Bezug genommen und dieser gar kritisiert – mit einem komischen Effekt, da die Kritik mit ihrem Gegenstand identisch ist. Es gibt zahlreiche weitere Formen der Autoreferenzialität. Ein außergewöhnliches Beispiel der Häufung solcher Aussagen soll auf die zahlreichen hinweisen, welche hier nicht genannt wurden. Es stammt aus Brygida Helbigs Roman Anioły i Ğwinie. W Berlinie! und vereint auf wenigen Zeilen einen autoreferenziel-

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len Kommentar mit Aussagen über die Produktionsbedingungen des Textes, einer (wissenschaftlichen) Stilparodie, einem Stilbruch und einer expliziten Leser(innen)ansprache, welche ebenfalls über die Grenzen des Texts hinausweist – diesmal auf seinen Rezeptionsprozess: »W zasadzie nie ma z czego siĊ Ğmiaü – jak w wiĊkszoĞci przypadków w tym z natury rzeczy spłycającym rzeczywistoĞü raporcie. GłĊbsza analiza opisywanych tu dramatów przekraczałaby ramy niniejszej publikacji. Nie ma, cholera, czasu na pisanie, trzeba zarabiaü na chleb. RadĨ sobie sama, czytelniczko!« (Helbig 2005: 31) [Es gibt im Grunde nichts zu lachen – wie bei der Mehrheit der Fälle in diesem Rapport, der seinem Wesen entsprechend die Realität verflacht. Eine eingehendere Analyse der hier geschilderten Dramen würde den Rahmen der vorliegen Publikation sprengen. Es bleibt, verdammte Scheiße, keine Zeit zum Schreiben, die Brötchen müssen verdient werden. Komm allein klar, Leserin!]

Alle genannten Aussagen überschreiten physisch noch nicht die Grenzen des Textes, weisen aber auf ein Jenseits des Textes hin – sie rufen den Umstand ins Bewusstsein, dass dieser Text erdacht, geschrieben, gesetzt und gedruckt wurde und später gelesen und interpretiert wird. Er legt seine Medialität offen und kennzeichnet ihn als Kommunikationsmittel zwischen Sender und Empfänger. Als Sender dürfte in der Regel der Autor begriffen werden, da eine Aussage über den Text von einer Figur innerhalb des Textes nur schwer denkbar ist.

4. P RAXIS II –

PARA -

& INTERTEXTUELLE S PUREN

Wesentlich mehr und eindeutigere Spuren, welche im Zusammenspiel mit dem Text zu einer autobiografischen Lesestrategie führen können, sind in sogenannten Paratexten enthalten. Der Paratext ist eine »unbestimmte Zone zwischen innen und außen« (Genette 1992: 10) eines Textes – er gehört nicht mehr zum Textkörper, steht aber auch nicht außerhalb des Textes und bezieht sich direkt auf ihn. Klassische Paratexte, die fast immer einen Text begleiten, sind Verfasserangabe, Überschrift und Seitenzahl.4 Ihr Urheber ist in der Regel schwer zu bestimmen.

4

Genette teilt die Paratexte noch in textnahe Peritexte (Papier, Format, Bauchbinde, Lesezeichen, technische Angaben, Kolumnentitel, Fußzeilen, Umschlagtexte, Bilder, Widmungen, Vor- und Nachworte, Autogramme, Beilagen) und textferne Peritexte

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Die Rolle von Paratexten für die Textinterpretation ist nicht zu unterschätzen, obwohl sie so gut wie nie als Anhaltspunkt genannt werden. Jedoch ist es naheliegend, dass ein Text autobiografisch gelesen wird, wenn beispielsweise der Klappentext ein Biogramm des Autors enthält, welches Parallelen zum Textgeschehen (Name, Wohnorte, Zeiträume) aufweist. Im speziellen Fall migrierter Autoren liefern häufig schon die Titel von Texten erste Anhaltspunkte dafür, den Text auf seinen migrierten Autor zu beziehen. Hier einige Beispiele5: • •



Anioły i Ğwinie. W Berlinie! (Helbig 2005), Tryptyk bodeĔski (Załuski 1996a) – Ortsangabe, »Przesłuchanie emigranta« (Goerke 2004: 111), Szpital Polonia (Załuski 1999a), »Wyjazd« (Załuski 2000), Der Grenzgänger (Rudnicki 2002) – Thema Migration, »Dziennik pokładowy mojej skołowanej głowy« (Rudnicki 1993), »PiszĊ dziennik« (Rudnicki 1999) – epistemologische Textgattung.

Die genannten Beispiele sind recht einfach lesbar. Es gibt aber auch wesentlich komplexere Zusammenhänge zwischen Paratext und autobiografischer Interpretation. Dies betrifft u. a. Zeitangaben, die gelegentlich im Paratext – meist unterhalb des Texts – enthalten sind und den Zeitpunkt der Niederschrift bzw. der Vollendung des Texts wiedergeben. Auch sie verweisen, einzeln auftretend, bereits auf den Herstellungsprozess eines Textes. Über mehrere Texte verteilt erweitert sich jedoch ihre Aussage erheblich. Illustrieren sollen dies Paratexte, welche (z. T. stark überarbeiteten) Fragmenten des Romans Szpital Polonia (Załuski 1999a) zugeordnet wurden: • • • • •

»Ostatni spektakl teatru złudzeĔ« (Załuski 1993a) – »Londyn, kwiecieĔ 1989r.«, »PodróĪ do kresu wybobraĨni« (Załuski 1993b) – »Dortmund 1992«, »Das Jahr 1994« (Załuski 1996b) – »1996«, »Rheinfall« (Załuski 1996c) – »Engen, 26.08.1996«, »Władysławowo« (Załuski 1998) – »1998«.

(intertextuelle Bezüge auf einen Text, die sich nicht in dessen unmittelbarer Umgebung befinden) ein. 5

Übersetzungen der Titel: Engel und Schweine. In Berlin!, Bodensee-Triptychon/Verhör eines Emigranten, Hospital Polonia, Die Ausreise/ Bordtagebuch meines geräderten Kopfes, Ich schreibe Tagebuch.

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Gemeinsam gelesen erzählen diese Paratexte, welche Abschnitten eines Romans über eine Migration zugeordnet sind, ebenfalls eine Migrationsgeschichte – über einen Zeitraum von neun Jahren werden drei Stationen einer Nord-SüdBewegung genannt, die sowohl im Roman Szpital Polonia stattfindet als auch in der Biografie seines Autors zu finden ist. Darüber hinaus verweisen die Jahreszahlen auf den Prozess der Entstehung des Buchs. Von den ersten Fragmenten bis zur Veröffentlichung 1999 lagen ihnen zufolge mindestens zehn Jahre. Die Handlung des Romans verläuft also zumindest chronologisch parallel zum Verlauf ihrer Niederschrift. Krzysztof Maria Załuski (2004) liefert ein weiteres Beispiel für autobiografisch lesbare Paratexte – die Widmung. Eine solche ist einem Textfragment beigefügt, das unter dem Namen »Aussiedlerblues« erschien: »Für meine Eltern und meine Kinder, Ian und Natasza, und natürlich für Marlena – das Mädchen vom See, ohne das nichts gewesen wäre« (»Moim Rodzicom i Moim Dzieciom, Ianowi i Nataszy, i oczywiĞcie Marlenie – Dziewczynie z Łąki, bez której pewnie niczego by nie było«). Die genannte Natasza wird auch im genannten Textfragment erwähnt. Im vollständigen Text, der sechs Jahre später unter dem Titel WypĊdzeni do raju (Aussiedlerblues) (Załuski 2010) erschien, findet auch der Sohn Ian Erwähnung. Ohne großen kognitiven Aufwand kann also der Leser darauf schließen, dass es sich bei den Figuren Ian und Natasza im Text um Personen aus dem Umfeld des Autors handeln dürfte – und somit wahrscheinlich (nicht nur) diese Figuren nicht fiktiv sind. Ähnlich interessante Entdeckungen lassen sich auf der intertextuellen Ebene machen, selbst wenn man ›Intertextualität‹ im engeren Sinne als Bezüge zwischen gedruckten Texten versteht. Allein bei dem Vergleich literarischer Texte sind dabei autobiografische Spuren zu finden. So ist dies in Brygida Helbigs Roman Anioły i Ğwinie. W Berlinie! der Fall. Dort wird von der Erzählerin berichtet, dass der Hauptfigur Gisela bewusst geworden sei, dass das Schreiben eine therapeutische Funktion habe und sie sich sogleich an einen Text namens »Lieber Rainer« gemacht habe: »Interessierte Leserinnen sind dazu angehalten, ihn beharrlich zu suchen« (Helbig 2005: 50, »Zainteresowane nim czytelniczki prosimy o uporczywe poszukiwania«). Das beharrliche Suchen der Leserinnen könnte tatsächlich belohnt werden – es kann sie nämlich zu einer Erzählung namens »Lieber Rainer« führen, die jedoch nicht von Gisela verfasst wurde, sondern von einer Autorin namens… Brygida Helbig (2000b). Ein ähnliches intertextuelles Spiel mit dem Paratext ist auch in Helbigs (2000a) Roman Pałówa versteckt. Dort gibt es eine Figur namens Anna Maria Birkenwald. Fünf Jahre zuvor war bereits unter dem Titel »Pałówa« in einer Zeitschrift ein Fragment des Buchs erschienen. Als Autorin wurde dort jedoch nicht Brygida Helbig angege-

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ben, sondern eine gewisse Anna Maria Birkenwald (1995). In beiden Fällen werden die textuelle und die paratextuelle Ebene vermischt, literarische Figuren finden ihr Alter Ego außerhalb des Texts und scheinbar lebendige Personen entpuppen sich als literarische Erfindungen. Auf der Strecke bleibt die klare Trennung zwischen Fakt und Fiktion. Solche Fälle sind natürlich nur mit großem Arbeits- und Zeitaufwand zu ermitteln. Wesentlich offensichtlicher sind intertextuelle Bezüge, wenn sie explizit ihren Bezugstext nennen. Solche Fälle findet man immer wieder in Interviews, wenn sich Autoren zu ihren Werken äußern. Gelegentlich fordern sie dabei offensiv zu einer autobiografischen Lektüre auf, wie es Załuski (1999b) in einem Gespräch mit Wojciech Łodyga tat: »Niektóre z postaci, jakie wtedy poznałem, sportretowałem w Tryptyku; inne były tak odraĪające, Īe komputer mi siĊ zawieszał … A Szpital Polonia to przede wszystkim rozliczenie z młodoĞcią […].« [Einige der Figuren, die ich damals kennen lernte, habe ich in Tryptyk porträtiert; andere waren so abstoßend, dass sich mein Computer aufgehängt hat … Und Szpital Polonia ist vor allem eine Abrechnung mit meiner Jugend …]

Autoren können aber auch weniger direkt zu einer autobiografischen Lesart ihrer Texte anregen, wie es Krzysztof NiewrzĊda (1999) tat: »Ich plane von hier wegzuziehen, sehr wahrscheinlich nach Berlin. Ich werde näher an Szczecin sein und da ist eben was los« (»PlanujĊ stąd wyjechaü, najprawdopodobniej do Berlina. BĊdĊ miał bliĪej do Szczecina, no i tam właĞnie coĞ siĊ dzieje«). Sechs Jahre später veröffentlichte er in ebenjener Stadt sein Buch Czas przeprowadzki (NiewrzĊda 2005), in dem – der Titel suggeriert es bereits – ein Umzug von Bremen nach Berlin und dessen Nähe nach Szczecin geschildert werden. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hierbei um den Umzug des Autors handelt. Derlei intertextuelle Bezüge sind natürlich nicht nur auf der verbalen Ebene vorhanden. Erinnert sei an dieser Stelle nur an Abbildungen auf Umschlägen oder in Büchern. Vor allem in Janusz Rudnickis Texten werden häufig faktografische Quellen offengelegt, indem Ereignisse der Texte mit Fotografien – auch von Artikeln, welche Anstoß zu einer Erzählung gaben – belegt werden. Gelegentlich taucht auf ihnen auch der Autor selbst auf.

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5. P RAXIS III –

EXTRATEXTUELLE

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S PUREN

Dieser Teil ist mit Sicherheit der selbstverständlichste und soll deshalb hier der Vollständigkeit halber nur im groben Überblick beschrieben werden. Schließlich ist in den meisten Fällen der Bezug zwischen dem, was in einem Text beschrieben wird, und dem, was seine Rezipienten (nicht nur aus geschriebenen Texten) über die Welt außerhalb des Textes und insbesondere den Autor wissen, entscheidend dafür, ob ein Werk als autobiografisch eingestuft wird. Am naheliegendsten sind dabei simple Indizien – der Wohnort des Autors bzw. der Handlungsort des Textes, Namensgleichheiten und -ähnlichkeiten oder bestimmte biografische Eigenarten (z. B. Religionszugehörigkeiten oder Gefängnisaufenthalte). Gerade letztere genügen oft schon, wie die Beispiele am Anfang des Beitrags zeigen, um Texte autobiografisch zu deuten – hier ist primär das Moment der Migration bzw. des darauffolgenden Lebens in einem kulturell fremden Umfeld der Ausgangspunkt. Selten präzisieren diejenigen, welche Texte das Etikett ›autobiografisch‹ anheften, ihre Anhaltspunkte. Dabei genügt oft ein Rückgriff auf das Wissen über Migrationsverläufe, um Parallelen zum Autor zu ziehen. Nach Ursula Nienaber (1995) verläuft eine typische Migration in der Regel in drei Phasen: einer Eintrittsphase, einer Orientierungsphase und einer Entscheidungsphase. Nach der Lektüre zahlreicher weiterer soziologischer Studien möchte ich diesen noch eine ›Loslösephase‹ (die Entfremdung von der Umgebung bis hin zum Entschluss, dass eine Ausreise zu einer Verbesserung der Situation führen kann) hinzufügen, welche zwar noch vor der Ausreise durchlaufen wird, aber bereits für den Prozess des Wechsels aus einem kulturellen Umfeld in ein anderes wesentlich ist. Diese Phasen lassen sich nicht nur in soziologischen Arbeiten, sondern auch in zahlreichen literarischen Texten migrierter Autoren – zum Teil sogar vollständig – verfolgen und dürften nicht selten Ausgangspunkt autobiografischer Lesestrategien sein. Darüber hinaus gibt es Phänomene, die sowohl bei der wissenschaftlichen als auch bei der autobiografischen Bearbeitung des Themas Migration immer wieder zur Sprache kommen. Beispiele dafür sind sog. Push- und Pull-Faktoren (Argumente, die jemanden aus einem Land und in ein anderes ziehen), psychische Probleme nach der Ausreise, eine überproportional häufige Thematisierung von Identität, die Hinterfragung von Kategorien wie ›hier‹ und ›dort‹ bzw. ›wir‹ und ›sie‹, die Problematisierung von Sprache und das Spiel mit ihr (z. B. durch die Mischung von Elementen verschiedener Sprachen), Diskriminierung, Isolation und Gettoisierung sowie Remigration oder Kapitulation. Alle diese Elemente

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gelten als typisch für Migrationsverläufe, folglich lässt ihre Erwähnung in literarischen Texten leicht auf Erlebnisse ihrer Verfasser schließen. Möglicherweise liegt hier auch der Schlüssel für den Umstand, dass gerade im Fall von durch Migranten verfassten Texten – wie im Zitat von Leslie Adelson geschildert – die Tendenz so groß ist, sie auf ihre Autoren zu beziehen. Das Wissen über Migrationen ist stark kanonisiert, viele Lebensläufe von Migranten weisen Ähnlichkeiten auf – und die Texte erfüllen oft die Erwartungshaltungen und beschreiben Phänomene, die für Migrationsbiografien typisch sind. Somit liegt die Annahme nahe, dass diese Phänomene dem Autor aus eigenem Erleben bekannt und nicht nur angelesen sind – obwohl Beispiele wie Café Saratoga von Malin Schwerdtfeger (2001) belegen, dass auch nicht migrierte Autoren sehr realistische Migrationsromane verfassen können.

6. ABSCHLIESSENDE T HESE Auf den letzten Seiten konnte das Problem des Autobiografischen nur grob umrissen werden. Es ist dabei jedoch hoffentlich deutlich geworden, dass in literarischen Texten sowie ihrem unmittelbaren (paratextuellen) und ferneren Umfeld Spuren zu finden sind, welche eine autobiografische Lesestrategie initiieren und verstärken können. Dabei ist nicht entscheidend, ob es tatsächlich Parallelen zwischen Textinhalten und Autorenbiografie gibt, sondern welche Informationen innerhalb und außerhalb eines Textes eine autobiografische Interpretation plausibel erscheinen lassen. Diese Plausibilität kann je nach Informationsstand stark schwanken. Vielleicht sollte man aus diesem Grund die Worte Gombrowiczs beherzigen, der schon früh davor warnte, Aussagen allzu sehr mit ihren mutmaßlichen Verfassern zu verknüpfen: »AleĪ dudku co ci z tego, Īe bĊdziesz wiedział, czy ja ›szczerze‹ czy ›nieszczerze‹? Co to ma do słusznoĞci wypowiedzianych przeze mnie myĞli? MogĊ ›nieszczerze‹ wypowiedzieü niebotyczną prawdĊ, a ›szczerze‹ palnąü najwiĊksze głupstwo. Naucz siĊ oceniaü myĞl niezaleĪnie od tego, kto i jak ją wypowiada.« (Gombrowicz 1971: 238) [Ach du Tölpel, was bringt es dir zu wissen, ob ich ›ehrlich‹ oder ›unehrlich‹ bin? Was hat das mit der Richtigkeit der Gedanken zu tun, die ich ausspreche? Ich kann ›unehrlich‹ die allergrößte Wahrheit sprechen, und ›ehrlich‹ den größten Unsinn faseln. Lerne, den Gedanken unabhängig davon zu schätzen, von wem und wie er ausgesprochen wird.]

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Schwerdtfeger, Malin (2001): Café Saratoga, Köln. von Matt, Peter (2006): »›Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!‹ Brauchen große Künstler das moralische Zwielicht? Versuch über einen alten Disput«. In: Der Tagesspiegel Nr. 19555, 6.2.2006, 23. Wagner-Egelhaaf, Martina (2000): Autobiographie, Stuttgart/Weimar. Wilkomirski, Binjamin (1995): Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948, Frankfurt a.M. Załuski, Krzysztof Maria (1993a): »Ostatni spektakl teatru złudzeĔ«. In: Bundesstrasse 1. Almanach literacki polonijnych Ğrodowisk twórczych, Dortmund, 82-87. Załuski, Krzysztof Maria (1993b): »PodróĪ do kresu wyobraĨni«. In: Bundesstrasse 1. Almanach literacki polonijnych Ğrodowisk twórczych, Dortmund 1993, 88-92. Załuski, Krzysztof Maria (1996a): Tryptyk bodeĔski, Sopot. Załuski, Krzysztof Maria (1996b): »Das Jahr 1994«. In: Sylvia Geist (Hg.), Zwischen den Linien. Eine polnische Anthologie, Hannover, 170-179. Załuski, Krzysztof Maria (1996c): »Rheinfall«. In: Czas kultury 5/6, 32-33. Załuski, Krzysztof Maria (1998): »Władysławowo«. In: Studium 11/12, 68-71. Załuski, Krzysztof Maria (1999a): Szpital Polonia, PoznaĔ. Załuski, Krzysztof Maria (1999b): »Emigrant z urodzenia. Z Krzysztofem Marią Załuskim, pisarzem, publicystą, i wydawcą rozmawia Wojciech Łodyga«. In: Czas kultury 1/88, 84-87. Załuski, Krzysztof Maria (2000): »Wyjazd. Fragment powieĞci Szpital Polonia«. In: Maria KalczyĔska (Hg.), Instytucje literacko-wydawnicze w kontaktach polsko-niemieckich. Stan i perspektywy badawcze, Opole, 227-228. Załuski, Krzysztof Maria (2004): »Aussiedlerblues (fragment)«. In: Zarys. Magazyn kulturalny 3, 29-48. Załuski, Krzysztof Maria (2010): WypĊdzeni do raju (Aussiedlerblues), GdaĔsk.

Die deutsch-polnische Literaturedition »WIR« M ARION B RANDT

M EINE B EGEGNUNG MIT »WIR« Im Frühjahr 1995 erzählte mir eine Berliner Bekannte von einer deutsch-polnischen Zeitschrift namens »WIR«, die in ihrer nächsten Nummer etwas über Gertrud Kolmar bringen würde; da ich damals über Kolmar arbeitete, empfahl sie mir, mich an die Redakteurinnen dieser Zeitschrift zu wenden. Wie ich den Kontakt aufnahm, weiß ich heute nicht mehr; ich erinnere mich aber an meine erste Begegnung mit der Dichterin Iwona Mickiewicz, die als Redakteurin den Lyrikteil in »WIR« betreute. Wir trafen uns in einem der Cafés an der Oranienburger Straße, und unser – in meiner Erinnerung – ziemlich langes Gespräch begann bald das Thema Kolmar und die »WIR«-Publikation zu überschreiten: Wir sprachen über uns, über unser Leben in Berlin, über Polen und Deutsche. Danach folgten mehrere solcher Gespräche, gegenseitige Einladungen, und das alles, ehe noch überhaupt mein Kolmar-Text in »WIR« erschien. Ich hatte vorher schon für andere Zeitschriften geschrieben, aber diese Art der Zusammenarbeit war für mich eine völlig neue Erfahrung. Hier war ich nicht eine Autorin, die Verabredungen mit einem Redakteur oder einer Redakteurin traf, sondern ich wurde in eine beinahe familiäre Gemeinschaft aufgenommen. Das war auch auf den Zeitschriftenpremieren zu spüren, die als gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse – zwischen Lesung, Theater und Party oszillierend – organisiert, ja geradezu zelebriert wurden und einen Raum des Gesprächs und der Begegnung eröffneten.

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P ROFIL

UND

G ESCHICHTE

DER

Z EITSCHRIFT

Ich vermute, dass diese Art der Zusammenarbeit polnische Zeitschriften eher charakterisiert als deutsche. Für »WIR« jedenfalls war das Schaffen eines Raumes der Begegnung, der Kommunikation und Kreativität, auch das Performative, geradezu Programm. Bereits der Titel der Zeitschrift bestätigt dies. Die Chefredakteurin von »WIR«, Ewa Maria Slaska, bezieht sich im Editorial des ersten Hefts auf die Grimmsche Erklärung des Wortes als »den engeren oder weiteren kreis, zu dem sich der sprechende oder schreibende rechnet«. (Slaska 1995: 9) Die Edition »WIR« sollte im Selbstverständnis ihrer Gründerinnen mehr sein als eine Gruppe von Redakteuren und Autoren, sie wurde von Slaska als »literarische Gruppe« und als »Zusammenschluss« von Autoren bezeichnet (Slaska 1995: 9). Dieser Anspruch zeigte sich in der Gründung des »Vereins WIR zur Förderung der Deutsch-Polnischen Literatur Berlin e.V.«, dessen Zwecke und Aufgaben das Anliegen einer Zeitschriftenedition und auch einer literarischen Gruppe weit überschritten. Zu ihnen gehörten: »1. Archivierung von literarischen, publizistischen und wissenschaftlichen Texten, Original und Übersetzung zum Thema Deutschland/Polen […], 2. Aufbau eines Autorenarchives aller deutschen, polnischen und deutsch-polnischen Autoren, die im deutsch-polnischen Kulturraum [real und/oder intellektuell] arbeiten oder in der Vergangenheit gearbeitet hatten, 3. Realisierung von Seminaren und Tagungen, um einen Austausch und Öffentlichkeit für Autoren, Wissenschaftler und Übersetzer zu schaffen, 4. Förderung von literarischen und wissenschaftlichen Initiativen, z.B. neuen Übersetzungen durch Beschaffen von Stipendien.« (Satzung WIR e.V. 1995: 311)

Diese Aufgaben, die wohl selbst für das Deutsche Poleninstitut in Darmstadt eine Herausforderung darstellen würden, zeigen, welch eine Energie und welch ein Idealismus die Gründung von »WIR« begleiteten. Mit dem Verein und der Edition sollte ein Forum des deutsch-polnischen Dialogs in der Literatur der Gegenwart geschaffen werden, aber zugleich sollten auch historische Zeugnisse dieses Dialogs archiviert werden. In diesem großen Programm schlug sich gewiss auch die Aufbruchsstimmung nieder, die Berlin am Anfang der 1990er Jahre prägte. Auf Polnisch bedeutet »wir« Wirbel, Strudel oder Getümmel. Die deutsche und polnische Bedeutung des Wortes ergeben zusammen »Wir Unruhigen«, auf diese Weise – so Slaska – »kann man die Gruppe, welche die vorliegende litera-

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rische Edition begründet, wohl am besten charakterisieren.«1 Diese Unruhe, die reale, geistige und sprachliche Wanderschaft, entstand durch die bereits erwähnte Situierung von »WIR« im Bereich der deutsch-polnischen »Wirrungen« – Konflikte, Begegnungen, Dialoge (Slaska 1995: 5) und ist bereits auf der Ebene der Sprache erfahrbar. Damit ist nicht nur die zweisprachige Bedeutung des Titels gemeint. Die Zeitschrift als Ganzes erschien zweisprachig, dabei waren Originale und Übersetzungen keineswegs immer adäquat, im Gegenteil. Zweisprachige Autorinnen wie Britta Wuttke, Ewa Maria Slaska und Iwona Mickiewicz schrieben ihre Texte doppelt. Die Reihenfolge der übersetzten Texte wechselte, je nachdem, welcher der Originaltext war. Selbst Redaktion und Druckerei wanderten im Laufe der Zeit. So blieb Berlin zwar der Mittelpunkt, aber schon in der zweiten Nummer wurde als Zweitsitz der Redaktion Danzig angegeben, später Szczecin als Druckort. Diese sich ständig in Bewegung befindende, verwirrende Erscheinung »WIR« hatte dabei durchaus konkrete Konturen: Die Gründerinnen der Zeitschrift waren Dichterinnen, Publizistinnen und Schriftstellerinnen, die der Generation von Polinnen angehörten, welche in den 1980er Jahren nach Deutschland ausgereist waren. Am längsten, seit 1981, lebten Britta Wuttke, Maria AniĞkowicz und Maria Kolenda in Deutschland, Ewa Maria Slaska war 1985, Anna Hadrysiewicz 1987, Iwona Mickiewicz 1988 nach Berlin gekommen.2 Die Zeitschrift entstand 1994 aus der Idee von Ewa Maria Slaska, eine Broschüre zu den deutsch-polnischen Beziehungen in Berlin, vor allem zur Situation von Frauen, herauszugeben. Diese Publikation sollte zweisprachig erscheinen, aber keine Übersetzungen enthalten, sondern jede/r sollte in ihrer/seiner Sprache schreiben und lesen. Iwona Mickiewicz und Britta Wuttke schlugen vor, statt einer solchen Broschüre zweisprachige thematische Bücher mit Übersetzungen herauszugeben. Sie waren mehr an der Sprache als an Informationen über die Situation von Polen in Berlin interessiert. Iwona Mickiewicz erinnert sich: »[…] mit der Sprache beschäftigen wir uns gern, denn das ist die Materie, die uns verbindet und jeden betrifft, nicht nur Polen und Deutsche«. (Ebd.) Britta Wuttke hatte die Idee, diese thematischen Bücher unter dem Titel »WIR« zu veröffentlichen. Die erste Pressekonferenz fand in der Wohnung von Maria AniĞkowicz statt; zugegen war

1

Vgl. polnisches Editorial. (Slaska 1995: 5)

2

Außer ihnen arbeiteten an einzelnen Heften weitere Redakteure mit: am ersten Heft Dmitri Amiiam (Übersetzer für Russisch, seit 1991 in Berlin lebend), Stefan Gieysztor, ein in Berlin und Breslau lebender Schriftsteller, an den beiden folgenden Heften, und Olav Münzberg, ein in Berlin lebender, 1938 in Gleiwitz geborener Schriftsteller wirkte an Heft vier mit.

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auch der Übersetzer Henryk Bereska. Dieses Treffen, so Iwona Mickiewicz, »kann ich heute als ›Recherche‹ dessen bezeichnen, was den Leuten in der deutsch-polnischen Szene fehlte«. (Ebd.) Das erste Heft der Zeitschrift erschien im März 1995 und war dem Thema Zweisprachigkeit gewidmet. Danach wurden im halbjährlichen Rhythmus zwei weitere Hefte bis April 1996, das vierte nach einer längeren Pause im Jahr 1997 veröffentlicht. Obwohl die Edition »WIR« bis heute fortbesteht, ihre letzte Nummer (Nr. 10) im Jahr 2005 erschien und darüber hinaus Einzelpublikationen, so zum 5. Deutsch-Polnischen Poetendampfer oder zum Schaffen von Stanisław Kubicki, herausgegeben wurden, hörte die Edition in ihrer ursprünglichen Gestalt einer Literaturzeitschrift im Jahr 1997 auf zu existieren. Dafür gab es mehrere Gründe. Wie meist bei solch anspruchsvollen Literaturzeitschriften spielte die finanzielle Situation eine große Rolle – es gab keine feste Finanzierung, für jedes Heft mussten neue Förderer gefunden werden. Die Zeitschrift verkaufte sich weniger gut als erwartet, so wurde die Auflage von 1000 auf 800 Stück verringert, der deutsche Preis hingegen fast verdoppelt (von 8,50 auf 15 DM). Entscheidend war aber wohl die ungewöhnlich starke Gruppendynamik, die »WIR« charakterisierte. Einerseits entfaltete die Redaktion eine immer größere Aktivität (so entstand z.B. ein Heft in Zusammenarbeit mit der Stettiner Zeitschrift »Pogranicza«) und es wurden immer neue Autorinnen und Autoren zur Mitarbeit hinzugezogen. Andererseits ging diese produktive Ausdehnung im äußeren Wirkungskreis von »WIR« mit einem Konflikt im inneren Kreis der Redakteurinnen einher, so dass schließlich nacheinander alle Mitbegründerinnen der Zeitschrift bis auf Ewa Maria Slaska aus der Redaktion ausschieden. Ursache dieses Konflikts war der Versuch einer Hierarchisierung der – trotz der von Anfang an bestehenden Chefredaktion von Ewa Maria Slaska – gleichberechtigten und partnerschaftlichen Zusammenarbeit; es gab aber auch inhaltliche Differenzen, auf die ich später eingehe. Ewa Maria Slaska führt die Edition »WIR« seitdem allein weiter und sucht sich für jede weitere Ausgabe neue Mitstreiter und Autoren. Dem grundsätzlichen Anliegen von »WIR«, dem Versuch, literarische Dialoge zwischen Deutschen und Polen zu führen und zu dokumentieren, bleibt sie treu, aber von einer Zeitschrift kann bei den von ihr bestrittenen »WIR«-Ausgaben keine Rede mehr sein, eher handelt es sich bei ihnen um thematische Anthologien deutscher und polnischer Texte, wobei der Schwerpunkt auf Literatur von Frauen und vor allem auf Autoren der jüngeren Generation liegt, und auch andere Bereiche wie Kunst und Musik hinzukamen.

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E DITIONEN

VON

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»WIR«

Im Folgenden möchte ich die ersten Editionen von »WIR«, deren Themen aus dem Bereich der deutsch-polnischen Beziehungen gewählt wurden, kurz vorstellen. Im ersten Heft wird »WIR« als ein Forum bezeichnet, auf dem Tabufragen angesprochen werden konnten, welche »im Laufe der Geschichte auf dem Grenzgebiet Deutschlands und Polens entstanden sind«. (Slaska 1995: 9) Das Wort »Grenzgebiet« sollte nicht im politisch-geographischen Sinne verstanden werden, sondern meint, als eine Übersetzung von ›pogranicza‹, allgemein den Bereich der deutsch-polnischen Begegnung in der politischen und der Geistesgeschichte. Diese ausdrückliche Beschäftigung mit der deutsch-polnischen Thematik war ein Novum unter den Zeitschriften polnischer Migranten, zumindest unter denen, die zuvor in Berlin erschienen waren. In den Zeitschriften »Archipelag« (1984-1987), in »Pogląd« (1982-1990) und »Przekazy« (1982-84) hatte die politische Perspektive dominiert, die deutsch-polnischen Beziehungen wurden hier primär aus der Perspektive des Ost-West-Konflikts, der Teilung Europas durch die sogenannte Jalta-Ordnung wahrgenommen. Unter den gleichzeitig erscheinenden Zeitschriften wies nur das Deutsch-Polnische Magazin »Dialog« ein ähnliches Profil auf, allerdings konzentriert sich dieses nicht auf die Literatur und ist keine Publikation polnischer Migranten in Deutschland: Herausgeber war zu jener Zeit der Bundesverband der in den 1970er Jahren in Westdeutschland entstandenen Deutsch-Polnischen Gesellschaften. In der ersten Ausgabe thematisierte »WIR« Zweisprachigkeit und doppelte Identität. Das Heft führte polnische Migranten der 1980er Jahre und deutsche Autoren zusammen, die bei Kriegsende als Kinder oder Jugendliche Polen verlassen hatten, oder viele Jahre danach als sog. Spätaussiedler, nun schon als Polen mit deutschem Familienhintergrund, nach Deutschland gekommen waren. Zu ihnen gehören: • • • • • • • •

Maria AniĞkowicz – geb. 1953 in Warschau, seit 1981 in Deutschland, Henryk Bereska (1926 Szopienice bei Katowice – 2005 Berlin), Maria Ciechomska – geb. 1956 in Warschau, seit 1987 in Berlin, Anna Hadrysiewicz – geb. 1957 in ŁódĨ, seit 1987 in Berlin, Ursula Höntsch – geb. 1934 in Frankenstein, Schlesien, seit 1945 in der SBZ, dann DDR, Maria Kolenda – geb. 1956 in Urciszki, seit 1981 in Berlin, Christina Koschel – geb. 1936 in Breslau, seit 1945 in Deutschland, Iwona Mickiewicz – geb. 1963 in Leszno, seit 1988 in Berlin,

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• • • • • •

Joanna Mieszko Wiórkiewicz – geb. 1954 in Ząbkowice ĝląskie, seit 1988 in Berlin, Agnieszka RudniaĔska – geb. 1950 in Warschau, seit 1984 in Berlin, Renata Schumann – geb. 1934 in Hindenburg/Zabrze, seit 1983 in Düsseldorf, heute Bad Doberan, Ewa Maria Slaska – geb. 1949 in Sopot, seit 1985 in Berlin, Leszek Szaruga – geb. 1946 in Krakau, seit 1986 in Berlin und Britta Wuttke – geb. 1940 in Swinemünde, seit 1981 in Berlin.

Sie alle werden als Wanderer zwischen den Kulturen, als Menschen mit doppelter Identität betrachtet. In den drei festen Rubriken »Prosa/Essay«, »Interview« und »Lyrik« werden Geschichten von aus Polen geflüchteten, vertriebenen und spätausgesiedelten Deutschen vorgestellt, aber auch die Leiderfahrungen der Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert. Die Redaktion von »WIR« brach hier wohl weniger ein Tabu, als dass sie sich in eine bereits in Gang gekommene Entwicklung einschrieb. Mit dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 begannen die Politiker sich der Situation der deutschen Minderheit in Polen anzunehmen, Mitte der 1990er Jahre fanden sich in der polnischen Presse Stimmen, dass es an der Zeit sei, sich der Problematik der Vertreibung und der deutschen Minderheit im Nachkriegspolen zuzuwenden. Es entstanden mehrere Forschungs- und Interviewprojekte mit entsprechenden Publikationen. So realisierte Artur Hainicz in den Jahren 1994 bis 1996 in der polnischen Robert-Schuman-Stiftung das Projekt »Komplex der Vertreibung«, recherchierten und edierten polnische und deutsche Historiker Dokumente zur Geschichte der Vertreibung und zur deutschen Minderheit (Borodziej/Lemberg 2000), führten z.B. in GdaĔsk polnische Germanistikstudenten Interviews mit polnischen Danzigern und Angehörigen der deutschen Minderheit durch, in denen die Befragten von ihren Erlebnissen am Ende des Krieges erzählten (Schmidt/Dwertmann/Rusak 1994; Choderny/ Głowacka/Korczakowska 1997). Die Publikation von »WIR« lässt sich als eine ähnliche Pionierleistung im Bereich der Publizistik polnischer Migranten ansehen. Bezeichnend ist, dass eine Autorin wie Britta Wuttke, eine sogenannte Spätaussiedlerin, jetzt erst in einer in Deutschland herausgegebenen polnischen Literaturzeitschrift publizierte, obwohl sie bereits seit 1981 in Berlin lebte. Ihre Texte, geprägt durch das lustvolle Spiel »mit den beiden Muttersprachen« (Slaska 1995: 10), waren vorher entweder nicht von Interesse oder sie selber hatte sich von der vor allem politisch ausgerichteten Programmatik früherer Zeitschriften nicht angesprochen gefühlt. Als mutigen und schmerzlichen Tabubruch habe ich persönlich bei der Lektüre dieses Heftes empfunden, dass Texte mit

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Klagen von Angehörigen der deutschen Minderheit, die Bitterkeit, ja in einem Fall sogar Hass gegenüber Polen prägten, in polnischer Sprache erschienen. Aleksandra Ubertowska betont in ihrer Besprechung der ersten beiden »WIR«-Hefte, dass »WIR« generell die Problematik der »uneindeutigen Identität, das schwer zu definierende Gefühl kultureller Zugehörigkeit, [die Situation] der ›gemischten Identität‹« (Ubertowska 1996: 104) thematisiere, und verbindet dies mit dem Titel der Zeitschrift, der unruhigen Existenz zwischen zwei oder der gleichzeitigen Existenz innerhalb zweier Kulturen. Tatsächlich lässt sich diese Sicht auch auf die folgenden beiden Hefte ausdehnen, so ist das zweite Heft vor allem Dichterinnen mit doppelter, deutsch-jüdischer und polnisch-jüdischer, Identität gewidmet, das dritte hingegen der Erinnerung an eine vergangene, aber mental fortlebende politische Kultur (DDR/PRL). Wie bereits in der Vereinssatzung formuliert, bestand ein besonderes Anliegen von »WIR« darin, Texte von Autoren zu archivieren, die »im deutschpolnischen Kulturraum [real und/oder intellektuell] arbeiten oder in der Vergangenheit gearbeitet hatten«, wobei »besonders die vergessenen Autoren berücksichtigt« (Satzung WIR e.V. 1995: 311) werden sollten. Ein solches Archiv ist zwar nicht entstanden, aber fast alle Ausgaben von »WIR« enthielten eine Rubrik mit dem Titel »Vergessene Namen/Zapomniane imiona«, in der einzelne Autoren (Arthur Eloesser, Otto Erich Hartleben) porträtiert wurden. Das zweite Heft stellt gewissermaßen eine Erweiterung dieser Rubrik dar, denn es war als Ganzes ›vergessenen Dichterinnen‹ gewidmet: Poetki z ciemnoĞci/Dichterinnen aus dem Dunkel stellte Kurzbiographien und Werke von deutsch-jüdischen, polnischen und polnisch-jüdischen Dichterinnen vor, die im Dritten Reich und während des Zweiten Weltkrieges verfolgt wurden oder die im Widerstand aktiv waren und ihr Leben verloren: • • • • • • • • • •

Gertrud Kolmar (1894-1943?), Mascha Kaléko (1912-1975), Else Lasker-Schüler (1869-1945), Edith Stein (1891-1942?), Eleonora Kalkowska (1883-1937), Halina Birenbaum (geb. 1929), Krystyna Krahelska (1914-1944), Henryka Łazowertówna (1910-1942?), Zuzanna Ginczanka (1917-1944), GraĪyna Chrostowska (1921-1942).

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Auch diese Publikation schrieb sich in eine bereits in Gang gekommene Entwicklung ein, die sich als (Wieder-)Entdeckung deutscher und polnischer Dichterinnen jüdischer Herkunft bezeichnen lässt, als ein »Vordringen in die Zonen der polnischen und deutschen Kultur, die zu Minderwertigkeit verurteilt wurden, die an den Rand des ›kulturellen Haupttextes‹ abgedrängt wurden«. (Ubertowska 1996: 108) Dennoch kann man durchaus teilweise von einer Pionierleistung sprechen. Bei den deutsch-jüdischen Dichterinnen handelte es sich in den meisten Fällen weniger um »vergessene«, als um »wenig bekannte Dichterinnen«, und selbst das trifft nicht auf alle hier versammelten Autorinnen zu. So galt Else Lasker-Schüler schon zu Lebzeiten als eine der größten deutschen Dichterinnen und gehört spätestens seit der ersten Werkausgabe der Nachkriegszeit 1959-1962 zum Kanon der deutschen Dichtung der Moderne. Auch auf Polnisch waren Gedichtausgaben von ihr erschienen (Lasker-Schüler 1988; Lasker-Schüler 1991; Lasker-Schüler 1992). Andere Dichterinnen wie Gertrud Kolmar oder Mascha Kaléko wurden Anfang/Mitte der 1990er Jahre einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland bekannt, Kolmar u.a. in mehreren Publikationen und zwei Ausstellungen (1993 und 1994). Ähnlich sah es mit einigen polnischen und polnisch-jüdischen Dichterinnen aus, die »WIR« präsentierte. Halina Birenbaum hatte ihre Gedichte 1990, ihre Erinnerungen in polnischer Sprache 1967, in deutscher Sprache 1993 publiziert. Die Gedichte von Zuzanna Ginczanka waren 1991 in PoznaĔ erschienen (Ginczanka 1991) und wenige Jahre später veröffentlichte Izolda Kiec ihr Buch über sie (Kiec 1994). »WIR« enthält aber tatsächliche Wiederentdeckungen, so Gedichte und Pressestimmen zu den Dramen von Eleonore Kalkowska nebst einem Auszug aus den unpublizierten Erinnerungen ihrer Tochter Elida Maria Szarota. Erst vor sechs Jahren erschienen Stücke dieser deutsch-polnischen Dramatikerin auf Polnisch (Kalkowska 2005) und noch später auf Deutsch (Kalkowska 2008); ein Jahr danach die erste Monographie über sie (Trapp 2009). Ein Verdienst von »WIR« bestand zweifellos darin, dass einige der hier präsentierten Dichterinnen wie Mascha Kaléko zum ersten Mal in die jeweils andere Sprache übersetzt wurden. Als Sonderausgabe der Zeitschrift erschien sogar ein erster Gedichtband Gertrud Kolmars auf Polnisch (ĝwiaty/Welten). Bis heute existieren außerdem nur Übersetzungen einiger ihrer Gedichte in »Literatura na ĝwiecie« (Kolmar 1994), darüber hinaus ist sie in Polen unbekannt. Umgekehrt kennen deutsche Lyrikliebhaber Zuzanna Ginczanka nicht. Hier hat »WIR« etwas in Bewegung gesetzt, das noch heute einer Fortsetzung harrt. Wenn dieses zweite Heft Poetki z ciemnoĞci/Dichterinnen aus dem Dunkel auch Frauen vorstellt, die am Konflikt zwischen den Kulturen litten und sogar zugrunde gingen, erhält es mit Blick auf das Geschlecht von »WIR« – die Re-

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daktion bestand bis auf wenige ›Gastredakteure‹ aus Frauen – eine besondere Bedeutung als Ausdruck einer Selbstreflexion künstlerisch kreativer, in mehreren Kulturen lebender Frauen. So bezieht Ewa Maria Slaska das im Titel der Zeitschrift enthaltene Bild im Rahmen ihrer Überlegungen zu Gertrud Kolmars Gedicht »Aus dem Dunkel komme ich« auf viele Facetten der weiblichen Existenz, auf »das finstere Geheimnis der Mutterschaft, die düsteren Geheimnisse der Begierden […] als auch die eigenste Erfahrung poetischer Entdeckung fremder, weiter Welten, den mühsamen Kampf genialer Begabung mit der Lichtlosigkeit der Nacht«. (Slaska 1995: 10) Als die Redaktion von »WIR« sich im dritten, den deutsch-polnischen Beziehungen gewidmeten Heft dem Thema NRD-PRL literatura niezaleĪna/DDRVRP unabhängige Literatur zuwandte, gab es in Polen ein nur geringes Interesse an der DDR. Ein ehemaliger DDR-Bürger wurde hier zu jener Zeit eher abfällig betrachtet. »WIR« dagegen zog an Polen interessierte Ostberliner geradezu an, die nun zum ersten Mal in ihrer eigenen Stadt mit einem authentischen polnischen Milieu in Berührung kommen konnten. Für mich bedeutete dies sogar so etwas wie eine zweite Maueröffnung. Henryk Bereska, der bekannte Übersetzer polnischer Literatur in der DDR, muss es ähnlich erlebt haben. Er begleitete die Zeitschrift »WIR« von Anfang an und war einer ihrer aktivsten Mitstreiter, veröffentlichte in jedem ihrer Hefte, entweder Gedichte und Aphorismen oder Übersetzungen u.a. der Gedichte von Zuzanna Ginczanka. Seine Beziehungen zu den Redakteurinnen und Autorinnen überlebten das Ende der Zeitschrift und trugen Früchte in weiteren Publikationen (Bereska 2001) und Übersetzungen (Kolenda 2000). Henryk Bereska übersetzte nicht nur, sondern setzte – wie der Fährmann, als der er sich selbst ja sah – täglich über den in Berlin existierenden imaginären Grenzfluss zwischen Deutschen und Polen. Dabei versuchte er, in seinem Boot nicht nur so viel wie möglich an Büchern, sondern auch an Menschen ans andere Ufer zu bringen. Die Redaktion von »WIR« dankte es ihm, indem sie ihm das dritte Heft zu seinem 70. Geburtstag widmete. Dass es in der DDR eine unabhängige Literatur gegeben hatte, wenn auch in einem viel kleineren Ausmaß und mit einem wesentlich geringeren Wirkungskreis als ihn der polnische »zweite Umlauf« hatte, war und ist bis heute in Polen kaum bekannt. Einige Schriftsteller wie Wolfgang Hilbig oder Uwe Johnson wurden zwar in den letzten Jahren übersetzt (in der Serie »Kroki«, vgl. z.B. Johnson 2008 und Hilbig 2008), aber bis heute kennen polnische Leser z.B. die Gedichte von Sarah Kirsch kaum und die Romane von Helga M. Novak gar nicht. Erlaubte es bis 1989 die Zensur nicht, dass diese Texte in Polen veröffentlicht wurden, so war es später der sich verändernde Buchmarkt, der dazu führte,

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dass diese Schriftstellerinnen in einer Art Zeitlücke verschwanden. Hier würde es für eine Zeitschrift, wie »WIR« sie war, noch etliches zu tun geben. Mit dem dritten Heft stellte sich die Redaktion aber nicht nur die Aufgabe, die unabhängige Literatur in der DDR zu präsentieren, sondern sie entfaltete einige bis heute aktuelle Wahrnehmungs- und Diskussionszusammenhänge. Einer von ihnen ist das Nachdenken über »Literatur und Totalitarismus«, wie es die Gespräche mit Tadeusz Konwicki, Christian Skrzyposzek und Ilse Aichinger prägt. Die beiden polnischen Schriftsteller vertreten die Ansicht, dass es keine oppositionelle Literatur in Polen gegeben hat und geben konnte. In Texten, die sich in den Dienst »der politischen Pragmatik« stellen, werde die »Kunst des Schreibens zu Grabe getragen«. (Skrzyposzek 1996: 64) Ilse Aichinger, auf die Aufgabe des Schriftstellers im Totalitarismus angesprochen, antwortet ähnlich: Literatur solle nicht sofort auf politisches Geschehen reagieren, müsse reifen, die »wichtigste Aufgabe eines Schriftstellers ist, zu schweigen«, auch wenn er als Mensch verpflichtet sei, »das menschlich Allmögliche zu tun«. (Aichinger 1996) Zu den sehr lebendigen und humorvollen Gesprächen, die zumeist Anna Hadrysiewicz für »WIR« führte, gehört auch eines mit Jacek Santorski, der der polnischen Gesellschaft eine beunruhigende Diagnose stellt – als einer Gesellschaft von Handelsreisenden, die ohne Vergangenheit, nur im »Hier und Jetzt«, leben und »nicht allzu sehr über das nachdenken, was nicht unmittelbar auf ein Ziel gerichtet ist«. (Santorski 1996: 316) Unter den unabhängigen Autoren aus der DDR stellte »WIR« vor allem solche vor, die sich für Polen interessierten, mit SolidarnoĞü sympathisierten und Kollegen in Polen halfen. Zu ihnen gehörten Jürgen Fuchs, Utz Rachowski, Esther Ullmann-Goertz, Uwe Kolbe, Rüdiger Rosenthal und Wolf Biermann. Diesen Teil der Zeitschrift, der mit den Worten »DDR – ein unbekanntes Land« überschrieben ist, leitete ein Gespräch mit Ludwig Mehlhorn ein, einem der wenigen Oppositionellen in der DDR, der engere Kontakte zu Polen unterhielt.

E NDE

UND

B EDEUTUNG DER Z EITSCHRIFT »WIR«

Mit dem vierten Heft Marzenia, sny, przeczucia/Träume, Vorahnungen… wandte sich die Redaktion bereits von der Fokussierung auf die deutsch-polnischen Beziehungen ab, hier handelte es sich im Wesentlichen, so wie bei den bis heute von Ewa Maria Slaska verantworteten »WIR«-Veröffentlichungen, um eine deutsch-polnische Anthologie zu einem universal zu nennenden Thema. Die Redakteurinnen, die neben Ewa Maria Slaska am längsten in der Redaktion ausharrten, strebten in eine andere Richtung. Das letzte gemeinsam vorbereitete

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Heft sollte sich mit dem Thema Reisen sowie mit Grenzüberschreitungen zwischen der Literatur und anderen Künsten beschäftigen. Iwona Mickiewicz hatte bereits für das erste Zeitschriftenheft die Rubrik »Zwischen den Kulturen« vorgeschlagen, in der u.a. ein Interview mit Ryszard KapuĞciĔski, Erinnerungen von Viktoria Korb an ihren Aufenthalt in Indonesien, später Gedichte von Natascha Wodin, einer deutschsprachigen Schriftstellerin ukrainisch-russischer Herkunft, erschienen waren. Wie einigen anderen Redakteurinnen von »WIR« schwebte Iwona Mickiewicz vor, sich nicht allein auf die deutsch-polnische Thematik zu konzentrieren, sondern diese »in einem europäischen Kontext und im Zusammenhang mit anderen Themen zu betrachten, die im literarischen und kulturellen Leben Berlins und Deutschlands ihren Niederschlag fanden«.3 Ein solches Heraustreten aus einem sensu stricto deutsch-polnischen Zusammenhang wäre wohl tatsächlich produktiv gewesen. Dieses Heft kam aber nicht mehr zustande. Der erste Abschnitt in der Geschichte von »WIR« fand damit sein Ende. Für polnische Emigrationsschriftsteller nach 1944 stellten Zeitschriften wichtige Integrationszentren und Kommunikationsforen dar. Das betrifft nicht nur die berühmte »Kultura« in Paris und »WiadomoĞci Literackie« in London, sondern auch die aufgrund der spezifischen Emigrationsgeschichte viel kurzlebigeren Literaturzeitschriften in Deutschland, wie »Archipelag« und »B1«. Unter ihnen nahm »WIR« eine besondere Stellung ein. Sie wandte sich nicht nur als Einzige direkt Themen zu, die aus der Situation der doppelten kulturellen Zugehörigkeit erwuchsen, dem literarischen Dialog zwischen Deutschen und Polen, der Aufarbeitung von Literatur, die – je nach Perspektive – aus der Existenz in einem kulturellen Zwischenraum oder Randbereich entstand. Für einige Jahre stellte die Zeitschrift auch einen zentralen Integrations- und Kommunikationsraum innerhalb der literarisch orientierten Berliner Polonia dar. Konzentrierte sich die Zeitschrift »WIR« möglicherweise deshalb programmatisch auf den mehrsprachigen Dialog, weil ihre Redaktion aus Frauen bestand? Zum zweiten Integrationszentrum im Berlin-Mitte der 1990er Jahre wurde die Zeitschrift »Kolano«, aus deren Redaktion Anfang des Jahrtausends der fast ausschließlich männlich geprägte »Club der polnischen Versager« hervorging. Dieser findet im Unterschied zu »WIR« gerade in der Konfrontation, im Betonen der mentalen Unterschiede zwischen Deutschen und Polen das Potential für künstlerische Produktivität. Richtet man den Blick über Berlin hinaus, dann bildet gegenwärtig das Kulturmagazin »Zarys«, das seit 2001 von Roman Ulfik in Messel bei Darmstadt jährlich herausgegeben wird, das lebendigste Integrationszentrum polnischer Schriftsteller in Deutschland. Seit 2007 erscheint es zweisprachig, der Kreis der Mitarbeiter

3

Auskunft an die Verfasserin am 1. November 2010.

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wurde daher um deutsche Autoren erweitert. Thematisch widmet sich »Zarys« dem deutsch-polnischen Dialog im literarischen und kulturellen Bereich, insofern lässt es sich wohl als eine Fortsetzung von »WIR« ansehen.

L ITERATUR Aichinger, Ilse (1996): »… wichtigste Aufgabe eines Schriftstellers ist, zu schweigen …«, Gespräch mit Ewa Maria Slaska und Stefan Gieysztor. In: »WIR« Nr. 3, PRL/NRD literatura niezaleĪna/DDR – VRP unabhängige Literatur, 71. Bereska, Henryk (2001): Familoki, Kraków. Borodziej, Włodzimierz/Lemberg, Hans (2000): Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden... Die Deutschen östlich von Oder und Neiße, Dokumente aus polnischen Archiven, Bd. 1, Marburg. Choderny, Zenona/Głowacka, Joanna/Korczakowska, Marzena et al. (1997) (Hg.): GdaĔsk 1945. Wspomnienia 50 lat póĨniej, GdaĔsk. Ginczanka, Zuzanna (1991): UdĨwignąü własne szczĊĞcie. Poezje, PoznaĔ. Hilbig, Wolfgang (2008): Prowizorium, Wrocław. Johnson, Uwe (2008): Domniemania w sprawie Jakuba, Warszawa. Kalkowska, Eleonora (2005): Dramaty, Warszawa. Kalkowska, Eleonore (2008): Dramen »Josef«, »MinusxMinus=Plus!«, »Zeitungsnotizen«, München. Kiec, Izolda (1994): Zuzanna Ginczanka, PoznaĔ. Kolenda, Maria (2000): Der zweite Sommer, Berlin. Kolmar, Gertrud (1994): »Wiersze«. In: Literatura na ĝwiecie 6, 197-209. Lasker-Schüler, Else (1988): Gwiazdy Tartaru, Warszawa. Lasker-Schüler, Else (1991): Ballady hebrajskie i inne wiersze, PoznaĔ. Lasker-Schüler, Else (1992): Poezje, PoznaĔ. Santorski, Jacek (1996): »Verleugnung der Vergangenheit«, Gespräch mit Anna Handrysiewicz. In: »WIR« Nr. 3, PRL/NRD literatura niezaleĪna/DDR – VRP unabhängige Literatur, 310-317. Satzung des Vereins »WIR« zur Förderung der Deutsch-Polnischen Literatur Berlin e.V. (1995). In: »WIR« Nr. 1, DwujĊzycznoĞü, podwójna toĪsamoĞü. Zweisprachigkeit, doppelte Identität, 311-313. Schmidt, Sabine/Dwertmann, Franz/Rusak, ElĪbieta (1994): GdaĔsk 1944. Rozmowy 50 lat póĨniej, GdaĔsk.

D IE

D EUTSCH - POLNISCHE

LITERATUREDITION »WIR«

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Skrzyposzek, Christian (1996): »Es gab in Polen keine oppositionelle Literatur...«, Gespräch mit Anna Hadrysiewicz. In: »WIR« Nr. 3, PRL/NRD literatura niezaleĪna/DDR – VRP unabhängige Literatur, 55-69. Slaska, Ewa-Maria (1995): »Editorial«. In: »WIR« Nr. 1, DwujĊzycznoĞü, podwójna toĪsamoĞü. Zweisprachigkeit, doppelte Identität, 5-8 (polnische Fassung), 9-11 (deutsche Fassung). Trapp, Agnes (2009): Die Dramen von Eleonore Kalkowska, München. Ubertowska Aleksandra (1996): »Literatura niedoczytana«. In: Teksty Drugie 6, 104-109.

Ausgaben von »WIR« Nr. 1 (März 1995): DwujĊzycznoĞü – podwójna toĪsamoĞü. Zweisprachigkeit – doppelte Identität. WIR, Edycja Literacka 2/Literaturedition 2, Berlin. Nr. 2 (November 1995): Poetki z ciemnoĞci/Dichterinnen aus dem Dunkel. WIR, Edycja Literacka 2/Literaturedition 2, Berlin. Zusatzausgabe (April 1996): Gertrud Kolmar: Welten/ĝwiaty. WIR, Edycja Literacka 2/Literaturedition 2, Berlin. Nr. 3 (April 1996): PRL – NRD literatura niezaleĪna/DDR – VRP unabhängige Literatur. WIR, Edycja Literacka 3/Literaturedition 3, Berlin. Nr. 4 (1997): Marzenia, sny, przeczucia…/Träume, Vorahnungen…. WIR, Edycja Literacka 4/Literaturedition 4, Berlin.

Kann man aus Masuren emigrieren? Zur Prosa Artur Beckers C HRISTIAN P RUNITSCH

Man kann sich aus mehreren Gründen fragen, ob Artur Becker wirklich zum Kreis der in den 1980er Jahren emigrierten polnischen Literaten gehört. Was hat Becker mit Głowacki, Zagajewski, Filipiak oder Załuski zu tun? Er hat ja noch nicht einmal einen polnischen Familiennamen! Erschwerend kommt hinzu, dass seine Literatursprache nicht das Polnische, sondern das Deutsche ist, dass man ihn ausgerechnet mit einem namensgleichen deutschen Kommunisten der Zwischenkriegszeit verwechseln kann, dass sein schriftstellerischer Erfolg nicht in Polen, sondern in Deutschland in Kooperation mit deutschen Verlagen stattfindet. Dennoch gehört das inzwischen durchaus beträchtliche Werk des ChamissoPreisträgers von 2009 in den Diskussionszusammenhang ›polnischer Literatur außerhalb Polens‹, mehr noch vielleicht als in die ›Chamisso-Literatur‹ (ein germanistischer Neologismus, vgl. Plath 2010: 75).1 Becker scheint in seinem Werk verschiedene Traditionslinien in einer Weise zu verklammern, die bisher eher selten geblieben ist: Man kann ihn in der Tradition ›deutscher Polenliteratur‹ lesen, die bekanntlich »zwischen Polenliebe und Polenschelte« (Jaworski 2000) viele Spielarten kennt; man kann ihn aber auch in die recht lückenhafte Reihe polnisch enkulturierter Autoren stellen, deren Hauptwerk in deutscher Sprache entstanden ist oder die mindestens einen erheblichen Teil ihrer Werke in deutscher Sprache verfasst haben, darunter etwa der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr erfolgreiche Alexander von Oppeln-

1

Becker ist spätestens seit diesem Erfolg in den Fokus germanistischer Forschung gerückt. Einen aktuellen Überblick bietet die Mainzer Magisterarbeit von Kai Mühleck. (Mühleck 2010)

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Bronikowski (vgl. KałąĪny 1996), aber auch Stanisław Przybyszewski (der bekanntlich als gefeierter deutscher Schriftsteller Einzug in Krakau hielt), Thaddäus/Tadeusz Rittner, Radek Knapp, jüngst (freilich nur punktuell) Adam Soboczynski, Dariusz Muszer und andere. Damit stellt sich Becker einer künstlerischen Herausforderung der Gegenwart, die im polnisch-deutschen Diskursspektrum wohl vor allem aus ideologischen Befürchtungen gerne umgangen wird: der Gestaltung des aus zwei Quellen, der polnischen wie der deutschen, gespeisten ästhetischen Monologs anstelle des immer wieder unterbrochenen, der Übersetzung bedürfenden polnisch-deutschen Dialogs. Insofern eröffnet sich eine Chance zur Dominanz der Ästhetik über die Ideologie, wenn Becker – dem nach eigener Aussage »Gombrowicz in den Knochen« steckt2 – nicht als Sprecher Polens in Deutschland, sondern als individueller Autor mit individueller (mehr regionaler als nationaler) Geschichte und ebensolcher künstlerischer Intention auftritt, um deutsch-polnischen Verschwisterungen nachzugehen.3 An Beckers neueren Romanen – seine umfangreiche Lyrik muss hier unberücksichtigt bleiben (vgl. Becker 2008a), – lässt sich dieser Prozess der Verschmelzung von Diskurslinien verfolgen, der in der vielsträngigen kulturellen Tradition einer Region wie Masuren seinen Anfang nimmt und dort auch sein Ziel zu finden scheint. Damit bilden Beckers Texte im Spiel mit Stereotypen eine spezifische Variante der literarischen Gestaltung eines europäischen Grundthemas, nämlich jenes der »Kulturmischung«. (Dąbrowski 2007/2008: 301) Neben dem Erzählband Die Milchstraße (2002) und der Novelle Die Zeit der Stinte (2006) liegen von Artur Becker gegenwärtig sechs Romane vor: Der Dadajsee (1997), Onkel Jimmy, die Indianer und ich (2001), Kino Muza (2003), Das Herz von Chopin (2006), Wodka und Messer (2008) sowie Der Lippenstift meiner Mutter (2010). Besondere Relevanz dürfte dabei den vier neuesten Romanen seit 2003 zukommen, die auffällige Sujetäquivalenzen aufweisen. Durchweg steht als Protagonist ein aus Nordostpolen nach Deutschland pendelnder bzw. migrierender und insofern biografisch mit dem realen Autor mindestens entfernt verwandter Mann im Zentrum der Handlung; durchweg erweist sich Deutschland (genauer eigentlich immer dessen Norden) getreu traditioneller Topologie als auskömmlicher, dabei aber emotional mangelhafter Lebensraum, aus dem früher oder später zu fliehen ist – natürlich zurück in den polnischen Norden, nach Masuren, von wo sich der reale Autor Artur Becker 1985 nach Deutschland begab. Man kann eine ganze Liste von räumlichen, figuralen und

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So Becker bei einem Leseabend in Dresden am 9. November 2006.

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»Bei aller Sympathie für beide Nationen: Wir kennen einander immer noch viel zu wenig, obwohl wir Geschwister sind.« (Becker 2006a)

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narrativen Versatzstücken aufstellen, die in unterschiedlichen Varianten in die zumeist eher karge äußere Handlung eingebaut sind – Masuren allen voran, das auch im Westen Präsenz beansprucht, aber auch den Doppelgänger, den Outsider, den kleinen und den großen Kriminellen; westliche Populär- und Hochkultur aller Art vom Film über die Musik bis zum Kommerz (vgl. etwa die obsessive Nennung von Markennamen). Daraus ergibt sich – besonders die beiden letzten Romane bestätigen dies – ein fiktionaler Mikrokosmos, in dem ähnlich wie in William Faulkners »Yoknapatawpha« County oder in Ingmar Villqists »Ellmit« immer weitere Details und Verflechtungen, Figurenbiografien aufgedeckt und im Dialog der Texte untereinander ästhetisch problematisiert werden. Fixpunkt in Beckers Romanen ist immer wieder seine masurische Geburtsstadt Bartoszyce – Bartenstein – Rosenthal an der Grenze zur Oblast’ Kaliningrad. Bartoszyce, dessen Stadtväter 2009 den Hl. Bruno von Querfurt als Symbol der ethnischen und religiösen Toleranz zum Patron erkoren, ist wie ganz Masuren von der wechselseitigen Durchdringung zahlreicher kultureller Traditionen geprägt. Seit der Frühen Neuzeit entwickelte sich in dieser Region eine besondere Form ethnischen, konfessionellen sowie über die gemeinsame pruzzische und insofern weder slavische noch deutsche Vergangenheit der Region befestigten Zusammenlebens, vor dessen Hintergrund die nationale Scheidung von Deutschen und Polen sich als Abweichung vom Normalfall darstellt. Andreas Kossert hat in seinem Masuren-Buch (Kossert 2001; vgl. auch Kossert 2007) detailliert die exklusive Situation der Masuren gezeigt, die – ähnlich den monarchistischen Sorben in Deutschland – slavischsprachig und doch dem deutschen Herrscher treu ergeben waren (wie geringschätzig diese Treue vergolten zu werden pflegte, steht auf einem anderen Blatt): »Für einen Masuren war es überhaupt kein Widerspruch, auf Polnisch stolz zu verkünden: Jestem Prußakiem (Ich bin ein Preuße). Die Masuren gaben bis ins 20. Jahrhundert ein Beispiel dafür, dass Sprache, Kultur und nationale Identität nicht kongruent sein müssen.« (Kossert 2001: 17, Herv. i.O.) Bartoszyce eignet sich angesichts dieser Geschichte denkbar gut für die künstlerische Modellierung deutsch-polnischer Verwandtschaften nach dem Ende der Alleinherrschaft nationaler Deutungsmuster. Für Beckers Neigung zum ironischen Spiel mit kulturellen Vereindeutigungszwängen spricht schon allein seine Behandlung des Umstands, ausgerechnet in Verden an der Aller gelandet zu sein – nachdem er aus Bartoszyce nad Łyną bzw. Bartenstein an der Alle ausgewandert ist. Dorthin zieht es als Ersten der hier untersuchten Protagonisten Antek/Arnold Haack/Hak, den Kartenabreißer im Bartoszycer Kino »Muza«, das im spätsozialistischen Polen der 1980er Jahre das einzige kulturelle Fenster nach außen ist. Der 1953 (vgl. Becker 2003: 37, 38, 146) geborene Antek, Sohn der deutschen

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Bartensteiner Inge Döhring und Berthold Haack, führt (wie auch später fast alle anderen Romanprotagonisten) als Gelegenheitsarbeiter in Deutschland eine Doppelbeziehung mit einer deutschen und einer polnischen Frau (bisweilen auch noch mehr), die er mit je unterschiedlich exaltierten Ausreden ruhigstellt, im Falle der Deutschen Lucie etwa folgendermaßen: »Bei uns besteht kein Unterschied zwischen dem 1. Sekretär und einem Tellerwäscher. Wir kommen nirgendwo jemals an – weder in Westberlin noch in San Francisco. Wir treten auf der Stelle, selbst wenn es uns gelingt, ein Visum bei der amerikanischen Botschaft zu ergattern. Mit anderen Worten: Wir wissen mit Wohlstand nichts anzufangen und fühlen uns nur in Krisenzeiten wirklich herausgefordert. Wie echte Samurai. Hexagonales Schachspiel oder Unterwasser-Pingpong – in solchen Disziplinen gewinnen wir immer. Und für dich ist das Kino nur ein langweiliger Freitagabend, an dem du nichts Besseres zu tun hast. Nein, ich muss wieder zurück.« (Becker 2003: 32)

Anteks die Romanhandlung einleitende neuerliche Rückkehr nach Bartoszyce im Juni 1988 beginnt mit einem Unfall: Der Westarbeiter zerlegt seinen ›Strichachter‹ (ein zwischen 1968 und 1976 gebautes Mercedes-Modell mit Kultstatus) kurz vor der Ankunft in Bartoszyce; den nach dem Unfall Bewusstlosen haben Diebe bestohlen, sodass Antek nur noch Badehose und Turnschuhe besitzt. Das mit seinen Freunden lange geplante Projekt einer privatwirtschaftlichen Übernahme des Kinos gerät unter anderem dadurch in Gefahr; Antek hatte die stolze Summe von 7.000 Mark aus Deutschland mitgebracht (ebd.: 23) – die er wenige Tage später von Beata Kuglowska aus anderer Quelle wieder erhalten wird. (Ebd.: 228). Im Folgenden wird mittels vieler Rückblenden Anteks polnische Geschichte erzählt, die ihn seit seiner Jugend in ihrer Verschränkung mit der deutschen Geschichte beschäftigt: »Mal vergrub er sich in alten Stadtplänen von Bartoszyce. Er verglich die alten deutschen Straßennamen mit den polnischen und fragte sich, wer in diesen Straßen, deren manches Haus seit 1945 unverändert geblieben war, einmal gewohnt haben mochte. Er konnte viele Stunden über bräunlichen, vergilbten Fotos verbringen, die ein unbekanntes Gesicht seiner Stadt zeigten. Die Synagoge und das Schloss der Kreuzritter gab es nicht mehr. Aber die eiserne, zusammengenietete Balkenbrücke, die über der Łyna, der Alle, hing, war immer noch da. Sie verband die Altstadt mit der Neustadt, wo die Plattenbauten, die Wohnblöcke und das neue Krankenhaus standen. Die Bewohner von Bartoszyce nannten dieses Viertel Hamburg, weil dort vor allem chamy und burki lebten: Bauern und Köter.« (Ebd.: 51, Herv. i.O.)

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»Er hatte in der Schule gelernt, dass seine Stadt einmal Bartenstein geheißen hatte. Er besaß alte Karten mit den ursprünglichen Namen. Aber ganz am Anfang, als Gott Elohim Adam schuf, als die Kreuzritter die pruzzischen Heiden, die Barten und Natanger, die Galinder und die Warmier, bekehrt oder getötet, wie es die Spanier in Südamerika mit den Inkas und Mayas getan hatten, hieß seine Stadt noch anders: Rosenthal. Nein, der Name hätte nichts mit Juden zu tun, erklärte die Polnischlehrerin den Schülern, damals, vor fast dreißig Jahren.« (Ebd.: 137, Herv. i.O.)

Zurück in Bartoszyce, sucht Antek die Kinodirektorin Teresa Sawicka auf, mit der er ebenso erotische Beziehungen unterhält wie mit seiner polnischen Geliebten Beata Kuglowska, Witwe des unlängst in einem Mercedes (!) im Blankisee ertrunkenen August Kuglowski. Dessen Hinterlassenschaft besteht u.a. in einem DS (also einem Citroën mit ähnlichem Kultstatus wie der Strichachter), der Antek fürderhin als Vehikel dient, sowie im Sexappeal des Deutschen als MännerSprache, der Beata erlegen ist: »[Beata] liebte es, wenn er Deutsch sprach. Sie hatte es auch bei ihrem Mann geliebt – zumindest am Anfang, als sie sich kennenlernten. August hatte zusätzlich noch den alten ostpreußischen Akzent gehabt. Sie verstand auch einiges, jedes dritte, vierte Wort, was viel war, nur das Reden fiel ihr schwer.« (Ebd.: 95)4

Antek wie August erscheinen mit ihrem masurisch-ostpreußischen Hintergrund dadurch als die authentischeren, weil traditionsreicheren bzw. autochthonen Deutschen. Dies zeigt sich besonders an der Konfrontation mit zwei in Beatas Feriensiedlung urlaubenden Lübecker Schweinezüchtern (ebd.: 190), Wilfried und Gerhard, die für die selbstverständlich und mühelos erlangte Teilhabe an westlich-kapitalistischer Populärkultur mit kultureller Stagnation bezahlen. Sie hören nicht wie Antek und seine Genossen Jazz, sondern Rock: »[Antek] sah sie sich genau an: Sie trugen beide Jeans und Turnschuhe und gaben sich mit ihren vierzig Jahren jugendlich, waren aber in den Siebzigern stehen geblieben, bei Neil Young und Peter Gabriel und Bob Dylan. Sie fuhren S-Klasse, und der Aschenbecher war immer voller Kippen, und in ihrem Radio lief pausenlos Rock. Sie waren nett, hilfsbereit

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Umgekehrt empfindet Antek Lucies Versuche, den Namen seiner Geburtsstadt auszusprechen, als erotisch: »Sie war die einzige Person, die den Namen seiner Stadt korrekt aussprechen konnte. Und das gefiel ihm. Er fand es erregend, wenn sie Bartoschitze sagte.« (Ebd.: 265, Herv. i.O.)

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und gehörten zu der Sorte, die sich nur beschwerte, wenn der Wagen vorzeitig zu rosten begann oder die Nachbarn zu laut Musik auflegten.« (Ebd.: 104)

Solche Sorgen haben die Cineasten rund um das »Muza« nicht; ihnen geht es – unter wachsamer Beobachtung des Geheimdienst-Funktionärs BrzeziĔski – um die Bekämpfung des Kommunismus mittels der kinematografischen Kunst: »Sie wollten doch das System von innen angreifen, damit es direkt im Zentrum, im Kernreaktor selbst, zu einer Explosion käme, wie in Tschernobyl, weil es mit der SolidarnoĞü nicht geklappt hatte.« (Ebd.: 155) Wie das im Jahr 1988 aussehen kann, zeigt die in der Mitte des Romans platzierte Episode der vor einem ausgewählten Publikum, darunter der Parteisekretär von Bartoszyce Kucior, gezeigte Krótki film o zabijaniu von Krzysztof KieĞlowski (1988), der aus der Fülle von über den Text hinweg erwähnten Meilensteinen der westlichen Filmgeschichte (hinzu kommen Wajda und PolaĔski) herausragt. Es ist ausgerechnet dieser Film, der den Parteisekretär davon überzeugt, Antek und seinen Freunden das Kino tatsächlich zum privaten Betrieb zu verpachten: »›Irgendjemand wird sich verantworten müssen – dafür, dass dieser Film bis jetzt in Bartoszyce nicht gezeigt wurde. Wir sind eine große Nation – wir produzieren die wahre Kunst, die unsere Wirklichkeit nicht verunstaltet oder gar verhöhnt. […] der Mörder des Taxifahrers wurde gefasst und mit dem Tod bestraft – zu Recht. Er musste sterben. Keine Frage! Sie, Herr Robert und Herr Antek, haben mich überzeugt – für solch großartiges Kino, das nicht lügt, muss ich Sie belohnen.‹« (Ebd.: 162)

Antek erklärt Teresa, Kucior habe den Film als »sozialistischen Realismus« (ebd.: 179) betrachtet. Kucior wiederum verkündet am Tag nach der Filmvorführung, die Verpachtung werde nichts am bisherigen Zustand ändern, allerdings werde er selbst künftig am Gewinn des Kinos beteiligt sein (ebd.: 177). Künstlerische Opposition, und sei es indirekte wie diejenige der Auswahl von Filmen für das städtische Kino, läuft in einem ideologisch bereits reichlich indifferenten System ins Leere. Aber auch im privaten Leben fruchtet die zur Schau gestellte Tapferkeit nicht: Anteks zusammen mit den Lübeckern unternommener Tauchgang zur Bergung der Leiche August Kuglowskis – dessen in Deutschland aufgewachsene Kinder mittlerweile ebenfalls eingetroffen sind – führt nur zum Mercedes, nicht zur Leiche von dessen Halter. Anteks pop-dissidentische Lage lässt eindeutigere Konstellationen nicht zu:

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»Seine Freiheit definierte sich im Ostblock nicht durchs Geld. Sie war unbezahlbar und unbegrenzt, denn sie war ideologischer Natur. Ein totalitäres Regime gab jedem die Möglichkeit, die Rolle des Dissidenten zu spielen, und er musste dafür nicht einmal der Gewerkschaft SolidarnoĞü beitreten. Sein Parteibuch hatte Antek vor Teresas Augen mit einer Schere zerschnitten, wie eine Kreditkarte, als sie ihm am 13. Dezember 1981 mitteilte, dass das Kino Muza wegen des Kriegsrechts bis zum 10. Januar geschlossen werden müsste.« (Ebd.: 230)

Nur der Geheimdienst funktioniert noch so gut wie in Anteks Geburtsjahr (er ist kurz nach Stalins Tod zur Welt gekommen); BrzeziĔski stellt Antek vor die Wahl, entweder wie August Kuglowski zu Tode zu kommen oder als Spitzel in Westeuropa – gegen einen Vorschuss von wiederum 7.000 Mark (ebd.: 233) – zu arbeiten. Der Staat ist zur Stasi geworden – eine Feststellung, die Antek zur Flucht aus Bartoszyce veranlasst. In Deutschland sind es nicht Kuglowskis Kinder, sondern ein philosophierender Kollege Anteks im Krankenpflegerdienst, der dem unter Verfolgungswahn leidenden Deutschpolen rät: »Du musst dich von deinen Wurzeln losreißen und jedes Mal eine neue Geschichte schaffen, die deine Eigene ist. Das und nur das zählt. Die Vergangenheit und die unzähligen Toten vor dir behindern dich nur bei all deinen Vorhaben. Oder andersrum gesagt: Jeder Mensch soll Adam werden.« (Ebd.: 282) In Deutschland aber erwarten Antek nur die vielen Geister der Vergangenheit, darunter ein D.P. (Dietrich Pabst?), der dem Helden seine unauflösliche Verknüpfung mit dem kommunistischen System vor Augen führt und erneut Kooperation verlangt. Antek sieht sich – wie der Epilog ausführt – angesichts dieser lückenlosen Verfolgung seines Privatlebens im Westen zu nichts anderem mehr als dem Selbstmord mit Hilfe von August Kuglowskis DS-Citroën in der Lage. Weder die – generell eher erotischen – Integrationsangebote aus dem Westen noch die ihm nachgereiste Teresa vermögen an der unauflöslichen Verkettung des masurischen Kenners des Spätsozialismus in dessen Strukturen des ›my i oni‹ etwas zu ändern – die Rechnungen müssen beglichen werden. Antek als früher Protagonist in ›Bartoszyce County‹ geht insofern gleichsam folgerichtig zu Grunde. In Das Herz von Chopin (Becker 2006b), dessen Handlung fünfzehn Jahre später, also 2003, spielt, ist der expositorische Bericht des Protagonisten Chopin in die Form einer langen Lebensbeichte am Tresen des Bremer Cafés ›Piano‹ eingebettet. Chopins Zuhörer, der Linguist und Exkommunist Leo Bull, erfährt nach und nach die komplette Geschichte des Bartoszycer Emigranten, der in das »Gummiohr« (ebd.: 22) des Westdeutschen spricht. Hier ist der Protagonist deut-

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lich jünger, nämlich Jahrgang 1965, im Jahr der SolidarnoĞü also ein voll im Saft stehender Jugendlicher. Seinen Spitznamen bekommt er 1981, als er bei einem Konzert der in den 1980er Jahren ungemein erfolgreichen polnischen Rockband »Bank« in Bartoszyce die örtlichen Punker verprügelt: »Der Auftritt von ›Bank‹ war ihr bester. Die Songzeile ›Ich bin der Herrscher der Welt‹ war mir damals wie auf den Leib geschnitten gewesen. Ich gewann meinen Kampf gegen die schwarz-weißen Punks und trug nicht einmal ein blaues Auge davon. Dafür standen mir die Haare zu Berge, als hätte ich einen Stromschlag gekriegt. Ich drohte unter meiner elektrischen Frisur zu verbrennen, doch erntete ich großen Applaus, und aus der Menge rief mir mein Kumpel Andrzej aus vollem Hals zu, so bedächtig wie Moses zu seinem Volk: ›Hey! Du siehst so stinkegeil aus wie der Chopin nach seinen Konzerten!‹ So kam ich zu meinem Spitznamen, und selbst meine Eltern nannten mich Chopin.« (Ebd.: 25)5

Unglücklich verliebt in die Warschauerin Jolka, verlässt Chopin, der auch nach Aufhebung des Kriegsrechts 1983 kein »Soldat der Ewigen Nacht und der Roten Fahne« (ebd.: 11), also des Todes und der Liebe, werden will, das Land auf der Suche nach einem Leben in Freiheit: »Meine Wahl fiel auf Deutschland. Es war unser bester Nachbar und Feind. Außerdem wurde ich in Bartoszyce geboren, und bis 1945 hieß mein Geburtsort Bartenstein. Ich hatte in der ehemaligen Wehrmachtskaserne eine Ausbildung absolviert, und auf dem katholischen Friedhof in der Nähe der ostpreußischen Molkerei standen immer noch Grabsteine mit deutschen Inschriften. Ich hatte also gute Voraussetzungen, dachte ich mir, eines Tages ein Bundesdeutscher zu werden, zumindest auf dem Papier, und mehr erwartete ich nicht.« (Ebd.: 26-27)

Mit dem so nostalgischen wie zerstrittenen polnischen Emigrantenmilieu in Westdeutschland kann Chopin ganz und gar nichts anfangen. Er nimmt ein Studium auf, hängt es aber 1996 an den Nagel, um als dritter Teilhaber in die Gebrauchtwagenfirma seiner Bekannten Lukas und Volley einzusteigen und sich auf diese Weise am geldgierigen deutschen Staat zu rächen. »Ich dachte mir, wenn das Interesse des deutschen Staates, dieses Menschenfressers und Sklavenhalters, nur dem Geldscheffeln galt, so würde ich versuchen, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um diesem Staat möglichst viel Geld vorzuenthalten. Tak mi

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Der Song Jestem panem Ğwiata von 1981 war einer der größten Erfolge von »Bank«.

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dopomóĪ Bóg, sagte ich mir, als spräche durch mich meiner Mutter Stimme: So wahr mir Gott helfe.« (Ebd.: 36, Herv. i.O.)

Das Geschäft läuft hervorragend »in der BRD Herbert Grönemeyers« (ebd.: 45), bis Chopin am 11. August 1999 (als eine totale Sonnenfinsternis über Mitteleuropa eintritt) in der Kundin Maria Magdalena Sobotta die Liebe seines Lebens zu finden scheint. Ihr Vater Horst erinnert Chopin an eine Figur aus Zbigniew Nienackis Roman Wielki las (1987); ansonsten haben die Sobottas mit dem Osten nichts zu tun, brauchen also ihre Herkunft nicht zu tarnen wie Chopin, der je nach Bedarf eine andere Variante anbietet: »Hegte jemand wegen meines Akzentes und des harten Rs an meiner germanischen Herkunft Zweifel, sagte ich, ich sei Ostpreuße. Für die Rentner war ich somit ein Heiliger. ›Sie sind ein so genannter Vertriebener!‹, sagten sie gerührt. Für junge Leute war eine andere Strategie angesagt. Denn in ihrem schwarz-weißen Schubladendenken, das sich Political Correctness nannte, stellten sie sich unter einem Ostpreußen ein Fossil aus der Nazizeit vor, und das war nicht gerade die Rolle, die ich in der Hansestadt spielen wollte. Jungen Käufern sagte ich deswegen, in meinen Adern flösse das Blut von vier Sippen: deutsches, polnisches, russisches und jüdisches. So! Und es entsprach sogar der Wahrheit.« (Ebd.: 81, Herv. i.O.)

Der getriebene Gebrauchtwagenhändler Chopin erobert schließlich die auf einem Ohr taube (ebd.: 110) Maria, deren Tochter Paulina aus einer früheren Beziehung (mit einem Günter, vgl. ebd.: 143) stammt. Es deutet sich an, dass Chopin mit ihr glücklich werden, genauer gesagt den migrantischen Bruch in seiner Biografie überwinden könnte. Klares Ziel ist insofern Chopins vollständige Germanisierung bzw. die Tilgung seines polnischen Hintergrunds, der seine Landsleute wie die Emigranten des 19. Jahrhunderts wirken lässt: »Jedes Mal, wenn ich erwähnte, dass ich aus Polen käme, wurde ich mit Fragen bombardiert, auf die ich keine Antworten hatte – andersrum gesagt, ich hatte es satt, wie ein Experte für den Zusammenbruch des Kommunismus dazustehen, den Säbel meines in Litauen geborenen Großvaters herumzuschwingen und herumzuschwadronieren, warum die Welt in einem fort politische Systeme hervorbrachte, die so kurzlebig waren wie Schmetterlinge.« (Ebd.: 136-137)

Aber so einfach gestaltet sich die Sache nicht: Chopin, dessen Leben mit Maria, ihrer Tochter und ihrem Vater immer alltäglicher wird, leistet sich einen Seitensprung mit der Freundin seines Kompagnons Volley; Maria erfährt davon und

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gibt Chopin beinahe den Laufpass. Auch die Suche nach einer gemeinsamen Wohnung ist komplizierter als erwartet: In seinen nostalgischen Phasen braucht auch ein Chopin seine Dachterasse, von der aus er sich an den masurischen Dadajsee, an seine ehemalige Heimat im »sozialistischen Gottesstaat« der PRL (ebd.: 187) erinnern kann. Außerdem eskaliert angesichts der Langeweile einer Autohändlerexistenz Chopins Alkoholkonsum, indem er die »Todesgesänge« (ebd.: 195) in seinem Inneren betäubt. Eine Schwangerschaft Marias endet vorzeitig mit einer Fehlgeburt; vom Alkohol wechselt Chopin auf Marihuana über. Die Situation eskaliert, als Chopin gegen den Wunsch Marias sich im Frühjahr 2003 am ersten wirklich großen Autogeschäft der Firma mit dem Großhändler Korzeniowski aus Posen beteiligt. Der »Millionär und einer der wichtigsten Autodealer in seinem Land« (ebd.: 227) lädt im Zuge der Verhandlungen auf seinen ›Landsitz in Masuren‹ ein. Entgegen allen Befürchtungen geht das Geschäft reibungslos über die Bühne; allerdings muss Chopin zu seinem Entsetzen erfahren, dass seine Kompagnons ihn um mehrere 10.000 Euro betrogen haben. Chopins Erschütterung kennt keine Grenzen, als er zum ersten Mal erlebt, wie »hinterfotzig« der Westen, in dem ihn auch noch seine Frau verlässt, im Gegensatz zu den vergleichsweise aufrichtigen Kommunisten sein kann: »Unter den Kommunisten war wenigstens eine Sache klar: Sie klopften einem auf die Schultern, beteuerten, dass sie alles Menschenmögliche unternommen hätten, um einen Missstand abzuschaffen, nur leider habe es nicht geklappt. Man wusste, dass sie einen anpinkelten und in den Fleischwolf warfen, doch sie taten es mit Klasse. Man starb wie ein Held. Mit einer Medaille auf der Brust, selbst wenn sie einen in die Verbannung geschickt hatten. Sie waren nicht hinterfotzig. Sie sagten: ›Genosse! Wir müssen Sie leider erschießen! Sie sind schuldig!‹ Hier nicht. Hier waren die Flüsse unaufhaltsam, ungehorsam und wahrhaftig. Wie die Weser. […] Ich wurde aussortiert und belogen. Man hatte mich übergangen. Es wurde mir nicht dargelegt, warum ich erschossen werden musste. Und das war feige. Und hinterfotzig. Man verkaufte mich für dumm.« (Ebd.: 237, Herv. i.O.)

In der Handlungsstruktur zeigt sich hier eine Analogie zu Anteks Schicksal in Kino Muza: Die totale Enttäuschung des – zugegebenermaßen nicht übermäßig klug handelnden – Protagonisten, eines Mittdreißigers, über seine Umwelt. BrzeziĔski als Geheimdienstler in der moribunden PRL kehrt in Gestalt des Kapitalisten Korzeniowski in der Dritten Republik wieder, die wie ganz Osteuropa zu einem gigantischen Absatzmarkt für Autos geworden ist. An diesem Punkt endet Chopins Bericht an Leo Bull. Der dritte Teil des Romans unter dem Titel »Unser Warteraum« umfasst die Schilderung der Flucht

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Chopins in Richtung der »größten psychiatrischen Anstalt unserer Bundesrepublik« (ebd.: 244), nach Berlin. Während seiner Erzählung hatte Chopin sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken und seinem Gegenüber offenbar versprochen, den Antiquitätenladen seiner Schwester in der Hauptstadt zu übernehmen: »Im Suff war ich ein gottverdammter Pole. Einer wie Witold, der jeden retten und heilen, jedem seinen Traum schenken wollte. Scheiß slawische Romantik, scheiß slawischer Messianismus – Chopenismus pur.« (Ebd.: 248) Leo Bull, der Chomsky-Spezialist, wirkt geradezu therapeutisch auf Chopin ein; er erklärt ihm seine Sicht der Dinge: »›Du hast vergessen, wo du herkommst, und wolltest um jeden Preis so werden wie Lukas und Volley. Und das war falsch. Für uns wirst du immer der Fremde sein. Daran musst du dich gewöhnen. Bewahre deinen Stolz, denn du scheinst nicht zu ahnen, wie gern wir Deutschen Chopin gewesen wären. Es ist ganz seltsam, aber wir Deutschen wollen kollektiv immer die anderen sein. Aus dieser Selbstverneinung sind unsere Genialität einerseits, unsere Bestialität andererseits entstanden.‹« (Ebd.: 263, Herv. i.O.)

Geheilt von dem Drang, Deutscher zu werden, kann Chopin den Ausstieg aus dem Autogeschäft vollziehen, dadurch Maria wieder für sich gewinnen und seine neue Existenz als Berliner Antiquitätenhändler vorbereiten. In dieser Situation erreicht ihn eine E-Mail seines ehemals besten Freundes Andrzej, der sich bitter darüber beklagt, wie schnöde Chopin ihm seinerzeit die Freundschaft gekündigt habe. Auf diese Weise kehrt die gesamte Vergangenheit in Bartoszyce wieder in ihre alten Rechte zurück, zwischen 1983 und 2003 klafft gleichsam eine Lücke von zwanzig verlorenen Jahren. Chopin wird als Verlierer im Kampf um die kapitalistische Assimilation nach Berlin gehen und damit die Distanz nach Masuren immerhin halbieren. Das ›Herz‹ von Chopin, das in diesem Roman wie gezeigt ordentlich gebeutelt wird, ist in ironischer Brechung romantischer Topoi von seinen Verwundungen immerhin so weit genesen, dass es für eine gewöhnliche Beziehung samt Familiengründung und unspektakulärer beruflicher Existenz reicht. Die romantischen Ideale aus der Bartoszycer Jugendzeit freilich, der Traum von der ewigen Freundschaft, ist in Westdeutschland jäh zu Ende gegangen: Dort kann man als Migrant – aber auch als Einheimischer – nur Geschäftspartner, aber keine Freunde haben. In Wodka und Messer (Becker 2008b), dem ein Nabokov-Zitat vorangestellt ist (in Das Herz von Chopin waren es u.a. Zitate von Singer und Gombrowicz) heißt der 1960 geborene Held Kuba Dernicki (ein Bauer Dernicki – dessen Sohn Darek hieß – war messerschwingend bereits in Kino Muza vorgekommen, vgl.

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Becker 2003: 187, 202). Er ist der Sohn des Ostpreußen Adelbert Dernicki, der 1967 die Untat seines Lebens begangen hat: »Kubas Vater Adelbert Dernicki arbeitete, wie alle ehemaligen Ostpreußen, die es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht geschafft oder für nötig gehalten hatten, nach Deutschland auszuwandern, in der Fischerei von Najdymowo, einem Dorf am gegenüberliegenden Ufer des Dadajsees. Er hatte im Wodkarausch nicht nur seine Frau, sondern auch den Bräutigam erstochen, weil er dachte, dass die beiden sich seit langem heimlich getroffen und auf der Hochzeit – obendrein – in einer dunklen Kammer gevögelt hätten.« (Ebd.: 20)

Ein weiteres Detail prägt Kuba in ähnlicher Weise wie Chopin aus Das Herz von Chopin: Das Motiv des Doppelgängers, hier grotesk überzeichnet in Gestalt eines toten Zwillingsbruders, den Kuba bis 1972 in seiner Bauchhöhle mit sich trägt und der bei seiner Beerdigung den Namen »Kopernik« erhält (ebd.: 24). Auch Kuba wird in den Jahren 1980/81 zum jugendlichen SolidarnoĞü-Aktivisten, zusammen mit seiner ersten großen Liebe Marta (Szapiro, vgl. ebd.: 364), der Tochter hoher Parteifunktionäre. In der Silvesternacht 1981 kommt Marta bei der Flucht vor dem Geheimdienst im Dadajsee ums Leben; Kuba entscheidet sich nach seiner Freilassung für die Übersiedlung nach Westdeutschland. Die Exposition ähnelt – schon die Hauptlinien der Handlung zeigen es – in vielerlei Hinsicht jener aus Kino Muza bzw. in gespiegelter Form jener aus Das Herz von Chopin; zeitlich allerdings siedelt der Autor die Primärhandlung in Masuren später, nämlich im Jahr 2006 an. Kuba ist somit in Bezug auf die Handlungszeit deutlich älter als die bisherigen Protagonisten. Auch dieses Mal reist der Protagonist – der im Westen geheiratet und Kinder gezeugt hat – in einem durchaus geräumigen Wagen nach Osten. Es geht Richtung Wilimy, der Fischersiedlung am Dadajsee, wo Kuba bei seinen Großeltern aufgewachsen ist und wo heute seine Tante Ala zusammen mit einem vorerst rätselhaften Ukrainer namens Wojtek sowie dem Juden ħdzisiek lebt. Wojtek spendet mit seinem melancholischen ›alten Lied‹ den motivischen Rahmen für den Roman: »Wodka und Messer,/Warmia und Masuren,/Würmer und Menschen,/Mein Hornissenland!/Wälder und Moränen,/Wasser und Monde!/Mein stacheliger See,/der du immer Sommer/und Winter heißt!//Wodka und Messer,/Weiber und Männer,/Wasser und Moränen./Wälder und Menschen./Warmia und Masuren./Weiden und Monde./Unsere stacheligen Mädels!/Winter und Monate./Da-daj, da-daj!« (Ebd.: 46-47; nochmals 234-235, sowie zum Schluss des Romans 469-470)

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Der Spiegelcharakter der Grapheme W und M unterstreicht das Kernthema von Eros und Thanatos, von Liebe, Gewalt und Tod, dem sich der Protagonist ebensowenig wie seine Vorgänger aus den früheren Romanen durch die Flucht in den Westen entziehen kann. Die geregelte, gesicherte Existenz im westlichen Kapitalismus – Kuba arbeitet als Programmierer ausgerechnet im Fleischereiwesen – wird sofort nach der Rückkehr zum unwirklichen Traumbild: »Kuba schlief mit der Hoffnung ein, dass nichts von dem, was er in Deutschland erlebt hatte, wahr gewesen war. Das Land existierte für ihn plötzlich nur in einem Atlas und wurde gelegentlich in einer Zeitung oder in Fernsehbeiträgen erwähnt. Er sprach kein Deutsch, er besuchte die erste Klasse des Lyzeums in Biskupiec und musste jeden Tag von Wilimy nach Czerwonka zum Linienbus trampen oder zu Fuß gehen. Er war wieder sechzehn.« (Ebd.: 50)

Wichtiger als das auskömmliche, erneut emotional defizitäre Leben in Deutschland wird für Kuba der Entschluss, das Messer, mit dem sein Vater seine Mutter umgebracht hat und das er immer noch besitzt, im gespenstischen Dadajsee zu versenken und auf diese Weise mit der Vergangenheit abzuschließen. Die Akteure in der masurischen Provinz, angefangen bei seiner Verwandtschaft über die Hotelbesitzerin Justyna, die Kubas Jugendliebe Marta auf unheimliche Weise ähnelt und mit der Kuba (natürlich) eine Affäre beginnt, den Bürgermeister von Biskupiec Janusz Król, der Marta aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Gewissen hat (vgl. ebd.: 369ff.), bis zum greisen Pfarrer Kazimierz, einem konvertierten Ostjuden, verhindern freilich die saubere Abrechnung mit dem Gestern, das sich in Wodka und Messer als außerordentlich gegenwärtig erweist. Wojtek, der angeblich die Sprache des Dadajsees versteht, prophezeit Kuba: »Aber der Dadajsee sagt, du willst dich rächen: an den Eltern von Marta. Und diese Rache wird dich dein Leben kosten.« (Ebd.: 93) Kazimierz, der angebliche Vater von Justyna, beauftragt Kuba mit dem Mord am Bürgermeister, der »›einer der beiden Staatssicherheitsoffiziere gewesen [sei], die in der Silvesternacht nach Wilimy kamen, um dich und Marta festzunehmen.‹« (Ebd.: 119) Król freilich hat wie weiland Offizier BrzeziĔski an Antek ein handfestes Interesse an Kuba, dessen Wissen um deutsche Rinderzucht er sich in Polen zunutze machen will (ebd.: 160, 192). Kuba präsentiert er eine bereinigte Biografie, der zufolge er nach den Streiks von 1981 Geschäftsmann geworden sei; zu seinen wichtigsten privaten Absichten gehört die Eroberung Justynas, die er zu seiner Frau machen will. BrzeziĔski und Korzeniowski scheinen hier gleichsam in Król verschmolzen. Alle Figuren tragen schwer an den

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Lasten der Vergangenheit, die in der Provinz nicht geringer sind als an den zentralen Schauplätzen polnischer Geschichte im ausgehenden 20. Jahrhundert: »Kuba setzte Wojtek in der Fischerei von Najdymowo ab. Er selbst mochte in Najdymowo nicht aussteigen, im Dorf der Ostpreußen und Lutheraner, in dem auch Ukrainer und Juden gelebt hatten. Wie es heute um sie bestellt war, konnte Kuba nicht beurteilen. Die Masuren gab es praktisch nicht mehr, und die große ›Neue Synagoge‹ von Olstzyn, eine Replik der Wiener Tempelgasse, war nur noch auf bräunlichen Fotos zu betrachten, und diejenigen Ermländer, die wie sein Vater nie von einem besseren Leben in Westdeutschland gesprochen hatten, waren keine Deutschen mehr, sondern Bewohner eines wiedergeborenen polnischen Staates auf dem heidnischen Pruzzengebiet der Natanger und Barten. Und trotzdem war ihre Heimat das weiße Niemandsland aus Kubas Alpträumen. Buchten, Wälder und Seeufer, Städtchen und Nester der von der Weltgeschichte Angespuckten. So ein Angespuckter hatte Kuba nie sein wollen.« (Ebd.: 197)

Die multiethnische Geschichte von Najdymowo/Neudims steckt in den gleichsam pompejanischen Ruinen »in diesem ostpreußischen Geisterdorf am Dadajsee« (ebd.: 243). Nach und nach stellen sich die – für die Provinz nicht weniger als für das Zentrum typischen – Verwicklungen der Figuren untereinander heraus. So hatte Justyna etwa bereits im Jahre 1980 als Studentin eine Beziehung mit dem verheirateten Janusz Król, der damals mit ihrem Vater befreundet war (ebd.: 227); die Beziehung endet, nachdem sie eine Schwangerschaft abbrach (ebd.: 418). Aber auch in der Lebensgeschichte des über neunzigjährigen Pfarrers Kazimierz deuten sich Abgründe an, die bis in die Zeit des Warschauer Aufstands sowie des »Tauwetters« der späten 1950er Jahre zurückreichen (ebd.: 345); Kazimierz dürfte auch etwas mit Martas Tod zu tun gehabt haben (ebd.: 372), er ist es, der bei einer Séance Kopernik aus Kubas Bauch heraus über das Schicksal des im Irak gefallenen Sohnes von Wojtek berichten lässt (ebd.: 389). Kuba ist letztlich nicht in der Lage, Schuldige und Unschuldige, Täter und Opfer klar voneinander zu trennen; ein Streitgespräch mit Janusz Król hilft ebensowenig weiter (ebd.: 431f.) wie eines mit Aaron Gersztlein, als der sich Kazimierz schließlich zu erkennen gibt (ebd.: 439): »Ich habe stets das kleinere Übel gewählt, und die Jesuiten wurden zu meinem Faktotum – sonst hätte ich Kommunist werden und für Stalin meine eigenen Leute morden müssen…« (Ebd.: 440) Bei einem Motorbootunfall, zu dem Wojtek durch Manipulation an den Benzinschläuchen beigetragen hat, kommt Janusz Król ums Leben; Justyna, die mit auf dem Boot gewesen war, überlebt jedoch, sodass Kubas Selbstmordversuch (er springt in der Annahme, Justyna sei tot, in den See) nicht zu gelingen braucht. Stattdessen begreift Kuba – im Zwiegespräch mit Kopernik –, dass er

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nur durch die Aufopferung seiner westdeutschen Existenz Martas tragischen Tod (an dem er sich selbst mit die Schuld zuschreibt) sühnen kann: »Nun, mein Brüderchen, antwortete ihm Kuba, ich soll deiner Meinung nach ein glücklicher Mann werden… Doch ich muss Jasmin und Sebastian opfern, wenn ich bei Justyna einziehe, mir in ihrem Bungalow am Wasser ein warmes Plätzchen suche und aufbaue, und ich will meine Zwillinge opfern – ich habe verstanden, dass der Tod von Marta nur so wiedergutgemacht werden kann. Ich habe die Sprache des Dadajsees verstanden, liebes Brüderchen… Ich weiß nun, dass unser See eigentlich niemanden töten will – er möchte bloß nicht mehr halbblind sein; es dürstet ihn nach unseren Augen, und deswegen hatte er den Bürgermeister und die sechsjährigen Jungen und Marta und andere umgebracht, und er wird es immer wieder tun.« (Ebd.: 454)

Anders als in den zuvor besprochenen Romanen reduziert sich hier der Westen, der in Kino Muza tödlicher Endpunkt des Protagonisten gewesen und in Das Herz von Chopin Austragungsort seiner Bewusstwerdung gewesen war, zur irrealen Kulisse, die lediglich in Gestalt der deutschen Touristen am Dadajsee sowie in Kubas Gedächtnis vorhanden ist. Die mythische Welt Masurens holt hier ihren verlorenen Sohn mit aller Macht zurück: Kubas Jahre im Westen – immerhin 23 – sind erneut verlorene Jahre eines fundamentalen Lebensirrtums gewesen. Sie sind übrigens im Text auch nicht markiert, während die Handlungszeit in den Jahren 1956, 1966 oder 1976 widergespiegelt wird. Authentisches, wahrhaftiges Leben gelingt dem masurischen Helden nirgends außer in Masuren selbst. In Der Lippenstift meiner Mutter (Becker 2010) schließlich, dem Zitate aus dem Matthäus-Evangelium, einer Studie zu Bartenstein von Johann Gottlob Behnisch aus dem Jahr 1836 sowie einem Pink Floyd-Album vorangestellt sind, heißt der Protagonist Bartek, sein Geburtsjahr ist 1968 (ebd.: 209-210), und der Handlungsort ist wie in Kino Muza wieder Bartoszyce – das hier aber in Anlehnung an den angeblichen früheren Namen Rosenthal als »Dolina RóĪ« bezeichnet wird6, sodass die Anspielung auf die pruzzischen Barten vom Orts- auf den

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Skeptisch hierzu Hein, der aus den verfügbaren Quellen zur Stadtgründung folgert: »[…] die bei späteren Geschichtsschreibern auftauchenden Nachrichten, dass die neugegründete Stadt zunächst Rosenthal gehießen (sic!) habe, wird mit umso größerem Misstrauen aufzunehmen sein, als die daran geknüpfte Angabe, dieser alte Stadtname komme noch im Stadtsiegel zum Ausdruck, nachweislich falsch ist [...].« (Hein 1932: 7)

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Eigennamen übergegangen ist.7 Die Handlungszeit ist diejenige, zu der die bisherigen Protagonisten Polen bzw. Masuren zu verlassen pflegten, nämlich das Jahr 1983. Zentrum des Geschehens ist die Schusterwerkstatt des ukrainischen Juden Lupicki, der von Barteks Großvater »Monte Cassino« (einem Sohn polnischösterreichischer Eltern, also einem Galizier, der auf Seiten der Wehrmacht seine Beine verloren hat) sowie Michał Kronek (der ebenso, wie der Bauer Dernicki die Verbindung zwischen Kino Muza und Wodka und Messer hergestellt hatte, hier das Bindeglied zwischen Wodka und Messer und dem Lippenstift meiner Mutter bildet) assistiert wird: »Bartek hielt die Schuster für glücklicher als seine Eltern und viele andere Bewohner des Städtchens. Dabei waren sie eigentlich Erzfeinde untereinander. Ein ehemaliger Wehrmachtssoldat, ein Pole namens Michał Kronek und ein verkappter Chassid und ukrainischer Jude, der sich für einen polnischen Patrioten ausgab, waren dazu verurteilt, miteinander zu leben: Tag für Tag und von morgens bis abends in diesem engen, verstaubten und zugerümpelten Raum. Fünfunddreißig Quadratmeter maß ihr privates Europa.« (Ebd.: 56)

Das Gegenstück zu den Schustern, die überdeutlich an ihren Ort gefesselt sind, bildet Barteks zweiter Großvater »Franzose«, der sich der Sesshaftigkeit in Dolina RóĪ als Eisenbahner immer wieder zu entziehen versteht und dadurch zum Vorbild des adoleszenten (fünfzehnjährigen, vgl. ebd.: 13) Bartek avanciert – obwohl »Opa Franzose« auf eine weniger ruhmreiche Liebschaft mit der ehemaligen Physiklehrerin und dichtenden Stalinistin Natalia Kwiatkowska zurückblicken muss. Der »Franzose«, nach eigener Aussage ein »Psychiker« und kein »Seelenmensch« (ebd.: 154), ist es, der – und darin zitiert Becker hier wie auch in den vorhergegangenen Romanen zum wiederholten Mal Czesław Miłosz – Bartek das »Lied von der Perle« erzählt (ebd.: 146-149) und so den Bogen von der Provinz in die Welt spannt. ›Westliche‹ Accessoires sind in diesem Roman deutlich stärker als mythische Sehnsuchtsobjekte gekennzeichnet als in den vorhergehenden Romanen. Bartek erklärt in Ermangelung einer realen Freundin den Filmstar Meryl Streep als »Geliebte des französischen Leutnants« zu seiner Partnerin. Vor allem westliche

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Barteks Mutter hatte während der Schwangerschaft beschlossen, »dass ihr erster Sohn den edlen Namen des pruzzischen Prinzen bekommen würde: Bartłomiej erinnerte selbst in seiner einfachsten Koseform, Bartek, an den heidnischen Prinzennamen – damit war Stasia glücklich, als sie einen Jungen gebar, das Schusterkind, den Schusterprinzen.« (Ebd.: 243)

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Rockmusik und darunter insbesondere die von Pink Floyd prägen die ästhetische Wahrnehmung im Winter nach Aufhebung des Kriegsrechts: »Manchmal, wenn das Schusterkind zu Hause allein war, ging es ins Badezimmer und schminkte sich die Lippen. Hinterher stellte es den Ghettoblaster, den sein Vater von einer Reise in die BRD mitgebracht hatte, auf volle Lautstärke. Bartek tanzte dann in der Küche zu seinen Lieblingssongs aus dem Doppelalbum und Meisterwerk der psychedelischen Rockmusik ›Ummagumma‹. Er rauchte dabei eine Zigarette und sang zu den Musikstücken seine eigenen Texte, in einer Sprache, die er sich selbst ausdachte und die dem Englischen nachgeahmt war.« (Ebd.: 75)8

In scharfem Kontrast dazu stehen die Frustrationen von Barteks Eltern: Krzysieks, eines Säufers, und Stasias, einer Grundschullehrerin und ständig geschminkten, alternden lokalen Schönheit: »Ungeschminkt kannte Bartek seine Mutter gar nicht mehr – ungeschminkt ging sie gar nicht auf die Straße, und selbst wenn sie am frühen Morgen aufstand, sah sie wie eine Hollywood-Diva aus. Das tägliche Make-up war ihre Maske, und sie brauchte diese Maske, weil niemand erfahren durfte, dass sie in Wirklichkeit ein fünfzehn Jahre altes Mädchen geblieben war, in ihrem Verstand und in ihrer liebesgierigen Seele. Und die Gottheit, die sie auf dem Schmuck- und Kosmetikaltar anbetete, verlangte von ihr absoluten Gehorsam.« (Ebd.: 87)

Zur lokalen Sensation geraten Ereignisse wie ein Viehunfall mit brennenden Kühen oder ein Schachduell zwischen Opa »Monte Cassino« und dem Friseur Tschossnek. Die drückende Stagnation in der Provinzstadt verleitet die Jugendlichen, angeführt vom »Aristokrat des Denkens und Handelns« Marcin (ebd.: 128), Sohn eines Geheimdienstfunktionärs (ebd.: 134), zur überspannten Planung von Anschlägen; so pathetisch wie Marcin äußern sich sämtliche Figuren des Romans: »Bevor ich nach Amerika gehe, müssen wir unseren Eltern einen Denkzettel verpassen! Wir werden ihre Zivilisation und Kultur vollständig vernichten – meine Idee ist bitterernst, und mein Plan sieht vor, dass wir Pyromanen werden. Wir werden zwar mit unseren Sabo-

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Ein Beispiel für dieses Fantasie-Englisch findet sich im Text zu Barteks Song »Der geborstene Himmel in meinem Kopf« (ebd.: 141). Gegenstück zu »Bank« aus Wodka und Messer ist hier etwa die Band »Perfect« mit ihrem Song Autobiografia (ebd.: 174).

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tageakten und Attentaten langsam anfangen, aber im Prinzip sollen die wichtigsten Gebäude unseres Städtchens in Brand gesteckt werden. Die Einkaufsläden am Marktplatz, die St.-Johann-Kirche, das Parteigebäude, das Kulturhaus, das Kino Zryw und das Kreisamt.« (Ebd.: 128, Herv. i.O.)

Als Brandbeschleuniger soll »budapren« (eigtl. Butapren), der Schusterleim Lupickis, den man auch schnüffeln kann (ebd.: 216), dienen. Wie nervös trotz des vermeintlichen Stumpfsinns in der winterlichen Provinz die Staatsmacht ist, zeigt sich am Verhör eines vermeintlichen Westagenten (Gunter Watzlaw), bei dem Barteks deutschstämmige Großmutter Hilde dolmetschen muss. Der ›Agent‹ erweist sich als Heimattourist, der aus Versehen ein Militärgebäude fotografiert hat (ebd.: 159). Barteks Tage gehen in dieser nervösen Spannung von Vergangenheit und Gegenwart dahin. Die erzwungene Lektüre der stalinistischen Gedichte Natalia Kwiatkowskas, ihre flammende Rede über den »Neuen Menschen« (zu dem sie noch des »Franzosen« uneheliche siebzehnjährige Tochter Joanna erziehen will, vgl. ebd.: 200), die alten Rechnungen zwischen den Erwachsenen gehen ihn nichts an: »Und Bartek verstand kein Wort von dem, was die Stalinistin Opa Franzose und seiner Tochter zu erklären versuchte. Ihm fielen die Augenlider zu, und er nickte mit dieser monoton-metallenen Stimme in seinem Kopf ein.« (ebd.: 200; vgl. auch 284; in fast wörtlicher Wiederholung 288) Insofern teilt Bartek auch nicht die Klage der Erwachsenen über den Zustand Polens und der Polen, wie sie hier dem »Franzosen« in den Mund gelegt wird: »Sie träumen davon, die Welt zu beherrschen; sie geben es natürlich nicht zu, aber sie wollen in Wahrheit auch eine Großmacht sein – wie Russland oder Amerika. Und was haben sie der Welt zu bieten? Polnisches Leinen – mehr nicht! Arme Länder haben nur Leinen und Frauen zu verkaufen. Guck dich doch bei uns nur richtig um, Bartek! So gut wie nichts können wir selber herstellen – außer ein paar Lappen! Alles kommt aus dem Ausland! Unsere heimischen Autos und Fernseher sind ein Haufen Schrott oder Lizenzen aus dem Ausland, und gäbe es Westeuropa nicht – und ich meine nicht irgendein Westeuropa, von dem sie uns ständig irgendetwas erzählen, sondern ein richtiges Abendland, das mit dem Ostblock nichts zu tun haben will -, würde der polnische Mann auf einem Esel reiten: in der linken Hand ein Stück Wurst, in der rechten eine Zigarette, und an seinem Leib ein Bauernrock aus Leinen!« (Ebd.: 211)

Neben die Klage als klassischen Baustein des polnischen Stereotypenkatalogs treten Elemente wie Familie oder Brauchtum: Barteks Verwandtschaft unternimmt am Sonntag nach dem üppigen Mittagessen einen »kulig«, eine Schlitten-

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fahrt, zum Teufelsberg im Stadtwald, wo der »Pruzzenkönig Widewut« (ebd.: 242) zusammen mit seinen Kindern Gustabalda und Bartel leben soll. Dort entdecken sie zu ihrem Entsetzen allerdings den »Stadtidioten« Norbert, den schwachsinnigen Sohn Schuster Lupickis, den der Nachwuchskriminelle Schtschurek mit Schnüren an einem Baum »gekreuzigt« hat. Bartek erlebt mit Lupickis Tochter Mariola seine sexuelle Initiation, sein Großvater »Monte Cassino« kommt todkrank ins Spital, die Stalinistin Kwiatkowska hält in ihren Tiraden nicht inne, die immergleichen Rochaden der Kleinstadtbewohner reißen nicht ab. So überrascht es kaum, dass anlässlich des Kulminationspunktes des Romans, der Beerdigung »Monte Cassinos«, Barteks Entschluss, dem »Franzosen« nach Danzig zu folgen, Dolina RóĪ also zu verlassen, feststeht. Die Elterngeneration, Krzysiek und Stasia, hat dem Jugendlichen rein gar nichts zu bieten; es ist die Großelterngeneration, die Bartek Identifikationsangebote machen kann. Begrenzt attraktiv ist dabei jenes des »Soldaten einer geschlagenen Armee«, der mit dem Spitznamen »Monte Cassino« eigentlich von seiner eigenen Biografie weg- und auf die Legionäre des Zweiten Weltkriegs hinweist. Der von »Monte Cassino« repräsentierte Teil von Barteks Verwandtschaft markiert das zwar ethnisch gemischte, dennoch in der vergessenen Provinzstadt endgültig fixierte Polentum der stagnativen 1980er Jahre, das zwischen Alkohol, Arbeit und Affären ganz in der Gewöhnlichkeit versinkt. Ob deutsch-, polnisch- oder ukrainischstämmig: alle teilen dasselbe hoffnungslose Schicksal. Es ist der unstete »Franzose«, dessen Lebensstil Bartek letztlich stärker überzeugt als die unreifen Oppositions- und Untergrundspiele seiner Altersgenossen. Die Schlussszene des Romans gehört Schuster Lupicki, der in seiner Verzweiflung auf einen Hauklotz einschlägt: »›Franzose!‹, brüllte er. ›Franzose, überall musst du dein Gift verteilen – das Gift eines Eisenbahners und Reisenden, das Gift eines Heimatlosen und Ungläubigen, und sobald die Menschen von deinem Gift etwas gekostet haben, wollen sie weder leben noch sterben. Sie wollen nur noch fliehen! Und ich will auch nicht mehr leben oder sterben! Ich will nicht mehr! Franzose! Warum musstest du bloß zu uns zurückkommen? Und ihr, ihr toten vergessenen Schuhe, warum glotzt ihr mich so an?!‹« (Ebd.: 308)

Die Zusammenstellung der Protagonisten der genannten vier Romane ergibt folgendes Raster:

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Protagonist

Geburtsjahr

Romantitel

Handlungszeit

Antek Hak

1953

Kino Muza

1988

Chopin

1965

Das Herz von Chopin

2003

Kuba Dernicki

1960

Wodka und Messer

2006

Bartek

1968

Der Lippenstift meiner Mutter

1983

Aus dem ganz erheblichen expositorischen Anteil der beiden mittleren Romane resultiert zusammen mit dem ersten und dem vierten, die selbst in den frühen bzw. späten 1980er Jahren handeln, eine Gesamtperspektive, die denn auch auf das zentrale Thema Artur Beckers verweist: Das Polen zwischen der ersten und der zweiten SolidarnoĞü, das Polen der letzten massenhaften Emigration vor dem Zusammenbruch des Kommunismus, das Polen der Protestphase rebellischer (und wie sich in den Figurenbiografien zumeist zeigt, erotisch reichlich tölpelhafter) Jungmänner, die von der regionalspezifischen kulturellen Prägung Nordostpolens ein für alle Mal bestimmt bleiben. Aus diesem Polen gibt es kein Entrinnen; die gesamte Realität der Nachwendezeit bleibt, ob in Gestalt von Geheimdienst-Kapitalisten oder von anderen mit der magischen, geheimnisvollfolkloristischen Aura der 1980er Jahre ausgestatteten Wiedergängern, permanent in Frage gestellt: Unwirklich ist nicht die spätsozialistische Vergangenheit in der Region, sondern die kapitalistische Gegenwart im größer gewordenen Europa. Auf den realen Kommunikationskreislauf transponiert heißt dies: Die emotionalen, ideologischen und nicht zuletzt auch die ökonomischen Bedingungen der (zentral-)europäischen Gegenwart finden ihre Begründung nicht so sehr in den Transformationen der 1990er Jahre, sondern in der kulturellen Sozialisierung von Beckers Generation in den 1980er Jahren. Es ist nicht so sehr das Polen von 1980/81 als jenes von 1983, das in Gestalt der jungen Emigranten sein kulturelles Gedächtnis weit über die Region hinaus trägt. Davon berichtet Becker mit jedem neuen Roman auf eindringlichere Weise. Zu fragen bleibt freilich, ob dieser Befund so verallgemeinert werden kann, wie es der »Mann ohne Schatten« (so spricht Becker in seinem anlässlich der Chamisso-Preisverleihung 2009 an den Namenspatron des Preises verfassten Brief über sich selbst) durch seine Texte nahelegt. Die innere Verwandtschaft seiner Protagonisten ließe ebenso gut die Vermutung zu, dass die – öffentlich über lange Zeit kaum thematisierten – ›bleiernen‹ Jahre zwischen 1983 und 1988 eine ganz spezifische Generationenerfahrung zur Folge haben, deren ästhetische Ergründung und populäre Vermittlung in eine gewisse Wiederholbarkeit mündet. In der in Beckers Romanen entworfenen Welt scheitern die Grenzgänger allesamt, nicht so sehr in räumlicher als in zeitlicher Hinsicht. Ob sie wie Kuba Der-

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nicki bereits Mitte vierzig oder wie Bartek gerade fünfzehn Jahre alt sind – sie alle verbleiben gleichsam in einem Zustand fortwährender Adoleszenz (der von einer die Romanhandlung bisweilen fast überlagernden Kopulationsgier der Protagonisten begleitet wird). Damit wiederum wäre ein uralter Topos des Europadiskurses angesprochen, der sich auch in Artur Beckers polnischen Romanen in deutscher Sprache zeigt: Aus dem »Jüngeren Europa« (Kłoczowski 1998) kann man scheinbar in der Tat nicht emigrieren.

L ITERATUR Becker, Artur (2003): Kino Muza, Hamburg. Becker, Artur (2006a): »Zeit der Wirren. Meine Deutschen, meine Polen und dazwischen meine Eberesche«. In: Frankfurter Rundschau, 31.10.2006, http://www.arturbecker.de/Varia/artikel/varia011.htm (18.09.2012). Becker, Artur (2006b): Das Herz von Chopin, Hamburg. Becker, Artur (2008a): Ein Kiosk mit elf Millionen Nächten. Gedichte, Bremen. Becker, Artur (2008b): Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken, Frankfurt a.M. Becker, Artur (2010): Der Lippenstift meiner Mutter, Frankfurt a.M. Dąbrowski, Mieczysław (2007/2008): »Die anthropologische Differenz von eigen und fremd und die Literatur. Anhand polnischer und deutscher Beispiele«. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 65, 301-325. Hein, Max (1932): Geschichte der Stadt Bartenstein 1332-1932, Bartenstein. Jaworski, Rudolf (2000): »Zwischen Polenliebe und Polenschelte. Zu den Wandlungen des deutschen Polenbildes im 19. und 20. Jahrhundert«. In: Birgit Aschmann/Michael Salewski (Hg.), Das Bild des ›Anderen‹. Politische Wahrnehmung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, 80-89. KałąĪny, Jerzy (1996): Fiktion und Geschichte. Alexander von Oppeln-Bronikowski und sein Geschichtserzählen, PoznaĔ. Kłoczowski, Jerzy (1998): Młodsza Europa. Europa ĝrodkowo-Wschodnia w krĊgu cywilizacji chrzeĞcijaĔskiej Ğredniowiecza, Warszawa. Kossert, Andreas (2001): Masuren. Ostpreußens vergessener Süden, München. Kossert, Andreas (2007): Ostpreußen. Geschichte und Mythos, München. Mühleck, Kai (2010): Artur Becker und die europäische Literatur, unveröffentlichte Magisterarbeit, Mainz. Plath, Jörg (2010): »Warten auf den Wenderoman. Die deutschsprachige Literatur nach 1989«. In: Dialog 93, 71-75.

Migrieren in der Nachbarschaft Über die Prosa von Krzysztof NiewrzĊda S ŁAWOMIR I WASIÓW

E INLEITUNG Im vorliegenden Artikel möchte ich ausgewählte Motive des Prosawerks von Krzysztof NiewrzĊda im Hinblick auf das Thema der Mobilität vorstellen. Auch wenn NiewrzĊdas literarische Reisen mitunter nicht sehr weit weg führen, so bilden sie gerade dank dem kleineren Maßstab treffsicher die Veränderungen der heutigen Zeit ab – der Schriftsteller braucht heute keine großen Reisen, um über wesentliche Angelegenheiten zu erzählen. Es reichen ihm Reisen in der Nachbarschaft, wie etwa eine Autofahrt von Stettin nach Berlin. Der Autor von Czas przeprowadzki (Zeit des Umzugs) ist eher ein Postemigrant, also jemand, der die Emigrationserfahrung verarbeitet hat; er hat seinen Emigratenstatus nicht vergessen, lebt und schreibt heute jedoch anders, denn die Wirklichkeit verlangt dies von ihm. Wie verändert sich heute die Emigrationsliteratur? Wie wird sie von der Mobilität beeinflusst, die immer alltäglicher, immer zugänglicher wird, etwa durch Reisen mit Reisebüros? Auf welche Art und Weise reagiert NiewrzĊda auf diese Veränderungen? Solche und andere Fragen möchte ich an seine Prosa stellen. NiewrzĊda distanziert sich nicht gänzlich vom Status des Emigranten, trotz allem verarbeitet er das Ethos eines Emigranten. In seinen Werken finden wir die für diesen Typ Prosa charakteristischen Motive wie das Reisen, das Erforschen neuer, unbekannter städtischer Territorien, das masochistische Eintauchen in die Inkongruenz mit einer anderen Kultur und deren Umwandlung in einen Triumph des eigenen Werks. Ich denke hier nicht nur an Rückbezüge auf die Klassik der Emigrationsprosa – in Czas przeprowadzki findet sich der Text Caravaggio i inni (Caravaggio und die anderen), der direkt an Gombrowicz’ Berliner Zeit

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anknüpft, die dieser auf den Seiten seiner Tagebücher verewigt hat (NiewrzĊda 2005: 75) –, sondern auch an vielsagende Signale einer Entfremdung. Beispielsweise verwendet der Schriftsteller, der des Deutschen mächtig ist, ebenso oft das Englische und neutralisiert auf diese Weise die Fremdheit zugunsten einer internationalen sprachlichen Vereinheitlichung. Selbstverständlich sind dies nicht alle möglichen Aspekte dieses Werks, das ebenso erzählerische Prosa wie auch Essays, autobiografische Aufzeichnungen eigener Erfahrungen und tiefgründige Kommentare zum Alltag umfasst. NiewrzĊda ist vor allem ein Prosaschriftsteller, der sensibel ist für die Topografie von Städten, ihre kulturelle Verschiedenartigkeit, und er verfügt über einen Sinn für die Analyse gesellschaftlicher Wechselbeziehungen. Man möchte sagen, dass er ganz einfach ein vielseitiger, mehrdimensionaler Schriftsteller ist, der neue Formen des Ausdrucks sucht – daher verlangt die Lektüre seiner Bücher nach einer Anstrengung, und die Interpretationen einzelner Texte können bisweilen den Kreis meiner Interessen übersteigen, den ich hier einleitend skizziert habe.

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NACH EINEM

H AUS

In seinem Essay »Bliskie pokrewieĔstwo« (Nahe Verwandtschaft) aus dem Band Czas przeprowadzki schreibt Krzysztof NiewrzĊda über die Suche nach seinem Ort: »Przeprowadziłem siĊ z Bremy do Berlina miĊdzy innymi po to, by czĊĞciej odwiedzaü Szczecin. Chciałem wiĊc poczuü bliskoĞü obu miast. Nie miałem ochoty wlec siĊ za kaĪdym razem przez cały Berlin, jadąc do Szczecina. Tym bardziej Īe moĪe to zabraü wiĊcej czasu niĪ sama podróĪ. Mieszkania szukałem [...] na Prenzlauer Berg i w Pankow. I znalazłem. Zaledwie kilometr od wjazdu na autostradĊ. W pełni wiĊc z tego korzystam.« (NiewrzĊda 2005: 150) [Ich bin unter anderem deswegen von Bremen nach Berlin gezogen, um Stettin häufiger besuchen zu können. Ich wollte also die Nähe der beiden Städte spüren. Ich hatte keine Lust, auf der Fahrt nach Stettin jedes Mal durch ganz Berlin zu schleichen. Umso mehr, als das länger dauern kann als die Reise selbst. Eine Wohnung suchte ich [...] im Prenzlauer Berg und in Pankow. Und fand sie auch. Kaum einen Kilometer von der Autobahneinfahrt. Das nutze ich also voll aus.]

NiewrzĊda benutzt in diesem Werk, wie auch in der ganzen Sammlung Czas przeprowadzki Fakten aus seiner eigenen Biografie – unter anderem rekonstru-

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iert er seine Ausreise aus Polen nach Deutschland in den 1980er Jahren. In diesem Fragment gesteht er, dass zwei Orte auf den Titel ›Heimat‹ Anspruch erheben könnten: Stettin und Berlin. Der Schriftsteller schätzt ihre Nähe, denn er reist zwischen ihnen ohne Anstrengung, er schreibt aber auch über andere Orte in Europa und vergleicht die topografischen und architektonischen Einzelheiten, findet Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Städten. Der Autor zeichnet im Weiteren ein geografisches Dreieck: »Czasem, gdy docieram do granicy, mam wraĪenie, Īe jeĞli spojrzĊ za siebie, to zobaczĊ jeszcze mój berliĔski dom. Kilkadziesiąt minut jazdy samochodem, mierzone ruchem wskazówek zegara, nabiera bowiem całkiem nieracjonalnego charakteru. Towarzyszące mu odczucie podpowiada raczej, Īe tych minut minĊło duĪo mniej, Īe wystarczy [...] odwróciü siĊ, by to stwierdziü. Tak, jak duĪo wiĊcej niĪ piĊü godzin mijało zawsze w drodze do Szczecina z Bremy. CzĊsto wydawało mi siĊ wrĊcz, Īe była to trwająca tygodniami wyprawa, podczas której musiałem pokonaü ogromny dystans, dzielący jakieĞ dwie bardzo odległe krainy. WłaĞnie dlatego przeprowadziłem siĊ.« (Ebd.) [Bisweilen, wenn ich an die Grenze gelange, habe ich den Eindruck, dass, wenn ich hinter mich schaue, ich noch mein Berliner Haus erblicken kann. Die einige Dutzend Minuten dauernde Fahrt mit dem Auto, gemessen an der Bewegung der Uhrzeiger, nimmt nämlich einen völlig irrationalen Charakter an. Das sie begleitende Gefühl legt eher nahe, dass viel weniger Minuten vergangen sind; dass es reicht [...] sich umzudrehen, um das zu bestätigen. Ja, wie viel mehr als fünf Stunden vergingen jeweils auf dem Weg von Bremen nach Stettin. Oft schien es mir geradezu, als sei das eine wochenlang dauernde Expedition, während der ich eine gewaltige Distanz überwinden müsse, die zwei sehr weit entfernte Reiche trennt. Eben deswegen bin ich umgezogen.]

Trotz der Nähe der beiden Orte wächst die Distanz zwischen ihnen mit jedem Mal, wo es sie zu überwinden gilt. Es gibt keine Möglichkeit, zweimal denselben Weg zurückzulegen; dieselben Worte können völlig unterschiedliche Sachen bezeichnen – zum Beispiel ist das Haus nicht immer das heimatliche Haus, sondern ein gewöhnlicher Ort, an dem man gerade wohnt.1 Der Erzähler von NiewrzĊdas

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Die Suche nach dem Haus kann mehr bedeuten als die Notwendigkeit, einen Unterschlupf zu besitzen – über die Theorie und die Geschichte des Hauses, also der Ausgestaltung von Wohngewohnheiten über die Jahrhunderte hinweg, über die kulturelle Notwendigkeit von Komfort, darüber, wie dem Raum ein individueller Charakter verliehen wird, schreibt neben anderen Witold RybczyĔski, ein amerikanischer Architekt polnischer Abstammung. (Vgl. RybczyĔski 1996) Es lohnt sich, NiewrzĊdas Werk in

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Essays muss sich trotz seiner Freiheit immer wieder um sie bemühen, muss sie suchen, beispielsweise an den Rändern der Stadt, in einem für Europa typischen Gestus der Umkehr der Ordnungen, indem er auf alles aus der Ferne blickt – in Bremen sucht er Berlin, in Berlin Stettin, in Pankow die Ruhe fernab des Zentrums. Als Europäer, der Krzysztof NiewrzĊda ist, – und zwar sowohl der Schriftsteller wie auch der Held seiner Texte –, ist er überall zu Hause, fühlt sich aber deutlich besser, wenn der Rückweg nach Hause gesichert ist. Nicht ohne Bedeutung erscheint im Fall von Czas przeprowadzki die Gattung der literarischen Äußerung. Der Essay, besonders in diesem Sammelband, erlaubt es NiewrzĊda, Überlegungen über die Identität des zeitgenössischen Europäers anzustellen, der in einer großen Agglomeration wohnt und ständig nach seiner Heimat auf dem Alten Kontinent sucht – man kann in einem Essay auf die eigene Biografie oder die Biografie anderer Personen zurückgreifen, sich auf die Geschichte berufen, von Architektur erzählen, zwischen Literatur und Publizistik hin und her wechseln. Ein Essay von NiewrzĊda ist eine Reise durch Europa oder eher durch verschiedene Verkörperungen Europas: die historische und die gegenwärtige, die unbewegliche und die mobile, die fiktive und die autobiografische, und vor allem die städtische, ›betriebsame‹ und dabei undefinierbare, innerlich widersprüchliche, die einer eindeutigen Zuordnung beraubt ist (ist das ein realer Kontinent oder aber ein fiktiver Textraum?).2 Um pausenlos migrieren zu können, muss man nicht unbedingt wegfahren, denn der beste Reiseführer sind die Erinnerung und die Fantasie: »Bezsprzecznie najwiĊcej zakątków przypominających Szczecin moĪna znaleĨü w Pankow [...]. No i na Prenzlauer Berg. Zawsze, gdy tam przebywam, wydaje mi siĊ, Īe jestem w Szczecinie i tylko nie wiem gdzie siĊ znajduje to miejsce. Tak jakbym stracił orientacjĊ,

dieser Perspektive zu analysieren, besonders jene Fragmente, in denen der Autor seine Wohnorte beschreibt. Ein gutes Beispiel ist der Essay »PoĪegnanie z Bremą« (Abschied von Bremen) aus Czas przeprowadzki (NiewrzĊda 2005: 40-46). 2

Ungefähr so würde ich den ›Migrantenessay‹ definieren (wie ihn NiewrzĊda in Czas przeprowadzki umsetzt), und zwar auf Grundlage des klassischen Texts von Roman Zimand unter dem Titel Gatunek: podróĪ (Gattung: Reise). Der polnische Soziologe beschreibt darin eine Zugfahrt nach PrzemyĞl und berichtet über jene anderen Reisen, die – im metaphorischen Sinn – das Leben und die Literatur sein können. Darüber hinaus haben die Reise und die Fortbewegung auch einen Erkenntniswert, in diesem Fall für den Soziologen, der auf der Grundlage von Reiseberichten und eigenen Erfahrungen die Kondition der Gesellschaft diagnostizieren kann. (Zimand 1989: 18-45)

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albo trafił nagle w nieznane mi wczeĞniej rejony, gdzieĞ na Niebuszewie, a moĪe raczej na Pogodnie. [...] Wystarczy wejĞü w jedną z przecznic odchodzących od ulicy, przy której mieszkam, by znaleĨü siĊ w rejonach przypominających szczeciĔskie Pogodno, bądĨ okolice Ku SłoĔcu.« (NiewrzĊda 2005: 48-49) [Zweifellos kann man die meisten Ecken, die an Stettin erinnern, in Pankow finden. [...] Und natürlich im Prenzlauer Berg. Immer wenn ich dort weile, scheint mir, ich sei in Stettin und weiß bloß nicht, wo dieser Ort sich genau befindet. Als hätte ich die Orientierung verloren oder als sei ich plötzlich in mir bislang unbekannte Bezirke geraten, irgendwo in Niebuszewo oder vielleicht doch eher in Pogodno. [...] Es reicht, in eine der Querstraßen einzubiegen, die von der Straße abgehen, in der ich wohne, um mich in Bezirken wiederzufinden, die an das Stettiner Pogodno erinnern oder an die Umgebung der Ku SłoĔcuStraße.]

Pankow, das Viertel, wohin NiewrzĊda gezogen ist, erinnert durch Topografie und Architektur an Stettiner Straßen. Ähnlich wie in Stettin sehen hier die wichtigsten Verkehrsadern aus: Sie sind breit, von Grün umgeben, mit geräumigen Gehsteigen, mit Einfamilienhäusern und alten Mietshäusern. Die Gebäudefassaden können Assoziationen mit der Stettiner Architektur hervorrufen, die ständig modernisiert wird und unter den Schichten des frischen Verputzes die Spuren der Geschichte bewahrt. Die Stadtviertel Pogodno und Niebuszewo wiederum sind zwei Gesichter der Stettiner Natur und Geschichte – das erste ist schön, grün, großzügig, das zweite lässt sich mit abgekratzten Fassaden assoziieren, die noch an die Vorkriegszeiten erinnern, aber auch mit Verlassenheit und Vernachlässigung3. Hier finden sich auch die beiden Gesichter des Erzählers – jenes ›spezifische‹, stettinsche, immer noch das eines Emigranten, wie auch das andere, bereits veränderte, ›europäische‹, berlinerische eines Postemigranten. Wie lässt sich dieser Zusammenhang auflösen? Die Identität des Europäres, der es überallhin nahe hat, bereitet der neuesten Literatur und ihrer Interpretation einige Sorgen – es ist heute schwer zu sagen, worin denn die ›europäische Identität‹ bestehen sollte. Anthony Giddens versucht eine Erklärung der Kondition des zeitgenössischen Menschen, welche zu einer soziologischen Lesart der Texte des polnischen Schriftstellers passen könnte:

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Heute hat sich dieser Anblick verändert, aber unter einigen Bewohnern Stettins herrscht weiterhin die Überzeugung, Niebuszewo sei hässlicher und vernachlässigter als andere Stadtviertel.

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»Like the other existential dimensions of ontological security, feelings of self-identity are both robust and fragile. Fragile, because the biography the individual reflexively holds in mind is only one ›story‹ among many other potential stories that could be told about her development as a self; robust, because a sense of self-identity is often securely enough held to weather major tensions or transitions in the social environments within which the person moves.« (Giddens 1991: 54-55)

Giddens stellt die Identität als eine doppelte, sich dynamisch entwickelnde Struktur dar, die in der Spannung zwischen dem verbleibt, was privat ist, was autobiografisch erzählt wird, und dem, was öffentlich ist, dem gegenüber man seine Position bestimmen muss. Die Identität des ›europäischen Subjekts‹ in NiewrzĊdas Prosa entsteht aus demselben Dilemma, aus der eingeimpften Opposition zwischen dem ›Heimischsein‹ und dem ›Fremdsein‹. Der Widerspruch wird zum unverzichtbaren Teil der Interpretation, zu einem Pendeln zwischen zwei gleichwertigen Kräften, zu einem Vollziehen genauso unglücklicher Entscheidungen. Auf die Frage: ›Wo ist es besser, in Stettin oder in Berlin?‹ müsste die Antwort lauten: ›In Europa!‹.

D AS E RZÄHLEN

EINES

P OSTEMIGRANTEN

NiewrzĊdas Held ist immer in Europa und dabei zugleich zu Hause wie auch im Exil. Wenn er über Berlin schreibt, assoziiert der Autor diese Stadt, d.h. ihren östlichen Teil, mit alten (vielleicht sogar den frühesten?) Erinnerungen aus der Zeit der Kindheit: »Mieszkając w Szczecinie, czĊsto przyjeĪdĪałem do wschodniego Berlina. StolicĊ NRD znałem właĞciwie od dziecka. To tu na przykład, w Kaufhausie przy Alexanderplatz, po raz pierwszy jechałem ruchomymi schodami. Miałem chyba cztery lata. A moĪe tylko trzy. Nie wiedziałem nawet, Īe jestem w Berlinie. PamiĊtam jednak, jak mama powiedziała, Īe właĞnie w tym sklepie kupiła mi moje niebieskie buty, które miałem wtedy na nogach.« (NiewrzĊda 2005: 12) [Als ich in Stettin wohnte, fuhr ich oft nach Ostberlin. Die Hauptstadt der DDR kannte ich im Grunde genommen, seit ich ein Kind war. Hier war es zum Beispiel, im Kaufhaus am Alexanderplatz, wo ich das erste Mal Rolltreppe fuhr. Ich war vielleicht vier Jahre alt, möglicherweise auch nur drei. Ich wusste nicht einmal, dass ich in Berlin war. Ich erinnere mich allerdings, wie Mama sagte, dass sie in eben diesem Geschäft mir die blauen Schuhe gekauft habe, die ich damals trug.]

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Die in den 1960er Jahren geborenen Schriftsteller erinnern sich an die Emigration: das Warten auf den Reisepass, die Flucht über den Ozean, die Fahrten zur Arbeit oder auch die angenehmeren Reisen mit den Eltern, in der Nähe, am Wochenende, knapp hinter die Grenze – solche Erinnerungen bilden den Kern einer gemeinsamen Generationenerfahrung. Mit einer spezifischen, literarischen Realisierung (und Idealisierung) der Erinnerung haben wir auch hier zu tun – das historische, gemeinsame Gedächtnis ist durch die private Reminiszenz transformiert und verstärkt worden: »Kindheit«, »Rolltreppe«, »blaue Schuhe« sind in diesem Fall Symbole der Freiheit, eines besseren Lebens. Eine ähnliche Funktion der Aktualisierung der Erinnerung erfüllen andere kulturelle Signale, wie in der kurzen Erzählung über die im Ausland ausfindig gemachten polnischen Schallplatten, die in Polen selbst eine Rarität darstellten, noch größer als die Alben der Rockstars der Welt. Noch einmal nimmt NiewrzĊda den Leser mit in die Umgebung des Alexanderplatzes: »ŁaĪąc wokół Placu Aleksandra, znaleĨliĞmy [...] Polski Instytut Kultury, a w nim płyty SBB, za które byliĞmy wtedy gotowi zapłaciü kaĪde pieniądze. Znane były przecieĪ przypadki, gdy za jedną płytĊ SBB proponowano w Szczecinie nawet dwie płyty Pink Floyd albo King Crimson. I nic. Bo w Szczecinie zawsze łatwiej moĪna było załatwiü płyty zachodnie niĪ polskie. I nagle my, w centrum Berlina, mogliĞmy kupiü za grosze nie tylko tĊ płytĊ, która SBB nagrało dla Amigi, ale równieĪ ›trójkĊ‹ i Ze słowem biegnĊ do ciebie.« (Ebd.: 15-16, Herv. i.O.) [Wir trieben uns um den Alexanderplatz herum und fanden [...] das Polnische Kulturinstitut und darin Platten der Gruppe SBB, für die wir damals jeden Preis bezahlt hätten. Es waren nämlich Fälle bekannt, wo in Stettin für eine Platte von SBB ganze zwei Platten von Pink Floyd oder King Crimson angeboten wurden. Doch das war nichts Besonderes. Denn in Stettin war es immer leichter, westliche als polnische Platten zu besorgen. Und auf einmal konnten wir, im Zentrum Berlins, für ein paar Groschen nicht nur die Platte kaufen, die SBB für die Amiga [DDR-Plattenfirma, Anm. d. Übers.] aufgenommen hatte, sondern auch die dritte Platte der Gruppe sowie Ze słowem biegnĊ do ciebie.]

Der europäische Charakter von NiewrzĊdas Werk drückt sich in der Vielfalt der Orte aus, im Reisen durch die Regionen der Erinnerung, in der Unruhe vor Ort, in der Suche nach etwas Neuem in dem, was ähnlich aussieht wie das gut Bekannte. Ostberlin erinnert an den Stettiner Alltag während der Kindheit des Autors, auch wenn damals dieser Alltag als eine ganz andere Welt erscheinen konnte – und sei es nur wegen der »blauen Schuhe«. Das gegenwärtige Pankow sieht aus wie Pogodno; eine Reise zwischen beiden ist eine Reise fast zum selben Ort,

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auch wenn sie zwei Stunden dauert. Geht es hier um irgendeinen Fetisch, einen Glückszustand, der nur in bekannter, vertrauter, sicherer Umgebung erreicht werden kann? Zum Teil ist dieser Wunsch des Erzählers, sich den Raum anzueignen, allerdings ein Trugbild der Wirklichkeit, denn die grenzenlose Freiheit, welche die Zugehörigkeit zu den politischen Strukturen des vereinten Europas verleiht, ist keine Herausforderung und stellt höchstes ein leeres Objekt des Begehrens dar. Warum soll man von Stettin nach Berlin reisen, wo doch die Mauer gefallen ist und nichts die Freiheit der Reisenden mehr bremst? Um sich wie in der Emigration zu fühlen, muss NiewrzĊda seine Biografie aus Bremen wegtransportieren, das er als konservativer als Berlin beschreibt: »No bo tam [w Bremie – S.I.] po zmierzchu obowiązuje godzina policyjna. Nawet jeĞli ktoĞ przemierza nocą BremĊ, to zachowuje siĊ tak, jakby zapomniał przepustki i chciał przeĞlizgnąü siĊ niezauwaĪony miĊdzy patrolami. Albo jakby siĊ bał, Īe zostanie zadenuncjowany z powodu włóczĊgostwa. [...] Dlatego bremeĔczycy nie chodzą w nocy po ulicach, tylko Ğpią.« (Ebd.: 73) [Denn dort [in Bremen] gilt nach Einbruch der Dämmerung die Polizeistunde. Selbst wenn jemand nachts durch Bremen streift, verhält er sich so, als hätte er seinen Passierschein vergessen und möchte unbemerkt zwischen den Patrouillen durchschlüpfen. Oder als ob er sich fürchten würde, er könnte wegen Landstreicherei denunziert werden. [...] Deshalb gehen die Bremer nachts nicht durch die Straßen, sondern sie schlafen.]

Wir sind zwar frei, aber auch versklavt durch den Zwang der Freiheit, wie jene Touristen bei Zygmunt Bauman, die leiden, weil sie schon alles gesehen haben und nirgendwohin mehr reisen können (Bauman 1995: 357-364). Daher lockt Bremen mit der Atmosphäre eines gewissen moralischen Konservatismus: Es stellt einen Ort dar, von dem man endlich fliehen kann, wegfahren, wie zu Zeiten der durch die Mauer geteilten Stadt, zu Zeiten klarer Grenzen und Teilungen, die es in einer Welt, die frei ist von Begrenzungen, nicht gibt. Wohin kann man aus Berlin wegfahren? Warum sollte man dies überhaupt tun? NiewrzĊda und seine Helden migrieren in der Nachbarschaft nach Stettin, reisen mit dem Zug oder dem Auto zwischen verschiedenen Versionen Europas herum, die auf den ersten Blick schwer voneinander zu unterscheiden sind. Sie sind Postemigranten – sie haben die Emigration erfahren, die Ausreise unter Zwang, die Flucht; auf der anderen Seite leben sie jedoch bereits völlig anders, in einer Welt, die mindestens bis zu einem gewissen Grad frei ist von Einschränkungen. Warum geschieht dies so? Warum bilden Nähe und Offenheit das Rätsel des zeitgenössischen Europa? Und warum versucht die Literatur, dieses Rätsel zu lö-

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sen? Ursache dafür sind die komplexen Migrationsprozesse, die zu den unterschiedlichsten Erscheinungen führen: dem Aussterben homogener Nationalitäten, der Isolation innerhalb gesellschaftlicher Strukturen, der Umgestaltung der städtischen Räume in den großen Agglomerationen. Wie Paul Scheffer, der holländische Philosoph und Urbanist, meint, werden wir wahrscheinlich immer nur Gäste sein, ganz gleich ob in der Heimat oder im Ausland, da wir immer im Unterwegssein leben und Situationen erfahren, in denen wir nicht nur »Landsleute in der Fremde, aber gleichzeitig auch Fremde im eigenen Land« sind. (Scheffer 2007: 12) Scheffer stellt folgende Diagnose unserer Zeit: »Wir erleben tiefgreifende Veränderungen, und es ist nicht klug, sie herunterzuspielen oder sie zu ignorieren. Wie oft hört man nicht die Binsenweisheit ›Migration hat es zu allen Zeiten gegeben‹. Wie oft begegnet man nicht der Vorstellung, die Menschen seien immer schon unterwegs gewesen und unsere Zeit stelle da keine Ausnahme dar.« (Ebd.)

Kann man also in einer Welt ohne Grenzen noch emigrieren? Zygmunt Bauman meint, wie übrigens auch Scheffer: »Die auffallendste und verwirrendste Eigenschaft von Fremden ist, daß sie weder Nachbarn noch völlig Unbekannte sind. Oder eher: unklarerweise, beunruhigenderweise, erschreckenderweise, sind sie […] beides.« (Bauman 1995: 229) Werden wir als Emigranten, als »Fremden« auch noch denjenigen bezeichnen, der in die Nachbarschaft flieht, der in eine benachbarte Stadt migriert, die 100 oder 200 Kilometer entfernt ist, und der beinahe mit dem Vorortsbus oder -zug in seine Heimat fahren kann? Mehr oder weniger so sieht eine Reise zwischen Stettin und Berlin aus – erleichtert durch die guten Zugverbindungen, die unzählbare Menge an Bussen, dauert sie ungefähr zwei Stunden. Man kann in Stettin wohnen und in Berlin arbeiten, sein Leben zwischen diesen beiden Städten teilen.4 NiewrzĊda musste von Stettin nach Berlin einen etwas längeren, indirekten Weg absolvieren, nämlich über Bremen. Diese Bindungen zu verschiedenen Orten beeinflussen die Schaffung eines völlig neuen Typs des europäischen Bürgers, der eine transportierfähige, mobile Identität besitzt, je nach seiner Position auf der Karte. Scheffer erzählt in seinem Buch unter anderem eine Geschichte, welche die Vermischung der Völker bestätigt, zugleich aber auch die Notwendigkeit eines Gefühls der Zugehörigkeit im Hinblick auf seine Identität betont. Während einer Reise nach Tanger traf Schef-

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Über den Charakter Berlins als Grenzort und multikultureller Stadt, welche Polen anzieht, die ihren Ort in Europa suchen, schreibt unter anderem Robert Traba. Er zeigt die historische und aktuelle Bedeutung Berlins im Kontext der Migrationsströme auf. (Vgl. Traba 2009: 265-282)

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fer auf einen Landsmann, einen Holländer mit marokkanischen Wurzeln, der ihn als Touristen behandelte, der ›sein‹ Land (das des ›Marokkaners‹) besucht. (Scheffer 2007: 11-12) Warum fühlte sich der Holländer plötzlich eher als Marokkaner? Weil sich seine Perspektive verändert hatte, konnte er sich in einer anderen (vielleicht besseren) Position gegenüber einem fremden Menschen wiederfinden, konnte diesen aufnehmen als einen Zugereisten, mit einer gewissen Überlegenheit und Zufriedenheit. Der ›marokkanische Holländer‹ sagt: »Willkommen«, was dem Philosophen etwas verdächtig vorkommt: »Aus seinem ›Willkommen‹ hörte ich nicht nur eine freundliche Begrüßung heraus, sondern auch bittersüße Rache. Endlich konnte er etwas präsentieren, was ihm gehörte, endlich waren die Rollen einmal vertauscht. Die Gäste, die er begrüßte, waren schließlich diejenigen, die ihm in ihrem Land oft den Rücken zukehrten.« (Ebd.: 11-12)

In gewissem Sinn sind wir alle Migranten, da jede und jeder von uns seine Gründe dafür hat, herumzuziehen, zu reisen, den Wohnort zu wechseln. Die mannigfaltigen Verkörperungen der Mobilität, ob sie sich nun auf Menschen, Gegenstände, Informationen, Bilder oder sogar auf Abfälle beziehen (denn etwas muss mit ihnen ja geschehen, irgendwohin müssen sie ja gebracht werden), verwandeln unsere heutige Gesellschaft in einem Ausmaß, dass – wie einige Forscher behaupten – man an der Existenz von einheitlichen, begrenzten, geschlossenen gesellschaftlichen Strukturen zweifeln kann. (Vgl. Urry 2000) Die Gesellschaften sind offen, da die Menschen pausenlos in Bewegung sind. Andererseits ist diese Offenheit eine scheinbare, denn eine Gesellschaft ist eine Struktur, eine geschlossene Ansammlung von Elementen, ein Mechanismus von kulturellen Erfahrungen und Bräuchen, die miteinander vermischt bewirken, dass wir nach neuen Begrenzungen verlangen, dass wir am Ort eliminierter Grenzen neue Trennlinien ziehen (z.B. in Form von Immigrantenvierteln, wie etwa der türkische Teil Berlins), sodass die Gesellschaft möglichst reibungslos funktionieren kann.

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Die Helden in NiewrzĊdas Büchern emigrieren auf vielen Ebenen, aber wohl am wenigsten im wörtlichen, traditionellen Sinn. Die Emigration wird zur Migration, da sie allmählich die Frage der Bewegung als solche und ihre Beschränkungen berührt. Die Reisefreiheit ist nämlich auch eine scheinbare, sie ist mit vielen Verboten und Geboten belegt: Man darf die Fahrbahn nicht betreten, man kann mit dem Zug dorthin nicht fahren, wo es gerade keine Verbindung gibt, man darf

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das Flugzeug nicht verpassen, denn wenn es einmal gestartet ist, kann man nicht mehr zusteigen. Fast erinnert es an NiewrzĊdas Tirade auf Bremen – nichts ist erlaubt, also muss man anderswohin fliehen. Über für seine Biografie wichtige Städte schreibt NiewrzĊda auch in Moja najbliĪsza okolica (Meine nächste Umgebung): »To, Īe w Berlinie czujĊ siĊ o wiele lepiej niĪ w Bremie, wynika nie tylko z tego, Īe odnalazłem tu sporo miejsc wypełnionych moją prywatną historią. Tymi wszystkimi wydarzeniami, których doĞwiadczałem przyjeĪdĪając tak czĊsto do stolicy NRD. NajwaĪniejsze jest dla mnie bowiem to, Īe Berlin przypomina mi Szczecin.« (NiewrzĊda 2005: 48) [Dass ich mich in Berlin viel besser fühle als in Bremen, kommt nicht nur davon, dass ich hier viele Orte gefunden habe, die mit meiner privaten Geschichte angefüllt sind. Mit all jenen Ereignissen, die ich erlebt habe, weil ich so oft in die Hauptstadt der DDR gereist bin. Am wichtigsten ist für mich nämlich, dass Berlin mich an Stettin erinnert.]

Die Nähe im heutigen Europa ist eine relative Angelegenheit – man kann als Ausländer seinem Land näher sein, und darin ist nichts Erstaunliches (Scheffer traf auf einen ihm ›fremden‹ Landsmann weit weg von zu Hause). In diesem Bereich erklärt das ›Phänomen Migration‹ viel, die in ihrer einfachsten Definition das sich ständige Fortbewegen der Menschen meint, das heute wirklich unbegrenzt ist. Wie Dariusz NiedĨwiedzki erklärt, sind Migrationen ein unverzichtbarer Bestandteil des menschlichen Funktionierens (und sie sind zugleich jene banale Äußerung über die Herkunft der Zivilisation, die Paul Scheffer unterstrichen hat): »Migracja jest jedną z form zmiany połoĪenia w przestrzeni fizycznej. Towarzyszy ludzkoĞci od początków Īycia zbiorowego, stanowiła konieczny warunek podtrzymywania i rozwoju kultur nomadycznych. DecyzjĊ o wĊdrówce podejmowano indywidualnie lub zbiorowo w konsekwencji wyeksploatowania na danym terenie jadalnych roĞlin i łownych zwierząt. [...] Migracja jako forma przemieszczania geograficznego, z wyjątkiem przypadków zasiedlania terenów przyrodniczo dziewiczych, połączona jest z przejĞciem do innej zbiorowoĞci. Ta cecha decyduje o jej znaczeniu w historii rozwoju ludzkoĞci. Migracje stanowią jeden z waĪniejszych mechanizmów wywołujących głĊbokie zmiany społeczne.« (NiedĨwiedzki 2010: 15) [Die Migration ist eine jener Formen, wie man im physischen Raum seine Lage verändern kann. Sie begleitet die Menscheit seit den Anfängen des Lebens in der Gruppe, sie war eine unerlässliche Bedingung für die Aufrechterhaltung und Entwicklung nomadischer

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Kulturen. Die Entscheidung für eine Wanderung fasste man individuell oder in der Gruppe, wenn in einem bestimmten Gebiet die essbaren Pflanzen und die jagbaren Tiere aufgebraucht waren. [...] Die Migration als Form der geografischen Verlagerung ist, mit Ausnahme der Besiedelung von bisher ungenutzten Gegenden, mit dem Übergang zu einer anderen Gruppe verbunden. Dieses Merkmal entscheidet über ihre Bedeutung in der Geschichte der Entwicklung der Menschheit. Migrationen bilden einen der wichtigsten Mechanismen, die tief greifende gesellschaftliche Veränderungen hervorrufen.]

Die heutige Bedeutung von Migration geht über die zivilisatorische Notwendigkeit eines Wohnortwechsels hinaus. Sie ist auch mehr als die Emigration, wie wir sie aus der Literatur des 20. Jahrhunderts kennen. Die sich verändernden zivilisatorischen Bedingungen und die Funktionsweisen von Gesellschaften haben Veränderungen in der Literatur herbeigeführt und die Schriftsteller haben begonnen, anders über das Fortbewegen zu erzählen: über Reisen, Ausreisen, Emigration. Justyna Czechowska erklärt: »Przed 20 laty polski termin ›literatura emigracyjna‹ nie stanowił dla nikogo problemu. W definicji w Słowniku terminów literackich czytamy, Īe literatura ta przestała istnieü w r. 1989, kiedy na skutek przemian systemowych nasza literatura nie wymagała podziału na tĊ tworzoną w kraju i poza jego granicami. [...] TakĪe na Zachodzie w dobie masowych migracji dla okreĞlenia exile literature brakuje konkretnego desygnatu.« (Czechowska 2010: 14, Herv. i.O.) [Vor 20 Jahren stellte der polnische Begriff ›literatura emigracyjna‹ (Emigrationsliteratur) für niemanden ein Problem dar. In der Definition des Słownik terminów literackich lesen wir, diese Literatur habe 1989 aufgehört zu existieren, als aufgrund des Systemwandels unsere Literatur keine Trennung in die in Polen geschaffene und die im Ausland entstandene mehr verlangte. [...] Auch im Westen fehlt in einer Zeit massenhafter Migrationen das konkrete Designat für einen Begriff wie exile literature.]

Eine Migrationsliteratur, also eine Literatur, die über die Bewegung in all ihren Aspekten berichtet, könnte – und meiner Meinung nach tut sie es bereits – den Platz der Emigrationsliteratur einnehmen. Migration, und zwar gerade im Hinblick auf ihre ursprüngliche Bedeutung und auf ihre im Grunde genommen konstruktive Natur, gibt den postgesellschaftlichen Charakter des zeitgenössischen literarischen Erzählens besser wieder. Migration individualisiert die Emigrationserfahrung, schwächt die Schreibsituation von jenseits der Grenze ab, europäisiert die Äußerungen der Schriftsteller.

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In diesem Sinn stellt Krzysztof NiewrzĊdas Werk einen wichtigen Fall in der Generation der migrierenden, in den 1960er Jahren geborenen Autoren dar. Er erzählt oft von der Fortbewegung, aber er macht dies auf eine Art und Weise, die ohne den Elan einer Reise- oder Emigrationsliteratur auskommt. Er bedient sich nicht der großen Romanform, sondern richtet sein Augenmerk eher auf autobiografische Details (»die blauen Stiefel«, doch waren es eben »meine blauen Stiefel«), die er in einem Essay beschreibt, welcher Wiederholungen, Erinnerungen und das Zurückkommen auf die immer selben Fragestellungen gestattet. Seine Migrationen in der Nachbarschaft zeugen von einer Tendenz und einem Bedarf an persönlichen Erzählungen über die Identität des zeitgenössischen Europäers, der immerfort ein neues Heim suchen muss und deswegen reist – und sei es an einen Ort, der nur 100 oder 200 Kilometer entfernt ist.

ABREISEN

UND

H EIMKEHREN

Ein weiterer wichtiger Text in Krzysztof NiewrzĊdas Bibliografie ist sein Debüt, der Roman Poszukiwanie całoĞci (Die Suche nach der Ganzheit), den man heute schwerlich nur in den Kategorien der ersten Schritte in der Literatur und des Schreibens in der Emigration lesen kann. NiewrzĊda ist nach Jahren zu diesem Roman zurückgekehrt. Warum? In der Einleitung zur zweiten Ausgabe von Poszukiwanie całoĞci schreibt NiewrzĊda, die Kritik habe die Botschaft des Romans allzu tendenziös gelesen: »Gdy ukazało siĊ pierwsze wydanie Poszukiwania całoĞci, polscy krytycy literaccy, którzy w tamtym okresie omawiali tĊ powieĞü, mimo przychylnych, a nawet bardzo pochlebnych reakcji, w wiĊkszoĞci uznali ją opacznie za podsumowującą polskie doĞwiadczenia emigracyjne. [...] Po pierwsze, emigracja wcale nie zanikła. Nie ma wiĊc potrzeby jej bilansowaü. Zresztą, długo jeszcze nie zaniknie, co zawsze było dla mnie doĞü oczywiste. Nigdy przecieĪ nie spodziewałem siĊ nagłego powrotu na ojczyzny łono tych wszystkich, którzy stworzyli polską diasporĊ w minionych dziesiĊcioleciach. Nigdy teĪ nie wierzyłem, iĪ do poprzednich nie dołączą nowe zastĊpy.« (NiewrzĊda 2009: 8, Herv. i.O.) [Als die erste Ausgabe von Poszukiwanie całoĞci erschien, hielten die polnischen Literaturkritiker, die den Roman damals besprachen, neben den wohlwollenden, sogar schmeichelhaften Reaktionen, das Buch in der Mehrheit fälschlicherweise für einen Roman, der die polnische Emigrationserfahrung bilanziert. [...] Erstens ist die Emigration überhaupt nicht verschwunden. Es gibt also keinen Bedarf an einer Bilanz. Übrigens wird sie noch

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lange nicht verschwinden, was für mich immer ziemlich offensichtlich war. Nie habe ich nämlich erwartet, dass all diejenigen plötzlich in den Schoß des Vaterlandes zurückkehren, die in den vergangenen Jahrzehnten die polnische Diaspora bildeten. Auch habe ich nie geglaubt, dass sich den früheren nicht neue Gruppen von Ausgewanderten anschließen könnten.]

Die Rückkehr zu diesem Roman, seine Neuausgabe, ist ein Versuch, es mit den Erfahrungen Ende der 1980er Jahre aufzunehmen. Hingegen ist die Emigration, auch wenn sie mit Sicherheit weiterhin einen Einfluss auf die Literatur ausübt, heute eine andere Erfahrung; sie ist von einer anderen Qualität. Die Einheit der Emigranten ist nach meiner Auffassung eine scheinbare; sie sind lediglich durch das Thema der Ausreise verbunden, die sie in autobiografischer Weise beschreiben, oft mit essayistischem Scharfsinn und publizistischem Schwung. Hier handelt es sich bereits um Migration; in NiewrzĊdas Debütroman ist sie in die metaphorische Formel von der ›Suche nach der Ganzheit‹ gefasst. Andrzej Skrendo schreibt darüber, es sei dies die »Suche nach der Identität« in vielen Bereichen, sowohl außertextuell, autothematisch wie auch innerlich, verbunden mit den Veränderungen in Europa. (Vgl. NiewrzĊda 2009: 142) Wonach hat der Schriftsteller gesucht, wonach sucht er weiterhin, wenn er nach Jahren zu diesem Text zurückkehrt? Warum hat er diesen Roman bearbeitet? Was hat sich in der Wirklichkeit des ›Emigranten‹ verändert, der in Czas przeprowadzki seine unbestimmbare Position auf der Karte beschrieben hat? Der Autor hat Poszukiwanie całoĞci aus einer Reihe von Gründen noch einmal für den Druck vorbereitet (wie wir dem Vorwort des Autors zur zweiten Auflage und dem schon erwähnten Kommentar von Andrzej Skrenda entnehmen können). Das Buch wurde in einigen Fragmenten für die zweite Ausgabe leicht verändert. Zunächst war Poszukiwanie całoĞci 1999 in Bydgoszcz beim Verlag ĝwiadectwo erschienen, um nach zehn Jahren im Stettiner Verlag Forma noch einmal herauszukommen. Die Veränderungen sind selbstverständlich interessant, wenn sie die Wandlungen der Identität und des Bewusstseins des Autors erklären oder aufzeigen sollten, eines europäischen Schriftstellers, der die Metamorphose der europäischen Realität erfahren hat, worauf Skrendo hinweist. NiewrzĊda hat jedoch die Quellen seiner ›Korrekturen‹ wie folgt dargestellt: »Przygotowując do druku tĊ powieĞü, po dziesiĊciu latach od ukazania siĊ pierwszego wydania, dokonałem w niej pewnych zmian. Niewątpliwie nie doprowadziły one do stworzenia jakiejkolwiek transpozycji. Są jednak oczywistym znakiem (okreĞlanej dziĞ raczej mianem transmigracji) swoistej metemspýchôsis autora, który pozostawił w obszarze tek-

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stu Ğlady wtórnego bytu. Mam nadziejĊ, Īe podróĪując tym ĞwieĪym tropem, czytelnicy [...] bez trudu przejdą do własnych eksploracji.« (NiewrzĊda 2009: 11) [Als ich diesen Roman zehn Jahre nach Erscheinen der ersten Ausgabe zum Druck vorbereitete, nahm ich darin ein paar Veränderungen vor. Zweifellos führten sie nicht zur Schaffung irgendeiner Transposition. Sie sind aber ein offensichtliches Zeichen für eine gewisse (heute gemeinhin als Transmigration bezeichnete) metemspýchôsis des Autors, der im Bereich des Textes Spuren einer sekundären Existenz hinterlassen hat. Ich hoffe, dass die Leser [...] ohne Mühe zu eigenen Erkenntnissen gelangen, wenn sie auf diesem frischen Pfad wandern.]

Der Schriftsteller verwendet hier eine Metaphorik, die mit Bewegung verbunden ist. Sie ist charakteristisch für jene Art von Aktivitäten, die auf der einen Seite mit dem Denken, der intellektuellen Arbeit, auf der anderen Seite mit der Fortbewegung, dem Reisen, dem Erforschen neuer Gebiete verknüpft ist. Die Fortbewegung bezeichnet eine gewisse Veränderung (und sei es nur des Wohnorts oder aber des Standpunkts), besitzt also einen Mehrwert, ist etwas Positives, das dem als negativ belegten Stillstand gegenübergestellt wird. Ganz ähnlich die ›Veränderung‹ im Text dieses Romans: Das Umarbeiten von Poszukiwanie całoĞci ist eine positive Operation, denn dies zeugt von der Entwicklung des Schriftstellers, wird zu einem Schritt nach vorne. Der Roman beginnt mit einem vielsagenden Kapitel mit dem Titel »PodróĪ« (Die Reise). Die Emigration des Erzählers (und des Autors) ist folglich weniger eine Flucht, sondern der Ausdruck von Freiheit in der Wahl des Wohnorts, eine qualitative Veränderung, eine Verschiebung von Punkten auf der Karte. NiewrzĊda schreibt über die Hintergründe seiner Ausreise nach Deutschland: »Od czego to wszystko właĞciwie siĊ zaczĊło? Od tych wmuszanych o piątej nad ranem kromek chleba? Mieliłem je bez przekonania, popijając herbatą. Patrzyłem na leĪące przede mną bilety. [...] W dwa tygodnie po Ğlubie, z duĪą walizką i Ğredniej wielkoĞci torbą, staliĞmy na dworcu. Bardziej jak chłopak z dziewczyną, na szkolnej wycieczce, niĪ mąĪ z Īoną i powiedzmy, Īe od tego siĊ zaczĊło, Īe wczeĞniej nie było nic. A nawet jeĞli było i tak wszystko wskazywało na to, iĪ dopiero teraz rozpocznie siĊ coĞ naprawdĊ.« (NiewrzĊda 2009: 12) [Womit hat das eigentlich alles begonnen? Mit jenen um fünf Uhr früh heruntergewürgten Scheiben Brot? Ich kaute sie ohne Überzeugung und nippte dabei am Tee. Ich schaute auf die vor mir liegenden Fahrkarten. [...] Zwei Wochen nach der Heirat, mit einem großen Koffer und einer mittelgroßen Handtasche, standen wir auf dem Bahnhof. Eher wie ein

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Junge und ein Mädchen auf Klassenfahrt denn wie Mann und Frau, und sagen wir, es hat damit begonnen, dass vorher nichts war. Und selbst wenn etwas gewesen war, hat sowieso alles daraufhin gedeutet, dass es erst jetzt wirklich beginnen wird.]

Dies ist ein Bild, das noch an die Emigrationsliteratur erinnert, aber es ist abgeschwächt, es wird subtil auf den Küchenalltag und das verschlafene Frühstück um fünf Uhr früh zurückgeführt. Es gibt hier keinen klaren Grund für die Ausreise, es beginnt weder mit irgendeinem Fiasko, noch mit einer kriegerischen Katastrophe, der Belagerung einer Stadt, aus der man fliehen muss. Die Fahrkarten, die belegten Brote, der Tee, also Alltag und Ordnung, aber auch die Ruhe und der konkrete Entschluss. Auf der anderen Seite bin ich mir bewusst, dass dies vielleicht eine Überinterpretation ist, denn wir finden in »PodróĪ«, einem kurzen, wenige Seiten langen Text, viele andere Migrationsmotive, welche diese Prosa in der Tradition der Emigrations- oder der Reiseliteratur anders positionieren. Es gibt hier auch eine Art Prä-Nostalgie, eine unterschwellige Sehnsucht nach der Heimat – ein recht häufiges Verfahren in der Prosa dieses Autors: »Gdy przejeĪdĪaliĞmy obok stojących wzdłuĪ torów budynków, wpatrywałem siĊ w okna mieszkaĔ. Niektóre były otwarte. Wnikałem przez nie do Ğrodka. Choü na chwilĊ, skoro trzeba było jechaü dalej. Przyglądałem siĊ wyciĊtym z katalogów meblom. Takim, jakie pamiĊtałem z dzieciĔstwa, kiedy – edukując siĊ wĞród synek i córek marynarzy – godzinami przekładaliĞmy kartki ze zdjĊciami, z których kaĪde miało wiĊksze znaczenie niĪ wszystkie przemowy ideologów.« (Ebd.: 12-13) [Als wir an den an den Gleisen entlang stehenden Gebäuden vorbeifuhren, heftete ich meinen Blick auf die Wohnungsfenster. Einige waren geöffnet. Ich drang durch sie ins Innere ein. Nur für einen Augenblick, denn wir mussten ja weiterfahren. Ich schaute die Möbel an, die aussahen, als kämen sie direkt aus den Katalogen. Wie ich sie aus der Kindheit in Erinnerung hatte, als wir inmitten von Söhnen und Töchtern von Seeleuten erzogen wurden und stundenlang Seiten voller Fotos umdrehten, von denen jedes einzelne mehr Bedeutung hatte als alle Reden der Ideologen.]

Der in diesem Text präsente Schatten einer Trauer ist vor allem die Angst vor der unbekannten Welt, die noch im Zug verspürt wird und mit Hilfe von Erinnerungen an die Kindheit ausgedrückt wird. Sie bestätigt die Verwurzelung in der traditionellen Emigration – das Subjekt muss so empfinden und nicht anders. Interessant ist, dass der Erzähler Sehnsucht empfindet, noch bevor er irgendwohin ausgereist ist. Die Sehnsucht ist also ein Teil des Puzzles, ein Konstruktionsele-

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ment des Emigrationstextes, die Ankündigung weiterer Ereignisse. Was erwartet den Helden und zugleich Erzähler dieses Romans weiter? Die einzelnen Kapitel von Poszukiwanie całoĞci stellen eigene kompositorische Ganzheiten und weitere ›Stationen‹ in der Reise des Helden dar. Der Autor geht nicht nur auf die Initiation des Emigranten ein – die Zugfahrt im Eröffnungskapitel wird in der ersten Person erzählt, autobiografisch –, sondern er baut auch sein Puzzle aus, indem er weitere Elemente hinzufügt, verschiedene Formen des Erzählens, wechselnde Standpunkte. Im Kapitel »Obóz« (Lager) erfahren wir von der Mühsal des Wartens im Durchgangslager, als man sich um die Anerkennung eines rechtlichen Status bemüht: »Dziewczyna z chłopakiem udali siĊ do wyznaczonego baraku, zapukali w pierwsze z napotkanych drzwi i weszli do Ğrodka. PiĊtrowe, Īelazne łóĪka. Drewniana, odrapana szafa. Podłoga z surowych desek. Okno. Stół. Przy nim, wĞród konserw oraz pomaraĔczy, butelek fanty i coli, siedziało dwóch mĊĪczyzn. Starszy, biorąc z puszki tytoĔ, upychał go w maszynce do robienia papierosów. Drugi wyjadał ze słoika cienkie parówki. Odpowiedzieli ›DzieĔ dobry‹ i wskazali wolne łóĪka.« (Ebd.: 15) [Das Mädchen und der Junge haben sich zur angegebenen Baracke begeben, an die erstbeste Tür geklopft und sind eingetreten. Mehrstöckige Betten aus Eisen. Ein abgekratzter Schrank aus Holz. Der Boden aus unbearbeiteten Brettern. Ein Fenster. Ein Tisch. Am Tisch saßen zwei Männer, zwischen Konservenbüchsen und Orangen, zwischen Fantaund Colaflaschen. Der Ältere nahm Tabak aus einer Dose und stopfte ihn in eine Zigarettenmaschine. Der zweite aß direkt aus einem Glas dünne Würstchen. Sie antworteten ›Guten Tag‹ und wiesen auf die freien Betten.]

In diesem Fragment wird in der dritten Person erzählt, aus einer allwissenden Perspektive, die aber gegenüber den dargestellten Ereignissen auch distanziert ist. Warum dieser Wechsel? Wahrscheinlich wurde das Eintreten des Jungen und des Mädchens in die dargestellte Welt hier als Aneignung eines fremden Territoriums behandelt, das an eine Gefangenenzelle oder eine Lagerbaracke erinnert: Die mehrstöckigen Betten aus Eisen sind gewissermaßen Pritschen, es gibt nur ein Fenster, einen Tisch, also das unabdingliche Minimum, das nötig ist, um sich setzen, essen, schlafen zu können. In diesem beinah leeren Innenraum sind das Wichtigste die beiden Männer und die wenigen erkennbaren Objekte. Wenn in der beschriebenen Welt die kohlensäurehaltigen Getränke in den Flaschen, besonders die Fanta, in den Vordergrund gerückt werden, so erinnert dies daran, dass wir uns in einer anderen Realität befinden – die Grenze ist von den Helden zwar überschritten worden, aber doch noch nicht zur Gänze überwunden; die süßen Getränke sind der Geschmack, der aus dem Westen kommt,

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um den man sich wird bemühen müssen, um den man mit den Beamten wird kämpfen müssen. Fanta erscheint hier nicht zufällig, denn in den polnischen Realia ist es kulturell erkennbar (sogar noch mehr als Coca-Cola): Das Rezept für das populäre Getränk mit Orangengeschmack wurde während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland entwickelt und wird in Polen hauptsächlich mit diesem Land in Verbindung gebracht. Fanta war in Polen bis zum Beginn der 1990er Jahre nicht erhältlich; früher gelangte es aber in Dosen über die Grenze, die man damals als Symbole eines besseren Lebens sammelte (wie auch die natürlich leeren Verpackungen anderer Getränke) und in der Wohnung aufstellte, auf Regalen oder Möbeln, in Gestalt von Pyramiden, die bis an die Decke reichten. Von daher lässt sich wohl bei NiewrzĊda dieser Name erklären, denn das kohlesäurehaltige Getränk wird mit ›jener Welt‹ assoziiert (an die der Held zurecht mit Nostalgie denken mag), mit ›jenem‹ Polen. Im Essay »Moja berliĔska mitologia« (Meine Berliner Mythologie), beschreibt der Autor eine weitere Kindheitserinnerung – damals sammelte man die Schachteln von westlichen Zigaretten, die ähnlich wie die Dosen, ›Beweise‹ für die Existenz einer besseren Welt darstellten (vgl. NiewrzĊda 2005: 27-28). Das Paradox besteht natürlich darin, dass die Helden dieser Erzählungen dieselbe Welt gewissermaßen im Ausland wiederfinden, dabei hatten sie sich doch etwas ganz anderes erhofft, nämlich eine plötzliche Veränderung von Dekor und Umfeld, als sie die vertraute Küche, den Geschmack des Brotes und des Tees, die heimatlichen Gefilde hinter sich ließen. Ich kann hier nicht alle Ereignisse zusammenfassen, mit denen die Emigranten in Poszukiwanie całoĞci zurechtkommen müssen, aber in den weiteren Kapiteln erinnern sie auch an die Zerrissenheit der Helden in den Werken Franz Kafkas oder Sławomir MroĪeks. Geschickt schreibt sich NiewrzĊda in die antiutopische Vision der bürokratischen ›Verdauungskanäle‹ ein, die gnadenlos alle und alles verschlingen, was noch um irgendeine Eigenart oder Originalität kämpft. Der ganze Roman entwickelt sich mehr oder weniger entlang der Kämpfe der Hauptgestalt (die oft mit dem Erzähler identisch ist) – von einem Kapitel, in dem wir Einzelheiten aus seinem Leben erfahren (Ausreise, Arbeit, Alltagsleben, usw.) geht es weiter zu einer nächst größeren Einheit oder zu einer anderen Etappe seiner Existenz in der Emigration. Bisweilen sind das Einheiten, die sich stilistisch völlig voneinander unterscheiden. Unter anderem findet sich hier ein Kapitel mit dem Titel »Whisky z lodem« (Whisky mit Eis), das täuschend echt an die zeitgenössischen Sensationsfilme mit gebrochener Handlungsstruktur erinnert – der Held und Erzähler sitzt in seinem Sessel, er träumt einen Traum, der aus einem Film von David Lynch stammen könnte, dem Patron von Oneirismus und komplexer Ereignis-

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logik, oder von Wong Kar-Wai, einem der Vertreter der Postmoderne im asiatischen Kino. Eine Äußerung dieses zweiten Regisseurs diente NiewrzĊda als Motto für diese ›Erzählung‹ (dies ist ein gutes Beispiel für die doppelte Natur dieses Buchs, eines Romans, der sich aus einzelnen Gesamtheiten, Kapiteln zusammensezt, die auch als Essays oder Erzählungen gelesen werden können): »Tatsächlich geschieht nichts und wird sich bis zum Schluss auch nichts ereignen« (ebd.: 90) – im Kontext des Titels und der Botschaft dieses Romans müsste man so einem auserlesenen Satz eine philosophische Bedeutung zuschreiben, die sich auf die Identitätsproblematik und die komplexe Struktur des Erzählens von ihr bezieht. »Nichts« kann passieren – dies ist ein logischer Widerspruch, deswegen »geschieht« immer »nichts«. Wie Jean Baudrillard sagt: »›Wenn man alles wegnimmt, bleibt nichts.‹ Das ist falsch.« (Baudrillard 1981: 205; übersetzt von D. Henseler). »Alles« und »nichts« sind hier die Ränder des Erkennens, das Absolute, das man nicht erreichen kann. Ganz ähnlich schreibt Andrzej Skrendo über Poszukiwanie całoĞci: »NiewrzĊda scheint sein Erzählen gemäß der Annahme zu konstruieren, dass die Suche nach Ganzheit nie von Erfolg gekrönt sein kann.« (NiewrzĊda 2009: 144)

S CHLUSS Was ist die Lektüre von Texten, welche über die Veränderungen des heutigen Europa berichten? Die Betrachtung endloser Reihen von Oppositionen, das Durcheinander der Ordnungen, die Störung der geografischen Bezugspunkte – so müsste man wohl heute Krzysztof NiewrzĊdas Prosa lesen (ohne bei der Interpretation Erfolge zu erwarten), aber auch die Werke anderer schreibender Migranten (Brygida Helbig, Dariusz Muszer, Janusz Rudnicki), die gegenüber der Realität in der Emigration kritisch eingestellt sind, die diese in ihre Urbestandteile zerlegen und aufzeigen, dass die europäische Identität (der Polen, Deutschen, Europäer) sich nicht unbedingt zu einer bestimmten, geschlossenen, unbeweglichen Ganzheit fügen muss. In einer solchen Perspektive würde ich Krzysztof NiewrzĊdas Werk einordnen: eine Emigration, die mehr ist als nur ein Erzählen, das an die Tradition der außerhalb Polens geschriebenen Texte anschließt, eine ›Emigration‹ eben in Anführungszeichen, aber auch eine Migration, die Ausdruck einer europäischen Identität ist und einer bisweilen schwierigen Nähe von Polen und Deutschland, Stettin und Berlin, Polen und Deutschen. Aus dem Polnischen von Daniel Henseler

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L ITERATUR Baudrillard, Jean (1981): Simulacres et simulation, ParyĪ. Bauman, Zygmunt (1995): Postmoderne Ethik, Hamburg. Czechowska, Justyna/Kramek-Klicka, Anna (2010) (Hg.): Ta sama Europa? Inna literatura?, Szczecin/Bezrzecze/Warszawa. Giddens, Anthony (1991): Modernity and self-identity: self and society in the late modern age, Cambridge. NiedĨwiecki, Dariusz (2010): Migracje i toĪsamoĞü. Od teorii do analizy przypadku, Kraków. NiewrzĊda, Krzysztof (2005): Czas przeprowadzki, Szczecin. NiewrzĊda, Krzysztof (2007): Wariant do sprawdzenia, Szczecin. NiewrzĊda, Krzysztof (2009): Poszukiwanie całoĞci, Szczecin. RybczyĔski, Witold (1996): Dom. Krótka historia idei, GdaĔsk/Warszawa. Scheffer, Paul (2007): Die Eingewanderten: Toleranz in einer grenzenlosen Welt, München. Traba, Robert (2009): »W poszukiwaniu ›przenoĞnej ojczyzny‹. Polacy w wielokulturowym Berlinie«. In: ders.: PrzeszłoĞü w teraĨniejszoĞci. Polskie spory o historiĊ na początku XXI wieku, PoznaĔ, 265-282. Urry, John (2000): Sociology beyond societies: mobilites for the twenty-first century, Londyn/Nowy Jork.

Zwischen den Sprachen und Kulturen Sprachverweigerung, Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit von Schriftstellern polnischer Herkunft vor und nach 1989/90 H ANS -C HRISTIAN T REPTE

Z UR T RADITION

DES

S PRACHWECHSELS

IM

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Exil und Emigration haben die polnische Gesellschaft, Kultur und Literatur nachhaltig geprägt. Dazu haben die so genannte ›Alte Emigration‹ im 19. Jahrhundert, auch ›Große Emigration‹ (Wielka Emigracja) genannt, wie auch die zahlreichen Exilwellen im 20. Jahrhundert, die den politischen Zäsuren von 1939 und 1945 folgten, entscheidend beigetragen. Was die Terminologie betrifft, ist zwischen einer politisch motivierten Emigration, dem Exil, und einer hauptsächlich wirtschaftlich begründeten Emigration zu unterscheiden. Nach dem demokratischen Umbruch von 1989/90 waren in Polen wie in ganz Ostmitteleuropa die Bedingungen für das Exil obsolet geworden. Das bedeutet allerdings nicht, dass damit das Exil mit seinen Strukturen plötzlich aufgehört hätte zu existieren. Emigration und Migration zählen auch heute zu den wichtigen ökonomischen, gesellschaftlichen, kulturell-literarischen und sprachlichen Phänomenen in und außerhalb Europas. (Vgl. SĊkowska 2010) Dabei spielt die große Zahl der Auslandspolen (Polonia) wie auch der polnischen Migranten in zahlreichen Ländern Europas und in Übersee, in den USA, in Kanada, in Brasilien, Südafrika eine wichtige Rolle. Der polnische Sozialanthropologe Michał P. Garapich geht dabei von einem ›Mobilitätsgen‹ aus, das die Polen angeblich in ihrer gesellschaftlichen DNA haben. (Garapich 2010: 65-77) Im Zusammenhang von Exil und Migration haben sich bestimmte Strukturen, Mechanismen, Verhaltensmuster, Diskurse wie auch (symbolische) Begriffe herausgebildet.

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»Deshalb ist es schwierig, über die Migration aus Polen zu reden, ohne daran zu erinnern, wie stark diese zurückwirkt auf die Kultur, die Selbstwahrnehmung, die öffentlichen Debatten und die Versuche, eine Antwort zu finden auf die Frage: Wer sind die Polen im heutigen Europa, und wer sind sie auch als Gemeinschaft und Gesellschaft?« (Ebd.: 65)

Bis heute hält in unterschiedlichen Narrationen die Diskussion darüber an, ob das Exil und damit im Zusammenhang auch der Sprachwechsel im Sinne der heftigen Angriffe der polnischen Schriftstellerin Eliza Orzeszkowa auf Joseph Conrad (Józef Teodor Konrad Korzeniowski) bis hin zu führenden Vertretern der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwoĞü, PiS) als eine nationale Tragödie, als ein die polnische Existenz bedrohender Aderlass oder aber als Chance für die Modernisierung, die Europäisierung und westliche ›Zivilisierung‹ Polens angesehen werden können. Dabei sind sich alle Schriftsteller, unabhängig von ihrer ethnisch-kulturellen Herkunft in einem Punkt einig: Die Sprache allein ist ihr wichtigstes Werkzeug. Die Diskussion um »Glanz und Elend des Exils« führte bereits der polnische Exilschriftsteller Józef Wittlin, der sich u.a. mit Auffassungen vom Sprachwechsel des aus Rumänien stammenden und in französischer Sprache schreibenden Emil M. Cioran auseinandersetzte. (Wittlin 2003: 249-260) Die Vorwürfe, ›Verrat‹ an Land, Volk, Sprache und Kultur zu begehen, sind im polnischen Kontext in einem engen Zusammenhang mit der Geschichte Polens und den polnischen Traumata zu sehen, zu denen die drei bzw. vier Teilungen des Landes ebenso gehören wie die Abkommen und Vereinbarungen zwischen Preußen bzw. Deutschland auf der einen und Russland bzw. der Sowjetunion auf der anderen Seite. Unter den Bedingungen der Fremdherrschaft kam das Schreiben auf Polnisch einem Akt des Patriotismus gleich. Es waren die polnischen Romantiker Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki, die das Polnische als ein »Mysterium der (polnischen) Seele« bezeichneten und zum »Sacrum« erhoben. Jeder Versuch, die quasi sakrosankte polnische Sprache gegen eine andere auszutauschen, jedes Wagnis eines Sprachwechsels wurde als Verrat, als schwere Strafe angesehen. Erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zeichnete sich zögerlich ein Paradigmenwechsel ab. Es waren der in deutscher Sprache debütierende Stanisław Przybyszewski (1868-1927), der, bevor er nach Polen zurückging, zur Berliner Bohème gehörte, und der mit dem österreichischwienerischen Kulturmilieu eng verbundene Tadeusz Rittner (1873-1921), die ihre Werke in deutscher und in polnischer Sprache verfassten. Das Schreiben in einer anderen Sprache wurde auch damals schon als ein Bekenntnis zu Universalismus und Europa angesehen, es erweiterte nicht nur den eigenen Horizont, sondern befreite auch vom ›ewig Polnischen‹. Mit Hilfe des Sprachwechsels

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konnte ein Sprengsatz unter das konservative Wertesystem gelegt werden, konnte eine selbstverliebte Nabelschau wie auch nationaler Egozentrismus vermieden werden. So begründete der polnische Nobelpreisträger Czesław Miłosz seine Entscheidung für das Exil 1951 in Frankreich u.a. damit, dass er sich dem Spuk zweier »national-patriotischer« Nationalismen entziehen wollte, dem des »fortschrittlichen« Volkspolen und dem des »eingepökelten Polentums« in Gestalt des konservativen polnischen Exils in London. (Trepte 2001: 603) Zu den »Pflichten eines Literaten« genügte es Miłosz zufolge eben nicht, lediglich »Wächter von Mythen« zu sein und selbst auferlegte patriotische Pflichten weiterzuführen. (Zawada 1996: 147) Mit der sprachlichen Grenzüberschreitung gehen häufig weitere Transgressionen einher, die sich u.a. auf politische, gesellschaftliche, religiöse und sexuelle Tabus beziehen. Allerdings bedeutete das im Rückschluss nicht, dass besagte Tabubrüche immer mit einem Sprachwechsel einhergehen müssen. In der Fremde kommt es in der Auseinandersetzung mit der Mehrheitssprache nicht selten zu einer sozialen Entwertung der Muttersprache, zu einer Aufhebung ihrer Kommunikationsfunktion. (Manea 2003: 194) Die aus Krakau stammende und in englischer Sprache schreibende Eva Hoffman hebt hervor, dass »eine sprachliche Umwandlung« auch als eine Art ›Befreiung‹ angesehen werden kann. Vor allem dann, wenn die Betroffenen aus »ihrer Muttersprache heraustreten« und dabei das Gefühl haben, »mit neuen Worten könnten sie neue Personen erfinden« oder »endlich ihre wahre Persönlichkeit ausdrücken«, weil das eigene Ich in der Muttersprache »auf Grund von kulturellen Zwängen oder Herkunftsregeln« gehemmt gewesen sei. (Hoffmann 2003: 219-220) Eine andere Kategorie bilden jene Schriftsteller, die es zumeist kategorisch ablehnen, sich eine andere Sprache aufzupfropfen, »sei es aus Loyalität oder auch aus Prinzip oder einfach, weil es ihnen vor einer so tiefgehenden Veränderung graut«. (Ebd.: 220) »Während die einen verbotene Dinge leichter in einer Sprache sagen können, die nicht von Kindheitsassoziationen und Tabus überquillt, ist für die anderen die angenommene Sprache ein förmliches Kleidungsstück«, ein Arbeitsanzug, ein Festkleid oder aber »eine Art seelische Maske, die keinerlei Übertretung oder Verletzung des Anstands erlaubt«. (Ebd.) Eva Hoffmann verweist dabei darauf hin, dass »die Beziehung, die man zu der zweiten Sprache entwickelt«, vor allem »stark von der Bindung an die Muttersprache beeinflusst« wird, der darüber hinaus auch die »vertrauten Bedeutungen der Kindheit anhaften«. (Ebd.) So vermutet die Schriftstellerin, dass es sich bei ihrem Entschluss, Polnisch als Erstsprache zu verdrängen, auch um eine »Taktik handelte, die teils der Kompensation, teils der Selbsterhaltung« diente. (Ebd.) Die erste Sprache kann in einer bewusst gewählten Abstoßreaktion ›getötet‹ werden. »Polnisch sollte verstummen,

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so daß ich in mir Platz für Englisch hätte. […] Indem ich also das Polnische verdrängte, versuchte ich wohl ein paar Nervenbahnen freizumachen, auf denen sich englische Zeichen samt Syntax festsetzen könnten. Denn das Englische sollte unbedingt haften bleiben.« (Ebd.: 219) Mit dieser Verdrängungsmethode soll dem zweiten, fremden Ich, das im Extremfalle ein unbekanntes, fast bedrohlich wirkendes äußeres Objekt darstellen kann, eine Chance gegeben werden. Dieses zweite Ich gilt es anzunehmen, es muss verinnerlicht, letztendlich auch geliebt werden. Das Schreiben in einer anderen Sprache ist ein komplizierter Prozess, der in einem engen Zusammenhang mit der eigenen nationalen und kulturellen Identität steht. Der konsequente Sprachwechsel geht zumeist mit einer bewussten Abnabelung von der Erstsprache, mit dem Verdrängen des ersten sprachlichen Ichs, der eigenen Vergangenheit einher, und dabei kann sich das Gefühl einstellen, »eine Zeitlang keine Sprache zu besitzen«. (Ebd.) Für Eva Hoffman war das Englische, als sie nach Kanada kam, »eine Terra incognita«, das Polnische schien plötzlich zu verschwinden, »wie von einer lautlosen Waffe ausgelöscht«. Das Gefühl, keine Sprache richtig zu besitzen, kann auch produktiv werden, wenn entdeckt wird, wie wichtig die innere Sprache für das Bewusstsein des eigenen Ichs ist. Das führte in ihrem Falle dazu, Lost in Translation. A Life in a New Language zu schreiben. (Hoffman 1993) Der polnische Schriftsteller Stanisław BaraĔczak, der ebenfalls längere Zeit im Exil gelebt hatte, bezeichnete Eva Hoffmans Roman als ein »semantisches Tagebuch« (pamiĊtnik semantyczny), das aus mehreren Perspektiven auf das Problem der »sprachlichen, kulturellen, gesellschaftlichen, mentalen und sentimentalen Assimilation« eingeht. (BaraĔczak 2003: 501)

S PRACHWECHSEL

IN DER ZEITGENÖSSISCHEN

L ITERATUR

Die Kardinalfrage des Sprachwechsels stellt sich bis heute, sie hat sich im Laufe der Zeit nur wenig verändert und bewegt sich zwischen der Entscheidung, das Wagnis auf sich zu nehmen, in eine andere Sprache zu wechseln und dort heimisch zu werden oder in der scheinbar sicheren Geborgenheit des Kokons der Muttersprache zu verharren. Die anfänglich schützende Hülle des Kokons kann aber auch zu eng werden, sie kann zu symbiotisch und einer schöpferischen Erweiterung des Gesichtsfeldes hinderlich sein. Immer wieder wird die Frage gestellt, was mit der Erstsprache geschieht, die als transportables Medium in die Fremde mitgenommen wird. Abgesehen von den in einem anderen Land lebenden Landsleuten kann sie kaum als Kommunikationsmittel gebraucht werden. Es

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gibt Schriftsteller, die einen Sprachwechsel ablehnen, sei es aus Loyalität, aus Prinzip, aus Unfähigkeit oder einfach, weil sie eine derartige grundlegende Veränderung scheuen bzw. weil sie es »einfach nicht können«. (Zagajewski 2003: 212) Bei den Sprachverweigerern bleibt die mitgebrachte Sprache Medium des Denkens und Empfindens, das auch weiterhin den Stoff für die literarischen Werke liefert und den klassischen Kreis von Adressaten bestimmt. Die sich gegenüber kulturellen und literarischen Belangen reserviert, gleichgültig bzw. desinteressiert verhaltenden Auslandspolen kamen als Leserpublikum dabei kaum in Frage. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt von geradezu existentieller Bedeutung. Das Schreiben in der Erstsprache konnte nicht mehr dem täglichen Broterwerb dienen. Erst wenn es einem Schriftsteller gelang, mit einer besonderen Thematik Aufmerksamkeit im Gastland bzw. in der neuen Heimat zu erreichen, Übersetzer und Verlage zu finden, die bereit waren, das Werk eines literarischen Neulings zu veröffentlichen; erst dann war die Möglichkeit gegeben, die »Mauern des Schweigens« zu durchbrechen. (BrzĊkowski 1956) Durch die Begegnung mit dem anderen Land, seiner Kultur und Sprache entsteht eine autobiografische Züge tragende Literatur. Es kommt zumeist zu einem wertenden Rückblick, einer Abrechnung mit dem Herkunftsland. Im Erläutern der eigenen Situation und Befindlichkeit in der Fremde, im Erklären des Herkunftslandes, seiner Geschichte und Kultur, kann eine vorzügliche Übung gesehen werden, Fremden, Nichteingeweihten das Besondere und Eigene auf verständliche Art und Weise zu erklären. Das kann zu innovativen Lösungen führen. Durch das Einbrechen heterokommunikativer Strukturen wird allerdings der vertraute interne Codewechsel wie auch die Verwendung von Kulturwörtern reduziert, Sprachspiele werden fast immer auf eine Nullstufe zurückgefahren. Das trifft allerdings auch auf die andere Strategie zu, nämlich gezielt Werke für den Übersetzer zu schreiben. Bei diesem Verfahren konnte man in der mitgebrachten Sprache bleiben, zugleich aber auch ein universales, kosmopolitisches Leserpublikum erreichen. Auch hier bedeutete dies, historische, gesellschaftliche und kulturelle Bezüge stark zu begrenzen, vermehrt Selbstreflexionen auf metasprachlichen und metakulturellen Ebenen anzusiedeln und Sprachexperimente einzuschränken. (Vgl. Hultsch 2009: 169-184) Für einen Autor, der entwurzelt ist, kann »die Übersetzung zu einer Art Einreisevisum für das Land, in dem er jetzt lebt, werden […]. Sie sichert ihm neben der Staatsbürgerschaft auch die literarische Aufnahme zu […].« (Manea 2003: 189) Doch ergibt sich aus dieser Verfahrensweise nicht auch die Gefahr, dass »Heteronyme« durch »Varianten ein und desselben Orthonyms« ersetzt werden? (Ebd.) Auch beim Schreiben für den Übersetzer bedurfte es oft eines gewissen Bekanntheitsgrades, brauchte man gute Übersetzer, Verleger, entsprechende Promotion.

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Die Frage eines wirklichen Sprachwechsels kann sich als Art Notwendigkeit im Zusammenhang mit der Frage stellen, für wen man außerhalb des eigenen Sprach- und Kulturkreises eigentlich schreiben soll. Am besten konnte man einen neuen Adressaten durch den Wechsel in eine andere Sprache, möglichst eine Weltsprache erreichen, die einen breiten Leserkreis garantierte. Für einen solchen Wechsel ist eine zunächst im Kopf vollzogene Autoübersetzung nötig, sind Translationen doch als ein Prozess wie auch als ein psychoanalytisches Problem zu begreifen. Gilt es mit einem Sprachwechsel auch eine »transnationale, universale Literatur« im Sinne von Weltliteratur zu schaffen? (Vgl. Damrosch 2003) Konnte man damit nicht zugleich Eingang in die Ruhm, Ehre und Prestige versprechende »République mondiale des lettres« finden? (Vgl. Casanova 1999) Die Frage der Zugehörigkeit zu einer größeren Sprach- und Literaturgemeinschaft bzw. zur Weltliteratur beschäftigte Schriftsteller ›kleiner‹ Sprachen und Literaturen ganz besonders. Wie sollte man im Vergleich mit der Mehrheitssprache und Mehrheitskultur mit der eigenen Kleinheit umgehen? Bedürfen ›kleine‹ Literaturen überhaupt ihrer eigenen Sprache, um Weltliteratur zu werden? Oder ist es nicht »vorteilhaft, sich anstatt einer Provinzsprache der Weltsprache zu bedienen?« (Zagajewski 2003: 212) Ist es nicht wichtiger, in der Welt präsent, entsprechend vermarktet und damit gelesen zu werden? Was diesen Zusammenhang betrifft, soll George B. Shaw in einem Brief an Henryk Sienkiewicz geäußert haben, dass er sich wundere, »dass die Polen nicht die russische Sprache übernommen hätten. Die Iren hätten sich das Englische angeeignet und seien damit gut gefahren.« (Ebd.) Hört mit dem Sprachwechsel die andere Sprache auf, eine unwillkommene, feindliche zu sein? Wie ist der Übergang in eine andere Sprache überhaupt zu werten? Bleibt der Sprachwechsel das größte Ereignis, das einem Schriftsteller widerfahren kann? (Manea 2003: 187) Der durch das Exil bedingte Verlust des ständigen Kontakts zur lebendigen Sprache stellt eine Gefahr für all jene Autoren dar, die auch weiterhin in der Sprache der Heimat schreiben möchten. In einer solchen Situation bedarf die in die Fremde mitgebrachte Sprache der besonderen Fürsorge und Pflege, d.h. der Schriftsteller muss der Sprache dienen. Dem gab z.B. Czesław Miłosz in seinem Gedicht »Meine treue Sprache« wie folgt Ausdruck: »Moja wierna mowo,/moĪe to jednak ja muszĊ ciebie ratowaü./WiĊc bĊdĊ dalej stawiaü przed tobą miseczki z kolorami/jasnymi i czystymi jeĪeli to moĪliwe,/bo w nieszczĊĞciu potrzebny jakiĞ ład czy piĊkno.« (Miłosz 2011: 595)

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»[…] Meine treue Sprache, vielleicht bin ich es, der dich dennoch retten muss./Also werde ich weiterhin vor dich Töpfchen mit Farbe stellen,/mit hellen und reinen Farben, wenn möglich,/denn irgendeine Ordnung, auch Schönheit tun im Unglück not.« (Miłosz 1982: 36)

Miłosz übersetzte aber auch Bibeltexte neu, um die Sprache zu reinigen, sie zu läutern, von Phrasen, Slogans, doppelter Rede und Neusprech (newspeak) zu befreien, um nach einer neuen Würde für sie zu suchen. (Miłosz 1997: 124, vgl. auch Czarnecka 1983: 166) Das betraf auch die ›Verblödung‹ durch das Neusprech der Diktatur, der mit dem Lesen großer Literatur, vor allem aber mit einer gezielt vorgenommenen Sprachhygiene begegnet werden musste, um die »unverfälschte Sprache« vor dem Missbrauch durch die kommunistischen Demagogen und Ideologen zu retten, denn »wer die Macht besitzt, der kann auch die Sprache kontrollieren, und das nicht nur durch Verbote der Zensur, sondern auch, indem der Sinn der Wörter verändert wird«. (Zawada 1996: 189) Eine andere Frage betrifft die Dialekte, Soziolekte bzw. das so genannte Pidgin-Polnisch, das funktional gebraucht auch Eingang in die polnische Literatur gefunden hat. (SĊkowska 2010: 36-62) Zu ihnen gehört beispielsweise Edward RedliĔski, vor allem mit seinem Roman Szczuropolacy bzw. Szczurojorczycy, der die Sprache der aus Polen zumeist mit einem Touristenvisum in die USA kommenden polnischen ›Touristen‹, die dort illegal blieben, zur Charakterisierung seiner literarischen Figuren verwendet. Thematisiert wird die Konfrontation mit dem Fremden, dem Anderen wie auch die Stigmatisierung und Marginalisierung der von außen Kommenden, die oft auch nach ihrer Einbürgerung Fremde bleiben müssen. (Vgl. Gretkowska 1999) Das gilt zum Teil auch für Sprachwechsler, die oft an die Ränder der adoptierten Sprache gedrängt werden, weil sie nicht den Sprachklassifikationen und Kriterien des Gastlandes entsprechen und aus diesem Grund immer wieder auf ihre östliche Herkunft und Identität zurückgeworfen werden. Die neue Sprache wird nicht nur bei den Sprachwechslern als ein Universalschlüssel zum Verständnis der anderen Kultur und Literatur angesehen. Erst mit dessen Hilfe kann sich ein Schriftsteller aktiv am Leben in der Mehrheitsgesellschaft beteiligen, eine Ghettoisierung vermeiden. Das Sprach-, Kultur- und Codeswitching wird zu einem wichtigen Thema einer Literatur, die weder sprachlich noch kulturell eindeutig verortet werden will, die sich bewusst jeder nationalen Funktionalisierung zu entziehen versucht. Vielen Autoren im sprachlich-kulturellen Niemandsland ist oft genug die Zerreißprobe im Spielfeld zwischen den einzelnen nationalen Polen zu mühsam und zu anstrengend. Nachdem sie zunächst ihre eigene Befindlichkeit in der neuen Heimat literarisch thematisiert haben, greifen sie oft auf

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weniger verfängliche Themen zurück wie es z.B. Adam Soboczynski nach der Veröffentlichung seines Buches Polski Tango tat. Ein erfolgreich vollzogener Sprachwechsel, eine Zwei- oder gar Mehrsprachigkeit wird zunehmend als eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Integration begriffen. Das war im Exil so und trifft ebenso auf die Migrationsliteratur zu. Viele ihrer Vertreter wollen nicht einer »verlorenen Generation« angehören. (Vgl. Iglicka 2010: 79-85) So sind die meisten Vertreter der ›Podolski-Generation‹ in Deutschland (bzw. der ›Kowalski-Generation‹ in den USA) sprachlich und sozial fast vollkommen integriert, sie möchten unsichtbar sein, d.h. nicht als Fremde auffallen. Ein solches Unsichtbarwerden kann einen oft ironisch gemeinten »dritten Weg« der Integration in Verbindung mit einem erfolgreich vollzogenen Sprachwechsel darstellen. (Soboczynski 2006: 28-31) Er kann zu einer Akkulturation, zur Assimilation führen, oder aber zu einer bewussten »Zwischenstellung« zwischen den Kulturen, Sprachen und Identitäten. (Kerski 2010: 19-22) Es sind fast immer Vertreter der jungen Generation, die diesen Weg wählten. Das gilt in erster Linie für all diejenigen, die bereits außerhalb Polens geboren und sozialisiert wurden und die Sprache ihrer (neuen) Heimat nicht allein nur als Schreibsprache verwendeten. (Amodeo: 1996, 22f.) Die Vertreter der ›Podolski‹- bzw. ›Kowalski-Generation‹ gefallen sich darin, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne Grenzgänger zu sein, sich das für sie Passende auszusuchen, eigene Freiräume zu finden und diese für sich entsprechend zu nutzen. Ihnen selbst (und auch den Lesern) ist es dabei ziemlich egal, ob sie als Polen, Engländer, Deutsche oder aber Franzosen definiert werden. Mit Freude und Lust bewegen sie sich zwischen den Welten, zwischen den einzelnen Kulturen und Sprachen. Ihre Identität ist ambivalent, sie kann wechselnd, bipolar oder fließend sein. (Vgl. Kerski 2010: 19-22) Patriotismus, Pathos und Mythen sind ihnen ebenso fremd wie der nationalkonservative Katholizismus in Polen mit seiner Pseudomoral. Ihre Erzählungen sind unabhängig und frei, sie demonstrieren bewusste Distanz zum Herkunftsland der Eltern ebenso wie zum neuen Heimatland. Ihre Bücher, zumeist in beiden Ländern gelesen, garantieren Erfolg vor allem dann, wenn sie ein andersartiges, nicht selten exotisches Kolorit garantieren. (Vgl. Nagel 2009) Diesbezüglich scheint, unabhängig von der Zeit, eine Literatur polnischer Provenienz, die eben nicht dem polnischen Kanon entspricht, Erfolg zu garantieren. Und wenn sie schon in Polen verortet sein muss, dann wenigstens als »andersartige polnische Literatur« (polska literatura inaczej), die sichtbar vom konservativen Literaturkanon in Polen abweicht. Das wusste bereits das aus Polen stammende ›enfant terrible‹ des Fin de siècle, Stanisław Przybyszewski, der seinerzeit als ›genialer Pole‹ bzw. Slawe in Deutschland für Aufsehen sorgte. (Vgl. Matuszek 2008) Das wusste aber auch der international wohl erfolgreichste aus Polen stammende Schriftstel-

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ler Jerzy KosiĔski, dem es mit großem Erfolg gelungen war, seine fiktionalisierte Kindheit zu vermarkten. Im Amerika der 1960er Jahre setzte er auf das Zugpferd ›sex, crime and kitsch‹ und stellte bewusst seine schillernde, damals (noch) exotisch anmutende osteuropäische Herkunft heraus. KosiĔski verstand es, in seinem Bestseller The Painted Bird (Der gemalte Vogel) den Holocaust als biografische Legende mit Erfolg zu vermarkten. Sein Roman wurde an amerikanischen Schulen sogar zur Pflichtlektüre. Neben Joseph Conrad gilt KosiĔski als Musterbeispiel einer erfolgreichen, mit Hilfe des Sprachwechsels realisierten Schriftstellerkarriere im Westen. Janusz Głowacki bezeichnet in seinem neuesten Buch Good night, DĪerzi KosiĔski als einen »genialen Manipulator« und »Trendsetter«, der das im Menschen steckende Böse beschrieb, den die Dämonen der Vergangenheit wie die seiner eigenen Fantasie bis hin zu seinem Freitod als seinem letzten kreativen Akt quälten. (Vgl. Głowacki 2010)

S PRACHWECHSEL

IN DER

M IGRATIONSLITERATUR

Entscheidend für die polnische Migration der 1980er Jahre, für die Integration, aber auch für die Reputation der Polen, für die Entstehung hybrider Identitäten und Kulturen wie auch für Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit war die ›SolidarnoĞü-Emigration‹ in Europa, namentlich in Deutschland und in den USA. Immer deutlicher begann sich das Bild der Polen in der Wahrnehmung des Gastlandes bzw. der neuen Heimat zum Positiven zu verändern, erfolgte eine deutliche Abgrenzung und Distanzierung des Exils von der Wirtschaftsemigration, der erfolgreich integrierten Intellektuellen, Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller polnischer Provenienz von den Auslandspolen (Polonia). Die ›SolidarnoĞü-Emigration‹ ist dabei als die letzte politisch motivierte Exilwelle aus Polen anzusehen. Ihr folgten Migranten, gezielt Weggewanderte ebenfalls in mehreren Wellen, die sich eine nach dem demokratischen Umbruch im östlichen Teil Europas (1989/90) mögliche Rückkehr in ihre Herkunftsländer wie auch eine Option, in den Gastländern (zumeist englischsprachige wie Irland, Großbritannien oder USA) zu bleiben, offen halten. Ihre Entscheidung wird kaum mehr von politischen oder ideologischen Gründen, sondern von zumeist rein ökonomischen Erwägungen bzw. privat-persönlichen Motiven bestimmt. In Deutschland hat sich eine erfolgreiche »nichtslavische Literatur slavischer Migranten« etabliert, deren Vertreter sich für die deutsche Sprache und die deutsche Mehrheitskultur entschieden haben. (Vgl. Uffelmann 2009: 601-630) Zu den ersten aus Polen stammenden Schriftstellern, die in deutscher Sprache schreiben und in Deutschland eine deutsche Identität »entwickeln«, gehören

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Britta Wuttke und Peter Lachmann. (Dzikowska 2006) Mit wachsendem Erfolg wird Deutsch als Schreibsprache von Radek Knapp (Knapp 1994, 2001, 2003, 2005), Dariusz Muszer (Muszer 1996, 1999, 2001), Artur Becker, Natasza Goerke, Joanna Manc, Brygida Helbig-Mischewski, Magdalena Felixa, Maria Kolenda, Paulina Schulz gebraucht. Interessant ist dabei auch die Figurenwahl, so bei Knapp und Muszer zumeist Nichtintellektuelle und Außenseiter, polnische ›Picaro-Helden‹, die sie in den Mittelpunkt ihrer Werke stellen. (Uffelmann 2009: 607) Dabei treten nicht nur bei Muszer jene sonderbaren ›Außerirdischen‹ auf (Muszer 1999: 212f.), die auffallend mit den von Stanisław BaraĔczak eingeführten EEs (Eastern Europeans, im Unterschied zum AA – Authentic American) übereinstimmen. (Behring/Kliems/Trepte 2004: 43) Zwischen dem Alien und den nach Amerika eingewanderten Osteuropäern sah BaraĔczak durchaus Parallelen, vor allem was ihre Unkenntnis des Landes, ihre Berührungsängste und das Phänomen des Kulturschocks betrifft. (BaraĔczak 1990: 195) Das Verhältnis zum Gastland bzw. der neuen Heimat, zu Schreib- bzw. Mehrheitssprache ist oft ambivalent. Der in deutscher Sprache schreibende Artur Becker bringt in einem Gedicht aus dem Jahr 1998 seine zwiespältige Haltung dem Deutschen gegenüber wie folgt zum Ausdruck: »Wie ich in dieser gottverfluchten Sprache schreiben muß/In dieser scheiß Sprache gottverdammten Sprache … In dieser Wörter Wörterbuchsprache/die ich so hasse hasse hasse«. (Becker 1998: 16, vgl. Schrader 2010) Provokativ überschreibt auch Piotr Roguski den seinen deutschen Freunden gewidmeten Gedichtband mit Co mnie obchodzą Niemcy?/Was gehen mich die Deutschen an? (Roguski 2007) Immer wieder spielt in den Werken von Migrationsschriftstellern die interkulturelle Polemik, ein zuweilen ermüdender Austausch von Stereotypen und Klischeevorstellungen im Spannungsfeld von ›Ost‹ und ›West‹, von ›Polen‹ und ›Deutschen‹ eine wichtige Rolle. Besonders deutlich wird das bei Dariusz Muszer, der den traditionellen, in der polnischen Kultur und Literatur geführten Ost-West-Dialog in seinen Werken aufnimmt und, dem Beispiel Zbigniew Herberts vom (östlichen) Barbaren im Garten des Westens folgend, im Werk Der Echsenmann seine äußere wie innere Mutation zu einem dicken, behaarten Schimpansen demonstriert. (Muszer 2001: 56) Die Gratwanderung zwischen den Sprachen zeigt sich in einer eindrucksvollen, oft sinnlichen Metaphorik. Dabei sind die sich z.B. auf Fische bzw. Reptilien und die Zunge (vgl. Zungenzauber 2008) beziehenden Metaphern für den Sprach- und Kulturwechsel in der Exil- bzw. Migrationsliteratur häufig anzutreffen, scheinen geradezu typisch zu sein. (Brežná 1996) Das Leben in beiden Sprachen und Kulturen ermöglicht vielen Sprachwechslern auch als bewusste Vermittler und Brückenbauer zwischen den Völkern, Sprachen und Kulturen zu wirken. (Muszer 1996: 4-7) In diesem Kontext sind die sogenannten Polenbücher,

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die mit Witz und Humor über das östliche Nachbarland berichten, zu erwähnen. Zu ihnen gehört z.B. Radek Knapps Gebrauchsanweisung für Polen, in dem der selbsternannte ›Polenexperte‹ zu erklären versucht, wie sein Herkunftsland ›funktioniert‹. (Knapp 2005) Wir haben es, was diese Bücher betrifft, mit einer klassischen »kulturellen Translation« zu tun (Bhabha 2000), die eine Vielzahl kultureller und literarischer Bezüge aufweist. Der Autor will beim deutschen Leser vor allem Neugier für sein Land wecken, denn »eins ist sicher, es sind immer die Neugierigen gewesen, die sich in Polen am wohlsten gefühlt haben«. (Knapp 2005: 11) In Polen geboren, seit seinem elften Lebensjahr in Österreich lebend und in deutscher Sprache schreibend, vereint Knapp zwei unterschiedliche Perspektiven auf sein Herkunftsland, eine Außen- und eine Binnensicht. Trotzdem gelingt es ihm dabei nicht ganz, verbreitete Stereotype, gängige Klischeevorstellungen und liebgewordene polnische Autostereotype zu vermeiden. Viele der in der Mehrheitsgesellschaft schreibenden Migrationsschriftsteller werden sprachschöpferisch kreativ, sie suchen nach Tropen und kreieren Neologismen. Verwiesen sei diesbezüglich auf ein Beispiel von Artur Becker, der nach seinem Zuhause gefragt, von »Zuhäusern« spricht, damit also eine Pluralform für Zuhause ›erfunden‹ hat. (Vgl. auch Schrader 2010) Häufig werden Wörter aus der einen Sprache in die andere geschmuggelt, kommt es zu gewollten sprachlichen Verfremdungen, zu hybriden Sprachformen, zur bewussten Sprachmischung. (Vgl. SĊkowska 2010: 33-62; Slaska 1995; PiaszczyĔski 2000) Dabei scheint es legitim zu sein, die Frage danach zu stellen, wie weit eine solche Anpassung an die Mehrheitssprache gehen muss, um als nichtdeutscher, Deutsch schreibender Schriftsteller entsprechendes Gehör zu finden. (Uffelmann 2009: 626) Sollen die Migranten bzw. Deutschen mit Migrationshintergrund ihre Sprache so anpassen, dass sie nicht mehr als Fremde wahrzunehmen sind? Oder sollten sie ihre Eigenheit, ihr Anderssein, ihre Spezifik und Exotik nicht nur, was ihre Themen betrifft, sondern auch mit ihrem individuellen Sprachempfinden in ihrer persönlichen Sprache deutlich machen und dabei auch mit sprachlichen Formulierungen und Sprachneuerungen provozieren? Wichtig erscheint den meisten Migrationsschriftstellern, dass ihr literarisches Schaffen nicht als ein bloßes ›folkloristisches Detail‹ der ›richtigen‹ deutschen Literatur angesehen wird, sondern dass ihre ›eigenständige‹ Existenz anerkannt wird, dass sie Anklang bei Lesern wie auch Anerkennung bei den Kritikern finden. (PiaszczyĔski 2000: 7) Magdalena Felixa gehört wie Paulina Schulz zu den in Deutschland lebenden Autoren, die sich als Schriftstellernomaden fühlen, die eine geografische, kulturelle und sprachliche Verortung scheuen, sich vielmehr im Niemands- bzw. im Zwischenland zwischen Sprachen, Kulturen und Identitäten wohlfühlen. Felixas erster Roman Die Fremde ist ein metaphorisches Psychodrama über selbstge-

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wählte Entwurzelung, archetypische Heimatlosigkeit und Ortlosigkeit. (Felixa 2005) Die aus dem provinziellen Osten in die Weltstadt Berlin kommende Protagonistin befindet sich auf der Flucht und sucht ihr Glück in der Fremde. Nach Belieben nennt sie sich Hanna, Mimi oder auch Alice; ihre wechselnden Vornamen scheinen für ihre austauschbaren Identitäten zu stehen und verdeutlichen ihr rastloses Umherwandern. So hat Felixas Hauptfigur alles verloren, was sie (noch) an ihr Herkunftsland binden könnte, Eltern, Heimat, Liebe, Besitz. Sehr schnell weiß sie die sich aus dem Zustand der absoluten Heimatlosigkeit, des ›Unbehaustseins‹ und der Fremde ergebenden Freiheiten zu nutzen; allen nationalen wie kulturellen Ballast scheint sie abgeworfen zu haben. Magdalena Felixas Protagonistin verdeutlicht die transnationale Perspektive zahlreicher zentraler Figuren im literarischen Werk von Migrationsschriftstellern. (Vgl. Glorius 2007) Auch was die Sprache betrifft, teilen diese Figuren zumeist das Gefühl, keine richtig zu besitzen. So fühlt sich Felixas Protagonistin dazu berufen, ›Weltbürgerin‹ zu sein, sie bekennt sich zu ihrer ›Heimat- wie Ortlosigkeit‹ ebenso wie zu ihrer Mehrsprachigkeit: »Ich habe keine Muttersprache, ich habe sieben Stiefmuttersprachen und kein Vaterland«. (Vgl. Trepte 2006: 136) Und das ist keinesfalls als eine Art Lamento, sondern als Manifestation einer gesuchten und gefundenen neuen Befindlichkeit aufzufassen. Paulina Schulz macht wiederum ihr Gefühl der Fremdheit zunächst an der Sprache fest, und zwar jener anderen, die ihr, als sie mit fünfzehn Jahren mit ihren Eltern von Wrocław kommend in die Bundesrepublik Deutschland einreiste, noch fremd war. Ähnlich wie auch Eva Hoffman berichtet die Ich-Erzählerin über ihr persönliches Ankommen in einer anderen Sprache, Kultur und Literatur, um letztendlich zu folgender Erkenntnis zu kommen: »Ich habe meine Heimat in der Literatur gefunden. Ich fühle mich keinem Land verbunden, auch nicht der deutschen oder polnischen Sprache. (Sprachen faszinieren mich an sich sehr, so habe ich mich auch intensiv mit dem Englischen, Französischen, Spanischen, Portugiesischen, Tschechischen, dem irischen Gälisch und den Dialekten der Sinti und Roma befasst.) Es ist nicht das Polnische oder Deutsche, das mich national, literarisch oder religiös geprägt hat. Ich lese hauptsächlich lateinamerikanische, irische, nordamerikanische und skandinavische Literatur, suche allerdings ständig nach neuen Wegen, erlese mir immer neue, andere Welten, wandere dazwischen. Aus dem entsetzlichen Gefühl des fünfzehnjährigen Mädchens, verstummt zu sein, seine Sprache verloren zu haben, ist mittlerweile das Gefühl geworden, sich jede Sprache, jede Literatur aneignen zu können und somit überall zu Hause sein zu können. Ich sehe mich weder als Polin, noch als Deutsche – ich bin Europäerin, ein Kind der Alten Welt.« (Schulz 2010: 196)

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»Das entscheidende Novum der in Deutschland entstandenen slavischen Migrantenliteratur« besteht darin, »dass das Deutsche als Schreibsprache […] mit beachtlichem Erfolg benutzt wird.« (Uffelmann 2009: 602) Ein Kardinalproblem der in Folge eines erfolgreichen Sprachwechsels entstandenen Literatur slavischer Provenienz ist es nach wie vor, dass sie von der Slavistik wie auch der Germanistik nur selten beachtet wird und damit zumeist im Niemandsland zwischen den Kulturen und Literaturen, zwischen den einzelnen Philologien und Wissenschaftsdisziplinen bleiben muss. Wichtige Impulse kamen dabei oft von anderen Philologien wie auch von der Auslandsgermanistik, die sich u.a. mit Fragen der Multikulturalität und Transnationalität auseinandersetzen. (Vgl. Stocker 2010) Bisher war es hauptsächlich die Exilforschung, die sich der Literatur der Sprachwechsler annahm. Im Herkunftsland, in unserem Fall in Polen, werden die in deutscher Sprache schreibenden Schriftsteller nur selten übersetzt. Sie stoßen insgesamt gesehen nach wie vor auf ein nur geringes, ungenügendes Echo. Das trifft nicht nur auf die Sprachwechsler, sondern auch auf die Mehrzahl der in Polnisch schreibenden Schriftsteller zu. Eine Ausnahme stellt diesbezüglich beispielsweise Natasza Goerke dar. Radek Knapps Romandebüt Herrn Kukas Empfehlungen wurde mit dem Titel Lekcje Pana Kuki ins Polnische übertragen, die Übersetzung fand allerdings in Polen nur geringen Anklang. Wahrscheinlich hängt das auch von der gewählten Thematik, aber ebenso von der Hybridität, Interkulturalität und Intertextualität wie dem anderen Realien- und Kulturbezug dieser Werke ab. Es sind überwiegend Vertreter der jüngeren Schriftstellergeneration, die immer wieder darauf verweisen, dass ihr Sprachwechsel kaum emotional zu begründen ist, dass ihre Entscheidung eher mit der Anstrengung zu tun hat, den Genius einer anderen Sprache zu adoptieren. Dabei definieren sie ihre nationale Identität immer weniger über die Sprache, sie spielen vielmehr mit umfassenderen Identitäten, mit der Zwei- und der Mehrsprachigkeit. (Vgl. Hultsch 2009: 169-184, hier 177) Nationales wird zunehmend reduziert, nicht zuletzt um dem »Terrorismus des kleinen Kontextes« aber auch den patriotischen Verpflichtungen zu entkommen, sie wollen aber ebenso den »Vorhang lüften«, hinter dem sich die eigene Sprache und Kultur verstecken. (Kundera, 2005: 57) Der Sprachwechsel scheint ebenso wie die Tendenz zur Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit im Widerspruch zum »Topos von der Andersartigkeit, der Unzulänglichkeit oder gar Unverständlichkeit« der einzelnen Sprache zu stehen. (Paul 2000: 39-44, hier 42) Doch fühlen sich viele Autoren bei ihrem Spagat zwischen den Kulturen und Literaturen durchaus wohl. Sie schätzen es, mindestens zwei Vaterländer und Sprachen zugleich zu besitzen und in mehreren Kulturen und Literaturen zu Hause zu sein. Und »ist es letztendlich nicht egal, in welcher Sprache man

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schreibt? Kann denn nicht jede Sprache, richtig gebraucht, uns den Weg zur Poesie, zur Welt öffnen?« (Zagajewski 2003: 216)

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An den Grenzen des Exils

Janusz Głowackis Amerika Destruktion eines Mythos Y VONNE P ÖRZGEN

M AKING

IT

»If I can make it there, I’ll make it anywhere.« So singt Frank Sinatra über »New York, New York«, Traum und Zielort zahlloser Emigranten aus allen Teilen der Welt. Sie wollten und wollen es schaffen, »make it«, nicht nur in New York, sondern in den USA generell. Der Mythos Amerika, der ihnen unbeschränkte Möglichkeiten verspricht, lockt sie. Sinatras Song beginnt mit den Worten »Start spreadin' the news, I'm leaving today/I want to be a part of it«. Die Migranten wollen ebenfalls teilhaben. Sie fordern die Einlösung des Versprechens, das ihnen die Freiheitsstatue im Hafen von New York gibt. »Give me your tired, your poor, Your huddled masses yearning to breathe free, The wretched refuse of your teeming shore. Send these, the homeless, tempest-tossed to me: 1

I lift my lamp beside the golden door.«

Das Versprechen ist bei weitem nicht für alle Emigranten einzulösen. Dabei bilden auch die Polen keine Ausnahme, deren Verhältnis zu den Vereinigten Staaten im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ein besonderes ist.

1

Aus The New Colossus (1883) von Emma Lazarus. Eine Bronzetafel mit diesem Gedicht ist seit 1903 am Podest der Freiheitsstatue angebracht.

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Einer, der es geschafft hat, ist Janusz Głowacki. Im Jahr 1981 feierte sein Drama Kopciuch (Aschenputtel) in London Premiere. Der Autor kehrte nach der Verhängung des Kriegsrechts nicht in seine polnische Heimat zurück, sondern blieb im Ausland und emigrierte schließlich in die USA. Aufmerksamkeit erregte er auch hier v.a. mit seinen Dramen, die z.T. ihre Erstaufführung in englischer Version erlebten. Der Literaturhistoriker Drewnowski attestiert Głowackis Schaffen nach der Emigration zwar größere thematische Vielfalt als zuvor (vgl. Drewnowski 2004: 406); Emigration und das Verhalten von Emigranten werden aber zu einem der wichtigsten Themen v.a. in Głowackis Dramen, so in Polowanie na karaluchy (Schabenjagd; Premiere 1987) und Antygona w Nowym Jorku (Antigone in New York; Premiere 1993). Seine Behandlung des Themas Emigration in diesen Werken stellt den Kern der folgenden Überlegungen dar. Insbesondere wird dabei auf seinen Umgang mit dem ›Mythos Amerika‹ eingegangen.

M YTHOS AMERIKA Mythen sind Erzählungen, die der »Erklärung und Beschreibung der Lebenswelt« dienen. Die mythische Denkform weist »eine von der rationalistischen Logik zwar verschiedene, aber nichtsdestoweniger komplexe Struktur« auf (Simonis 2008: 525). Seit Christoph Kolumbus 1492 nicht wie von ihm angenommen in Indien, sondern in der ›Neuen Welt‹ anlandete, wird die Erzählung über diese zum Mythos verklärt. Schon die Wortwahl »Entdeckung« an Stelle von »Eroberung« impliziert die Vorstellung von einer unhistorischen Tabula rasa, die es mit Sinn zu füllen galt. Dass die Gründung des »Land of the free and home of the 2 brave« mit der Vernichtung der indianischen Urbevölkerung und der Verschleppung und Versklavung von Millionen Afrikanern einherging, wurde aus dem Mythos verdrängt. (Vgl. Henningsen 2009) Das amerikanische Selbstverständnis ist ebenso wie die Außenperspektive auf die USA von solchen Verdrängungen und Widersprüchen geprägt. Phasen der unkritischen Propagierung und Bestätigung des Mythos wechseln dabei mit Phasen der Destruktion ab. Besonders die europäische Linke bringt dem amerikanischen Mythos traditionell Unverständnis und Skepsis entgegen. (Vgl. Markovits 2007) Auf Polen trifft das allerdings kaum zu. Auch in Phasen intensiver Amerikakritik, z.B. im Zusammenhang mit dem Zweiten Irakkrieg (ab 2003), als sich Polen der amerikanisch geführten ›Koalition der Willigen‹ anschloss, bleibt

2

Schlussverse der US-amerikanischen Nationalhymne Star-Spangled Banner, Text von Francis Scott Key, 1814.

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die polnische Gesellschaft pro-amerikanisch. In Deutschland wird Goethes Seufzer »Amerika, du hast es besser« in der Regel nur noch zitiert, um ihn zu widerlegen. In Polen wirkt dagegen der amerikanische Mythos weiter. Umso bemerkenswerter ist es, dass mit Głowacki gerade ein polnischer Emigrant diesen Mythos dekonstruiert. Seine Abkehr vom polnischen Literaturkanon (vgl. Matuszewski 1992) geht mit der Hinterfragung der polnischen Sicht auf den Ort seines gewählten Exils einher.

M IGRATION UND AMERIKABILD

IN

P OLEN

Die Dauerausstellung im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven (eröffnet 2005) dokumentiert die Auswanderung aus Europa über Bremerhaven in die USA im 19. und 20. Jahrhundert. Gerade aus dem ans Russische Reich gefallenen Teil Polens kamen bis 1918 zahlreiche Auswanderungswillige. Auch nach der Neugründung des polnischen Staates wirkte der Mythos weiter. Im Kalten Krieg wurde er von amerikanischer Seite ebenso gepflegt wie durch die Opposition in Polen und weiteren Ostblockstaaten. Die Amerikafaszination ist ein globales Phänomen. (Vgl. Fischer 2011: 12) Die polnische Ausprägung weist aber Besonderheiten auf. Sie ist tief im polnischen kollektiven Gedächtnis verankert. (Vgl. Bednarek/Matlak 2011: 140) Bei der massenhaften Emigration in die USA ab dem späten 18. Jahrhundert entdeckten die Polen Amerika für sich. Zwischen 1870 und 1914 emigrierten über zwei Millionen Polen in die USA, von denen die Mehrheit nicht zurückkehrte. (Vgl. Walaszek 2011: 52) Sie wurden angelockt von der Aussicht auf gut bezahlte Arbeit: »Bo kto pojedzie aĪ za morze, prĊdko siĊ wzbogaciü moĪe« (ebd.: 49; Denn wer über das Meer geht, kann schnell reich werden«), heißt es in einem Auswanderercouplet aus dem 19. Jahrhundert. In Briefen in die Heimat beschrieben die neuen Amerikaner auch die negativen Aspekte, z.B. dass man arbeiten müsse wie in Sibirien, um genug zu verdienen. In polnischen Zeitungen wurden Horrormitteilungen über das katastrophale Leben der Emigranten veröffentlicht. (Vgl. ebd.: 56ff.) Für viele Emigranten wurden die Gefühle von Fremdheit und Entwurzelung prägend. Doch das positive Bild von Amerika hielt sich in Polen. Am Ende des Ersten Weltkriegs trat der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson als Beschützer Polens auf, die Forderung nach einem unabhängigen polnischen Staat tauchte in Punkt 13 seines 14-Punkte-Programms auf. Dass die USA die Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg und die Einordnung in den sowjetisch dominierten Ostblock billigten, begriffen

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viele Polen als Verrat. Die USA wurden dennoch zum Idealbild der Alternative zum sowjetischen System. Die Verknappung des Zugangs zur amerikanischen Kultur und zu amerikanischen Konsumgütern nach dem Zweiten Weltkrieg im sozialistischen Ostblock luden diese mit Symbolkraft auf, wie der Slavistik-Professor Peter Steiner es in Bezug auf die Tschechoslowakei beschreibt: »Da fast alles, was von dort kam, verboten und daher praktisch nicht zu haben war, wurden selbst die banalsten Gegenstände aus den USA zu einem Objekt der Begierde.« (Steiner 2011: 95) Der öffentlichen sowjetischen Verachtung für (fast) alles Amerikanische stand das lebhafte Interesse der Bevölkerung an der amerikanischen Massenkultur entgegen. Beispielhaft für diese Wechselwirkung sind die Reaktionen auf die Ausstellung »Oto Ameryka« 1952 in Warschau. Von den Organisatoren war sie als antiamerikanische Propagandaveranstaltung geplant, die Besucher strömten aber zusammen, da sie an der amerikanischen Massenkultur interessiert waren. (Vgl. Bednarek/Matlak 2011: 147) Auf gerade diese Ausstellung nimmt übrigens Głowacki in Polowanie na karaluchy Bezug (s.u.). Der Kulturhistoriker Rüdiger Ritter erklärt den Misserfolg antiamerikanischer Propaganda u.a. damit, dass amerikanische Musik, Kino und später Fernsehserien sowie die Radiosender Voice of America und Radio Free Europe ein konsistentes Amerikabild lieferten, das nicht durch Reisen verifiziert werden konnte. (Vgl. Ritter 2011: 260) Amerikanische Produkte und Symbole wurden in Polen mythologisiert und diealisiert, konstatiert die Nordamerikawissenschaftlerin Marina A. Slowinska: »In der polnischen Kultur waren sie kontinuierlich präsent, wenn auch nur in imaginärer Form.« (Slowinska 2011: 268) Für die Herausgeber des Themenbandes Fixstern Amerika. Ideal und Illusion Mitteleuropas (Osteuropa 1/2011) ist klar: »Amerika bleibt die Projektionsfläche für Hoffnungen und politische Sehnsüchte.« (Eder/Sapper/Uhlig et. al 2011: 3) Diese Projektionsfläche bekam in der Darstellung polnischer Migranten aber auch Sprünge. Czesław Miłosz etwa charakterisierte Amerika in seinen Werken, z.B. in Widzenia nad zatoką San Francisco (Visionen an der Bucht von San Francisco; 1969) und Abecadło (Das ABC, 2001), durchaus widersprüchlich. Er zeichnete ein antiheroisches Amerikabild, kritisierte die Amerikaner als oberflächlich und sah den American Way of Life als »Schwundstufe der […] menschlichen Existenz«. (Schmid 2011: 196) Auch Głowacki zeichnet in seinen Dramen ein Amerika, das so gar nicht der mythischen Vorstellung von diesem Land entspricht.

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P OLOWANIE NA KARALUCHY (1990) UND A NTYGONA W N OWYM J ORKU (1992): V ON DER I LLUSION ZUR D ESILLUSIONIERUNG In Polowanie na karaluchy konzentriert sich Głowacki auf zwei polnische Auswanderer. Er führt dem Publikum vor, wie Janek und Anka vom Geheimdienst zur Ausreise aus Polen gezwungen wurden. Der Zuschauer erfährt aber auch, wie ablehnend und heuchlerisch ihre Aufnahme in den USA verläuft. Diese Linie verfolgt Głowacki in Antygona w Nowym Jorku weiter. Die Obdachlosen im Tompkins Square Park stammen unter anderem aus Russland (Sasza) und Puerto Rico (Anita), aber auch ein polnischer Vertreter (Pchełka) ist dabei. Am Ende werden sie bei einer Polizeiaktion aus dem Park, ihrer neuen Heimat am äußersten Rand der amerikanischen Gesellschaft, vertrieben. Die Migrationsmotivation in den beiden Stücken ist also verschieden: das Paar in Polowanie na karaluchy musste ausreisen; die Obdachlosen in Antygona w Nowym Jorku sind gezielt in die USA gegangen, um hier Geld zu verdienen und ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Diese Überlegung war bei Janek und Anka zweitrangig, die Entscheidung für die USA fiel nach der Einsicht in die Notwendigkeit, Polen zu verlassen. Janeks Situation weist Ähnlichkeiten mit einigen Aspekten von Głowackis eigener Biografie auf. Janek ist Schriftsteller und stolz darauf, dass eines seiner Dramen in New York aufgeführt wurde. Nach diesem Anfangserfolg folgt aber nichts weiter, Janek versinkt in Depression und gibt sich Illusionen hin. Er schreibt nicht mehr, weder auf Polnisch noch auf Englisch. Die Widersprüchlichkeit der Raumerfahrung in den USA macht ihn sprachlos. Den ganzen Tag sitzt er vor einer amerikanischen Landkarte und bezeichnet die USA als »seltsames Land« (»dziwny kraj«; Głowacki 2007a: 527), die Grenzenlosigkeit überwältigt ihn. Anka und er haben sich von den USA Freiheit erhofft. Indem sie ihre Wohnung mit Miniaturen der Freiheitsstatue anfüllen, versuchen sie, das diffuse Bild der Freiheit zu verdinglichen und ihren Anteil daran in Besitz zu nehmen. Die vermeintlich materialisierte Freiheit bleibt aber sinnentleerter Touristenplunder. »The restructuring of the private narrative turned out to be painful«, konstatiert die Kulturhistorikerin Halina Stephan über die Erfahrungen polnischer Schriftsteller in den USA. (Stephan 2003: 11) Dies lässt sich verallgemeinern auf die Emigration an sich und trifft auch auf viele von Głowackis Migranten zu. Janek erzählt seiner Frau ausführlich von einem angeblichen Besuch in der Redaktion des New Yorker. Der Herausgeber habe seine Erzählungen freundlich lächelnd entgegen genommen und versprochen, sich in drei Wochen zu melden.

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Anka entgegnet, sie wisse, dass er lüge. Daraufhin erzählt er, schon die Empfangsdame sei eine Neurotikerin wie er gewesen. (Vgl. Głowacki 2007a: 535) Janek droht, die Vergangenheit zu verherrlichen, etwa wenn er behauptet, in Polen habe er nie gelogen. Dies kann Anka augenblicklich widerlegen. (Ebd.: 536) Auch ihre Freunde leben in einer illusorischen Welt und geben vor, Filme zu drehen (Krzysiek), Bilder zu verkaufen (Zosia über Włodek). Anka spielt mit und erklärt Zosia am Telefon, Janek werde bald Erzählungen im New Yorker veröffentlichen. (Ebd.: 537) Die beiden Texte verbindet, dass und wie die Illusionen enttarnt werden und wie sich das illusionslose Leben darstellt. In Polowanie na karaluchy taucht ein Obdachloser auf, dessen Schicksal Anka und Jan Angst einjagt, selbst so enden zu können. Nach bereits drei Jahren in den USA haben sie es ja nach einem viel versprechenden Beginn zu nichts gebracht. Anka gesteht, am Sonntagabend allein im Tompkins Square Park gewesen zu sein (ebd.: 546) – dem Ort, an dem die Handlung von Antygona spielen wird. Die Position des Obdachlosen deutet den Endpunkt des möglichen weiteren Abstiegs an. In Antygona w Nowym Jorku stellt dies die Ausgangssituation dar. Die Enttarnung von Illusionen führt schließlich zum Tod von Anita.

G ŁOWACKI

UND DER AMERIKANISCHE

M YTHOS

Głowacki verleitet den Leser dazu, den Text als Parodie zu betrachten, obwohl er bitterernst ist. (Vgl. Drewnowski 2004: 405) Die Desillusionierung betrifft vor allem den amerikanischen Mythos, der die Emigranten auch angelockt hat: Amerika als das Land der Freiheit, in dem die Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär möglich ist, vom ›Melting Pot‹, in dem jeder zum Amerikaner wird. Die Neuerfindung als Amerikaner misslingt sowohl in Polowanie na karaluchy als auch in Antygona w Nowym Jorku. Die bestehenden Vorurteile werden bestätigt, auch die Beschreibung der Amerikaner verbleibt im Stereotypen. Anka etwa erklärt Janek, er könne in den USA nicht erfolgreich sein, weil er kein offenes, gewinnendes Lächeln zustande bringe, wie es in Polen nur Säufer und Spitzel hätten. (Vgl. Głowacki 2007a: 527) Die Thompsons, amerikanische Bekannte von Janek und Anka dagegen meinen, die Emigranten hätten noch eine Seele, die die Amerikaner längst verloren hätten. Auch dies ist ein Stereotyp und wird als solches von den polnischen Emigranten durchschaut. Sie möchten den ›American Dream‹ mitträumen – nicht umsonst werden sie über weite Strecken des Dramas im Bett gezeigt. Aber sie können nicht einschlafen, können nicht träumen. Statt sich im amerikanischen Traum zu verlieren, sind sie der wenig verlockenden Realität der bedürftigen sozialen Unterschicht ausgeliefert. Immer wie-

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der erinnern sie sich an vergangene Episoden und durchleben diese vor den Augen des Publikums aufs Neue, z.B. die Vertreibung aus der Wohnung in Warschau und den Besuch des amerikanischen Ehepaars. Anka und Janek gelingt die Integration auch deshalb nicht, weil sie sich nicht von ihrer persönlichen Geschichte lösen können – und selbst wenn sie es versuchen, scheitern sie an ihrem polnischen Akzent, der jedem Amerikaner ihre europäische Herkunft verrät. Dieses Phänomen identifiziert der tschechische Journalist Petr Fischer als Kennzeichen Europas und zentralen Unterschied zu den USA: »Während die Europäer für alle Zeit die Last ihrer langen Geschichte und die Trauer um das, was sie verloren, zu wenig beachtet oder einfach nicht erkannt haben, mit sich herumtragen, können die Amerikaner ganz leicht und ohne viel Aufhebens alles abschütteln, was für sie vor ein paar Jahren noch ein gehüteter Schatz oder ein Lebenstrauma war.« (Fischer 2011: 8)

Der Gründungsmythos von der amerikanischen ›Tabula rasa‹ vor der Ankunft der Europäer wirkt in dieser Vorstellung von der Option des geschichtsfreien Neuanfangs fort. James Murphys Erzählung von einem wirtschaftlich denkenden Obdachlosen in Antygona w Nowym Jorku ist ein ironischer Kommentar auf die Tellerwäscher-Idee. Der Mann hat Second-Hand-Bücher verkauft und sich dafür sogar eine Bude als Stand gebaut. Murphy kommentiert, dass er bestimmt schon eine Wohnung hätte – wenn seine neidischen Kollegen ihn nicht ermordet hätten. Amerikas Mythos ist von Gewalt zersetzt. (Vgl. Głowacki 2007b: 6) Pchełkas Version vom amerikanischen Mythos sieht so aus: »Jola tu przyjedzie. Popracujemy sobie roczek, odłoĪymy pieniądze i wracamy. W Polsce kupimy sobie dom i zatkniemy na dachu amerykaĔską flagĊ.« (Ebd.: 47; Jola kommt hierher. Wir werden ein Jahr lang arbeiten, Geld sparen und dann zurückgehen. In Polen kaufen wir uns dann ein Haus und hissen auf dem Dach die amerikanische Flagge.) Saszas Beteuern, Jola wäre schon da gewesen und angesichts Pchełkas Scheitern umgehend wieder abgereist, streitet Pchełka konsequent ab. Ohne die Illusion kann er nicht weiterleben. Ins Absurde übertrieben werden die Idealvorstellungen von Amerika von einem der beiden Geheimpolizisten, die Anka und Janek in Polowanie na karaluchy heimsuchen; warum sie denn im schlimmen Polen bleiben wollten, wo sie doch nach New York gehen könnten, wo der CIA die Rechnungen zahlt, man mit Susan Sontag zu Mittag isst und danach von Marsbewohnern besucht wird. (Vgl. Głowacki 2007a: 540) Janek erinnert sich an die begeisterte Aufnahme der Ausstellung »Oto Ameryka«, er hat sie mit seinem Vater zusammen besucht. (Vgl. ebd.: 543) Für ihn selbst hat sich der amerikanische Mythos, der die polni-

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schen Massen in die Ausstellung trieb, als das entpuppt, was er ist: ein Traum, eine Idealvorstellung, die mit dem Leben in den USA wenig gemein hat. Dem Mythos von Amerika als Land der Freiheit, der Chancen und des Aufstiegs setzt Głowacki in Antygona w Nowym Jorku den griechisch-antiken Antigone-Mythos entgegen. Wie die im Titel genannte Antigone will Anita einem 3 verstorbenen geliebten Menschen durch ein Begräbnis die letzte Ehre erweisen. Pchełka und Sasza bringen die falsche Leiche vom Friedhof in den Park. Anita bemerkt nicht, dass der Tote nicht ihr geliebter John ist. Das Drama wird hier zur Verwechslungskomödie. Die Beisetzung geriete zur Farce ohne Anitas tiefe Überzeugung von der Richtigkeit ihres Tuns. Ihre Totenrituale für den Unbekannnten werden zur symbolischen Ehrung Johns. Doch wie ihre griechische Vorgängerin begeht auch Anita am Ende Selbstmord: sie wurde bei der Polizeiaktion gegen die Obdachlosen im Park vergewaltigt und erträgt diese letzte Erniedrigung nicht. Durch die Titelgebung bestimmt Głowacki Anitas Schicksal, dem sie nicht entrinnen kann. Sie erfüllt die Vorgaben des antiken Mythos und führt dadurch den Mythos vom ›American Dream‹ ad absurdum. Der Mythos Amerika wird enttarnt. (Vgl. Burkot 2002: 345f.) Dazu trägt auch das Lied bei, das immer wieder erklingt: ein Kassettenrekorder spielt zu Beginn, am Ende und in einigen Szenen Strangers in the Night von Frank Sinatra. Die Migranten bleiben tatsächlich Fremde, die sich die Nacht auf Parkbänken um die Ohren schlagen. Die gesellschaftlichen Randgruppen in beiden Dramen werden durch eine eindrückliche, aber nicht eindeutige Metaphorik gekennzeichnet. Die Jagd auf Kakerlaken etwa ist eine vielschichtige Angelegenheit. Anka bezeichnet Manhattan als »Kakerlakenstadtteil« (»dzielnica karaluchów«, Głowacki Głowacki 2007a: 528). Janek erinnert daran, dass Kakerlaken sich allein von Abfällen ernähren und die Menschen eigentlich nicht stören – ein Kommentar, der sich auf die Situation der beiden Migranten selbst beziehen lässt. Sie müssen sich mit den Jobs zufrieden geben, die niemand sonst übernimmt, beispielsweise die stumme Rolle einer polnischen Einwanderung aus dem 19. Jahrhundert. Und selbst die hat Anka verloren, weil das Museum wegen Umbau geschlossen ist. Den Bezug zu Kafkas Verwandlung stellt Janek selbst her. Gregor Samsa wird aber ob seiner Andersartigkeit von seinem Umfeld ausgestoßen – kein gutes Vorzeichen für Anka und Janek.

3

Die bekannteste Variante des Mythos ist das Drama von Sophokles: Antigone ermöglicht entgegen einem Verbot der Seele ihres toten Bruders Polyneikes den Einzug in den Hades, indem sie ihn symbolisch beisetzt. Antigone wird verurteilt und eingekerkert. Schließlich begeht sie Selbstmord.

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Anka nennt weitere Schmarotzer der Großstadt, die Tauben, als Vorbild für das Verhalten, das man in New York an den Tag legen müsse. Eine Taube hatte ihr fast ein Auge ausgepickt. Die Aggressivität und Rücksichtslosigkeit der »Ratten der Lüfte« erscheint Anka als Ebenbild des Verhaltens der Amerikaner. (Vgl. Głowacki 2007a: 538)

D ER M YTHOS

LEBT

Janek in Polowanie na karaluchy kennt die USA nicht und kann nichts über sie schreiben. Głowacki selbst wählt einen anderen Weg. Vor der Auswanderung wie auch danach befasst er sich mit den sozial Schwachen. Auf den Werftarbeiter/Schiffsrumpfschweißer Ufnal in Moc truchleje (1985 auf Deutsch als Ich kann nicht klagen), der von seinem Vorgesetzten indoktriniert und ausgenutzt wird, folgen erst die Insassinnen einer Mädchenanstalt in Kopciuch und dann die zwei polnischen Intellektuellen, die es in den USA nicht schaffen. Die Bedeutung der Nationalität schwindet schließlich bei Pchełka, Anita und Sasza. Beim Thema der Emigration verharrt Głowacki aber nicht. In der Novelle Ostatni cieü (2001; Die Unterhose, die Lotterie und das Schwein) fungiert ein polnischer Emigrant in den USA wieder als Hauptfigur, doch die Handlung dreht sich eher um sozialen Aufstieg und wiederum die Persiflage des amerikanischen Mythos. Für Głowacki trifft deswegen zu, was Halina Stephan in ihrem Vorwort zum Sammelband Living in Translation. Polish Writers in America sagt: »usually their experience of dislocation and transience positively influenced their careers« (Stephan 2003: 7). Głowacki hat bewusst den engen Kreis der ewigen polnischen Themen durchbrochen (vgl. Behring/Kliems/Trepte 2004). In den hier behandelten Dramen präsentiert er den amerikanischen Mythos als das, was er ist: als Mythos, der mit der Lebenswirklichkeit in den USA nicht viel gemein hat. Aber der amerikanische Mythos ist nicht tot. Die Vorstellung von den USA als dem Land der Freiheit funktioniert immer noch. Eindrucksvoll illustriert dies Joe Sacco in seinem Comic über den Bosnien-Krieg 1992-1995 (Sacco 2000). Die eingeschlossenen Bosniaken in Goražde träumen während der serbischen Belagerung von original amerikanischen Jeans Levi’s 501. Der Besitz dieser Hosen würde ihnen Anteil an der materiellen amerikanischen Wirklichkeit bieten. Sacco zeichnet sich als Journalisten, dem dieser Status in Kombination mit seiner US-amerikanischen Staatsangehörigkeit den Transit von Sarajevo nach Goražde und zurück ermöglicht. Der amerikanische Pass gewährt die Bewegungsfreiheit, die den Bosniern verwehrt bleibt. Wieder ist Amerika das Land der Freien.

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Konturen der Vergangenheit Polnischsprachige Literatur aus Israel U RSZULA G LENSK

»Kontury« war eine jährlich erscheinende Nischenzeitschrift mit eingeschränkter Reichweite. Sie wurde in den achtzehn Jahren zwischen 1988 und 2006 in Tel Aviv herausgegeben. Noch vor dem Erscheinen der ersten Ausgabe hatte sich der Verband polnischsprachiger Schriftsteller in Israel (Związek Autorów Piszących po Polsku w Izraelu«) gegründet, der in seinen Statuten auch eine herausgeberische Tätigkeit anstrebte. Zwei Jahre darauf erschien der erste Almanach. Insgesamt liegen 16 Bände im Format B5 mit jeweils unter 200 Seiten vor (der Umfang bewegt sich zwischen 135 Seiten in Bd. V und 171 Seiten in Bd. II). Abgesehen von der Umschlagfarbe und der Gestaltung des Inhaltsverzeichnisses unterscheiden sich die Einzelbände kaum. Die ersten beiden Bände weisen einen anderen Schriftsatz auf – sie wurden noch an der Setzmaschine getippt, bevor die Computerschrift Times New Roman Verwendung fand. Jeder Band enthält eine »biografische Notiz«, ab Bd. IV erscheinen im Anhang eine Bibliografie mit Rezensionen zur Zeitschrift und ein Verzeichnis aktuell in Israel publizierter polnischsprachiger Bücher. Anfangs waren die Beiträge alphabetisch nach Autorennamen sortiert und genologisch in Prosa, Lyrik und Essay gruppiert, später wurde von dieser Systematisierung Abstand genommen. Als interessante Formalie ist zu erwähnen, dass der Krakauer Verlag Wydawnictwo X den ersten »Kontury«-Band als Nachdruck im zweiten Umlauf publizierte.1 Diese kopierte Ausgabe fand unter der Leserschaft in Polen die weiteste Verbreitung, sie ist bis heute in Antiquariatsbeständen anzutreffen. In einer Zeit,

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Ryszard Löw äußerte sich kritisch über diesen Nachdruck und sprach in diesem Zusammenhang von »Piraterie«. (Vgl. Löw 2009: 213)

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da ausländische Zeitschriften noch keine Vertriebsrechte für Polen bekamen, war sie schnell vergriffen. Auch in Israel publizierte Exemplare gelangten nach Polen und wurden in Literatur- und Kulturzeitschriften rezensiert, waren aber nur in wenigen Bibliotheken verfügbar. Einem Exemplar in den Beständen der Ossolineum-Bibliothek liegt eine Karte bei, die darauf schließen lässt, dass die Zeitschrift ein persönliches Geschenk des Redakteurs Ryszard Löw war.2 Die kleine blaue Karte – eine Art Geleitbrief – macht deutlich, dass die Verbreitung der Zeitschrift in Polen von wohlmeinenden Unterstützern abhängig war. In Israel sorgte die verdienstvolle »KsiĊgarnia Polska« von Ada und Edmund Neustein für den Vertrieb. (Vgl. Löw 2001: 88) Die mehreren Dutzend Autoren hinter »Kontury« haben ähnliche Lebenswege zurückgelegt. Sie wurden in den 1920er und 1930er Jahren geboren, haben den Holocaust im besetzten Polen oder in der UdSSR überlebt (die Jüngeren verwenden die schmerzliche Metapher, sie seien Kinder Hitlers bzw. Stalins) und galten zumeist als assimiliert – »von Polen und dem Polentum besessene Juden« (LewiĔska 2006: 52, »opĊtan[i] Polską i polskoĞcią ĩyd[zi]«). In der sich verdichtenden Atmosphäre der polnischen Nachkriegsjahre haben sie sich zur Emigration entschlossen. Allerdings erfolgte die Auswanderung nicht bei allen im selben Jahr. Die größte Gruppe verließ das Land mit den beiden großen Emigrationswellen der Gomułka-Zeit. Die erste nach dem ›Polnischen Oktober‹ umfasste hauptsächlich in den Jahren 1957-58 rund 40.000 Menschen. Hier erfolgte die Emigration noch freiwillig, sie stand im Zeichen der gescheiterten Idee einer neuen polnischen Diaspora und der korrekt interpretierten ›Pogromreden‹ der damaligen Parteigranden. Bereits 1957 kündigte Gomułka beim Journalistenkongress die Notwendigkeit einer nationalen Regulierung der Kader an. Zehn Jahre später wurden die Nansen-Pässe dann bereits in einem Klima offener Hetze ausgestellt. Damals reisten mehr als 13.000 Menschen aus. (Vgl. Stankowski 2000) Für einen typischen Lebenslauf der beiden Alijot unter Gomułka stehen »Kontury«-Autoren wie der Übersetzer und Journalist Aleksander Klugman, die Schriftstellerin und Journalistin Maria LewiĔska, der Dermatologie-Professor Eleasar Feuerman (Jerzy Pogorzelski), der Redakteur und Arzt Herbert Friedman (Herbert Hardy), der Epigrammatiker und Rundfunkjournalist Jerzy Herman, die

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Die Bände I-III wurden von einem unterschiedlich zusammengesetzten Redaktionskomitee verantwortet, zu dem Renata JabłoĔska, Aniela JasiĔska, Anna Kadary, Krystyna Bernard, Łucja Gliksman, Natan Gross und Jael Shalitt zählten. Von Band IV an ist an erster Stelle Ryszard Löw genannt, ab Band V erscheint der Hinweis »Redaktion Ryszard Löw« (ab Bd. VIII erscheint er schlicht als »Redakteur«). Den Hinweis auf die wechselnde Redaktorenschaft verdanke ich Alina Molisak.

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Reporterin Ruth Baum, die Publizistin Krystyna Bernard-Sztatler, der ProsaSchriftsteller Mieczysław Rolnicki oder die Polonistin Renata JabłoĔska. Eine weitere Gruppe bilden Autoren, die in den ersten Nachkriegsjahren Polen verließen, wie der Redakteur und langjährige Mitarbeiter der Polska Akademia UmiejĊtnoĞci (PAU) Ryszard Löw, die Lyrikerinnen Irit Amiel und Jael Shalitt oder der Literaturwissenschaftler Natan Gross, der 1950 nach Israel kam. Die Vertreter dieser Gruppe verbindet wenig mit dem Polen der Nachkriegszeit, sie waren vor allem in der Zeit vor dem Krieg kulturell aktiv. Zu einer zusätzlichen Gruppe können Autoren zusammengefasst werden, die bereits in den 1940er Jahren als Flüchtlinge nach Palästina gelangt waren und dort geblieben sind, etwa Łucja Gliksman oder Leo Lipski (außer in »Kontury« hat Lipski in keiner weiteren in Israel herausgegebenen Zeitschrift publiziert, vgl. Löw 2009: 218). Łucja Gliksman stammte aus dem direkten Umfeld der Zeitschrift. Über Jahre hinweg nahm sie etwa Leo Lipski unter ihre Fittiche. In Band IX erschien schließlich ihr Gedicht »Niespokojni« (Die Unruhigen), mit dem sie Abschied vom Autor des PiotruĞ nahm. Ihr Schicksal ist in gewisser Weise symptomatisch für die polnischsprachigen Schriftsteller in Israel. Nach ihrem Polonistikstudium im Vorkriegspolen schrieb sie Gedichte im Geiste der späten Skamandriten, ihre Werke verbinden stimmungsvoll Sentimentales mit verblüffender Selbstironie und Kreativität. So traditionell sie schrieb, so modern lebte sie, ihr Haus war eine beliebte Anlaufstelle für polnische Juden. Alle Autoren verbindet die sprachliche und teilweise kulturelle Identifizierung. Sie deckt sich nicht mit der staatlichen oder nationalen Zugehörigkeit. Mit der konventionellen Kategorie ›Emigranten‹ ist diese Personengruppe nur unzureichend beschrieben, und doch wird sie auch von den Autoren in ihren Erlebnisberichten verwendet. Auch der Begriff ›Alija‹ wird gebraucht, mit dem sie sich in die Historiosophie der Staatsgründung Israels einschreiben. Freilich sind die polnischen Juden in die Emigration gegangen, das Land, das sie dabei verlassen haben, ist aber nicht Gegenstand ihrer nationalen oder gar staatlichen Identifikation. Präziser und treffender ist in diesem Fall der Begriff der ›amalgamierten Identität‹, der auch bei einem Teil der polnischen Juden anzutreffen ist. Henryk Dasko bezeichnete in seinem Buch Dworzec GdaĔski. Historia niedokoĔczona (Bahnhof GdaĔsk. Eine unvollendete Geschichte) die Verbindungen zu seinem Herkunftsland als ›polnische kulturelle Identität‹. Dasko zählte zu den MärzEmigranten3, wanderte aber nicht nach Israel sondern nach Kanada aus, und

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Polnisch-jüdische Emigranten, die nach der antisemitischen Hetze im Zuge der MärzUnruhen in Polen 1968 das Land verließen (Anm. d. Übers.).

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doch scheint seine Formulierung auch auf die »Kontury«-Autoren anwendbar zu sein. Die schriftstellerische Aktivität der Autoren und Journalisten bringt deren Bindung zur Sprache ihres Herkunftslandes zum Ausdruck. Polnisch war für die meisten Autoren die Erstsprache. Schreibend rekonstruieren sie ihre Kindheitsund Jugenderfahrungen, ohne die Verbindungen zur alten Heimat wieder zu aktivieren. Darauf weist schon der Themenkreis der publizierten Texte deutlich hin, bei denen es sich überwiegend um erzählte Erinnerungen handelt, um Versuche, die Vergangenheit zu dokumentieren und die Leistungen der Juden aus Ostmitteleuropa zu archivieren. »Kontury« ist eine Zeitschrift, die auf ähnlichen Lebensläufen basiert, die Stimme einer verschwindenden Generation ohne Erben, weder im wörtlichen, noch im übertragenen Sinne. Es gibt keinerlei Aussicht auf eine Weiterführung, wie Karolina Famulska-Ciesielska unmissverständlich erklärt: »dzieci polskich Izraelczyków rzadko mówią po polsku« (Famulska-Ciesielska 2008:379, die Kinder polnischer Israelis sprechen nur selten Polnisch). Das Erscheinen polnischsprachiger Zeitschriften in Israel stand in engem Zusammenhang mit den Aussiedlungsschüben. Als diese ausblieben, ließ das Interesse für diese Medien nach, was sinkende Auflagen, die Zusammenlegung von Redaktionen und rückläufige Fördergelder zur Folge hatte (finanzielle Beihilfen waren hauptsächlich im Rahmen eines Zeitschriftenprojekts zur Eingliederung von Emigranten von Seiten des Staates Israel geflossen, teilweise auch von politischen Parteien). Von Beginn an war man sich des okkasionellen Moments dieser Publikationen bewusst, selbst als in Israel Zeitschriften in diversen Nationalsprachen aufkamen, darunter in Rumänisch, Georgisch, Bulgarisch oder Ukrainisch. In den 1950er und 1960er Jahren herrschte eine derartige Nachfrage nach polnischsprachigen Medien, dass selbst kommerzielle Projekte möglich waren. Damals erschienen die Tageszeitungen »Nowiny Izraelskie« und »Nowiny Poranne«, hinter denen eine gemeinsame Redaktion stand, im täglichen Wechsel. Darüber hinaus gab es den »Kurier« (später »Nowiny-Kurier«) mit Wochenendbeilage und einer Auflage von bis zu 26.000 Exemplaren in den 1970er Jahren. Neben informationsorientierten Tageszeitungen erschienen die Wochenblätter »Przegląd«, »Echo Tygodnia«, »Od Nowa«, »Opinia«, »Kronika Tygodniowa«, »Przekrój Izraelski«, »Po Prostu w Izraelu«. Die beiden letztgenannten knüpften bewusst an Titel aus dem Inland an. Alle Verlage reduzierten die Auflagenhöhe mit zunehmenden Hebräischkenntnissen ihrer Leser. Der Almanach »Kontury« zählt wohl zu den letzten polnischsprachigen Zeitschriften in Israel. Darauf weist auch die winzige Auflage von gerade einmal 300 Exemplaren hin.

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(Vgl. ĩurek 1998: 268) Ein halbes Jahrhundert Verlagstätigkeit geht zu Ende, das Rezept hat ausgedient. Wo sind diese Werke nun im literatur- und medienwissenschaftlichen Kanon anzusiedeln? Stellen sie aufgrund der beispiellosen Situation und der politischgeografischen Spezifik ein Sonderphänomen dar? Ryszard Löw befand, die polnischsprachige israelische Literatur »entstehe außerhalb der geografischen Grenzen Polens und zähle nicht zur polnischen Auslands- oder Emigrationsliteratur« (Löw 1995: 157, powstaje poza granicami geograficznymi Polski, [i] nie naleĪy ona do krĊgu zagranicznego (emigracyjnego) literatury polskiej«). Löw weist ihr eine Sonderstellung (ein ›Drittes‹) neben National- und Emigrationsliteratur zu, er fordert die Schaffung einer neuen Kategorie, obgleich dieses Forschungsgebiet nicht sehr umfangreich ausfällt. Karolina Famulska-Ciesielska erkennt methodologische Schwierigkeiten bei der Einordnung dieser Literatur. Zu wissenschaftlichen Positionen, die sie in den Kontext der Vorkriegstradition stellen wollen, schreibt sie: »[W]enn es sich um eine Fortsetzung der polnisch-jüdischen Literatur der Zwischenkriegszeit handeln soll, müssen die beiden Bestandteile, die eine gesonderte, in vielerlei Hinsicht historisch bedingte Einheit bilden, als gleichwertig anerkannt werden, wiewohl sie teilweise verschiedenen Ordnungen angehören (Famulska-Ciesielska 2008: 40, »jeĞli ma to byü kontynuacja polsko-Īydowskiej literatury miĊdzywojennej, oba człony, tworząc całoĞü swoistą, wielorako uwarunkowaną historycznie, naleĪy uznaü za równowaĪne, choü czĊĞciowo przynaleĪne [są] do róĪnych porządków«). Die Autorin plädiert ihrerseits für eine terminologische Ausweitung des Begriffs ›polnisch-jüdische Literatur‹ zu ›polnisch-israelische Literatur‹, um die Fortsetzung nach dem Krieg im Staat Israel einzubinden. Sie geht davon aus, dass das Polnische lediglich eine »ergänzende Bestimmung« dieser Literatur sei, die ihrem Wesen nach »vor allem eine jüdische« sei. (Ebd.) Der von Famulska-Ciesielska referierte Forschungsstand zeigt die Vielfalt möglicher Deutungen auf, ich selbst tendiere zu einer Lesart Jacek Leociaks, der schreibt: »literatura pisana po polsku w Izraelu – obok krajowej i emigracyjnej – stanowi jakby trzeci stan skupienia. Zachowując swą niepowtarzalną toĪsamoĞü polsko-Īydowskiego doĞwiadczenia losu, wpisuje siĊ w niepodzielną całoĞü literatury polskiej poprzez wspólnotĊ jĊzyka i kulturowych tradycji.« (Leociak 1994: 70) [in Israel auf Polnisch geschriebene Literatur stellt – neben National- und Emigrationsliteratur – gewissermaßen einen dritten Aggregatzustand dar. Ohne die einzigartige Identität polnisch-jüdischer schicksalhafter Erfahrung zu verleugnen, schreibt sie sich mit ihren sprachlichen und tradierten kulturellen Gemeinsamkeiten in den Kosmos der polnischen Literatur ein.]

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Polnischsprachige Literatur aus Israel scheint zwangsläufig als ein Sonderphänomen an den Rändern der (polnischen, jüdischen, israelischen und der Emigranten-)Literatur aufgefasst zu werden. Aber zurück zu »Kontury«. Die Einzelbände des Almanachs bilden nicht nur typografisch eine Einheit, sie sind auch thematisch verwandt, da sie hauptsächlich Erinnerungsprosa beinhalten, die die prägenden Erfahrungen einer Generation spiegelt. Eine weitere Besonderheit der Zeitschrift ist das fortgeschrittene Alter der Autoren. Welche andere Redaktion hätte ein ähnlich hohes Durchschnittsalter aufzuweisen wie die »Kontury«-Kreise? Die Selbstbestimmung der Generationenidentität ist frei von Selbsttäuschungen, etwa in einer Notiz Leo Lipskis: »[W]er weiß, ob Janek nicht Recht hatte, als er schrieb, wir seien eine von Beginn an verdammte, gescheiterte, verquere Generation« (Lipski 1994: 98, »kto wie, czy nie miał racji Janek, gdy pisał, Īe jesteĞmy pokoleniem skazanym od początku, spalonym, powykrĊcanym«). Die Generationserfahrung ist so stark, dass sie die literarischen Themen vorgibt, alle Autoren hatten zumindest auf dem Papier Teil an einer der historischen Diaspora-Etappen. Das erste große Thema greift Bilder aus dem Vorkriegspolen auf, ein weiteres, besonders stark vertretenes, setzt sich mit dem Holocaust auseinander, während ein drittes das Leben nach der Auswanderung nach Israel beleuchtet, dabei aber als abgeschlossenes Ganzes behandelt wird, das nicht die starken Emotionen auslöst, wie die in Europa zurückgelassene Vergangenheit. Typischerweise beziehen sich die »Kontury«-Narrative auf die relativ kurze Anfangsphase gleich nach der Einwanderung. Die Protagonisten fühlen sich im neuen Staat nicht als Ausländer, die Erfahrung des emigrationsbedingten rite de passage ist nur vorübergehend und von kurzer Dauer, sie verblasst mit dem Aufbau eines neuen Lebens in Israel. Darauf folgt die Identifikation mit der neuen Realität – ein Angelpunkt für die Ankömmlinge in den 1950er Jahren – die durch den Ausbruch des Sechstagekrieges beschleunigt wird. Er sorgt für Bewegung, beeinflusst die Integration und verlangt nach Selbstidentifikation. Nur selten berühren die in »Kontury« aufgegriffenen Themen aktuelle Geschehnisse in Polen oder Israel, eine Ausnahme stellen hier einige Beiträge u.a. von Ruth Baum oder Eli Barbur dar, eines nach dem Krieg in Paris geborenen Journalisten, der bis zum März 1968 in Warschau lebte. Gegenwärtige PolenReportagen vermitteln eine Art gleichzeitiger Innen- und Außensicht. Eli Barbur berichtet in Ziołomiód z pokrzywy (Barbur 1989, Brennnesselhonig) über seine Warschaureise während der Wahlen im Jahr 1989 als Beobachter, nicht als Beteiligter. Er beschreibt die allgemeine Euphorie und beweist ein hervorragendes Gespür für die vorherrschende Stimmung – er besucht die Stadt seiner Jugend und spricht mit den Freunden von damals – aber er legt den skeptischen Blick

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des distanzierten Beobachters nicht ab. Die Distanziertheit und die kognitiven Kompetenzen des Autors lassen seine Reisegedanken zu einem faszinierenden Stück Zeitgeschichte werden. Die Beschreibungen des materiellen und ästhetischen Verfalls lesen sich wie ethnografische Zeugnisse. Sie lassen heute noch die Bilder von damals lebendig werden, die offenbar etwas Bleibendes haben. Einen beträchtlichen Teil der Bände nehmen jeweils Übersetzungen aus dem Jiddischen oder aus dem Hebräischen ein, zumeist von Autoren aus Mitteleuropa oder zum Thema Holocaust.

1. U NTER

DER

B EZEICHNUNG ›S CHTETL ‹

»To oni zapełniali to dzisiaj zagubione miasteczko, znane wielu tylko z literatury pod nazwą ›sztetl‹. DraĪni mnie czĊsto to słowo wplecione w czysto polski tekst, ale przecieĪ – jak inaczej oddaü jego sens, jakim innym słowem? Miasteczko? Trzeba było oczywiĞcie siĊgnąü po dodatkowe okreĞlenie – Īydowskie miasteczko? Chyba za mało i nieadekwatnie. A wiĊc chyba zostanie juĪ sztetl.« (Feuerman 1994: 103)4 [Sie haben dieses heute untergegangene Städtchen bevölkert, das viele nur noch aus der Literatur unter der Bezeichnung ›Schtetl‹ kennen. Häufig ärgere ich mich, wenn dieses Wort in einem polnischen Text auftaucht, andererseits, wie sollte man sonst seine Bedeutung wiedergeben, mit welchem anderen Wort? Städtchen? Dann bräuchte man noch eine zusätzliche Bestimmung – jüdisches Städtchen? Das reicht nicht und trifft es nicht ganz. Also bleibt es wohl beim Schtetl.]

Wie kann man eine Realität wiedererstehen lassen, für die keine Form mehr existiert? Es gibt nur noch unpassende Designate. Die Gedanken Eleasar J. Feuermans, besser bekannt für seine unter dem Namen Jerzy Pogorzelski veröffentlichten Essays in »Zeszyty Literackie«, sind recht charakteristisch – ein melancholisches Narrativ aus Eindrücken, Überlegungen und Erinnerungsbruchstücken. Bereits in dieser Generation ist eine Rekonstruktion der Schtetl-Welt aus individueller Perspektive nicht mehr möglich. Sie bleibt den Kulturhistorikern überlassen. Das Unvermögen zur Rekonstruktion rührt auch daher, dass die »Kontury«-Autoren eher Stadtkinder waren, ihre Eltern Handwerker oder assimilierte Intelligenzija. Die Impressionen Feuermans sind vermittelte Erzählungen und keine Autopsien. So taucht im Gedicht »Z mojej ›ksiĊgi umarłych‹« (Aus meinem ›Totenbuch‹) ein Verzeichnis von Menschen und Dingen im Ge-

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Im Original verwendet der Autor die Schreibweise »sztetł«.

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stus eines Totenbuchs auf. Feuerman berichtet, im Städtchen Tłumacz habe es ein Viertel Meksyk gegeben und in TyĞmienica ein Viertel Ameryka. Beide seien Wort gewordener Ausdruck der Träume ihrer Bewohner von einer Welt, »wo wird man können/leben und arbeiten […] da wird man können/– ohne Furcht und erniedrigenden Spott – gebrochen sprechen« (Feuerman 1995: 47, »w którym moĪna bĊdzie/Īyü i pracowaü […] gdzie moĪna bĊdzie/– bez obawy o upokarzające szyderstwo – mówiü łamanym jĊzykiem«).Eine sekundäre Rationalisierung gesellschaftlicher Träume vom Gelobten Land. In Feuermans Texten sind markante Unterschiede zwischen den Beschreibungen einer kulturellen Realität, der Rekonstruktion einer »Gedächtnislandschaft« und der Erzählung eigener, weit zurückliegender Erlebnisse auszumachen. Einerseits spürt man die Ratlosigkeit, wie denn die verlorene Welt beschrieben werden könnte, andererseits finden sich wortreiche, präzise persönliche Erinnerungen. Das Register der ›Groschenromane‹ aus der Vorkriegszeit verbindet sich mit Schulabenteuern, wie es sich für einen braven Leser von Wiktor Gomulickis Wspomnienia niebieskiego mundurka (Erinnerungen an eine blaue Schuluniform) gehört. Eine Episode sei hier kurz angeführt. In den galizischen Schulen war die Verwendung von polnischen Übersetzungen griechischer und lateinischer Texte untersagt. Die Schüler nutzten sie aber heimlich doch, besonders beliebt waren die Büchlein aus dem Verlagshaus Zuckerkandel in Złoczew. Feuerman erinnert sich, wie einer der Abiturienten den Prüfungssaal verlässt und, die Hand an der rettenden Klinke, enthusiastisch ausruft: »Es lebe Zuckerkandel!« Professor Sinko sei vor Wut rot angelaufen. Die Bedeutung dieses Ereignisses mag ermessen, wer je von seinen Großeltern oder achtzigjährigen Onkels über die regelmäßig wiederkehrenden Albträume von ihrer Lateinprüfung erzählt bekam. Obwohl die Vorkriegserlebnisse als erzählte Erinnerungen erscheinen, sind sie nur selten bildliche Rekonstruktionen konkreter Ereignisse wie bei Feuerman. Eher stützen sie sich auf Impressionen, Zitate, Ausschnitte oder Einzelszenen (»Ich erinnere mich nicht an Grójec«, bekennt Maria LewiĔska, wenn sie ihre Familiengeschichte aufrollt, vgl. dies. 1996). Nur wenigen Autoren der älteren Generation ist es gelungen, die Konturen der Vergangenheit nachzuzeichnen. Zu nennen wäre Józef Kornblum (geb. 1917), der einen Ausflug ins Kino und Theater nach Bielsk beschreibt, den Pianisten hinter der Leinwand, der zum Stummfilm spielte, während die Musik dramatisch mit dem Tempo der Handlung auseinanderfiel. Diese Erfahrungen haben sich ins Gedächtnis eingebrannt, da die Schulordnung Theater- oder Kinobesuche verbot. Jugendsünden sind besonders einprägsam.

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Symptomatisch für die Erinnerungstexte an die Vorkriegszeit ist die Nennung von Adressen. Bei Paweł Fuks5 wird die ulica ĩydowska 15 in ŁódĨ erwähnt – ein düsteres Mietshaus und ein Hinterhaus mit öffentlicher Toilette im Hof, vor der immer eine ungeduldige Schlange stand. Sein Geburtshaus bestand aus einem einzigen Zimmer mit der väterlichen Werkstatt, ein typisches, ärmliches Ergasterion, Arbeits- und Wohnraum zugleich. Und noch ein weiteres Detail: In Bałuty6 wurde donnerstags geputzt, um rechtzeitig vor dem Abend des Freitag fertig zu sein. Zur Matrix der Vorkriegserinnerungen zählt auch die räumliche Einteilung in gefährdete und sichere Orte, nach Bałuty »drangen die Schläger« und »die prügelnden Nationaldemokraten« nicht vor, die eher den Plac Stasica und den Rynek beherrschten. Andererseits ist genauso häufig zu lesen, man habe nebeneinander gelebt und einander leben lassen. Bis zum Beginn des »moralischen Zusammenbruchs […], den die Nazis […] verursacht haben«. (Arendt 1964: 162) Für die untergegangene Welt stehen die Synagoge in der Wolborska in ŁódĨ, die Kaffeefabrik Jawa in Radom (vgl. Najkrug 1997: 9), das Popowski-Werk in der ulica Cegielniana (vgl. Fuks 1994b), das Theater ›Die Wilner Truppe‹ in Vilnius und die Inszenierung des Dybuk, das Haus Nowimierska 11 in Warschau, das mit der gesamten Straße zu Jom Kippur abbrannte (vgl. Birenbaum 1995: 76), die in einem markanten Gebäude eingerichtete Eingabestelle in Grójec, die man von zwei Seiten betreten konnte, von der ulica Skargi und vom Rynek (vgl. LewiĔska 1996: 85). Überraschend häufig wird auf die Besonderheit zweier Eingänge hingewiesen. Als Erklärung für dieses Phänomen drängt sich auf, dass in diesen Häusern eine Generation pogromgeplagter Flüchtlinge aus dem Revolutionsland Russland lebte. Die Bedrohung durch Anschläge beschrieb Paweł Jasienica, der sich aus seiner frühen Kindheit in der Ukraine entsprechende Erinnerungen bewahrt hatte, in PamiĊtnik (Tagebuch). Möglicherweise hatten sich Juden auf der Suche nach einem Platz im neuen Land Häuser mit besseren Fluchtmöglichkeiten ausgesucht. Die Aufrufung von Namen hat fast etwas Rituelles, sie ist ein ›Lesen in der Asche‹, jeder erinnerte Straßen-, Werkstatt- oder Fabrikname, mit dem das Leben der Vorfahren assoziiert werden kann, muss ausgesprochen werden. Ortsnamen sind am besten gegen das Vergessen gefeit. Alles weitere ist Mutmaßung und Verallgemeinerung wie die Kindheitsbilder aus dem Gedicht »Kartka z pamiĊtnika« (Tagebuchblatt) von Irit Amiel: »Kindheit, Mütze, Schal, meine

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Paweł Fuks, geb. 1931, veröffentlichte seine Memoiren unter dem Titel Dziecko wojny (Fuks 1994a).

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Bałuty: Stadtteil von ŁódĨ (Anm. d. Übers.).

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schöne Mama und mein geliebter kahler Papa, all das ist für immer auf der anderen Seite geblieben« (Amiel 1998: 24, »dzieciĔstwo, berecik, szalik, moja Ğliczna mama i mój ukochany łysy tatuĞ, wszystko to pozostało na zawsze po tamtej stronie«). Mitunter hat sich ein Detail in der Erinnerung des Kindes gehalten, beispielsweise der komische Satz einer Bediensteten an den Vater: »pana telefon spadł na mnie jak socjalizm na kapitalizm« (Rolnicki 1998: 26, Ihr Anruf hat mich erwischt wie der Sozialismus den Kapitalismus). Lustige Episoden sind jedoch selten, als hätten sie unter der Last der späteren Ereignisse an Bedeutung verloren. In mehreren Texten wird wiederholt bedauernd festgestellt, dass das Gesicht der Mutter nicht erinnert werden kann, von der nur noch bekannt ist, dass sie gerne Bridge spielte oder dass sie Ärztin war, womit aber nur Einzelaspekte erfasst sind und nicht das Leben insgesamt. Doch nicht immer geht das lakonische Aufrufen vertrauter Menschen mit tatsächlichem Nicht-Erinnern einher. Bisweilen steht dahinter eher etwas, das Roland Barthes als »punctum« bezeichnet hat, eine Sphäre intimster, besonders kostbarer Erfahrungen, die nicht veröffentlicht werden können. Aus denselben Beweggründen hat Barthes in La chambre claire (Die helle Kammer) ein Foto ausgespart, dem für die interpretatorische Herleitung eine Schlüsselposition zukam, ein Bild von der Mutter in der Orangerie, das zu privat und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Eine ähnliche Motivation steht wohl teilweise auch hinter den erzählten Erinnerungen. Häufig wird berichtet, vor dem Krieg hätten Juden und Polen einander nicht in ihren Häusern besucht. So ist es jedenfalls in »Kontury« dokumentiert, obwohl doch die Autoren öffentliche Schulen besuchten und aus assimilierten Familien stammten, in denen Polnisch gesprochen wurde. Die Beherrschung des Polnischen auch nach mehr als einem halben Jahrhundert in der Emigration ist beeindruckend. Die Autoren verfügen über eine reiche, präzise, elaborierte Sprache. Das Nichtbesuchen markiert eine Demarkationslinie der Vorkriegszeit, eine weitere blieb ganz auf das jüdische Brauchtum und die Haushaltsführung beschränkt – die einen Großeltern aßen koscher, die anderen nicht. Dieser Unterschied hat sich den Kindern eingeprägt.

2. K RIEG Der größte Teil aller in »Kontury« veröffentlichten Texte hat zweifelsohne mit der Shoah zu tun. Bei der Lektüre dieser Berichte fühlt man sich unweigerlich an einen Satz Hannah Arendts erinnert, die beim Eichmann-Prozess den Aussagen

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der Opfer lauschte und kommentierte: »Zeuge auf Zeuge [wurde] aufgerufen, […] Entsetzen [häufte] sich auf Entsetzen« (Arendt 1964: 32). In »Kontury« beschreiben die Autoren Hinrichtungen, die Trennung der Kinder von ihren Müttern oder Versuche, sie heimlich ins nächste Lager zu bringen. Entsetzen häuft sich auf Entsetzen. Der große Anteil an Shoah-Texten liegt im intellektuellen Profil der Zeitschrift begründet. In mehreren Redaktionshinweisen ist dieser Ansatz explizit formuliert: »postanowiliĞmy poĞwiĊciü stosunkowo duĪo miejsca wspomnieniom wojennym. UwaĪamy to za nasz obowiązek zarówno wobec ludzi starszych, którzy przeĪyli wojenne piekło, jak i wobec młodszego pokolenia.« (Redaktion »Kontury« 1989: 3) [wir haben beschlossen, den Kriegserinnerungen verhältnismäßig viel Raum zu geben. Wir halten dies für unsere Pflicht sowohl gegenüber den älteren Menschen, die die Hölle des Krieges erleben mussten, als auch gegenüber der jüngeren Generation.]

Mehrere Autoren betonen, sie hätten ihre Erfahrungen schon lange schriftlich niederlegen wollen, auf Anregung der Redaktion hätten sie dies nun auch getan. Zweifellos stand hinter dem Profil der Zeitschrift das Bewusstsein, sie sei »an der Grenze zum bezeugten Gedächtnis an die Shoah« (»blisko kresu naocznej pamiĊci o Zagładzie«), um mit Jan BłoĔski (1996: 60) zu sprechen. Die Zeugnisse zählen zu den letzten Phasen der Dokumentation individueller Holocausterfahrungen. So gesehen handelt es sich um die Fortführung einer Arbeit, die polnische Juden fast unmittelbar nach Kriegsende aufnahmen. Eine der ersten Publikationen zu diesem Thema war Dokumenty Zbrodni i MĊczeĔstwa (Dokumente des Verbrechens und Martyriums), von Michał M. Borwicz im Jahre 1946 veröffentlichte Zeugenaussagen. In Band III des Almanachs druckte die Redaktion Nachrufe auf Borwicz ab und erinnerte an seine Arbeit. Borwicz war einer der drei, die unter den Trümmern des Ghettos in der ulica Nowolipki auf das vergrabene Ringelblum-Archiv stießen. Der Artikel zu Borwicz steht beispielhaft für die konsequent von der Redaktion lancierten Porträts ad memoriam. Weitere Beispiele sind unter anderem den Schriftstellern Leo Lipski, Mordechaj Gebirtig, Henryk Dankowicz, Filip Istner, Maria Hochberg-MariaĔska, Irena Bronner-Rothberg und Stanisław Wygodzki gewidmet (die Beiträge zu Wygodzki wurden ursprünglich anlässlich seines 85. Geburtstags zusammengetragen). Auch an den Gerechten unter den Völkern Andrzej Sycz wurde erinnert. Alle erwähnten Beiträge sind nicht nur nekrologischer sondern auch dokumentarischer Natur. Aus den literarischen Abschieden spricht auch die Überzeugung,

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die verabschiedete Generation habe außergewöhnliche Schicksale in ihren Reihen. Stilistisch gesehen fallen die Shoah-Erinnerungen in »Kontury« recht einheitlich aus. Das Geschehene wird präzise rekonstruiert, auf Interpretationen wird weitgehend verzichtet. Die strenge Wörtlichkeit ist frappierend. Rein dokumentarische Beiträge in der ersten Person mit bewusst sparsam eingesetzten literarischen Mitteln und auf die eigenen Empfindungen beschränkten Reflexionen dominieren. Diese auf faktografische Disziplin und den Verzicht auf Wertungen ausgerichtete Stilistik ist den Lesern auch aus Büchern wie Zima o poranku (Als Mädchen im Warschauer Ghetto) von Janina Bauman oder Czarne sezony (Schwarze Zeiten) von Michał GłowiĔski bekannt. Den erinnernden Beiträgen ist aber auch eine Art Ordnungsdrang und die Last des über die Jahre angehäuften Allgemeinwissens anzuspüren. Auffallend ist die Nennung von Verrätern und Unterstützern, von der ›Welt der Verbrecher‹ und der ›Welt der Helden‹ wie es in der Shoah-Literatur symbolisch heißt (bzw. dem ›Warschau der Verbrecher‹ und dem ›Warschau der Helden‹). Diese nachträgliche Ordnung der Kriegswirklichkeit hat Züge einer sekundären Rationalisierung. Mit der exponierten Stellung der Handlungen von Personen, die Hilfe und Empathie gezeigt haben, werden diese Wohltäter nicht nur verewigt, sie stellt auch den Versuch dar, ein Weltbild zu konstruieren, das ein gewisses Gleichgewicht erzeugt. Obgleich die Unterstützung durch Dritte der Logik des Überdauerns in Zeiten der Okkupation entspricht, ist die Bildfolge überraschend. Das Bild des »Reiters mit dem Lasso« (Miłosz)7 wird in aller Regel mit Erinnerungen an Menschen kombiniert, die mutig und ohne ethische Verblendung gehandelt haben. Der sachlich berichtende Charakter der Texte geht mit sparsam dosierten literarischen Mitteln einher. Eine der wenigen Ausnahmen ist die autobiografische Erzählung »Złota omega« (Die goldene Omega) von Herbert Friedman (1989: 126-128), in der die Uhr symbolisch den Rahmen vorgibt. Die vor dem Krieg populäre Omega taucht übrigens verschiedentlich in Erinnerungstexten auf, als das letzte verbliebene Objekt, ein Signum der alten Welt, konfisziert von den Henkern im Ghetto von Vilnius oder zerstört von rasenden Mitgefangenen in Kolyma. Sie ist die letzte persönliche Habe aus der Zeit vor dem »Reiter mit dem Lasso«. Bei aller kommunikativen Transparenz sind diese Texte nicht leicht zu interpretieren. Nicht immer wird deutlich, ob es sich nun um einen Erinnerungstext sensu stricto handelt oder ob auch fiktive Elemente enthalten sind. Die Perspek-

7

Vgl. Czesław Miłosz (1974): Verführtes Denken, Frankfurt a.M., 40.

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tive des Ich-Erzählers und die Beschreibung von Realien aus dem tatsächlichen Aufenthaltsort des Autors zu Kriegszeiten legen nahe, dass es sich um persönliche Prosadokumente handelt. Beispiele hierfür gibt es genug: Harry Berlin schreibt über das Ghetto von Vilnius, das er erlebt hat, Irena Bronner-Rothberg über das Lager in Płaszów, Herbert Friedman über ein Lager in der UdSSR. Nicht immer ist klar auszumachen, wo der Bericht endet und die Realität beginnt. In einigen »Kontury«-Bänden sind die Beiträge redaktionell geordnet nach Prosa, Lyrik, Erinnerungen und Publizistik (Band II). Hier scheint die Situation unzweifelhaft, die auf authentische Erfahrungen referierenden Texte sind als solche markiert. In Band III verzichtet die Redaktion allerdings wieder auf die genologische Ordnung und führt die rein thematische Rubrik »W cieniu Zagłady« (Im Schatten der Shoah) ein. Mit der Klärung, ob es sich nun um eine Erzählung oder eine erzählte Erinnerung handelt, sind die Zweifel noch nicht beseitigt. Bei vielen Dokumenten drängt sich der Eindruck auf, der Bericht sei modifiziert worden, überformt von Gedächtnisarbeit. Es kommt zu einer Vermischung von facta und ficta, bei der sich der Wirklichkeitsgehalt nicht mehr verifizieren lässt. So kann man nur glauben oder auch nicht, dass im Lager SkarĪysko etwas geschehen ist, das sich mit anderen Shoah-Bildern überlagert. Irena Bronner-Rothberg schreibt in ihrem Text mit dem deklarativen Titel »Z kalejdoskopu wspomnieĔ« (Bronner-Rothberg 1992: 92-98, Aus dem Erinnerungskaleidoskop) über eine Lagerinsassin und den Lagerpolizisten, der die Tochter seiner Geliebten tötet, da das Mädchen ihm bei seinen Treffen mit der Mutter im Weg ist. Als die Frau am Ende des Tages in die Baracke zurückkommt, sucht sie ihre Tochter, und die anderen Gefangenen trauen sich nicht zu erzählen, was in ihrer Abwesenheit vorgefallen ist. Irena Bronner-Rothberg erklärt, sie habe die Namen der Hauptfiguren geändert, was als Hinweis auf die Authentizität des Geschilderten interpretiert werden kann. Dennoch bleibt der Eindruck, dass sich auch fantastische Elemente in das beschriebene Drama eingeschlichen haben, dass das Bild auch von später erlangten Informationen mitgeprägt wurde, die inzwischen integraler Bestandteil der Erinnerung sind. So stellt sich die Frage, ob bei historischen Narrativen das real Geschehene an sich authentisch ist oder vielmehr die Art und Weise, in der ein Zeitzeuge das Geschehene erinnert, verstanden und rationalisiert hat. So gesehen ist auch das Bewusstsein der Autorin von Bedeutung, ja in der Lage, Authentizität zu zertifizieren. Diese Fragen sensibilisieren für den Umstand, dass zwischen den unmittelbar nach dem Krieg (etwa von Borwicz) gesammelten Dokumenten und den Berichten der letzten noch lebenden Zeugen mehr als ein halbes Jahrhundert liegt, was für die faktografische Genauigkeit durchaus eine Rolle spielt. In diesem Zusammenhang sei noch einmal Hannah Arendt zitiert, die als Beglei-

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terin des Eichmann-Prozesses notierte, die Zeugen hätten in der Regel nicht die Fähigkeit, »Ereignisse, die 16 oder gar 20 Jahre zurückliegen, von dem zu trennen, was man in der Zwischenzeit gelesen, gehört oder sich vorgestellt hat. Diesen Schwierigkeiten war nicht abzuhelfen«. (Arendt 1964: 269) Dieselbe Schwierigkeit stellt sich auch bei den Materialien in »Kontury«. Damit soll der Wert dieser dokumentarischen Texte keineswegs in Frage gestellt werden. Zu beachten ist ferner, dass es sich häufig um Auszüge aus Büchern polnischsprachiger Autoren in Israel handelt, der Verlag Kontury hat selbst 20 solcher Bücher publiziert. (Vgl. TaĔski 2000: 302; Löw 2009: 213) Im Gegensatz zur überwiegend faktografischen Prosa verbindet die Lyrik in »Kontury« Holocaust-Szenen mit Reflexionen, Metaphorisierungen, Gefühlsäußerungen und der Enthüllung des posttraumatischen Martyriums. Nichtsdestotrotz werden in den Gedichten konkrete Leidensszenen und reale Figuren aufgerufen. Auffällig sind die Widmungen an verstorbene Familienmitglieder. »Tren dla matki« (Klagelied für Mutter) von Jael Shalitt beginnt mit den Zeilen »wie stirbt ein Mensch, will ich wissen,/im Würgegriff des Gases« (»chcĊ wiedzieü jak człowiek umiera/gdy gaz zaczyna go dławiü«), und endet mit den Worten »so starb Mutter« (Shalitt 1988: 132, »tak umierała matka«). In Band III der Zeitschrift ist ein Gedicht von Stanisław Wygodzki aus dem Jahr 1963 abgedruckt, das mit einer ähnlichen, auf die Tochter des Autors gemünzten Frage schließt: »Wovon träumte das kleine Mädchen,/im Schlaf auf der Eisenbahnrampe von Auschwitz…« (Wygodzki 1992: 15, »O czym Ğniła mała dziewczynka,/Ğpiąca na rampie kolejowej OĞwiĊcimia…«). Das Mädchen hatte gemeinsam mit den Eltern im Lager Zyanid geschluckt. Wygodzki überlebte den Selbstmordversuch, da für ihn nicht mehr genügend Gift übrig war. Ein drittes Beispiel für diesen Gedanken findet sich bei Ida Henefeld-Ron: »woran nun konnten sie denken/in fahlen Lippen erstickt/den unterdrückten Schrei/der Schreie umzingelter Herden/nur verstanden sie eben/mehr als die Tiere (Henefeld-Ron 1988: 116, »o czym wiĊc mogli myĞleü/tłumiąc w pobladłych wargach/niewydobyty krzyk/krzyków okrąĪonego stada/tyle tylko Īe rozumieli/wiĊcej niĪ zwierzĊta«). Neben Erinnerungsprosa und Lyrik erschienen in »Kontury« auch Essays zur Geschichte und Literatur der Shoah. Sie stammen zumeist aus der Feder der ständigen publizistischen Mitarbeiter, etwa des Literaturwissenschaftlers Natan Gross – in Band XV erschien seine bedeutende Polemik »A jednak siĊ krĊci… Na Campo di Fiori i na Placu KrasiĔskich« (Gross 2004, Und es bewegt sich doch … Auf dem Campo di Fiori und dem Plac KrasiĔskich) zur Diskussion um das Karussell auf dem Plac KrasiĔskich –, Aleksander Klugmans, Eli Barburs oder Anna ûwiakowskas. In Band V erschien Klugmans Artikel »ĩydzi w Pale-

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stynie wobec Shoa w Europie« (Klugman 1994, Die Juden in Palästina und die Shoah in Europa), in dem der Autor analysiert, wie sich die Bevölkerung im Mandatsgebiet Palästina der Situation der Juden unter deutscher Besatzung bewusst wird. Als Schlüsselmoment, in dem die tragischen Informationen durchsickern, erkennt er den April 1942. Das Datum fällt fast mit dem Selbstmord Adam Czerniakows im Warschauer Ghetto im Juli 1942 oder mit den Einträgen Dawid Sierakowiaks zusammen, der im Ghetto von ŁódĨ Tagebuch führte. Sierakowiak war sich in jener Zeit der Lage vollständig bewusst geworden. In Palästina habe man, so Klugman, den Informationen lange keinen Glauben geschenkt, was einerseits der britischen Zensur geschuldet war, die den Bericht von Jan Karski über Treblinka zurückhielt, andererseits der Tatsache, dass die Hauptquelle, die sowjetische Zeitung »Krasnaja Zvezda«, nicht glaubwürdig erschien. Die erste gesellschaftliche Reaktion auf die Nachricht von der Shoah bestand in dem Versuch, die Beschränkung der Einwanderung nach Eretz Israel und den Siedlungsstopp aufzuheben, die das Weißbuch von 1939 vorsah. Man wollte Einfluss auf die Beschlüsse der Briten nehmen und den Migrationsprozess forcieren. Für eine diesbezügliche Petition konnten 310.000 Unterschriften gesammelt werden. Von den damals im Mandatsgebiet Palästina lebenden 470.000 Juden haben sich zwei Drittel an der Aktion beteiligt, selbst die Kinder haben Unterschriften geleistet. Der große Schock setzte allerdings erst nach der Befreiung ein, als das ganze Ausmaß der Katastrophe mehr und mehr zu Bewusstsein kam. Eine ganze Gruppe von Autoren, die mit »Kontury« zusammenarbeiteten, bezeichneten sich als ›Polnisch Schreibende in Israel‹. Sie fühlten sich also der Sprache, den Erinnerungen und den Gedächtnisspuren verbunden, nicht aber ihrem Herkunftsland und schon gar nicht dem Staat. Die Tatsache, dass sie Polnisch schrieben, scheint eine gewisse Zurückhaltung mit sich gebracht zu haben. Verglichen mit der in Polen erschienenen Literatur nach Michał GłowiĔskis Czarne sezony finden sich nur relativ selten Unrechtsgeschichten. Wenn doch einmal von finsterer Schuld die Rede ist, so eher in einem allgemeineren Sinne, bezogen auf politische Blöcke und nicht auf die Nachbarn von einst, wiewohl auch sie bei den protokollierten drastischen Ereignissen namentlich erwähnt werden. Eine schwarze Liste wird nicht angestrebt. Vielmehr handelt es sich um eine Trauerreise an den Ort der Shoah, auch um eine sentimentale Reise ins Land der Kindheit und Jugend. Zwanzig Jahre nach der letzten großen Emigrationswelle polnischer Juden ist »Kontury« erstmals erschienen. Die Autoren hatten in Israel bereits Fuß gefasst, so abrupt und planlos der Aufbruch in das neue Land auch gewesen sein mochte. In der Zeitschrift erscheint erzählte Vergangenheit. Bei der Lektüre der in feinstem Polnisch verfassten Erinnerungen glaubte ich, eine mehrschichtige Sehn-

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sucht ausmachen zu können. Der dokumentarische Kraftakt der Redaktion holt den Verlust noch einmal ins Bewusstsein, den Verlust der Multikulturalität, der Vielfalt der kleinen Schetlech und der intellektuellen Potenz polnischer Juden. Was bleibt, ist eine Geschichte des Grauens im langen Schatten des Holocaust und die Frage, wie ein Vierteljahrhundert nach dem »moralischen Zusammenbruch, den die Nazis verursacht haben«, der politische und soziale Antisemitismus zu solcher Kraft erstehen konnte. Damals wanderten die Letzten derer aus, die ehemals Polen für das ›Land ihrer Wahl‹ gehalten hatten. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler

L ITERATUR Amiel, Irit (1998): »Kartka z pamiĊtnika«. In: Kontury IX, 23f. Arendt, Hannah (1964): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München. Barbur, Eli (1989): »Ziołomiód z pokrzywy«. In: Kontury II, 135-139. Bauman, Janina (1989): Zima o poranku. OpowieĞü dziewczynki z warszawskiego getta, Kraków. Bauman, Janina (1986): Als Mädchen im Warschauer Ghetto. Ein Überlebensbericht, Ismaning. Birenbaum, Halina (1995): »Z dzienników«. In: Kontury VI, 74-76. BłoĔski, Jan (1996): »Ofiary i Ğwiadkowe. Obraz Zagłady w literaturze polskiej«. In: Kontury VII, 56-64. Bronner-Rothberg, Irena (1992): »Z kalejdoskopu wspomnieĔ«. In: Kontury III, 92-98. Famulska-Ciesielska, Karolina (2008): Polacy, ĩydzi, Izraelczycy. ToĪsamoĞü w literaturze polskiej w Izraelu, ToruĔ. Feuerman, Eleasar J. (1995): »Z mojej ›ksiĊgi umarłych‹«. In: Kontury VI, 46. Feuerman, Eleasar J. (1994): »Czarodziejska góra«. In: Kontury V, 103-110. Friedman, Herbert (1989): »Złota omega«. In: Kontury II, 126-128. Fuks, Paweł (1994a): Dziecko wojny, ŁódĨ. Fuks, Paweł (1994b): »Przed burzą«. In: Kontury V, 13-17. GłowiĔski, Michał (1999): Czarne sezony, Warszawa. Gross, Natan (2004): »A jednak siĊ krĊci… Na Campo di Fiori i na Placu KrasiĔskich«. In: Kontury XV, 107-121. Henefeld-Ron, Ida (1988): »Ze wspomnieĔ Ğwiadków aryjskich«. In: Kontury I, 116.

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Jasienica, Paweł (1989): PamiĊtnik, Kraków. Klugman, Aleksander (1994): »ĩydzi w Palestynie wobec Shoa w Europie«. In: Kontury V, 44-49. Leociak, Jacek (1994): »Na obu brzegach«. In: Nowe KsiąĪki 3, 70f. LewiĔska, Maria (2006): Z maską na twarzy, Warszawa. LewiĔska, Maria (1996): »Grójec mojej mamy«. In: Kontury VII, 84-87. Lipski, Leo (1994): »Spotkania i wspomnienia«. In: Kontury V, 95-102. Lipski, Leo (1967): PiotruĞ. Ein Apokryph, Neuwied/Berlin. Löw, Ryszard (2009): »Kontury. Pismo – Autorzy – Tematy – Recepcja«. In: Violetta Wejs-Milewska/Ewa Rogalewska (Hg.), ParyĪ, Londyn, Monachium, Nowy Jork. PowrzeĞniowa emigracja niepodległoĞciowa na mapie kultury nie tylko polskiej, Białystok, 211-232. Löw, Ryszard (2001): »PolskojĊzyczne Īycie literackie w Izraelu. WstĊpne rozpoznanie«. In: Janusz Kryszak/Rafał Moczkodan (Hg.), ĩycie literackie drugiej emigracji niepodległoĞciowej, Bd. 1, ToruĔ, 81-91. Löw, Ryszard (1995): »Rozpoznanie. Rzecz o izraelskiej prasie w jĊzyku polskim«. In: Kontury VI, 148-160. Najkrug, Reuwen (1997): »Relacja biograficzna«. In: Kontury VIII, 9-18. Redaktion Kontury (1989): »Nota redakcyjna«. In: Kontury II, 3. Rolnicki, Mieczysław (1998): »Fragmenty mini autobiografii«. In: Kontury IX, 25-28. Shalitt, Jael (1988): »Tren dla matki«, Kontury I, 132. Stankowski, Albert (2000): »Nowe spojrzenie na statystyki dotyczące emigracji ĩydów z Polski po 1944 roku«. In: Grzegorz Berendt/August Grabski/Albert Stankowski (Hg.), Studia z historii ĩydów w Polsce po 1945 roku, Warszawa, 103-151. TaĔski, Paweł (2000): »Kontury – izraelskie pismo literackie«. In: Archiwum Emigracji. Studia – Szkice – Dokumenty 3, 301-307. Wygodzki, Stanisław (1992): »O czym Ğniła…«. In: Kontury III, 14f. ĩurek, Sławomir (1998): »Polsko-Īydowskie Kontury literackie«. In: Akcent 1/2, 267f.

Der Geschmack des Exils Zur Poetik der Erinnerung in Zagajewskis Lyrik1 A NJA B URGHARDT

»Nieuchwytne jest Īycie i tylko we wspomnieniu odsłania swoje rysy tylko w nieistnieniu.« (AUS: »OWOCE«) »Unfassbar ist das Leben, und nur in der Erinnerung enthüllt es seine Züge, nur im Nichtvorhandensein.« (AUS: »FRÜCHTE«)

2

Adam Zagajewski emigrierte 1982 nach Paris, 2002 kehrte er nach Krakau zurück, wo er seither lebt.3 Er gehört damit zu jenen Autoren, die während der pol-

1

Ich danke Christiane Krause für Ihre Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Textes; Dank auch an Daniel Henseler und Renata Makarska.

2

Die Übersetzungen sind, soweit nicht anders angegeben, von Karl Dedecius; sie sind den deutschsprachigen Ausgaben von Zagajewskis Lyrik entnommen; für »Früchte« vgl. Zagajewski 1989: 83.

3

Einen kurzen biografischen Abriss (bis 1988) gibt Marek Zybura (1990: 1). Ihm zufolge schlägt sich die Emigration als Zäsur vor allem in dem – als Beispiel politischer Publizistik in Zagajewskis Œuvre singulären – Text »Polen. Staat im Schatten der Sowjetunion« (1981) und in dem Prosaband Der dünne Strich (1983) nieder (ebd.: 4). Vgl. zu aktuelleren Daten Marta Kijowska (2011). Für eine Werkbibliographie (auch

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nischen Emigrationswelle in den 1980er Jahren ihr Leben in Polen für ein Leben im Exil aufgaben, das sie viele Jahre später wiederum für ein Leben in Polen hinter sich ließen. In Zagajewskis Dichtung – so die These dieses Aufsatzes – schlägt sich dieser zweimalige Wechsel der Lebensumstände im dichterischen Umgang mit Orten, insbesondere ihrer Rolle im Erinnern nieder. Im Mittelpunkt der folgenden Beobachtungen stehen die drei im Exil entstandenen Gedichtbände Oda do wieloĞci (1983, Ode an die Vielheit), Jechaü do Lwowa i inne wiersze (1985, Nach Lemberg fahren und andere Gedichte) und Płótno (1990, Leinen), anhand derer ich aufzeigen möchte, wie Zagajewski einen imaginären europäischen – oder richtiger: abendländischen – Kulturraum entwirft, Teil dessen auch Polen ist.4 Das verlassene Land kann gewissermaßen im ›Raum der Dichtung‹ präsent gehalten werden. Im Anschluss möchte ich mit einem Blick auf den Band Niewidzialna rĊka (2009, Eine unsichtbare Hand) zeigen, wie die Möglichkeit zur Rückkehr an Orte die Erinnerungsbewegung umkehrt, also das Verhältnis zwischen dem Wahrgenommenen und dem Erinnerungsgegenstand. So wird nun der Ort zum Anlass für die Erinnerung an Personen, zudem kann – über das individuelle Erinnern hinausgreifend – der gegebene Ort in Polen auf das kollektive Gedächtnis verweisen, das mit dem individuellen Erinnern zusammenfließt.

der Übersetzungen in verschiedene Sprachen) vgl. Janusz R. Kowalczyks Portrait (2010). 4

Die bislang größte Aufmerksamkeit in der Forschung hat das titelgebende Gedicht »Jechaü do Lwowa« auf sich gezogen, vgl. beispielsweise Magdalena Kay (2005); Zybura beschreibt Zagajewskis Lwów als gleichermaßen real und phantastisch (1990: 6); vgl. auch Julian Kornhauser (1995: 95-103). Angemerkt wird in der Forschungsliteratur verschiedentlich die Breite von Kulturtraditionen, die Zagajewski in seine Gedichte integriert. Das ließe sich als ›geographisches Enthobensein‹ der Gedichte bezeichnen, betont noch dadurch, dass sich häufig Bewegungen von einem Ort zum anderen finden. Meines Wissens wird dieses Phänomen aber bislang nicht als einer der Grundzüge von Zagajewskis Poetik diskutiert. – Auf die Wichtigkeit von Orten für das Schaffen des Dichters allgemein verweist Tadeusz Nyczek (2002), der sich in einem Kapitel dem Autor und seinem Werk über »Vier Orte« (»Cztery miasta«) nähert, Lwów gefolgt von Gliwice und Krakau; am Ende steht »Die Welt« (»Ğwiat«), vgl. ebd.: 132-170.

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ASSOZIATIVE E RINNERUNGEN In dem Gedicht »Gorączka« (Fieber) aus dem Band Oda do wieloĞci tritt eine Besonderheit des Motivs der Erinnerung und dessen Verbindung mit dem Exil in Zagajewskis Lyrik hervor: Orte, an denen für das eigene Leben prägende Erlebnisse stattfanden, sind dem Emigrierten nicht mehr zugänglich. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, diese innerlich ›präsent‹ zu halten. »Polska jak sucha gorączka na wargach emigranta, Polska, mapa, którą prasują ciĊĪkie Īelazka dalekobieĪnych pociągów. Nie zapominaj jak smakuje pierwsza truskawka, deszcz, jak pachną wilgotne lipy wieczorem, zanotuj metaliczny dĨwiĊk przekleĔstwa, zapisz nienawiĞü, krótko przystrzyĪoną sierĞü obcoĞci, pamiĊtaj co łączy co rozdziela.« (V. 1-10) »Polen, wie trockenes Fieber auf Emigrantenlippen, Polen, Landkarte, gebügelt von den schweren Eisen der Fernzüge. Vergiss nicht, wie die erste Erdbeere schmeckt, der Regen, wie feuchte Linden duften am Abend, schreib den metallischen Klang des Fluchwortes auf, notiere den Hass, das kurz geschorene Fell der Fremdheit, merke dir, was verbindet, was trennt.« (Zagajewski 1989: 15)

Auch im Weiteren besteht das Gedicht aus einem Wechsel von – durchaus kritischen – Beschreibungen des verlassenen Landes, und Hinweisen auf das Exil. Dabei wird einerseits die Einsamkeit im Exil thematisiert, andererseits gemahnt sich das Ich in Selbstapostrophen, eine bestimmte Haltung einzunehmen. Als Erfordernisse werden genannt eine Aufmerksamkeit gegenüber der Umgebung (vgl. V. 7-8: »zanotuj metaliczny dĪwiĊk/przekleĔstwa«, Hervorhebung – A. B.) und das Aufschreiben dessen (V. 8: »zapisz«); am Ende steht die Notwendigkeit, sich zu erinnern, und zwar daran »was verbindet, was trennt « (V. 10, »co łączy co rozdziela«). Der Emigrant ist mit dem Blick auf die Unterschiede (das Tren-

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nende und Verbindende) zwischen der zurückgelassenen Heimat und dem Exilort also immer (auch) auf das Verlassene bezogen. Dass er zudem auch dem neuen Ort voller Aufmerksamkeit begegnen soll, wird zum Ende des Gedichts deutlich: »Höre die ungetaufte Amsel/singen« (V. 16f., »Słuchaj jak Ğpiewa nieochrzczony/kos«), wobei das Präsens und die Diskrepanz hinsichtlich der Religiosität (vgl. die »ungetaufte Amsel«) auf das Exilland verweisen. Zugleich liegt in der Offenheit für das Neue der Schrecken begründet, den mit dem Attribut »okrutny« (was sich u.a. mit »grausam«, »unbarmherzig« oder auch »schrecklich« übersetzen lässt) im letzten Vers dem Frühlingsduft beilegt. In dem Eingangsbild des Geschmacks von Fieber schwingt bereits der gesamte Zwiespalt des Emigrantenstatus mit. Den Geschmack des verlassenen Landes trägt der Sprecher auf den Lippen, heiß, fiebrig, trocken, krank. Das Erfrischende des Frühlingsgeruchs (gemeinhin ist er noch kühl), den die Amsel mitbringt, verweist im Krankheitsbild auf eine Linderung des Fiebers. Eine Heilung der Krankheit ›Heimweh‹ bedeutete aber einen Verlust des früheren Lebensortes. Gewendet auf das Exil stellt dieser Träger des Neuen, der Frühlingsduft (»surowy zapach wiosny«, V. 17), eine Ablenkung von der Erinnerung dar. Das Erleben und Wahrnehmen der neuen Stadt, des Exilorts, drohen die Erinnerungen an die Heimat zu verdecken, und zwar eben die ganz alltäglichen, die sich mit einem bestimmten Lebensgefühl verbinden. Der Eingangsvers lässt mit der Betonung des Empfindens an Jugend- und Kindheitserlebnisse denken; besonders deutlich ist das Herausstreichen des emotionalen Erlebens in dem »kurzgeschorene[n] Fell der Fremdheit« für die Beschreibung der Ankunft in der Fremde (V. 9).5 Die genannten Erinnerungen sind eng mit einem einstigen Erleben verbunden, wie der Geschmack der ersten Erdbeeren (V. 5), der Duft der Linden am Abend (V. 6-7). Aufgrund der räumlichen Distanz allerdings gilt es, sich diese Erlebnisse aktiv in Erinnerung zu rufen. So erklärt sich die Selbstapostrophe des lyrischen Subjekts, solche alltäglichen Eindrücke, die mit dem Leben in Polen verbunden sind, nicht zu vergessen. Verbringt man sein Leben in demselben Land, werden bestimmte Situationen und Orte die entsprechenden Erlebnisse wieder in Erinnerung rufen. Die Assoziationsreihe, welche die antike Rhetorik zur Ausarbeitung der Mnemotechnik

5

Es ist möglich, dass dieses Gefühl den Sprecher zur Ausreise bewog, das er dann bereits im Heimatland empfand. – Damit sollen die politischen Gründe für eine Emigration nicht negiert werden; vielmehr verstehe ich die Ablehnung eines gesellschaftspolitischen Systems als eine der möglichen Ursachen für eine Entfremdung gegenüber dem eigenen Land. Das Changieren zwischen Rückblick und Sprechgegenwart erlaubt in dem Gedicht keine eindeutige Zuordnung des Verses.

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IN

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nutzte6, geschieht von selbst: ein Ort (vgl. »Polska, mapa«, V. 2-3), aber auch ein Geruch (V. 6), ein Geschmack (V. 5), eine Stimmung (vgl. »deszcz«, Regen, V. 6) rufen eine Erinnerung wach. Doch diese scheinbar nicht an einen Ort gebundenen Phänomene sind in dem Gedicht Teil des mit der Ausreise schon zur bloßen Landkarte gewordenen Polens (V. 3-4). Sie haben damit eine Ortsgebundenheit erhalten. Eine Schwierigkeit des Exils besteht darin, so betont das Gedicht, dass diese Orte nicht mehr zugänglich sind. Entsprechend gilt es, die Erinnerungen zu notieren, Möglichkeiten zu finden, sie wachzurufen, auch wenn man weit entfernt ist von ihnen (– und zudem diese Eindrücke von Neuem überdeckt werden). Im Hinblick auf die Exiljahre lässt sich in Zagajewskis Gedichten eine solche assoziative Erinnerung immer wieder beobachten, deren Ausprägung ich anhand einiger Gedichte nachgehen möchte. Insgesamt durchzieht der Topos der Emigration Zagajewskis lyrisches Œuvre, wenn er auch häufig eher am Rande aufscheint.7 In manchem Gedicht nähme man ihn wohl kaum wahr, wären da nicht die expliziten Exilgedichte und wäre Zagajewski nicht selbst Emigrant. Ein Beispiel für ein explizites Exilgedicht ist »Piosenka emigranta« (Lied des Emigranten) aus dem Band Jechaü do Lwowa; »PodróĪny« (Der Reisende) aus Ziemia ognista (1994, Feuererde) macht das Reisen im Titel explizit, das wie die Emigration verschiedentlich in den Gedichten aufscheint und sei es nur als »fremde Orte« wie in dem Gedicht »W obcych miastach« (An fremden Orten). Das Exil wird manchmal über das Motiv des Vaterlands (»ojczyzna«) aufgerufen, wenn es beispielsweise in dem Gedicht »Pokolenie« (Generation) heißt »Auf diese Art entsteht ein anderes Vaterland« (V. 44, »W ten sposób powstaje inna ojczyzna«). In dem neuen Land des Abwesenden eingedenk zu bleiben, wie es »Gorączka« beschreibt, glückt in »Jechaü do Lwowa«. Das dreimalige »było za duĪo Lwowa« (V. 25, 50f., 58) wird bei der zweiten der Repetitionen im Bild eines

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Die einschlägigen Texte zur Mnemotechnik sind bekanntlich Cicero: De oratore 2, 86, 350–88, 360 und Quintilian: Institutio oratiora 11: 2.11-51. Grundlage ist – anders als in Zagajewskis Gedichten – allein die visuelle Assoziation, und zwar von bestimmten Orten mit den zu erinnernden Gegenständen der Rede.

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Eugeniusz Czaplejewicz (2005) argumentiert dafür, zwischen dem Topos der Emigration gegenüber der Emigrationsliteratur zu differenzieren. Auch wenn sich Emigrationstopos und -literatur über das Moment der Emigration zu einer Einheit verbänden, zeigten sie doch hinsichtlich der Thematik und des »Weltbildes« (»obraz Ğwiata«, ebd.: 26) deutliche Unterschiede. Zagajewskis lyrisches Œuvre während seiner Exilzeit kann beiden Kategorien zugeordnet werden.

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überlaufenden Gefäßes weitergeführt: Gewässer, Schornsteine, Feuer, Sturm, Blitze sind von der Stadt erfüllt, zu Hause kündet eine eigentümliche Sammlung an Gegenständen von Lemberg, wie das Neue Testament, die Couch oder der Huzulenteppich (»rozsadzał szklanki, wylewał siĊ ze/stawów, jezior, dymił ze wszystkich/kominów, zamieniał siĊ w ogieĔ i w burzĊ,/Ğmiał siĊ błyskawicami, pokorniał,/wracał do domu, czytał Nowy Testament,/spał na tapczanie pod huculskim kilimem« (V. 52-57). Ähnlich unkonkret sind Kathedrale und (orthodoxe) Kirche (V. 28f.) sowie die Pflanzen, die wachsen ohne Erinnerung, aber vergnügt (V. 30f.), und eben dadurch, dass sie nicht in ihren äußerlichen Details erfasst werden, bieten sie reichlich Anknüpfungspunkte. Der letzte Vers erscheint denn auch als Schlussfolgerung dieser zugleich vagen, in der Zusammenstellung jedoch spezifischen assoziativen Erinnerungen, in denen überall Lemberg ist (»Lwów jest wszĊdzie«). Abgesehen vom Traum, dem das Ineinanderfließen der Gegenstände im ausufernden Erinnern geschuldet sein mag (vgl. V. 2), kreiert Zagajewski hier auch eine umfassende Gleichzeitigkeit (vgl. den Übergang von der »Mitte der Nacht« zum Tag (V. 5), später Mittag (V. 13), die genannten Jahreszeiten und schließlich die Ewigkeit (V. 18), die mögliche Differenzen unterläuft und so das Erinnerungspotential weiter steigert. Das Thema der Erinnerung wirft ein anderes Licht auf solche Gedichte wie »JesieĔ« (Herbst) oder »Dzwony« (Glocken) aus dem Band Płótno. Akustische Phänomene oder Jahreszeiten werden zu potentiellen Trägern der Erinnerung, die über das Exil hinausreicht. »JesieĔ« beispielsweise – offensichtlich dem Novemberaufstand gewidmet (vgl. den letzten Vers) – erzählt von dem Auslöschen der Erinnerung (2. Strophe, V. 1-2) und ist damit zugleich diesem entgegengeschrieben. Wenn das lyrische Wir Schutz finden wird (»schronimy siĊ« ist das wiederkehrende Prädikat) in Klängen, unter der Erde, in lateinischen Wörtern, in griechischen Amphoren, in leichten Gefährten und eisernen Luftballons (um nur einige der genannten Zufluchtsorte aufzuzählen), dann verbinden sich auch hier Gegenstände, Phänomene und Orte mit einem Erinnern: Selbst tragen sie eine Geschichte und werden die Geschichte(n) des lyrischen Wir weitertragen. Sinneswahrnehmungen rufen den zurückgelassenen Ort auf und die damit verbundenen Empfindungen. Das dichte Geflecht von Isotopien, das Zagajewskis Dichtung auszeichnet, führt dabei zu einer Vervielfältigung der Ebenen, so dass Realia, Kunstwerke, Figuren, Gefühle und Beobachtungen nebeneinander treten, was dem Erinnerten eine Lebendigkeit verleiht. Die hier vorgestellte ›assoziative Erinnerung‹ als eines der Charakteristika seiner Poetik, die Zagajewski in verschiedenen Richtungen weiter entwickelt, ließe sich als eine poetische Besonderheit der Exilliteratur verstehen, als eine der »Gestaltungsweisen der poetischen Welt« (vgl. dazu Czaplejewicz 2005: 27).

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Etwas anders gelagert, aber ebenfalls verbunden mit dem Zusammenführen weit auseinanderliegender Phänomene, ist Zagajewskis Umgang mit der Zeit. Einerseits erweist sich eine zeitliche Situierung als ebenso unmöglich wie eine Chronologie des Dargestellten. Andererseits gibt es eine ganze Reihe von Gedichten, die »Zeit«-Titel tragen, neben dem bereits erwähnten »JesieĔ«, »Noc« (Nacht) oder das Gedicht »Gotyk« (Gotik) aus dem Band Płótno, in dem die Epoche der ›Verortung‹ dient.8 Auch in Jechaü do Lwowa finden sich Jahreszeitengedichte, wie beispielsweise »W maju« (Im Mai), wo mit der Hinwendung an die Toten bei einem Spaziergang nicht nur die verstorbenen Personen in den Geräuschen des Waldes und im Gesang der Vögel gewissermaßen aufleben, sondern – auch lexikalisch markiert – zudem Mickiewiczs Dziady (Die Ahnenfeier) evoziert werden. In dem Gedicht »Anton Bruckner« (aus dem Band Płótno) wird diese doppelte Betrachtungsweise der Dinge, des konkreten gesehenen Gegenstands und des aufgerufenen erinnerten durchaus kritisch reflektiert, wenn es heißt »Die Welt ist zu stofflich, dicht, identisch,/und ihre Veränderungen führen nirgendwohin;/den Spiegel ermattet bereits die ständige Projektion/derselben Dinge, sogar das Echo stottert.« (V. 12-15, »ĝwiat jest zbyt materialny, gĊsty, toĪsamy/i jego przemiany nie prowadzą donikąd;/lustra są juĪ znuĪone ciągłą projekcją/ tych samych przedmiotów, nawet echo siĊ jąka.«; Hervorhebungen – A. B.). Zagajewski treibt in diesem Gedicht das Ineinanderfließen weiter, wenn das lyrische Subjekt zunächst nach der Grenze zwischen verschiedenen Sphären fragt, u.a. steinernen Mauern und Musik (V. 20-24), ehe er die Beschreibung der Musik, der Rhythmen, der Instrumentierungen, die in das Vorbeiziehen und Zurücklassen von Landschaft und Städten übergehen (vgl. V. 31-35), in den Schlussvers münden lässt: Bruckner verlasse sein Vaterhaus. Mit dem Zurücklassen werden die Orte in diesem Gedicht zu Punkten auf der Landkarte (V. 35); Bruckner, so lässt sich aus der Darstellung schließen, wandte sich ab. Wenn es gilt, um das Gedicht »Gorączka« noch einmal aufzugreifen, einen Weg zwischen rückbezogener Erinnerung und Offenheit für das Neue zu finden, dann erhält alle Wahrnehmung und alles Erleben eine zeitliche und räumliche

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Ich lese den Wechsel vom Ich zu Beginn des Gedichts zum Du mit der Anrede im dritten Abschnitt als einen Dialog zwischen lyrischem Subjekt und der Kathedrale. Das Gebäude trägt – und sei es verborgen unter der Oberfläche – die Spuren seiner Geschichte in sich, die der Sprecher am Ende des Gedichts vernehmen kann. In der Zeitlosigkeit, welche der dritte Abschnitt kreiert (vgl. insbesondere V. 1-6), wird es über den konkreten Ort der Kathedrale und damit den Baustil hinaus zum Gedicht über die Epoche.

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Dopplung. Das oben beschriebene Zusammenführen des Heterogenen lässt sich gewissermaßen als eine Konsequenz daraus verstehen. Diese Weise der Gestaltung der lyrischen Welt in einer ganzen Reihe von Gedichten aus Oda do wieloĞci wird in den beiden folgenden Bänden weiterentwickelt. Ehe es in Płótno als eigenständiges poetisches Prinzip zutage tritt, mittels dessen verschiedene Geschehensebenen zusammengeführt werden, prägt es in Jechaü do Lwowa die Gestaltung eines umfassenden imaginären Kulturraums. Dieser ›Erinnerungswelt‹ möchte ich im Folgenden nachgehen.

Z USAMMENFÜHRUNGEN :

EIN IMAGINÄRER

K ULTURRAUM

Zagajewski schreibt in einer ganzen Reihe von Gedichten eine anders gestaltete Loslösung des geographisch nicht mehr zugänglichen Polens fort: Polnische Dichter und historische Ereignisse fügen sich harmonisch in einen abendländischen Kultur- und Ideenraum ein.9 In dem Gedicht »W drzewach« (In den Bäumen) beispielsweise finden sich zwischen dem vorherrschenden Grün so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Słowacki, Sokrates, Bach, Lady Macbeth, Vermeer10 und eine ganze Reihe von Städten: Paris, Boston, Karthago. Das hete-

9

Julian Kornhauser diskutiert die Doppelbödigkeit der Gedichte aus Zagajewskis Jechaü do Lwowa: Immer wieder scheint in ihnen die Stimme des Emigranten auf, immer wieder wird ein universaler poetischer Raum entworfen, der vorrangig in einer europäischen Kulturtradition wurzelt. – Eingangs verweist er auf Zagajewskis Abkehr von seiner früheren Poetik, wie sie in dem gemeinsamen Manifest ĝwiat nie przedstawiony (1974, Die nicht dargestellte Welt) niedergelegt wurde. Bereits in Oda do wieloĞci zeigen sich Anzeichen der Entfernung von der Poetik der Neuen Welle (Nowa Fala); mit Sklepy miĊsne (1975, Metzgereien) habe Zagajewski zu einer neuen Poetik gefunden. (Kornhauser 1995: 96) Für eine Diskussion der Poetik der Neuen Welle und Zagajewskis Beitrag dazu vgl. Jakub Kozaczewski 2004; vgl. auch Kornhausers eigene Ausführungen (Kornhauser 1995: 71-94); zur Poetik der Neuen Welle vgl. auch Tadeusz Witkowski 1989.

10 Vermeer ist auch in »Bezdomny Nowy Jork« (Obdachloses New York) einer der Referenzpunkte, tragend insofern, als sein Gemälde »Musikstunde« als »Linse« (»soczewka«) beschrieben wird, als »blaues Auge, welches die Stadt/mit Zärtlichkeit anschaut« (V. 14-16, »niebieskim/okiem, które spogląda na miasto/z czułoĞcią«). Mit der Metropole New York, in dem gerade ein Beratungstreffen der Vereinten Nationen stattfindet, dem russischen Diplomaten-Ehepaar, dem Mulatten, der mit einem Trou-

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rogene Nebeneinander illustriert den »Entwurf der Ewigkeit« (V. 5, »szkic wiecznoĞci«), der in den Bäumen »sich verbirgt, atmet und kreist« (V. 4, »kryje siĊ, oddycha, kołuje«). Neben der zeitlichen Dimension ist es die räumliche, die von Endlosigkeit geprägt ist, wenn von arabischen Manuskripten die Rede ist, von Kamelen, vom Warschauer Aufstand oder von Ikarus. Freilich heißt es am Ende (und wieder ist es ein lyrisches Wir11), dass all das eher auf eine Wortansammlung hinauslaufe: »[…] BĊdziemy Īyli długo w liniach arabeski, w bełkocie puszczyka, w poĪądaniu, w echu, które jest bezdomne, pod sutymi sukniami liĞci, w koronach drzew, w czyimĞ oddechu.« (V. 40-44) »[…] Wir werden lange leben in den Linien der Arabeske, im Gestammel des Kauzes, im Verlangen, im Echo, das heimatlos ist, unter den üppigen Kleidern des Laubs, in den Baumkronen, in irgend jemandes Atem.« (Zagajewski 1989: 62f.).

Aber dennoch entsteht hier eine Art Raum, der eben all das zusammenzuführen vermag und der all das lange wird leben lassen. Durch die Betonung der Baumkrone (V. 44, erstmals im ersten Vers) wird die Zusammengehörigkeit dieser Phänomene, Gestalten und Orte (abermals ist die Breite der Kategorien bemerkenswert), unterstrichen. Es scheint als wären sie einzelne Blätter, die sich hier zu einem größeren Ganzen zusammenfügen.

badour verglichen wird, führt Zagajewski verschiedenste Kulturen zusammen und lässt sie – in der Verkaufssituation in einem Schuhladen – einander kreuzen. 11 Zagajewski wählt auffallend oft die erste Person Plural für das lyrische Subjekt, häufig unspezifisch; in dem Gedicht »Pokolenie« ist es aber eindeutig das Freundespaar. – Das Julian Kornhauser gewidmete Gedicht »W pierwszej osobie liczby mnogiej« (In der ersten Person Mehrzahl) aus Komunikat (1972, Mitteilung) beschreibt das als bewusste Wahl, programmatisch für die Haltung der Neuen Welle, wenn auch am Ende des Gedichts bereits eine Distanzierung anklingt. In »W liczbie mnogiej« (In der Mehrzahl, aus: List. Oda do wieloĞci) äußert sich Zagajewski über seinen damaligen Blick auf die Welt. An der Form des Wir hat er festgehalten; bereits aus diesen beiden metapoetischen Gedichten wird aber deutlich, dass sich die Funktion dessen wandelte.

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Zahlreicher als die Gedichte über Naturphänomene sind Gedichte, die einer bestimmten Person gewidmet sind – sei es durch den Titel wie beispielsweise bei »Anton Bruckner« oder »Franz Schubert, konferencja prasowa« (Franz Schubert, Pressekonferenz), sei es durch explizite Zueignungen wie beispielsweise das Gedicht »Owoce« (Früchte) für Czesław Miłosz oder »Błyskawice« (Blitze) für Adam Michnik. Auch in dem späteren Band Płótno finden sich solche Widmungsgedichte, z.B. »Rosja wchodzi do Polski« (Russland betritt Polen) für Iosif Brodskij oder »W obcych miastach« für Zbigniew Herbert. Im Einzelnen geschehen diese Zusammenführungen räumlich und zeitlich weit auseinanderliegender Ereignisse, Phänomene, Personen und Gegenstände auf ganz unterschiedliche Weisen. In »Trzy głosy« (Drei Stimmen), das eine (wie es scheint beliebige, zumindest alltägliche) Abenddämmerung einfängt, sind es »drei Stimmen, Stimmen aus fremden Ländern« (V. 7, »trzy cudzoziemskie głosy«), die das lyrische Subjekt ansprechen: Mahlers »Lied von der Erde«, Amseln vor dem Fenster und das Rauschen des eigenen Blutes, das dem Geräusch von abgleitendem Schnee in den Bergen gleiche (V. 5f., »cichy szelest mojej/krwi (jakby Ğnieg zsuwał siĊ z gór)«). Indem das ganz Eigene, das Geräusch des Blutes in den Adern, das ja tatsächlich nur jeder Person selbst hörbar ist, mit Vögeln und einem Musikstück verbunden wird, verschieben sich die Bedeutungen des Vertrauten und des Fremden. Das Bild des Schnees zum Erfassen des Geräuschs internalisiert diese Fremdheit. Etwas anders gelagert, aber ebenfalls im Nebeneinander von weit Entferntem gründend, ist die Gestaltung von »Franz Schubert…«: Wien ist der einzig explizit genannte Ort in diesem Gedicht; seine Kaffeehäuser, die Glocken der Kathedrale (V. 36) dürften auf den Stephansdom anspielen. Wichtiger erscheint aber die zeitliche Zusammenführung des Ungleichzeitigen. Mai und Juni werden erwähnt, »grüne Wiesen« (V. 12) werden ebenso genannt wie Schnee (V. 9, 24f.) und vereiste Wälder (V. 8). Mit dem wiederkehrenden »Nie było epoki« (V. 11, 14), das zudem die Kunst betrifft (vgl. die »Fremdheit des Stils«, V. 10), wird die Tatsache eines nicht fassbaren Zeitraums betont, die mit den genannten Ereignissen und Persönlichkeiten in einem langen Monolog12 verbunden ist: der

12 Mit dem einleitenden »Ja« und »Nein« wird die Situation einer Pressekonferenz realisiert, bei der der Sprecher auf Fragen von Reportern antwortet. Da der Sprachduktus aber von langen Satzperioden geprägt ist, ohne dass ein Zögern markiert wäre, handelt es sich letztlich eher um ein Selbstgespräch als eine Unterredung mit anderen. Die – für Zagajewskis Dichtung durchaus typischen – Enjambements, in denen Attribut und Bezugswort getrennt werden, unterstreichen diesen Eindruck eines durchgängigen Redestroms.

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Völkerfrühling, Wagner (1813-1883), Admiral Nelson (1758-1805) und Schubert selbst (1797-1828) lassen sich nicht wirklich in eine gemeinsame Epoche einordnen. Besonders ins Auge fällt diese zeitliche Bandbreite mit dem Anachronismus der Pressekonferenz, die im Sprachduktus und mit der Arche Noah als Bild für das Lied (V. 54) gegeben ist. Auch hier kreiert Zagajewski also einen imaginären Raum, in dem – über die Isotopien von Personen und Orten – beide wechselseitig aufgerufen werden: Personen, die man mit Wien verbindet, nicht nur berühmte, wenn von Gretchen die Rede ist (V. 5), Städte, die man beispielswiese mit Wagners vielen Umzügen verbinden mag. Wenn Schubert hier von dem Lied sagt, es sei nur eine kleine Arche Noah, die unmöglich das Leben einfangen könne (V. 54f., »Īycie nie mieĞci siĊ/w pieĞni, to jest tylko mała arka Noego«), dann stellt dieses Gedicht zugleich auch seine eigene metapoetische Reflexion dar: Wie das Lied nur Typen von Menschen einfangen kann, nur einzelne Blumen und nur die Bezeichnungen, nicht aber den Duft von etwas selbst, so fügt auch der Dichter Zagajewski nur ›Bruchstücke‹ zusammen. Dennoch teilt sich darin das Leben mit im »riesigen Pluralis der Farben und Klänge« (V. 5760, »my/ĪyliĞmy […] w ogromnym pluralis barw i dĨwiĊków«), eine Verortung, die völlig unabhängig erscheint von geographischen und historischen Gegebenheiten. Was Platz findet in der Arche Noah, entgeht dem Untergang – und so ist es gut, wenn dieses Gerettete Weiteres aufrufen kann und es so ebenfalls vor dem Untergang bewahrt. Ähnlich verwoben sind Landschaft und Musik im Gedicht »Wiatr w gałĊziach« (Wind in den Baumkronen). In der Begegnung von Wind und Laub des Baumes wird Musik geboren (V. 5f.), expliziert am Ende des Gedichts als Mozarts (unvollendetes) »Requiem«. Die Zusammenführung verschiedener Orte geschieht hier über den Wind als Reisenden (V. 2f., »On, wielki podróĪnik, libertyn, szalejący/reporter«), der die Alpen (V. 6) mit dem Meer verbindet. Verschiedene Erinnerungsmomente führt beispielsweise auch das Gedicht »Pokolenie« aus Jechaü do Lwowa zusammen, die hier zur »anderen Heimat« (V. 44, »inna ojczyzna«) werden. Person, Ort und Stimmung werden mit historischen Ereignissen überlagert, so dass ein weit gespannter imaginärer Raum entsteht. Das Gedicht ist ein Nachruf auf den Dramaturgen, Regisseur und Theatertheoretiker Helmut Kajzar (1941-1982), der 1980 ein Jahr in Berlin lebte. Zagajewski wählt ein lyrisches Wir als Sprecher, das eingangs von einem gemeinsamen Besuch des Olympiastadions in Berlin erzählt. Bei diesem Spaziergang fällt dem Sprecher nicht nur der Leichtathlet und Olympiasieger »Jesse Owens« ein (V. 4); vielmehr lässt der eigene langsame Gang ihn an dessen schnellen Lauf (V. 6-8) denken. Weiter gefasst verbindet er die Sprechgegenwart mit dem Gedanken an jene »prähistorischen/Zeiten, wo die deutsche Luft/schrie«

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(V. 4-6, »w czasach/prehistorycznych, a niemieckie powietrze/krzyczało«), eine Haltung (in der Gegenwart, den Blick in die Vergangenheit), die er mit der eigenartigen Haltung der Figuren von ägyptischen Reliefs vergleicht. Ihre Freundschaft, denn zu deren Sinnbild wird dieses Bild, erhält so über die »leichten Schnüre« hinaus ein historisches Band, das kaum weiter zurückreichen könnte. Weitere Spuren der Geschichte sind in den Ort und die Assoziationen des lyrischen Wir eingebunden. »W ten sposób powstaje inna ojczyzna, którą tworzymy jak od niechcenia budowana na zapas, w dół, korytarzami, jasny cieĔ pierwszej, nie dokoĔczony dom.« (V. 44-48) »Auf diese Art entsteht ein anderes Vaterland, das wir unwillkürlich errichten, gebaut auf Vorrat, nach unten, mit Korridoren, ein heller Schatten des ersten, ein unvollendetes Haus.« (Zagajewski 1984, 59f.)

»Auf diese Art« bezieht sich zurück auf den beschriebenen gemeinsamen Gang durch das Stadion, den Austausch von Gedanken (V. 38-40), geteilte Freude (V. 41f.) und das gemeinsame Erleben, bei aller Gegensätzlichkeit. Die Vielschichtigkeit, das Nebeneinander von Tod und Leben, wie das Gedicht es auf unterschiedlichen Ebenen einfängt, lässt »das andere Vaterland« entstehen, das in dem Bild des unvollendeten Hauses kulminiert. Auffallend ist dabei die Offenheit, die bereits zuvor mit den Fenstern aufscheint (V. 33-35) und welche in dem Gedicht selbst sowohl über die Erinnerungsmotivik als auch über die andeutenden, nicht immer zur Gänze entschlüsselbaren Hinweise angelegt ist. Eine ganze Reihe von Zagajewskis Gedichten weisen also zwei Umgangsweisen mit Orten auf: Zum einen geschieht eine Dopplung des Ortes, an dem sich der Sprecher befindet, mit seinen Erinnerungen an vergangene Orte, ein ›assoziatives Erinnern‹, das in den Assoziationen zutiefst persönlich ist als eigene Geschichte des Individuums. Zum anderen – und meines Erachtens lässt sich das als ein poetisches Fortführen der Assoziativität betrachten – wird weit Entferntes in einen imaginären Kulturraum zusammengeführt, in dessen Mittelpunkt Europa steht (inklusive Polens), der sich aber letztlich auf die gesamte Welt ausdehnt. Im Hinblick auf die Frage, wie die Emigration das Werk des Dichters prägt, lässt sich das freilich auf die konkrete Exilerfahrung zurückführen. Der Dichter

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schafft einen Erinnerungsraum und bewahrt so den Zugang zu den nicht mehr aufsuchbaren Orten seiner Vergangenheit (im ersten Fall). Im zweiten wird damit, dass Polen Teil des imaginären Raums ist, letztlich dessen Abwesenheit aufgehoben.

O RTE

DER

R ÜCKKEHR

Auffällig an Zagajewskis neuestem Gedichtband Niewidzialna rĊka (Eine unsichtbare Hand) von 2009, entstanden also deutlich nach der Rückkehr nach Krakau, ist die Vielzahl an konkreten Ortsbenennungen. Meist sind sie in ›Untertiteln‹ gegeben, einem kursiv gesetzten Vers an der Stelle, an der gewöhnlich Motti oder Widmungen platziert sind. Im Gedicht wird dann oft, wie ich im Folgenden aufzeigen möchte, eine Erinnerung eingefangen: an eine konkrete Person, an ein Erlebnis etc. Damit scheint es beinahe, als habe sich das Verhältnis von Ort und Person verkehrt: Werden in den früheren Gedichtbänden mit der Widmung an jemanden Orte aufgerufen, so geben jetzt die konkreten Orte Anlass zur Erinnerung an eine bestimmte Person. Das Gedicht »Pierwsza komunia« (Erstkommunion) beispielsweise hat als Untertitel die Ortsangabe »Gliwice, ulica Piramowicza«. Es beginnt mit einer Beschreibung dieser Straße, den dunkelgrauen Steinhäusern mit ihren Erkern. Dann erinnert sich der Sprecher daran, dass er hier zu seiner Erstkommunion fotografiert wurde. Zagajewski überlagert nun eine Beschreibung der Schwarzweißfotografie (oder vielmehr der Erinnerung daran13) mit der Erinnerung an die Situation: Zunächst erinnert er sich an die Ernsthaftigkeit, die aus seiner Haltung und seinem Gesichtsausdruck sprechen, was ihn zu seinem damaligen Wunsch nach Klarheit führt und der Ratlosigkeit, wie er sie erreichen könne: »Jestem początkującym katolikiem, który próbuje oddzieliü dobro od zła, ale nie wie, czym one siĊ róĪnią, zwłaszcza o Ğwicie i o zmierzchu, kiedy przez długą chwilĊ Ğwiatło siĊ waha.« (V. 9-13)

13 Die Nennung der Straße im Untertitel legt nahe, dass es eine Erinnerung an die Fotografie ist, die sich mit ihren klaren Kontrasten (vgl. V. 14-16) dem Gedächtnis des Sprechers eingeprägt hat.

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[Ich bin ein angehender Katholik, der versucht, gut von böse zu sondern, aber nicht weiß, worin sie sich unterscheiden, insbesondere in der Dämmerung und im Abendgrauen, wenn für einen langen Augenblick das Licht ins Wanken gerät.]14

Über den Verweis auf Zwielicht und Dämmerung, welche die Kontraste (schwarz – weiß, übertragen: gut – böse) verschwimmen lassen, kommt dem Sprecher dann die spätere Farbfotografie, angesichts welcher sich die Gegensätze mildern, in den Sinn (V. 18f., »kolorowa fotografia/i złagodzi kontrasty«). Die Fotografien erscheinen hier als Spiegel des Erlebens des Jungen, deren Differenz verweist auf sein Heranwachsen. Der Fotografie kommt damit eine vielschichtige Funktion zu: Sie distanziert, denn die Erinnerung an sein damaliges Empfinden ist über sie vermittelt, zugleich vermag sie aber die Erinnerung aufzurufen. Zagajewski stellt zudem eine ›Verweiskette‹ der Erinnerungen dar: Die Straße erinnert an das Bild, das Bild an die Situation der Erstkommunion und das damalige Empfinden. Die zweite Fotografie ruft die Erinnerung an die Veränderung auf, die seine Haltung gegenüber der Welt erfuhr. Ort und Erinnerungsträger (Fotografie und das eigene Gedächtnis) verweisen somit wechselseitig aufeinander. Den Ausgangspunkt allerdings bildet die Straße, die auf der Fotografie zu sehen ist. Auch in anderen Gedichten dieses Bandes findet sich eine solche Dopplung der Erinnerungsebenen. Ebenfalls eine Fotografie hat das Gedicht »PatrzĊ na fotografiĊ« (Ich betrachte eine Fotografie) zum Ausgangspunkt, in dem das lyrische Subjekt die Lebensgeschichte des Vaters, die Familiengeschichte und Bilder der Stadt ineinander fügt. In anderen Gedichten sind es Bücher, so beispielsweise in dem Liebesgedicht »Kawiarnia« (Café) der Roman Unter dem Vulkan, den der Sprecher beiseite legt, um – in Berlin, so der Untertitel – seine Gedanken schweifen zu lassen15, oder das Gedicht »K.I.G.«, in dem Saint-Saëns Requiem den Ausgangspunkt für die Gedanken über Poesie darstellt. Daneben gibt es eine ganze Reihe von Gedichten, die direkt von Kindheitserinnerungen erzählen, beispielsweise »Lekcja fortepianu« (Die Klavierstunde)

14 Übersetzung: A. B. 15 Nahe steht dem das in dem Gedichtband unmittelbar folgende Gedicht »Vita contemplativa«, das eingangs den Sprecher im Café auf der Museumsinsel in Berlin verortet. Das Gedicht »TakĪe vita contemplativa« (Ebenfalls vita contemplativa) im dritten Abschnitt des Bandes nimmt ebenfalls zu Beginn eine Ortsangabe vor, hier mit dem Untertitel »Im Zug nach Warschau« (»W pociągu do Warszawy«).

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mit dem Untertitel »Ich bin acht Jahre alt« (»Mam osiem lat«) oder »Królowie« (Könige) mit »Ich bin Student« (»Jestem studentem«) oder das dem Vater gewidmete Gedicht »Teraz, kiedy straciłeĞ pamiĊü« (Jetzt, da du das Gedächtnis verloren hast). Unmittelbar mit einem Ort verbunden sind die Erinnerungen des lyrischen Subjekts auch in »Nowy hotel« (Das neue Hotel), in dessen Beschreibungen Erinnerungen an Tante und Onkel mit einfließen (auch hier der Untertitel: »Kraków«); »Maj, ogród botaniczny« (Mai, botanischer Garten) hat den Untertitel »In Erinnerung an Professor Andrzej Jankun« (»Wspominając profesora Andrzeja Jankuna«). Endgültig eine Überlagerung von Ort und Menschen findet in dem Gedicht »Twarze« (Gesichter) statt, wenn es heißt »PomyĞlałem, Īe miasto budują nie domy, nie place, bulwary, parki, szerokie ulice, tylko twarze płonące jak lampy.« (2. Strophe, V. 1-3) [Ich dachte, dass die Stadt nicht Häuser bilden, nicht Plätze, Boulevards, Parks, breite Straßen, nur die Gesichter, die wie Lampen leuchten.]16

Bei aller Vielfalt der Themen und Darstellungsweisen des Bandes Niewidzialna rĊka fällt die Häufigkeit auf, mit der eine konkrete Verortung im Untertitel vorgenommen wird oder aber ein bestimmter Ort der Ausgangspunkt des Gedichtes ist.17 Die Verfahren des assoziativen Erinnerns und der Zusammenführung von weit Entferntem finden sich nach wie vor in den Gedichten. »Muzyka niĪszych sfer« (Die Musik niederer Sphären) beispielsweise, dessen Untertitel auf die Karmeliter-Straße verweist (»IdĊ ulicą Karmelicką«), ist eine Art Liste von Stimmen, Melodien und Geräuschen, die an das Ohr des lyrischen Subjekts dringen: aus einer Kirche Zitate aus den Evangelien, »Lilie Marleen« tönt aus einem vorbeifahrenden Auto… Aber auch hier wandern die Assoziationen weiter an einen Adressaten im Flugzeug (V. 10) und zu Pilotin und Mallarmé. Ein weiteres Beispiel für eine Verschränkung – in diesem Fall von Zeit und Ort – ist das Gedicht »Rawenna«, das den Untertitel »Im Mai 2006« (»W maju 2006«) trägt.

16 Übersetzung: A. B. 17 Neben den genannten seien nur einige weitere angeführt: »Nieme miasto« (Die stumme Stadt), »WrzeĞniowy wieczór« (Septemberabend) mit dem Untertitel »Ja, in Lemberg« (»Tak, we Lwowie«) und »Stroiciel fortepianu« (Der Klavierstimmer) mit dem Untertitel »Die Philharmonie in Chicago« (»Filharmonia w Chicago«).

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Während also in den frühen Gedichten Personen den Ausgangspunkt bilden für die Erinnerung an Orte, verkehrt sich hier die Reihenfolge: Der konkrete (aufgesuchte) Ort lässt an andere Menschen denken.18 Zagajewskis Dichtung verweist damit auf ein Phänomen des Exils gegenüber einem Leben an einem konstanten Heimatort, das zwar auf der Hand liegen mag und doch oft genug als Selbstverständliches in den Hintergrund gerät. Ganz im Sinne der antiken Mnemotechnik ruft ein Ort bestimmte Erinnerungen wach – gemeinhin Erlebnisse, die sich hier ereigneten. Wer im Exil lebt, so erzählt das lyrische Subjekt in dem Gedicht »Gorączka«, verliert eben diesen Erinnerungsspeicher. Er muss andere Wege finden, um einen Teil seiner eigenen Geschichte präsent zu halten. In dem Moment, in dem eine Rückkehr an die Kindheitsorte möglich wird und tatsächlich stattfindet, entfällt diese Notwendigkeit einer Vergegenwärtigung des Ortes mittels assoziativer Erinnerung. Der gegebene Ort muss nicht mehr erinnert werden; vielmehr evoziert er die Erinnerung – und nun an Ereignisse, Personen oder Stimmungen – unmittelbar. Eine ganze Reihe von Gedichten aus dem Band Niewidzialna rĊka zeigt das auf eindringliche Weise mit dem Nebeneinander konkreter Orte und Erinnerungen des Sprechers. Die Rückkehr aus dem Exil kehrt die aktive Erinnerung an ein Sich-Ereignen um, das Raum gibt für neue Erfahrungen und für eine neue Art von Erinnerung: Die persönliche Erinnerung kann zugunsten historischer Spuren zurücktreten, wie das in dem Gedicht »Ulica Józefa« geschieht. Die Straße macht dort eine Biegung, wo es nichts gibt (V. 3f.), wobei das »möglicherweise schwere Los« und die »ungehörten Gebete« (V. 9) sowie der am Ende des Gedichts erwähnte Tod deutlich auf die Vernichtung der Juden in dieser zentralen Straße des einstigen jüdischen Stadtteils anspielen. Bemerkenswert ist in dem Gedicht, dass die Geschichte des Stadtteils nicht erwähnt wird. Die scheinbar zusammenhanglosen Reflexionen des Sprechers und die vielen Verneinungen verweisen allerdings auf das Abwesende, auf die Leere, die Raum gibt für die Erinnerung an die Vernichtung der Bewohner dieser Straße. Diese Leere scheint in der Ratlosigkeit des Sprechers auf, wie sie in der häufigen Rückkehr in diese Straße anklingt. Er ver-

18 Wojciech LigĊza betrachtet die Lyrik verschiedener Autoren, welche die Rückkehr thematisieren, und diskutiert, wie sich die Bedeutung der Emigration mit dem Moment ändert, wenn eine Rückkehr möglich wird. Im Fall von Zagajewski untersucht er den Band Powrót (2003, Die Rückkehr), in dem der Autor ein Vergleichen der aktuellen Erfahrungen bei der Rückkehr mit einer Rekonstruktion seiner Empfindungen der vergangenen Jahre vornehme. Dem entsprechend stehe die Rückkehr ganz im Zeichen von Krakaus Straßen, die dem Heimkehrer immer neue Rätsel eröffnen. (Vgl. LigĊza 2005: 383)

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sucht, diese außerordentliche Straße (V. 3, »przedziwna ulica«) zu verstehen (V. 2f., vgl. auch das »ungewisse« oder »unsichere Gedächtnis«, V. 8, »pamiĊü niepewna«); rätselhaft bleibt das eigenartige Lachen des Sprechers am Ende des Gedichts, das abermals den Eindruck von Ratlosigkeit unterstreicht.19 Mit dieser veränderten Lebenssituation einher geht also auch ein Zurückdrängen des evozierten abendländischen Kulturraums, der in den Gedichten aus dem Exil an die individuelle Imagination gebunden ist, zugunsten des kollektiven Gedächtnisses, wie es sich in der Stadt mit ihrer Geschichte aufdrängt. Liest man Zagajewskis Gedichte im Hinblick auf die Rolle von Emigration und Remigration, so ist der Topos der Exilerfahrung vor allem mit dem Erinnern verknüpft. Die Erfahrung des Exils lässt sich dabei insofern als zentral für Zagajewskis Poetik verstehen, als das Imaginäre, in Zagajewskis Gedichten vor allem in Musik, Kunst und Texten, aber auch in Fotografien und dem Gedächtnis des lyrischen Subjekts gegeben, losgelöst von allen geografischen und staatspolitischen Gegebenheiten ganz eigene Räume zu kreieren vermag.

L ITERATUR P RIMÄRLITERATUR Zagajewski, Adam (1975): Sklepy miĊsne, Kraków. ders. (1982): List. Oda do wieloĞci, Kraków. ders. (1985): Jechaü do Lwowa i inne wiersze, Londyn. ders. (1990): Płótno, Paris. ders. (1994): Ziemia ognista, PoznaĔ. ders. (2003): Powrót, Kraków. ders. (2009): Niewidzialna rĊka, Kraków. ders. (1984): Stündliche Nachrichten. Gedichte aus 10 Jahren, [dt. Karl Dedecius], Berlin. ders. (1989): Gedichte, [dt. Karl Dedecius], München, Wien. ders. (1996): Lachen und Zerstörung. Prosa und Gedichte, [dt. Henryk Bereska (Prosa), Karl Dedecius (Gedichte)], Hamburg.

19 Dass das Lachen des Sprechers am Ende ein Zeichen der Ratlosigkeit ist, legt das gewählte Präsens in Verbindung mit der Iterativität des Gedichts nahe: »Oft gehe ich die Joseph-Straße entlang« (V. 1); das Lachen kann damit nicht Ausdruck der Freude über eine Erkenntnis sein.

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S EKUNDÄRLITERATUR Czaplejewicz, Eugeniusz (2005): »U Ĩródeł literatury emigracyjnej (Jeden z najstarszych toposów literatury europejskiej)«. In: Hanna Gosk/Andrzej Stanisław Kowalczyk (Hg.): Pisarz na emigracji. Mitologie, style, strategie przetrwania, Warszawa, 10-29. Kay, Magdalena (2005): »Place and Imagination in the Poetry of Adam Zagajewski«. In: World Literature Today, 79 (2), 20-22. Kijowska, Marta (2011): »Adam Zagajewski. Das lyrische Werk«. In: Kindlers Literaturlexikon online (Stand: März 2011). Kornhauser, Julian (1995): MiĊdzyepoka. Skice o poezji i krytyce, Kraków. Kowalczyk, Janusz R. (2010): Portrait Adam Zagajewski, http://www.culture.pl/pl/culture/artykuly/os_zagajewski_adam (27.5.2011). Kozaczewski, Jakub (2004): Polska tradycja literacka w poetyce Nowej Fali. O poezji Stanisława BaraĔczaka, Juliana Kornhausera, Ryszarda Rynickiego i Adama Zagajewskiego, Kraków. LigĊza, Wojciech (2005): »Powroty poetów emigracyjnych«. In: Hanna Gosk/Andrzej Stanisław Kowalczyk (Hg.): Pisarz na emigracji. Mitologie, style, strategie przetrwania, Warszawa, 361-385. Nyczek, Tadeusz (2002): Kos. O Adamie Zagajewskim, Kraków. Witkowski, Tadeusz (1989): »The Poets of the New Wave in Exile«. In: Slavic and East European Journal 33, 204-216. Zybura, Marek (1990): »Adam Zagajewski«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, München, 22. Nachlieferung, s.v., 1-8 und A1-D1.

»Postanowiłem wróciü na dwór cesarza« Zbigniew Herberts Pendelbewegungen zwischen Aufbruch und Rückkehr I SABELLE V ONLANTHEN

Im Januar 1981 kehrte Zbigniew Herbert nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Westeuropa nach Polen zurück. Ein paar Monate später äußerte er sich folgendermaßen zu diesen außerhalb Polens verbrachten Jahren: »Psychicznie nigdy z Polski nie wyjeĪdĪałem. Nie chciałem byü emigrantem, bo wiem, jaką cenĊ płaci siĊ za emigracjĊ. Ale potrafiĊ zrozumieü tych, którzy zostali na emigracji. Moja konstytucja psychiczna, moja biografia przywiązała mnie tak bardzo do kraju, Īe muszĊ tutaj zostaü. Nie mam innego wyjĞcia. Trudno mi powiedzieü, czy potrafiĊ coĞ daü, współdziałaü, ale sama obecnoĞü jest przyznaniem siĊ. [...] Zawsze uwaĪałem, Īe historia jest dziełem człowieka, a nie sił przyrody, nieubłaganej dialektyki, ducha dziejów czy czegoĞ podobnego. [...] Dlaczego wiĊc wyjeĪdĪałem na Zachód? Czy muszĊ siĊ wciąĪ z tego usprawiedliwiaü? UwaĪam, Īe Polska naleĪy, mimo tego, co siĊ stało, do kultury Ğródziemnomorskiej. Jestem do tej kultury przywiązany i chciałbym z moich podróĪy przywieĨü nie tylko relacje o obrazach, rzeĨbach, katedrach, ale takĪe zadokumentowaü moją, Polaków, wiĊĨ ze Ĩródłami naszej cywilizacji... To jest moja Ğwiadoma opcja. Polityczna czy niepolityczna? Dla mnie niewaĪne.«1 [Psychisch bin ich nie aus Polen weggegangen. Ich wollte kein Emigrant sein, da ich weiß, welchen Preis man für die Emigration zahlt. Aber ich kann jene verstehen, welche in der Emigration geblieben sind. Meine psychische Konstitution, meine Biografie haben mich

1

»Dziennik Bałtycki« 1981, Nr. 106, S. 2. Das zu Grunde liegende Gespräch fand am 9. Mai 1981 in Danzig statt.

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so sehr an das Land gebunden, dass ich hier bleiben muss. Es gibt keinen anderen Ausweg für mich. Ich kann nur schwer sagen, ob ich etwas zu geben vermag, ob ich mitwirken kann, doch bereits die Anwesenheit selbst ist ein Bekenntnis. [...] Ich war immer der Meinung, dass die Geschichte von Menschen gestaltet wird, und nicht von Naturkräften, unerbittlicher Dialektik, vom Geist der Geschichte oder sonst etwas in der Art. [...] Weshalb bin ich also in den Westen gegangen? Muss ich mich dafür immer noch rechtfertigen? Ich denke, dass Polen zur Mittelmeerkultur gehört – trotz allem was geschehen ist. Dieser Kultur fühle ich mich verbunden, und ich möchte von meinen Reisen nicht nur Erzählungen von Bildern, Skulpturen, Kathedralen mitbringen, sondern auch meine, die polnische, Verbundenheit mit den Wurzeln unserer Zivilisation dokumentieren... Das ist meine bewusste Wahl. Politisch, nichtpolitisch? Das ist für mich nicht wichtig.]2

Tatsächlich zählt Herbert nicht zu den Autoren, die in der polnischen Nachkriegszeit, insbesondere in den 1980er Jahren, den Weg in die Emigration gewählt haben. Dennoch hat die Emigration als Motiv und als ethische Frage deutliche Spuren in Herberts dichterischem Werk hinterlassen: Denn obwohl er sich nie wie z.B. Czesław Miłosz oder Adam Zagajewski bewusst dafür entschieden hatte, Polen zu verlassen, war auch das Leben des Schöpfers von Herr Cogito geprägt von ständigen Aufbrüchen und längeren Aufenthalten im Westen (die durchaus dem Lebensstil eines Emigranten entsprachen) und, immer wieder, der Rückkehr nach Polen. Obwohl Herbert sich selbst gegen ein dauerhaftes Exil entschloss, war er oft mit Fragen der Emigration und den damit verbundenen Entscheidungsprozessen konfrontiert, und sie schlugen sich auch in seinem dichterischen Werk nieder – im Folgenden möchte ich mich auf diese Spurensuche begeben.

B IOGRAFISCHER H INTERGRUND Zbigniew Herbert verbrachte ab 1958 zahlreiche längere Zeitetappen (jeweils einige Jahre) in Westeuropa. Meistens waren diese Aufbrüche motiviert durch die Möglichkeit zu längeren Reisen, die ihm durch Stipendien, Literaturpreise, Einladungen an Festivals u.a. ermöglicht wurden. Dazwischen kehrte Herbert immer wieder nach Polen zurück (Zawsze z tymi, których biją – Immer mit den Geschlagenen, 2001). Wie sich ein Freund erinnert, besaß sein Leben im Ausland oft durchaus die Züge eines Emigrantenlebens mit seinem Charakter des Dazwischen-Seins, der Unbehaustheit:

2

Wenn nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von der Verfasserin.

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»Jedną nogą nie stał w Polsce, ale drugą nie stał w ParyĪu. Ani tu, ani tam. Nie miał wtedy we Francji tłumaczeĔ. Był bardzo ceniony przez rodaków, nieĨle juĪ znany w Niemczech, ale paryskie Ğrodowisko literackie prawie nic o nim nie wiedziało. Zbyszek mieszkał latami na walizkach, cyrkulował po Europie.« (Lebenstein 2000: 60) [Mit dem einen Bein stand er nicht in Polen, mit dem anderen nicht in Paris. Weder hier, noch dort. Damals wurde er in Frankreich nicht übersetzt. Die polnischen Landsleute schätzten ihn sehr, auch in Deutschland war er schon ziemlich bekannt, aber die Pariser Literaturkreise wussten fast nichts von ihm. Zbyszek lebte jahrelang aus dem Koffer, zirkulierte durch Europa.]

In Polen blieb Herbert von Repressionen nicht verschont: Er wurde vom Sicherheitsdienst verhört; wegen seiner Unterzeichnung des Briefes 59 wurde von 1975 bis 1979 ein Druckverbot gegen ihn verhängt. Von Anfang 1975 bis Anfang 1981 hielt sich Herbert in Österreich, der Bundesrepublik Deutschland und Italien auf. Anfang 1981 kehrte er nach Polen zurück; er engagierte sich in der Opposition, gehörte zu den Redakteuren der oppositionellen Zeitschrift Zapis und beteiligte sich an der SolidarnoĞü-Bewegung. Die Jahre 1986 bis 1992 verbrachte er noch einmal im Ausland, in Paris, danach kehrte er nach Warschau zurück, wo er 1998 starb.3 Während seiner Aufenthalte in Westeuropa unterhielt Herbert viele Kontakte zu Emigrantenkreisen. Das Hauptmotiv seiner Mäanderbewegungen in jenen Jahren war aber nicht die Flucht aus Polen, obwohl er die Zeit im Westen als eine wohltuende Flucht vor der polnischen Enge, den Repressionen und der ästhetischen Ödnis empfand. Es war auch nicht die Suche nach einem neuen Ort, an dem er sich hätte niederlassen können oder wollen. Auf seinen Reisen in Westeuropa und im Mittelmeerraum fand er eine tiefer greifende Heimat – ein kulturelles und geistiges Vaterland, das zum Angelpunkt seiner Dichtung wurde. Herberts wiederholtes Weggehen aus Polen endete also nicht im Fluchtpunkt der Emigration, sondern in einer konstanten Pendelbewegung, einer immer wieder von neuem bewusst gewählten Rückkehr. Doch – dieser kurze Blick auf seine Biografie zeigt es – die Emigration war eine Option, mit der sich der Dichter zu verschiedenen Zeiten immer wieder aus-

3

Zwei Gedichtbände Herberts erschienen außerhalb Polens: Raport z oblĊĪonego Miasta (1983, Bericht aus einer belagerten Stadt, Literarisches Institut in Paris) – Herbert hatte sich damals entschieden, nicht in der öffentlichen polnischen Presse zu veröffentlichen – und der Band Elegia na odejĞcie (1990, Elegie auf den Weggang), der während seiner Zeit in Paris veröffentlicht wurde.

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einandersetzen musste. Fast von Anfang seines Schaffens an kommen in Herberts Gedichten Emigrantenfiguren vor. Die Figur des Emigranten vollzieht dabei im Lauf der Jahre eine Wandlung, die im Folgenden beschrieben werden soll.

H ERMES , PIES

I GWIAZDA (1957) O EMIGRANTACH ROSYJSKICH «

– »P RZYPOWIEĝû

Im Gedichtband Hermes, pies i gwiazda (Hermes, der Hund und der Stern) kommen in zwei Gedichten erstmals explizit als solche bezeichnete Emigranten vor. Das Gedicht »Moje miasto« (Meine Stadt) beschreibt den Versuch des lyrischen Ich, die (verlorene) Stadt seiner Kindheit in der Erinnerung wieder aufzubauen. Zum Inventar dieser Stadt gehören Emigranten, die den Verlust ihrer Identität beklagen: »emigranci w złamanych kaszkietach skarĪą siĊ na ubytek substancji« (Herbert 2011: 136) [emigranten mit geknickten schirmmützen beklagen den verlust der substanz]

Doch die Wiederaneignung der beschriebenen Stadt im poetischen Traum scheitert: der ozean der flüchtigen erinnerung/unterspült zerreibt die bilder (»ocean lotnej pamiĊci/podmywa kruszy obrazy«). Die ganze Stadt hat sich aufgelöst, und mit ihr die Emigranten, die Teil von ihr waren. Die beschriebene Auflösung der Substanz findet also in zweifacher Hinsicht statt: Einerseits in der Erzählung des lyrischen Ich von der vergeblich versuchten Rückkehr in seine Heimatstadt, und andererseits innerhalb dieser Erzählung im bereits damals erfolgten Substanzverlust der die Stadt bewohnenden Emigranten. Die Emigrantenfiguren verstärken noch den beschriebenen Verlust, dieses Verschwinden im Abgrund der Zeit. Oder, als ein weiterer Deutungsversuch: Die Emigranten in dem Gedicht gehören nicht zum Inventar der Stadt, sondern sind ein eingeschobener Vergleich zum lyrischen Ich, dem wie einem alten Emigranten die Substanz durch die Finger rinnt und die Zeit sich auflöst. Das Gedicht »PrzypowieĞü o emigrantach rosyjskich« (Das Gleichnis von den russischen Emigranten) rückt wenig später die Figur der Emigranten von der Peripherie ins Zentrum:

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»Było to w roku dwudziestym a moĪe dwudziestym pierwszym przyjechali do nas rosyjscy emigranci bardzo wysocy blondyni o marzycielskich oczach z kobietami jak sen [...] po paru latach mówiono tylko o trojgu o tym który zwariował o tym który siĊ powiesił i o tej do której chodzili mĊĪczyzni reszta Īyła na uboczu i wolno obracała sie w proch. […]« (Herbert 2011: 156-157) [Es war im zwanzigsten jahr vielleicht im einundzwanzigsten da kamen zu uns russische emigranten sehr große blonde männer mit träumerischen augen und mit frauen wie ein traum [...] nach ein paar jahren sprach man nur noch von dreien dem der verrückt geworden war von dem der sich erhängt hatte und von der zu der die männer gingen der rest lebte am rande und verwandelte sich langsam zu staub. […]

Die Verankerung im Jahr 1920, der Zeit der russischen Revolutions- und Kriegswirren, macht aus den Emigranten politische Emigranten und stellt sie in einen geschichtlichen Kontext. Sie finden ein trauriges Ende: nicht im Kampf gegen den Feind, vor dem sie geflohen sind, sondern im langsamen Zugrundegehen. Die beschriebenen Tode sind alle ›Substanzverluste‹, sei es das langsame Zerfallen zu Staub, seien es die extravaganteren Auswege: der Freitod, der Wahnsinn, der soziale Abstieg. Vor allem ein Element sticht in der Beschreibung der Emig-

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ranten heraus: das Träumerische – Männer mit Träumeraugen, Frauen wie ein Traum, Wandervögel. Diese Menschen stellen sich der Wirklichkeit nicht, und deshalb erliegen sie der zerstörerischen Macht der Geschichte, ohne das Zutun ihres eigenen Willens. Sowohl in »Moje miasto« wie auch in »PrzypowieĞü o emigrantach rosyjskich« werden die Emigranten von außen geschildert. Sie sind ein Teil der Welt des lyrischen Ich, das dieses Verlöschen der Identität von außen beobachtet. Doch der Schluss des zweiten Gedichts – das, der Titel sagt es, eine Parabel ist – zieht überraschend eine Verbindung zum lyrischen Ich selbst (denn das Gleichnis wurde, so erfährt der Leser in den letzten Zeilen, von einem zwischengeschalteten Erzähler berichtet): »TĊ przypowieĞü opowiada Mikołaj który rozumie koniecznoĞü dziejów aby mnie przeraziü to znaczy przekonaü« (Herbert 2011: 157) [Dieses gleichnis erzählt Nikolaj der um die zwangsläufigkeit der geschichte weiß um mich in schrecken zu versetzen das heißt zu überzeugen]

Soll das lyrische Ich hier also überzeugt werden, selbst von einer Emigration abzusehen? Geht es nicht um die Erzählung eines schon zurückliegenden Erlebnisses, sondern um Emigration als eine grundlegende Entscheidung, die in verschiedenen geschichtlichen Kontexten immer wieder getroffen werden muss? Das Ende des Gleichnisses zeigt auf, dass es nicht nur die Haltung des geschichtlichen Fatalismus gibt, sondern dass der Einzelne wählen kann. Diese Möglichkeit zur Wahl wird einige Seiten später in dem gleichen Gedichtband (immer noch Hermes, pies i gwiazda) in dem Gedicht »OdpowiedĨ« (Antwort) aufgegriffen. Die in »OdpowiedĨ« beschriebene Szene scheint am ehesten einem Widerstandskampf (sei es im Krieg, sei es gegen eine Besatzungsmacht) zu entstammen, die Helden des Gedichts könnten Widerstandskämpfer sein. Das Gedicht fokussiert auf die eine Szene, in der sie die Möglichkeit der Flucht nicht wahrnehmen und mit ihrem Verharren weitere Repressionen bis zum Verlust des eigenen Lebens in Kauf nehmen. Der zentrale Moment des Gedichts ist diese Entscheidung gegen die Flucht – es ist die titelgebende Antwort, die die lyrischen Helden in einer Situation geben, in der sie sich zwischen der Flucht an einen sicheren Ort und dem Verbleiben an einem schlimmeren Ort entscheiden müssen. Die Entscheidung ist aus rationaler Sicht also keine leichte, doch sie fällt ohne Zweifel:

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»[...] lecz wybór by pozostaü tu potwierdza kaĪdy sen o palmach [...] helleĔska rzymska Ğredniowieczna indyjska elĪbietaĔska włoska francuska nade wszystko chyba trochĊ weimarska i wersalska tyle dĨwigamy naszych ojczyzn na jednym grzbiecie jednej ziemi lecz ta jedyna której strzeĪe liczba najbardziej pojedyncza jest tutaj gdzie ciĊ wdepczą w grunt lub szpadlem który hardo dzwoni tĊsknocie zrobią spory dół« (Herbert 2011: 162-163) […] doch die entscheidung hier zu bleiben bestätigt jeder traum von palmen [...] hellenisch römisch mittelalterlich indisch elisabethanisch italienisch französisch wohl vor allem ein bisschen weimar und versailles so viele vaterländer schleppen wir mit uns auf dem einen rücken der einen erde doch dieses einzige, behütet vom größtmöglichen singular ist hier wo sie dich zu boden werfen oder mit überheblich klingendem spaten der sehnsucht eine tiefe grube graben]

Der mögliche Fluchtort hat etwas Exotisches, fast schon Unrealistisches (die Palmen, »tamten upragniony brzeg«, jenes ersehnte Ufer). Das Vaterland (ojczyzna), in dem die lyrischen Helden bleiben wollen, trägt hingegen die Züge eines Gefängnisses, eines politischen Regimes, einer Besatzungsmacht, eines Ortes, der mit physischer Vernichtung droht. Es ist ein Bild, das Herbert in solchen Gedichten noch oft gebrauchen wird, wenn er von Polen spricht. Der Band Hermes, pies i gwiazda schließt unmittelbar danach mit dem Gedicht »WĊgrom« (Den Ungarn, versehen mit der Datierung 1956), also noch einmal – in diesmal eindeutiger – Anknüpfung an den Widerstand gegen ein brutales Regime.

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In den Gedichten von Hermes, pies i gwiazda sind bereits die zentralen Aspekte versammelt, in denen der Dichter Herbert die Emigration literarisch aufgreift: der Identitätsverlust in der Fremde; die Selbstbestimmtheit des Menschen, der sich nicht durch die Geschichte determinieren lässt; der Moment der Entscheidung; die Kontrastierung einer besseren und einer schlechteren Welt, bei der sich der Protagonist für den Verbleib in der schlechteren entscheidet – um sich ihr so entgegenzustellen.

S TUDIUM PRZEDMIOTU (1961) – »P OWRÓT PROKONSULA« Die genannten Aspekte, vor allem das Moment der Entscheidung, treten noch verstärkt im Gedicht »Powrót prokonsula« auf (Die Rückkehr des Prokonsuls, erscheint 1961 im Band Studium przedmiotu, Studium eines Gegenstands). Dieses Gedicht entstand in der Zeit von Herberts Rückkehr nach Polen nach einem ersten längeren Auslandaufenthalt in Westeuropa. Auch dieses Gedicht fokussiert auf den Moment der Entscheidung, dem ein längerer Überlegungsprozess vorausgegangen sein muss. Die Entscheidung fällt gleich im ersten Wort der ersten Zeile und wird im ganzen Text wie ein Refrain wiederholt: »Postanowiłem wróciü na dwór cesarza jeszcze raz spróbujĊ czy moĪna tam Īyü mógłbym pozostaü tutaj w odległej prowincji pod pełnymi słodyczy liĞümi sykomoru i łagodnymi rządami chorowitych nepotów gdy wrócĊ nie mam zamiaru zasługiwaü siĊ bĊdĊ bił brawo odmierzoną porcją [...] postanowiłem wróciü jutro lub pojutrze nie moge Īyü wĞród winnic wszystko tu nie moje drzewa są bez korzeni domy bez fundamentów deszcz szklany kwiaty pachną woskiem o puste niebo kołacze suchy obłok wiĊc wrócĊ jutro pojutrze w kaĪdym razie wrócĊ [...]« (Herbert 2011: 269-270) »Ich beschloss zum hof des kaisers zurückzukehren ich versuch es noch einmal ob man dort leben kann ich könnte hier bleiben in der entfernten provinz unter den süßeträchtigen blättern der sykomore unter der sanften regierung kränklicher nepoten

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ich habe nicht die absicht heimgekehrt verdienste zu suchen ich werde angemessen beifall zollen [...] ich beschloss zurückzukehren morgen übermorgen ich kann nicht zwischen den weingärten leben nichts ist hier meins die bäume sind ohne wurzeln die häuser fundamentlos der regen gläsern die trockene wolke pocht an den leeren himmel also kehre ich morgen zurück übermorgen auf jeden fall [...]« (Herbert 2000: 28)

Die Gründe, warum das erzählende Subjekt des Gedichts, der Prokonsul, in der Fremde war, sind nicht aufgeführt. Doch handelt es sich wohl nicht um eine vorangegangene Flucht oder Verbannung, sondern vielmehr um die reguläre amtliche Entsendung als Verwalter einer Provinz (hier gibt es Parallelen zum Dichter – auch Herbert war in jener Zeit laut eigener Beschreibung quasi als »dienstreisender Dichter« unterwegs). Nach dem Ablauf dieser Verwaltungstätigkeit steht die Rückkehr an den Hof des Kaisers bevor, die im Hinblick auf die dort herrschenden lebensbedrohlichen Sitten (Intrigen, Giftanschläge) den Prokonsul das Leben kosten könnten. Obwohl es ihm ein Leichtes wäre, in der ihm anvertrauten Provinz zu bleiben (die gleichermaßen ein mildes geographisches wie politisches Klima besitzt), entschließt er sich für die Rückkehr an den Hof des Kaisers. Die Entscheidung fällt im Zeichen eines (gemäßigten) Widerstands: Er wird sich nicht in das System eingliedern, sondern versuchen, seine Unabhängigkeit zu bewahren. Der Grund für die Rückkehr liegt vor allem im Wissen des lyrischen Ich, dass seine Wurzeln nicht in diesem verlockenden Zufluchtsort liegen, mit dem ihn trotz aller Schönheit nur wenig verbindet, sondern in der gefährlichen Heimat. Die Situierung des Gedichts in der Antike verleiht dem Thema eine epochenübergreifende Bedeutung.

R APORT Z OBLĉĩONEGO M IASTA (1983) – »P AN C OGITO POSTANOWIŁ WRÓCIû « Auch in dem Band Raport z oblĊĪonego Miasta beschreibt an zentraler Stelle ein Gedicht die Entscheidung zu einer Rückkehr: »Pan Cogito, powrót« (Herr Cogito, die Rückkehr). Der Band Raport z oblĊĪonego Miasta wurde oft in einer patriotisch-politischen Lesart als Gleichnis auf den Kriegszustand in Polen gelesen – eine Lesart, die zwar einschränkend ist, aber je nach Erkenntnisinteresse ihre Berechtigung hat. Tatsächlich spiegeln sich die Ereignisse der damaligen Jahre in den Gedichten wieder. Bereits der Titel des Bandes hat einen örtlichen

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Bezug – der Bericht aus der belagerten Stadt, aus einem unfreien Ort, aus dem es wenig Entrinnen gibt. Der Ort des erzählenden lyrischen Subjekts ist somit bereits fest definiert. Das lange Gedicht »Pan Cogito, powrót« folgt unmittelbar auf das Gedicht »Modlitwa Pana Cogito – PodróĪnika« (Das Gebet von Herrn Cogito – einem Reisenden), in dem der Dichter eine Hymne auf das Reisen singt. Die zwei Gedichte werden durch diese Nachbarschaft miteinander in Verbindung gebracht. Das erste schildert die Erlebnisse auf Reisen, die ästhetische Vielfalt, die aufrichtigen menschlichen Begegnungen, die Erfahrungen von Güte und Barmherzigkeit – eine grenzenlose, farbige Welt: »Panie dziekujĊ Ci Īe stworzyłeĞ Ğwiat piĊkny i bardzo róĪny a takĪe za to Īe pozwoliłeĞ mi w niewyczerpanej dobroci Twojej byü w miejscach które nie były miejscami mojej codziennej udrĊki« (Herbert 2011: 454) [Herr ich danke Dir dass du die welt schön und sehr vielfältig geschaffen hast und auch dafür dass du mir in Deiner unerschöpflichen güte erlaubt hast an orten zu sein welche nicht orte meiner täglichen qual waren]

Darauf folgt mit »Pan Cogito, powrót« ein Werk, das den Verzicht auf diese Freiheit thematisiert. Das lyrische Ich, wiederum Pan Cogito, entschließt sich schweren Herzens, in sein dunkles Vaterland zurückzukehren, das in wenigen Worten als Mörderregime beschrieben wird, aus dem es wie aus einem Gefängnis kein Entkommen gibt. »Pan Cogito postanowił wróciü na kamienne łono ojczyzny [...] widzi juĪ granicĊ zaorane pole mordercze wieĪe strzelnicze gĊste zaroĞla drutu

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bezszelestne drzwi pancerne zamykają siĊ wolno za nim i juĪ jest sam w skarbcu wszystkich nieszczĊĞü« (Herbert 2011: 457-459) [Herr Cogito beschloss zurückzukehren in den steinernen schoß des vaterlandes [...] schon sieht er die grenzen die umgepflügten felder die mörderischen schießtürme die dichten drahtverhaue geräuschlose panzertüren schließen sich langsam hinter ihm und schon ist er allein im schoß allen unglücks]

Wie bei den vorherigen Gedichten wird der vorangegangene Prozess der Entscheidungsfindung in der Mitteilung dieser Entscheidung, die den Auftakt des Gedichts bildet, subsumiert. Die Gründe werden jedoch genauer angegeben: Auch hier hat sich das lyrische Ich in der Fremde nicht verwurzeln können (nur ein paar Gegenstände und Erlebnisse haben sich ihm eingebrannt). Auch hier werden die fremde, zeitweilige Heimstätte und das Vaterland kontrastiert als bessere und schlechtere Welt (wenn auch nicht ohne Ironie), und das lyrische Ich sucht sehenden Auges die schlechtere aus. Doch der ethische Kodex, aus dem heraus sich das lyrische Ich entscheidet, seine Annahme einer Verpflichtung, wird hier genauer angeführt als bisher:

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»wiĊc po co wraca - do wody dzieciĔstwa - do splątanych korzeni - do uĞcisku pamiĊci - do rĊki twarzy spalonych na rusztach czasu pytania z pozoru proste wymagają zawiłej odpowiedzi moĪe Pan Cogito wraca Īeby daü odpowiedĨ na podszepty strachu na szczĊĞcie niemoĪliwe na uderzenie znienacka na podstĊpne pytanie« (Herbert 2011: 457-459) [weshalb also kehrt er zurück - zu den wassern der kindheit - zu den verschlungenen wurzeln - in die umarmung der erinnerung - zu der hand dem gesicht zerbrannt auf den rosten der zeit scheinbar einfache fragen verlangen eine komplizierte antwort vielleicht kehrt Herr Cogito zurück um eine antwort zu geben auf die einflüsterungen der angst auf das unmögliche glück auf den unverhofften schlag auf die hinterlistige frage]

Das lyrische Ich kehrt zurück zu seiner Vergangenheit, seinen Wurzeln, der Erinnerung – und zu anderen Menschen, zu »rĊki twarzy spalonych na rusztach czasu« (händen, gesichtern, die verbrannt sind auf den rosten der zeit). Obwohl es in seiner Entscheidung alleine steht und seinen Kampf alleine führt, fällt die Entscheidung aus dem Gefühl einer Verbundenheit mit Anderen heraus, aus der Erkenntnis, Teil einer größeren Gruppe zu sein, mit der man durch Herkunft, Erinnerung, Erlebnisse verbunden ist und für die man eine Verantwortung hat. Die-

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se Einordnung in eine Gemeinschaft (wir können sie hier vereinfachend die nationale nennen, aber es ist eher eine Gemeinschaft der Unterdrückten) findet auch Ausdruck in vielen anderen Gedichten des Bandes (»Pan Cogito – zapiski z martwego domu«, Herr Cogito – Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, oder im titelgebenden »Raport z oblĊĪonego Miasta«). Das Gedicht über die Entscheidung der Rückkehr fügt sich in den Kontext des gesamten Bandes ein, der eine Haltung des Widerstands propagiert.

R OVIGO (1992) – »I NNY NAWIGACJI «

WYBRALI MAPY SZYBKIEJ

Während Raport z oblĊĪonego Miasta ganz in der Gegenwart verankert scheint, ist der Band Rovigo (1992, also im Jahr von Herberts endgültiger Rückkehr nach Polen veröffentlicht) eine Bestandsaufnahme, ein Blick in die Vergangenheit und die Bilanz dessen, was noch bleibt. Der Band ist geprägt von einer kritischen Auseinandersetzung Herberts mit sich selbst, mit den getroffenen Entscheidungen, aber auch mit den Wegen anderer Autoren. Der Fokus wandert dabei erstmals von der Entscheidung des lyrischen Subjekts hin zur kritischen Betrachtung der Entscheidungen anderer Autoren. In dem Gedicht »Pan Cogito na zadany temat: ›Przyjaciele odchodzą‹« (Herr Cogito zu einem vorgegebenen Thema: ›Die Freunde gehen fort‹) berichtet Herbert von Freunden, die er auf zwei Arten verloren hat. Die erste Art ist der Tod, die Freunde sind gestorben – dies ist aber kein Ende der Beziehungen, mit ihnen kommuniziert er noch, sie bilden einen schützenden Kreis um ihn und sein Werk. Einen unwiderruflicheren Abschied gab es hingegen mit jenen, die auf andere Art gegangen sind: »inni wybrali mapy szybkiej nawigacji wybrali bezpieczne porty i odtąd Pan Cogito stracił ich z pola widzenia Pan Cogito nie wini za to nikogo

348 | I SABELLE V ONLANTHEN zrozumiał Īe tak musi byü naturalna kolei rzeczy (od siebie mógł dodaü Īe zanik trwałych uczuü surowa historia koniecznoĞü jasnych wyborów decydowały o rozwodach przyjaĨni) [...] zrobiło sie trochĊ pustawo Ale za to jaĞniej« (Herbert 2011: 619-623) [andere wählten landkarten der schnellen navigation suchten sich sichere häfen aus und seither hat Herr Cogito sie aus dem blickwinkel verloren Herr Cogito gibt dafür niemandem die schuld er verstand dass es so sein muss der natürliche lauf der dinge (von sich aus konnte er hinzufügen dass das verschwinden dauerhafter gefühle die strenge geschichte die notwendigkeit einer klaren wahl entschieden haben über den scheideweg der freundschaften) [...]

es ist ein bisschen leer geworden Aber dafür heller]

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Diese Freunde haben den leichteren Weg gesucht – hier kann man die Interpretation unterschiedlich weit fassen, sie haben ihre sicheren Häfen in der Anpassung an das System gefunden, oder im physischen Verlassen des Landes. Von ihnen ist er auf eine fundamentalere Art getrennt – durch die diametral anders getroffenen Entscheidungen. Auch hier ist also wieder das Moment der Entscheidung zentral, ihre Bedeutung für den Einzelnen in seinem Lebensethos weitet sich aus auf alle Beziehungen dieses Einzelnen. Diese Deutung wird erweitert durch das Gedicht »Chodasiewicz« im gleichen Band (welches teils als Attacke auf Miłosz gelesen wurde). Es ist eine karikierende, fast gehässige Beschreibung eines ›typischen Emigranten‹ als eines Menschen, der nichts in Gänze ist, sondern nur immer zur Hälfte, ohne Verpflichtungen und Belastungen, ohne entschiedene nationale Zugehörigkeit. Ein Emigrant ist jemand, der ein »Leben in Spiegeln« führt: »Był z natury emigrantem [...] Emigracja jako forma egzystencji rzecz ciekawa bez przyjaciół i bez krewnych pod namiotem Īyü bez sankcji obowiązków kaĪdy przyzna Īe na barkach ciąĪy nam ojczyzna mroczne dzieje atawizmy rozpacz znacznie lepiej w lustrach Īyü bez trwogi MereĪkowski gada przez sen Zinaida pokazuje ładne nogi« (Herbert 2011: 617-618) [Er war von Natur aus ein Emigrant [...] Emigration als Existenzform ist eine interessante Sache ohne Freunde und ohne Verwandte in einem Zelt Leben ohne Sanktionen Verpflichtungen jeder gibt zu dass uns das Vaterland schwer auf den Schultern lastet die dunklen Geschichtenläufe Atavismen Verzweiflung wieviel besser in Spiegeln zu leben ohne Sorge Merežkovskij spricht im Schlaf Zinaida zeigt die schönen Beine]

Doch auch der Dichter selbst ist sich seiner in diesen Gedichten nicht mehr so sicher, das lyrische Ich erscheint pessimistischer und resignierter als in den bisherigen Bänden. Und so erscheint es denn auch in dem abschließenden Gedicht »Rovigo« unverortet – doch mit der Hoffnung, dass die getroffenen Entscheidungen Früchte tragen werden:

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»ĩyłem rozpiĊty miĊdzy przeszłoĞcią a chwilą obecną ukrzyĪowany wielokrotnie przez miejsce i czas A jednak szczĊĞliwy ufający mocno Īe ofiara nie pójdzie na marne« (Herbert 2011: 631-632) [Ich lebte aufgespannt zwischen der vergangenheit und dem gegenwärtigen moment vielfach gekreuzigt durch ort und zeit Und dennoch glücklich kraftvoll vertrauend dass das opfer nicht vergeudet sein wird]

F AZIT In meinen Betrachtungen habe ich Gedichte von Zbigniew Herbert einer Deutung unterzogen, die man im Lichte eines anderen Ausgangspunktes auch anders auslegen könnte. Doch scheint mir, dass diese Interpretation ein spannendes Schlaglicht auf das schwierige Thema der Emigration wirft, mit welcher der Autor bei sich und anderen immer wieder konfrontiert war. Die Überlegungen dazu kleidete Herbert in verschiedene dichterische Formen – bibelhafte Gleichnisse, antike Sagen, Widerstandslieder, Selbsterforschungen und Fremdanklagen. Wir haben gesehen, dass im Brennpunkt dieser Überlegungen immer wieder die Notwendigkeit einer klaren Entscheidung stand. Herbert entschied sich für das Verharren und verließ Polen nie wirklich – doch das zeitweilige Exil, das er in seinen geographischen und kulturellen Reisen fand, war ihm eine dauerhafte Heimat, die er nie verließ, und die zur Grundlage seiner Gedichte wurde.

L ITERATUR Franaszek, Andrzej (Hg.) (1998): Poznawanie Herberta, Bd 1, Kraków. Herbert, Zbigniew (1981): »Psychicznie nigdy z Polski nie wyjechałem...«. In: Dziennik Bałtycki 106, 2. Herbert, Zbigniew (2011): Wiersze zebrane, Kraków. Herbert, Zbigniew (2000): Herrn Cogitos Vermächtnis, Frankfurt a.M.

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Lebenstein, Jan (2000): »ĩycie na walizkach«. In: Andrzej Franaszek (Hg.): Poznawanie Herberta, Bd. 2, Kraków, 59-61. Michalski, Cezary/Stre, Marta (2001): »Zawsze z tymi, których biją. Rozmowa ze Zdzisławem Najderem i Krzysztofem Karaskiem o Zbigniewe Herbercie«. In: ĩycie Warszawy 21.01.2001. Zit. nach http://niniwa2.cba.pl/zawsze_ z_tymi.htm (03.08.2011).

Autorinnen und Autoren

Brandt, Marion – Professorin für neue deutsche Literatur am Institut für Deutsche Philologie der Universität GdaĔsk, Studium der Geschichte, Germanistik und Pädagogik in Warschau und Berlin, 1990 Promotion über die Dichtung Gertrud Kolmars, Habilitationsschrift Für Eure und unsere Freiheit? Der Polnische Oktober und die SolidarnoĞü-Revolution in der Wahrnehmung von Schriftstellern in und aus der DDR (Berlin 2002). Zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zur Dichtung deutsch-jüdischer Schriftstellerinnen, zur Literatur der Avantgarde und Weimarer Republik sowie zu den deutsch-polnischen Beziehungen (u.a. zu Alfred Döblins Reise in Polen) und zur Literatur in Danzig (Günter Grass, Stanisława Przybyszewska, Erich Ruschkewitz). Browarny, Wojciech – Dr., Adjunkt am Institut für Polnische Philologie der Universität Wrocław, Leiter der Arbeitsstelle für Polnische Literatur nach 1989. Autor verschiedener Bücher wie OpowieĞci niedyskretne. Formy autorefleksyjne w polskiej prozie lat dziewiĊüdziesiątych (2002; Undiskrete Geschichten. Selbstreflexive Formen in der polnischen Prosa der 1990er Jahre) und Fikcja i wspólnota. Szkice o toĪsamoĞci w literaturze współczesnej (2008; Fiktion und Gemeinschaft. Skizzen über die Identität in der zeitgenössischen Literatur), Mitherausgeber von Przekraczanie granic. O twórczoĞci Tadeusza RóĪewicza (2007; Die Überschreitung der Grenzen. Über das Werk von Tadeusz RóĪewicz), Herbert (nie)oswojony (2008; Der (un)gezähmte Herbert), Białoszewski przed dziennikiem (2010; Białoszewski vor dem Tagebuch) sowie Po Miłoszu (2011; Nach Miłosz). Burghardt, Anja – Dr., Studium der Slavistik und Philosophie in Hamburg und London. Anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschergruppe Narratologie (jetzt ICN) in Hamburg. Dort begann sie mit der Promotion über Orte und Räume in Marina Cvetaevas Lyrik. Eine Stelle als wissenschaftliche

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Mitarbeiterin (für russische und polnische Literatur- und Kulturwissenschaft) am Fachbereich Slawistik brachte sie an die Universität Salzburg, wo sie 2009 die Promotion abschloss. Neben Photographie und Erinnerungskultur ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte die moderne bzw. zeitgenössische russische und polnische Lyrik. Cuber, Marta – Dr., Adjunktin im Institut für die Wissenschaft von der polnischen Literatur an der Schlesischen Universität in Katowice. Befasst sich mit dem Schaffen polnischer Juden, der neusten Prosa sowie der Literaturkritik. Publiziert in »Nowe KsiąĪki«, »TwórczoĞü«, »FA-art«. Mitherausgeberin von Tekstylia bis. Słownik młodej polskiej kultury (2006; Textilien bis. Wörterbuch der jungen polnischen Kultur). Kürzlich publizierte sie Trofea wyobraĨni. O prozie Leo Lipskiego (2011; Trophäen der Imagination. Über die Prosa von Leo Lipski). Mitherausgeberin des Sammelbandes Polska proza XX wieku, Bd. 2.: Z perspektywy nowego stulecia (2012; Polnische Prosa des 20. Jh./Aus der Perspektive des neuen Jahrhunderts). Dąbrowski, Mieczysław – Ordentlicher Professor an der Universität Warschau, Polonist und Komparatist. Er war zu Studienzwecken, für Konferenzen und Vorträge an den Universitäten in Wien, Berlin (beide), Saarbrücken, Bonn, Heidelberg, Passau, Trier, Greifswald, Potsdam, Tübingen, Prag, Brünn, Debrecen, Budapest, Bukarest, Minsk, Drohobycz, Lemberg, Ljubljana, Neapel, Vilnius, Sofia u.a. tätig. Veröffentlichte elf Bücher (darunter 2001: Swój/Obcy/Inny, Der Eigene/Fremde/Andere; 2000: Postmodernizm: myĞl i tekst, Postmoderne: Gedanke und Text; 2005: Projekt krytyki etycznej, Das Projekt einer ethischen Kritik; 2009: Komparatystyka dyskursu/Dyskurs komparatystyki, Die Komparatistik des Diskurses/Der Diskurs der Komparatistik), gab zehn Sammelbände heraus, darunter ein Studienhandbuch unter dem Titel Komparatystyka dla humanistów (2011, Komparatistik für Geisteswissenschaftler), verfasste zahlreiche Artikel für wissenschaftliche Zeitschriften sowie für Sammelbände in Polen und im Ausland. Glensk, Urszula – Dr., arbeitet an der Universität Wrocław, befasst sich mit Literaturgeschichte, Literaturkritik und Anthropologie der Kultur. Publizierte Proza wyzwolonej generacji 1989-1999 (2002, Die Prosa der befreiten Generation 1989-1999), Trzy szkice o przewartoĞciowaniach w kulturze (2006, Drei Skizzen über die Umwertungen in der Kultur), war Mitherausgeberin des zweiten Bandes von Salon III Rzeczpospolitej, czyli spotkania w salonie prof. J. Dudka (Der Salon der III. Reczpospolita, Treffen bei Prof. J. Dudek). Hat mehrere Dutzend Ar-

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tikel über die zeitgenössische Literatur und Dokumentalistik verfasst, die u.a. in »Prace Literackie«, »Znaczenia«, »Odra«, »Pomosty«, »Kresy« und in der »Gazeta Wyborcza« erschienen sind. Veröffentlicht auch literaturkritische Texte über die zeitgenössische Reportage in »Nowe KsiąĪki«. Gosk, Hanna – Ordentliche Professorin am Forschungsinstitut für die Polnische Literatur des 20. Jahrhunderts an der Universität Warschau. Sie leitet die Arbeitsstelle für Anthropologische Fragen der Literatur. 2008 schuf sie ein wissenschaftliches Netzwerk: Forschungszentrum für Post-Dependenz-Diskurse. Befasst sich u.a mit Prosa und Literaturkritik, der Literatur von Ego-Dokumenten und den Veränderungen in der polnischen Prosa seit 1989. Veröffentlichte u.a. OpowieĞci »skolonizowanego/kolonizatora«. W krĊgu studiów postzaleĪnoĞciowych nad literaturą polską XX i XXI wieku (2010; Geschichten »des Kolonisierten/Kolonisators«. Post-Dependez-Diskurse in polnischer Literatur des 20. und 21. Jh.). Gab zahlreiche Sammelbände heraus, darunter Pisarz na emigracji. Mitologie, style, strategie przetrwania (2005; Der Schriftsteller im Exil. Mythologien, Stile, Überlebensstrategien) sowie Narracje migracyjne w literaturze polskiej XX i XXI wieku (2012; Migrationsnarrative in der polnischen Literatur des 20. und 21. Jh.). Helbig-Mischewski, Brigitta (Brygida Helbig) – Schriftstellerin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Lebt in Berlin. Lehrt polnische Literatur, interkulturelle Kommunikation und Gender an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Stettin. Seit 1983 in Deutschland. Gedichtbände: Wiersze JaĞminy (1997; JaĞminas Gedichte), Hilfe (2010). Romane: Pałówa (2000), Anioły i Ğwinie. W Berlinie! (2005; Engel und Schweine. In Berlin!). Ihr letzter Erzählband Enerdowce i inne ludzie (2011; Ossis und andere Leute) wurde für die Literaturpreise »Nike« und »Gryfia« nominiert. Ihre Habilitationsschrift zu Maria Komornicka: Strącona bogini (2010, deutsche Fassung Ein Mantel aus Sternenstaub, 1995) bekam den Rektoren-Preis der Universität Stettin. Henseler, Daniel – PD Dr., Studium der Slavistik, Russistik und der neueren deutschen Literatur in Fribourg/CH, Bern und Moskau; Promotion über Anna Achmatova, Habilitation zum Bäuerlichen in der neusten polnischen Literatur. Unterrichtet russische Sprache am Sprachenzentrum der Universität und der ETH Zürich sowie russische und polnische Literatur und Kultur an verschiedenen Hochschulen. Forschungsschwerpunkte: Russische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; polnische Literatur des 20. Jahrhunderts; Lyrik; Interkulturelle Kommunikation Russland. Literaturkritiker.

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Iwasiów, Sławomir – Dr., Studium der Polnischen Philologie an der Universität Stettin. Von 2008-2012 Doktorand an der Philologischen Fakultät der Universität Stettin. Dissertation unter dem Titel Reprezentacje Europy w prozie polskiej XXI wieku (Repräsentationen Europas in der polnischen Prosa des 21. Jh.). Literaturkritische Artikel in den Zeitschriften »Pogranicza«, »Portret«, »Nowe KsiąĪki«, »Nowy Przemytnik«. Zusammenarbeit mit der Internetzeitschrift »artPapier« sowie »Kurier SzczeciĔski«. Seit 2008 Chefredaktor der Zeitschrift »Refleksje«. Lewandowski, Wacław – Literaturhistoriker, Herausgeber, Außerordentlicher Professor am Institut für Polnische Literatur der Nikolaus-Kopernikus-Universität in ToruĔ. Veröffentlichte Monografien: Józef Mackiewicz. Artyzm. Biografia. Recepcja (2000; Józef Mackiewicz. Kunstfertigkeit. Biografie. Rezeption); »…strofy dla mew i mgieł…« Z dziejów literatury Drugiej Emigracji (i jej relacji komunikacyjnych) (2005; Aus der Geschichte der Zweiten Emigration) sowie kommentierte Ausgaben der Werke von Jerzy Andrzejewski, Maria Danilewicz ZieliĔska, Janina KoĞciałkowska, Bolesław LeĞmian, Józef Mackiewicz, Tadeusz Nowakowski, Barbara Toporska. Interessiert sich besonders für die Geschichte und das Schaffen der polnischen Emigration nach Jalta. Er ist stellvertretender Chefredaktor der wissenschaftlichen Halbjahreszeitschrift »Archiwum Emigracji«, die seit 1998 von der Bibliothek der Kopernikus-Universität in ToruĔ herausgegeben wird. Wohnt in Bydgoszcz. Makarska, Renata – Dr., wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für slavische Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Studium der Polonistik, Slavistik und NDL in Wrocław und München. Promotion Konzeptualisierungen der Hucul’šþyna in der mitteleuropäischen Literatur des 20. Jahrhunderts 2007 an der Universität Jena (publiziert 2010 als Der Raum und seine Texte). 2008-2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster 16 Kulturelle Grundlagen von Integration an der Universität Konstanz. Ihre Forschungsschwerpunkte und -themen liegen in den westslavischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. Habilitationsprojekt zu den Literaturen Ostmitteleuropas in Zeiten kultureller Migration. Mende, Rainer – studierte Germanistik, Polonistik sowie Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und Warschau. Bereitet derzeit eine Dissertation zum Thema Autobiografische Spuren in der polnischsprachigen Prosa aus Deutschland nach 1989 vor und arbeitet als Kulturreferent im Polnischen Institut Berlin/Filiale Leipzig. Gründer der Studenteninitiative »apropos polen«. For-

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schungsschwerpunkte: polnische Literatur und Kultur der Gegenwart in Polen und Deutschland. Molisak, Alina – Dr., Adjunktin in der Abteilung für die Literatur des 20. Jahrhunderts am Institut für Polnische Literatur der Universität Warschau. Beschäftigt sich mit polnisch-jüdischer Literatur, mit der Literatur in Jiddisch, mit dem Thema des Holocaust sowie der literarischen Repräsentation der Stadt. Wichtigste Veröffentlichungen: Judaizm jako los. Rzecz o Bogdanie Wojdowskim (2004; Judentum als Schicksal. Über Bogdan Wojdowski), StosownoĞü i forma. Jak opowiadaü o Zagładzie (hg. mit Michał GłowiĔski u.a., 2006; Angemessenheit und Form. Wie soll man über die Shoah erzählen), Pisarze polsko-Īydowscy. PrzybliĪenia (mit Mieczysław Dąbrowski, 2006; Polnisch-jüdische Schriftsteller. Annäherungen), Polish and Hebrew Literature and National Identity (mit Shoshana Ronen, 2010), Nach dem Vergessen. Rekurse auf den Holocaust in Ostmitteleuropa nach 1989 (mit Magdalena Marszałek, 2010), ĩydowski Polak – polski ĩyd. Problem toĪsamoĞci w literaturze polsko-Īydowskiej (mit Zuzanna Kołodziejska, 2011, Jüdischer Pole – polnischer Jude. Das Problem der Identität in der polnisch-jüdischen Literatur). Pörzgen, Yvonne – Dr. phil., Studium der Slavischen Philologie, Anglistik, Süd- und Westslavistik in Bamberg. Promotion in Bamberg, Dissertation Berauschte Zeit. Drogen in der russischen und polnischen Gegenwartsliteratur. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen, Lehre im BA Integrierte Europastudien und MA Slavische Studien. Habilitationsprojekt: »Der freie Wille und slavische Literatur«. 2012 dazu u.a. Forschungsstipendium am Deutschen Polen-Institut Darmstadt. Prunitsch, Christian – Prof. Dr., Studium der Slavistik und Amerikanistik in Regensburg und ŁódĨ. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sorbischen Institut Bautzen; Promotion mit einer Arbeit zur sorbischen Lyrik an der Universität Regensburg 2000. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sorabistik der Universität Leipzig, 2000-2003 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Slavistik der Universität Regensburg. 2003-2008 Leiter der Nachwuchsforschergruppe »Konzeptualisierung und Status kleiner Kulturen«. 2004 Vertretung, 2005 Ruf auf die Professur für Polnische Landes- und Kulturstudien der Technischen Universität Dresden. Forschungsschwerpunkte: Westslavische Literaturen und Kulturen, Kultursemiotik.

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Trepte, Hans-Christian – Dr., studierte Russisch und Englisch (Erwachsenenbildung) in Greifswald und Leipzig, anschließend Polonistik (Literaturwissenschaft) in Leipzig, Warschau und Wrocław. Promovierte 1979 über Jarosław Iwaszkiewiczs Epochenroman Sława i chwała (Ruhm und Ehre). Seit 2002 ist er am Institut für Slavistik der Universität Leipzig im Bereich Westslawische Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte tätig. Forschungsschwerpunkte: polnische und tschechische Kultur und Literatur, Exilliteratur, deutsch-polnische kulturelle und literarische Beziehungen. Übersetzer (Jarosław Iwaszkiewicz, Henryk Grynberg, Tomasz Małyszek, Czesław Miłosz u.a.). Zahlreiche Veröffentlichungen, besonders zur polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Vonlanthen, Isabelle – Dr., Studium der Slavistik und Zeitgeschichte an den Universitäten Freiburg (CH), St.-Petersburg und Bordeaux. 2003-2006 Mitarbeit am Forschungsprojekt von Prof. Ulrich Schmid, »Faschismus in Polen 19301939«. 2004-2007 Forschungs- und Arbeitsaufenthalt in Warschau (Arbeit an der Dissertation Auf der Väter Erde stehe ich mit lebendigem Wort. Bilder der Nation in der Lyrik der polnischen Rechten, 1926-1939). 2007-2009 Assistentin an der Universität St. Gallen, 2010-2011 Projektarbeit bei der Kulturstiftung Pro Helvetia. Seit 2011 Mitarbeiterin des Literaturhauses Zürich. Zduniak-Wiktorowicz, Małgorzata – Dr., Autorin des Buches Współczesny polski pisarz w Niemczech: doĞwiadczenie, toĪsamoĞü, narracja (2010; Der zeitgenössische polnische Schriftsteller in Deutschland: Erfahrung, Identität, Narration). Sie arbeitete an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel und ist gegenwärtig Lektorin im Studium der Polnischen Sprache und Kultur für Ausländer an der Universität PoznaĔ. Forschungsschwerpunkte: deutsch-polnische Literaturbeziehungen. Zgodzay, Michael – Studium der Polonistik, Philosophie und Theologie in Frankfurt am Main und Berlin. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Westslawische Literaturen und Kulturen (Polonistik) am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin (2007-2011). Seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft des Instituts für Slavistik an der Universität Potsdam. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Körper und Affekt in der polnischen Literatur seit Beginn des 20. Jahrhunderts, Ästhetische Moderne und Avantgarde in Polen (Literatur, Kunst, Film), Poetiken des Intermedialen.

Register der polnischen/polnischsprachigen Schriftstellerinn en und Schriftsteller

Amiel, Irit 301, 308 AniĞkowicz, Maria 211, 213 BaraĔczak, Stanisław 10, 35, 152, 272, 278 Barbur, Eli 304 Baum, Ruth 301, 304 Bauman, Janina 310 Bauman, Zygmunt 74, 87, 115, 256, 257, 310 Becker, Artur 11, 17, 32, 141, 227-247, 278, 279 Bernard-Sztatler, Krystyna 300, 301 Białoszewski, Miron 181-182, 353 Birenbaum, Halina 219, 220, 307 Borowski, Tadeusz 64 Borwicz, Michał M. 309, 312 Bronner-Rothberg, Irena 310, 311 Chmielowiec, Michał 25 Chrostowska, GraĪyna 219 ûwiakowska, Anna 313 Dankowicz, Henryk 309 Dasko, Henryk 301 Dygat, Stanisław 54 Esden-Tempski, Stanisław

72

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Felixa, Magdalena 18, 278, 279, 280 Feuerman, Eleasar (Jerzy Pogorzelski) 300, 305, 306 Filipiak, Izabela 11, 13, 14, 15, 52, 57, 59, 60, 61, 71, 72, 73, 81-94, 116, 177, 178, 179, 180, 182, 190, 227 Frajlich, Anna 39 Friedman, Herbert (Herbert Hardy) 300, 310, 311 Fuks, Paweł 307 Gebirtig, Mordechaj 309 Gieysztor, Stefan 215 Ginczanka, Zuzanna 219, 220, 221 Gliksman, Łucja 300, 301 Głowacki, Janusz 11, 12, 15, 18, 177-191, 227, 277, 289-298 Goerke, Natasza 11, 14, 32, 57, 60, 115-130, 201, 202, 204, 278, 281 Gombrowicz, Witold 28, 54, 71, 115, 152, 163, 208, 228, 237, 249 Gomulicki, Wiktor 306 Gretkowska, Manuela 52, 58, 59, 60, 61, 72, 73, 116, 275 Gross, Natan 300, 301, 313 Grynberg, Henryk 71, 358 Hadrysiewicz, Anna 160, 215, 217, 222 Hardy, Herbert (Herbert Friedman) 300, 310, 311 Helbig, Brygida 11, 16, 31, 32, 33, 39, 40, 41, 133, 134, 135, 140, 141, 144, 196, 197, 198, 202, 203, 204, 205, 267 Henefeld-Ron, Ida 312 Herbert, Zbigniew 18, 19, 101, 278, 326, 335-353 Herling-GrudziĔski, Gustaw 12, 152 Herman, Jerzy 300 Herman, Leszek (Leszek OĞwiĊcimski) 33, 161-162, 163, 165-173 Hłasko, Marek 71 Hochberg-MariaĔska, Maria 309 Hoffman, Eva 271, 272, 280 Huelle, Paweł 71 Istner, Filip

309

JabłoĔska, Renata 300, 301 JabłoĔski, Zygmunt 25

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Jasienica, Paweł 307 JasiĔska, Aniela 300 Kaczmarski, Jacek 179 Kadary, Anna 300 Kalkowska, Eleonora 219, 220 KapuĞciĔski, Ryszard 223 Kawalec, Julian 71 Kijowski, Andrzej 71 Klugman, Aleksander 300, 313 Knapp, Radek 18, 210, 228, 278, 279, 281 Kolenda, Maria 215, 217, 221, 278 Komornicka, Maria 335 Konwicki, Tadeusz 71, 222 Korb, Viktoria 223 Kornblum, Józef 306 Kornhauser, Julian 318, 324, 325, 334 KosiĔski, Jerzy 227 Krahelska, Krystyna 219 Krall, Hanna 71 KrasiĔski, Zygmunt 151 ɄruszyĔski, Zbigniew 11, 13, 52, 55, 57, 60, 69-79, 134, 136, 145 KrzysztoĔ, Jerzy 71 Kubicki, Stanisław 216 Łazowertówna, Henryka 219 LewiĔska, Maria 300, 306, 307 Lipski, Leo 71, 301, 304, 309, 354 Lopez Mausere (Wojciech Stamm) 16, 17, 33, 52, 56, 133, 134, 141-142, 161172 Löw, Ryszard 299, 300, 301, 303, 312 ŁoziĔski, Józef 71 Łukosz, Jerzy 52, 53, 56, 59, 63 Mackiewicz, Józef 25, 356 Manc, Joanna 278 Mickiewicz, Adam 28, 61, 70, 73-75, 151, 270, 323 Mickiewicz, Iwona 32, 213, 215, 216, 217, 223 Mieszko Wiórkiewicz, Joanna 218

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Miłosz, Czesław 12, 71, 98, 152, 242, 271, 274, 275, 292, 310, 326, 336, 349, 353, 358 MroĪek, Sławomir 12, 54, 184, 226 Musiał, Grzegorz 60 Muszer, Dariusz 11, 15, 32, 133, 134, 138, 139, 140, 161-176, 228, 267, 278 Nałkowska, Zofia 90 Nienacki, Zbigniew 235 NiewrzĊda, Krzysztof 16, 17, 31-46, 133, 134, 135, 161-176, 196, 197, 206, 210, 249-268 Nowak, Tadeusz 71 Nowakowski, Tadeusz 24, 25, 30, 356 Oppeln-Bronikowski, Alexander von 227 Orzeszkowa, Eliza 270 OĞwiĊcimski, Leszek (Leszek Herman) 33, 161-162, 163, 165-173 Pless, Józef 37 Pogorzelski, Jerzy (Eleasar Feuerman) 300, 305, 306 Przybyszewski, Stanisław 228, 270, 276 RedliĔski, Edward 11, 13, 15, 56-57, 59-60, 71-73, 104, 177-185, 187-188, 190, 275 Rittner, Tadeusz 228, 270 Roguski, Piotr 278, 284 Rolnicki, Mieczysław 301, 308 RóĪewicz, Tadeusz 179, 353 RudniaĔska, Agnieszka 218 Rudnicki, Janusz 10, 11, 13, 15, 39-42, 52-55, 57, 59-61, 69, 71, 72-74, 77, 166 Schulz, Paulina 18, 278-280 Schumann, Renata 218 Siemion, Piotr 52, 57, 59, 60 Sienkiewicz, Henryk 141, 274 Sierakowiak, Dawid 313 Skrzyposzek, Christian 15, 151-160, 222 Slaska, Ewa Maria 214-218, 221-222, 224, 279 Słowacki, Juliusz 151, 270, 324

S CHRIFTSTELLERREGISTER | 363

Słucki, Arnold 152 Soboczynski, Adam 228, 276 Stachura, Edward 71, 170 Stamm, Wojciech (Lopez Mausere) 16, 17, 33, 52, 56, 133, 134, 141-142, 161172 Stasiuk, Andrzej 71 Stempowski, Jerzy 152 Sułkowski, Tadeusz 26 Sycz, Andrzej 310 Szaruga, Leszek 152, 160, 218 ĝwiderski, Bronisław 13, 71, 72, 75-77 Tokarczuk, Olga Ulfik, Roman Villqist, Ingmar

71

223 229

WierzyĔski, Kazimierz 28 Wirpsza, Witold 152 Wittlin, Józef 270 Wodin, Natascha 223 Wuttke, Britta 215, 218, 278 Wygodzki, Stanisław 310, 312 Zagajewski, Adam 11, 12, 14, 19, 53, 95-114, 152, 227, 273, 282, 317-334, 336 Załuski, Krzysztof Maria 11, 12, 15, 16, 31, 32, 39, 40, 41, 44, 52, 58, 133, 134, 136-138, 143-145, 165 Zielonka, Jurek 11, 134, 145, 147

Lettre Peter Braun, Bernd Stiegler (Hg.) Literatur als Lebensgeschichte Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart 2012, 412 Seiten, kart., mit farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2068-9

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern 2012, 426 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1991-1

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Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart 2012, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Juni 2013, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) Eingänge in »eine ausgedehnte Anlage« Topographien von Franz Kafkas »Das Schloß« Mai 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2188-4

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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts

Stefan Schukowski Gender im Gedicht Zur Diskursreaktivität homoerotischer Lyrik

Juni 2013, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4

April 2013, ca. 260 Seiten, kart.,zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2231-7

Natalia Borisova Mit Herz und Auge Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur Februar 2013, 264 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2295-9

Jan Gerstner Das andere Gedächtnis Fotografie in der Literatur des 20. Jahrhunderts 2012, 442 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2280-5

Annabelle Hornung Queere Ritter Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters 2012, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2058-0

Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne Februar 2013, 324 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3

Petra Moser Nah am Tabu Experimentelle Selbsterfahrung und erotischer Eigensinn in Robert Walsers »Jakob von Gunten« April 2013, ca. 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2341-3

Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 März 2013, 320 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

Markus Tillmann Populäre Musik und Pop-Literatur Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2012, 318 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1999-7

Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur Mai 2013, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2

Paula Wojcik Das Stereotyp als Metapher Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur Juni 2013, ca. 332 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2246-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)

Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012

2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3. Jahrgang, 2012, Heft 2

2012, 208 Seiten, kart., 12,50 €, ISBN 978-3-8376-2087-0 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 6 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik kann auch im Abonnement für den Preis von 12,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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