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German Pages 238 Year 2017
Renate Blickle Politische Streitkultur in Altbayern
Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte
Herausgegeben von Stefan Brakensiek, Erich Landsteiner, Heinrich Richard Schmidt und Clemens Zimmermann
Band 58
Renate Blickle
Politische Streitkultur in Altbayern
Beiträge zur Geschichte der Grundrechte in der frühen Neuzeit Herausgegeben von Claudia Ulbrich, Michaela Hohkamp und Andrea Griesebner
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Aleksandra-Stiftung Neunkirchen-Wellesweiler und des Lehrstuhls Kultur- und Mediengeschichte der Universität des Saarlandes.
ISBN 978-3-11-053910-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054110-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053917-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort
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Leibeigenschaft und Eigentum. Vom Zusammenhang der Erscheinungen in Verfassung und Geschichte des „Eigens“ oder der Hofmark Steingaden 1 Die Tradition des Widerstandes im Ammergau. Anmerkungen zum Verhältnis von Konflikt- und Revolutionsbereitschaft 17 17 Der Revolutionsparameter in der historischen Protestforschung Die Tradition des Widerstands im Ammergau 20 22 Zur Geschichte des Ammergaus Die Teilung der Gewalt in der alten Ordnung 25 Der Widerstand der Ammergauer 26 35 Schlußbetrachtung: Der bäuerliche Widerstand in Altbayern Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung 39 Bayerns Hausnotdurft: Die Fundorte 40 49 Die Wirkweise: gesamtgesellschaftliche Geltung Zeitlichkeit: Begriff und Sache 53 56 Überprüfung der Geltungsräume Rebellion oder natürliche Defension. Der Aufstand der Bauern in Bayern 1633/34 60 im Horizont von gemeinem Recht und christlichem Naturrecht Der Krieg im Land – das Geschehen 60 Ein politischer Kriminalprozess – das Verfahren 66 Strategien – der machtinterne Hintergrund 73 Tatbestände 76 Berufung auf eine natürliche Ordnung – die Rechtfertigung 85 Frei von fremder Willkür. Zu den gesellschaftlichen Ursprüngen der frühen Men91 schenrechte. Das Beispiel Altbayern 94 Der Kampf gegen Unfreiheit Sachen und Wörter 101 Schluß 106
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Inhalt
Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit 107 Die weiße Stute der Gret Replin – zum Stand der Dinge 107 Laufen gen Hof – Skizzen zur zentralisierten spätmittelalterlichen Beschwerdepraxis 111 Varianten rechtlicher Verfahren und eine Präsumtion für den „obersten Richter“ im Land 121 124 Am Hof. Landesherr und Räte – die Organisierung des Regiments Kontinuitäten – Supplikationen und Summarischer Prozeß in der frühen Neuzeit 131 Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat 133 137 Die Supplikation im bayerischen Territorialstaat Exkurs – der persönliche Zugang zum Fürsten und das persönliche Regiment 156 des Landesherrn – Erzählbilder und Fakten Demonstranten vom Land – Geschrei in der Stadt 163 180 Demonstration und Moderne „Gefangene Knechte und Dirnen“. Zur Wahrnehmung von Fronarbeit und Gesindedienst im frühneuzeitlichen Altbayern 182 Wahrnehmungen 182 183 Vogtareuth – ein Fall Scharwerk als Konfliktpotential: Das Wahrnehmungsmuster der Landesregierung 185 Naturalscharwerk als ,naturale‘ Herrschaft: Die Wahrnehmung von Obrigkeiten 188 und Untertanen Der Zwang: Die Wahrnehmung von Fron und Gesindedienst als abwesende 190 Freiheit Opus publicum − Dienst und Strafe. Anmerkungen zur Zwangsarbeit im frühneuzeitlichen Bayern 194 Zwangsgewalt contra freier Wille – die Praxis 194 196 Unfreie Arbeit als Zwangsarbeit − das Thema Dienst – Zwangsarbeit als Statusfolge 196 205 Strafe – Zwangsarbeit als Urteilsfolge 220 Opus publicum Erscheinungsnachweise
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Inhalt
Schriftenverzeichnis (Auswahl) Monographien 225 Aufsätze 225
225
VII
Vorwort Renate Blickle gehört zu einer kleinen Gruppe von HistorikerInnen im deutschsprachigen Raum, die in den letzten Jahrzehnten in kritischer Distanz zur Dominanz der Ideengeschichte auf die gesellschaftlichen Ursprünge der frühen Menschenrechte verwiesen hat.¹ Ihre in diesem Band wieder abgedruckten Beiträge veranschaulichen am Beispiel Altbayerns, welche Erkenntnisse ein solcher Ansatz ermöglicht, wenn er umfassend kontextualisiert und dezidiert handlungsbezogen durchgeführt wird. Durch ihren Fokus auf konkrete Räume und überschaubare Zeiten legt sie unterschiedliche und sich verändernde Bedeutungsebenen von Freiheit und Eigentum frei und beobachtet, wie sich im Zusammenspiel von Praktiken und Diskursen das Zusammenleben einer Gesellschaft und ihre Wertorientierungen formten. Die Geschichte der Grundrechte in der Vormoderne erhält durch ihre Verankerung in alltäglichen Lebenswelten ein eigenständiges Gewicht. Im Zentrum der Forschungen von Renate Blickle, die ihren Ausgangspunkt einerseits in der Landesgeschichte, andererseits in den Forschungen zu „Agrarischen Konflikten in Europa vom 14. – 18. Jahrhundert“² hatten, steht nicht die in ein lineares Narrativ eingebettete Frage nach der Vorgeschichte der Menschenrechte, sondern das weitergehende Interesse an Rechten, die, verstanden als zeit- und kontextgebundene Handlungsoptionen, als grundlegend für das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaftsgefüge angesehen werden können. Entscheidend für die Herausbildung von Grundrechten war die politische Streitkultur oder, anders gewendet, das ständige Ringen zwischen bäuerlichen Untertanen und lokaler Obrigkeit um wechselseitige Pflichten und Rechte. Nur in Ausnahmefällen spitzten sich die Auseinandersetzungen zu, verdichteten sich die Konflikte zu Revolten. Was auf der Ebene der Ereignisgeschichte als Bauernrevolte erscheint bzw. in der Forschung als solche beschrieben wurde, erweist sich, so argumentiert sie in einem Aufsatz über „Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern (1400 – 1800)“, als Moment in einem „immerwährenden ‚Kampfgespräch’ […] zwischen Unten und Oben um die Ausformung des Rechts […] an der Schwelle des Übergangs von rechtlicher Ordnung zu ländlicher Wirklichkeit, im Bereich der sog. Agrarverfassung.“³
In ihrem Beitrag „Frei von Fremder Willkür“, in diesem Band S. 91– 106, der in einer ersten Fassung 1993 in englischer Sprache erschien, verweist die Autorin auf die wenigen sozialgeschichtlichen Ansätze in der Erforschung der Menschenrechte (s.u. S. 93). Zu einem späteren Überblick vgl. Wolfgang Schmale, Grund- und Menschenrechte in vormodernen und modernen Gesellschaften, in: Grund- und Menschenrechte. Historische Perspektiven – Aktuelle Probleme. Hg. Margarete Grandner, Wolfgang Schmale, Michael Weinzierl (Querschnitte Bd. 8). Wien, München 2002 S. 29 – 76 Das Projekt wurde von 1978 – 1984 von der Volkswagenstiftung gefördert und an den Universitäten Bochum und Saarbrücken durchgeführt. Renate Blicke, Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern. 1400 – 1800, in: Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen
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Vorwort
Im Zuge der lang andauernden Konflikte wurden auch die Grundlagen der lokalen gesellschaftlichen Ordnung immer wieder neu verhandelt. Deutlich wird dies etwa bei den Streitigkeiten um ungemessene Fronen, welche die Bauern den Obrigkeiten leisten mussten. Aus der Notwendigkeit, den Umfang dieser Leistung auszuhandeln, entwickelte sich die Vorstellung der „Hausnotdurft“ als ein für alle Stände geltendes Prinzip. Sie basierte auf dem naturrechtlich verankerten Gedanken des Notrechts. Im Zuge der permanenten Aushandlungsprozesse nahmen administrativ gerahmte Verfahren wie Beschwerde- und Supplikenwesen Gestalt an. Im konfliktreichen Zusammenspiel von bäuerlichem Handeln, obrigkeitlichen (Re‐)Aktionen und den Entscheidungen von Juristen, die sich nicht nur an bestehenden Ordnungen (Landes- und Reichsgesetzen) orientierten, sondern auf vielfältige gelehrte Traditionen bezogen, um ihre Urteile zu begründen, formten sich überlokal gültige Konzepte von Freiheit, Nahrung und Eigentum zu Grundwerten mit normierendem Charakter. Bäuerlichen Untertanen, Männern wie Frauen, im Prozess von Normsetzung eine so weitreichende Handlungsmacht zuzuschreiben, resultiert aus einer „tiefen Historizität“, einer sorgfältigen „Archäologie“, die sich Forschungspositionen, wie sie seit dem 19. Jahrhundert vertreten worden sind, entgegen stellt.⁴ Häufig als Sonde zur Erforschung der Vormoderne genutzte wissenschaftliche Grundbegriffe wie Leibeigenschaft und Grundherrschaft erweisen sich als „Irrlichter“. Die ihnen inhärenten bürgerlichen Vorstellungen des späten 18. und 19. Jahrhunderts verstellen den Blick für die Alterität der Frühen Neuzeit. Eines der Ergebnisse dieser traditionellen Sichtweise ist das verbreitete Bild vom unbeweglichen, rückständigen Bauern. Um die unhinterfragte Gleichsetzung gegenwärtiger Begriffe mit ihrer historischen Verwendung zu vermeiden und den Weg für einen Zugang zur Alterität der Frühen Neuzeit zu ebnen, greift Renate Blickle auf eine reflektierte historische Hermeneutik zurück. Indem sie Quellenbegriffe in ihre relevanten zeitspezifischen Kontexte und semantischen Felder einordnet, deckt sie inhaltliche Bedeutungsverschiebungen auf. Am eindrücklichsten gelingt ihr das im Zusammenhang ihrer Überlegungen zu Freiheit und Eigentum. Der Eigentumsbegriff verweist im Spätmittelalter noch auf ein wechselseitiges Zugehören von Gütern und Menschen. Erst im Laufe der Frühen Neuzeit verlagerten sich in Altbayern die Interessen der Obrigkeit von der Nutzung am Eigen(tum) auf die Herrschaft über Eigen (leute). Um die Mitte des 17. Jahrhunderts entwickelte sich die Leibeigenschaft zum Kampfbegriff und zum Gegenbild von Freiheit. Das nun einsetzende mit der Gleichsetzung von Leibeigenschaft und Sklaverei verbundene hochartifizielle Begriffsgefecht überdeckt eine bereits um 1600 einsetzende Praxis der Selbstbefreiung der Landbevölkerung durch Freikäufe. Die Art und Weise, wie Renate Blickle den Wandel von der Eigenschaft zur Freiheit nachzeichnet, ist in ihrem spezifischen Interesse an Begriffen und Handlungsweisen,
Europa. Hg. Winfried Schulze (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien Bd. 27). Stuttgart 1983 S. 166 – 187, hier S. 169. Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main 2015 S. 17– 28, bes. S. 24 f.
Vorwort
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die in ihrer Zeit Signalfunktion hatten, begründet. Dies gilt auch für Wendungen wie „Laufen gen Hof“ oder die Erschließung des Begriffsfeldes von Supplikation (Bitten, Gnadenbitten, Interzession, Fürbitten), die es ihr erlaubt, frühneuzeitliche Verfahren der Konfliktlösung freizulegen, die in der Moderne keine oder eine veränderte Bedeutung hatten. Die „archäologische“ Arbeit richtet sich jedoch nicht nur auf Sprache, sie bezieht auch die Dinge mit ein. Dies zeigt sich beispielhaft in dem Aufsatz „Gegengeschichte – erprobt an den Menschen und Mäusen der Aschauer Bannrichtersage 1668/1694“⁵, in dem die komplexen Überlieferungsschichten der in Bayern noch im 20. Jahrhundert bekannten Sage vom bösen Bannrichter, der von Mäusen gefressen wurde, aufgespürt und, soweit möglich, freigelegt werden. Die Verbindung von Geschichtswissenschaft und Erzählforschung ermöglicht es herauszuarbeiten, dass es sich bei dieser Sage um eine mündliche Überlieferung handelte, erfunden von Zeitgenossen, denen das Sagenmotiv der von Gott beauftragten Rachemäuse, die den frevelnden Herrn fressen, bekannt gewesen sein dürfte. Solche nach dem Muster der Binger Mäuseturmsage bzw. dem Krieg der Katzen und Mäuse geformten Sagen waren durch erzählte und gemalte Geschichten überliefert, ließen sich je nach situativer Nutzung abändern bzw. anpassen. Durch eine Kontextualisierung in die konkrete Geschichte des Bannrichters wird gezeigt, dass die Zeitgenossen den Sagenstoff in direkten Bezug zum Grundrecht auf Nahrung setzten: In der Bannrichtersage verweigern die Untertanen dem habgierigen Herrn den „unziemlichen“ Zugriff auf die Grundlagen ihrer Existenz, auf ihre Nahrung. Gegenstände vor Ort (wie Mausfiguren auf den Wappenbildern) sorgten für die Fortdauer der mündlichen Überlieferung, die allerdings im 19. Jahrhundert eine neue Deutung erhielt. Durch die Multiperspektivität der Zugänge, die unter anderem die Sozialgeschichte, die Geschichte des Wissens, die Geschlechtergeschichte, die Soziolinguistik und die Erzählforschung einbezieht und miteinander in Beziehung setzt, gelingt es Renate Blickle die frühneuzeitlichen Eigenlogiken herauszuarbeiten. Zusammen mit Renate Blickle wählten die Herausgeberinnen für diesen Band neun Aufsätze aus, die sowohl zeitlich wie auch forschungspraktisch in ganz unterschiedlichen Kontexten zu verorten sind.⁶ Zwischen 1987 und 2007 zum ersten Mal publiziert, decken sie das weite Spektrum ihrer Forschungen zur Geschichte von Grundrechten in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen (altbayerischen) Gesellschaft ab. Durch den kulturgeschichtlich inspirierten methodischen Zugriff, der die Komplexität und Eigenarten lokaler Gesellschaften ernst nimmt, können sie dazu beitragen, ideengeschichtlich inspirierte Erzählungen von der Erfindung der Menschenrechte in der europäischen Moderne kritisch zu hinterfragen und den Weg für
Renate Blickle, Gegengeschichte – erprobt an den Menschen und Mäusen der Aschauer Bannrichtersage: 1668/1964, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 74. 2011 S. 765 – 839 (http:// daten.digitale-sammlungen.de/bsb00108548/image_41). Der Wiederabdruck erfolgt unverändert. Die Fußnoten wurden im Layout vereinheitlicht, aber nicht aktualisiert.
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Vorwort
eine spätmittelalterlich und frühneuzeitlich inspirierte Geschichte der Menschenrechte zu ebnen. Für die Unterstützung bei der Nachbearbeitung der mittels OCR-Texterkennung eingelesenen Texte bedanken wir uns bei Julia Holzmann (M.A.), Sophie Häusner (M.A.) und Hanah Leah Degenhardt (BA), für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte“ bei den Herausgebern. Unser Dank gilt auch der Aleksandra-Stiftung Neunkirchen-Wellesweiler und dem Lehrstuhl Kultur- und Mediengeschichte der Universität des Saarlandes, die die Publikation durch einen finanziellen Zuschuss ermöglichten. Im Mai 2017
Die Herausgeberinnen.
Leibeigenschaft und Eigentum. Vom Zusammenhang der Erscheinungen in Verfassung und Geschichte des „Eigens“ oder der Hofmark Steingaden* Im Jahre 1341 versprach Konrad der Seng, ein Bauer des Klosters Steingaden, daß er „auf daz aigen ze Staingaden nimmermehr chomen“ werde. Er gab diese Erklärung natürlich nicht freiwillig ab und mußte darüber hinaus zugestehen, daß Propst und Konvent das Recht hätten, ihn „an leib und an gut nach ihren gnaden, als ander ir leut, die ir aigen sind“ zu strafen, falls er die Zusage bräche und unerlaubter Weise auf das „Eigen“ zurückkehrte. Konrad der Seng hatte mit seiner Familie den Hof Vogelau im „Eigen Steingaden“ bebaut, und wegen dieses Hofes war es zum Streit zwischen dem Bauern und der Klosterherrschaft gekommen. Der Bauer hatte offenbar Rechte an dem Gut zu haben behauptet, die das Kloster ihm zuzugestehen keineswegs bereit war; denn daß dem Streit kein gewöhnliches Versäumnis Sengs – etwa Vernachlässigung der Wirtschaft oder unkorrekte Abgabenleistung – vorausgegangen war, zeigen die weiteren Abmachungen. Steingaden stattete den Ausgewiesenen nämlich mit sieben Scheffeln Korn aus und versprach, das nächste freiwerdende klösterliche Anwesen mit Konrad dem Seng und seinen Kindern zu besiedeln – allerdings selbstverständlich: „anderswa den auf den aigen ze Staingaden.“ Die Übertragung dieses neuen Gutes sollte jedoch nach den alten Rechten und Gewohnheiten erfolgen, d. h. zu den Konditionen wie Steingaden üblicherweise seine Güter mit seinen Leuten besetzte.¹ Diese Erklärung dürfte das Kloster auch nicht ganz freiwillig abgegeben haben: Konrad der Seng war ein klösterlicher Eigenmann und als solcher hatte er Anrechte auf ein klösterliches Gut. Seine Rechte waren auch vererbbar, alle Verabredungen im hier referierten Vergleich galten für ihn und seine Erben. Konrad vererbte seinen Kindern mit seiner „Eigenschaft“ natürlich auch sein Recht. Aber dieses Recht hatte nichts mit dem „Erbrecht“ zu tun, das man gewöhnlich als eine der Leiherechtsarten kennt: Das Leiherecht Erbrecht bedeutet, daß der Erbrechtsbesitzer ein ganz bestimmtes Gut innehat, das er mit seiner Familie bebaut, das er verkaufen, verpfänden, tauschen oder eben vererben kann. Konrad hingegen hatte und vererbte nur das Recht auf ein – auf irgendein – Gut, auf eine Existenzgrundlage. Dieses Recht gründete in seinem Status als klösterlicher Eigenmann, und es entsprach ihm vice versa die Pflicht, ein klösterliches Gut zu bewirtschaften. Der Streit Konrads des Seng mit dem Propst gestattet einen ersten Einblick in die Lebensumstände und Verfassungszustände der Klosterherrschaft Steingaden. Derartige Herrschaften werden gewöhnlich mit dem Begriff „Grundherrschaft“ ge-
* Leicht überarbeitete Fassung eines am 1. 3.1986 bei der Arbeitssitzung der Arbeitsgemeinschaft für geschichtliche Landeskunde am Oberrhein in Karlsruhe gehaltenen Vortrags. Monumenta Boica. Bd. 6, München 1766 S. 595 – 597. DOI 10.1515/9783110541106-001
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Leibeigenschaft und Eigentum
kennzeichnet, und die Eckelemente der grundherrschaftlichen Ordnung – der Hof, der Bauer und der Herr – treten bei den erwähnten Auseinandersetzungen ja auch deutlich in Erscheinung. Die folgende Darstellung ist nur einem Ausschnitt dieses Sozialsystems – allerdings einem zentralen Teilbereich – und seiner Entwicklung gewidmet. Unter dem größeren Stichwort „Eigentum“ sollen hier der Zusammenhang von Personenstand und Güterrecht, von Leibeigenschaft und Eigentum, und zugleich der Unterschied von Status- und Kontraktverhältnis verfolgt werden. Die Geschichte des Eigens Steingaden ermöglicht Erkenntnisse über das Verhältnis der Eigenschaft der Person zu der Eigenschaft des Bodens, wie sie in dieser Klarheit nicht häufig zu finden sind. Die Bezeichnung „Eigen“ als Benennung für das Stiftsland eines Klosters findet sich im bayerisch-österreichischen Raum verbreitet. Steingaden unmittelbar benachbart lag das Eigen Rottenbuch. Aber auch im Schwäbischen, etwa in Ursberg, und in der Schweiz hießen einige Klosterbezirke so. In Steingaden läßt sich die Bezeichnung vom 14. bis ins 18. Jahrhundert nachweisen. Kurfürst Max Emanuel z. B. adressiert noch 1716 ein Schreiben an die dortigen Bauern als an die „Gemeinde im Eigen Steingaden“. Das Eigen war das Gebiet rund um das Kloster, also die früher auch sogenannte „Hofmark Steingaden“. Mitte des 18. Jahrhunderts gehörten 247 Anwesen verschiedener Größe in über 40 Ortschaften dazu, an deren Grund und Boden dem Kloster damals ein Herreneigentum zustand und über deren Bewohner es durch seinen Richter die niedere Gerichtsbarkeit ausübte. Eine kartographische Abbildung der Hofmark findet sich in dem Heft des Historischen Atlasses von Bayern, der dem Landgericht Schongau gewidmet ist.² Als 1760 die Steueranlage durchgeführt wurde, aus der diese statistischen Angaben entnommen sind, gab es die Besonderheiten in der Verfassung des Eigen Steingaden, von denen im Folgenden die Rede sein soll, allerdings seit vier Jahrzehnten nicht mehr. Ein Vertrag zwischen den Bauern im Eigen und dem Kloster hatte 1718 die jahrhundertealten Regelungen außer Kraft gesetzt. So läßt sich das Ende der spezifischen „Eigen-Verfassung“ genau datieren. Ihr Anfang, oder besser ihre Entstehung, ist nicht annähernd so präzis zu bestimmen. Der Kern des Eigengebietes oder der Hofmark, etwa ein Drittel des Ganzen, gehörte zur Gründungsausstattung des Stiftes. Steingaden wurde im Jahre 1147 von Herzog Welf VI. als Prämonstratenserstift errichtet und begabt mit einem geschlossenen Landgebiet zwischen Lech und Illach, Röthenbach und Marchbach samt den dort wohnenden, als coloni und mancipia bezeichneten Leuten.³ Die übrigen Teile des
Pankraz Fried, Landgericht, Hochgericht und Landkreis Schongau (Historischer Atlas von Bayern. Teil Altbayern, Doppelband 22/23). München 1971 S. 211– 268. Eine Zusammenstellung der älteren Literatur zu Steingaden bei Norbert Backmund, Die Chorherrenorden und ihre Stifte in Bayern. Passau 1966 S. 196 f. Die einzige neuere Geschichte Steingadens verfaßte Sigfrid Hofmann, Stift Steingaden. 1147– 1804. Schongau 1947. Zur Hofmark Steingaden vgl. Fried, Schongau (wie Anm. 2) S. 229 – 232 und 249 – 251.
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Eigens erwarb das Kloster durch Stiftungen, Käufe und die Rodung seiner Bauern im folgenden Jahrhundert hinzu. Wie noch seine spätere Schenkungsgarantie aus dem Jahre 1183 sich ausdrückt, übertrug Welf VI. Land und Leute in usum fratrum, er übergab sie in die Nutzung, in den Gebrauch der Brüder.⁴ Die Sicherung des Unterhalts der Mönche war also Sinn und Zweck der Zuweisung. Es ist hier Ende des 12. Jahrhunderts und bei der Begabung des Klosters nicht von Herrschaft die Rede – Herrengewalt, Herrschaft übte zu der Zeit derjenige, der Schutz gewähren konnte, in unserem Fall also der Vogt und nicht das Kloster⁵, und auch von Eigentum wird nur insoweit gesprochen, als der Fundus des Klosters als nicht lehenbar charakterisiert werden soll: Im Sinnzentrum der Maßnahme stand die Nutzung, der Nutzungstransfer, der Übergang der Nutzung vom Herzog auf seine Stiftung. Das entspricht durchaus dem Verständnis einer Zeit, in der die Kernvorstellung der dinglichen Zuordnung von Sachen auf Personen in der Kategorie der Nutzung und nicht in der des Eigentums gefaßt wurde.⁶ Dies änderte sich jedoch bald. Die Verlagerung des klösterlichen lnteressenschwerpunktes von der schlichten Nutzung auf effektive Herrschaft war bereits Mitte des 13. Jahrhunderts nicht zu übersehen. Die Pröpste betrieben expansive lokale Machtpolitik: Sie rundeten das Gebiet um das Kloster herum ab durch Kauf, Rodung und streitige Auseinandersetzung mit den Nachbarn und klärten dabei den genauen Grenzverlauf. Sie säuberten den Raum im Innern dieser Grenzen von fremden Rechten und Einflüssen. Der Vogt wurde abgedrängt, er sollte gänzlich vom Wohlwollen des Klosters abhängig sein. Die Pröpste beanspruchten nun, die gesamte Verwaltung – die administratio in temporalibus – in eigener Regie und mit abhängigen Amtleuten durchzuführen, und sie wollten auch die Gerichtsbarkeit über ihre Leute – homines eorum – selbst überwachen; niemand sollte berechtigt sein, Klosterleute vor ein fremdes Gericht zu zitieren, sie selbst wollten die Schutzherrschaft ausüben. Auch behaupteten die Pröpste bereits damals das Recht zu haben, ihre entflohenen Leute und deren Vermögen aus den Städten zurückfordern zu können, also ihnen mit Recht auch in die Städte „nachzujagen“. Die Urkunde, der diese Fakten summierend entnommen wurden, ist eine Fälschung aus der Zeit um 1240; als solche zeigt sie mindestens so deutlich wie ein echtes Privileg, welche Vorstellungen bezüglich seiner weltlichen Existenz Steingaden damals entwickelte.⁷ Monumenta Boica (wie Anm. 1) S. 492 f. Zur Vogtei über Steingaden vgl. Fried, Schongau (wie Anm. 2) S. 229 f. Ich schließe hier an Erkenntnisse Klaus Schreiners über das Verhältnis von Bodenleihe, Herrschaftsübung und Schutzgewährung und Hans Hattenhauers bezüglich des Wesens von „Eigen und Lehen“ als Nutzung an. Klaus Schreiner, „Grundherrschaft“. Entstehung und Bedeutungswandel eines geschichtswissenschaftlichen Ordnungs- und Erklärungsbegriffs, in: Die Grundherrschaft im späten Mittelalter, T. I. Hg. Hans Patze (Vorträge und Forschungen Bd. 27). Sigmaringen 1983 S. 11– 74, hier 23, 27. Hans Hattenhauer, Die Entdeckung der Verfügungsmacht (Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 9). Hamburg 1969 S. 140, 168. Monumenta Boica (wie Anm. 1) S. 499 – 502, hier mit der Jahreszahl 1189 abgedruckt. Die Fälschung wurde von Gero Kirchner entdeckt. Gero Kirchner, Probleme der spätmittelalterlichen Kloster-
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Leibeigenschaft und Eigentum
Im Wesentlichen wurde das Eigen Steingaden in dieser Zeit ausgeformt. Man hat den Eindruck, die Pröpste hätten sich auch an den Regelungen in älteren lmmunitäten orientiert. Durch die räumliche Ausschließung konkurrierender Gewalten – es gab nur mehr einen Herrn im Eigen Steingaden –, durch gleichzeitige Bemühungen um Vereinheitlichung und Nivellierung im Innern – die Rechtsstellung der Leute wurde angeglichen – und durch die Zentralisierung der Verwaltung – das Eigen war organisatorisch auf das Kloster und seinen Meierhof ausgerichtet (er läßt sich seit dieser Zeit nachweisen) – verdichtete und verwandelte das Kloster seine Nutzrechte in Herrschaftsrechte. Als den offiziellen Abschluß dieser Entwicklung – oder als die uneingeschränkte äußere Anerkennung der rechtmäßigen Herrschaft des Propstes – kann man die Aufnahme Steingadens in den Kreis der 18 oberbayerischen Klöster ansehen, denen Kaiser Ludwig der Bayer am Georgentag 1330 die volle und ausschließliche Gerichtsbarkeit „hintz iren laeuten und guoten“ zusicherte; – ausgenommen selbstverständlich die drei hochgerichtlichen Fälle, nämlich Diebstahl, Notzucht und Totschlag.⁸ Welche Auswirkungen hatten diese klösterlichen Aktivitäten auf das Beziehungsgefüge von Herr, Leuten und Gütern im Eigen? Der Verlagerung des klösterlichen Interessenschwerpunktes von Nutzung auf Herrschaft entsprach die nun üblich werdende Betonung des Moments der Zugehörigkeit im Verhältnis zu seinen Leuten. Das heißt, das „Eigensein“ der Menschen, die zum Kloster gehörten, wurde nun hervorgehoben. Auf eine Kurzformel gebracht: Aus „seinen Leuten“ – homines eorum – wurden „seine eigenen Leute“ – homines proprii. ⁹ Es handelte sich dabei nicht eigentlich um die grundsätzliche Veränderung einer Rechtsstellung oder einen radikalen Wandel im persönlichen Status der Leute, sondern mehr um die – allerdings folgenschwere – Verlagerung des Akzents. In dem bekannten Wortpaar, mit dem das Recht der Herren im Mittelalter urkundlich gewöhnlich umschrieben wurde – nämlich „haben und genießen“ –, rückt das Bedeutungsgewicht auf „haben“. Während ursprünglich Kloster Steingaden seine Leute nutzte, ihre Arbeit und Abgaben genoß, legte die Herrschaft Steingaden jetzt Wert darauf, ihre Leute zu haben, sie zu eigen zu haben, sie zu beherrschen. Die Erkennbarkeit dieser Entwicklung ist Vorgängen außerhalb des Eigens zu verdanken. Steingaden lag im Einzugsbereich der Städte Memmingen, Kempten, Kaufbeuren, Füssen, vor allem aber Augsburgs und Schongaus. Die Städte zogen die Menschen vom Lande an und entzogen deren Arbeitskraft der Nutzung ihrer alten Herren. Der Protest der Herren rückte daher den Status der Eigenleute so recht ins Bewußtsein der Zeit, machte ihn zu einem zentralen Thema des 14. Jahrhunderts. Die
grundherrschaft in Bayern. Landflucht und bäuerliches Erbrecht, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 19. 1956 S. 1– 94, hier 92– 94. Karl-Ludwig Ay, Altbayern von 1180 – 1550 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern. Abt. 1, Altbayern vom Frühmittelalter bis 1800. Bd. 2), München 1977 Nr. 163 S. 271. Karl-Heinz Spieß, Zur Landflucht im Mittelalter, in: Die Grundherrschaft im späten Mittelalter, T. I. Hg. Hans Patze (Vorträge und Forschungen Bd. 27). Sigmaringen 1983 S. 157– 204, hier 170.
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Gegenmaßnahmen der Herren erfolgten über die Aktivierung der Möglichkeiten, die in diesem Status angelegt waren. Aus Steingaden werden nämlich auch alle jene Maßnahmen überliefert, über die im Zusammenhang mit dem Problem Leibeigenschaft üblicherweise diskutiert wird. Ja, man hat das Vorgehen der steingadischen Klosterherrschaft unter gesamtaltbayerischem Aspekt sogar als extrem rigoros bewertet.¹⁰ Das Kloster schloß in der Zeit vom späten 13. bis ins späte 16. Jahrhundert Verträge mit anderen Herren über den Austausch von leibeigenen Leuten. lm späten Mittelalter – bis 1508, von woan in ganz Altbayern Ehefreiheit galt – traf es Absprachen über Heiratserlaubnis und Kinderteilungen. Steingaden verlangte Bürgschaften und sogar einen „Masseneid“ (HansMartin Maurer) gegen Abwanderung.¹¹ Es bestrafte durch Sippenhaftung und Gefangennahme der Angehörigen den unerlaubten Wegzug eines Leibeigenen.¹² Gelegentlich gestattete es einem Eigenmann auch den Freikauf „der aigenschaft“, die es zu seinem „leib gehebt hat“.¹³ Und das Kloster kaufte Eigenleute „uf des reichs straz“, wie 1355 Hermann den Waldstein samt Anhang für 21 Pfund Heller; und zwar in der Weise, daß es diese Leute hinfort ewig „haben und niessen“ konnte.¹⁴ Man kaufte und verkaufte Menschen, um ihren Leib und ihr Gut „zu haben und zu genießen“. Man erwarb mit dem „Haben“ ihre Zugehörigkeit, ihre Eigenschaft, ihr Eigensein und mit dem „Genießen“ ihre Arbeitsleistung, naturaliter und umgesetzt in Form von Vermögen. Doch für eine Bewertung dieses Faktums sollte man sich vor Augen halten, daß die Eigenschaft ein Status war, ein umfassendes und kein spezifisches oder Kontraktverhältnis¹⁵, bei dem idealiter der umfassenden Nutzung des
Adolf Sandberger, Entwicklungsstufen der Leibeigenschaft in Altbayern seit dem 13. Jahrhundert, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 25. 1962 S. 71– 92, hier 78. Hans-Martin Maurer hat dieses Phänomen für Württemberg untersucht. Hans-Martin Maurer, Masseneide gegen Abwanderung im 14. Jahrhundert. Quellen zur territorialen Rechts- und Bevölkerungsgeschichte, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 39. 1980 S. 29 – 99. – Der Steingadener Masseneid ist gedruckt, in: Monumenta Boica (wie Anm. 1) S. 608 – 610. Er wurde am 21. IX.1399 beurkundet. Eine eingehende Schilderung des drastischen klösterlichen Vorgehens findet sich in der Urfehde Engel Cristans, abgedruckt in Monumenta Boica (wie Anm. 1) S. 611– 614. Engel Cristan stammte nicht aus dem Eigen Steingaden, sondern aus Altenstadt bei Schongau, wie dem Dorsalvermerk des Urkundenoriginals zu entnehmen ist. Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Klosterurkunden Steingaden Nr. 376; 1410 V. 3. – Kirchner, Klostergrundherrschaft (wie Anm. 7) S. 67 und Adolf Sandberger, Altbayerns Bauernschaft am Ausgang des Mittelalters, in: Bayerisches landwirtschaftliches Jahrbuch. 1956 S. 751– 764, hier 759 gehen ausführlicher auf diese Urkunde ein. So Hans Hackhenfleisch, einem Bürger in Bozen, durch Vermittlung Michels von Wolkenstein und Hans von Schongau. BayHStA, Klosterliteralien Faszikel 688, Nr. 1 (unfoliiert); 1464 V. 25. BayHStA, Klosterurkunden Steingaden Nr. 318; 1355 I. 14. Die berühmte Formel Maines, „from status to contract“, der die Beobachtung der fortschreitenden Verrechtlichung der westlichen Gesellschaften zugrunde lag, stellt ein vorzügliches Theorem für die Erfassung der steingadischen Verhältnisse dar. Henry Sumner Maine, Ancient Law. Its Connection with the Early History of Society and its Relation to Modern Ideas. Gloucester, Mass. 1970 (zuerst 1861).
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Eigenmannes die totale Unterhaltspflicht des Herrn entsprach¹⁶, und man muß des weiteren berücksichtigen, daß die je konkrete Erscheinungsform der Eigenschaft überall und jederzeit von der Konvention abhing und vom Herkommen gestaltet war, was bedeutet, daß das Aussehen der Eigenschaft überall ein anderes, ihre Wirkungen höchst verschieden und von der Gewohnheit, vom Gewohnheitsrecht abhängig waren. Es empfiehlt sich daher, nach den eher allgemeinen Ausführungen über die Handhabung der steingadischen Leibeigenschaft zurückzukehren zu den Vorgängen im Eigen, zur Entwicklung im stiftischen Herrschaftsgebiet rund um das Kloster. Der kleine Ausflug erweist jedoch seinen Nutzen bei der Beurteilung des eingangs geschilderten Streites zwischen dem steingadischen Eigenmann Konrad und seiner Herrschaft. Vor dem Hintergrund des in Westbayern auf dem Lande schon seit Anfang des 14. Jahrhunderts offensichtlichen Menschenmangels und in Anbetracht der Tatsache, daß die Ausformung der Leibeigenschaft im Prinzip über eine stärkere Anbindung der Leute an den Herrn erfolgte, muß die Abstiftung und Ausweisung einer tüchtigen Bauernfamilie ungewöhnlich erscheinen. Plausibler wird der Vorgang erst, wenn die Bestrebungen der Bauern, wie sie im Eigen von der Mitte des 14. bis Mitte des 15. Jahrhunderts feststellbar sind, in die Betrachtung einbezogen werden. Diese zielten darauf, aus dem Anrecht – und aus der Pflicht – auf die Bewirtschaftung eines klösterlichen Anwesens, ein Recht auf ein ganz bestimmtes Gut abzuleiten. Sehr wahrscheinlich scheiterte Konrad der Seng in Vogelau genau mit diesem Bemühen, und zur deutlichen Demonstration der klösterlichen Stiftfreiheit erzwang der Propst den Abzug des gefährlichen Unruhestifters. Mit welcher Ausdauer und Unerbittlichkeit Steingaden nämlich jeden Versuch eines Bauern, einen Hof im Eigen zu seinem Hof zu machen, bekämpfte, zeigt exemplarisch das Schicksal der Familie Schlauch, die über 50 Jahre, von 1401 bis 1457, mit verschiedenen Pröpsten im Streit um den Hof lag, der zwar heute noch ihren Namen trägt, den zu Erbrecht zu besitzen ihr aber nicht gelang.¹⁷ Stift Steingaden vertrat hier dieselbe Auffassung wie ein Mönch des Nachbarklosters Rottenbuch: Dem „Gotzhaus“ wäre es „vil nützer, die Gueter nit zelassen auf Leibgeding noch Erbrecht, dann die zu verkumern – sicut longa docuit experientia“¹⁸ – wie eine lange Erfahrung lehrt. Das klare Ziel der Klosterpolitik war es, im Gebiet des Eigen nur klösterliche Eigenleute siedeln zu lassen und niemandem in irgendeiner Form ein Leihe- oder Bo-
Die Unterhaltspflicht des Eigenherrn wird selbst im 18. Jahrhundert noch bejaht, ohne daß allerdings Folgerungen für die Praxis daraus zu erkennen gewesen wären. Wiguleus Xaverius Aloysius Frh. v. Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem. 1. Theil (neue unveränderte Auflage). München 1821 S. 608. Zu den Auseinandersetzungen der Familie Schlauch mit den Pröpsten/Äbten von Steingaden vgl. BayHStA, Klosterurkunden Steingaden Nr. 453 (I und II); 1437 IV. 7. Schiedsspruch Herzog Ernsts und Nr. 454;1437 IV. 8. Urteil des Hofgerichts München; des weiteren ergänzend Klosterurkunden Steingaden Nr. 404; 1423 XI. 25. und Nr. 475; 1441 I. 14., sowie Klosterliteralien Steingaden 10 (unfoliiert) zu 1438 und 1460 und Kurbayern Äußeres Archiv Nr. 4155; 1459. Monumenta Boica. Bd. 8, München 1767 S. 111.
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denrecht zuzugestehen. Der Boden gehörte niemandem, er war niemandes Eigentum, er hatte keinen Verkehrswert, keinen Preis und stand nicht im Handel. Er war in einzelne Bauernanwesen verschiedener Größe aufgeteilt und der Propst organisierte deren Nutzung, indem er jedes Jahr im Bauding seine Eigenleute versammelte, ihre Stiftpfennige entgegennahm und die Familien aufs Neue in die Höfe einwies. Er hatte das Recht, „zu stiften und zu stören“, man könnte es als ein Produktionsverfahrensrecht umschreiben.¹⁹ Wie die Praxis im 14. und 15. Jahrhundert aussah, kann man im benachbarten Eigen Rottenbuch verfolgen, weil es dort ausführliche Aufzeichnungen darüber gibt. Sie waren zu dem Zweck angefertigt worden, im Streit mit den dortigen Eigenleuten den Nachweis der klösterlichen „freien Stift“ zu erbringen.²⁰ Hier findet man Familienväter, die im Laufe ihres Lebens drei oder vier verschiedene und verschieden große Anwesen bewirtschaftet haben: Hans Weißkopf etwa bebaute erst das Heißenlehen, dann das Heilergut, dann einen Hof in Murgenbach und saß schließlich in Lettigenbichl. Außerdem beteuerte der dortige Propst ausdrücklich, man hätte stets darauf geachtet, daß Kinder nicht den Hof übernähmen, den die Eltern längere Zeit bewirtschaftet hatten. Denn die Gewohnheit schuf Recht, und überlassene Gewere tendierte dazu, sich mit der Zeit in Nutzeigen zu verwandeln. Es gab kein Eigentum an Grund und Boden im Eigen Steingaden und keinen Eigentümer. Das Wort Eigentum taucht in Altbayern übrigens auch erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf. Wenn man, was für ein Verständnis unerläßlich ist, die Verhältnisse im Eigen der modernen resp. der römisch-rechtlichen Eigentumsdefinition konfrontiert, könnte man von einem Eigentum des Klosters allenfalls insoweit und bis zu dem Punkt sprechen, wo Herrschaft und Eigentum sich sinngemäß überlappen.²¹ Daß der Bauer oder Eigenmann kein Eigentumsrecht am Boden hatte, ist allein schon aus der jährlichen Befristung seiner Nutzungsbefugnis zu ersehen. Trotzdem waren es die Rechte der klösterlichen Eigenleute – sie hatten diese dem Herrn, nicht dem Boden gegenüber – , die der Ausbildung des klösterlichen Volleigentums am Boden massiv im Wege standen; denn sie verhinderten die willkürliche Handhabung und beschränkten die freie Verfügung des Propstes über den Boden, die ja Kennzeichen der Position eines Eigentümers sind. So verharrte die dingliche Beziehung der Steingadener zum Boden auch nach Ausformung der personalen Bezüge zur Herrschaft bei der herkömmlichen Kategorie der Nutzung. Das war nicht im Sinne der Bauern; das Ideal einer starken Bauer-Hof-Bindung lebte weiter, und es war sogar in der Lage, eindeutig repressiv gemeinte Maßnahmen
Hannah Rabe, Das Problem Leibeigenschaft (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 64). Wiesbaden 1977 S. 19 f. BayHStA, Klosterliteralien Rottenbuch Nr. 47a, fol. 10 – 13. Zu Definition und Entwicklungsgeschichte von Eigentum siehe Dieter Schwab, Eigentum, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. Hg. Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck. Stuttgart 1975 S. 65 – 115, und Dietmar Willoweit, Dominium und Proprietas. Zur Entwicklung des Eigentumsbegriffs in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechtswissenschaft, in: Historisches Jahrbuch 94. 1974 S. 131– 156.
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des Klosters, wie den „Masseneid“, den Propst Johann 1399 den Einwohnern des Eigen abverlangte, zu vereinnahmen.²² Mit dem Eid hatten die Bauern schwören müssen, dem Propst nicht zu entfliehen, und sie folgerten daraus – aus Rottenbuch ist diese spitzfindige Argumentation wörtlich überliefert – , der Eid, mit dem sie gezwungen worden waren, ihr Bleiben zu versprechen, gebe ihnen auch das Recht zu bleiben, biete ihnen Schutz vor Vertreibung. Denn nicht nur Freizügigkeit, das Recht wegzuziehen, worauf die wissenschaftliche Diskussion des Themas Leibeigenschaft und Schollenbindung heute einseitig abhebt, war eines der Hauptanliegen der leibeigenen Menschen, sondern auch das komplementäre Recht bleiben zu können zählte zu ihren Zielen. Nach 1400 führten diese Bestrebungen zu einer „Territorialisierung“ und insoweit zu einer Beschränkung der vormals freien Stiftbefugnis der Herren. Sie konnten Leute aus dem Eigen fortan gegen deren Willen nicht mehr auf außerhalb gelegenen klösterlichen Höfen ansiedeln.²³ Die nämliche regionale Absicherung der Existenz erreichten auch die steingadischen Eigenleute in der Grafschaft Peiting.²⁴ Man kann es als ein Heimatrecht der Eigenleute bezeichnen. Die Gemeinschaft aller Leute im Eigen hatte danach – ideell – Anrecht auf alle Güter im Eigen. Der Bezug zwischen Mensch und Boden hatte sich verdichtet, aber von einem individuellen Besitzrecht, wie es die Bauern erstrebten, war der Zustand weit entfernt. Aus diesem Grunde blieb das Bauding die zentrale Institution der steingadischen Eigen-Verfassung. Hier stand die Versammlung der Leute im Eigen dem Herrn im Eigen von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und hier wurde über die Ordnung der Güter im Eigen entschieden. Das Bauding wird in dieser Funktion 1341 in der Urfehde Konrads des Seng erwähnt und erst 1718 ausdrücklich aufgehoben. All die Jahrhunderte hindurch rief der Prälat von Steingaden die haussässigen Familienväter jedes Jahr um Martini in das Kloster, um mit ihnen zu „stiften“; das heißt, um seinen Anteil an den wirtschaftlichen Erträgen des vergangenen Jahres einzufordern, um die ordentliche Bewirtschaftung der Güter zu überprüfen und vor allem um jedermann daran zu erinnern und öffentlich darauf zu verweisen, daß an diesem Tag die Güter im Eigen „heimgefallen“ wären und nun zu seiner Disposition ständen. „Da nun ein Prälat oder desselben verordnete anwälte auf dem Eigen Steingaden in beisein der geschworenen amtleut und diener […] in der session sein, so sein auf denselbigen tag dem gotshaus alle güter, weil es an keinem ort einig erbgut hat, frei ledig worden und heimgefallen. Also daß ein Prälat volle macht und gewalt hat, einen hintersassen von einem großen auf ein
Monumenta Boica (wie Anm. 1) S. 608 – 610. Die zwangsweise Umsiedlung von Eigenleuten hatte wegen des massiven Protests um 1390 im Eigen Rottenbuch wieder rückgängig gemacht werden müssen. Dort wurde das „Heimatrecht“ im 15. Jahrhundert sogar gegen Strafabstiftungen ins Feld geführt. Das Ehehaft-Recht der Grafschaft Peitingau gegen 1435; § 49 lautet: „Item es soll weder der von Raitenpuech noch der von Steingaden ir eigen Leuth nicht entsetzen aus dem Gericht, aber in dem Gericht mugent sy Ir aigen Leuth wol sezen auf ein ander Guet.“ Johann Georg v. Lory, Der Geschichte des Lechrains zweyter Band, Urkunden enthaltend. München (1765) S. 141.
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kleines oder von einem kleinen auf ein großes gut zu setzen und entsetzen […] ohne einige […] widerred.“
So heißt es in der Aufzeichnung der Klosterrechte 1582 und so wurde es bis 1718 jährlich öffentlich verlesen.²⁵ Zwar wurde schon 1582 weiter vorgetragen, daß es „löblich herkomen und gebrauch“ sei, den „gehorsamen untertanen […] aus gnad solliche güter wiederumben auf ein jahr“ zu verstiften, aber die rechtliche Basis der Eigen-Verfassung war davon nicht berührt. Die im Bauding sichtlich demonstrierte klösterliche Machtfülle hatte ebendort auch ihre offenbaren Schranken; denn das Bauding war ein Ort vollständiger Öffentlichkeit. Alles was dort geschah, was verhandelt, geregelt oder angeordnet wurde, geschah vor den Augen und Ohren aller. Private Abmachungen zwischen Herr und Bauer, Hofübernahmen zu speziellen Konditionen, nach heimlich getroffenen Vereinbarungen, waren nicht möglich. Jeder, der vor den Propst trat und zum Zeichen der vollzogenen Stift den Stab berührte, tat das vor den wachsamen Augen aller. Sein Tun stand unter der strengen Kontrolle der gesamten Bauernschaft. Damit unterlag auch das Handeln des Prälaten – wollte er den Widerstand und die Empörung der gesamten Bauernschaft nicht riskieren – den Gesetzen des Herkommens und den Erfordernissen der Billigkeit. Er hatte sich an die allen bekannten alten Gebräuche zu halten und Entscheidungen billig, das heißt gerecht und gleich, nämlich den Umständen angemessen, zu treffen. Öffentlichkeit muß als durchgehendes Strukturmerkmal der Lebensordnung im Eigen angesehen werden. Für soziale und politische Systeme, die den Bedingungen der Mündlichkeit und dem Regiment des Herkommens unterliegen, ist die Öffentlichkeit der Regeln und des Handelns eine notwendige Voraussetzung ihrer Funktionstüchtigkeit. Im Eigen kannten sich natürlich alle Menschen persönlich, und sie wußten über die Lebensumstände der anderen genau Bescheid. Das gilt auch für den Propst, auch er kannte die Eigenleute sehr genau: Die Indices der Heiratsbücher des 16. Jahrhunderts sind z. B. in Rottenbuch nach Vornamen geordnet, nicht nach Familien- oder Hofnamen, was für einen sehr engen, persönlichen Umgang von Herrn und Holden spricht. Die Pröpste faßten das Zusammenleben mit den Eigenleuten denn auch gern mit dem Bild der „Familie“, in der ihnen die Stelle des Vaters zukam. Schon 1238 werden in einer Urkunde die bäuerlichen Zeugen Steingadens als ex familia des Klosters bezeichnet.²⁶ Der Propst regierte im Eigen nach Art eines Vaters, als ein „Gebietspatriarch“ (Ernst Mannheim). Entsprechend weitreichend und unspezifisch blieben die wechselseitigen Beziehungen in dieser „Familie“. Der patriarchalische Zug der steingadischen Herrschaft tritt am sinnfälligsten hervor, wo der Propst in direkter Analogie die Zuständigkeiten der natürlichen Verwandtschaft BayHStA, Klosterliteralien Steingaden Nr. 22: Des ehrwürdigen Gottshaus Steingaden Freiheiten etc., erneuert 1582; fol. 1– 44, fol. 3. – Vergleich des Abts zu Steingaden mit den Hintersassen, 1718, gedruckt bei: Lory, Lechrain (wie Anm. 24) S. 522– 524, hier 522. Monumenta Boica (wie Anm. 18) S. 23 f.
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wahrnahm – etwa im Bereich von Ehe und Erbe. Die biologische Familie war daher ein naturgegebener Gegner seiner Herrschaft. Wenn der Propst – um ein Beispiel vorzuführen – beanspruchte, Eigenleute nach seinem Willen zu verheiraten, so ergab sich das aus seinem Interesse an einer ordnungsgemäßen Bewirtschaftung der Höfe im Eigen. Ein Bauerngut konnte nur „baulich und wesentlich“ erhalten werden, wenn es von einem Ehepaar, einer Familie, bearbeitet wurde. Und wenn dies Vorgehen des Propstes dem betroffenen einzelnen auch höchst beschwerlich gewesen sein mag, von der damaligen Gesellschaft wurde es gewiß weniger als Beeinträchtigung der individuellen Freiheit aufgefaßt – denn wer, gleich welchen Standes, schloß damals eine Ehe nach seinem eigenen Willen –, sondern als Eingriff in die Rechte der natürlichen Verwandtschaft. In ebensolch scharfer Konkurrenz zu den Ansprüchen der biologischen Familie befand sich der Propst mit seinen Forderungen an die Hinterlassenschaft der verstorbenen Eigenleute. Er verlangte Teile der Erbmasse, im Extremfall das ganze fahrende Vermögen eines Eigenmannes. In der Regel teilte er mit den natürlichen Erben Vieh, Korn, Kleidung und Geld. Der „Todfall“, um ein Stichwort aus diesem Bereich zu nennen, war im Eigen mehrmals Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen zwischen dem Vater der Klosterfamilie, dem Propst, und den bäuerlichen Hausvätern, den Vertretern der natürlichen Eigenleutefamilien.²⁷ Das Bild der Familie veranschaulicht die Art der Herrschaftsbezüge im Eigen, die genossenschaftliche Komponente des Systems erfaßt es jedoch nicht. Die Genossenschaft der Eigenleute war auf das Gebiet des Eigen bezogen, war eine territoriale Gemeinschaft und insoweit ein Reflex auf die Herrschaftsbildung des Klosters. Der Propst gehörte ihr als „Übergenoz“ an, wie ein zeitgenössischer Begriff die Position des in der Ständeordnung höherstehenden Mitglieds ausdrückt. Er hatte wie die bäuerlichen Genossen Teil am Ertrag aus Grund und Boden, Wald, Wasser und Weide im Eigen. Er hatte wie alle anderen den Geboten des Näherrechts zu genügen, also der Vorstellung, wonach dem Nachbarn – dem Näheren – der Vorzug vor dem Fremden einzuräumen ist: Konkret also mußte er als Mitgenosse sein überschüssiges Heu zuerst den Leuten im Eigen anbieten, bevor er andernorts damit Geschäfte machen konnte. Das Verhältnis zwischen Bauernschaft und Propst wurde von den bayerischen Landesherren mehrmals in offiziellen Dokumenten, die Teil der steingadischen Verfassung wurden, umschrieben.²⁸ Nach dieser Definition waren, wie etwa die Herzoge Ernst und Wilhelm 1423 sagten, Bauernschaft und Herr „baiderseits an einander wol schuldig“, daß die Leute dem Propst „willig, gehorsam und dinstlich sein“, dieser sie
Konfliktgegenstand ist der Todfall 1441, 1515 und 1718. Die herzoglichen Schiedsentscheide, die der Beendigung der Konflikte zwischen Bauernschaft und Kloster dienen sollten, enthielten alle Aussagen grundsätzlicher Art über das Herrschaftsverhältnis. Derartige Entscheide gibt es aus den Jahren 1423, 1441, 1515 und 1718 (letzterer hat eher Vergleichscharakter).
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aber „gnädiklichen halde und füdere“.²⁹ Das entspricht der damaligen allgemeinen Vorstellung vom Herrschaftsverhältnis, wie es mit der Formel „Schutz und Schirm“ gegen „Rat und Hilfe“ gefaßt wurde. Es ist eine sehr allgemeine, unscharfe „Definition“, mit der versucht wird, ein ebenso allgemeines, komplexes und totales Verhältnis in Wörter zu übertragen und zur Generalnorm zu erheben. Tatsächlich waren die Beziehungen im Eigen höchst verschränkt; Komplexität – Ungeschiedenheit – ist geradezu als ein weiterer Wesenszug des Systems anzusprechen. Ob man die Rechte und Pflichten der Bauern oder die des Herrn anspricht, oder den Bereich Familie, den Status der Eigenleute, die Situation von Grund und Boden betrachtet, überall stößt man auf komplizierte Verknüpfungen und ungesonderte Zustände. Konflikte, die in einem solchen System aufbrechen, werden entsprechend als breite Kontroversen über viele Streitpunkte ausgetragen. In der Geschichte des Eigens Steingaden geschah dies in der Zeit vom Ende des 14. bis Mitte des 15. Jahrhunderts mit gewissen Höhepunkten um 1423 und 1441, sodann zu Beginn des 16. und noch einmal am Anfang des 18. Jahrhunderts.³⁰ Sowohl die an den Auseinandersetzungen Beteiligten, als auch die Gegenstände – jedenfalls aber die wesentlichen Inhalte des Streites – und die Art der Konfliktführung waren dabei im großen und ganzen im 15. Jahrhundert dieselben wie im 18. Die Gegner waren jeweils die Bauernschaft im Eigen Steingaden, also die zu einer Einung verschworenen, im 18. Jahrhundert zur gerichtlich registrierten Klägergemeinschaft vereinten Eigenleute, und der Propst, bzw. wie er seit 1434 heißt, der Abt des Klosters Steingaden. Als Dritter, als neutrale Vermittlungs-, Schieds- oder Entscheidungsinstanz, wurde in allen Fällen der bayerische Landesherr eingeschaltet. Die zahlreichen und diversen Streitpunkte der spätmittelalterlichen Auseinandersetzungen lassen sich um zwei thematische Zentren ordnen, die „Eigenschaft des Leibes“ und die „Eigenschaft der Güter“ in der steingadischen Herrschaft. Es waren Konflikte um Freiheit und Eigentum gemessen am gedanklichen Horizont der Zeit. Dabei erreichten die Bauern, nicht zuletzt durch Unterstützung der bayerischen Landesherren, die Eindämmung der pröpstlichen Gewalt über die Person der Eigenleute. Bereits 1423 wurde vereinbart, daß der Propst niemanden zwangsweise verheiraten, niemanden beerben und niemandes Arbeitskraft beliebig einsetzen dürfe.
Der Spruchbrief der Herzöge Ernst und Wilhelm vom 25. November 1423 wurde bereits mehrmals gedruckt. Die Wiedergaben in Monumenta Boica (wie Anm. 1) S. 616 – 620 und bei Lory, Lechrain (wie Anm. 24) S. 109 – 111 sind fehlerhaft, korrekt ist der Druck bei Günther Franz, Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges. Darmstadt 1963 S. 9 – 12. Zwei Originalausfertigungen liegen im BayHStA unter Klosterurkunden Steingaden Nr. 404 und im Aktenband Kurbayern Äußeres Archiv Nr. 4156, fol. 357. Die wichtigsten Quellen für die Konflikte im Mittelalter sind die herzoglichen Schiedsurteile von 1423 (vgl. Anm. 29), 1441 (BayHStA, Klosterurkunden Steingaden Nr. 475) und 1515 (Klosterurkunden Steingaden Nr. 921), Druck bei Lory, Lechrain (wie Anm. 24) S. 254 f. Zu den Auseinandersetzungen im 18. Jahrhundert gibt es auch Aktenmaterial. Der abschließende Vergleich ist gedruckt bei Lory, Lechrain (wie Anm. 24) S. 522– 524 und bei P. Hildebrand Dussler,Vergleich des Klosters Steingaden wegen der Scharwerke 1718, in: Lech- und Ammerrain, Heimatbeilage der Schongauer Nachrichten Jahrgang 4. 1953 Nr. 12 S. 46 – 48.
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Das waren Regelungen, die weniger dem Eigenmann als Individuum, als vielmehr der bäuerlichen Sippe zugute kamen. Die Kompetenzen der natürlichen Familie erweiterten und stabilisierten sich auf Kosten der „Klosterfamilie“. Diese Tendenz setzte sich fort. Im herzoglichen Schiedsentscheid von 1515 wurde dem Kloster untersagt, den Todfall, die Erbschaftsabgabe der Leibeigenen, naturaliter – also das Besthaupt – zu verlangen; er wurde in eine monitäre Erbschaftssteuer umgewandelt, deren jeweilige Höhe eine Kommission aus je zwei Vertretern der bäuerlichen Verwandtschaft und des Klosters festsetzte. Die Veränderungen verbesserten die Situation der Eigenleute in der Praxis, das Prinzip der Eigenschaft berührten sie nicht. Den zweiten Schwerpunkt der steingadischen Herrschaftskonflikte im Spätmittelalter bildeten die Güter. Die Bauern klagten die Höfe im Eigen ein. Alle Eigenleute verlangten jetzt – um 1420 –, „sy und ir erben selten der gueter dorauf sy desmals sässn, von yedem brobst zu Staingaden unvertrieben sein“.³¹ Diese Forderung umschrieb als zu handhabende Praxis das, was rechtsterminologisch dem Leiherecht Erbrecht und damit einer Form von Eigentum nahekam. Es war eine durchaus progressive Forderung, kein Ausdruck der Defension, weder eine Beschwörung alter Zeiten, noch eine Berufung auf das alte Recht, wie von bäuerlichen Vorhaben im Mittelalter allgemein angenommen wird. Es war das Verlangen nach einer Neuerung. Die Eigenleute wollten das Recht auf einen Hof im Eigen in das Recht auf ihren eigenen Hof verwandeln. Sie versuchten, die im Institut der Eigenschaft gegebenen Möglichkeiten zu nutzen, ihr mittelbares Anrecht auf Grund und Boden in ein unmittelbares zu überführen und somit – letztendlich – durch die Bildung von Eigentum der vom Kloster ausgebildeten Leib-Herrschaft entgegenzuwirken. Die Steingadener Bauern erreichten dieses Ziel im Mittelalter nicht, weder 1423, noch 1441 oder 1515, aus welchen Jahren es jeweils herzogliche Schiedsentscheide zwischen ihnen und dem Kloster gibt. Ihr Verhältnis zu den Gütern im Eigen blieb unverändert bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts, das heißt, es gab in Steingaden weiterhin den offiziellen jährlichen Heimfall und die jährliche Neuvergabe der Güter im Bauding und kein Leihe- oder Besitzrecht der Bauem³², das in irgendeiner Weise als Eigentumsrecht anzusprechen gewesen wäre. Dementsprechend blieb auch der Status der Eigenleute im Prinzip bestehen. Die Leibeigenschaft existierte weiterhin – trotz der Kompetenzzuwächse der natürlichen Familien –, auch wenn sie äußerlich nicht mehr ohne weiteres zu erkennen war. Die Belastungen, für die die Leibeigen-
Das Zitat ist einer Aussage Abt Johannes III. von Steingaden entnommen, die dieser 1437 vor Herzog und Räten in München machte. BayHStA, Klosterurkunden Steingaden Nr. 454. In der wissenschaftlichen Literatur wird gelegentlich behauptet, mit dem herzoglichen Spruch von 1423 sei den Steingadener Bauern das Erbrecht an den Gütern zuerkannt worden. Dieser Irrtum beruht auf einer Verwechslung der Bestimmungen über die Mobilien mit denen bezüglich der Immobilien. Erbrecht erhalten die Eigenleute an den Mobilien (Fahrhabe) zugestanden, für die Güter gilt weiterhin die freie Stiftbefugnis des Klosters. Sandberger, Altbayerns Bauernschaft (wie Anm. 12) S. 756; Felix Ammer, Ein wirtschaftsgeschichtler Beitrag zur Sonderstellung Bayerns im deutschen Bauernkrieg. Diss.Masch., München 1943 S. 62; Rabe, Leibeigenschaft (wie Anm. 19) S. 95.
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schaft den Rechtsgrund darstellte, unterschieden sich nämlich in der Neuzeit nicht von denen, die andernorts aufgrund der Gerichts- oder Vogteiobrigkeit bestanden; einer Verpflichtung war nicht anzusehen, ob sie dem Vogt oder dem Leibherrn geleistet wurde. Fronen, Zwangsdienste und Inventurrecht wurden in Bayern, wie im Landrecht von 1616 und in der Landes- und Polizeiordnung nachzulesen, sowohl als leibherrliche wie auch als gerichtsherrliche Berechtigungen verstanden. Der Todfall ähnelte einer Besitzwechselgebühr. Als sichtbare Merkmale der Leibeigenschaft überdauerten im Eigen in den neuzeitlichen Jahrhunderten die Notwendigkeit, eine Abzugserlaubnis vom Prälaten zu erwirken, falls man fortzuziehen beabsichtigte, und das Wort Leibeigenschaft, das weiterhin in Gebrauch blieb. Trotzdem erhielt sich das Bewußtsein von der umfassenderen Bedeutung der Leibeigenschaft im ursprünglichen Sinne der Eigenschaft. Das läßt sich in Zeiten der Krise beobachten, wenn die Auseinandersetzungen zwischen Herren und Bauern die Artikulation grundsätzlicher Positionen erzwangen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts argumentierten die Bauern im Eigen Rottenbuch mit ihrem Eigenleutestatus. Sie verwiesen auf ihre Leibeigenschaft, um ihr Recht an den Gütern im Eigen und um ihr Heimatrecht zu belegen. Im Eigen Steingaden sah man diese Verbindung auch noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts als gegeben an: Personenstand und Güterrecht bedingten einander. Die Folgerungen, die jetzt aus diesem Tatbestand gezogen wurden, unterschieden sich aber von denen früherer Zeiten. In der Zwischenzeit hatten sich grundlegende Wertmaßstäbe verändert. Ihr Wandel leitete im Eigen Steingaden die Auflösung der EigenVerfassung ein.³³ Die Bauern des Eigen erhoben im Sommer 1716 beim Hofrat in München Klage gegen das Kloster wegen „anbegehrter Leibeigenschaft“.³⁴ Das mutet natürlich merkwürdig an, denn schließlich waren die Steingadener seit eh und je ganz unbestreitbar Leibeigene gewesen. Als zweite Merkwürdigkeit müßte, wenn man nicht Kenntnis von der Eigen-Verfassung hätte, ihre Beweisführung angesehen werden; denn bei dieser Klage nahmen die Bauern nicht etwa bezug auf ihren Personenstand, sondern auf die Güterverhältnisse. Die Steingadener schrieben in Punkt eins ihrer Anklage: „Als erstes will man uns haubtsächlich vor ganz leibaigene halten. Wie wir dann dem iezigen Prelaten hierauf wirklichen und dahin hetten angeloben sollen, das er aignen gewalts gleichsam ohne wenigstes verbrechen und ohne alle widerred uns alle jar von den güettern genzlichen entsezen oder verwerfen, ia von und zu solchen thuen könne.“
Einige Literaturangaben und Beobachtungen zum Wandel der Grundwerte, wie er in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einsetzt, finden sich in meinem Aufsatz: „Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns“, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Hg. Günter Birtsch. Göttingen 1987 S. 42– 64. Eine knappe Darstellung der Ereignisse habe ich in dem Beitrag „Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern. 1400 – 1800“, in: Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa. Hg. Winfried Schulze (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien 27). Stuttgart 1983 S. 166 – 187, hier 182– 185 gegeben.
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Es waren wiederum die Grundbedingungen der Eigen-Verfassung, die hier vor Gericht standen, so wie sie seit mindestens 400 Jahren existierten, der offizielle jährliche Heimfall der Güter im Bauding, das Fehlen jedes individuellen Besitzrechts. Aus ihrer Betrachtung dieser Zustände unter der neuen Perspektive des frühen 18. Jahrhunderts schlossen die Bauern, daß es sich bei ihren Lebensbedingungen um völlig unerträgliche Verhältnisse handele, die sie zu „Sklaven“ herabwürdigten oder den „Böhmischen Leibeigenen“ gleichsetzten. Es war nur die veränderte Perspektive, der neue ideelle Standort der Betrachter, der diese Klage hervorbrachte; die Verhältnisse selber waren Jahrhunderte alt, neue Belastungen oder erhöhte Forderungen waren der Klage nicht unmittelbar vorausgegangen. Die Bauern folgerten jetzt aus den alten Bestimmungen des Baudings ihre ganz und gar ungesicherte, wie sie meinten, dem Belieben und der Willkür des Klosterherrn total ausgelieferte Existenz, und dafür schienen ihnen die Begriffe Sklaverei oder eben Leibeigenschaft die angemessensten zu sein – dagegen richtete sich ihre Klage. Der Begriff Leibeigenschaft eignete sich allerdings in jener Zeit bestens zum polemischen Gebrauch. Er war als ideologische Waffe strategisch voll einsatzbereit. Bei den Betroffenen, der Landbevölkerung, galt Leibeigenschaft seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts – also schon 100 Jahre vor der Aufklärung – vermehrt und mit wachsender Tendenz als sozial mindernd. Leibeigene hatten Schwierigkeiten, sich zu verheiraten, dazu finden sich Nachrichten aus dem ganzen Land.³⁵ So schreibt beispielsweise der Pfleger der Herrschaft Burgrain 1679 einem Bauern, der um die Entlassung seiner Tochter aus der Leibeigenschaft gebeten hatte: „Freilich ist es wahr, daß dergleichen leibaigene Personen geschichen werden und hart unterkommen, daher die Eltern zu ihrer Befreyung umb sovil sorgfeltiger ihr eisseristes anwenden sollten.“³⁶
Die Zahl der Freikäufe wuchs infolgedessen fortwährend. Auch statistisch läßt sich in Bayern zeigen, wie die Anzahl der leibeigenen Personen rapide zurückging. Im Hofkastenamt München gab es 1624 über 10 000, 1704 nur mehr 2117 Leibeigene.³⁷ Die Gebildeten, etwa juristisch gebildete Kommentatoren, empfanden der Leibeigenschaft gegenüber offensichtliches Unbehagen.³⁸ Man bemühte sich, die nun
Vgl. dazu auch Sandberger, Leibeigenschaft (wie Anm. 10) S. 81 und Ludwig Heilmeier, Die ehemalige freisingische Herrschaft Burgrain. München 1911 S. 101– 103. Heilmaier, Burgrain (wie Anm. 35) S. 103. Heinz Lieberich, Die Leibeigenschaft im Herzogtum Baiern, in: Mitteilungen für die Archivpflege in Oberbayern Nr. 28. München 1948 S. 741– 761, hier 756. Hier sei nur auf den Kommentar Caspar von Schmids zum Bayerischen Landrecht von 1616 verwiesen, der bei Erörterung der landrechtlichen Bestimmungen über die Leibeigenschaft schreibt: „Diß alein wollen wir für ein Fundament vermercken, daß die Leibeigene Leuth zu unsern Zeiten in unsern Vatterland mehr denen freyen Leuthen, und Freygelassenen verglichen werden müssen“, caspar v. schmid, Commentarius oder Auslegung des Chur-Bayerischen Land-Rechts. Ins Deutsche übersetzt.
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einmal nicht zu leugnende Tatsache der im Lande vorhandenen Leibeigenschaft zu verharmlosen, indem man den prinzipiellen Unterschied zwischen Leibeigenschaft und Sklaverei – und dem in diesem Punkte gänzlich verschiedenen deutschen und römischen Recht – immer wieder hervorhob, und indem man die Unvergleichbarkeit mit der zeitgenössischen „Böhmischen Leibeigenschaft“ – der modernen Sklaverei – behauptete. Leibeigenschaft war wiederum ein Thema der Zeit. Und über alle Stände hinweg war man sich weitgehend darüber einig, daß man im eigenen Lande keine sklavengleichen Leibeigenen, sondern Untertanen haben wollte. Das bedeutete, die Behauptung, sklavisch behandelt zu werden, konnte mit guter Aussicht auf Erfolg behende überall da eingesetzt werden, wo man die Gefahr der Willkür wahrscheinlich machen konnte. So deuteten die Steingadener das Bauding als den Tummelplatz der klösterlichen Willkür und schrieben der kurfürstlichen Regierung, das Verlangen des Klosters, „alles was nur beyfallen mag zu geben und zu verrichten, würdet hoffentlich in dero Churlanden zu Bayren nicht mehr erhöret werden“. Ihre Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Nach allerdings längerem fast dreijährigem Streit verhalf eine Regierungskommission zum Abschluss eines Vergleichsvertrages zwischen Bauern und Abt, in dem das Kloster den Bauern auf ihren Gütern das Erbrecht zugestand und versprach, ihnen Erbrechtsbriefe darüber auszustellen. Die Abschaffung des jährlichen Baudings wurde ebenfalls beschlossen. Zum Thema Leibeigenschaft – das immerhin den Klagegrund geliefert hatte – enthielt der Vertrag kein Wort. Das bedeutete das Ende der Eigen-Verfassung. Die Bauern waren als Erbrechtler nun Nutz- oder Untereigentümer der Höfe im Eigen: Der Vertrag, der Kontrakt, nicht mehr der Status der Eigenschaft bestimmte ihr Verhältnis zu Grund und Boden.
1. Theil. Augsburg 1747 S. 237. (Zuerst erschienen 1695). Vgl. auch Rabe, Leibeigenschaft (wie Anm. 19) S. 24.
Die Tradition des Widerstandes im Ammergau. Anmerkungen zum Verhältnis von Konflikt- und Revolutionsbereitschaft* 1 Der Revolutionsparameter in der historischen Protestforschung Selbst heute ist die Demokratie nicht die Staatsform, die die Erde beherrscht: Nur 21 von mehr als 150 Staaten wurden in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg ohne Unterbrechung von demokratischen Regierungen geleitet.¹ In der Vergangenheit war ein demokratischer Staat eine noch größere Seltenheit: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind Demokratien Schöpfungen der letzten hundert Jahre. Aber trotz dieser Rarität in Zeit und Raum sind es die Charakteristika der Demokratie, die im populären und wissenschaftlichen Denken unserer Hemisphäre die Kriterien für implizite Urteile und bewußte Wertungen im politischen Bereich abgeben. So fragwürdig und negativ akzentuiert die Staatsform Demokratie den politischen Theoretikern bis ins 18. Jahrhundert erschien, so fraglos und positiv besetzt ist ihre Geltung heute. Zu diesen akzeptierten demokratischen Vorstellungen gehört die Kategorie des radikalen Umbruchs: Die „klassischen“ demokratischen und nicht minder die „volksdemokratischen“ Staaten der Gegenwart begreifen die Geburt ihrer modernen Existenz als einen revolutionären Akt. Die wahre Volksherrschaft entsteigt der Revolution. Nirgends kann die Kraft dieser allgemeinen Überzeugung deutlicher beobachtet werden als dort, wo eine Demokratie der eindeutig revolutionären Vergangenheit entbehrt wie in Deutschland und wo infolgedessen die lebhafte Suche nach „Revolutionärem“ in der eigenen Geschichte die Wissenschaft umtreibt.² Einem Volk, das nicht versucht hat, auf revolutionäre Weise die Macht im Staate zu übernehmen, bleibt das Odium des unterschwelligen demokratischen Risikos³, weil das „Ausbleiben“ revolutionärer Gewalt im geeigneten Moment gewöhnlich mit Autoritätsgläubigkeit, politischer Unmündigkeit, also mit dem Untertanengeist erklärt
* Es handelt sich um die überarbeitete Fassung eines im Oktober 1985 bei der 9. Jahreskonferenz der German Studies Association in Washington gehaltenen Referats. Arend Lijphart, Democracies. Patterns of Majoritarian and Consensus Government in Twenty-One Countries. New Haven/London 1984. Die Diskussion kreist um drei Daten: 1918/19, 1848 und 1525. Zum Forschungsstand vgl.: Reinhard Rürup, Demokratische Revolution und „dritter Weg“. Die deutsche Revolution von 1918/19 in der neueren wissenschaftlichen Diskussion, in: Geschichte und Gesellschaft 9. 1983 S. 278 – 301; Dieter Langewiesche, Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Archiv für Sozialgeschichte 21. 1981 S. 458 – 498; Peter Blickle, Die Revolution von 1525. München 21981. Dieses durchaus gängige Muster vernachlässigt die Tatsache, daß es sehr wohl stabile Demokratien gibt, die nicht auf revolutionäre Erfahrungen zurückgreifen, wie etwa die Schweiz oder die skandinavischen Länder. DOI 10.1515/9783110541106-002
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Die Tradition des Widerstandes im Ammergau
wird. Für das historische Paradebeispiel Deutschland hat Barrington Moore 1978 noch einmal „a widespread and deeply rooted tradition of loyalty and submission to constituted authority“ als den Grund revolutionären Unvermögens benannt und den lebhaften französischen Revoltenaktivitäten entgegengesetzt.⁴ Dieselbe Verknüpfung nimmt Marita Gilli 1984 in dem Deutschland gewidmeten Band der Annales Historiques de la Révolution Française vor: „On a coutume de dire que des Allemands, disciplinés, respectueux de la loi et de l′autorité, ne sont pas un peuple révolutionnaire.“⁵ Der Mangel an revolutionärem Einsatz wird hier historisch und mit der fehlenden Bereitschaft zum Widerstand in vergangenen Zeiten zu erklären versucht. Daß diese Argumentation bis heute nicht nur möglich, sondern sogar die gängige ist, muß nicht zuletzt als Beleg für die Ausstrahlung des Revolutionsideals bis hin auf die Perspektiven der historischen Forschung angesehen werden. Die Maximen der Revolution nämlich bestimmten lange Zeit und prägen in gewisser Weise bis zur Stunde die wissenschaftliche Beschäftigung mit Herrschaftskonflikten aller Art. Infolgedessen waren Gewaltsamkeit in der Aktion, progressive Radikalität in der Zielsetzung und Massenhaftigkeit der Beteiligten die maßgeblichen Kriterien, nach denen ein Protestunternehmen nicht nur beurteilt, sondern bereits ausgewählt und als erforschungswürdig erachtet wurde.Was überhaupt untersucht wurde entschied sich an Hand der Revolutionsmerkmale.⁶ In den letzten 20 Jahren und besonders im letzten Jahrzehnt erlebte die historische Konfliktforschung einen großen Aufschwung.⁷ Angeregt durch die Debatte, die sich an den Thesen Boris F. Prosnevs zu den französischen Volksaufständen im 17. Jahrhundert entzündet hatte, begann sich das Interesse der Historiker auch auf vergangene Äußerungen sozialen und politischen Protests in anderer als revolutionärer Form und Zielsetzung zu richten. Ihren Maßstabscharakter verlor die Revolution dadurch allerdings nicht. Sie war die „Vollform“, an deren Kennzeichen jegliche Art von Widerstand vermessen und mit deren Hilfe ganze Hierarchien des Protests errichtet wurden. Hierbei blieb als selbstverständliche Voraussetzung die Vorgabe erhalten, daß politische Reife und das klare Bewußtsein der eigenen historischen Situation an der Radikalität der Aktion ablesbar seien, daß die Revolution die „höchste“ Form des
Barrington Moore Jr., Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand. Frankfurt a. M. 1982 S. 225. Marita Gilli, Avant-Propos, in: Annales Historiques de la Révolution Française 255/256. 1984 pp. 1– 6. Zum Begriff Revolution vgl. Reinhart Koselleck, Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck. Bd. 5. Stuttgart 1984 S. 653 – 788, hier 653 – 656 und 689 – 788. Kritisch zur Betonung des Gewaltmoments in der Forschung jetzt: Wolfgang Schmale, Bäuerlicher Widerstand, Gerichte und Rechtsentwicklung in Frankreich. Untersuchungen zu Prozessen zwischen Bauern und Seigneurs vor dem Parlament von Paris (16. – 18. Jh.) (Jus Commune, Sonderheft 24). Frankfurt a. M.1985 S. 12 und 190. Hierzu als letzte zusammenfassende Arbeit: Perez Zagorin, Rebels and Rulers, 1500 – 1660. 2 Bde., Cambridge 1982.
1 Der Revolutionsparameter in der historischen Protestforschung
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politischen Bewußtseins ausdrücke. – Natürlich verführt auch die Faszination, die vom spektakulären Ereignis auf den Menschen ausgeht, immer wieder dazu, spontan in den extremen Vorgang die extreme Bedeutung zu verlegen. Die Fülle der Daten jedoch, die durch die Ausweitung des Forschungsinteresses auf die „niederen Formen des Klassenkampfes“ erbracht wurde, beginnt, ihr Eigengewicht in die Waagschale der Geschichte zu legen, und wo die Wissenschaft gezielt das Phänomen Widerstand aus dem Bannkreis der Revolution entläßt und in die offene Sphäre politischer Artikulationsformen transferiert, entsteht die Chance für neue Einsichten und Erkenntnisse. Die Erforschung des bäuerlichen Widerstandes im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Deutschland erfolgt seit einigen Jahren unter dieser erweiterten Perspektive.⁸ Unter dem Blickwinkel der Eruption und der Gewalt konnte man die Protestäußerungen der deutschen Bauernschaften in der Mehrzahl als eher schüchtern bezeichnen – soweit man überhaupt von ihnen Kenntnis hatte –, gut erforscht waren lediglich die spektakulären Bauernkriege. Als eine Form und Möglichkeit, Politik in einem autoritären System zu betreiben⁹, Untertaneninteressen in einem asymmetrischen Herrschaftsverhältnis zu vertreten, ist der bäuerliche Widerstand im Alten Reich sicherlich verkannt worden.¹⁰ Seine Merkmale, wenn man sie vorab in plakativer Form den Revolutionskriterien Gewalt – Radikalität – Masse gegenüberstellt, sind Dauer – Fundamentalität – Regionalität. Die Studie stellt den Versuch dar, über die Erörterung eines exemplarischen Falles einen allgemeinen Eindruck von der Art und Weise des bäuerlichen Widerstandes in einem der größeren Staaten des Alten Reiches zu vermitteln. Das bedeutet jedoch nicht, daß hier ein einzelnes Widerstandsereignis als beispielhaft abgehandelt würde. Der Bezugspunkt ist nicht das Ereignis, sondern die Region. Es wird die Handlungsweise einer regionalen politischen Einheit, die der Bauernschaft im Ammergau, auf der Zeitachse durch 400 Jahre verfolgt. Die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung dieser Forschungsperspektive ist bei Werner Troßbach herausgearbeitet. Werner Troßbach, Bauernprotest als „politisches“ Verhalten, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde NF 42. 1984 S. 73 – 124. Peter Blickle, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch. München 1981 S. 92– 105. Als ,,autoritär“ werden die politischen Ordnungen im Alten Europa in Absetzung von den „totalitären“ Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts bezeichnet, da sie im Unterschied zu letzteren nicht den gesamten gesellschaftlichen Bereich durchdringen und erfassen. Die Forschung in der Bundesrepublik Deutschland setzte hier deutlich später ein als die in der Deutschen Demokratischen Republik. Vgl. jetzt Winfried Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbau 6). Stuttgart 1980; ders. (Hg.), Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit. Frankfurt 1982; ders. (Hg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa (Geschichte und Gesellschaft, Bochumer Historische Studien 27). Stuttgart 1983; Peter Blickle (Hg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. München 1980; Ders. (Hg.), Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther Franz zum 80. Geburtstag. Stuttgart 1982; Werner Troßbach, Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet 1648 – 1806. Fallstudien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 52). Darmstadt usw. 1985.
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Die Tradition des Widerstandes im Ammergau
2 Die Tradition des Widerstands im Ammergau Der Ammergau liegt im Südwesten Oberbayerns. Das Herzogtum (bis 1623) und spätere Kurfürstentum Bayern (bis 1806) gilt dem Historiker nicht nur zur Zeit des deutschen Bauernkrieges von 1525 als „Insel der Ruhe“ im Meer des Aufruhrs. Aus diesem deutschen Staat ist der Wissenschaft von Konflikten zwischen Untertanen und Herrschaft überhaupt nichts bekannt¹¹, und solange die Gewaltsamkeit des Vorgehens das äußere Signal für den Ernst eines Untertanenprotests ist, kann der bäuerliche Widerstand in Bayern auch kaum als relevant angesehen werden. Die Formen der Herrschaftskonflikte folgten hier zwischen 1300 und 1800 demselben Grundmuster. Sie standen – wie überall – in enger Relation zu Herrschaftsform und -aufbau: Die Aufteilung der herrschaftlichen Gewalt zwischen einer niederen oder nahen (adeligen oder geistlichen) Obrigkeit und dem übergeordneten Landesherrn eröffnete den Beherrschten einen gewissen politischen Spielraum durch Ausnutzung des partiellen Interessengegensatzes der Herren. Die außerordentliche Konstanz der staatlichen Rahmenstrukturen – Altbayern ist bereits seit 1500 Jahren politisch ein Ganzes – erzeugte ein stabiles Landesbewußtsein, das ähnlich dem Regionalismus oder dem Nationalismus als eine politische Orientierung jenseits der Herrschaftsordnung wirksam war. Die Auseinandersetzungen zwischen der Bauernschaft im Ammergau und ihrer nahen Obrigkeit, der Klosterherrschaft Ettal, bewegen sich im Rahmen dessen, was auch sonst über Verlauf und Inhalt von Herrschaftskonflikten im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bayern gesagt werden kann. Sie als repräsentativ zu bezeichnen, erschwert die ausgeprägte lokale Vielfalt der altdeutschen Verfassungs- und Lebensformen. Eine erste Information zum Selbst- und Herrschaftsverständnis der Ammergauer vermittelt ein Auszug ihres Schreibens an die Landesregierung in München aus dem Jahre 1726: „Und eben dis ist die ursach gewest, daß unser vorfahrer sovill spruch- und freyheitsbrief ausgewirkt, weillen sye vornhinein gesehen, daß, wan man, nit zu ewigen zeiten umb ihre nach lauth brief de anno 1330 jure ingehabte erbrecht und all andre gerechtigkeiten genugsamb aufzulegen hette, ihre nachkommen in kurzer zeit umb all ihr freyheit, recht und gerechtigkeiten gahr balt gebracht werden würden, wie dann eben diesetwegen mit dem loblichen closter und unß in allen saeculis ia gleichsamb allen 40 jahren bestendige strittigkeiten sich eraignet, so ia aus ganz keinem andern absehen beschechen sein kann, als weillen das lobliche closter her und her ohne underlas unser recht, freyheit und gerechtigkeiten müßgohnet und solche gehrn an sich gezochen
Diesen Eindruck gewinnt man beispielsweise noch aus dem neuen Literaturbericht von Tom Scott, Peasant Revolts in Early Modern Germany, in: The Historical Journal 28, 2. 1985 S. 455 – 468. – Bekannt ist lediglich der sogenannte Bayerische Bauernkrieg von 1705/06, der allerdings nicht gegen die eigene Herrschaft, sondern gegen eine Besatzungsmacht ausbrach.
2 Die Tradition des Widerstands im Ammergau
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und aus unseren keyserlich gefreyten gericht gehrn ein pure hofmarch gemacht, sohin freyen gwalt mit dem unsrigen zu disponiren erlangt hette.“¹²
Das Hauptproblem der Ammergauer – so sehen sie es Anfang des 18. Jahrhunderts – war in Vergangenheit und Gegenwart dasselbe: Es ist die endemische Bedrohung, die von der Klosterherrschaft Ettal ausgeht. Alle ihre Vorfahren haben diese Gefahr ihrer Meinung nach erkannt und Vorkehrungen dagegen getroffen. Während aller Jahrhunderte haben ihre Ahnen mit dem Kloster um den Erhalt ihrer Rechte und Freiheiten gestritten und dafür gekämpft, diese an die Nachkommen weiterzugeben, sie urkundlich zu sichern. Die Ammergauer also sind und waren ständig auf der Hut vor dem herrschaftlichen Aggressor, der, wie es an anderer Stelle heißt, nach nichts anderem trachte, als ihre „freyheiten von anfang biß anhero zu hemmen und an sich zu bringen“.¹³ Sie haben eine Jahrhunderte alte Tradition des Widerstandes. Die Tatsache ist ihnen wie auch der Klosterherrschaft bekannt und bewußt, sie beeinflußt zweifellos die Handlungsweisen beider. Muß das Kloster erfahrungsgemäß bei jedem neuen Vorhaben mit Protest rechnen, so sind den Untertanen die Mittel und Wege der Abwehr geläufig. Radikale Aktionen und abrupte Maßnahmen sind daher von keiner Seite zu erwarten. Der häufige Bezug auf die Vergangenheit in der Argumentation der Ammergauer bedeutet kein Zitat des Herkommens im Sinne altrechtlicher Legitimierung. Die Tradition ist hier als Geschichte begriffen, deren Leitmotiv in der stets präsenten Aggressivität des Klosters gesehen wird. Ihre eigene Position ist nach Meinung der Ammergauer die der Defension. Diese Sicht entspricht ihrem Selbstverständnis, das geprägt ist von der alten Vision eines ,,Ammergaus der Ammergauer“, von der Vorstellung der Selbstbestimmung, jener utopischen Grundhaltung, wie sie sich in bäuerlichen Gemeinden häufig findet. Hier wird dieses Ideal mit Argumenten ganz verschiedener Herkunft beschworen und verteidigt: Die Bauernschaft beansprucht eine Art Erstgeburtsrecht im Ammergau. Das Kloster, so stellt man fest, sei seinerzeit „auf dem kayserlich gefreyten gericht Ammergouische grund und poden erpauet worden“, wo es heute noch stände, und nicht auf ettalischem Land. Ihre Vorfahren hätten auf den Gütern gesessen ,,ehe man an ein closter disr ohrten gedenkt“, und sie folgern daher konsequent: „Wir verlangen von dem closter keinen nagl gros zu erhalten, so nit vorhin schon unser gewest oder dato unsr ist“.¹⁴ Eine zweite Quelle des Ammergauer Selbstgefühls sind die Privilegien. Die Gemeinden besitzen tatsächlich einige verbriefte „Rechte, Freiheiten und Gerechtigkeiten“, und solche, die in den vorhandenen Urkunden nicht genannt werden, muß es ihrer Ansicht nach früher jedenfalls gegeben haben; im Ammergau spielt wie andernorts der „keyserlich und ab initio mit guldenen Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (im folgenden zitiert: BayHStA), Zivilakten Faszikel 1452 Nr. 702, II. Replik der vier im Gericht Ammergau gelegenen Gemeinden Oberammergau, Unterammergau, Kohlgrub und Bayersoien, fol. 865 – 930, 882; im Hofrat in München vorgelegt am 17. IX.1726. Ebd., fol. 865’. Ebd., fol. 880, 889’, 918.
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buechstaben auf pergement geschriebene freiheitsbrief“, den alte Männer noch „ablesen hörten“¹⁵, seinen stimulierenden Part für Phantasie und Behauptungswillen. Als weiteres Moment werden Argumentationssplitter des Naturrechts präsentiert: Der Anspruch, in den großen Wäldern des Ammergau „in freier willkür schalten“ zu können¹⁶, oder die Forderung, „in favorem libertatis naturalis dann des freyen handels und wandels“ den Anfeilzwang zu beseitigen¹⁷, haben die alte Grundvorstellung schon in eine neue, zeitgemäße Ideenhülle gekleidet. Die Tradition des Widerstandes und das mit ihr lebendig erhaltene Feindbild stärkten zweifellos die Beziehungen der Genossen untereinander, der Freunde. Die „Wir-Vorstellung“, das Gemeinde- beziehungsweise das Regionalbewußtsein der Ammergauer, ist sehr stark entwickelt. Die Formierung zu einer Partei geschah hier nicht erst angesichts heraufziehender dunkler Streitwolken am politischen Horizont, die Fronten waren abgesteckt und ebenso klar, wie die Defensionsstrategien bekannt; sie wurden bei Bedarf lediglich aktiviert. Ein kurzer Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung und ein ebenso knapper Einblick in die strukturellen Gegebenheiten ermöglichen es, die Voraussetzungen und die Bedingtheit des Widerstandes der Ammergauer zu erkennen.
3 Zur Geschichte des Ammergaus Die Geschichte des Klosters Ettal im Ammergau begann 1330 und endete 1803. Die Geschichte des Ammergaus und der Ammergauer dauert bedeutend länger und begann vor allem früher.¹⁸ Der Ammergau ist als organisatorische Einheit schon um die Mitte des 11. Jahrhunderts nachzuweisen. Seine Grenzen blieben mit Ausnahme der Verschiebung der Südgrenze anläßlich der Gründung Ettals bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts dieselben. Die ganze Talgemeinde umfaßte vier Dörfer und 20 bis 25 Weiler und Einöden. Aus den rund hundert Gehöften um 1300 entwickelten sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gut sechshundert Anwesen.¹⁹ In den frühen Jahrhunderten seines Bestehens war der Ammergau ein geschlossener Gerichts- und Vogteibezirk, eine Pfarrei und ein offenbar ziemlich einheitlicher
Ebd., fol. 917. Ebd., fol. 868’, 870. BayHStA, Zivilakten Faszikel 1452 Nr. 702, I, fol. 314’; 1734. – Anfeilzwang heißt die Verpflichtung der Bauern, Produkte, die sie veräußern wollen, zuerst der Herrschaft zum Kauf anbieten zu müssen. Dieter Albrecht, Die Klostergerichte Benediktbeuren und Ettal (Historischer Atlas von Bayern. Teil Altbayern. Heft 6). München 1953; Jos. Al. Daisenberger, Geschichte des Dorfes Oberammergau, in: Oberbayerisches Archiv 20. 1859/61 S. 53 – 244; M. Luitraud Ober, Kohlgrub. Eine Ortsgeschichte. St. Ottilien 1956. Johann Baptist Prechtl, Chronik des Dorfes Unterammergau. 2 Bde., Handschrift im Stadtarchiv München, Historischer Verein N 151. Die Aussagen zur Frühgeschichte des Ammergaus werde ich in meiner Arbeit „Bauern-Courage“, Bäuerlicher Widerstand in Altbayern, belegen. – R.B. 2016: Der Text existiert nur als Manuskript. Vgl. daher Albrecht, Klostergericht Ettal (wie Anm. 18) S. 28 – 35.
3 Zur Geschichte des Ammergaus
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Grundherrschaftsbereich. Damals wie in allen späteren Jahrhunderten kam dem Dorf Oberammergau eine zentralörtliche Funktion zu, hier stand die erste Pfarrkirche, hier wurde an der Schranne Recht gesprochen und hier lag der einzige Ammergauer Meierhof. Die Herrschaft über das Tal nahmen nacheinander die hochadeligen Geschlechter der Welfen, der Staufer und der Wittelsbacher wahr, doch residierten ihre Vögte und Amtleute niemals vor Ort. Es gab im Ammergau keinen Herrensitz und keine Burg. Die organisatorische Geschlossenheit und das Machtvakuum, das die fehlende Präsenz eines Herrn faktisch bedeutete, begünstigten die genossenschaftliche Autonomie der bäuerlichen Einwohner. Diese entschieden und erledigten selbständig, was an alltäglichen Geschäften im Ammergau anfiel. Ungestört von herrschaftlicher Konkurrenz nutzten sie gemeinsam die Ressourcen Wald, Weide und Wasser – was in einem Viehzuchtgebiet von existenzieller Bedeutung war. Größere Anforderungen an ihre Arbeitskraft und ihre Arbeitszeit von Seiten der Herrschaft entfielen naheliegenderweise ebenfalls, die Fronen beschränkten sich auf wenige Tage in der Heuernte. Der Ammergau war ordnungsgemäß in das Feudalsystem eingegliedert. Da aber in der Praxis jener Zeit effektive Herrschaftsübung an persönliche Präsenz gebunden war, ging man hier nicht tief gebeugt unter dem Joch des Herrn, sondern genoß am langen Zügel reichliche Bewegungsfreiheit. Weil die Gründung eines Klosters im Spätmittelalter nicht nur die Stiftung einer Gebetsgemeinschaft bedeutete, sondern auch die Errichtung einer Herrschaft, alarmierte die Absicht Kaiser Ludwigs des Bayern, auf dem Boden des Ammergau ein Ritterstift und Benediktinerkloster zu erbauen, die betroffene Bauernschaft. Sie bestimmte Abgeordnete aus ihrer Mitte, sandte sie an den Kaiserhof nach München und erreichte die grundlegende Absicherung ihres Status mittels zweier Urkunden.²⁰ Ludwig garantierte am Georgentag des Jahres 1330 der Bauernschaft, also nicht einzelnen Personen, sondern der Genossenschaft, daß sie auch fortan ihre Güter zu Erbrecht besitzen solle, und er erließ ihr, und damit allen Ammergauern, ,,zu seinem Seelenheil“ die Todfallabgabe. Die beiden Schriftstücke bestätigten die überwiegende Kompetenz der bäuerlichen Besitzer in Hinsicht auf Grund und Boden im Ammergau – Erbrecht umfaßte die Möglichkeit zum Verkauf, zur Teilung, zur Vererbung der Güter und das Verbot einer Abgabensteigerung durch den Grundherrn – und sie festigten zum andern den günstigen persönlichen Status der Ammergauer, da die Befreiung von der Todfallabgabe außer der wirtschaftlichen Erleichterung auch die Beseitigung eines Symbols der Hörigkeit darstellte. Für die Region waren die Dokumente Teil ihrer Verfassung. Sie waren die „Geburtsscheine“ der Bauernschaft im Ammergau; sie bedeuteten die offizielle Anerkennung der bäuerlichen Genossenschaft in der damals potentesten Form, der Kaiserurkunde, und sie fixierten den Charakter der Bauernschaft als einer Territorial-Genossenschaft: Die Bestimmungen galten nur innerhalb des geographischen Raumes Ammergau, ihre Effekte konnten nicht exportiert werden.
Die Erbrechtsgarantie in: Monumenta Boica. Bd. 7. München 1766 S. 232 f. Zur Todfallbefreiung vgl. BayHStA, Klosterurkunden Ettal 292; 1530 XI. 23. (als Insert). Der Georgentag ist der 23. April.
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Die Tradition des Widerstandes im Ammergau
Sie schotteten das Gebiet gegenüber der Außenwelt ab und sie veränderten den Inhalt von Herrschaft, die vertikalen Stränge; denn die Etablierung der Genossenschaft bedeutete den Einschub einer Zwischeninstanz in die direkte Linie Herr – Untertan. In dieser Situation erfolgte der Herrschaftswechsel. Ludwig der Bayer legte am 28. April 1330 den Grundstein zu seinem Kloster²¹ und überließ diesem seine Befugnisse als Grund-, Gerichts- und Vogtherr im Ammergau. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts setzten die ettalischen Expansionsbestrebungen ein. Die Ammergauer begannen die Nähe und Gegenwart des Herrn zu spüren. Das Kloster trat zunächst als Konkurrent an den wirtschaftlichen Ressourcen Wald, Weide,Wasser und Steinbrüche in Erscheinung, knüpfte das Netz seiner Verwaltung und Aufsicht enger und ging dann dazu über, Herrschaftsrechte wirtschaftlich effizienter zu nutzen. Die Gegenwehr der Bauernschaft hatte zur Folge, daß aus der Geschichte des Herrschaftsverhältnisses auf weite Strecken die Geschichte des Herrschaftskonflikts wurde. Die Genossenschaft der Ammergauer nannte sich selbst bis ins 16. Jahrhundert die „Bauernschaft im Ammergau“, obwohl die wenigsten ihrer Mitglieder Bauern im Sinne von hauptberuflichen Landwirten waren. Es liegt hier der weite ständische Bauernbegriff Alteuropas zu Grunde, dessen formalrechtliches Minimum das eigene Haus, im Ammergau sogar nur der eigene Herd war. Die Ammergauer Erbrechtler praktizierten die Realteilung. Der Umfang ihrer Anwesen wurde im Laufe der Jahrhunderte immer geringer. Die ursprünglich zwölf Oberammergauer Gehöfte und ihr Grund und Boden beispielsweise waren im 18. Jahrhundert in 164 Anwesen und Besitzteile aufgespalten.²² Doch stellte dieser Kleinbesitz nach wie vor den Grundstock für den Unterhalt einer Ammergauer Familie dar, zumal er den Zugang zur Nutzung der sehr umfangreichen Ammergauer Allmende eröffnete. Die stabile, wenn auch alles andere als konfliktlose, Ammergauer Genossenschaft verkraftete nicht nur die starke ökonomische und soziale Differenzierung ihrer einzelnen Genossen, sondern ebenso ihre Aufgliederung in vier Untergemeinden: die Dorfgemeinde Oberammergau und die Gebietsgemeinden Unterammergau, Kohlgrub und Bayersoien.²³ Diese vier Gemeinden besaßen die üblichen Organe der ländlichen Kommunen im Alten Reich. Die Gesamtgemeinde hingegen, die Genossenschaft des ganzen Tales, die als Bauernschaft im Ammergau einen anerkannten Teil der Regionalverfassung darstellte und der Träger aller Herrschaftskonflikte war, bildete niemals Institutionen oder Organe aus, die über den Zeitraum eines solchen Streites fortbestanden hätten. Sie blieb von Tendenzen der Verdinglichung und Versachlichung unberührt und in hohem Maße ideel und emotional verankert.
Friedrich Bock, Die Gründung des Klosters Ettal. Ein quellenkritischer Beitrag zur Geschichte Ludwigs des Bayern, in: Oberbayerisches Archiv 66. 1929 S. 1– 116; Festschrift zum Ettaler Doppeljubiläum 1980 (Sondernummer des Jahrgangs 59/32 des „Ettaler Mandl“). Ettal 1981. Daisenberger, Oberammergau (wie Anm. 18) S. 188. Albrecht, Klostergericht Ettal (wie Anm. 18) S. 39 f. BayHStA, Klosterurkunden Ettal, 1444 III.6. Druck: Monumenta Boica (wie Anm. 20), S. 286.
4 Die Teilung der Gewalt in der alten Ordnung
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Der Auszug aus der Geschichte ergänzt und erläutert die Äußerungen der Ammergauer über ihre Situation und ihr Verhältnis zu Ettal, wie sie vom Anfang des 18. Jahrhunderts überliefert sind. Die lebendige Tradition des Widerstandes bewirkte, daß ein Vorgang wie die Klostergründung vierhundert Jahre lang im Bewußtsein der Ammergauer nichts an Aktualität einbüßte und keine Chance hatte, als Herkommen unhinterfragbar zu werden. Wie der Blick in die Geschichte dient auch der Verweis auf die strukturelle Organisation und Aufteilung der Macht dem Verständnis der Ammergauer Herrschaftskonflikte.
4 Die Teilung der Gewalt in der alten Ordnung Formen des Widerstandes reflektieren Formen von Herrschaft. Die Verteilung von Macht und Autonomie war in der alten deutschen Gesellschaft anders gelagert als in der Gegenwart. Es gab weder den nach außen souveränen Staat mit dem Gewaltmonopol im Innern, noch das Individuum als Autonomieträger, die beiden Ecksteine unserer ideellen und realen Staatskonstruktion. Macht und Autonomie waren portioniert und sodann – durchaus hierarchisch sortiert. Für den Ammergau stellte sich die Aufteilung während der 450jährigen Ettaler Herrschaft folgendermaßen dar: Reich Land Herrschaft Bauernschaft Gemeinde Haus
Kaiser Landesherr, Herzog/Kurfürst von Bayern Nahe Obrigkeit, Kloster Ettal Talgemeinde Ammergau Dorfgemeinde Oberammgau Hausvater
Jede Etappe der Reihe vom Haus zum Reich markierte einen Ort, wo es autochthones Recht gab und wo legal Gewalt geübt wurde; vollkommen oder absolut war keiner, jeder wurde durch die vor- und nachgeordnete Instanz eingeschränkt. Der Autonomiebereich der je minderen Ebene erlosch nicht durch die Integration in die größere Einheit. Das ist einer der grundsätzlichen Unterschiede zwischen der vergangenen und der gegenwärtigen staatlichen Ordnung. Einen zweiten deutet die ungebrochene Abfolge vom Haus zum Reich an: Die Herrschaft, die der Hausvater übte, stand in einer Reihe mit der des Kaisers, sie waren nicht kategorial geschieden. Noch immer nämlich enthielten die „privaten“ Herrenrechte gewichtige Restposten an „öffentlichrechtlicher“ Gewalt. Hoheitliche, obrigkeitliche Kompetenzen waren von privaten ebenso unvollständig getrennt wie der Staat von der Gesellschaft. Die deutliche Vergegenwärtigung der Gewalt-Aufteilung in der alten Ordnung gibt Anstoß zu einer weiteren Überlegung. Sie läßt Zweifel aufkommen an der sakrosankten Doktrin von der allgegenwärtigen Dichotomie Herr – Untertan und setzt diese dem Verdacht allzu ungebrochener modernstaatlicher Perspektive aus. Sehr wahrscheinlich gehörte zum Beispiel eine klare Demarkationsline zwischen „die da
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oben“ und „wir hier unten“ nicht zu den Grundvorstellungen eines Ammergauers. Er dividierte die Obrigkeit und unterschied genau zwischen der Herrschaft des Ettaler Abtes und der des bayerischen Landesherrn, das „Pfaffengeschaff“ mißachtete oder ertrug er, den „kurfürstlichen Befehl“ akzeptierte er.²⁴ Die politische Identität des Ammergauers dürfte zudem in gleicher Weise wie durch die beiden Vorgaben Standeszugehörigkeit und Untertanenstatus, von seinen Bindungen an die Region Ammergau, an den konkreten geographisch-historischen Raum, bestimmt gewesen sein. Er verstand sich zunächst als Bewohner des Ammergaus und Bayerns, erst danach als Untertan des Abtes von Ettal und des Herzogs von Bayern. Diese verdinglichten Bindungen an die Heimat bildeten einen Schwerpunkt bei seiner politischen Selbstverortung, und dieser war außerhalb der Herrschaftsbezüge angesiedelt. Als politischer Faktor äußerte sich das Heimat-Gefühl im Anspruch auf regionale Kompetenz, auf Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für den Raum Ammergau. Er verlieh der bäuerlichen oppositionellen Haltung gelegentlich den egalitären Anschein von Konkurrenzgebaren, von einer gegnerischen Position auf horizontaler nicht auf vertikaler Ebene.
5 Der Widerstand der Ammergauer Phänomenologie Politischer Widerstand ist per Definition von unten nach oben gerichtetes Handeln. Er äußert sich in Ablehnung und Verweigerung. Der Begriff setzt eine asymmetrische Herrschaftsordnung voraus. Er bezeichnet nur Aktionen des Beherrschten gegen die eigene Herrschaft.²⁵ Die genannten Merkmale erlauben es ohne weiteres, die Proteste der Ammergauer mit dem Wort Widerstand zu kennzeichnen. Da diese sehr offene Umschreibung aber in Hinblick auf totalitäre Regime entwickelt wurde, und hier Herrschaftskonflikte in einem autoritären – also „weicheren“ – System untersucht werden, ist es notwendig, auf einen grundsätzlichen Einwand einzugehen, der gegen die Klassifizierung der Bauernproteste als Widerstand, als Auflehnung oder Erhebung vorgebracht wird.²⁶ Er knüpft an den Umstand an, daß die Mehrzahl der Auseinandersetzungen im Ancien
Diese Gegenüberstellung stammt aus bäuerlichem Mund. BayHStA, Zivilakten Faszikel 1452 Nr. 702, II, fol. 511. Kommissionsprotokoll vom 11. VIII. 1728. Die Merkmalsbeschreibung schließt an die Ausführungen Hüttenbergers an. Peter Hüttenberger, Vorüberlegungen zum „Widerstandsbegriff“, in: Theorien in der Praxis des Historikers. Hg. Jürgen Kocka (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 3). Göttingen 1977 S. 117– 139. Derartige Bedenken werden regelmäßig in Diskussionsvoten vorgetragen.Vgl. etwa die Äußerungen von Dieter Grimm und Diethelm Klippel in: Günter Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Göttingen 1981 S. 536 und die Einwürfe Roland Mousniers in: Mouvements populaires et conscience sociale. XVIe – XIXe siècles. Paris 1985 S. 69.
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Régime auch auf gerichtlichem Wege geführt wurde: das aber sei Rechtswahrung und kein Widerstand. Oder allgemeiner, die Benutzung obrigkeitlicher Einrichtungen zum Konfliktaustrag zeige das Funktionieren des Gemeinwesens, sei normal, könne nicht als Widerstand gegen die Herrschaft aufgefaßt werden, sondern drücke Akzeptanz aus und wirke zudem herrschaftsstabilisierend. Dem zweifelsohne gewichtigen Vorbehalt kann in gebotener Kürze auf mehreren Ebenen der Argumentation begegnet werden. Ein Gegensatz zwischen Recht und Widerstand läßt sich auf rechtsphilosophischer Ebene nicht aufrechterhalten, wenn das Wesen des Rechts im Widerstand gegen Unrecht gesehen werden kann,²⁷ und nur wahrgenommenes, gehandhabtes Recht tatsächlich Recht ist. Die Behauptung, der Protestweg über die Gerichte unterscheide sich grundsätzlich von anderen Arten der Widerstandsäußerung, geht in Hinblick auf die Rechtswahrung offensichtlich von den Zuständen im Rechtsstaat aus. Dieser existiert aber in Deutschland erst seit dem 19. Jahrhundert; im Ancien Régime gab es Gleichheit weder im Rechtsstand noch bei der Rechtswahrnehmung. Als pragmatisches Gegenargument kommt die Praxis der Herrschaftskonflikte hinzu. Im Ammergau wie überall wird nämlich die säuberliche Scheidung zwischen gerichtlichem und außerrechtlichem Vorgehen, zwischen legalem und illegalem, zwischen gewaltlosem und gewaltsamen Handeln laufend mißachtet. Nichtsdestoweniger erbringt die Addition der vielen buntfarbigen Protestformen als Ergebnis immer dieselbe Mischfarbe – Widerstand. Ein Prozeß kanalisiert den Protest – ohne Frage –, aber er verleiht ihm auch Fasson und damit Stabilität. Er stützt und stärkt die Gesamttatsache Widerstand. Aufgrund dieser Überlegungen werden die Herrschaftskonflikte im Ammergau als Äußerungen von Widerstand verstanden. Ein solcher Herrschaftskonflikt war eine Auseinandersetzung zwischen einer Untertanenschaft und ihrer nahen Obrigkeit. Nicht der Holde und der Herr schlechthin waren die Gegner, sondern die Gemeinschaft der Holden und eine bestimmte Art von Herrschaft, der „direkte“ Herr. Zwischen diesen beiden, auf der Skala der geteilten Gewalt benachbart plazierten Gruppierungen, verlief die Bebenzone der Feudalordnung, und wenn Spannungen und Erschütterungen zu heftig wurden, dann brach regelmäßig hier an dieser Stelle, ein Graben im System auf. Das war sowohl in der Konzentration der Herrenrechte bei der nahen Obrigkeit begründet, als auch in der Pufferfunktion der Untertanengemeinde und in dem relativ ebenbürtigen Kräftehaushalt der Gegner. Die Bauernschaft im Ammergau und der Abt des Klosters Ettal standen daher als Konfliktparteien in dieser Gesellschaftsordnung durchaus auf repräsentativen Posten. Ebenso typisch war die Position des bayerischen Landesherrn. Sie wurde von zwei Momenten bestimmt, nämlich dem hohen Rang des Herzogs – er war beiden Gegnern, Abt und Bauernschaft, übergeordnet – und von seiner „Neutralität“ – er war der außenstehende Dritte, funktional gesehen sowohl die Öffentlichkeit als auch der Schlichter oder Richter.
Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel. Stationen eines Weges. Köln 21984 S. 256.
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Die Reihe der Konflikte zwischen der Bauernschaft im Ammergau und der Klosterherrschaft Ettal eröffnete eine radikale Maßnahme der Bauern im Jahre 1352. Die Ammergauer kündigten das Herrschaftsverhältnis auf, sie sagten sich von Ettal los, beschworen eine Einung mit den Bürgern der benachbarten Stadt Schongau und unterstellten sich mit „diensten und mit allen sachen“ dem Adeligen Peter von Hohenegg. Eine Krise in Ettal, durch den Tod Ludwigs des Bayern hervorgerufen, hatte diesen riskanten Schritt ermöglicht und verhinderte auch effektive klösterliche Gegenaktionen. Daß der Abfall der Ammergauer dennoch rückgängig gemacht wurde, war nur dem Eingreifen des bayerischen Landesherrn zu verdanken. Er befahl der „gantzen gemain, die in dem tal zeu Ammergau gesezzen“, unter Strafandrohung „an leib und an gut“ in Zukunft unter der Herrschaft des Abtes von Ettal zu bleiben.²⁸ Die Gebotsgewalt des Herzogs und seine Zwangsmittel reichten hin, um den Vollzug seiner Befehle durchzusetzen. Die Verweigerung der Herbststeuer des Jahres 1392 dürfte den Beginn einer längeren Konfliktphase markieren²⁹, die etwa zwanzig Jahre währte, bis zur Absetzung Abt Konrad Düringfelds 1413. Diese Zeit war im ganzen westlichen Bayern von Unruhe erfüllt, auch die Bauerngemeinden der benachbarten Klöster Rottenbuch und Steingaden befanden sich damals in Auseinandersetzung mit ihren Pröpsten, im angrenzenden Schwaben rund um den Bodensee erhoben die Bauern im Appenzeller Krieg die Waffen. In Bayern war der Landesherr präsent: Er empfahl Herren und Holden unermüdlich seine Vermittlung und seine Gerichte, war ansprechbar für jedermann. Aus dieser Phase datiert einer der großen, später so hochgeschätzten Freiheitsbriefe der Ammergauer, der herzogliche Spruchbrief von 1405.³⁰ Abt und Bauernschaft hatten sich auf die Herzöge Ernst und Wilhelm samt ihren Räten als Schiedsleute geeinigt und ihnen den Streit vorgetragen. Das Schiedsurteil wirkt wie eine Rekapitulation des Verfassungszustandes im Ammergau. Es enthält Regelungen für alle wichtigen Bereiche der Ammergau – Ettaler Beziehungen. Den Detailbestimmungen wird außer dem üblichen Freundschafts- und Friedensgebot eine Globaldefinition des Herrschaftsverhältnisses vorangestellt. Abt und Konvent sollen der Bauernschaft „gnädig Herrn“ sein, diese dem Kloster dagegen „unterthan und gehorsam“. Das ist eine Version der Vorstellung von „Schutz und Schirm – Rat und Hilfe“, die damals in Bayern verbreitet war, auch die adeligen Landstände schworen den Herzögen „undertenig und gewertig“ zu sein.³¹ Die Überlieferung zu den Konflikten um die Mitte des 15. Jahrhunderts ist zu sporadisch, um eine Aussage über die Dauer einer Konfliktphase machen zu können. 1432 beendete Herzog Ernst den alten Streit der Oberammergauer mit Kloster Ettal über die gemeinsame Weidegrenze, indem er höchstpersönlich auf die Wiese ritt und BayHStA, Klosterurkunden Ettal 1352 XI.24. BayHStA, Klosterurkunden Ettal 1393 II.10. Druck: Monumenta Boica (wie Anm. 20), S. 268 f. BayHStA, Klosterurkunden Ettal 1405 XII.5. Druck: Monumenta Boica (wie Anm. 20), S. 269 – 272. So im 24. Freibrief der Stände aus dem Jahre 1403. Gustav Frh. v. Lerchenfeld (Hg.), Die altbairischen landständischen Freibriefe. München 1853 S. 55 – 58.
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dort die Marken setzte, wo fortan ein Hag die Weidegebiete scheiden sollte.³² 1444 gelang es, kurz vor der bereits anberaumten herzoglichen Tagsatzung, nachbarlichen Schlichtern, die Bauernschaft und das Kloster zu einem Vergleich zu bewegen. Die Abmachungen lassen auf eine starke Stellung der Bauernschaft schließen. Der Abt verzichtete nämlich nicht nur auf das sonst übliche Vorkaufsrecht des Herrn an den Leiherechten seiner Untertanen, sondern er wurde generell aus dem Kreise möglicher Käufer von Ammergauer Erbrechtgütern ausgeschlossen.³³ 1451 zwangen einige Ammergauer mit herzoglicher Rückendeckung den Ettaler Abt und seinen höchsten Beamten, den Pfleger und Richter – er war ein Schwager des Abtes – zur Flucht.³⁴ Eine umfassende Auseinandersetzung zwischen der Bauernschaft und der Klosterherrschaft fand zu Beginn des 16. Jahrhunderts statt. Aus den Jahren 1503 und 1507 datieren Schiedsurteile der landesherrlichen Räte, die die Grundsätzlichkeit und Breite des Konfliktes erkennen lassen.³⁵ Die Mechanismen der Streitbeilegung waren auf den ersten Blick dieselben wie vor hundert Jahren. Aber die grundlegenden Veränderungen im zwischenmenschlichen Umgang kündeten sich in der stark vermehrten Schriftlichkeit bei den Verfahren und im Einrücken der Regierung in die Position des Herzogs an. An die Stelle der Nähe und Direktheit des gesprochenen Wortes und der Begegnung von Angesicht zu Angesicht schob sich die Distanz und trat die Abstraktion. Im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts beschränkten sich die Konflikte zwischen den vier Gemeinden des Ammergaus und der Klosterherrschaft auf die Auseinandersetzung über einzelne Gegenstände und Maßnahmen, weiteten sich aber nicht auf die gesamte Herrschaftsbeziehung aus. Als der Abt von Ettal 1527 bis 1530 vom Propst des Nachbarstiftes Rottenbuch die Respektierung der Ammergauer Todfallbefreiung beim Hofgericht einklagte, schloß sich die Bauernschaft ihrem Herrn an, da sie es für unerträglich hielt, in diesem Streit um ihre Freiheit nicht selbst aktiv zu werden.³⁶ Zwischen 1557 und 1561 stritten die Ammergauer mit Ettal wegen der Unterhaltspflicht der großen Straße, 1560 außerdem über das Holzschlagrecht im Grenzgebiet.³⁷ 1615 hatte sich die Gemeinde Oberammergau gegen die Klage der Rebellion beim landesherrlichen Hofrat zu verteidigen.³⁸
BayHStA, Klosterurkunden Ettal 1432 V. 12. BayHStA, Klosterurkunden Ettal 1444 III.6. Druck: Monumenta Boica (wie Anm. 20), S. 286. Vgl. dazu BayHStA, Klosterurkunden Ettal 1452 V.3., VII.25., XI.17.; 1454 VI.22.; 1456 III.19.; 1458 VII.31.; 1459 VII.12., IX.6. Monumenta Boica (wie Anm. 20), S. 313 – 319; 1503 IV.24. und 319 – 321; 1507 XII.17. BayHStA, Klosterurkunden Ettal 1527 X. 23. und Nr. 292, 1530 XI.23. BayHStA, Klosterurkunden Ettal 1560 V.6.; Nr. 338, 1558 V.9.; BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv Nr. 4092, fol. 228 – 230’. BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1116, fol. ad 4’ – 5’.
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Gleich nach dem Dreißigjährigen Krieg begann im Ammergau die längste Konfliktepoche.³⁹ Sie dauerte bis 1684 ohne Unterbrechung über drei Jahrzehnte, zog sich über die Regierungszeit von vier Ettaler Prälaten und drei Münchner Kurfürsten hin und brachte im Ammergau das sukzessive Einrücken einer ganzen neuen Generation in die Rolle von Konfliktträgern. Das Grundmuster des Austrags war unverändert: Die Untertanen wandten sich an die Landesherrschaft, zahlreiche gerichtliche Verfahren und Schlichtungsversuche, Verweigerungen und spektakuläre Aktionen liefen nebeneinander her. Konfliktgegenstände waren zentrale Institutionen der regionalen Verfassung, wie die Besitz- und Eigentumsverhältnisse an den Gütern und an der Allmende, die persönliche Freiheit der Untertanen, die Gewerbefreiheit, das Gericht, der Zuständigkeitsbereich der Gemeinde, aber auch die alten Streitfragen über die Fischerei, den Straßenbau u. a. Im Herbst 1724 traten die Streitigkeiten zwischen den Ammergauern und der Klosterherrschaft mit dem Einreichen einer Klageschrift in 15 Punkten abermals in ein „manifestes“ Stadium. Der Konflikt zog sich über zwei Jahrzehnte bis 1747 hin. Er wurde in den bekannten Formen – rechtlich, gütlich, tätlich – und mit den thematischen Zentren Güterrecht, Allmende und Gewerbe geführt.⁴⁰ Es lassen sich demnach fünf längerwährende Konfliktphasen von fünf bis über dreißig Jahren Dauer feststellen – um 1400, um 1450, um 1500, um 1650 bis 1684 und von 1724 bis 1747 –, während der die Grundlagen der regionalen sozialen und politischen Ordnung umstritten waren. Ein Abfall von der Herrschaft, ein radikaler Schritt wie 1352, wiederholte sich nicht. Der Einbezug des Landesherrn unterband fortan eine isolierte Konfrontation von Bauernschaft und Klosterherrschaft. Die Initiative hierzu ging nach 1400 überwiegend von den Ammergauern aus. Ihre Abgeordneten trugen den Herzögen und Räten die Beschwerden der Gemeinden vor und lösten damit die bis ins 18. Jahrhundert immer gleichbleibende Reaktion aus. Die Regierung nahm formal das Heft in die Hand und forderte den Beklagten zur Stellungnahme auf. Auf diese Weise wurde der Hauptstrom des Widerstandes aus dem Regelbereich der Tat in den des Wortes gelenkt, er folgte nun den hier geltenden Gesetzmäßigkeiten und nutzte die vorgebahnten Wege der gewöhnlichen Schieds- und Gerichtsverfahren zum Transport politischer Inhalte und zur Beilegung politischer Konflikte. In dem Befriedigungssystem ist dem Faktor Zeit ein wirkungsvoller Part zugewiesen; denn die Schlichtungs- und Gerichtsverfahren erfolgten überlicherweise nicht sofort, sondern „später“, zu bestimmten Terminen, an mehreren Terminen, und sie zogen sich hin. Die Dauer wurde durch sie ein Merkmal der Auseinandersetzungen. Die Dauer lehrte die Ammergauer die vielzitierte „Hartnäckigkeit“, und sie stellte hohe Anforderungen an das strategische Vermögen der Gemeinden, da sowohl Ermüdungserscheinungen und Auflösungstendenzen in den eigenen Reihen als auch gegnerischen Angriffen von außen begegnet werden mußte. Die Herrschaft erstrebte die Spaltung der Gemein-
Dazu vor allem BayHStA, Klosterliteralien Ettal Nr. 45 und Klosterurkunden Ettal Nr. 554, 1684 IX.15. BayHStA, Zivilakten Faszikel 1452 Nr. 702, I, II, III.
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schaft, indem sie Einzelnen und Gruppen Sonderbehandlung mit Drohungen und Versprechungen, mit Gewalt und Begünstigung zuteilwerden ließ. Das Sicheinlassen auf den Streit mit Worten und in Verhandlungen verlangte von den Bauern das Überdenken der eigenen Situation und die Umsetzung von komplexen Sachverhalten in Begriffe und Argumente. Es zwang sie, sich mit den Ansichten und der Denkweise der Herrschaft und der Landesregierung auseinanderzusetzen. Im Gegenzug konfrontierte es allerdings Obrigkeit und Zentrale auch mit den Verhältnissen und Meinungen der Untertanen. Die Herrschaftskonflikte beförderten den Austausch von Informationen und die Anbindung an die großen Zeitströmungen. Die Ammergauer waren in der Lage, noch die Auseinandersetzungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts allein und ohne juristischen Beistand durchzuführen. Ihre gewählten Bevollmächtigten setzten die Klageschrift selbst auf, verlasen sie in den Dörfern, um die Zustimmung der Bauernschaft zu erlangen, sandten sie an den Hofrat nach München und sorgten für den weiteren Fortgang des Verfahrens.⁴¹ Aber auch die vielen Prozesse, die die Gemeinden – nun als litis consortium – im 17. und 18. Jahrhundert anstrengten, waren mehr von der Aktivität und dem Sachverstand der Bauernvertreter abhängig als von der Findigkeit der ohnehin häufig wechselnden Advokaten. Der Form nach waren die Streitverhandlungen zwischen den Ammergauern und der Klosterherrschaft bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts Schiedsverfahren, die des 17. und 18. Jahrhunderts Gerichtsverfahren – nach einer summarischen Prozeßordnung – mit zusätzlichen Vergleichs- und Schlichtungsverhandlungen. Aus jeder der längeren Konfliktphasen existiert ein großer Schiedsspruch oder Vertrag über die zentralen Streitpunkte (1405, 1444, 1503/07, 1684, 1729). Das bedeutet, nicht die gerichtlichen, sondern die gütlichen Verfahren, nicht das strenge Recht, sondern die abwägende Billigkeit stellten offenbar die geeigneteren Mittel und Wege zur Konfliktregulierung bereit. Trotz der dominierenden Rolle der Streitverhandlungen bei den Auseinandersetzungen zwischen Kloster und Gemeinden (Bauernschaft), blieb der Widerstand der Ammergauer immer ein Unternehmen in Wort und Tat. Das ist in einer Gesellschaft, die ihre Vorstellungen mit Vorzug in Gesten und Symbolen ausdrückt, selbstverständlich. Zwar war das praktische und konkrete Ziel, dem Gegner Schaden zuzufügen, indem man die Fronen verweigerte und das Ettaler Heu auf den Wiesen verfaulen ließ oder indem man das „liederliche braune Bier“ des Klosters boykottierte und diesem dadurch große Einnahmeverluste zufügte, keineswegs bedeutungslos, aber der Symbolwert der Aktionen kam dem strategischen Nutzen sicherlich gleich. Die Fronverweigerung und der Bierboykott verkündeten die Geschlossenheit der bäuerlichen Front und die Ablehnung der Klosterherrschaft; letzteres wurde noch deutlicher akzentuiert und symbolisch demonstriert, wenn die vier Gemeinden gleichzeitig beschlossen, statt des Klosterbieres nur noch Bier des Landesherrn zu trinken. Ähn-
BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv Nr. 4092, fol. 72– 75’.
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lich wurde die Rechtsbehauptung, Wald und Wasser im Ammergau gehörten nur der Bauernschaft, von den Bauern mit symbolischen Handlungen und demonstrativen Gesten ausgedrückt. Sie hackten aus den gefällten Baumstämmen im Walde die Klostermarken heraus und ersetzten sie durch ihre Gemeindezeichen, sie fischten trotz aller Verbote und Strafen in allen Jahrhunderten in den Gewässern des Ammergaus. Auch das moderne Protestmittel der Demonstration war den bayerischen Bauern geläufig. Die Ammergauer zogen 1728 über einhundert Mann stark nach München, demonstrierten vor Regierung und Kurfürst und überreichten ihre Supplik.⁴² Die meisten bäuerlichen Widerstandshandlungen lassen sich als Gehorsamsund Leistungsverweigerung oder als Verhinderung obrigkeitlicher Maßnahmen – etwa von Inventuren oder Gefangenenabtransporten – beschreiben, wobei allerdings für das Mittelalter die Überlieferung so schmal ist, daß sich Zeugnisse wie der große Urfehdebrief der Unterammergauer von 1412⁴³ oder die Nachricht vom „spann des überlaufens“, mit dem die Ammergauer den Abt zu Beginn des 16. Jahrhunderts behelligten, einer näheren Deutung entziehen.⁴⁴
Konfliktgegenstände Die Ammergauer würden, so bemerkten die Hofräte in München Mitte des 18. Jahrhunderts, seit Jahrhunderten mit dem Kloster streiten, und zwar immer „yber vast nembliche puncta“.⁴⁵ Das trifft rein äußerlich tatsächlich zu. Es ging immer um Fragen aus den Bereichen Erbrecht, Allmende, Fischfang, Gericht, in der Neuzeit auch Personenstand und Gewerbefreiheit. Im Rahmen dieser knappen Darstellung können allerdings nur einige wenige von diesen Problemen angesprochen und diese nur sehr verkürzt erörtert werden. Das Erbrecht bildete die Basis und das Zentrum der Ammergauer Selbstachtung. Der kaiserliche Erbrechtsbrief von 1330, den sie sich selbstverständlich immer wieder konfirmieren ließ, nährte in der Bauernschaft die Vorstellung besonderer Privilegierung und Freiheit. Durch seine genossenschaftliche und territoriale Geltung unterschied sich das Ammergauer vom üblichen bayerischen Erbrecht, das ja an sich schon als die dem Bauern vorteilhafteste Leiheform im System der Grundherrschaft gilt. In allen fünf längeren Konfliktphasen spielte der Kampf um das Erbrecht eine große Rolle, da das Kloster immer wieder versuchte, in diesen Kernbereich der genossenschaftlichen Autonomie einzudringen. 1405 gelang es Ettal, einen Kontrollmechanismus zu etablieren, als im herzoglichen Schiedsspruch die Pflicht der Erbrechtler zum regelmäßigen Besuch des klösterlichen Baudings fixiert wurde. Hingegen BayHStA, Zivilakten Faszikel 1452 Nr. 702, I, fol. 408. BayHStA, Klosterurkunden Ettal 1412 III. 23. Monumenta Boica (wie Anm. 20), S. 316. BayHStA, Zivilakten Faszikel 1452 Nr. 702, I, fol. 358’. Relation eines Hofrats vom 3. II. 1741, fol. 358 – 364.
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dürfte der Vertrag von 1444 den Höhepunkt der bäuerlich-genossenschaftlichen Machtstellung anzeigen, da damals der Abt aus der Reihe möglicher Erbrechtskäufer ausgeschlossen wurde. Die Auseinandersetzungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts, sowie die im 17. und 18. Jahrhundert gingen ursächlich auf die Verletzung dieser Vertragsbestimmung zurück. „Um unser erb zu retten“, entschloß sich die Bauernschaft 1499 zur Klage, wie Heinz Schmid aus Oberammergau an Herzog Albrecht schrieb.⁴⁶ Das Kloster hatte in den späten 90er Jahren des 15. Jahrhunderts das Erbrecht einiger Anwesen gekauft. Als Erbrechtsaufkäufer im großen Stil trat die Herrschaft erst nach dem Dreißigjährigen Krieg in Erscheinung. Trotz der sogleich einsetzenden Beschwerden und Prozesse ging der Ausverkauf jedoch weiter. Die Genossenschaft focht hier einen tragischen Kampf; denn wenn ein Ammergauer sein Erbrecht an Ettal verkaufte, tat er es, weil er keine andere Wahl mehr hatte. Alle Erbrechtsverkäufer waren beim Kloster hoch verschuldet, und dieses war der einzige unter allen möglichen Käufern, der es sich leisten konnte, den Veräußerer weiterhin auf seinem Gut hausen zu lassen. Ettal erwarb das Erbrecht und gab dem früheren Besitzer das Gut zu einem minderen Besitzrecht, zu Leibrecht oder Freistift und mit gesteigerten Abgabenpflichten wieder zurück. Jeder andere Käufer hätte das Gut zur eigenen Nutzung erworben. Die Einsicht in die Hoffnungslosigkeit dieser Situation führte jedoch nicht zur Resignation, sondern vertiefte den Graben zu Ettal, dessen Prälaten nach Ansicht der Ammergauer „allain das closter zu beraichen, (sie) […] aber zu erarmben“ suchten.⁴⁷ Die Auseinandersetzungen um den Holzbezug, die Weide, die Gemeindewälder, die Fischgewässer und die Steinbrüche erfolgten zur gleichen Zeit wie die Erbrechtskonflikte, aber sie verliefen nicht derart einsinnig defensiv, weil ihnen offene Rechtsverhältnisse zu Grunde lagen. War nämlich die rechtliche Beziehung der Güter zum nutzenden Besitzer und zum verleihenden Herrn im Ammergau schon früh – als Erbrecht – definiert, so fehlte für die Allmende noch lange Zeit jegliche Umschreibung und Fixierung der Eigentums- und Besitzverhältnisse. Es bestand offenbar kein Bedarf an einer solchen Klarstellung; die spätmittelalterlichen Auseinandersetzungen um Wald und Weide waren Grenzstreitigkeiten und wurden als Nutzungsforderungen vorgetragen. Ein gänzlich verändertes Bild zeigten erst die Konflikte in der zweiten Hälfte des 17. und im frühen 18. Jahrhundert. Jetzt erhoben die Gemeinden den Anspruch, Eigentümer des Waldes im Ammergau zu sein. Sie traten mit dieser Behauptung dem klösterlichen Holzschlag im Gemeindewald entgegen, und sie provozierten damit die Klärung der Rechtslage. Sie erfolgte 1684 nach dem herkömmlichen Schema: In Imitation der Eigentumsvorstellung, wie sie die Grundherrschaft charakterisiert, wurden damals dem Kloster das Ober-Eigentum und der Bauernschaft die Nutzung zuerkannt.⁴⁸ Diese Entscheidung war nicht im Sinne der Ammergauer und BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv Nr. 4092, fol. 73, 75’. BayHStA, Zivilakten Faszikel 1452 Nr. 702, I, fol. 308’; Replik der vier Gemeinden, vor dem 3. VIII. 1734. BayHStA, Klosterurkunden Ettal Nr. 554.
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entsprach auch nicht mehr ihrem Eigentumsbegriff. Ihre Eigentumsvorstellung war dem Rahmen des geteilten Eigentums – des herrschaftlichen Obereigentums und des bäuerlichen Nutzeigentums – bereits entwachsen und wurde vornehmlich vom Willkürgedanken geprägt. Es war ein Eigentum neuer Art, das die Ammergauer forderten. Sie wollten die Wälder gänzlich zu ihrer „freien disposition“⁴⁹, zu ihrer alleinigen unbehelligten Verfügung haben. Dieses ihr „modernes“ Eigentum war nicht in Gelehrtenstuben kreiert worden, sondern „in den Wäldern“ des Ammergau herangewachsen⁵⁰ als Sproß der alten regionalen Kompetenzbehauptung und in Abwehr fremder Eingriffe. Die vier Gemeinden hielten daran auch im 18. Jahrhundert fest und die Obrigkeiten identifizierten es als „angemaßte selbstherrschung“.⁵¹ Einer der wenigen Punktsiege, den die Ammergauer in dem Dauerkampf mit Ettal errangen, feierten sie 1684, als in den Vertrag von Bayersoien die Zusicherung des Abtes aufgenommen wurde, auf den Gebrauch des Wortes „laibaigen oder leibeigenschaft gegen seine gerichts underthanen“ zu verzichten, und statt dessen „ein anders, linders, und leidenlichers wort“ zu verwenden.⁵² Die Rechte des Klosters wurden hiervon nicht berührt, es handelte sich lediglich um den Wegfall des Wortes Leibeigenschaft, nicht um die Änderung irgendwelcher Fakten oder gar Lasten.Welche Bedeutung jedoch die Ammergauer dieser Bestimmung beimaßen, erhellt allein daraus, daß die über dreißigjährigen Auseinandersetzungen jetzt zur Ruhe kamen. Ihre stärkste emotionale Triebfeder war der Kampf gegen die Leibeigenschaft gewesen. Dieser Streit war aus einer anfänglichen Klage der Ammergauer wegen Ettaler Forderungen nach vermehrten Gesindezwangsdiensten, der Behauptung eines klösterlichen Inventurrechts und dem herrschaftlichen Verlangen von Abzugsgeld in einen grundsätzlichen Disput über Freiheit oder Leibeigenschaft im Ammergau übergegangen, als der Hofrat 1652 in einem Erkenntnis feststellte, die Untertanen sollen „für eigen leuth […] erkennet sein“.⁵³ Die Ammergauer stellten fortan ihre Argumentation auf die Freiheitsbehauptung ab. Trotz Ausschöpfung aller Rechts- und Gnadenmittel hatten sie aber damit bis 1684 keinen Erfolg. Vom Erfolg waren die Ammergauer niemals verwöhnt worden – aber böse Wahrheiten wie die spöttische Bemerkung Abt Placidus Seiz, sie hätten zwar fast alle vierzig Jahre mit dem Kloster gestritten, „aber allzeit etwas von [(ihren)…] gerechtigkeiten verloren“⁵⁴, versetzten sie eher in Zorn als in Mutlosigkeit. Der Abt sah den Urgrund ihres lästigen Selbstgefühls in der ihnen „dieffist eingewurzelten impression
BayHStA, Zivilakten Faszikel 1452 Nr. 702, II, fol. 868’; 1726. Nach Werner Sombarts Ansicht, war seinerzeit auch die „Idee der Nahrung“, die die gesamte vorkapitalistische Wirtschaft prägte, „in den Wäldern Europas von den sich seßhaft machenden Stämmen der jungen Völker geboren worden“. Werner Sombart, Der Bourgeois. München usw. 1913 S. 14. BayHStA, Zivilakten Faszikel 1452 Nr. 702, I, fol. 343, 344; 1740. BayHStA, Klosterurkunden Ettal Nr. 554; 1684 IX.15. BayHStA, Klosterliteralien Ettal Nr. 45, fol. 27’; Hoferkenntnis vom 17. XII. 1652. BayHStA, Zivilakten Faszikel 1452 Nr. 702, II, fol. 882’; 1726.
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[…] frey treiben und thuen (zu) derfen, was sye wollen“.⁵⁵ Das war jedoch nur eine Quelle ihres Behauptungswillens, die anderen lagen im Glauben an ihre besonderen Freiheiten, ihre Privilegien, und in der Überzeugung ihrer regionalen Kompetenz. Die Hartnäckigkeit, mit der hier protestiert wurde, schiebt allerdings die Frage nach Erfolg und Mißerfolg in der Sache von selbst in den Hintergrund. Der Sinn der Unternehmungen ist bereits mit der Haltung gestiftet. Er liegt in dem Willen, in Ehren und mit Würde zu leben, oder – wie der Schneider von Haag es seinerzeit auf gut bayerisch ausdrückte –wenn sie sich nicht zur Wehr setzten, „seien sie nit wert, das sie ufrecht an ein maur prunzen sellen“⁵⁶.
6 Schlußbetrachtung: Der bäuerliche Widerstand in Altbayern Die Art der Konfliktführung, wie sie die Ammergauer praktizierten, ist in den Grundzügen in ganz Altbayern gleich, auch die Konstellation der Gegner, Bauernschaft contra nahe Obrigkeit, ist die verbreitetste. Die spätmittelalterliche Übung der Bauerngemeinden, sich mit Beschwerden über ihren nahen Herrn an den Landesherrn zu wenden, und die Bereitschaft der Herzöge, sie anzuhören und einzugreifen, führte mit der Ausbildung der Zentralbehörden auch zur Institutionalisierung einer Klageinstanz, einer Anlaufstelle bei Hof, des „Täglichen Rats“. Und obwohl das „Laufen gen Hof“ und die höfischen „Paurntadinge“ von Seiten der adeligen Herren schon früh gerügt wurden, war es – mit Ausnahme einer Erschwerung zwischen 1516 und 1536 – jedermann unverwehrt, dort sein Anliegen oder seine Bittschrift vorzubringen.⁵⁷ Auch in den Fällen, wo sich aus dieser eher formlosen Anhörung ein geregeltes rechtliches Verfahren entwickelte, blieb immer eine starke Tendenz zur „Ausrichtung“, zu gütlichen Verhandlungen, wirksam. Regelmäßig unternahmen „Augenscheinkommissionen“ der Regierung Vermittlungs- und Vergleichsversuche vor Ort, weil die Menge, die Komplexität, die Vielfalt und die Grundsätzlichkeit der Streitfragen eine streng rechtliche Lösung kaum erlaubten, und weil man offenbar bemüht war, nach Möglichkeit einen Zustand innerherrschaftlichen Konsenses zwischen naher Obrigkeit und Untertanenschaft zu schaffen. Streitbare Bauernschaften, wie die Ammergauer sahen hierin durchaus eine Gefahr, sie fürchteten mit einem Vergleich „eingeschläfert“ also besänftigt und letztlich benachteiligt zu werden. Die Anzahl derartiger größerer Auseinandersetzungen zwischen ganzen Bauernschaften und ihrer nahen Obrigkeit für den gesamten altbayerischen Raum ist schwer
BayHStA, Zivilakten Faszikel 1452 Nr. 702, I, fol. 305, Schreiben des Abtes Placidus Seiz an den Hofrat, fol. 303 – 306’. Staatsarchiv München, Gerichtsliteralien 53 1/2, Faszikel 2, Prod. 1; 1592. Reinhard Heydenreuter, Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1598 – 1651). München 1981 S. 18; Karl-Ludwig Ay, Altbayern von 1180 bis 1550 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern. Abteilung I, Altbayern vom Frühmittelalter bis 1800, Bd. 2). München 1977 Nr. 491, S. 615; zu 1464.
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Die Tradition des Widerstandes im Ammergau
abzuschätzen, da es keinen einschlägigen zentralen Quellenbestand für dieses Problem gibt. Derartige Konflikte wurden vor den vier Regierungsbehörden in München, Landshut, Burghausen und Straubing verhandelt. In München beispielsweise entschied der Hofrat für seinen Landesteil um 1600 jährlich mindestens einen solchen Streitfall, was wegen der Dauer der Konflikte bedeutet, daß er gleichzeitig über mehrere andere verhandelte. Für die drei anderen Regierungsbehörden ist ähnliches anzunehmen. Im – zufällig ausgewählten – Jahr 1766 waren es beispielsweise 27 Herrschaftskonflikte, die den Münchner Hofrat gleichzeitig beschäftigten.⁵⁸ Aber gleichgültig, ob es nun etliche hundert oder weit über tausend Fälle waren – was wahrscheinlicher ist –, daß in Altbayern für Untertanen, Obrigkeiten und Landesherrschaft in der frühen Neuzeit Herrschaftskonflikte eine vertraute Erscheinung darstellten, kann kaum bezweifelt werden. Eine über die Jahrhunderte hin derart kontinuierliche Widerstandstradition wie im Ammergau war nicht die Regel, aber die mehrfache Wiederholung längerer Konfliktphasen im Laufe der Jahrhunderte läßt sich häufig feststellen.⁵⁹ Der Marktflecken Murnau, der dem Ammergau benachbart und ebenfalls der Herrschaft des Abtes von Ettal unterworfen war, stritt mit dem Kloster zwischen 1370 und 1377, um 1432, 1467, 1512, 1529, 1556 – 1563, 1580, 1609, 1666 folgende, 1694 bis 1709.⁶⁰ Ob die Bereitschaft zum manifesten Konflikt mit der Erfahrung stieg, ist nicht ohne weiteres festzustellen, daß Konflikterfahrung die Bauernschaften jedoch nicht von neuerlichen Auseinandersetzungen zurückhielt, ist offensichtlich. Die Ausdehnung der Auseinandersetzungen zu Konfliktphasen längerer Dauer ist die Regel. Sie zogen sich in jedem Fall über Jahre, in der frühen Neuzeit, wo es sich genauer beobachten läßt, gewöhnlich über Jahrzehnte hin. Entsprechend gering ist die Bedeutung von spontanen oder eruptiven Aktionen für die Widerstandshandlungen der bayerischen Bauernschaften anzusetzen. Es handelte sich hier gewöhnlich um geplante und erwogene Unternehmen, deren Strategie auf massivem und konstantem Druck aufbaute und nicht auf plötzlicher heftiger Bedrohung.
BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 767– 770. Die lokale oder regionale Konflikttradition ist allerdings auch kein Thema, dem die Forschung bisher besondere Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Als eine relevante Erscheinung erkannt wurde sie von Schulze, Bäuerlicher Widerstand (wie Anm. 10) S. 120 f. und Scott, Peasant Revolts (wie Anm. 11) S. 464. Beispiele wiederholter Konfliktphasen sind die Herrschaft Triberg im Schwarzwald sowie die Klosterherrschaften Rottenbuch in Bayern und St. Gallen in der Schweiz, vgl. Blickle, Aufruhr (wie Anm. 10) S. 69 – 295. Claudia Ulbrich, Der Charakter bäuerlichen Widerstands in vorderösterreichischen Herrschaften, in: Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa. Hg. Winfried Schulze (Geschichte und Gesellschaft, Bochumer Historische Studien 27). Stuttgart 1983 S. 202– 216, hier 215; Renate Blickle, Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern. 1400 – 1800, in: ebd. S. 166 – 187, hier 174. Troßbach, Bauernbewegungen (wie Anm. 10). Simon Baumann, Geschichte des Marktes Murnau in Oberbayern. Murnau 1855 S. 31 f., 38 – 42, 54, 62– 65, 81– 88, 96 – 114, 128, 132,137– 139.
6 Schlußbetrachtung: Der bäuerliche Widerstand in Altbayern
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Die Dauer bedeutete notwendigerweise eine Zeit starker Politisierung der widerständischen Untertanenschaft. Immer wieder mußte man Versammlungen einberufen, Beschlüsse zur weiteren Technik der Konfliktführung fassen, Bevollmächtigte wählen, Delegationen bestimmen, Umlagen zur Deckung der erheblichen Kosten erheben, Fronstreiks und Boykotte oder Maßnahmen gegen Abweichler in den eigenen Reihen organisieren, und vor allem mußte man den Zusammenhalt und die Kampfbereitschaft stets beschwören und bekräftigen. Der Form nach verliefen die Auseinandersetzungen nicht überall in Altbayern so zivilisiert wie im Ammergau, und auch die Zwangsmittel, die Obrigkeiten und Regierung gebrauchten, kamen andern Orts drastischer zum Einsatz. Die Ammergauer Bauernführer wurden niemals härter als mit Gefängnis oder Zuchthaus bestraft. Massivere Körperstrafen, vor allem Auspeitschungen und Landesverweisungen, aber auch die seit dem 17. Jahrhundert so häufigen Strafeinquartierungen von Militär kamen hier nicht vor. Über die Formen, in denen er geäußert wurde, ist die Art und Weise des bäuerlichen Widerstandes in Altbayern – darauf sollte hier verwiesen werden – mit den Vorgaben des Revolutionsmaßstabes kaum zu erfassen und hinsichtlich seiner Bedeutung nicht zu bestimmen. Die inhaltliche Kennzeichnung des bäuerlichen Widerstandes als fundamental ausgerichtete und auf die Ausgestaltung der regionalen Verfassung orientierte Vorgänge, stellt diese nicht in prinzipiellen Gegensatz zu revolutionären Zielsetzungen. Eine Differenz entsteht weit mehr durch die Radikalität als durch den Inhalt der Forderungen. Die Ammergauer, die im späteren 17. Jahrhundert aus der konkreten Situation ihrer Allmendverhältnisse die Vorstellung eines modernen Privateigentums entwickelten und als Forderung gegenüber den älteren Herrschafts- und Nutzeigentumsvorstellungen der Obrigkeit vertraten, erhoben zwar eine durchaus „revolutionäre“ Forderung, aber sie vertraten sie auf gewohnte und „unrevolutionäre“ Art und Weise. Die meisten Vorschläge zur Klassifizierung sozialer Proteste gehen von den Formen der Konflikte aus, aber eine der verbreitetsten Kennzeichnungen, die Einteilung der Widerstandsbewegungen nach der „Stoßrichtung“ als „antifeudal“ oder „antifiskalisch“, richtet sich an inhaltlichen Merkmalen aus. Die Unterscheidung hat für die bayerischen Verhältnisse nur geringe Aussagekraft, da es hier einerseits gegen den Staat oder den Fiskus opponierende und gegen eine Zentralisierung gerichtete Proteste nicht gab – es gab auch kaum Steuerkonflikte⁶¹ – und da andererseits die tatsächlich existierenden Auseinandersetzungen nicht einfach als antifeudal aufgefaßt werden können: Die nahe Obrigkeit, die klassische Konfliktpartei, hatte hoheitliche, heute als staatlich verstandene, Befugnisse und feudale Rechte. Die regionale Verfassung wurde maßgeblich in der Region entwickelt. Die Konflikte mit der nahen Obrigkeit konnten daher sehr wohl „staatliche“ oder „hoheitliche“ oder Verfas-
Bei der Steuer, die die Ammergauer 1392 verweigerten, handelte es sich um eine Vogteiabgabe.
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sungsfragen betreffen, ohne gegen den Staat gerichtet zu sein. Die unvollkommene Aussonderung des „Öffentlichen“ aus dem ,,Privaten“ in jener Zeit, die nach wie vor gegebene Gewalt-Teilung nimmt der Alternative antistaatlich – antifeudal viel von ihrem Sinn. Revolutionen blieben in der alten bayerischen Geschichte aus. An Widerstandsäußerungen fehlte es jedoch keineswegs. Daß sie bislang so wenig Aufmerksamkeit fanden, ist nicht eine Folge ihrer mangelnden historischen Bedeutung, sondern eher eine Konsequenz der verbreiteten revolutionsorientierten Forschungsperspektive. Die Konfliktbereitschaft bayerischer Untertanengemeinden im Mittelalter und in der frühen Neuzeit legt es auch nicht nahe, hier einen ausgeprägten „Respekt vor Autorität und Gesetz“ zu vermuten. Für eine Herleitung revolutionärer Enthaltsamkeit aus einer tradierten Untertanengesinnung kann Altbayern jedenfalls schwerlich als Beleg dienen. Ganz abgesehen davon, daß der umgekehrte Argumentationsgang, wonach Konflikterfahrung den Ausbruch einer Revolution möglicherweise eher behindere, auch nicht der Plausibilität entbehrt.
Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns Grundrechte sind „nur gegen den Staat gerichtete Fundamentalrechte des Bürgers“¹, oder wie die übliche deutsche juristische Beschreibung lautet, Grundrechte sind subjektive öffentliche Rechte.² In diesen Kurzformeln treten als definitorische Merkmale sehr scharf die polare Situation von Individuum und Staat und die Abwehrhaltung eines persönlichen rechtlichen Freiraumes gegenüber diesem Staat hervor. Inhaltlich umfassen die „Fundamentalrechte“ verschieden weitgefaßte Kataloge von Menschenrechten, wobei die Menschenrechte als vorstaatlich und unveräußerlich angesehen werden. Die Definition von Grundrechten schließt eine Übertragung des Begriffs auf vorkonstitutionelle Staaten aus. Die eigentliche Geschichte der Grundrechte reicht daher nicht vor das 18. Jahrhundert hinaus, doch ihre Vorgeschichte läßt sich über Jahrhunderte zurückverfolgen. Sie wird entsprechend den wesentlichen Kennzeichen der Grundrechte in der Entwicklung der Menschenrechte und bei staatlichen Freiheitsgarantien gesehen. Die Forschung befaßt sich daher vorrangig mit der Menschenrechtsidee im älteren und jüngeren Naturrecht, besonderes Augenmerk gilt den Ausformungen der Freiheitsvorstellungen. Ein zweiter Schwerpunkt des Interesses liegt bei der englischen politischen Geschichte des 17. Jahrhunderts sowie bei der angelsächsischen und französischen des 18. Jahrhunderts. Gesamteuropäisch werden ständische Privilegierungen und sogenannte Herrschaftsverträge und Religionskonflikte auf ihre grundrechtlichen Auswirkungen hin untersucht. Die Vorgeschichte der Grundrechte wird weitgehend als Ideengeschichte behandelt und, soweit sie in den realhistorischen Ereignissen verfolgt wird, primär auf den geschichtlichen Schauplätzen Westeuropa und Amerika aufgesucht. Von den skizzierten Positionen hebt sich die Ansicht ab, wonach die Grund- und Freiheitsrechte nicht angewandte Erkenntnisse der politischen Ideengeschichte seien, sondern „Manifestationen sozialer und politischer Werthaltungen“ und somit der Geschichte der Wertorientierungen als einem Indikator historischen Wandels besondere Aufmerksamkeit und besonderer Rang zukomme.³ Hier möchte ich mit den folgenden Überlegungen anknüpfen. Über den Begriff „Hausnotdurft“ soll der Versuch Meyers enzyklopädisches Lexikon. Bd. 11, Mannheim usw. 1974 S. 104. Gerd Kleinheyer, Grundrechte. Menschen- und Bürgerrechte, Volksrechte, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck. Bd. 2, Stuttgart 1975 S. 1047– 1082; Hans Maier, Ältere deutsche Staatslehre und westliche politische Tradition (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 321). Tübingen 1966 S. 16. Günter Birtsch, Einleitung. Die Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte als Gegenstand der Forschung, in: Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848. Hg. ders. (Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte 1). Göttingen 1981 S. 11– 21, hier 12. DOI 10.1515/9783110541106-003
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Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns
unternommen werden, ein fundamentales Recht im altbayerischen Staat des Ancien régime vorzustellen, das als Ausdruck einer „sozialen und politischen Werthaltung“ der gesamten altständischen Gesellschaft Wirksamkeit erlangte. Die Untersuchung beruht nicht auf einer Analyse staats-, gesellschafts- oder rechtstheoretischer Schriften und Lehrbücher oder Denksysteme. Die Quellengrundlage der Darstellung und der Ausgangspunkt der Überlegungen sind vorzüglich der historischen Praxis entnommen. Es handelt sich bei den Quellen um Prozeßschriften, Gerichtsurteile, Landtagsakten, die bayerischen Landrechte und Polizeiordnungen, Caspar von Schmids Kommentar zum Landrecht von 1616, Anton Wilhelm Ertls Buch über die Niedergerichtsbarkeit und Wiguleus Xaver Aloys von Kreittmayrs Anmerkungen zum Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756. Schmid, Ertl und Kreittmayr waren Rechtspraktiker, die in ihren Schriften zahlreiche Urteile zitierten und kommentierten. Sie befaßten sich selbst im Hof- oder Geheimen Rat (Schmid, Kreittmayr) oder als Hofmarksrichter (Ertl) mit der Urteilsfindung; sie waren als Hofmarksherren Prozeßpartei oder als Advokat Parteienvertreter; darüber hinaus beteiligten sich Schmid und Kreittmayr als Kanzler und Staatsmänner bekanntlich in herausragender Position an der Regierung des Landes. Der eingeschlagene Weg und die Kürze der Darstellung mildern, so hoffe ich, methodische Unzulänglichkeiten. Die hier zusammengetragenen Quellenaussagen konnten nicht immer sogleich der korrekten ideellen oder realen, theoretischen oder praktischen Ebene zugeordnet, die Verflechtung von ideellem Wert, positiver Norm und historischer Praxis nur unzulänglich aufgeschlüsselt, die zeitliche Schichtung nur pauschal berücksichtigt werden: Der Zugang zum Thema bleibt zugleich global und eklektisch. Die Darstellung ist folgendermaßen gegliedert: Eingangs wird der Begriff Hausnotdurft an den Orten und im Umfeld seiner Erwähnungen aufgesucht (1), sodann schließen Überlegungen allgemeiner Art bezüglich des von ihm bezeichneten Sachverhalts an (2). Im dritten Abschnitt finden sich Erörterungen zur Zeitlichkeit des Begriffs sowie zur Auflösung des Sachverhalts (3), und in einem vierten Kapitel wird die mögliche über Bayern hinausreichende Geltung überprüft (4).
1 Hausnotdurft: Die Fundorte Das Wort Hausnotdurft begegnet in bayerischen Quellen in verschiedenen sachlichen Zusammenhängen. Zur ersten Skizzierung eignen sich die Äußerungen hierüber, die im Kontext der außerordentlich zahlreichen Fronauseinandersetzungen erfolgten.⁴ Da Fronauseinandersetzungen sind Bestandteil so gut wie aller Konflikte zwischen bayerischen Bauerngemeinden und ihren Obrigkeiten. Die bayerischen Gerichte beschäftigten sich seit dem 15. Jahrhundert regelmäßig damit. Es handelt sich dabei um mehrere hundert Fälle. Allgemeine Hinweise auf die Häufigkeit von Scharwerkskonflikten finden sich u. a. bei Caspar von Schmid, Commentarius oder Auslegung des Chur-Bayerischen Land-Rechts. 2. Theil, Augsburg 1747 S. 136, 139, 145, 147, 150;
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die sogenannten landsgebräuchigen Scharwerke als Ausfluß der Vogtei und Niedergerichtsbarkeit in Bayern prinzipiell ungemessen⁵, also nicht auf eine bestimmte Zahl von Frontagen im Jahr fixiert waren, bedurfte die Scharwerkspflicht immer wieder interpretatorischer Auslegung, die gleichermaßen für die pflichtigen Bauern wie für die berechtigten Herren verbindlich war. Das bayerische Landrecht von 1616 greift nun sowohl zur Begründung als auch zur Begrenzung der zu fordernden und zu leistenden Scharwerksmenge auf den Begriff der Hausnotdurft zurück: Scharwerke sind „Dienst und Arbeit, welche ein Underthon seinem Gerichts- oder Vogtherrn zu seiner Leibs-und Haußnotturfft […] verrichten und laisten muß“.⁶ Doch sollten diese Dienste, wie das Landrecht weiter ausführt, nur in dem Maße zulässig sein, wie sie nicht verhinderten, daß die Untertanen „ihrem Feldbaw und anderer notwendiger Arbeit abwarten, auch ihr und der ihrigen Nahrung suͤchen und gewinnen moͤgen“.⁷ Caspar von Schmid faßte in seinem bekannten Kommentar zum bayerischen Landrecht gegen Ende des 17. Jahrhunderts die einschlägigen Bestimmungen folgendermaßen zusammen: „Letztlich wird eine allgemeine Regul gesetzt, daß die Bauern mit denen ungemessnen FrohnDiensten also zu tractiren seyen, damit sie doch ihrer und der ihrigen Nahrungsunterhalt abwarthen und ihrem Feld-Bau mit äckern, schneiden, einführen, auch andern Hauß-Nothdurfften vorstehen können, welches der christenlichen Liebe ähnlich ist, dann unsere Bauern seynd freye Leuth, und keiner Dienstbarkeit oder Servitut unterworffen, und also nicht auf Boͤhmische Arth zu tractiren, und auf das Bluth auszusaugen.“⁸
Sebastian Hausmann, Die Grund-Entlastung in Bayern. Straßburg 1892 S. 61– 66; Artur Cohen, Die Verschuldung des bäuerlichen Grundbesitzes in Bayern. Leipzig 1906 S. 367; Friedrich Lütge, Die bayerische Grundherrschaft. Stuttgart 1949 S. 120 – 124, 129 f., 177; Reinhard Heydenreuter, Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1598 – 1651) (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 72). München 1981 S. 263 – 267. Landrecht der Fuͤrstenthumben Obern und Nidern Bayrn, München 1616, 22. Tit., 2. Art., S. 301. – Gemessen waren dagegen die in Bayern allerdings weniger üblichen Gültscharwerke. Doch galt auch für sie, trotz der Fixierung, als höherrangiges Maß die Rücksichtnahme auf die Hausnotdurft der Bauern. Wiguleus Xaverius Aloysius Frhr.v. Kreittmayr, Anmerkungen uͤber den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem. 2. Theil, neue unveränderte Auflage München 1821 S. 995. Die erste Auflage erschien 1758. – Zur Bedeutung und zum hohen Wert der Fronen für die Herren vgl. ebd. S. 960; Schmid, Commentarius (wie Anm. 4), 2. Theil, S. 147; Anton Wilhelm Ertl, Praxis aurea von der Niedergerichtsbarkeit, Erb-Gericht, vogteylichen Obrigkeit und Hofmarck-Gericht etc. verbesserte Auflage, Bd. I., Nördlingen/Frankfurt 1737 S. 291. Die erste Auflage erschien Nürnberg 1695. Simon Rottmanner, Beytrag zur Geschichte der Frone oder Scharwerk in Baiern. 1. Teil, Frankfurt 1799 S. 30; 2. Teil, Frankfurt 1800 S. 157. Landrecht 1616 (wie Anm. 5) 22. Tit., I. Art., S. 301. Ebd. 13. Art., S. 307. Schmid, Commentarius (wie Anm. 4) 2. Theil, S. 150. Die Zitate werden hier nach der Ausgabe von 1747 gegeben. Eine Überprüfung mit der Erstausgabe von 1695 ergab eine wörtliche Übereinstimmung. Die lateinische Entsprechung zu Hausnotdurft ist necessitas domestica. C. v. Schmid, Commentaria amplissima ad jus municipale Bavaricum. Tom. III, München 1695 S. 173.
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Was Landrecht und Kommentar einander gegenüberstellen und hier als Berechtigung des Herrn wie des Bauern ausgeben, ist beider Hausnotdurft. Dabei genießt die Hausnotdurft des Untertanen Priorität vor Ansprüchen der Herrschaft.⁹ Die Praxis zeigt die Relevanz und die taktische Handhabung beider Berechtigungen. Sie taugten zur Abwehr obrigkeitlicher Ansprüche und wurden zu diesem Zweck eingesetzt. Das geschah anläßlich der immer wieder unternommenen Versuche von Adel und Geistlichkeit, die Eigenwirtschaften zu erweitern und mit Scharwerk bearbeiten zu lassen, Gewerbebetriebe wie Bierbrauereien und Ziegelbrennereien mit billigen Fronen rentabler zu betreiben oder Stadthäuser und Lustschlößchen mit Baufronen errichten zu wollen. Der Einrichtung und der Vergrößerung adeliger oder geistlicher Hofgüter standen in Bayern außer der Beschränkung der Fronen auf die Hausnotdurft keine rechtlichen Schranken oder wirtschaftlichen Erwägungen im Wege. Sowohl die Leiherechte der Bauern als auch die landrechtlichen Bestimmungen gestatteten sehr wohl den Einzug von Bauernland¹⁰, und weder das mangelnde Wirtschaftsinteresse der Herren¹¹ noch etwa Absatzprobleme¹² verhinderten den Ausbau der Eigenwirtschaften, wie zahlrei-
Als Beleg aus der Rechtspraxis sei hier auf einen Entscheid verwiesen, dem wegen seiner Aufnahme in eine Praejudicia-Sammlung beispielhafte Bedeutung zukam. Das Urteil war von Kurfürst Maximilian persönlich gutgeheißen worden. Es regelt die Auseinandersetzung zwischen Georg Ehrenreich von Closen zu Haidenburg und seinen Vogtei- und Hofmarksuntertanen über verschiedene Fronarbeiten. Dem Adeligen wird bei Verletzung des Nahrungsgrundsatzes „ex officio ein moderation“ resp. eine „gehörige Bestrafung“ angekündigt und in Punkt 10 des Urteils summierend auf das Landrecht eingegangen: „und weilen zum zehnten in obenangezogenen Iandrecht 22. Art. 13 fol. 307 die scharwerch als anzustellen verordnet, das dannoch die underthonen ihren veldtpaw und anderer notwendiger arbeith abwarten, auch ir und der ihrigen nahrung suechen und gewinnen mögen, also solle der von Closen seine underthanen wider mehr angeregte unsere Iandrecht khaineswegs beschweren, sondern die scharwerch ze so bequemen zeiten anstellen, damit verstandtenermaßen die underthanen auch ir nahrung fieglich nachkommen können“. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 2574, fol. 120. Max von Freyberg faßt die Bestimmungen des 22. Titels im Landrecht von 1616 folgendermaßen zusammen: Es „bezielt der Titel über die Scharwerk eine angemessene Rücksichtnahme auf den eigenen Hausstand des Gerichtsholden“. Max v. Freyberg, Pragmatische Geschichte der bayerischen Gesetzgebung und Staatsverwaltung seit den Zeiten Maximilian I. Bd. 2, Leipzig 1836 S. 228. Landrecht 1616 (wie Anm. 5) 21. Tit., S. 288 – 301. Lujo Brentano, Warum herrscht in Altbayern bäuerlicher Grundbesitz?, in: ders., Erbrechtspolitik, alte und neue Feudalität. Stuttgart 1899 S. 233 – 267, hier 233; Sigmund Riezler, Geschichte Baierns. Bd. 6, Gotha 1903 S. 226 f.; Lütge, Bayerische Grundherrschaft (wie Anm. 4) S. 50, 60. Das „Nicht-Wollen“ großer Eigenwirtschaften der westdeutschen Grundherren betont immer wieder Friedrich Lütge. Vgl. etwa zusammenfassend: Friedrich Lütge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung. Vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert (Deutsche Agrargeschichte 3). Stuttgart 21967 S. 164 f. Dieter Albrecht vertritt die Ansicht, die Herren hätten in Bayern den Rentenbezug dem Eigenbau vorgezogen. Dieter Albrecht, Staat und Gesellschaft. Zweiter Teil: 1500 – 1745, in: Handbuch der bayerischen Geschichte. Das alte Bayern; Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Hg. Max Spindler. Bd. 2, München 1974 S. 559 – 592, hier 573. Die geringe Entwicklung des Marktes und die mangelnden Exportmöglichkeiten hebt Friederike Hausmann, Die Agrarpolitik der Regierung Montgelas. Untersuchung zum gesellschaftlichen Struk-
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che Fälle von versuchten Hofbauerweiterungen im 16., 17. und 18. Jahrhundert und die Art ihres Scheiterns belegen.¹³ Die Ausdehnung der Gutswirtschaft scheiterte am Einspruch der scharwerkspflichtigen Untertanen und am Maßstab der Hausnotdurft, der Anforderungen nicht deckte, die über die Notdurft des Herrenhauses hinausgingen. Da „unter denen Herren und Bauern wegen solchen Bau-Scharwerchen beständige Strittigkeiten“¹⁴ herrschten – selbst im Landrecht wird auf diesen Sachverhalt verwiesen¹⁵ – fand man es unumgänglich, für die Errichtung eines neuen Hofbaus ein präziseres Maß anzugeben: Es sollten ein ganzer Bauer vier Joch Acker pro Jahr bearbeiten, ein Huber die Hälfte, allerdings stand auch dieses Maß unter dem generellen Vorbehalt der bäuerlichen Hausnotdurft: „daß sie dannoch ihrer und der ihrigen nahrung auch nachkommen und abwarten kuͤnden“.¹⁶ Entscheide der Gerichte orientierten sich nach 1616 weitgehend an der Vier-Jauchert-Norm¹⁷, während man vorher mit pauschaleren Angaben Frieden zu stiften suchte: Die Räte am Ingolstädter
turwandel Bayerns um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (Verfassungsgeschichte, Bd. 2). Bern usw. 1975 S. 10, hervor. Neuerdings wird aber selbst die Bedeutung des Getreideexports für die Entfaltung der osteuropäischen Gutswirtschaft differenzierter gesehen. Holm Sundhausen, Zur Wechselbeziehung zwischen frühneuzeitlichem Außenhandel und ökonomischer Rückständigkeit in Osteuropa. Eine Auseinandersetzung mit der „Kolonialthese“, in: Geschichte und Gesellschaft 9. 1983 S. 544– 563. Literarische Nachweise für die Hofbauerweiterungsversuche sind leider nicht summarisch zu erbringen, so daß hier vornehmlich auf Monographien einzelner Hofmarken und auf archivalisches Material verwiesen werden muß. Friedrich Töpfer, Geschichte der gräflich Törringischen Schlösser und Hofmarken Winhering, Frauenzell, Burgfried, Arbing und Waldberg, in: Oberbayerisches Archiv 9. 1847 S. 147– 196, hier 164; Max Frhr. v. Freyberg, Geschichte der ehemaligen Hofmark Jetzendorf bis 1848, in: Oberbayerisches Archiv 33. 1874 S. 248 – 338, hier 274; ders., Geschichte der ehemaligen Hofmark Hilkertshausen, in: Oberbayerisches Archiv 33. 1874 S. 118 – 216, hier 142– 145; Riezler, Geschichte Baierns (wie Anm. 10) S. 224– 226; Franz Frhr. v. Crailsheim, Die Hofmark Amerang. Stuttgart 1913 S. 70 – 86; Georg A. Reischl, Volkskundliches aus dem Paargau, in: Bayern, das Bauernland. Hg. Hans Dörfler. Bd. 3, Freising usw. 1929 S. 72– 80, hier 73; Karl Demmel, Die Hofmark Maxlrain. Ihre rechtliche und wirtschaftliche Entwicklung. Hirschenhausen 1941 S. 57, 64 f.; Lütge, Bayerische Grundherrschaft (wie Anm. 4) S. 35 – 39; Bars Graf v.Wallwitz, Die Hofmark Adldorf vom 16. Jahrhundert bis zur Bauernbefreiung. Waldsassen 1968 S. 25 f.; BayHStA (= Bayerisches Hauptstaatsarchiv München), Kurbayern Hofrat Nr. 1114, fol. 75 – 78, 335 – 337; Nr. 1115, fol. 57– 59, 63 – 64; Nr. 1116, fol. 110 – 112, 275 – 279’, 294– 297, 317’ – 322, 322’ f., 331– 334; Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 2574, fol. 118. Schmid, Commentarius (wie Anm. 4) 2. Theil, S. 147. Landrecht 1616 (wie Anm. 5) 22. Tit., 4. Art., S. 302. Ebd. S. 303. Mit derselben Begründung, der Nahrung der Bauern, war die Anfahrt zu Hofbauscharwerken auf eine Meile begrenzt, während Fuhrfronen allgemein 6 – 7 Meilen weit geleistet wurden. Schmid, Commentarius (wie Anm. 4) 2. Theil, S. 157. BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1116, fol. 294– 297; 1630 IX.4.; fol. 318’; 1631 IX. 5.; fol. 115; 1621 II. 14.; Ertl, Praxis aurea (wie Anm. 5) Bd. I, S. 323. Ertl verweist auf ein Urteil des Münchner Hofrats von 1643, das dem Kloster Baumburg, welches durch Zukauf seinen Hofbau vergrößert hatte, untersagte, Scharwerk von den Untertanen über die landrechtliche 4- Jauchert-Norm zu fordern. Dazu auch Ferdinand Ernst Zeller, Praejudicia sive Resolutiones a summis Bavariae Ducatus Dicasteriis. München 1733 S. 27.
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Gericht etwa glaubten 1594 mit der dehnbaren Umschreibung, „das solcher hofpau leidenlich und under andern in der hofmarch gelegnen höfen wie nit der khlienest, also auch nit der grost sy“¹⁸, den Streit zwischen der Gemeinde Pörnbach und ihrem Hofmarksherrn von Liechtenau beilegen zu können. Die herrschaftliche Hausnotdurft als Scharwerksnorm verhinderte den Einsatz der Fronen bei jeder Art von Gewinnstreben.¹⁹ Die Produktion des Hofbaus war nur bis zu dieser Grenze von den Bauern zu unterstützen, Bestandäcker des Herrn oder Neubrüche, bei denen es „nicht soviel um die herrschaftliche Nothdurft als den Gewinn und Nutzen zu thun“ sei, brauchten nicht bearbeitet zu werden.²⁰ Die Gewinnschranke wirkte noch restriktiver bei allen herrschaftlichen Versuchen, Fuhrfronen oder Handdienste für Handelsgeschäfte und gewerbliche Unternehmen einzusetzen; denn es durfte „auß der Scharwerch kain gelt geschlagen werden“.²¹ Getreidetransporte etwa mußten nur dann in Fronarbeit verrichtet werden, wenn es sich um im Hofbau erzeugtes oder Gültgetreide handelte, wogegen gekauftes Korn nicht befördert oder Fuhren für gewerbliche Mühlen nicht erledigt zu werden brauchten.²² Ebenso war Brennholz lediglich zur „Hauß und Schlosses notturft“ in Fron zu transportieren und „disfals kein übriges vil weniger kauffmannschafft“ damit zu treiben gestattet.²³ Deutliche Auswirkungen hatte der Grundsatz auf die herrschaftlichen Brauereien, für deren Betrieb mit Vorliebe Fuhrfronen zur Beschaffung von Gerste, Hopfen und Holz sowie Handfronen in den Hopfengärten verlangt und mit Bezug auf das über die Hausnotdurft hinausgehende Maß verweigert wurden.²⁴ Ähnliches galt für Ziegel- und Kalkbrennereien²⁵, auch für die herrschaftliche Teichwirtschaft, deren Ertrag für den
BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1114, fol. 75’ – 78; 1594 VIII. 2. In Württemberg wurde der Grundsatz, daß der herrschaftliche Bedarf die äußerste Grenze für die Fronbeanspruchung darstelle, im 19. Jahrhundert von liberaler Seite mit Nachdruck betont. Wolfgang von Hippel, Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg (Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte). Boppard am Rhein 1977 S. 192. Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 5), 2. Theil, S. 986; BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1115, fol. 124’; 1605 IV. 8.; fol. 270’-273; 1609 V. 8. BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1115, fol. 124’; 1605 IV. 8. Schmid, Commentarius (wie Anm. 4) 2. Theil, S. 138. Zu Mühlen, die die Herren „nur zum Gewinn und Gewerb haben“, brauchten keine Frondienste geleistet zu werden. BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1115, fol. 270’-273; 1609 V. 8. Schmid, Commentarius (wie Anm. 4) 2. Theil, S. 138; Ertl, Praxis aurea (wie Anm. 5) Bd. 1, S. 343. In der preysingischen Herrschaft Hohenaschau waren die zum Bräuhaus verlangten Gersten- und Hopfenfuhren Anlaß zu über 10 Jahre währenden Auseinandersetzungen zwischen Untertanen und Herrschaft. StAM (= Staatsarchiv München), Herrschaft Hohenaschau, A 1028, Klaglibell des Jahres 1660; Gerichtsurkunden Hohenaschau 811; 1668 VIII. 30. Vgl. auch Zeller, Praejudicia (wie Anm. 17) S. 48. Die Berechtigung der Hofmarksherren zum Bezug aller dieser Arbeiten verdeckt leicht – weil als selbstverständlich vorausgesetzt – die grundsätzlich dahinterstehende Idee der Hausnotdurft, die dem Anrecht in der Realität die Grenzen setzt. So lautet z. B. ein Entscheid des Hofrats in München aus dem Jahre 1594 folgendermaßen: „Betreffend die Holzfertt zum Ziegelofen oder sonst zu verprennen, auch zu notturfftigen gebew, wie nit weniger khalch und steinfüehren, bleibt es allerdings bey obberuerten
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Verkauf vorgesehen war.²⁶ Ebenso wurden Spinnfronen, obwohl im Landrecht 1616 nur als „kein durchgehende allenthalben gebräuchige Scharwerk“ bezeichnet²⁷, in konkreten Auseinandersetzungen seit dem frühen 15. Jahrhundert untersagt oder zumindest fixiert²⁸, so daß sie nicht zum Aufbau größerer Textilbetriebe eingesetzt werden konnten.²⁹ Die Bauern waren, wie Caspar von Schmid resümiert, „ihrem Herrn zum Wucher die Scharwerch zu leisten nicht verbunden“.³⁰ Das Prinzip Hausnotdurft stand nicht nur den als Wucher diffamierten Gewerbeund Handelsgewinnen entgegen, sondern ebenso allem, was jenseits der Notdurft für Übermaß oder Luxus gehalten wurde.³¹ So selbstverständlich die Wohnung zur Hausnotdurft des Herrn zählte und bei ihrer Errichtung oder Reparatur die Fronen der
zu Ingolstatt ergangnen abschidt. Doch soll vermög desselben gedachter Liechtenawer seinem erpieten gemeß den underthonen mit ziemlicher ergezlichkait, wie andere hofmarchsherrn nach gestaltsam der scharwerch halten, wie er sich dann derselben allain zu seiner hausnotturfft gebrauchen solle.“ BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1114, fol. 77 f. Die sog.Weiherräumarbeiten führten häufig zu Auseinandersetzungen. Im Landrecht von 1616 (wie Anm. 5) werden sie bei den ungebräuchigen Scharwerken nicht erwähnt. Die Gerichte folgerten daraus, sie seien landsgebräuchig und müßten in Fronarbeit geleistet werden. Das Münchner Revisorium erkannte aber, das höherrangige Maß der Hausnotdurft spreche gegen eine solche Arbeitspflicht der Untertanen, „anerwogen solche Weyer nicht zur Leibs- und Hauß-Nothdurfft, sondern zum Gewinn gehalten werden“. Ertl, Praxis aurea (wie Anm. 5) Bd. I, S. 333, 341; Schmid, Commentarius (wie Anm. 4) 2. Theil, S. 138; Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 5) 2. Theil, S. 965; Zeller, Praejudicia (wie Anm. 17) S. 48. Landrecht 1616 (wie Anm. 5) 22. Tit., 6. Art., S. 304. Über Spinnfronen beschwerten sich bezeichnenderweise schon um 1423 die Bauern in der westbayerischen Klosterherrschaft Steingaden, die dem oberschwäbischen Teilgebiet direkt benachbart wohnten. Die Herzöge Ernst und Wilhelm von Bayern bestätigten ihnen im Spruchbrief vom 25. XI.1423, nicht zum Garnspinnen verpflichtet zu sein. Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges. Hg. Günther Franz, Darmstadt 1963 S. 10. – Spinnverbote oder Fixierungen auf zwei bis drei Pfund Haar: BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1114, fol. 56; 1594 III.14.; fol. 206’; 1597 III.17.; Kurbayern Hofrat Nr. 1116, fol. 20’ f.; 1616 III.10; fol. 170; 1621 XII.3; fol. 295; 1630 IX.4; fol. 337; 1631 XI.8; StAM, Gerichtsurkunden Hohenaschau 811; 1668 VIII.30. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 2574, fol. 122’; 17. Jahrhundert. Vgl. auch die Ausführungen bei Schmid, Commentarius (wie Anm. 4), 2. Theil S. 161. Über den Einsatz fronpflichtiger Arbeiter zu gewerblichen Zwecken vgl. Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Bd. 1,2, München usw. 61928 S. 812– 817. Seine summarische Behauptung, „ein großer Teil des Bergbaues und der Industrie Deutschlands, Österreichs, Polens, Rußlands, zum Teil auch Skandinaviens“ sei „während der Frühzeit des Kapitalismus […] mit alt-hörigen, das heißt fronpflichtigen Arbeiten betrieben worden“, erscheint wenig glaubhaft und wird nicht ausreichend belegt. Schmid, Commentarius (wie Anm. 4) 2. Theil, S. 138. Schmid erläutert seinen Wucherbegriff S. 152. Danach treibt ein Herr, der sein eigenes Getreide verkauft, keinen Wucher, sondern er „hauset wohl“, denn nur „jener schächert, der handelt und mit fremden Sachen Gewinn sucht“. Den prinzipiellen Gegensatz zwischen der „Idee der Nahrung“ als dem Wirtschaftsprinzip des Notwendigen und dem Kapitalismus als dem „legitimen Kind“ des Luxus betont Sombart. Werner Sombart, Luxus und Kapitalismus. München usw. 1922.
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Untertanen in Anspruch genommen werden konnten³², so eindeutig stempelte dieselbe Hausnotdurft Forderungen nach Scharwerksarbeiten zum Bau von Stadthäusern oder „Zweitschlößchen“ als überflüssigen Luxus ab. Diese Gebäude wurden, wie das Revisorium feststellte, „nur um mehrerer Commodität, Nutzen oder auch Gewinn willen, dann Nothwendigkeit halber“ in Stand gehalten, und für ihren Unterhalt brauchten daher keine Fuhrfronen mit Baumaterial geleistet zu werden.³³ Die Hohenaschauer Bauern verweigerten 1675 die Scharwerke zum Ausbau des kleinen Edelsitzes Farnach ihrer im Schloß Hohenaschau residierenden Herrschaft³⁴ und führten 1660 in einem umfänglichen Libell Klage, weil der Herrschaftsrichter das Richterhaus, das seinen angesehenen und vermögenden Vorgängern genügt hätte, mit ihren Fronen „übermäßig“ ausgebaut habe.³⁵ Die Grenze zwischen Hausnotdurft und Luxus verlief mitten durch die herrschaftlichen Gärten. Wurden im Schloßgarten „solche sachen gebaut, so man täglich zur kuchen braucht“, sollten gewisse Fronen dorthin geleistet werden, so aber der Herr „einen Lustgarten daraus machen wurde“, waren die Untertanen „zu mehrer scharwerk nit gepunden“.³⁶ Wie die immanenten Schranken der herrschaftlichen Hausnotdurft – Übermaß, Gewinn, Luxus –, so reduzierte die Gewährleistung derjenigen Portion an Arbeitszeit, die der bäuerlichen Hausnotdurft zukam, den Spielraum für eine Steigerung der obrigkeitlichen Anforderungen von vornherein. Im Kontext der Hofbaufronen wird der Vorrang der bäuerlichen Wirtschaft gegenüber Expansionsgelüsten der Herren durchgehend behauptet. Dasselbe Prinzip reduzierte die Zwangsgesindedienste der Bauernkinder in Bayern auf ein Vormietrecht des Herrn.³⁷ Schon im 15. Jahrhundert entschied Herzog Albrecht IV., daß die Bauern diejenigen Kinder, welche sie „zu ihrer arbayt und notturft da heim bedorffen, ine selbst behalten“ sollten.³⁸ Im selben Sinne beharrte das Revisorium im 17. Jahrhundert gegen den beharrlichen Protest zweier
Die Beihilfe zu Bau und Befestigung des herrschaftlichen Wohnsitzes zählt zweifellos zu den ältesten gerichtsherrlichen Fronen. Sie war so selbstverständlich, daß es hierüber keine landrechtlichen oder polizeilichen Verordnungen gab, wie Caspar von Schmid feststellt. Er vergißt auch in diesem Zusammenhang nicht, darauf zu verweisen, daß bei allem die „Haußwirtschaft der Bauern muß beachtet werden“. Schmid, Commentarius (wie Anm. 4) 2. Theil, S. 188. Ertl, Praxis aurea (wie Anm. 5) Bd. I, S. 340; Zeller, Praejudicia (wie Anm. 17) S. 141 f.Vgl. auch die Ausführungen bei Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 5) 2. Theil, S. 964 f. BayHStA, Civilakten Fasz. 1321, Nr. 557, Prod. 5; 1676 V. 12. StAM, Herrschaft Hohenaschau, A 1028, Klaglibell des Jahres 1660. BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1114, fol. 55’ f.; 1594 III. 14. Die Zwangsgesindedienste haben ihre rechtliche Wurzel z.T. in der Leibeigenschaft und z.T. in der Vogtei; vgl. die gesetzlichen Bestimmungen in der Landts- und PoliceyOrdnung der Fuͤrstenthumben Obern und Nidern Bayrn, München 1616, 4. Buch, 12. Tit., 13. Art., S. 665 und im Landrecht 1616 (wie Anm. 5) 3. Tit., 1. Art., S. 218. Eine relativ ausführliche Abhandlung über die Zwangsdienste in Bayern findet sich bei Hanns Platzer, Geschichte der ländlichen Arbeitsverhältnisse in Bayern. München 1904 S. 3 – 41. Gegenüber seiner Darstellung ist aber insofern Vorsicht geboten, als diese – entgegen den Aussagen des Autors – nur auf normativem, nach 1753 auch auf gutachterlichem Material beruht und keinen einzigen realen historischen Vorfall verwertet. BayHStA, Klosterliteralien Rottenbuch Nr. 47a, fol. 21, 22; Klosterurkunden Rottenbuch 1470 VIII. 13.
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Ettaler Äbte auf seinem Entscheid, wonach sich der Dienstzwang „allein auf diejenige söhn und töchter verstehen solle, welche die supplikanten [= Bauern, R. B.] in anderweeg zu ihrer hausnotturfft selbst nit vonnöthen haben“.³⁹ Ein weiterer Bereich, in dem die Wirksamkeit des Prinzips Hausnotdurft offen zu Tage tritt, sind die Nutzungsregelungen von Allmende und Wald.⁴⁰ Auf die Gemeindeweide darf jedermann nur soviel Vieh treiben, wie er zu seiner Hausnotdurft braucht⁴¹; auch der Gerichtsherr hat sich diesem Maß zu beugen:⁴² Bestand-, Mastoder anderes zum Verkauf gehaltenes Vieh auf der Allmende zu weiden, ist ihm nicht gestattet⁴³; das gleiche galt für Schafe oder Pferde herrschaftlicher Amtleute.⁴⁴ Für die Handhabung des Holzschlags blieb die Haus- und Güternotdurft als übergeordnete Norm bestehen, angefangen von der bayerischen Landesordnung von 1516 über die Landesordnung von 1553, die Forstordnung von 1568 und 1616 bis zu den herrschaftlichen Forstordnungen und den Mandaten des 18. Jahrhunderts.⁴⁵ Schlichtungen und Gerichtsurteile orientierten sich an ihr.⁴⁶ In diesem Bereich setzten die Ob-
BayHStA, Klosterliteralien Ettal Nr. 45, fol. 30 – 31; 1654 IX. 19. – Dem kurfürstlichen Pfleger in Kranzberg wurde mit Urteil vom 5. II.1629 unter Berufung auf die Polizei- und Landesordnung von 1616 gänzlich untersagt, Kinder von Untertanen gegen geringen Lohn im Schloß zur Arbeit zu zwingen. BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1116, fol. 276. Hier mag der Grund dafür zu suchen sein, daß Lamprecht und Maurer, die den Sachverhalt Hausnotdurft lediglich unter dem Aspekt der Nutzungsbegrenzung sehen, dieses Prinzip aus der Idee der Markgenossenschaft ableiten. Georg Ludwig v. Maurer, Geschichte der Dorfverfassung in Deutschland. Bd. 1, Erlangen 1865 S. 231– 238, 260 f.; Karl Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. Bd. 1,1, Leipzig 1886 S. 465 f. Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 5) 2. Theil, S. 760. Landrecht 1616 (wie Anm. 5) 26.Tit., 13. Art., S. 318. Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 5) 2. Theil, S. 760. Entscheide des Hofrats in München vom 1. IX. 1594, BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1114, fol. 86 und vom 5. II. 1629, Kurbayern Hofrat Nr. 1116, fol. 276’ f. Die Tatsache ist von der forstgeschichtlichen Forschung erkannt worden. C. H. Edmund v. Berg, Geschichte der deutschen Wälder bis zum Schluß des Mittelalters. Dresden 1871 S. 122, 178, 208 f., 218; Josef Köstler, Geschichte des Waldes in Altbayern. München 1934 S. 37, 101; Fritz Goller, Die älteren Rechtsverhältnisse am Wald in Altbaiern und die baierische Forstordnung von 1568. Würzburg 1938 S. 24 f., 64; Edgar Krausen, Die Hohenaschauer Forstordnung von 1558, in: Das Bayerische InnOberland 17. 1956 S. 61– 80; Gerhard Frank, Die rechtshistorische Entwicklung der Forstrechte im Chiemgau. München 1957 S. 19, 25; Wilhelm Liebhart, Kloster und Markt Altomünster im Streit um den St. Alto Bannwald, in: Oberbayerisches Archiv 102. 1977 S. 213 – 255 , hier 215. Dazu auch Freyberg, Pragmatische Geschichte (wie Anm. 9) Bd. 2, S. 257; Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 5) 2. Theil, S. 764 f., 771, 777. Hier einige Belege in chronologischer Abfolge: 1405 – Monumenta Boica. Bd. 7, München 1766 S. 269 – 272; 1441 – BayHStA, Klosterurkunden Steingaden 175; 1470 – Franz v. Krenner, Baierische Landtag-Handlungen in den Jahren 1429 bis 1513. Bd. 7, München 1804 S. 250; 1493 – ders. Bd. 9, München 1804 S. 293; 1503 – Monumenta Boica. Bd. 7, S. 313 – 319; 1574 – Johann Georg v. Lory, Der Geschichte des Lechrains zweyter Band, Urkunden enthaltend. München (1765) S. 399 – 403; 1595 – BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1114, fol. 112– 117; 1605 – BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1115, fol. 128 – 130; 1616/17 – BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 4144, fol. 260 f., 316; 1652 – BayHStA, Klosterlite-
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rigkeiten den handelsfeindlichen Grundzug der Hausnotdurftvorstellung gegen die Bauern ein und untersagten generell den Holzschlag zum Verkauf. Da aber die Hausnotdurft der Städter unleugbar ohne Holz nicht zu befriedigen war, erwiesen sich die Zuteilung von Holz an die Bauern über deren Hausnotdurft hinaus und ein gewisser Handel mit Holz wiederum als notwendig, wie die Forstordnung von 1616 feststellte.⁴⁷ Der Hausbedarf erfuhr durch die wirtschaftspolitischen Verordnungen der bayerischen Landesherren seit dem 15. Jahrhundert eine starke Begünstigung. Er unterlag weder dem Marktzwang noch zünftischen Reglementierungen. Die Mandate gegen den Fürkauf von Getreide, Vieh, Schmalz und anderen Lebensmitteln hatten keine Geltung für alles, was „einer zu seiner Nothdurft in seinem Hause zu verzehren bedarf“.⁴⁸ Die Einwohner des Landes durften ohne Gewinn und nicht zum Wiederverkauf ⁴⁹ kaufen und verkaufen, was sie selbst in ihren Häusern „zehren, melken oder mähnen“ wollten.⁵⁰ Also war nicht nur der Unterhalt im engeren Sinne, sondern die ganze Wirtschaftseinheit Haus mit Melkvieh, Zugvieh und Saatgetreide privilegiert.⁵¹ Webern, Schneidern und anderen unzünftigen Dorfhandwerkern war es unverwehrt, für den Hausbedarf ihrer Umgebung auf der Stör oder in der Werkstatt zu arbeiten.⁵² Auf den Märkten waren dem Hausbedarf der Landesbewohner Vorkaufszeiten eingeräumt⁵³, und die Tendenz ging dahin, auch dem Gewerbe einen „Haus-Bonus“ zu gewähren. Nicht nur daß für den Wirtschaftsbedarf der Wirte und Metzger ebenfalls kein Fürkaufverbot galt⁵⁴, es sollte auch auf dem Markt nur solchen Handwerkern Garn
ralien Ettal Nr. 45, fol. 26; 1668 – StAM, Gerichtsurkunden Hohenaschau 811; 1718 – Lory, Lechrain, S. 522 f. Forst-Ordnung der Fuͤrstenthumben Obern und Nidern Bayrn, München 1616, 14. Art., S. 735 f. Franz v. Krenner, Baierische Landtag-Handlungen. Bd. 1, München 1803 S. 160; 1444. Ebd. S. 160 f.; 1444. S. 188 f.; 1446. Ders., Baierische Landtag-Handlungen. Bd. 5, München 1803 S. 340 – 342; 1468. Krenner, Baierische Landtag-Handlungen (wie Anm. 48) S. 188; 1446. Vgl. auch die Bestimmungen in der Baierischen Landesordnung von 1553, 3. Buch, 8. Tit., 3. Art. und 9. Tit., 1. Art., in der auszugsweisen Wiedergabe bei Gustaf Klemens Schmelzeisen, Polizei- und Landesordnungen. 1. Halbband, Reich und Territorien. Köln usw. 1968 S. 200, sowie die Regelungen in der Landts- und PoliceyOrdnung 1616 (wie Anm. 37) 2. Buch, 6. Tit., 1. und 2. Art., S. 514 f. – Derartige Geschäfte waren vom Ungeld befreit. Krenner, Baierische Landtag-Handlungen (wie Anm. 46) S. 544; 1502. Landts- und PoliceyOrdnung 1616 (wie Anm. 37) 2. Buch, 3. Tit., 13. Art., S. 509. Beschwerden wegen Verstößen gegen diese Befreiung des Hausbedarfs bei Freyberg, Pragmatische Geschichte (wie Anm. 9) Bd. 1, Leipzig 1836, Beilage 26. Vgl. die entsprechenden Bestimmungen in der Baierischen Landesordnung von 1553 (wie Anm. 50), 3. Buch, 5. Tit., 2. Art. und in der Landts- und PoliceyOrdnung 1616 (wie Anm. 37) 2. Buch, 2. Tit., 1. bis 9. Art., S. 500 – 504; 2. Buch, 3. Tit., 9. Art., S. 507. Baierische Landesordnung von 1553 (wie Anm. 50) 5. Buch, 2. Tit., 1. und 7. Art.; Landts- und PoliceyOrdnung 1616 (wie Anm. 37) 4. Buch, 2. Tit., 1. Art., S. 613; 5. bis 7. Art., S. 615. Krenner, Baierische Landtag-Handlungen (wie Anm. 48) S. 161; 1444. S. 189; 1446. Baierische Landesordnung von 1553 (wie Anm. 50) 3. Buch, 5. Tit., 3. Art.; Landts- und PoliceyOrdnung 1616 (wie Anm. 37) 2. Buch, 11. Tit., 3. Art., S. 526. Krenner, Baierische Landtag-Handlungen (wie Anm. 48) S. 161; 1444. Landts- und PoliceyOrdnung 1616 (wie Anm. 37) 2. Buch, 3. Tit., 3. Art., S. 505.
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und Wolle zu erwerben gestattet sein, die diese Rohmaterialien „selbs mit der Hand und irem Gsind zu irs Handwerks Notturft gebrauchen und verarbaitn“.⁵⁵ Gewerbe und Handel wurden weitgehend dem Ideal der Hausnotdurft verpflichtet⁵⁶, die ihnen gemäßen Prinzipien durch moralisches und gesetzliches Verdikt diffamiert und bekämpft. Gewinn stand als Wucher, wie Luxus als Übermaß jenseits der allein billigen und gerechten Hausnotdurft.
2 Die Wirkweise: gesamtgesellschaftliche Geltung Die kurze Vorstellung des Begriffs in bezeichnenden Ausschnitten seines realhistorischen Umfelds gibt Anlaß zu Überlegungen bezüglich des Verhältnisses von Hausnotdurft und Ständegesellschaft, sowie hinsichtlich der inhaltlichen Auffüllung der Hausnotdurftidee und ihrer Auswirkungen auf das bayerische Gemeinwesen. Hausnotdurft ist ein allen Ständen eigenes Prinzip. Die Fürkaufbestimmungen galten für alle Einwohner des Landes, und sie räumten allen „Landleuten, sie seien hochs oder niders Stands, Paursleut oder ander“ die Notdurft für ihre Häuser ein.⁵⁷ Auch der Landesherr war von dieser Vorstellung nicht ausgenommen, führten doch Erwägungen über die Sicherstellung der „Hausnotdurft“ des herzoglichen Hofes 1589 zur Gründung des Hofbräuhauses in München.⁵⁸ Insoweit waren also alle Häuser im Lande gleich – wie es ja auch keine „standesverschiedene[n] Hausbegriffe“ gab⁵⁹ –, ungleich aber und am Stand des Hausherrn ausgerichtet war der jeweils konkrete materielle Bedarf an Konsum- und Wirtschaftsgütern sowie an Berechtigungen. Die ‚Schloßnotdurft‘ des Adeligen unterscheidet sich selbstverständlich von der Hausnotdurft seines Untertanen; denn jede Notdurft ist eine ‚standesgemäße‘.⁶⁰ Ebenso
Baierische Landesordnung von 1553 (wie Anm. 50) 3. Buch, 11. Tit., 2. Art. Sombart, Der moderne Kapitalismus (wie Anm. 29) Bd. 1,1, S. 34, 188 vertritt in bezug auf Gesamteuropa die Ansicht, die im Bauerntum entstandene „Idee der Nahrung“ sei generell auf Handel und Gewerbe übertragen worden. Baierische Landesordnung von 1553 (wie Anm. 50) 3. Buch, 5. Tit., 2. Art., in der Wiedergabe von Schmelzeisen, Polizei- und Landesordnungen (wie Anm. 50) S. 190. Ähnliche Formulierungen in der selben Ordnung im 9. Art. und im 9. Tit., 1. Art. sowie in der Landts- und PoliceyOrdnung 1616 (wie Anm. 37) 2. Buch, 2. Tit., 2. Art., S. 501 f. Für das 15. Jahrhundert vgl. Krenner, Baierische LandtagHandlungen (wie Anm. 49) S. 342; Landgebot Herzog Albrechts von 1468: „Aber sonst wollen und gebieten Wir ernstlich, daß kein unser Praͤlat, Edelmann, Pfleger, Amtmann, Burger oder Bauer […] fuͤrkaufe, dann soviel er in sein Haus zu gebrauchen nothduͤrftig.“ ders., Baierische Landtag-Handlungen (wie Anm. 46) S. 544. Vgl. Heydenreuter, Der landesherrliche Hofrat (wie Anm. 4) S. 269 f. Dieter Schwab, Familie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Hg. Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck. Bd. 2, Stuttgart 1975 S. 253 – 301, hier 265. Utta Kim-Wawrzinek, Bedürfnis, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Hg. Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck. Bd. 1, Stuttgart 1972 S. 440 – 466, hier 449: Standesbedingter Aufwand ist nötig.
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Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns
bestehen innerhalb eines Standes Unterschiede zwischen den ‚Hausnotdürften‘ der Genossen, „denn die Maaß bestehet in deme, daß der Vogel nach dem Nest geurtheilet wird, und also müssen die Adeliche, die ein kleines Haußwesen und Famili haben, ihr Hauß-Nothdurft nicht über die Gebühr erstrecken“.⁶¹ Das Prinzip setzt für eine Verwendung in der Praxis weitgehenden gesellschaftlichen Konsens und Öffentlichkeit von jedermanns ‚Privatverhältnissen‘ voraus. Daß diese Prämissen offenbar erfüllt waren, es somit einen bekannten und akzeptierten ‚Regelbedarf‘ gab⁶², belegt nicht nur der Begriff der „wissenlichen Hausnotdurft“⁶³, es muß auch aus allen gerichtlichen Entscheiden geschlossen werden, die ohne weitere Präzisierung die Hausnotdurft eines Bauern, eines Adeligen oder eines klösterlichen Konvents als einzuhaltende Norm und zu gewährleistenden Bedarf zitieren, und es geht auch aus in anderem Zusammenhang stehenden gesetzlichen Verordnungen hervor.⁶⁴ Die „gebürliche“ oder „ordenliche“ Hausnotdurft zielte auf der Basis grundsätzlicher Gleichheit auf differenzierte ständische Angemessenheit. Materiell umfaßt Hausnotdurft die „ziemliche Nahrung“, auf die ein jedes „Haus“ Anspruch hat. Die Präambel der Landesordnung von 1553 nennt neben Friedewahrung und Rechtsschutz – den herkömmlichen mittelalterlichen Aufgaben des Staates⁶⁵– als weitere Pflicht des bayerischen Staates die Existenzsicherung der Untertanen. Daß „der gmain Mann sein zimliche Narung dester baß gewinen, darzu Weib und Kind mit Got und Ehren underhalten mög“, ist Zweck der vorgenommenen rechtlichen Regelungen.⁶⁶ Die Vorstellung, daß jedermann die auskömmliche Nahrung zuzubilligen sei, war in der gesamten Gesellschaft jedoch schon länger verbreitet. Bereits im 15. Jahrhundert galt die Klage, das Vorgehen eines Herrn ziele auf die Existenzgrundlage seines Holden, als rechtlich relevante Beschwerde mit starkem moralischen Gewicht. Sowohl der Propst des Stiftes Rottenbuch, dem die Bauern 1468 vorwarfen, er wolle sie „gentzlichen vertreiben und also swärlich ubernemen“⁶⁷, als auch der Abt des Klosters Ettal, über den sich der Bauer Heinz Schmid aus Oberammergau 1503 bei Herzog Albrecht IV. beklagte, er stehe ihm, seinem „arm man“ nicht gebührend bei, sondern strebe danach, ihn mit seinen „kinden gar im grundt [zu] verderben oder vom land [zu] trey-
SCHMID, Commentarius (wie Anm. 4) 2. Theil, S. 139. Ähnlich Kim-Wawrzinek, Bedürfnis (wie Anm. 60) S. 447 und Johannes W. Pichler, Necessitas. Ein Element des mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechts (Schriften zur Rechtsgeschichte 27). Berlin 1983 S. 200. Landts- und PoliceyOrdnung 1616 (wie Anm. 37) 3. Buch, 1. Tit., 11. Art., S. 534. Baierische Landesordnung von 1553 (wie Anm. 50) 4. Buch, 20. Tit., 2. Art. Baierische Landesordnung von 1553 (wie Anm. 50) 4. Buch, 1. Tit., 7. Art. Walter Merk, Der Gedanke des Gemeinen Besten in der deutschen Staats- und Rechtsentwicklung, in: Festschrift Alfred Schultze. Weimar 1934. S. 443 – 520, hier 494. Baierische Landesordnung von 1553. Vorrede, in der Ausgabe Schmelzeisen, Polizei- und Landesordnungen (wie Anm. 50) S. 161. BayHStA, Klosterliteralien Rottenbuch Nr. 47a, fol. 18.
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ben“⁶⁸, beeilten sich umgehend und mit Nachdruck, diese Behauptung als Verleumdung darzulegen. Eine unberechtigte Klage dieses Inhalts war eine Diffamierung und wurde entsprechend als „iniurie“ bestraft.⁶⁹ Das ‚Nahrungsargument‘ und seine Umkehrung, das ‚Armutsargument‘, spielen in den Auseinandersetzungen der Bauern mit ihren Herren seit dem 15. Jahrhundert eine Rolle, als ein zentraler,Widerstand legitimierender Gedanke treten sie dann in der Neuzeit in den Vordergrund. Die Bauern der Herrschaft Hohenaschau beispielsweise verwiesen bei jedem Konflikt auf ihre durch das Vorgehen der nahen Obrigkeit gefährdete Existenz: So behaupteten sie 1602, bei Beibehaltung der Belastungen „gleich mit negsten samt weib und kindt von haus setzen und in das pitter ellendt zu müssen“⁷⁰, 1660, bei Fortdauer der Zustände „das heimat quittirn zu miessen“⁷¹, 1675, durch die befohlenen Fronen „in unmittelbaren ruin gestürzt und in das eysseriste verderben gesetzt“ zu werden⁷², 1778, ihren „gänzlichen verfall“ und die Tatsache vorauszusehen, daß ihnen demnächst „samentlich der bettelstab wirklich in die hände gegeben“ würde.⁷³ Sie appellierten damit wahrscheinlich an das landesherrliche Interesse an solventen bäuerlichen Steuerzahlern – obwohl in der Argumentation expressis verbis auf diesen Umstand nicht eingegangen wird – und beschworen aus taktischen Gründen die Schreckensvision aller bayerischer Regierungen herauf, ein Bayernland voller heimatloser Bettler und Vaganten. Als Kern aber lag ihrem Vorgehen die Gewißheit der Übereinstimmung der eigenen Rechtsüberzeugung mit den Anschauungen der ganzen Gesellschaft zu Grunde, gemäß der das Land aus ‚Häusern‘ aufgebaut sein soll und der notwendige Bedarf diesen Häusern daher rechtens zustehe. Auf eine Verwirklichung dieses Leitbilds zielten seit dem 15. Jahrhundert zahlreiche Maßnahmen der bayerischen Landesherren:⁷⁴ Dazu gehörten die anhaltenden Bemühungen um den Erhalt der bäuerlichen Hofeinheiten in Form von Teilungsverboten, Anerbenordnungen, Maßnahmen gegen Söldenansiedlung und Tagwerkerniederlassung und Verbote von Zubaugütern, sowie die Sorge um die Bemeierung der Höfe und um das nötige Reservoir an Dienstboten, flankiert von restriktiven bevölkerungspolitischen Regelungen und Heiratserschwerungen, wie ganz allgemein die Bevorzugung von Produktion und Konsumtion gegenüber dem Handel.⁷⁵ Seit dem 16. Jahrhundert war Bayern für Juden
BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 4092, fol. 73; Schreiben des Abtes fol. 76. BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1114, fol. 111; 1595 V. 6. StAM, Herrschaft Hohenaschau, A 1139 (unpag.). StAM, Herrschaft Hohenaschau, A 1028, Klaglibell vom Jahre 1660, fol. 4. BayHStA, Civilakten Fasz. 1321, Nr. 557, Prod. 5. BayHStA, Civilakten Fasz. 1323, Nr. 591, fol. 12’. Freyberg, Pragmatische Geschichte (wie Anm. 9) Bd. 2, S. 233 – 250. Michael Doeberl, Entwicklungsgeschichte Bayerns. Bd. 2, München 31928 S. 90 – 93. Landesherr und Zünfte stimmten in diesem Punkt der Marktfeindlichkeit und der hausiererfeindlichen „Anti-Krämer-Politik“ überein. Eckart Schremmer, Gewerbe und Handel, in: Handbuch der bayerischen Geschichte. Hg. Max Spindler. Bd. 2, München 1974 S. 673 – 716, hier 714.
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ein verbotenes Land⁷⁶, und auch im 17. Jahrhundert hielt man noch am kanonischen Zinsverbot fest.⁷⁷ Die Verweise der Bauern auf die Gefährdung ihrer Nahrung und ihres Hausstandes durch die Forderungen adeliger oder geistlicher Herren rechtfertigten daher, wenn sie den Tatsachen entsprachen, den Widerstand der Untertanen auch in den Augen der Obrigkeit. Eine Eigentümlichkeit des an sich vielfältig einsetzbaren Begriffs Notdurft⁷⁸ wird deutlich, sobald er normativ gebraucht wird. Neben ihrer rechterzeugenden Kraft wird in diesem Fall die Fähigkeit der Notdurft zur Beschränkung offenkundig; sie stuft auf den Bedarf zurück.⁷⁹ Der Not-Bedarf als Maßstab impliziert sowohl die Forderung nach seiner Erfüllung als auch die Ächtung seiner Überschreitung. Noch um 1750 meint Kreittmayr, die Pflicht gegen sich selbst gebiete ein maßvolles Erwerbsstreben, doch es solle „nicht mehr zu erlangen getrachtet werden, als die Nothdurft, Bequemlichkeit und der Wohlstand für sich und die Seinigen erfordert“.⁸⁰ Hier wird ganz nebenbei eine Grenzverschiebung sichtbar:Vor hundert Jahren standen Notdurft und Bequemlichkeit nicht Seite an Seite, sondern genau zwischen gerechtfertigter Notdurft und überflüssiger „Commodität“ verlief damals die moralische und rechtliche Demarkationslinie. Die kreittmayrsche Äußerung scheint auch nicht durch spezifisch bayerische Verhältnisse geprägt zu sein, sondern eher charakteristisch für die Ansichten um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Jedenfalls erklärt der bekannte Kameralist Johann Heinrich Gottlob von Justi ebenfalls, es könne niemand „mit Recht“ Überfluß fordern, aber die „Nothdurft […] müssen alle Menschen haben“ und „auf die Bequemlichkeit haben gleichfalls alle Menschen Anspruch“.⁸¹ Justi stellt sodann eine Verbindung zwischen Notdurft und dem Staatszweck der „Glückseligkeit der Untertanen“ her, indem er konstatiert, daß die Glückseligkeit in dem Genuß einer vernünftigen Freiheit zur Beschaffung eben dieser Notdurft liege und der Staat durch „gute Einrichtung“ jene Freiheit zu besorgen habe.⁸²
Baierische Landesordnung von 1553 (wie Anm. 50) 6. Buch, 1. Tit., 1. Art. Cohen, Die Verschuldung (wie Anm. 4) S. 60 – 81; Hans Hornung, Beiträge zur inneren Geschichte Bayerns vom 16.–18. Jahrhundert aus den Umrittsprotokollen der Rentmeister des Rentamtes Burghausen. München 1915 S. 80 – 84. Pichler, Necessitas (wie Anm. 62), gibt einen guten Einblick in die Fülle der Anwendungen im mittelalterlichen und neuzeitlichen Recht. Ergänzend auch die in Anmerkung 79 genannten Arbeiten und Hans Boldt, Ausnahmezustand, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Hg. Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck. Bd. 1, Stuttgart 1972 S. 343 – 376, hier 343 – 350. Zur Begriffsgeschichte von Bedarf/Necessitas vgl. Kim-Wawrzinek, Bedürfnis (wie Anm. 60) S. 442– 452 und Johann Baptist Müller, Bedürfnis und Gesellschaft. Bedürfnis als Grundkategorie im Liberalismus, Konservativismus und Sozialismus (Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik 6). Stuttgart 1971 S. 159 – 163. So Kreittmayr, Anmerkungen, (wie Anm. 5) 1. Theil, S. 33. Kreittmayr, Anmerkungen, (wie Anm. 5) 1. Theil, S. 33. Johann Heinrich Gottlob von Justi, Staatswirtschaft oder systematische Abhandlung aller Oekonomischen und Cameralwissenschaften. 1. Theil, Leipzig 21758 (Neudruck Aalen 1963) S. 67. Ebd. S. 66 f.
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Im alten Bayern war die Notbedarf-Vorstellung nicht am Untertanen als Individuum ausgerichtet – auch Kreittmayrs erlaubtes Erwerbsstreben bezieht die Notdurft der ganzen Familiengemeinschaft mit ein –, sondern an der komplexen Einheit Haus.⁸³ Ein ‚Haus‘ umfaßte damals personal die Mitglieder einer Wohn- und Lebensgemeinschaft, stellte sozial den primären Ort der Identität dieser Personen dar, bedeutete wirtschaftlich eine Betriebseinheit und rechtlich einen beschränkten Autonomiebereich und wurde gesellschafts- und staatsideologisch als Elementarbaustein des Landes verstanden. Gerade dieser Einbezug in die politischen Ordnungsvorstellungen verfestigte die Position des ‚Hauses‘ bis zur rechtlichen Existenzgarantie über den Begriff der Hausnotdurft. Als Rechtsidee unterscheidet sich Hausnotdurft von anderen zur Legitimation von Forderungen und Rechtsbehauptungen vorgetragenen formalen Begründungen – Herkommen, Billigkeit, natürliche Rechte, Landsbrauch – durch einen quantitativen Normcharakter wie durch eine qualitative Auffüllung: Hausnotdurft hat einen erkennbaren materialen, konkreten und begrenzten Inhalt. Die Komplexität dieses Inhalts bringt in der Praxis grundlegende Weiterungen mit sich: Die Gewährleistung der Hausnotdurft erfordert nämlich auch bei der Lösung einer einzelnen Streitfrage den Blick auf die Gesamtlage der Betroffenen und deren Berücksichtigung.
3 Zeitlichkeit: Begriff und Sache Das Wort Hausnotdurft findet man in bayerischen Quellen vom 16. bis ins 19. Jahrhundert. Zu einer Norm bildet sich Hausnotdurft im 15. Jahrhundert aus, sie verliert ihre grundlegende Bedeutung im Laufe des 18. Jahrhunderts wieder. Die Norm ist an das zeitgenössische Weltbild gebunden. Die rechte Ordnung als eine Ordnung von ‚Häusern‘ wurde in Bayern – soweit sich sehen läßt – nicht vor dem Spätmittelalter gedacht⁸⁴, und dieser Gedanke wurde bald nach 1700 von neuen Vorstellungen zersetzt, zurückgedrängt und schließlich abgelöst. Eine Fundamentalnorm Hausnotdurft aber setzt nicht nur die weitverbreitete Existenz der Lebens- und Wirtschaftseinheit ‚Haus‘ voraus, sondern auch die primäre Verortung der Personen mit ihren Rechten und Sachen über diese Einheit; und diese Sehweise, bei der die Menschen nicht
Zu Haus als Vorläuferbegriff von Familie siehe Schwab, Familie (wie Anm. 59) S. 254– 266. Die Aussage steht bezüglich der Zeitangabe in einem Gegensatz zur Forschungsmeinung (Otto Brunner), wo gewöhnlich eine Kontinuität von der Antike her angenommen wird. Allerdings bleibt dabei zu berücksichtigen, daß die „Hausforschung“ mit ihren beiden Schwerpunkten Hausherrschaft des Adels (der Forschungsstand ist über die kritische Auseinandersetzung bei Karl Kroeschell, Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht. Ein methodischer Versuch [Göttinger rechtswissenschaftliche Studien 70]. Göttingen 1968 zu ersehen) und Hauswirtschaft (Ökonomik einerseits und bäuerliche Familienwirtschaft andererseits) den Bezug des Hauses nach außen, bzw. die Beziehungen der Häuser untereinander, also das gesamte gesellschaftliche und politische Gefüge eher am Rande berührt.
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vorrangig über personale Bezüge als Verwandte (= Freunde), Hörige eines Herrn oder als Genossen gekennzeichnet, sondern die Beziehungen und Verhältnisse verdinglicht begriffen werden, ist erst im Spätmittelalter feststellbar.⁸⁵ Zur Illustrierung der zentralen Funktion, die in diesen Zusammenhängen dem Haus zukam, sei an die bekannten Tatsachen erinnert, daß damals nur wer ein Haus besaß, Bürger einer Stadt sein konnte, nur wer über Haus und Hof verfügte, auch Gemeinderechte übte, Landstandschaft an ein Herrenhaus im Lande gebunden war und selbst die bayerische Landesherrschaft im Bilde vom „Haus Bayern“ erfaßt wurde. Um die Wende zum 18. Jahrhundert jedoch lassen sich deutliche Gewichtsverlagerungen im Bereich der menschlichen Grundwerte feststellen, die auf die Dauer zur Abwendung von der traditionalen und komplexen Norm Hausnotdurft führen mußten. Diese Veränderungen sollen hier über die Wandlungen der Begriffsinhalte aufgezeigt werden, denen Wörter wie „Eigentum“ und „Leibeigenschaft“, zwei den Kernbereich menschlicher Werte umfassende Bezeichnungen, unterworfen waren: Der Bezug von Holz erfolgte, wie erwähnt, in der Regel nach dem Maßstab der Hausnotdurft aus den Wäldern der Umgebung. Diese Nutzungsrechte beeinträchtigten die Rechte des Waldinhabers. Falls die Inhaberrechte definiert waren, nannte man sie gewöhnlich Eigentum und meinte damit vor allem Herrschaft. In welchem Ausmaß die Nutzungsrechte diese Art Eigentum einschränken konnten, zeigen die Auseinandersetzungen zwischen den Bürgern des Marktes Altomünster und der Äbtissin des gleichnamigen Klosters in den Jahren 1517 und 1595.⁸⁶ Die Bürger erhoben nämlich Klage gegen die Klosterherrschaft, weil diese in einem dem Kloster unbestritten „aigentümlichen vorst“ Holz zum Verkauf eingeschlagen hatte. Sie begründeten ihre Klage mit der durch den Einschlag hervorgerufenen Gefährdung ihrer Hausnotdurft. Das Eigentum am Forst wurde also in Parallele zum Obereigentum der grundherrlich verliehenen Güter gesehen und als eine Form gebundener Herrschaft verstanden. Einen Schritt weiter in derselben Richtung wie die Bürger von Altomünster, und sogleich einen Schritt aus der alten Ordnung heraus, gingen etwa einhundert Jahre später die Bauern des Gerichts Ammergau. Auch sie verwehrten auf Grund ihres Beholzungsrechts dem Kloster Ettal das Einschlagrecht in den Wäldern der Klosterherrschaft. Sie nahmen den klösterlichen Amtleuten die Äxte ab, schlugen die Holzmarken aus den gefällten Stämmen und kennzeichneten diese mit ihren Marken. Doch taten sie dies nicht aus Sorge um ihre Hausnotdurft, sondern weil sie, wie sie vor einer
Damit sollen keinesfalls weit zurückreichende Erscheinungen in Abrede gestellt werden, wie sie etwa im „Gedanken der ‚metaphysischen‘ Verbundenheit […] zwischen Mensch und Sache“, besonders aber zwischen Mensch und Haus gegeben waren. Vgl. Ernst Fischer, Die Hauszerstörung als strafrechtliche Maßnahme im deutschen Mittelalter. Stuttgart 1957 S. 149. – Eine gewisse Unterstützung erfährt meine Ansicht durch Dieter Schwab (Familie [wie Anm. 59], S. 255), der selbst im Spätmittelalter vor dem Wirksamwerden des römischen Rechts ein Hervortreten der Hausgemeinschaft gegenüber den verwandtschaftlichen Bindungen nicht allgemein konstatieren konnte. Liebhart, Kloster und Markt Altomünster (wie Anm. 45) S. 223; BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1114, fol. 112– 117; 1595 V. 27.
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landesherrlichen Kommission erklärten, diese Wälder als ihr Eigentum betrachteten. Man stimmte ihnen hierin nicht zu, im Gegenteil, 1684 wurde das Eigentum an den Wäldern des Ammergaus ausdrücklich dem Kloster Ettal zuerkannt.⁸⁷ Bei diesem gerichtlich bestätigten Eigentum des Klosters handelte es sich um das althergebrachte, durch die weiterbestehenden bäuerlichen Nutzungsrechte beschränkte Obereigentum. Ganz anderer Art jedenfalls war das Eigentum, das die Bauern an den Ammergauer Wäldern erstrebten, wie die nach der Jahrhundertwende wieder auflebenden Konflikte noch deutlicher erweisen. Die Bauern beanspruchten nämlich, wie sie 1726 ausführten, die Wälder zu „freier Disposition und als freyes gmain aigenthumb“, in dem sie in „freier Willkür schalten“ wollten. Daß die Nutzung in diesen Wäldern ihnen zukam, war für sie selbstverständlich, stand „außer Disput“.⁸⁸ Die Ammergauer stritten weder um eine gebührliche Hausnotdurft, noch um eine ‚Herrschaft‘ über den Wald, was sie wollten, war ein Eigentum in unserem heutigen privatrechtlichen Sinn. Der Inhalt des Begriffs Eigentum war also in einem Wandel begriffen. Eine ähnliche Veränderung ging zur selben Zeit mit dem Begriff Leibeigenschaft vor sich. Die Leibeigenschaft hatte in Bayern seit langem sehr unterschiedliche ‚Effekte‘, also Belastungen und Rechtsfolgen. Unabhängig von den tatsächlichen Verhältnissen aber läßt sich seit dem späten 17. Jahrhundert allgemein eine Perhorreszierung der Leibeigenschaft beobachten, die Anfang des 18. Jahrhunderts solche Ausmaße angenommen hatte, daß die Bauern des Klosters Steingaden 1716 Klage „wegen anbegehrter Leibeigenschaft“ erheben konnten⁸⁹, obwohl niemand sie zu diesem Zeitpunkt als Leibeigene reklamiert hatte und sie darüberhinaus im herkömmlichen Sinn tatsächlich Leibeigene waren. Ihre Klage wird nur begreiflich, wenn man berücksichtigt, in welchem Sinne das Wort Leibeigenschaft hier von den Bauern gebraucht wurde. Leibeigenschaft sollte in diesem Fall das Ausgeliefertsein an eine Willkürherrschaft ausdrücken, einen Zustand kennzeichnen, den die Steingadener auch mit „Sklaverei“ oder „Böhmischer Leibeigenschaft“ umschrieben. Daß ihnen diese Art der Leibeigenschaft zugemutet würde, erkannten die Bauern nicht aufgrund aktueller herrschaftlicher Maßnahmen, sondern sie erschlossen diese Einschätzung aus einer Analyse ihrer Situation, und an dieser Situation hatte sich formal seit Jahrhunderten nichts Grundlegendes geändert. Sie bezog ihre Unrechtmäßigkeit lediglich aus der neuartigen Perspektive um 1700.⁹⁰ Was den Steingadener Bauern
BayHStA, Klosterurkunden Ettal 554; 1684 IX. 15. BayHStA, Civilakten Fasz. 1452, Nr. 702 I, fol. 870, 872. BayHStA, Civilakten Fasz. 120, Nr. 43. Die Gemeinde im Eigen des Klosters Steingaden klagt in ihrer am 14. Juni 1716 im Hofrat verlesenen Supplik: „Als 1. will man uns haubtsächlich vor ganz leibaigene halten. Wie wir dann den iezigen probsten hierauf wirklichen und dahin hetten angeloben sollen, das er aigenen gwalts gleichsamb ohne wenigstes verbrechen, und ohne alle widerred uns alle jar von den güettern oder unsern innhaben genzlichen entsezen oder verwerffen, ia von und zu solchen thuen khönne.“ Ebd.
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nämlich zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Ausbund an Willkür erschien, war die dort immer noch praktizierte jahrhundertealte Baudingsleihe. Die beiden Beispiele verdeutlichen m. E., daß um 1700 die Bestrebungen nach Entflechtung, Umgruppierung und Fixierung der Werte, Rechte und Bezüge eine starke Dynamik entfalteten und dabei die freie Verfügungsgewalt, die Willkür, ins Zentrum der Vorstellungen einrückte. Die freie Verfügung über Dinge, als welche das Eigentum nun vorrangig begriffen wurde, wurde dabei in demselben Maße zum positiven Postulat, wie die freie Verfügung über Personen als Sklaverei negativ gesehen wurde. Derartige Veränderungen der Grundwerte schufen für die spätere Übernahme der westeuropäischen Idee des bürgerlichen Individuums in ähnlicher Weise Voraussetzungen, wie die vielberufene Bildung des einheitlichen Untertanenverbandes durch den Absolutismus die Entstehung des staatlichen Gewaltmonopols vorbereitete.
4 Überprüfung der Geltungsräume Die hier benutzten Quellenmaterialien und die daran angeknüpften Erläuterungen zu Wort und Begriff, Norm und Prinzip Hausnotdurft bezogen sich nur auf das bayerische Herzog- und Kurfürstentum. Im folgenden Überblick wird kursorisch auf die weitere geographische Verbreitung des Wortes verwiesen und mit einigen Bemerkungen auf die mögliche größere Allgemeinverbindlichkeit des Prinzips Hausnotdurft eingegangen. Das Wort war im ganzen deutschen Sprachraum geläufig, wie den Zitaten im Deutschen Rechtswörterbuch unter dem Stichwort Hausnotdurft entnommen werden kann, sie reichen von Insterburg bis Tirol und von Trier bis Ödenburg.⁹¹ In die Reichspolizeiordnungen, in zahlreiche Weistümer oder in Österreichische Landes- und Polizeiordnungen hat es,vor allem im Zusammenhang mit den Fürkaufbestimmungen, Eingang gefunden.⁹² Wenig ergiebig zeigt sich eine Durchsicht der deutschen Sprachwörterbücher.⁹³ Doch sollte man aus der Zurückhaltung der Redaktoren nicht auf ein Fehlen von Wort und Sache schließen; denn auch das Bayerische Wörterbuch wirft den Begriff, der hier am bayerischen Material entwickelt wurde, nicht aus.⁹⁴ Was das Prinzip ‚Hausnotdurft‘ und seine rechtliche Wirksamkeit betrifft, so legt zwar die hohe Paßfähigkeit zur altständischen Figur des ‚ganzen Hauses‘ die Vermutung einer über Bayern hinausgehenden Verbreitung nahe, aber in der Literatur
Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch zur älteren deutschen Rechtssprache. Bd. 5, Weimar 1953 – 60, Sp. 450 f. Ebd.; Pichler, Necessitas (wie Anm. 62) S. 197– 201; Maurer, Geschichte der Dorfverfassung (wie Anm. 40) S. 231– 238; Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben (wie Anm. 40) S. 465 f. Nur Grimm bringen einen Beleg zu Hausnotdurft. Jacob Grimm/ Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Bd. 7, Leipzig 1889 Sp. 685. Johann Andreas Schmeller, Bayerisches Wörterbuch. Bd. 1 u. 2, München 1872– 1877. Auch unter den Betreffen Notdurft, Sp. 1172, und Durft, Sp. 539, befindet sich kein Zitat zu Hausnotdurft.
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finden sich weder der Begriff ‚Hausnotdurft‘, noch Überlegungen zu einem dem Begriff entsprechenden Sachverhalt. Otto Brunners Abhandlungen über das ‚ganze Haus und die alteuropäische Ökonomik‘⁹⁵, die hier auf den ersten Blick einschlägig erscheinen mögen, führen in dieser Frage selbst nicht weiter und haben – wie zu Recht jüngst festgestellt wurde⁹⁶ – den Gang der sozialgeschichtlichen Forschung auch kaum beeinflußt.⁹⁷ Beide Umstände werden möglicherweise einsichtiger, wenn man sich vergegenwärtigt, daß diese Brunnerschen Arbeiten nicht der Erforschung realhistorischer Abläufe und Zusammenhänge gewidmet sind, sondern ein wissenschaftsgeschichtliches Interesse auf ideengeschichtlicher Ebene verfolgen: Brunner zeichnet den Weg der griechischen Oikoslehre in das frühneuzeitliche Europa nach und arbeitet den prinzipiellen Unterschied zwischen alteuropäischer Ökonomik und moderner politischer Ökonomie heraus. Eine Untersuchung der realen Existenz des ‚ganzen Hauses‘ nimmt er nur bezüglich des adeligen Hauses vor⁹⁸, dessen frühneuzeitliche Ausprägung er auch an der Oikoslehre überprüft. Das ‚ganze Haus‘ der Bauern, deren Anteil von 90 % an der Gesamtbevölkerung er mehrmals hervorhebt, wird von Brunner nicht untersucht⁹⁹, sondern als eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzt.¹⁰⁰ Die Fehlanzeige in puncto ‚Hausnotdurft‘ im Œuvre Otto Brunners erscheint daher nicht ganz so verwunderlich und auch weniger bedeutsam. Ebensowenig haben – soweit ich sehe Werner Sombarts „Idee der Nahrung“ als vorkapitalistisches, im Bauerntum geformtes Wirtschaftsprinzip¹⁰¹ oder Alexander Tschajanows Theorie der bäuerlichen Famili-
Otto Brunner, Die alteuropäische „Ökonomik“, in: Zeitschrift für Nationalökonomie 13. 1952 S. 114– 139; Ders., Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 31980 S. 103 – 127; Ders., Johann Joachim Bechers Entwurf einer „Oeconomia ruralis et domestica“, in: Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Phil.-hist. Klasse, Bd. 226). Wien 1951 S. 85 – 91. Michael Mitterauer/ Reinhard Sieder, Einleitung, in: Historische Familienforschung. Hg. Dies. Frankfurt 1982 S. 10 – 39, hier 17. In Bezug auf die antiken Sozialverhältnisse setzen sich dagegen mit Brunners Forschungen ausführlich auseinander: Ferdinand Wagner, Das Bild der frühen Ökonomik (Salzburger sozialwissenschaftliche Studien 1). Salzburg usw. 1969; und Peter Koslowski, Haus und Geld. Zur aristotelischen Unterscheidung von Politik, Ökonomik und Chrematistik, in: Philosophisches Jahrbuch 86. 1979 S. 60 – 83, hier 74– 78. Otto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612– 1668. Salzburg 1948 S. 237– 293; Ders, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. Darmstadt 61970, S. 254– 257. Häufiger wird es jedoch für ein Ergebnis der „Forschungen“ Otto Brunners gehalten, wenn kein Zweifel mehr daran bestehe, „daß die Frühneuzeit in ihren Sozialformen überwiegend von diesem Prinzip des ‚Oikos‘ des ‚ganzen Hauses‘ geprägt war“. Paul Münch, Die „Obrigkeit im Vaterstand“. Zu Definition und Kritik des „Landesvaters“ während der frühen Neuzeit, in: Daphnis II. 1982 S. 15 – 40, hier 19. Vgl. hierzu Brunner, Das „ganze Haus“ (wie Anm. 95) S. 114 und ders., Adeliges Landleben (wie Anm. 98) S. 304. Sombart, Der moderne Kapitalismus (wie Anm. 29); ders., Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München usw. 1923, S. 13 – 23. Vgl. die Diskussion der These bei Friedrich Lütge, Die Preispolitik in München im hohen Mittelalter. Ein Beitrag zum Streit über das
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enwirtschaft¹⁰² Anstoß zu Überlegungen gegeben, die in Richtung des Grundsatzes der Hausnotdurft weisen. Näher an den Problemkreis heran reichen die Forschungen zum sozialen Protest und die Arbeiten zum bäuerlichen Widerstand. Hier wurde die Ausweitung der Subsistenzvorstellung – jenseits ihrer Funktion als bloße Wirtschaftsgesinnung oder als Teil einer Lehrmeinung – zum ausdrücklich erhobenen Anspruch auf gesicherte Existenz festgestellt. Edward P. Thompson verwies in seiner Untersuchung der Lebensmittelrevolten im England des 18. Jahrhunderts auf ein Verhalten der Volksmenge, das weitgehend von einer Gesinnung bestimmt wurde, die er als „moral economy of the poor“ bezeichnete, und der traditionelle Vorstellungen zu Fragen der Bedarfssicherung und des gerechten Preises zu Grunde lagen.¹⁰³ In Auseinandersetzung mit dieser These nannte Winfried Schulze in Hinsicht auf deutsche Verhältnisse „der bauern aigen sach und nahrung“ den „Kernbereich der bäuerlichen Wertvorstellungen“, dessen Gefährdung den Widerstand gegen Herrschaft legitimiere.¹⁰⁴ Auch mit Blick auf die französischen Revolten des 17. Jahrhunderts wurde das Bewußtsein der Gefährdung einer ehrenhaften bäuerlichen Existenz als mentaler Grund für die Aufstandsbereitschaft der Bauern bezeichnet.¹⁰⁵ Welche Verbindungslinien von diesen Ansätzen zum bayerischen Prinzip der Hausnotdurft gezogen werden können, bleibt zu überprüfen; denn möglicherweise sind die jetzt noch unübersehbaren Unterschiede auch auf verschiedene Blickwinkel zurückzuführen und nicht prinzipieller Art. Die Differenzen bestehen vor allem darin,
Problem „Nahrungsprinzip“ oder „Erwerbsstreben“, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 153. 1941 S. 162– 198. Alexander Tschajanow, Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau. Berlin 1923. Zur Rezeption vgl. Hans Medick, Familienwirtschaft als Kategorie einer historisch-politischen Ökonomie. Die hausindustrielle Familienwirtschaft in der Übergangsphase zum Kapitalismus, in: Historische Familienforschung. Hg. Michael Mitterauer/ Reinhard Sieder. Frankfurt 1982 S. 271– 299, hier 290 f. Edward P. Thompson, Die „moralische Ökonomie“ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: ders., Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt usw. 1980 S. 67– 130. Winfried Schulze, Europäische und deutsche Bauernrevolten der frühen Neuzeit – Probleme der vergleichenden Betrachtung, in: Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit. Hg. ders. Frankfurt 1982 S. 10 – 60, hier 37; ders., Herrschaft und Widerstand in der Sicht des „gemeinen Mannes“ im 16./17. Jahrhundert, in: Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung. Hg. Hans Mommsen/ Winfried Schulze (Bochumer Historische Studien Bd. 24). Stuttgart 1981 S. 182– 198, hier 189 – 194. Ähnlich schon Peter Blickle, Auf dem Weg zu einem Modell der bäuerlichen Rebellion – Zusammenfassung, in: Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. Hg. Ders., München 1980. S. 296 – 308, hier 300, 304. Mit stärkerer ökonomischer Akzentuierung verwies bereits Elbs auf die Bedeutung des Nahrungsarguments für den bäuerlichen Widerstand. Eberhard Elbs, Owingen 1584. Der erste Aufstand in der Grafschaft HohenzollernHechingen. Konstanz 1980 S. 106 – 113. Hugues Neveux, Die ideologische Dimension der französischen Bauernaufstände im 17. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 238. 1984 S. 265 – 285.
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daß die Vorstellungen bezüglich eines Anspruchs auf Existenz oder ‚Nahrung‘ als Ideen der unteren Stände angesehen werden:¹⁰⁶ Thompson benennt die Armen oder die Menge, Schulze die deutschen, Neveux die französischen Bauern als Träger der Idee, wohingegen die Hausnotdurft-Idee in Bayern überständisch ist. Eine zweite wesentliche Differenz liegt in dem Umstand, daß der Nahrungsidee bei Thompson, Schulze und Neveux nur als einem Anspruch historische Wirksamkeit zuerkannt wird, nicht als fundamentalem Recht. In Altbayern aber war Hausnotdurft eine gesamtgesellschaftlich akzeptierte, von den Ständen sich prinzipiell gegenseitig zuerkannte grundlegende Norm, die als ‚höheres‘ Prinzip hinter praktischen Gerichtsurteilen und theoretischen Gerechtigkeitsvorstellungen stand. Den Stellenwert dieser Idee mag abschließend ein skizzenhafter Vergleich mit den modernen Grundrechten verdeutlichen. Eine strukturelle Analogie erscheint insofern gegeben, als die Grundrechte wie die Hausnotdurft gedanklich an die Basiseinheit der jeweiligen Staatsform gebunden werden, hier an das Individuum und dort an das Haus. Auch die ‚Abwehrsubstanz‘ läßt sich durchaus vergleichen, das Grundrecht bildet einen Schutzraum gegenüber dem Staat, Hausnotdurft einen Schutzraum gegenüber Herrschaft.¹⁰⁷ Inhaltlich steht Hausnotdurft den ökonomischen¹⁰⁸ oder den sozialen Grundrechten nahe, liberale Züge fehlen ihr selbstverständlich, allenfalls ist sie auf ‚materielle‘ Freiheit ausgerichtet.
Die Einschätzung der „moralischen Ökonomie“ als eines Derivats der „plebejischen Kultur“ veranlaßte Günter Lottes, hierin eine „Grundrechtsvorstellung“ der Armen zu sehen, die er den bürgerlichen Grundrechtsideen gegenüberstellt (Günter Lottes, Bürgerliche Grundrechte und traditionelle plebejische Kultur am Ende des 18. Jahrhunderts in England und Frankreich, in: Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848. Hg. Günter Birtsch [Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte 1]. Göttingen 1981 S. 96 – 118, hier 110), während Stefan Breuer die „sittliche Ökonomie“ als Kerngedanken einer sogenannten kleinbürgerlichen Naturrechtsausprägung begreift (Stefan Breuer, Sozialgeschichte des Naturrechts [Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung 42]. Opladen 1983 S. 401– 408). – Da Thompson (wie Anm. 103) nicht auf den alteuropäischen Kontext des Ökonomiebegriffs eingeht – die Begriffsschöpfung „moral economy“ enthält aus dieser Perspektive gesehen ein pleonastisches Moment – , andererseits sogenannte paternalistische parallel existierende Vorstellungen durchaus vermerkt, scheint mir die Berechtigung zur exklusiven Fixierung der Vorstellungen an die Unterschicht keineswegs eindeutig erwiesen. In Gegensatz zu diesem den realhistorischen Verhältnissen entnommenen Befund stehen die durch Untersuchung theoretischer Sozialmodelle gewonnenen Erkenntnisse. Danach findet sich auf ideengeschichtlicher Ebene kein Hinweis auf eine „Abwehrhaltung“ des „Hauses“ gegenüber Herrschaft (Schwab, Familie [wie Anm. 59] S. 263 f.). Auch in den Naturrechtssystemen fehlt ein „Gefährdungsbewußtsein“ gegenüber dem Staat bis ins späte 18. Jahrhundert. Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge 23). Paderborn 1976 S. 200. Vgl. zur Stellung des Rechts auf Existenz in den verschiedenen sozialtheoretischen Entwürfen Dieter Schwab, Arbeit und Eigentum. Zur Theorie ökonomischer Grundrechte im 19. Jahrhundert, in: Quaderni Fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico moderno 3 – 4. 1974– 75 S. 509 – 556.
Rebellion oder natürliche Defension. Der Aufstand der Bauern in Bayern 1633/34 im Horizont von gemeinem Recht und christlichem Naturrecht „Wiewol die gemeinen geschriebenen Recht, auch der Länder vnd Stätt Ordnung vnd Gebrauch, je zu zeiten nach gelegenheit der Orth, auch gestalt der Sachen vnd Lauff, geändert vnd verwandelt werden, Bleiben doch die Natürlichen durchaußgehenden Recht der Menschen vnd Völcker, ut pietas in Deum, erga parentes et sanquine junctos, viri et mulieris coniunctio, vis vi repulsio, etc allweg vnverwendet, mögen noch sollen auch dieweil die Menschlicher Art vnd Natur angeboren seyen,vnd derselben ohn mittel anhangen, in kein änderung gestellt werden.Vt hic. Darumben wo von einer Obrigkeit verbotten werde, daß sich einer der von jemandts angegriffen, vnd an seinem Leib oder Gut, wider Recht vnd Billigkeit beschuldigt werden wolt, wehren solte, weren die Underthonen solch Verbott, Menschlichen Satzungen nach, zu halten nicht schuldig, dann die Natur gibt vnd läßt zu, was ein jegklicher zu Schutz vnd Rettung sein selbst thut, oder fürnimbt, das solches billich mit Recht, vnd gentzlich ohn Straff beschehen möge.“ Andreas Perneder, Institutiones.
1 Der Krieg im Land – das Geschehen Man kann es heute noch in den Akten lesen:¹ Die Dunkelheit der Nacht war eingeplant und die Wirkung des Schreckens kalkuliert, als die Häscher Kurfürst Maximilians von Bayern abends um 9 Uhr gleichzeitig an mehreren Dutzend Haustüren klopften, am Freitag, dem 24. Februar, in den vier Landgerichten östlich des Inns², am Samstag, dem 25., in acht weiteren Gerichten vornehmlich westlich des Stroms.³ Die kurfürstlichen Amtleute und Reiter waren auf Verbrecherjagd. Allerdings verfolgten sie keine Räuber, Gauner oder Diebe, sie fahndeten nach ganz speziellen Übeltätern; sie suchten „Rädelsführer“, und sie hatten Erfolg, denn etwa siebzig Bauern und Bürger gerieten in ihre Fänge. Die Verhafteten wurden in die Fronfesten der Städte Wasserburg und Burghausen transportiert, wo man sie in engen Verliesen zusammenpferchte. Diese
Die Darstellung beruht vorwiegend auf Faszikel Nr. 349 des Bestandes „Dreißigjähriger Krieg Akten“ im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München (= BayHStA). Der Faszikel ist nicht foliiert. Da genaue Nachweise deshalb nur mit großem Platzaufwand geführt werden könnten, wurde hier zur Entlastung des Anmerkungsapparates entschieden, Zitate im Text, die aus Faszikel Nr. 349 stammen, im Anmerkungsteil nicht nachzuweisen, das heißt also, alle nicht nachgewiesenen Quellenzitate stammen aus Faszikel Nr. 349. BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 349; Bericht vom 25. Febr. 1634. Es wurden 25 Personen aus den Gerichten Trostberg,Traunstein, Mörmoosen und Altötting verhaftet und nach Burghausen eingeliefert. BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 343; Schreiben vom 28. Febr. und 6. März 1634. Die Verhafteten aus den Gerichten Rosenheim, (Bad) Aibling, (Markt) Schwaben, Wasserburg, Haag, Neumarkt(‐St. Veit), Kraiburg und Kling wurden in das Wasserburger Gefängnis gelegt. Dort befanden sich am 28. Febr. 44, am 6. März 70 Personen. DOI 10.1515/9783110541106-004
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nächtlichen Razzien waren vom Kurfürsten höchstpersönlich geplant, in die Wege geleitet und unter strenger Geheimhaltung vorbereitet worden.⁴ Die behördliche Aktion zeigt das Ende des Aufstands der südostbayerischen Bauern im Jahr 1634 an.⁵ Die Unruhen hatten etwa zwei Monate lang gewährt. Den Beginn datierten die Behörden mit der Weigerung der Bauern im Gericht Kling am 2. Dezember 1633, ihrer Verpflichtung zu landesherrlichen Fronen nachzukommen und gefangene schwedische Söldner von Wasserburg nach München zu transportieren. Den raschen Zusammenbruch der Bewegung leitete das Massaker von Ebersberg am 18. Januar 1634 ein, bei dem aufgrund eines kurfürstlichen Exekutionsbefehls Hunderte von bayerischen Bauern von kurfürstlichen Reitern erschlagen wurden.⁶ Danach wartete man nur noch ab, bis „Ruhe“ im Land eingekehrt war und man sich risikolos der Bestrafung der „Rädelsführer“ zuwenden konnte.⁷
Kein Schutz – das Versagen der Obrigkeit Die Vorgänge spielten sich auf dem Hintergrund des großen Krieges ab, bei dem der bayerische Landesherr als Haupt der Liga mit an der Spitze der katholischen Kriegspartei stand. Als der militärische Führer der Gegenseite, der Schwedenkönig Gustav Adolf, im Frühjahr 1632 über den Lech bis München vordrang, erreichte das Kriegsgeschehen Altbayern zum erstenmal unmittelbar; nach einer Friedensperiode von 128 Jahren brach der Krieg über die Menschen herein. Der eroberte Landstrich wurde systematisch verwüstet. Die Katastrophe aber machte, wie sich bald zeigte, nicht mit den feindlichen Truppen an der Isar halt: im östlich anschließenden Gebiet zwischen
Ebd., Schreiben vom 20. Febr. und vom 22. Febr. 1634. Der bayerische Bauernkrieg von 1633/34 führt ein wissenschaftliches Schattendasein. Die einzige Gesamtdarstellung verfasste Sigmund Riezler, Der Aufstand der bayerischen Bauern im Winter 1633 auf 1634, in: Sitzungsberichte der philos.-philol. u. hist. Classe d. k. b. Akademie der Wiss. zu München. 1900 (1901) S. 33 – 95. Vgl. auch ders., Geschichte Baierns. Bd. 5, Gotha 1903 S. 472– 478; Herbert Langer, Der Dreißigjährige Krieg – „endgültiger Abschluss der deutschen Revolution“ des 16. Jahrhunderts?, in: Rolle und Formen der Volksbewegung im bürgerlichen Revolutionszyklus. Studien zur Revolutionsgeschichte. Hg. Manfred Kossok. Glashütten/Taunus 1976 S. 16 – 36, hier 28 f.; Henry Kamen, Die europäischen Volksaufstände 1550 – 1660 und die Struktur der Revolten, in: Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit. Hg. Winfried Schulze. Frankfurt a. M. 1982 S. 129 – 170, hier 149 f. Es handelt sich um Ausschnitte aus Kamens „The Iron Century“ (1976), die durchweg Falsches berichten. An regionalgeschichtlichen Studien sind zu erwähnen: Josef Dirscherl, Der Bauernaufstand 1633 – 1634, in: Heimatland (Öttinger und Burghauser Anzeiger).1955 Nr. 12; ders., Bauernrebell Michael Mauerberger, in: Inn-Salzach-Land 3. 1951 Nr. 8 BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 348a; Riezler, Der Aufstand (wie Anm. 5) S. 84– 86. BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 343; Schreiben vom 20. Febr. 1634. Kurfürst Maximilian berichtet seinem Bruder Herzog Albrecht, er habe bewußt den Zeitpunkt abgewartet, bis das Land wieder ruhig, aber noch mit Soldaten belegt sei. Er habe befohlen, alle „Rädelsführer“ heimlich und auf einen Schlag gefangennehmen zu lassen; „bei der nacht in ihren herbergen möglichst still“ heißt es im Befehl an die Amtleute vom 22. Febr.
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Isar und Inn begannen seit 1633 die eigenen Heeresverbände, die Söldner des Kurfürsten und seiner Liga, ähnlich barbarisch zu hausen. Ungezügelt plünderten, erpreßten, raubten und mordeten sie in den Dörfern und Märkten. In diesem Landesteil, nicht im vom Feind verheerten Westen, erhoben die Bauern sich zum Aufstand. Gleich wo er stand und für wen er kämpfte, der Söldner war der Feind des Bauern. Die Kriegsleute verachteten und verhöhnten die Landleute. Die Waffe in der Hand gab ihnen das Gefühl der Überlegenheit, die Habe der Bauern war ihnen selbstverständliche Beute. Aber auch die Landleute verachteten die Söldner; in Bayern galt es als sehr harte Strafe, unter die Söldner eingereiht zu werden; zum Kriegswesen „condemnirt“ zu sein war ebenso verhaßt wie ehrenrührig.⁸ Das Verhältnis zwischen Söldnern und Bauern war demnach denkbar gespannt. Zudem stand die Bevölkerung dem Krieg als solchem, nicht nur den Kriegsleuten ablehnend gegenüber. Dieser Krieg war nicht ihre Sache, sondern eine Angelegenheit des Kurfürsten, dessen Kriegsgründe sie nicht billigte. „Hofart vnd geiz“ hätten den „gottlosen fürsten“ veranlaßt „auß der Jesuwitten rath“, das Land „zu disem erbarmlichen standt“ zu bringen, hieß es im sogenannten „Rosenheimer Famosschreiben“, einem Pamphlet, das Mitte Dezember 1633 im ganzen Inngebiet rasche Verbreitung fand.⁹ Das Ansinnen des Kurfürsten, seinen marodierenden Söldnern Quartier für den Winter zu gewähren, die Bauernfeinde in den Bauernhäusern aufzunehmen, spitzte die Lage dramatisch zu. Es kam zur offenen Konfrontation; denn die Disziplinlosigkeit der Söldner hatte automatische Rückwirkungen auf das Herrschaftsverhältnis. Sie deckte klar und deutlich ein Defizit an landesherrlichem Schutz auf. Unabhängig davon, ob der Kurfürst der Soldateska aus Unvermögen oder aus Kalkül derart lange Zügel ließ¹⁰ – die Soldaten behaupteten den Bauern gegenüber, man habe ihnen die „plinderung an stat irer besoldung bewilligt“ –, das Fehlen effektiven „Schutzes“ war eine Tatsache und stellte die Verpflichtung der Untertanen zur „Hilfe“, auch in Form der Quartiergewährung, zur Disposition. Die Bauern lehnten die Quartierforderung des Kurfürsten „rotunde“ ab.
Riezler, Der Aufstand (wie Anm. 5) S. 40; Hans Hornung, Beiträge zur inneren Geschichte Bayerns vom 16. – 18. Jahrhundert aus den Umrittsprotokollen der Rentmeister des Rentamts Burghausen. München 1915 S. 142. BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 343, Schreiben vom 6. Juli 1634. BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 347; Riezler, Der Aufstand (wie Anm. 5) S. 62– 65. Die Kriegführung war, wie auch der Autor des „Rosenheimer Famosschreibens“ bitter bemerkt, auf das Beutemachen angelegt; denn die Feldherren engagierten die Söldner, ohne sie korrekt zu entlohnen, und den Söldnern war das sehr wohl bekannt. Beide kalkulierten also bewusst mit der Ausraubung der Bevölkerung. Der Ausspruch der plündernden Reiter ist überliefert bei Ludwig Heilmaier, Die ehemalige freisingische Herrschaft Burgrain. München 1911 S. 84; er kam der Wahrheit sehr nahe.
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Selbstschutz – Funktionsübernahme durch die Untertanen Sie begannen statt dessen, den Schutz für Heimat, Haus und Hof selbst in die Hand zu nehmen. Hierbei bedienten sie sich des organisatorischen Netzes, das dem Landesdefensionswesen zugrunde lag.¹¹ Ihr Ziel war es, keinen Söldner über den Inn gelangen zu lassen und die Soldaten aus dem Raum zwischen Inn und Isar nach Westen über den Fluß zurückzudrängen.¹² Ihre „Konspirationspunkte“, so meldeten die Amtleute, hatten sie Anfang Januar niedergeschrieben. Nun erließen sie Aufgebote, wählten Hauptleute – „Obristen“–, erhoben Geldabgaben von denen, die altersoder krankheitshalber nicht persönlich teilnehmen konnten, zwangen Amtleute, mit ihnen zu ziehen und unwillige Bauern und Bürger¹³ durch Drohungen zum Anschluß. Sie beschafften sich Trommeln und Zugang zu den Kirchenglocken, um Sturm läuten zu können, und sie unternahmen Versuche, ihre Bewaffnung, die hauptsächlich aus Morgensternen und umgeschmiedeten Sensen bestand, aus den Arsenalen der Landwehr und durch Überfälle auf Söldnergruppen zu vervollständigen. Gerüstet versammelten sie sich an vielen Orten zu Hunderten und zu Tausenden, die beiden größten Heerlager waren wohl die Bauernversammlungen Anfang bis Mitte Dezember und dann wieder Anfang Januar bei Wasserburg am Inn – bei letzterer sollen sich 20 000 Bauern befunden haben. Die Bauern gingen dazu über, die Straßen zu kontrollieren, und richteten Wachdienste ein, an mehreren Orten verhinderten sie die Einquartierung oder vertrieben bereits einquartierte Söldner. Der Kurfürst war über diese Vorgänge gut informiert. Die Beamten vor Ort berichteten, was sie beobachteten und auch mehr als das, manch „Paurnfeindt“ denunzierte ausgiebig.¹⁴ Proteste und Verweigerungen der Untertanen waren Maximilian an sich nichts Unbekanntes. In Form von Beschwerden und Suppliken gehörten sie als wesentliches Element zum damaligen politischen System; nicht ohne Stolz hatte er in der Vorrede der großen Kodifikationssammlung von 1616 berichten lassen, Bayern sei eben deshalb bislang vom „inwendigen krieg“ mehr verschont geblieben als andere
Beispielhaft die Organisation des Aufgebots im Gericht Traunstein am Neujahrstag 1634 und der anschließende Marsch zum Sammellager Wasserburg; BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 349, „Indicia ad capturam der angebnen rädelführer Gerichts Traunstein“. Den engen Zusammenhang zwischen dem Landesdefensionswesen und überregionalen Volksbewegungen betont zu Recht Klaus Gerteis, Regionale Bauernrevolten zwischen Bauernkrieg und Französischer Revolution. Eine Bestandsaufnahme, in: Zeitschrift für historische Forschung 6. 1979 S. 37– 62, hier 50 – 54. Einiges über die bäuerlichen Maßnahmen kann bei Riezler, Der Aufstand (wie Anm. 5) S. 51– 61 und 67– 73 ersehen werden. Eine befriedigende Rekonstruktion der Ereignisse, soweit sie die Absichten und Handlungen der Bauern betreffen, ist bisher nicht erfolgt. Die Bürger standen, was Bedeutung, Initiative, Einsatz und Teilnehmerzahl angeht, weit hinter den Bauern zurück. Sie kamen aus Trostberg, Traunstein und Kraiburg. Die Regierung Burghausen beurteilte den Eifer der Lokalbehörden kritisch. „So befindt sich ferners in disem gefüehrten proceß, das fast alle beambten in iren berichten den sachen zuvil gethon, vnd iren worten an jezo kainen beystandt leisten khönnen.“ BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 349, Gutachten zum Verfahren Hans Innerlohner vom 12. Apr. 1634.
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Länder, weil hier die Möglichkeit zur Beschwerde seit alters gewährleistet gewesen sei.¹⁵ Aber auch in der härteren Form der Herrschaftskonflikte waren ihm Protest und Widerstand vertraut. In den rund 40 Jahren seiner Regierung hatte er mehrere Dutzend solcher größeren Auseinandersetzungen im Lande erlebt.¹⁶ Die Vorgänge im Dezember 1633/ Januar 1634 unterschieden sich jedoch deutlich von den gewohnten Konflikten. Das war vor allem kriegsbedingt. Auffällige Besonderheiten stellen der Griff der Bauern zur Waffe dar und die großräumige Organisierung der Teilnehmer so wie die Stoßrichtung des ganzen Unternehmens. Die Aktion richtete sich teils gegen die Landesherrschaft, etwa mit den Fron- und Quartierverweigerungen – was sonst eher als Ausnahme denn als Regel vorkam –, teils zielte sie überhaupt nicht auf „Herrschaft“, sondern daran vorbei, weil sie als Funktionsübernahme und Einrücken in verwaiste Positionen verstanden wurde.¹⁷
Reaktion – bewährte Herrschaftstechniken Die Reaktion des Kurfürsten bestand in der Anwendung eines erprobten Befriedungsmusters mit bewährten Strategieelementen: Verhandlungen, Aufspaltung der gegnerischen Front, demonstrativer Gewalteinsatz und exemplarische Strafen. Die Verhandlungsphase zog sich im vorliegenden Fall den Dezember über bis etwa zum 10. Januar hin. Die kurfürstlichen Kommissare schwärmten immer wieder aus und propagierten vor je kleinen Gruppen von Bauernvertretern die Mandate der Regierung samt den Kontributions- und Quartierforderungen, um deren Annahme durchzudrücken. Da die Bemühungen erfolglos blieben, ernannte Maximilian zwei Spezialkommissionen, die eine sollte für die Bauernschaften östlich, die andere für die westlich des Inns zuständig sein. Sie hatten verschiedene Order: Die Ostkommission war ermächtigt, die Quartierforderung notfalls fallen zu lassen und sich mit Kontributionen zu begnügen, die Westkommission hingegen durfte keine Zugeständnisse machen. Die weiche Direktive findet ihre Erklärung unschwer in dem Umstand, daß damals östlich des Inns keine Truppen zur Verfügung standen. Eine Befriedung der Bauern schien hier ohne Eingehen auf deren Vorstellungen nicht möglich. Als mit dem Verzicht auf die Quartierforderung ihr Hauptanliegen erfüllt war, lösten sich die Bauernversammlungen östlich des Inns prompt auf: Der Keil der Spaltung saß in der Bauernfront.
Landrecht, Policey: Gerichts-Malefitz- vnd andere Ordnungen. Der Fuerstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. An den Leser. München 1616. Die Behauptung ist über Literatur nicht zu belegen. Verwiesen sei auf den Bestand BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1114, 1115, 1116. Zu den bekanntesten Fällen zählen die Konflikte in Haag 1595/96, Hilgertshausen zwischen 1603 und 1619/ 29 und Rottenbuch 1612/ 28. Vgl. auch Gerteis, Regionale Bauernunruhen (wie Anm. 11) S. 45 – 50, 60, der den Faktor „Landesbewußtsein“ als erhebliches Moment der frühneuzeitlichen Aufstände im Reich würdigt.
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Westlich des Inns gab es genügend kurfürstliches Militär, hier wurde nicht nachgegeben, sondern exekutiert. Eine entsprechende Instruktion ging den Truppen schon am 2. oder 3. Januar zu.¹⁸ Am Morgen des 18. Januar war es dann soweit. Der Pflegsverwalter von Schwaben führte den Generalfeldwachtmeister Graf von Cronberg und seine Reiter nach Ebersberg, wo – wie an vielen Orten damals – einige Hundert Bauern versammelt waren.¹⁹ Die Soldaten schossen mit Kanonen, die Bauern ließen die Morgensterne fallen und stoben in alle Richtungen auseinander. Die Reiter hoben die Morgensterne auf und erschlugen, wen sie erreichten, 266 Menschen.²⁰ Die Exekution war als Exempel gedacht, das Gemetzel sollte „andern aufruehrigen correspondenten billich ein solchen schröcken machen, daß sye sich verner der rottierung noch weniger des gewöhrs […] anmassen und gebrauchen werden“.²¹ Die Rechnung ging auf. Schon am 23. Januar konnte der Kurfürst seine Westkommission zurückberufen, da die Bauernschaft „sonst schon accommodirt worden sei“.²² Nun begann der letzte und längste Akt dieses Dramas. Die „Ruhe“ war eingekehrt, Maximilian fand die Zeit reif für das seit Anfang Dezember zurückgestellte Vorhaben der exemplarischen Bestrafung der Bauernführer. Er gab Befehl zu der eingangs geschilderten nächtlichen Massenverhaftung. Mit den Gefangenen sollte „kein sonder oder langer proceß“ gemacht werden.²³ Von Anfang an und immer wieder trieb der Kurfürst zur Eile. Dennoch dauerten die Verfahren in Wasserburg nahezu ein halbes Jahr und in Burghausen immerhin zweieinhalb Monate. Sie verliefen nach den Regeln des Inquisitionsprozesses²⁴, also Die Darstellung bei Riezler, Der Aufstand (wie Anm. 5) S. 78 – 82, 84, mit anderer Akzentuierung. Daß die Exekution über Ebersberg hereinbrach, war jedoch auch nicht der reine Zufall. Es handelte sich um einen Ort, an dem Heer und Administration blamiert worden waren. Ende Dezember 1633 hatten die Bauern der Umgebung eine dort einquartierte Kompagnie Reiter ausgetrieben. Der Pflegsverwalter hatte sich damals durch Flucht retten müssen; BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 343, Verzeichnis der Rädelsführer. BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 348a; Dirscherl, Bauernaufstand (wie Anm. 5) S. 94; Riezler, Der Aufstand (wie Anm. 5) S. 84– 86. BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 348a, fol. 6, Bericht vom 19. Jan. 1634. Riezler, Der Aufstand (wie Anm. 5) S. 83. BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 343, Schreiben vom 28. Febr. und 11. März 1634. Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. Göttingen 2 1965 S. 99 – 107, 194– 198; Hans Schlosser, Inquisitionsprozeß, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2, Berlin 1978 Sp. 378 – 382; Hinrich Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte. München 1981 S. 45 – 47; Heinrich Mitteis/ Heinz Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte. Ein Studienbuch. München 181988 S. 397. Für Bayern sind heranzuziehen: Eduard Rosenthal, Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Baierns (1598 – 1745). 2. Bd.,Würzburg 1906, S. 308 – 319; Eberhard Schmidt, Der Inquisitionsprozeß in ober- und niederbayerischen Rechtsquellen des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Festschrift für Hellmuth von Weber zum 70. Geburtstag. Hg. Hans Welzel u. a. Bonn 1963 S. 32– 55; Wolfgang Leiser, Strafgerichtsbarkeit in Süddeutschland. Formen und Entwicklungen (Forschungen zur deutschen Rechtgeschichte 9). Köln usw. 1971 S. 93 – 121; Gerhard Christl, Die Malefitzprozeßordnung des Codex Maximilianeus von 1616, dargestellt in ihrem Verhältnis zur Carolina und den Rechtsquellen des 16. Jahrhunderts im Herzogtum Bayern. Diss. Regensburg 1975. Mit Inquisitionsprozeß wird ein Kriminalverfahren bezeichnet, das durch das Offizi-
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des Strafprozeßtyps, der damals laut amtlicher Feststellung „schier allein in ᵫbung“ war.²⁵ Es gab zwar insofern Besonderheiten bei den Verfahren, als sie nicht von allenfalls zuständigen Gerichten, sondern von speziell ernannten Kommissionen²⁶ durchgeführt wurden, aber es handelte sich keineswegs um formlose oder summarische Prozesse, wie es nach Lage der Dinge und der Rechtslehre zu erwarten oder zumindest möglich gewesen wäre. Die Wasserburger Kommission setzte sich aus Lokalbeamten der Region und Mitgliedern des Münchner Hofrats zusammen, die Burghauser bestand aus Räten der Regierung Burghausen unter dem Vorsitz ihres Hauptmanns Rudolf von Donnersberg.²⁷ Kurfürst Maximilian überwachte das Ganze. Er residierte mit dem Hof und dem Geheimen Rat im nahen Braunau und ließ sich fortlaufend über den Stand der Dinge unterrichten. Es geschah nichts ohne sein Wissen. Aber das war nichts Ungewöhnliches, es gehörte zu seinem Regierungsstil.
2 Ein politischer Kriminalprozess – das Verfahren Die peinlichen Prozesse gegen die Untertanen in Burghausen verdienen besonderes Interesse, und zwar zum einen, weil derartige Verfahren an sich wenig bekannt sind, und zum anderen aber vor allem, weil mit den Burghauser Kriminalverfahren unge-
alprinzip, das ist die Einleitung des Verfahrens von Amts wegen, und die Instruktionsmaxime, nämlich die Pflicht des Gerichts, den Tathergang zu erforschen, gekennzeichnet wird. Es ist auf die Ermittlung und den Nachweis der materiellen Wahrheit ausgerichtet, daher spielt das Geständnis, zu dessen Erlangung die Folter eingesetzt werden kann, eine hervorragende Rolle im Verfahren. Die Initiative liegt voll und ganz in Händen der Gerichtsbehörden, dem Beschuldigten kommt eine extrem passive Position zu. In bezug auf den ganzen Strafprozeß gesehen, ist das eigentliche Inquisitionsverfahren ein Vorverfahren, es gilt jedoch als das „Kernstück“ des Gesamtprozesses. Es wird unter Ausschluß der Öffentlichkeit – Stichwörter: Heimlichkeit und Schriftlichkeit – abgewickelt. Die Urteilsbildung erfolgt gewöhnlich nicht durch die ermittelnde Instanz, sondern auf Aktenvorlage hin an anderer Stelle, entweder durch eine übergeordnete Behörde oder die juristische Fakultät einer Universität – „gerichtsfern“ –, immer aber unter Beteiligung gelehrter Juristen und durch ein Kollegium. Das derart vorbereitete, inhaltlich endgültige Urteil wird in einem weiteren Prozeßschritt vom Malefizgericht unter der Leitung eines Richters, der mit dem Blutbann belehnt ist, förmlich geschöpft und sodann öffentlich verkündet und vollzogen. Der „Endliche Rechtstag“ hat mancherorts die Form eines gerichtlichen Scheinverfahrens („Komödie des Rechts“). Malefitz ProceßOrdnung der Fuerstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. Vorrede. München 1616. Zur weiten Verbreitung kommissarischer Strafgerichte in Bayern vgl. Leiser, Strafgerichtsbarkeit (wie Anm. 24) S. 116, 118. Daß 1634 nicht die administrative Zuständigkeit die Grenzen für die Ermittlungsaufgaben der Kommissionen vorgab, zeigt die Tatsache, daß Bauern aus dem Rentamt Burghausen, nämlich die der Gerichte Kling und Kraiburg, nicht nach Burghausen, sondern nach Wasserburg im Rentamt München eingeliefert wurden. Die Regierung Burghausen war eine der fünf leitenden Behörden im Kurfürstentum Bayern. Das ganze Land bestand aus fünf Rentämtern als mittleren Verwaltungseinheiten mit je einer Regierung – in München der Hofrat – an der Spitze. Regierungssitze waren München, Burghausen, Landshut, Straubing und Amberg.
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wöhnlich ergiebige und klare Aussagen zur möglichen Rechtfertigung, aber auch zu den Rechtsgrundlagen einer Verurteilung von Untertanenaufständen überliefert sind.
Inquisitionsverfahren – Malefizprozesse: der konkrete Ablauf Der Ablauf der Verfahren kann praktisch in drei ineinander übergreifende Phasen gegliedert werden: Am Anfang steht das Ermittlungs- und Vorverfahren, das Inquisitionsverfahren im engeren Sinn also; daran schließt sich die Urteilsbildung an, ein sehr komplexer Vorgang, an dem mehrere Gremien beteiligt waren; den Abschluß bildete für die schweren Fälle das sogenannte Malefizgericht des Blutbannrichters. Die Verhöre begannen in Burghausen am Montag, dem 27. Februar, frühmorgens, geleitet von vier Räten der Regierung, zwei davon waren studierte Juristen. Man überhörte die im Schloßamthaus gefangenen 25 Männer auf „Fragstuck“ oder „Interrogatoria“, also zu Listen mit vorgefertigten Fragen. Diese Prozedur bezeichnet gemäß der bayerischen Malefizprozeßordnung den Beginn eines gerichtlichen Strafprozesses.²⁸ Derart Befragte sind in einem Inquisitionsprozeß Beschuldigte.²⁹ Mit ihren Antworten müssen sie sich „verantworten“, und das ist bei diesem Verfahren zugleich die einzige Möglichkeit, etwas zur eigenen Verteidigung beizutragen.³⁰ Am 11. März waren die Ende Februar Verhafteten alle gütlich verhört und ihre Aussagen protokolliert. Wie sich zeigte, hatten sie den vorgebrachten Anschuldigungen „durchgehendt widersprochen“, sie waren „nichts gestendtig“.³¹ Mit diesem Befund begnügten sich die Räte allerdings nicht. Sie beschlossen, weitere „Erfahrungen“ einzuholen, und schickten einstweilen einen Zwischenbericht nach Braunau. Dort war man mit dem Prozeßverlauf noch weniger zufrieden; beim Geheimen Rat und beim Kurfürsten rief der Regierungsrapport „befrembden und müßfallen“ hervor und veranlaßte die postwendende Ermahnung, „die verstockhte gesellen […] mit mehrerm ernst anzugreiffen“³², das heißt, verstärkt mit der Folter gegen sie vorzugehen. Damit waren ein kritischer Punkt des peinlichen Verfahrens und ein Angelpunkt des Inquisitionsprozesses angesprochen. Im Allgemeinen werden ja Folter und Inquisitionsprozeß in unheilvoller wechselseitiger Verstrickung gesehen: „Die Ge-
Malefitz ProceßOrdnung (wie Anm. 25), 2. Tit., 1. Art. Der verhaftete „arme“ Mensch war nicht Angeklagter. Malefitz ProceßOrdnung (wie Anm. 25), 4. Tit.,1. Art. Einen Anwalt bekam der Gefangene erst in der letzten Prozeßphase zu Gesicht, während des Malefizverfahrens, wenn das Urteil schon feststand, aber noch nicht förmlich geschöpft war. Malefitz ProceßOrdnung (wie Anm. 25), 6. Tit., 1. Art. Anders war es beim Akkusationsverfahren; ebd., 4. Tit., 1. Art. Ein Regierungsadvokat wird in Burghausen z. B. 1735 erwähnt. Hornung, Umrittsprotokolle (wie Anm. 8 ) S. 133. BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 349. Ebd., Schreiben vom 12. März 1634.
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schichte des Inquisitionsprozesses ist zugleich die Geschichte der Folter“³³, heißt es. Dabei wird die prozessuale Rolle der Folter in erster Linie durch ihre Funktion als ‚Geständnis-Erzeugerin‘ definiert. Der Nachweis der materiellen Wahrheit als Urteilsvoraussetzung, wie er seit dem späteren Mittelalter im Kriminalverfahren erforderlich wurde, habe dazu geführt, dem Geständnis als der regina probationis und damit der Tortur eine zentrale Position im Inquisitionsverfahren einzuräumen.³⁴ Den Strafprozeßordnungen ist diese Gewichtung allerdings nicht ohne weiteres zu entnehmen. Die Carolina, die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, auf die sich in diesen Punkten auch die bayerische Malefizprozeßordnung beruft, setzt für die Anwendung der Folter den starken Verdacht auf ein schweres Verbrechen voraus und gestattet ihren Einsatz nur subsidiär, in Fällen, in denen kein klares gütlich abgelegtes Geständnis vorliegt oder kein ausreichend klarer Beweis geführt werden konnte.³⁵ In Bayern befanden zudem seit Anfang des 16. Jahrhunderts nicht die Richter, sondern allein die Räte der fünf Regierungen über die Anwendung der Tortur.³⁶ Die Handhabung der Folter in den Burghauser Rädelsführerprozessen entsprach diesem widersprüchlichen Bild insofern, als auch hier keine eindeutige Linie zu erkennen ist. Auf der einen Seite finden sich die wiederholten Ermahnungen des Geheimen Rats, also der Staatsspitze, „mit geschärftn examine“ gegen die Gefangenen vorzugehen oder ihnen „die saitten mehrer spannen“ zu lassen. Diesen Ermunterungen gegenüber blieb die Regierung Burghausen allerdings recht zurückhaltend, was schon aus der Tatsache hervorgeht, daß sie in den damals durchgeführten zweiunddreißig Inquisitionsverfahren, von denen zwölf in Malefizverfahren mündeten, nur vier Männer den Folterknechten überließ, und nur einer davon, nämlich Michael Maurberger, schwer gefoltert wurde, indem man ihn nicht nur „leer“, sondern mit Gewichten „aufzog“. Andererseits wird gerade beim Vorgehen der Regierung auch eine rechtliche Grauzone sichtbar. Denn Michael Maurberger wurde der Tortur nicht mit prozeß- oder beweisbezogener Zielsetzung unterzogen, sondern einzig aus poli Eberhard Schmidt, Die Maximilianischen Halsgerichtsordnungen für Tirol (1499) und Radolfzell (1506) als Zeugnisse mittelalterlicher Strafrechtspflege. Bleckede an der Elbe 1949 S. 52. Vgl. dazu Winfried Trusen, Strafprozeß und Rezeption. Zu den Entwicklungen im Spätmittelalter und den Grundlagen der Carolina, in: Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina (Juristische Abhandlungen 19). Hg. Peter Landau/ Friedrich Christian Schroeder. Frankfurt a. M. 1984 S. 29 – 118, hier 33 – 42. Rüping, Grundriß (wie Anm. 24) S. 46. Heinz Holzhauer, Geständnis, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1, Berlin 1971 Sp. 1629 – 1642, bes. 1634– 1638; Udo Kornblum, Beweis, ebd., Sp. 406 f.; Rolf Lieberwirth, Folter, ebd., Sp. 1150 f. Schmidt, Einführung (wie Anm. 24) S. 101; Rüping, Grundriß (wie Anm. 24) S. 39, 46; Mitteis/ Lieberich, Rechtsgeschichte (wie Anm. 24) S. 304 und 397. Die Anwendung der Folter regelt die Malefitz ProceßOrdnung (wie Anm. 25) im 3. Tit., 8. – 17. Art., orientiert an Art. 45 – 62 der Carolina. Josef Kohler/ Willy Scheel, Die Carolina und ihre Vorgängerinnen. I-IV. Text, Erläuterung, Geschichte. Bd. 1, Halle 1900 (ND Aalen 1968). Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 24) Bd. 1 (1889) S. 427 und Bd. 2, S. 298, 311 f. Schmidt, Inquisitionsprozeß in Bayern (wie Anm. 24) S. 47, 54 f. Schmidts merkwürdige Polemik geht ins Leere. Leiser, Strafgerichtsbarkeit (wie Anm. 24) S. 111.
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tischen Erwägungen. Die Regierung hielt nach eigener Darstellung Maurberger für überführt, „für genugsam convincirt und überwisen“, Kontakte zu den als rebellisch bekannten Bauern im benachbarten österreichischen Land ob der Enns unterhalten zu haben. Sie befragte ihn trotzdem peinlich darüber, und zwar „allein aus der ursach […] damit er bekhennen solle, waß er zu den Landel paurn gesagt, mit ihnen tractirt vnd ghandelt habe“; sie hatte nur noch politisches Interesse an näheren Einzelheiten, strafrechtlich war dieser Punkt bereits geklärt und erledigt. Die Räte erfuhren jedoch nichts Neues, denn Maurberger war auch auf der Folter „nichts bestendig“. Sie ließen es dann „dabei bewenden“ und erklärten, die Wiederholung der Tortur sei ihnen zu risikoreich erschienen, weil die Möglichkeit bestanden habe, daß Maurberger die Folter auch ein zweites Mal ohne Aussage überstünde und sich in diesem Fall „purgiert“ hätte. Das aber hätte zu der für die Räte absurden Folge geführt, daß sie ihn hätten entlassen müssen, obwohl sie ihn für überführt hielten.³⁷ Man hatte also von Michael Maurberger zu dieser wichtigen Frage der landesverräterischen Kontakte trotz der Tortur kein Geständnis erhalten, übrigens so wenig wie zu den anderen ihm vorgehaltenen schweren Vergehen, etwa zu seiner angeblichen Beteiligung an der Ermordung eines Soldaten. Die Vorverfahren gegen die übrigen verhafteten Untertanen endeten diesbezüglich ähnlich ergebnislos. Geständnisse gab es nur sehr vereinzelt und in eher nebensächlichen Fragen. Die Regierung konzentrierte ihre Vorverfahren denn auch ganz auf die Recherche. Sie holte „Erfahrungen“ ein, befragte Beschuldigte, Zeugen und Amtleute, forderte detaillierte lokale Berichte an, rekonstruierte Tathergänge, überprüfte Aussagen und Rapporte, konfrontierte Beschuldigte mit Zeugen, erwog Ungereimtheiten, Lügen und Irrtümer und ließ von allem Protokolle aufsetzen und Akten anlegen. Das Inquisitionsverfahren ist ein schriftliches Verfahren. Diese „eingeholte Erfahrung“, Evidenz und Zeugenaussagen, sowie Geständnisse in Teilbereichen, bildeten dann die Basis der Urteile. In Burghausen führte man also Inquisitionsprozesse durch, bei denen auf Einsatz der Folter weitgehend verzichtet wurde, und es wurden dort Kriminalurteile ausgesprochen, die sich nicht auf Geständnisse stützten.
Urteilsbildung – Komplexität verschleift Verantwortung An der Urteilsbildung waren die Räte der Regierung maßgeblich beteiligt. Das verstand sich bei den frühneuzeitlichen Strafverfahren in Bayern keineswegs von selbst. Im Gegenteil, im üblichen Kriminalverfahren war die ermittelnde Instanz nicht mit der urteilenden identisch. Die Urteilenden bekamen einen Delinquenten, über dessen Schicksal sie entschieden, gewöhnlich nicht zu Gesicht, sie orientierten sich vielmehr allein an den ihnen vorliegenden Schriftstücken. In diesem Fall aber hatte der Kurfürst den Räten befohlen, die Ermittlungen vorzunehmen und Vorschläge für die Urteile zu
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unterbreiten. Die Räte sträubten sich zunächst nicht gegen die Doppelfunktion. Sie erarbeiteten bis zum 16. März für die große Mehrzahl der Verhafteten, nämlich einundzwanzig Personen, Urteilsvorschläge und sandten sie zur Ratifizierung nach Braunau. Sie empfahlen, alle einundzwanzig Gefangenen gegen Urfehde aus der Haft zu entlassen, drei ohne jegliche Strafe, die meisten gegen einen Verweis und Bezahlung der Verpflegung, sieben sollten zusätzlich mit einer Schandstrafe belegt, einer ein Jahr lang, ein anderer bis zur Rückkehr seines flüchtigen Sohnes des Landes verwiesen und Michael Orttner zwei Jahre zum Militärdienst verurteilt werden. Die Strafvorschläge der Regierung steigerten das Mißfallen des Kurfürsten, das ihr Vorverfahren erregt hatte, zum „ungnädigsten missfahlen“.³⁸ In Braunau hatte man schon länger den „saumsall“ der Burghauser zu „spüren“ vermeint, nun war man von deren Obstruktionsneigungen überzeugt. „Bei entsezung deß diensts“ erging daher ein scharfer Befehl, die Ermittlungen erneut aufzunehmen. Die Mehrzahl der von der Regierung empfohlenen Strafen erschien Kurfürst und Geheimem Rat nämlich bei weitem zu milde. Mit gleichem Schreiben wurde geboten, einige der Verhafteten vor das Malefizgericht zu stellen. Der Burghauser Bannrichter sollte in eigener Person ein Malefizgericht besetzen, und an die Räte erging wenig später die Anordnung, auch für die Malefizfälle Urteilsvorschläge abzufassen. Diese Befehle lösten in Burghausen starke Proteste aus. Sowohl der Bannrichter wie auch die Räte baten dringend um Verschonung. Sie beteuerten, es sei „alhie und bei andern regierungen nit herkhomen, in malefizsachen daß urtl zuesprechen“, und erboten sich, um von diesem unangenehmen Geschäft enthoben zu sein, sogar auf eigene Kosten bei der Universität Ingolstadt Konsultativurteile einzuholen.³⁹ Diese Vorgänge sind einigermaßen erstaunlich, wenn man bedenkt, daß in der erst zwei Jahrzehnte alten bayerischen Malefizprozeßordnung die Vorbereitung von Malefizurteilen zu den ureigensten Aufgaben jeder bayerischen Regierung gerechnet wird.⁴⁰ Ob das Herkommen und die Praxis tatsächlich soweit von den gesetzlichen Regelungen entfernt waren, kann man bezweifeln, nicht zu bezweifeln aber ist der ernsthafte Widerwillen der Räte gegen ihre Beteiligung an malefizgerichtischen Dingen. Sie sahen darin eine Gefahr für ihre Ehre. Schon Mitte des 16. Jahrhunderts war nämlich geklagt worden, daß die Nähe zum Malefizgericht dem Adel „hinderlich und schimpflich“ sei. Vom Malefizgericht als einem Blutgericht strahlten starke Infamievorstellungen aus, die alle gesellschaftlichen Schichten durchströmten; der Adel machte da keine Ausnahme. So war auf Drängen des Adelsstandes und um die adeligen Pfleger und Landrichter von ihren Aufgaben beim Malefizgericht zu absolvieren, um 1580 das Amt des Bannrichters geschaffen worden⁴¹,
Ebd., Schreiben vom 20. März 1634. Ebd., Schreiben vom 27. März und vom 1. Apr. 1634. Malefitz ProceßOrdnung (wie Anm. 25), 1. Tit., 1. Art. In Bayern gab es zwischen 1584 und 1808 (mit kurzen Unterbrechungen Ende des 18. Jahrhunderts) in jedem Rentamt einen Bannrichter. Er wurde von den Pflegern resp. den Landrichtern besoldet und hatte deren Aufgaben bei der Urteilschöpfung im Malefizgericht und am Endlichen Rechtstag zu
2 Ein politischer Kriminalprozess – das Verfahren
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und nun, fünfzig Jahre später, protestierte bereits wieder ein solcher Bannrichter gegen seine Beteiligung am Malefizgericht. Die Landesherren duldeten diese Vorgänge nur ungern, und Maximilian ließ die Gelegenheit nicht ungenutzt vorüberziehen, die sich ihm 1634 in Burghausen bot. Er befahl mit Nachdruck die Abschaffung des alten Mißbrauchs und die gänzliche Durchführung der Verfahren durch die Burghauser Räte. Diese fügten sich am Ende und wandten sich mit großer Sorgfalt der Vorbereitung und Abfassung der Malefizurteile zu. Am 12. April übersandten sie die „unmaßgeblichen rechtlichen gutachten“ für die ersten vier Malefizfälle, nämlich die Urteile über Michael Maurberger, Michael Orttner, Balthasar Vettinger und Hans Innerlohner zur „Resolution“ nach Braunau. Sie legten ihnen einen sogenannten „Hauptbericht“ bei, in dem sie ihre grundsätzliche Rechtsmeinung zum Problem des Untertanenaufstands ausführten. Insgesamt hatten sie zwölf Malefizurteile zu präparieren. In Braunau überprüfte einer der Geheimen Räte die Burghauser Urteilsvorschläge an Hand der Akten. Er fertigte eine Stellungnahme mit teilweise abgeänderten Strafvorschlägen an, bevor im Kollegium darüber beraten wurde. Mit der kurfürstlichen Resolution, die nochmals leichte Änderungen aufwies, stand das Strafmaß endgültig fest. Trotz dieser Tatsache und obwohl den beiden Gremien, die hier an der Urteilsbildung mitgewirkt hatten – nämlich die Regierung Burghausen und der Geheime Rat –, zweifellos die höchste jurisdiktionelle Gewalt im Lande zukam, waren diese „Urteile“ formell offenbar immer noch „Urteils-Vorschläge“ ohne Rechtskraft. Denn jetzt mußte der Burghauser Bannrichter als der gesetzlich zuständige Verwalter des Blutbannes in der Region ein Malefizgericht besetzen. Dies war das erste förmliche Gericht, das sich an der Urteilsbildung beteiligte: Die Regierung Burghausen und der Geheime Rat verstanden sich bei ihren Sitzungen nicht als „Gerichte“, schon gar nicht als „Hofgerichte“.⁴² Der Bannrichter besetzte das „stille Malefizrecht“ – so wie es seit einiger Zeit in Bayern üblich war⁴³ – mit Bürgern der Stadt Burghausen als Urteilssprechern. Er ließ ihnen die Vergehen der Bauern und die Urteilsvorschläge der Räte vortragen und forderte sie auf, ihre Meinung dazu zu äußern und darüber abzustimmen. Erst sie „schöpften“ das „Urteil“, sie taten es allerdings so, wie es ihnen „bedeutet“ oder „an die handt geben“ worden war.⁴⁴ übernehmen. Malefitz ProceßOrdnung (wie Anm. 25), 1. Tit., 1– 3. Art., 5. Tit., 6. Art. und 6. Tit., 2. Art. Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 24) Bd. 2, S. 314; Riezler, Geschichte Baierns. Bd. 8. Gotha 1914 S. 465 – 467; Leiser, Strafgerichtsbarkeit (wie Anm. 24) S. 99 – 101, 245 – 248. Das Hofgericht trat in Bayern nur in Zivilverfahren, und zwar bei ordentlichem, nicht summarischem Prozess in Erscheinung. Malefitz ProceßOrdnung (wie Anm. 25), 4. Tit., 3. Art. In den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts war das „stille“ Malefizrecht noch keine Selbstverständlichkeit, wie die Prozesse gegen den Goldmacher Bragadin 1591 und die Bauernführer aus der Grafschaft Haag 1596 zeigen. Die komplizierte Kompetenzaufteilung bei der Urteilsfindung wird in einem Schreiben des Geheimen Rats an die Regierung Burghausen einzuhalten befohlen: Die Regierung möge anordnen, daß der Bannrichter und die Urteilschöpfer das Malefizgericht wie herkömmlich besetzen, und ihnen so-
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Weiter war es Aufgabe des Bannrichters, für die öffentliche Verkündigung der „heimlichen“ Urteile zu sorgen, und seine Befugnis, ihren öffentlichen Vollzug anzuordnen.⁴⁵ Die förmliche Öffentlichmachung der Urteile im Malefizgericht war ein substantieller Teil der Strafe: Eine scheinbar gleiche Strafe, beispielsweise die Verurteilung auf mehrere Jahre zum Militär, wie sie die Regierung Burghausen am 16. März für den „Rädelsführer“ Michael Orttner vorgeschlagen hatte, gewann in dem Moment eine ganz andere Qualität, in dem der „Rädelsführer“ vor das Malefizgericht gestellt und ihm dort in der Öffentlichkeit die „Kondemnierung“ zum Kriegswesen verkündet wurde. Der Ehrverlust und die Befleckung, die durch die Kontamination mit dem Infamiegehalt des Malefizgerichts als eines Blutgerichts dem Verurteilten anhafteten, bewirkten einen regelrechten Qualitätssprung im Strafmaß. Denn Blutgericht blieb das Malefizgericht seinem Wesen nach, auch wenn in der Praxis damals nur der kleinere Teil seiner Urteile Lebens- oder Körperstrafen betraf.
Die Urteile Von den zwölf in Burghausen 1634 vor das Malefizgericht gestellten „Rädelsführern“ wurden zehn – acht Bauern und zwei Bürger – auf Zeit, nämlich zwischen einem und drei Jahren, des Landes verwiesen, drei davon, darunter eben Michael Orttner, in der verschärften Form als „Kondemnierung“ zum Militär. Die härtesten Strafen trafen die Brüder Michael Maurberger und Balthasar Vettinger aus dem Gericht Mörmoosen. Vettinger wurde mit Ruten gezüchtigt und des Landes auf ewig verwiesen, Michael Maurberger aber enthauptet, sein Leib anschließend gevierteilt und die fünf Körperstücke an Schnellgalgen neben der Straße vor den Toren der Stadt und an der Grenze zu Oberösterreich auf dem Hirschberg zur Schau gestellt. Die Hinrichtung am 28. April fand auf ausdrücklichen kurfürstlichen Befehl in der militärisch gut gesicherten Stadt Burghausen statt und nicht, wie es üblich gewesen wäre, an der heimatlichen Gerichtsstätte des Verurteilten. Man befürchtete ein neuerliches Aufflammen des Aufstandes. Am 8. Mai waren die Burghauser Malefizverfahren abgeschlossen. In Wasserburg, wo 1634 zwei- bis dreimal so viele Prozesse durchzuführen waren, endeten die
dann ihre, das ist der Regierung, „rechtliche mainung vnd schluß, was gegen ainen und anderen, so für das malefiz gestellt wird, seines verbrechens halben,von rechtswegen für ain vrthail zu schöpfen an die handt geben“ und dies Urteil vom Malefizgericht ordentlich aussprechen lassen; BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 349. Wolfgang Schild, Der „entliche Rechtstag“ als das Theater des Rechts, in: Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina (Juristische Abhandlungen 19). Hg. Peter Landau/ Friedrich Christian Schroeder. Frankfurt a. M. 1984 S. 119 – 144; Richard van Dülmen, Das Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. München 21988.
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letzten Verfahren erst Ende August. Hier wurden fünf Bauern zum Tode verurteilt.⁴⁶ Sie waren alle, wie ja auch Michael Maurberger, beschuldigt worden, an der Ermordung von Soldaten beteiligt gewesen zu sein. Das Leben wurde ihnen als Mördern, nicht als Rebellen abgesprochen.
3 Strategien – der machtinterne Hintergrund Bei Schilderung der Burghauser Verfahren gegen die „Rädelsführer“ war es mehrmals notwendig geworden, offensichtliche Spannungen innerhalb der Obrigkeit, nämlich zwischen der Regierung Burghausen einerseits und dem Kurfürsten mit dem Geheimen Rat andererseits, anzusprechen. Ungewöhnlich erschien dabei weniger die Haltung des Landesfürsten als vielmehr die der Burghauser Räte. Sie funktionierten nicht als willfähriges Exekutivorgan kurfürstlicher Befehle. Bei näherer Betrachtung ihres Verhaltens erkennt man rasch, daß es sich bei den Querelen nicht um ein gewöhnliches Knirschen im administrativen Getriebe handelte, sondern daß der Sand von der Regierung bewußt und als Mittel zum höheren Zweck gestreut worden war. Die Regierung stand in sachlicher Opposition zum Kurfürsten.
Einsichten der Burghauser Räte Diese Position hatte sie nicht von Beginn des Aufstandes an eingenommen. Man kann ihr einen Gesinnungswandel nachweisen und diesen auch mit einiger Sicherheit datieren: Als Kurfürst Maximilian um den 20. Februar die Verhaftungen der Untertanen vorbereitete, gebot er der Regierung Burghausen, alsbald Prozesse gegen Rädelsführer durchzuführen, wie es sich in „notorischen rebellionsfällen“ gebühre. Damals verwendete man in Burghausen dieselben Vokabeln, man befaßte sich mit der Verhaftung von „Rebellen“, wie Schreiben vom 21. und 25. Februar vermelden. In der Folgezeit verstummte die Regierung für zwei ganze Wochen. Sie war mit den Verhören befaßt, die Räte sprachen mit den gefangenen Bauern und Bürgern und vernahmen ihre Argumente. Während die Regierung völlig mit den Untertanen beschäftigt war und schwieg, drängten aus Braunau unentwegt kurfürstliche Befehle und Ermahnungen herein – am 27. Februar, am 1., 3., 7. und 10. März. Am 11. März meldete sich Rudolf von Donnersberg, der Hauptmann der Regierung Burghausen, dann zu Wort; aus seinem Sprachschatz war jetzt das Wort „Rebell“ verschwunden. In Burghausen sprach man fortan nur von den Untertanen, von den Bauern und Bürgern oder der Bauernschaft. Erst am 12. April in ihrem sogenannten „Hauptbericht“ taucht das Wort „Rebellion“ in
Riezler, Der Aufstand (wie Anm. 5) S. 87 f.; BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 343. Es handelt sich um drei Bauern aus der Hofmark Griesstätt im Gericht Kling und um zwei Männer aus der Grafschaft Haag.
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Schreiben der Regierung neuerlich auf. Nach allen Regeln juristischer Kunst wird in diesem Hauptbericht das Vorliegen des Rebellionstatbestandes bestritten. Die veränderte Wortwahl der Regierung war also kein Zufall, sondern zeigte die veränderte Haltung zur Sache an. Es muß den gefangenen Untertanen in den Verhören trotz der schwachen Position, die sie als Beschuldigte im Inquisitionsverfahren einnahmen – man spricht sogar vom Objektcharakter der Delinquenten im Inquisitionsprozeß –, gelungen sein, die Räte von der Redlichkeit ihrer Sache zu überzeugen. Wenn die Regierung sich anfangs auch nicht alle Konsequenzen ihrer neuen Überzeugung vergegenwärtigt haben mag, daß der Kurfürst den Aufstand grundsätzlich anders beurteilte, das wußte sie freilich ganz genau. Sie vermied es zunächst, offenen Kollisionskurs zu steuern, und versuchte das Rebellionsproblem stillschweigend zu unterlaufen. Die ersten 21 milden Strafvorschläge vom 16. März bezeugen diese Absicht. Sie stehen in keinem Verhältnis zum ursprünglich erhobenen Vorwurf der Rädelsführerei in einer Rebellion und den dafür gesetzlich vorgesehenen Sanktionen. Jedoch der stille Weg des Ausweichens wurde der Regierung durch den kurfürstlichen Befehl, mit Malefizverfahren gegen die Untertanen vorzugehen, prompt versperrt. Sie stand vor der Alternative, als schlichtes Erfüllungsorgan dem Willen und Drängen ihres Herrn nachzugeben oder offen Stellung zu beziehen und die sichere Ungnade ihres bekannt autoritären Landesherrn auf sich zu lenken. Ihr Hauptbericht und ihre Einzelgutachten belegen, daß sie sich für den Kampf entschieden hat. Für diesen Entschluß der Räte waren letzten Endes menschliche Erwägungen ausschlaggebend gewesen. Sie hatten einen Sachverhalt für wahr erkannt und setzten sich unter Inkaufnahme persönlicher Risiken dafür ein, weil ihr Gewissen es ihnen gebot. Den Forderungen des Gewissens auszuweichen, wofür die Entscheidungsfindung im Inquisitionsverfahren damaliger Art an sich regelrecht ersonnen zu sein scheint, war ihnen durch das kurfürstliche Gebot, selbst alle Stadien des Prozesses zu betreuen, verwehrt.
Gewissen contra Gehorsam – vom geschmeidigen Umgang mit der Macht Das offene Bekenntnis zur eigenen abweichenden Meinung bedeutete aber nicht, daß die Räte zugleich alle strategischen Vorsichten außer Acht gelassen hätten. Sie bauten dem Kurfürsten Brücken, indem sie sich bereiterklärten, trotz der grundsätzlichen Verneinung des Rebellionstatbestandes, die Taten einzelner Aufständischer einer strafrechtlichen Überprüfung zu unterziehen und einzelne vorgefallene „Exorbitantien“ zu ahnden. Diesen Ausweg beging man in der Praxis tatsächlich. Er ermöglichte es, Strafurteile vorzuschlagen und ganz überwiegend auch durchzusetzen, die ausdrücklich auf der Nichtexistenz eines Staatsverbrechens basierten und entsprechend milde waren. Er ermöglichte andererseits aber auch, daß überhaupt gestraft wurde, und kam damit den Absichten des Kurfürsten entgegen. Maximilian wollte strafen, er wollte durch die Strafe demonstrieren, daß er Recht und die Untertanen Unrecht getan hatten, und er versprach sich, wie man es damals allgemein tat, große
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Wirkungen vom Schrecken, den eine spektakuläre Exekution unter dem Publikum zu verbreiten imstande war. So finden sich wiederholt und eigentlich kontextlos makabre Äußerungen zum Thema Vierteilung und Schnellgalgen in den Schreiben aus Braunau, die ahnen lassen, worauf es bei dem Prozeß nach dem Willen des Landesherrn vor allem ankommen sollte. Er war erst in zweiter Linie als Strafverfahren gemeint, vorrangig war er als polit-pädagogisches Spektakel gedacht gewesen. Die tatsächliche Vierteilung Michael Maurbergers bezeugt diese Art von Strafwillen ziemlich eindeutig. Der Urteilsvorschlag der Regierung Burghausen hatte auf Tod durch Erhängen gelautet. Nach ausgiebiger Würdigung seiner verschiedenen Vergehen – eigenmächtige Aufgebote und Anlage von Kontributionen unter Gewaltandrohung, Schlagen der nachgesetzten Obrigkeit in Amtsausübung, Aufnahme von Kontakt zu ausländischen Rebellen – war sie zu dem Schluß gekommen, Michael Maurberger sei für die Beteiligung und Aufforderung zum Mord an einem Soldaten das Leben abzusprechen. Aus diesem Urteil für einen Mörder oder Totschläger machte man in Braunau ein Urteil für einen Verräter; denn die Strafe der Vierteilung zeigt das Verbrechen der Verräterei an und bedeutet, auf Michael Maurberger bezogen, sein Tod solle gegenüber der Öffentlichkeit und den Untertanen den landesherrlichen Rebellionsvorwurf mit dem Schein gerichtlicher Legitimierung versehen. Die „Obrigkeit“ fand also einen Weg, ihren sachlichen Meinungsgegensatz im Verfahren auszugleichen. Der Grad des Einflusses der Untertanen auf das Verfahren, vor allem aber auf die Argumentation in der Sache, ist trotzdem hoch zu veranschlagen. Die inhaltliche Argumentation der Burghauser Regierung baute auf den Rechtfertigungen auf, mit denen die Bauern und Bürger ihren Aufstand begründet hatten. Was die Räte speziell einbrachten in den gemeinsamen Argumentationshort, das waren die Schätze ihrer juristischen Gelehrsamkeit und das Wissen um den geschickten und effektiven Umgang mit den Mächtigen. Für dieses eine Mal zumindest, im Jahre 1634, nützte das „römische Recht“ – um Gustav Radbruchs anschauliche Metapher aufzunehmen und ihre Aussage zugleich mit einem Fragezeichen zu versehen – der „harten Hand“ des Landesfürstentums nicht auf gleich bedingungs- und bedenkenlose Weise, wie es das „Schießpulver“ getan hatte.⁴⁷ Die Justiz federte ihre Härte gelegentlich auch ab, das Militär verstärkte ihre Schlagkraft immer.
Gustav Radbruch, Der Raub in der Carolina. Breslau 1931, zuletzt in: Die Carolina. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Wege der Forschung 626). Hg. Friedrich Christian Schroeder. Darmstadt 1986 S. 7– 28, hier 23.
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4 Tatbestände Eine spezifische Aktenlage – grundsätzliche Positionen In den letzten Jahren sind zahlreiche historische Untersuchungen über Aufstände, Unruhen oder Revolten in der frühen Neuzeit erschienen.⁴⁸ Sie basieren weitgehend auf der Bearbeitung von Prozeßakten. Aber bei dem verwendeten Quellenmaterial handelt es sich in erster Linie um Akten von Zivilprozessen, nicht von Strafverfahren. Möglicherweise existieren Strafprozeßakten auch in geringerem Umfang als Zivilprozeßakten.⁴⁹ In Hinsicht auf politische Strafverfahren wurde zwar jüngst behauptet, ihre Akten seien auch in der Vergangenheit regelmäßig sorgfältig archiviert worden⁵⁰, aber das erscheint doch eher ungewiß, wenn man bedenkt, daß in der Literatur gewöhnlich immer dieselben wenigen Beispielsfälle genannt werden, etwa die Prozesse gegen Peter von Hagenbach, Hieronymus von Stauf oder Wilhelm von Grumbach.⁵¹ Die hier besonders interessierenden Strafverfahren gegen aufständische Untertanen glichen zudem häufiger puren Strafaktionen als förmlichen Strafprozessen, so daß dabei von vornherein wenig Schriftliches und damit Archivierbares, geschweige denn größere Mengen von detailliertem Prozeßmaterial anfallen konnten.⁵² Am großen deutschen Bauernkrieg von 1525 kann man das beobachten, ordentliche Prozesse gegen die Führer der Bauern wurden nach der Niederlage nur ausnahmsweise eingeleitet.⁵³ In Bayern machten die Herzöge damals nicht kurzen, sondern gar keinen Zusammenfassend hierzu: Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300 – 1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 1). München 1988. Unter den riesigen Beständen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München soll es beispielsweise nur zwei vollständig erhaltene Strafprozeßkonvolute geben. Michael Kunze, Der Fall der Bäuerin von Winden. Zum Einfluß der Carolina auf die Praxis des Münchner Hofgerichts im 17. Jahrhundert, in: Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina (Juristische Abhandlungen 19). Hg. Peter Landau/ Friedrich Christian Schroeder. Frankfurt a. M. 1984 S. 177– 204, hier 178. Wolfgang Leiser, Strafrechtspflege in Schwaben vom Mittelalter zur Neuzeit. Ein Überblick, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 45. 1986 S. 9 – 23, hier 14. Hermann Heimpel, Das Verfahren gegen Peter von Hagenbach zu Breisach (1474). Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Strafprozesses, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N. F. 55. 1942 S. 321– 357. Akten gibt es zu diesem Prozeß allerdings auch keine mehr. Sigmund Riezler, Der Hochverratsprozeß des herzoglich bayerischen Hofmeisters Hieronymus von Stauf, Reichsfreiherrn zu Ernfels, in: Sitzungsberichte der philos.-philol. u. hist. Cl. d. Kgl. bay. Akad. d. Wiss. zu München. 1890 (1891) S. 435 – 506; Friedrich Ortloff, Geschichte der Grumbachschen Händel. Bd. 4, Jena 1870. Von den Bundschuhaufständen, deren erhaltenes Material von Albert Rosenkranz nahezu vollständig publiziert wurde, gibt es zwei Prozeßprotokolle und vereinzelte Urgichten; Albert Rosenkranz, Der Bundschuh. Die Erhebungen des südwestdeutschen Bauernstandes in den Jahren 1493 – 1517. Bd. 2, Quellen. Heidelberg 1927. Eberhard Mayer, Die rechtliche Behandlung der Empörer von 1525 im Herzogtum Württemberg. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte des sogenannten „Deutschen Bauernkriegs“. Tübingen 1957 S. 32– 47; Helmut Gabel/ Winfried Schulze, Folgen und Wirkungen, in: Der deutsche Bauernkrieg. Hg. Horst Buszello u. a. Paderborn usw. 1984 S. 322– 349, hier 334 f.
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Prozeß: Ausdrücklich „an alle Rechtvertigung“ sollten 1525 die in Traunstein gefangen liegenden Bauernhauptleute enthauptet werden.⁵⁴ Aktenmaterial von Kriminalprozessen gegen bäuerliche Rädelsführer aus dem 16. und 17. Jahrhundert gehört also vermutlich eher zu den archivalischen Raritäten. Der eigentliche Quellenwert derartiger Akten ist natürlich nicht mit ihrer Kuriosität erfaßt, er liegt in dem zusätzlichen Erkenntnisangebot, das sie darstellen. Die Gegenüberstellung mit den Aussagemöglichkeiten der Zivilprozeßakten aus den Untertanenkonflikten, die ja wie gesagt bereits vielfach fruchtbar verwendet wurden, verdeutlicht das. Die Besonderheit des Strafprozeßmaterials liegt nämlich darin, daß hier das Thema „Aufstand“– Rebellions-Unrecht und Widerstands-Recht – ausdrücklich im Mittelpunkt der ganzen Argumentation steht. In den Zivilverfahren hingegen kann dieses Problem, unabhängig von der Radikalität der während der Konflikte eingesetzten Kampfmittel oder Streitformen, allenfalls am Rande oder implizit zur Sprache kommen, denn Prozeßgegenstand sind hier die zwischen den Parteien strittigen Rechtsverhältnisse, aber niemals strafrechtlich definierte Tatbestände wie Rebellion oder Aufstand, sowie deren Rechtfertigung und Spiegelung in konkreten Ereignissen. Im Zivilverfahren rechtfertigen die Untertanen ihre einzelnen Forderungen oder Weigerungen, im Strafverfahren aber ihren Widerstand. Wenn es irgendwo zu einer Grundsatzdebatte über das Thema „Rebellion“ kommen kann, dann im Strafverfahren. Denn natürlich waren die politischen Strafprozesse zu keiner Zeit gewöhnliche Kriminalverfahren, auch damals nicht, als man die Frage „politische Kriminalität, echte Kriminalität?“ noch nicht erörterte, und zwar schon deshalb nicht, weil der im Grunde immer gleiche Anspruch der „Rebellen“ aller Zeiten, gestützt auf ein vermeintlich „besseres“ Recht, die legale Machtordnung angreifen oder übergehen zu können, sie im Verteidigungsfall zwingt, und auch in früheren Zeiten zwang, über die positivrechtliche prozessuale Argumentationsebene hinauszugehen und ihre Handlungsweise mit der Darlegung ihrer Ideale zu legitimieren. In politischen Strafverfahren werden regelmäßig politische Wertvorstellungen ausgesprochen und eingesetzt, um die Verkürzung von Taten zu Tatbeständen zu verhindern. Diesen Vorgang kann man bei den Burghauser Strafverfahren im Frühjahr 1634 besonders gut beobachten, weil die Aufständischen in den Räten der Regierung kompetente und ausdrucksgewandte Sprachrohre gewonnen hatten.
Wer ist ein Rädelsführer? Zunächst müssen jedoch die Tatbestände, ihre strafrechtlichen Umschreibungen und die gesetzlich vorgesehenen Sanktionen erörtert werden. Die Bauern und Bürger, die Ende Februar 1634 in zwölf oberbayerischen Landgerichten verhaftet wurden,
Fritz Zimmermann, Unbekannte Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs 1525 in Bayern, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27. 1964 S. 190 – 234, hier 207 f.
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sahen sich mit dem Vorwurf der Rädelsführerei konfrontiert. Die Vorgänge, denen sie als Rädelsführer Vorschub geleistet haben sollten, wurden mit Rebellion bezeichnet. Bauernrebellion war der wahrscheinlich am häufigsten benutzte Ausdruck der Braunauer Zentrale, man sprach auch von Sedition, Aufstand, Tumult, Aufruhr und Rottierung. Der Titel des in der Kanzlei des Geheimen Rats zusammengestellten „Verzaichnuß derjenigen landtsvnderthanen, welche bey iezigem pawrn aufstand und rebellion sich als rädlführer sonderbar aufrüeisch und rebellisch erzaigt, auch ander verhezt vnnd aufgewiglet haben“ enthält alle wichtigen Stichwörter.⁵⁵ Die beiden Begriffe Rebellion und Rädelsführer, mit denen die angeblich begangenen Verbrechen ganz überwiegend gekennzeichnet wurden, erscheinen in bayerischen Gesetzen an keiner Stelle. Rädelsführer scheint überhaupt ein Wort der politischen und der Umgangssprache bei Gericht, aber kein Terminus des älteren Strafrechts gewesen zu sein, obwohl es spätestens seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Gebrauch war. Mit Rädelsführer wird ein Verbrechertyp bezeichnet, darüber bestand in der frühen Neuzeit offensichtlich Einigkeit, der in der Rechtssprache als autor, causa oder prima mater, zu deutsch als „Aufwiegler“ und „Anstifter“, oder als „Anfänger“ und „Urheber“ eines Aufruhrs wider die Obrigkeit bekannt war. Die bayerische Gesetzgebung geht auf den Sachverhalt im fünften Buch der Landes- und Polizeiordnung von 1616 ein in dem Artikel „Von auffwiglung, Rottierung vnd Auffstandt der Vnderthanen“ sowie indirekt im nachfolgenden Artikel, der das Versammlungsrecht der Bauerngemeinden im Protestfall regelt.⁵⁶ Es ist dort vom „Auffwigler“ und „Anstiffter“ die Rede. Die Carolina von 1532 spricht in Artikel 127 lediglich von „einem“, der Aufruhr des Volkes wider die Obrigkeit mache.⁵⁷ Strafrechtlich erfaßt wäre demnach der Urheber und der Agitator eines Aufstands. Die Strafpraxis wurde häufig nicht so zurückhaltend gehandhabt, dort bemerkt man allenthalben die gefährliche Tendenz, es nicht beim Anstifter zu einem Aufstand zu belassen, sondern allgemein den Sprecher und Wortführer der Untertanen zu strafen. Die Gefahr war schon 1525 gesehen und angesprochen worden, als man angesichts des Strafterrors der Obrigkeiten prophezeite, es könne sich hinkünftig niemand mehr bereit finden, die „Notdurft“ der Gemeinden zu reklamieren, denn „wer die Notdurft sagen und vortragen wirt, der wirt vor Ufrwischer geacht werden, es wirt iderman aus Furcht der Tyrannen schweigen müssen“⁵⁸. In den Führern der Gemeinden und des Volkes witterte die Obrigkeit immer auch den Konkurrenten in der Herrschaftsübung. Einige südwestdeutsche Landrechte aus der Zeit um die Wende zum 17. Jahrhundert sprechen den Sachverhalt direkt an, unter den politischen Schwerverbrechern nennen sie ausdrücklich denjenigen, der „sich für ein Herrn und Obrigkeith, die er nit ist,
BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 343. Landts vnd Policey Ordnung der Fürstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn (1616), 5. Buch, 6. Tit., 2. und 3. Art. Kohler/ Scheel, Die Carolina (wie Anm. 35). Artikel 127 der Carolina von 1532 ist eine fast wörtliche Übernahme des Artikels 152 der Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507. Günter Franz (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges. München 1963 Nr. 204 und 585.
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uffwürfft“.⁵⁹ Die durchgehende Neigung zu spektakulärer Bestrafung der Rädelsführer hat auch hier ein Motiv. Der Aufwieglerartikel der bayerischen Landes- und Polizeiordnung von 1616 enthält keine Strafbestimmungen, sondern verweist auf die „ernstliche Strafe, welche wider die Auffwigler in Rechten versehen“ sei. Dabei war mit Sicherheit auch an den Artikel 127 der Carolina gedacht, der Enthauptung, Rutenschläge, Landes- oder Ortsverweisung als Strafe androht; denn 1596, 1634 und 1705 wurden in Bayern Rädelsführer mit Berufung auf die Carolina verurteilt.⁶⁰ In die strafrechtliche Bewertung des Tatbestandes Rädelsführerei fließen Umstände ein, die nicht aus der einfachen Berücksichtigung der Tathandlungen des Beschuldigten resultieren, sondern von der Art des Delikts, dessen Agitator der Rädelsführer angeblich war, abgeleitet werden. Das Vergehen der Rädelsführerei bezieht sich notwendig auf ein zweites Delikt, nämlich auf den Aufstand der Untertanen, den der Rädelsführer maßgeblich verursacht haben soll.
Was ist ein Aufstand? „Aufstand“ aber war nicht gleich „Aufstand“. Dieses Vergehen konnte in schwerer und in minder schwerer Form begangen werden. In der historischen Strafrechtswissenschaft wird die Ansicht vertreten, Artikel 127 der Carolina begreife den Urheber eines schweren staatsverbrecherischen Aufruhrs nicht mit ein, sondern sanktioniere das Vergehen eines Rädelsführers, der einen Aufstand eher geringerer politischer Gefährlichkeit verursacht habe.⁶¹ Man sieht in Artikel 127 einen jurisdiktionellen Fortschritt, weil der dort erfaßte Tatbestand dem alten umfassenden und ungefügen römisch-rechtlichen Majestätsdelikt entzogen worden sei, und vermutet aufgrund der Ausführlichkeit der Tatbestandsbeschreibung im Gesetz, daß es sich dabei um ein Produkt aus neuerer Zeit gehandelt haben müsse. Diese Annahme ist von anderer Seite als zutreffend erwiesen worden, wobei die Neuartigkeit der Aufstandsgesetzgebungstätigkeit deutscher Obrigkeiten um 1500 als Reaktion auf die vermehrten Un-
Johannes Martin Ritter, Verrat und Untreue an Volk, Reich und Staat. Ideengeschichtliche Entwicklung der Rechtsgestaltung des politischen Delikts in Deutschland bis zum Erlaß des Reichsstrafgesetzbuches (Schriften der Akademie für Deutsches Recht : Gruppe Strafrecht und Strafverfahren 12). Berlin 1942 S. 201; Thomas Würtenberger, Zum strafrechtlichen Schutz von Fürst und Staat im Landrecht von Baden-Durlach (1622/1654), in : Festschrift für E. Schmidt zum 70. Geburtstag. Hg. Paul Bockelmann/ Wilhelm Gallas. Göttingen 1961 S. 54– 69. 1596 wurden in der ehemaligen Reichsgrafschaft Haag zwei Bauernführer mit Verweis auf die Carolina zur Enthauptung verurteilt, dann aber begnadigt. 1634 wird im Rechtsgutachten für Michael Orttner Artikel 127 der Peinlichen Gerichtsordnung in Betracht gezogen; BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 349. Zu 1705/06 vgl. Sigmund Riezler/ Karl von Wallmenich (Hg.), Akten zur Geschichte des bairischen Bauernaufstandes 1705/06. Teil II, München 1914 S. 110 ff. Ritter, Verrat und Untreue (wie Anm. 59) S. 190 – 193; Friedrich Christian Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht. München 1970 S. 25.
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tertanenaufstände der Zeit und als Bemühen um deren Kriminalisierung erklärt wird.⁶² Die Unterscheidung zwischen einem Aufstand staatsverbrecherischer und einem eher polizeideliktischer Art wird vor allem mit der „milden“ Strafe begründet, die Artikel 127 verglichen mit Artikel 124 der Carolina ausspricht. Artikel 127 sieht, wie gesagt, im Höchstfall die Enthauptung des Delinquenten vor, während Artikel 124 den „Verräter“ mindestens mit Vierteilung, die Verräterin mit Ertränken, bedroht. Die Vierteilung gilt als die härteste Strafe und die Verräterei, die sie ahndet, als das schwerste Verbrechen nach deutscher Rechtsvorstellung.⁶³ Verräterei umfaßte politische Vergehen und Untertanendelikte, sie konnte aber auch an Privatpersonen begangen werden. In einer bayerischen Rechtsquelle wird Verräterei als politisches Vergehen ebenfalls angesprochen, und zwar bei Aufzählung der Viztumhändel, deren Bestrafung Sache des Landesherrn oder seines Vertreters, des Viztums war, in der Landesfreiheitserklärung von 1508. In Artikel 16 heißt es lapidar: „Wer wider sein herrschaft, obrigkeit oder den landfriden verräterey yebet und getriben hat.“⁶⁴ Wie das Vergehen näherhin aussah oder welche Folgen und Strafen es nach sich zog, wird nicht gesagt. Aber anders als die Rädelsführerei gemäß der Landes- und Polizeiordnung und anders als in Artikel 127 der Carolina konnte das Delikt der Verräterei von jedem einzelnen oder auch von einer Menge, nicht nur vom Agitator, begangen werden. Der Satz in der Landesfreiheitserklärung und die beiden Artikel der Landes- und Polizeiordnung waren die einzigen Gesetzesstellen, in denen in Bayern bis zum Jahre 1751 und dem Erscheinen des „Codex iuris criminalis Bavarici“ politische Delikte eine Regelung erfuhren. Das sogenannte „Zentraldelikt des politischen Strafrechts in der europäischen Rechtsgeschichte“⁶⁵, das Crimen laesae maiestatis, wird vor 1751 in Bayern nicht gesetzlich geordnet. Bei den Prozessen 1634 spielte das Majestätsdelikt auch keine Rolle. Mit verfassungsrechtlichen Rücksichten läßt sich diese verglichen mit der Mehrzahl der Staaten im Deutschen Reich ungewöhnliche Zurückhaltung nicht erklären; denn ganz abgesehen davon, daß schon Ende des 15. Jahrhunderts sogar Städte den Majestätsschutz für sich in Anspruch nahmen⁶⁶, besaß der bayerische
Peter Blickle, The Criminalization of Peasant Resistance in the Holy Roman Empire: Toward a History of the Emergence of High Treason in Germany, in: Journal of Modern History 58. suppl. 1986 S. 88 – 97. Rudolf His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters. T. 1, Leipzig 1920 S. 145 – 152; T. 2, Weimar 1935 S. 30 – 48; Schroeder, Der Schutz (wie Anm. 61) S. 24; Friedrich Schaffstein, Verräterei und Majestätsverbrechen in der gemeinrechtlichen Strafrechtsdoktrin, in: Im Dienst an Recht und Staat. Festschrift für W. Weber zum 70. Geburtstag. Hg. Hans Schneider/ Volkmar Götz. Berlin 1974 S. 53 – 68. Erklärung der Landtßfreyheitt der Fuerstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. Christoph U. Schminck, Hochverrat, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2, Berlin 1978 Sp. 179 – 186; Rolf Lieberwirth, Crimen laesae maiestatis, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1, Berlin 1971 Sp. 648 – 650; Ritter,Verrat und Untreue (wie Anm. 59) , passim; Schroeder, Der Schutz (wie Anm. 61) S. 30. So etwa die Stadt Worms in der sogenannten Wormser Reformation von 1498; Schroeder, Der Schutz (wie Anm. 61) S. 23.
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Landesfürst seit 1623 die Kurwürde, die ihm ohne jedes Wenn und Aber den weitgefaßten Majestätsschutz des Kapitels 24 der Goldenen Bulle von 1356 sicherte.⁶⁷ Die Durchsicht der strafgesetzlichen Bestimmungen legt es nahe, unterschiedliche Tatbestände für das Untertanendelikt „Aufstand“ anzusetzen. Dieselbe Begehungsart, ein Aufstand, konnte als Verrätereidelikt ein schweres Staatsverbrechen oder als Tumult und Aufruhr eher ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung sein, und die Taten der Anführer waren entsprechend zu beurteilen, die Bestrafung der Rädelsführer demgemäß vorzunehmen. Die Rechtslage ist aber in der frühen Neuzeit mit der Erwähnung der gesetzlichen Vorschriften nicht vollständig erfaßt. Dafür ist es unumgänglich, das gemeine Recht und die wissenschaftliche Rechtslehre zu berücksichtigen. Denn die Juristen, die durch ihre Urteilsvorschläge den entscheidenden Einfluß auf den Ausgang eines jeden Strafprozesses ausübten, wurden seit langem am römisch-kanonischen-italienischen Recht ausgebildet und trafen ihre konkreten Entscheidungen nicht, ohne neben den Gesetzen die Lehrbücher, Kommentar- und Konsiliensammlungen ihrer Lehrer und Kollegen, das Corpus iuris civilis und das kanonische Recht zu Rate gezogen zu haben. Was dort ausgeführt und gelehrt wurde, hatte nicht weniger Rechtskraft als die Reichs- und Landesgesetze: Die 1634 zum Tode verurteilten Bauern wurden mit Berufung auf die Lex Cornelia de Sicariis also ein Gesetz aus der Zeit vor Christi Geburt, gerichtet. Vieles, was mit Sicherheit längst dem Vergessen anheimgefallen wäre, überlebte durch das Kollektivgedächtnis der Wissenschaft die Jahrhunderte. Zur rechtlichen Beurteilung der Aufstandsproblematik trug das gelehrte Recht Wesentliches durch seine Rebellionsdefinition bei.
Was ist eine Rebellion? Der Rebellionsvorwurf, dem sich die Untertanen 1634 gegenübersahen, war im Strafverfahren nur mit dem Instrumentarium des gelehrten Rechts handzuhaben, auch wenn in der Anschuldigung selber deutlich ein vorwissenschaftliches Verständnis und ein umgangssprachlicher Begriff von Rebellion zum Ausdruck gekommen waren. Auf die Frage, was eine Rebellion sei, beanspruchte im 17. Jahrhundert die Wissenschaft die Antwort zu geben. Sie griff dabei zurück bis ins 14. Jahrhundert auf ein Edikt Kaiser Heinrichs VII., das 1313 in Pisa zur Bändigung der italienischen Städte erlassen und dem die sogenannte Declaratio, quis sit rebellis angefügt worden war, eine Erklärung darüber, wer als Rebell zu gelten habe.⁶⁸ Dieses kaiserliche Gesetz war in die Extravagantensammlung des Corpus iuris aufgenommen und von dem berühmten
In Kapitel 24 der Goldenen Bulle wird der Majestätsschutz auf die Kurfürsten übertragen. Dabei handelt es sich um die fast wörtliche Übernahme der Lex quisquis – C. 9,8,5 – aus dem Codex Justinianus. Karl Zeumer, Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des deutschen Reichs in Mittelalter und Neuzeit. Bd. 2, Weimar 21913; Paul Krueger (Hg.), Corpus iuris civilis. Vol. 2, Berlin 141967. MGH LL IV, 2, 966 f. Ritter, Verrat und Untreue (wie Anm. 59) S. 137– 149.
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Rechtsgelehrten Bartolus von Sassoferrato 1355 im Auftrag Kaiser Karls IV. umfassend kommentiert worden.⁶⁹ Johannes Martin Ritter meint, 1313/1355 sei Rebellion als neuer Begriff in die Lehre von den Staatsverbrechen eingeführt worden, und zwar neu im Hinblick auf die römisch-rechtliche Tradition und den sachlich rechtlichen Inhalt des römischen Crimen laesae maiestatis; inhaltlich bestünde das Neue in der Infiltration mit dem deutsch-rechtlichen Gedankengut über den Begriff der Infidelität.⁷⁰ Merkmale der Rebellion blieben seither die offen vorgetragene Auflehnung von Treuepflichtigen oder Untertanen gegen den eigenen Herrn, insbesondere den Gerichtsherrn, die als Ausdruck treuebrüchiger und feindlicher Gesinnung sowohl mit Taten handelnd als auch durch Nicht-Tun, mit Ungehorsam und Unterlassen begangen werden kann. Rebellion war von Anfang an als Majestätsdelikt bezeichnet worden, sie hatte die Vorstellungen vom Crimen laesae maiestatis inhaltlich abgewandelt, und da sie sachlich dem politischen Verrätereidelikt nahestand, das ebenfalls durch treubrüchige, feindliche, hinterhältige Gesinnung – zusätzlich jedoch auch noch durch Feindbegünstigung – gekennzeichnet war⁷¹, baute der Rebellionsbegriff eine Brücke zwischen den aus verschiedenen Wurzeln stammenden schweren Untertanendelikten. Das Gesetz Kaiser Heinrichs und der Kommentar des Bartolus blieben Grundlage für jedermann, der sich gelehrt zum Thema Rebellion äußerte, und bald hatten sie auf diesem Weg Folgen für jedermann, der in der Praxis „rebellierte“. Die Rechtswissenschaft verwandelte sich die Definitionsgewalt über diesen zentralen Bereich des Herrschaftsverhältnisses immer weiter an. Im 16. Jahrhundert hatte sie ihn schon fest im Griff und lehrte, es sei niemand „vor einen Rebellischen“ zu erachten – außer im Falle andauernder Offenkundigkeit –, ohne daß ein vorausgegangenes gerichtliches „ErklerungsUrtheil“ ihn als solchen erkannt hätte.⁷²Anfang des 17. Jahrhunderts verantworteten sich ganze Dorfgemeinden, etwa die Gemeinde Oberammergau, vor Gericht gegen den ihnen gemachten Rebellionsvorwurf.⁷³ Rebellion war im Allgemeinen kein Individualdelikt, sondern als eine Form von Aufstand ein Gruppenvergehen. Das wirft die Frage der strafrechtlichen Haftung der beteiligten Menge auf, zumal auch die Organisationsformen, wie Versammlungen und Bündnisse, die für das gemeinsame Handeln einer Gruppe unerläßlich sind, in der frühen Neuzeit fast überall verboten oder doch an restriktive Voraussetzungen geknüpft waren. Gesetzliche Grundlage des Bündnisverbotes im Reich stellt Kapitel 15
Ebd.; Schroeder, Der Schutz (wie Anm. 61) S. 21 f. Ritter, Verrat und Untreue (wie Anm. 59) S. 140, 143. Zur Kennzeichnung des Verrätereiverbrechens durch die drei Momente Treubrüchigkeit, Hinterhältigkeit und Feindbegünstigung durch J. M. Ritter vgl. Schaffstein, Verräterei (wie Anm. 63) S. 58. So Andreas Gail in seinem Handbuch der Reichskammergerichtspraxis, auszugsweise wiedergegeben bei Winfried Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbau 6). Stuttgart 1980 S. 200 – 203. BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1116, fol. ad. 4’ – 5’.Vgl. auch Schulze, Bäuerlicher Widerstand (wie Anm. 72) S. 218 f.
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De conspiratoribus der Goldenen Bulle von 1356 dar.⁷⁴ In der ständigen Wahlkapitulation der deutschen Könige und in vielen Landesordnungen wird es zudem ausgesprochen. In den Prozessen 1634 wurde auf Kapitel 15 der Goldenen Bulle Bezug genommen.⁷⁵ Die Bestrafung von Gemeinschaften oder Korporationen war gemeinrechtlich an sich nicht gestattet, da die Gefahr, Unschuldige mit zu bestrafen, vermieden werden sollte. Aber diese Regel galt nicht für Untertanenaufstände, hier konnten alle Beteiligten zur Verantwortung gezogen werden.⁷⁶ Doch unterschied sich die Strafe für die Menge von der für ihre Führer. Nur für die Rädelsführer waren die peinlichen Strafen in den Gesetzen vorgesehen.⁷⁷ In der Praxis verfuhr man, wie Anton Wilhelm Ertl Ende des 17. Jahrhunderts feststellte, meist nach der Regel „Geld von allen, Köpfe von wenigen, Furcht für alle“⁷⁸, oder die Obrigkeit nützte gleich die günstige Gelegenheit, der Menge gegenüber ihre „Gnade“ zu demonstrieren und die Last der Sühne mit um so schrecklicherer Strafe den wenigen Rädelsführern aufzuladen. Die Prozesse in Burghausen und Wasserburg im Frühjahr 1634 waren peinliche Prozesse und nur gegen die als Rädelsführer verdächtigten Personen gerichtet. Daß man die Menge, in diesem Fall Zehntausende von Untertanen, gerichtlich nicht belangen konnte, versteht sich von selbst. Auch wäre ein solches Vorgehen für die Obrigkeit kaum opportun gewesen. Die Beurteilung der Rädelsführervergehen hing entscheidend von der Bewertung des Aufstands ab, bei dem sie begangen worden sein sollten. Der Streit zwischen der Regierung Burghausen und dem Landesfürsten entbrannte auf Grund ihrer unterschiedlichen Einschätzung dieses Faktums. An der Tatsache des Aufstands selbst war nicht zu rütteln, man bedenke nur die Vorfälle im Dezember und im Januar, angefangen von der Nichtbefolgung der landesherrlichen Fuhrfrongebote über die Quartierverweigerungen, die selbstorganisierten militärischen Aufgebote bis zu den zahlreichen bewaffneten Versammlungen und der Austreibung landesfürstlichen Militärs. Der „auflauff der underthanen“ war evident, als Aufstand waren die Vorgänge „notorisch“. Selbst die Regierung Burghausen sprach in ihrem Hauptbericht,
Zeumer, Die Goldene Bulle (wie Anm. 67); Paul Heilborn, Die geschichtliche Entwicklung des Begriffs Landfriedensbruch, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 18. 1898 S. 1– 52, hier 14. BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 349; Rechtsgutachten Michael Orttner. Rechtlich berief man sich dabei auf das erwähnte Gesetz Kaiser Heinrichs VII. von 1313, das mit den Worten „Ad reprimenda multorum facinora“ beginnt und erklärte den Sachverhalt als eine Sonderbestimmung, eine sogenannte Singularität, die im Falle schwerer Verbrechen Platz greifen konnte; Ritter, Verrat und Untreue (wie Anm. 59) S. 138 f., 232, 240; Schaffstein, Verräterei (wie Anm. 63) S. 64– 66. Begründet wurde dies von der gemeinrechtlichen Lehre mit einem Verweis auf eine Stelle im Corpus iuris civilis (D. 48,4,1,1,), wonach von den schwersten gesetzlichen Strafvorschriften die Urheber eines Aufruhrs bedroht wurden. Anton Wilhelm Ertl, Praxis Aurea, Theil II, Fürstenrecht. Nördlingen u. Frankfurt 1737 (zuerst Augsburg 1686) S. 267– 272.
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dem Anti-Rebellions-Traktat, und in den Einzelgutachten vom „Paurnaufstandt“ oder „Paurnauflauf“. Die Frage war nur, ob die Ereignisse deshalb schon zu den „hechststraffmessigen vnd notorischen rebellionsfällen“ zu zählen waren, wie es für den Kurfürsten von Anbeginn gewiß und durch Notorität auch erwiesen war. Hier setzte die Regierung Burghausen an und machte ihrem Landesfürsten einen Strich durch die rasche Rechnung. Sie verwendete denselben schlichten Beweisweg, um genau das Gegenteil zu belegen. In ihrem Hauptbericht eröffnete sie die Widerlegung des Rebellionsvorwurfs mit der Feststellung, es wäre „dieser orthen herumb notorium vnd kundbar, daß vorbesagter tumult oder auflauff der vnderthanen, weder wider Eure Churfürstliche Durchlaucht als ihren von Gott vorgesezten Landsfürsten vnd Herrn, noch auch dem nachgesezte beambten vnd obrigkhaiten im geringsten nit gemaint“ gewesen sei. Mit dem Satz waren die wesentlichen Definitionsmerkmale des Rebellionstatbestandes aufgegriffen und ihr Vorhandensein zugleich bestritten: Das Tun der Untertanen war nicht „wider“ ihren eigenen Herrn gerichtet gewesen, es stellte keinen Angriff auf die eigene Obrigkeit dar. Dergleichen hätten die Untertanen „im geringsten nit gemaint“, das hatten sie nicht beabsichtigt, nicht gewollt, ihre Intentionen zielten nicht in diese Richtung. Ein Aufstand muß, um als Rebellion bezeichnet werden zu können, von Untertanen gegen die eigene Obrigkeit gerichtet sein und nicht gegen einen Dritten oder überhaupt ganz anderen Zielen dienen. Die Argumentation der Regierung konzentrierte sich auf die Untersuchung und Darstellung des Willens, der Absichten und Ziele, die hinter den Taten der Untertanen ihrer Meinung nach standen. Für die strafrechtliche Haftung spielten damals offenbar der freie Wille des Täters, seine Absicht und der Vorsatz, eine Tat zu begehen, sowie im Rebellionsfall insbesondere die aufrührerische, feindliche Gesinnung eine entscheidende Rolle. So behaupteten die Räte, von einem freien Entschluß der Untertanen zum Aufstand könne in den von ihnen untersuchten Fällen nicht die Rede sein, und insofern wäre es auch nicht möglich, davon auszugehen, hier seien rebellische Vorhaben geplant gewesen; denn die Untertanen seien zum Handeln gezwungen worden. Dabei habe es sich um einen doppelten Zwang gehandelt, einmal waren es die befürchteten, und zwar zu Recht befürchteten katastrophalen Zustände, die über das Land hereinzubrechen drohten, die die Menschen zum Handeln und in den Aufstand getrieben hätten, und zum anderen waren es häufig die Drohungen der Nachbarn, die sie zum Anschluß an die Bewegung nötigten. Zwang verhindere bekanntlich in Zivilsachen die Rechtsgültigkeit eines Vorgangs, und es sei nicht einzusehen, wieso dies in Kriminalfällen anders sein solle; denn was aus berechtigter, hier aus zweifach berechtigter Furcht, also iusto metu, getan würde, sei rechtlich allemal ungültig. Ein freier Wille käme in den Taten der Untertanen nicht zum Tragen, und ebensowenig ein Wille in Form eines Vorsatzes, ein Verbrechen begehen zu wollen; es fehle der animus delinquendi. Zum vollen Delikt gehörten nach gemeinrechtlicher Lehre die Tat und der Vorsatz, nur wenn beides zusammenkam, traf den Täter die volle Strafe des Gesetzes, während andernfalls eine Ermessensstrafe ausgesprochen werden konnte. Die fehlende Vorsätzlichkeit erfordere also im vorliegenden Aufstandsfall sowieso das Aussetzen der
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Normalstrafe und gestatte, wenn überhaupt, allenfalls die Anwendung der milderen poena arbitraria.Vor allem aber und am gründlichsten ließ sich die Regierung darüber aus, daß es bei den Aufständischen an der Absicht zu rebellieren vollkommen gefehlt habe. Weder wären die Untertanen dem Fürsten feindlich gesonnen gewesen, noch hätten sie ihn oder den Staat angreifen wollen. Es gäbe beispielsweise auch keine Traktate oder Schriften, die einen Angriff oder Umsturz des Gemeinwesens propagiert hätten. Der Tatbestand der Rebellion stand und fiel mit der Gesinnung der aufständischen Untertanen. Die große Bedeutung der Gesinnung für die Delinquenz gehört zu den überzeitlichen Eigenheiten politischer Vergehen. So steht man nicht an, die „staatsgefährdende Absicht“ unserer Tage mit dem animus hostilis, einem zentralen Rechtsbegriff der gemeinrechtlichen Lehre von den Staatsverbrechen, zu vergleichen.⁷⁹ Für ihre Sezierung des Rebellionsvorwurfs mit dem scharfen Besteck des gemeinen Rechts zogen die Räte der Regierung bekannte juristische Gewährsleute hinzu. Sie zitierten die in der deutschen Strafrechtswissenschaft wohl bekannten Italiener Baldus, Tiberius Decianus und Jacobus Menochius sowie die Deutschen Ludwig Gillhausen und Matthias Berlich.⁸⁰ Ihr Kronzeuge aber war der Franzose Nicolaus Boerius mit seiner um 1530 verfaßten Schrift De seditionibus. Ebenso wie der von den Räten auch herangezogene Konrad Braun bleibt er in der strafrechtswissenschaftlichen Tradition hierzulande gewöhnlich unerwähnt.⁸¹ Als Rechtsquellen nennen die Räte beiläufig das Corpus iuris civilis und das Corpus iuris canonici, die Carolina, die Goldene Bulle und die bayerische Landes- und Polizeiordnung von 1616, aber auf diesbezügliche Vollständigkeit wurde ganz offensichtlich kein Wert gelegt.
5 Berufung auf eine natürliche Ordnung – die Rechtfertigung Mit Hilfe der „allgemeinen geschribnen rechten, vnd denselben lehrern, so von disem crimine ex profess schreiben“, hatten die Räte ihre Rechtsmeinung abgesichert und für erwiesen erachtet, daß der jüngste Aufstand nicht „pro vera et formali seditione zu halten, per consequens […] mit der ihenigen straff, so in peinlichen rechten auf dergleichen verbrechen gewibmet“ nicht geahndet werden könne. Aber dabei ließen sie es
Schroeder, Der Schutz (wie Anm. 61) S. 2. (Johann August Roderich) von Stinzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. 1. Abth., München 1880 S. 639, 736 f. Schmidt, Einführung (wie Anm. 24) S. 150 – 153; Rüping, Grundriß (wie Anm. 24) S. 163 – 170;. Friedrich Schaffstein, Die Allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft des gemeinen Strafrechts. ND Aalen 1973 S. 3 – 6. Nicht nur die Strafrechtswissenschaft, auch die politikgeschichtliche Forschung hat die Seditionsliteratur stark vernachlässigt, wie Winfried Schulze, Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Der Deutsche Bauernkrieg 1524– 1526. Hg. Hans-Ulrich Wehler (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 1). Göttingen 1975 S. 277– 302, hier 293, festgestellt hat.
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nicht bewenden. Nachdem sie die Rebellion argumentativ zum Aufstand heruntertransformiert hatten, gingen sie daran, nun den Aufstand als eine gerechtfertigte Tat darzustellen. Sie waren ja von den Aufständischen überzeugt worden, daß die Untertanen ihr Tun sehr wohl begründen und legitimieren konnten. Sie hatten deren Argumente verstanden, sie teilten offensichtlich deren Rechtsüberzeugung, und sie waren daher in der Lage, den einfachen, aber grundsätzlichen Aussagen der Bauern und Bürger die Sprachform und den Gedankenrahmen zu geben, die das Gewicht und die Reichweite der bäuerlichen Aufstandsbegründung erst klar erkennbar machten. Sie griffen auf die Grundsätze des christlichen Naturrechts zurück.
Defension – ein Notrecht Das zentrale Argument der Bauern, mit dem sie ihr Handeln und ihre Weigerungen begründeten, konnte schon bei Ausbruch der Auseinandersetzungen vernommen werden. Sie vermochten es nicht, die geforderten Fuhrfronen zu leisten, sagten die Klinger am 2. Dezember 1633, denn sie müßten zum Schutz ihrer Häuser daheim bleiben. Entsprechend lautete die Parole, mit der in den folgenden Tagen in den Gemeinden für den Anschluß an die Bewegung geworben wurde, die Nachbarn sollten „eines aufstandts mit zusein, sich vnd das irige zuretten und den schedlichen soldaten widerstand zuthuen“⁸². Die meisten Untertanen, so erfuhren die Räte bei den Verhören, waren entschlossen gewesen, „sich ehender beysammen vnd auf dem hauffen erschlagen zu lassen, dann daß sie mit heryberlassung der soldaten solliches ehlendt an ihren weib und khünden, hauß vnd hoff ansehen sollen“, wie es ihnen durch die glaubhaften Schreckensschilderungen ihrer Nachbarn im Westen bekannt war. Die Untertanen hatten sich, so übersetzten die Räte, in „äußerster Not“ und aus „berechtigter Furcht“ versammelt, und sie hatten zu den Waffen gegriffen, um „ihr leib und leben wie auch hauß und hof zu erhalten“. Sie wollten sich selbst schützen, ihre Familien und Höfe verteidigen, sie sorgten sich um den Erhalt ihrer eigenen Existenz. Hier und sonst nirgendwo ist das Motiv für ihre Taten zu suchen. Eine vernünftige und einigermaßen erfolgversprechende Selbstverteidigung ist aber nur möglich, wenn man sich organisiert. Die Bauern mußten also Versammlungen und Beratungen abhalten, sie mußten sich bewaffnen und in Haufen zusammenfinden, die Aufgebote und der Glockenstreich waren notwendig gewesen. Auch wenn der einzelne nur sich und die Seinen hätte retten wollen, so erforderte dieses Ziel doch die Ausdehnung der Maßnahmen auf die weitere Umgebung, den Einbezug einer größeren Region in die Pläne, die Organisierung des Unternehmens als Schutz der Heimat. Man würde dem Tun der Untertanen nur gerecht, wenn man zugestünde, daß sie der Überzeugung gewesen wären, nicht gegen, sondern für den Staat zu handeln, wenn sie die Heimat verteidigten – sie wären „darein gangen, quasi non contra sed de republica
BayHStA, Dreißigjähr. Krieg Akten 343.
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sit, regionem defendere, et armis tueri“. Das Unternehmen war von keiner anderen Absicht getragen gewesen, als dem Willen von Bauer und Bürger, sich selbst zu verteidigen; es war keine andere Maxime verfolgt worden als die defensio sui et rerum suarum. Die Selbstverteidigung aber ist ein Recht, das die Natur gewährt: defensio quippe est iuris naturalis. Die Selbstverteidigung ist von Natur erlaubt, cum defensio de naturali licita. Die Räte griffen auf einen naturrechtlichen Grundsatz zurück und verwiesen dabei auf das Corpus iuris civilis und auf das kanonische Recht. Die Gültigkeit dieser Vorstellung war für sie und ihre bayerischen Zeitgenossen über jeden Zweifel erhaben. Eine Handlung war erst strafbar, wenn sie terminos defensionis überschritt – so setzten die Räte die Grenzen, jenseits derer sie Vorfälle während des Aufstands zu strafen bereit waren – oder wenn mit dem „Mantel der Defension“ die Rebellion verdeckt werden sollte, wie Kurfürst Maximilian argumentierte. Das Recht der Selbstverteidigung aber mußte immer und überall anerkannt werden, weil es von Gott durch die Natur den Geschöpfen mitgegeben, in sie hineingelegt worden war. Das Recht, sich zu verteidigen, gehörte zu jenen Rechten und Pflichten, die so allgemeiner und grundsätzlicher Art waren, daß die Natur nicht nur die Menschen aller Rassen und Völker, sondern auch ihre Mitgeschöpfe, die Tiere, damit ausgestattet hatte. Die allergemeinsten Grundsätze des Naturrechts waren den Geschöpfen gemeinsam. Das spätantike Naturrecht, wie es im Corpus iuris civilis, und das christliche Naturrecht, wie es im Corpus iuris canonici Niederschlag gefunden hatte, nehmen dieselbe Einordnung des Menschen unter die Kreatur vor, und zumindest in den ersten beiden neuzeitlichen Jahrhunderten folgte man in Bayern ohne Bedenken dieser Sehweise. Erst Kreittmayr Mitte des 18. Jahrhunderts glaubte, Ulpian wegen der Albernheit, den Tieren Rechte eingeräumt zu haben, tadeln zu müssen.⁸³ Für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts galt noch, was Andreas Perneder einhundert Jahre zuvor gesagt hatte.⁸⁴ Seine Bücher über Recht und Gericht erreichten eben damals ihre weiteste Verbreitung. „Den Pernedern“ pflegen die bayerischen Gerichtsbeamten auf dem Lande „gemainikhlich“ zu lesen, wird 1608 im Münchner
Wiguläus Xaver Aloys Frh. v. Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem. 1. Th., München 21821 1. Kap. 5. Andreas Perneder wird von der Rechtswissenschaft unter die sogenannten Praktiker eingereiht. Er unternahm den Versuch, das gesamte Privatrecht, Prozeßrecht, Lehnrecht und Strafrecht seiner Zeit in einem großen praktischen Handbuch des geltenden Rechts zusammenzufassen. Perneder war Bayer, im Münchner Hofrat und an der Universität Ingolstadt tätig. Er starb 1543. Seine Schriften erschienen zuerst 1544 und erlebten im Laufe des 16. Jahrhunderts ca. 20 Auflagen. Klaus Luig/ H. Rail, Perneder Andreas, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3, Berlin 1984 Sp.1579 – 1585. Nach Stinzing, Rechtswissenschaft (wie Anm. 80) Bd. 1, S. 630, potenzierte sich sein ohnehin großer Einfluß vor allem auf die Praxis des Strafrechts dadurch, daß seine Werke von Anderen hemmungslos ausgeschrieben wurden.
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Hofrat zufrieden konstatiert⁸⁵, und im Vorwort zur Neuauflage 1614 wird sogar behauptet, die Beliebtheit der Pernederschen Bücher sei derart groß, daß man sie nicht nur in jeder Bibliothek, sondern schier gar in jedem Hause vorfände.⁸⁶ Andreas Perneder aber erläutert in seinen Institutionen wie „deß natürlichen Rechtens […] nicht allein die Menschen, sondern gemeinigklich alle vnvernünfftige Thier […] von der Natur vnderwisen vnd theylhafftig gemacht wären“. So sei auch „einer jeden lebendigen Creatur eingeben, von Natur sich selbst, auch sein Leib vnd Leben zubeschützen, das, so ihme schädlich abzulainen, vnd sonst, was er zu Auffenthalt seines Lebens nottürfftig, als Nahrung vnd waid, Underschleiff vnd Herberg zu suchen und vberaiten“.
Ergänzend kommt er bei Erörterung des Völkerrechts, das allen Menschen ebenfalls von Natur gegeben ist und das die „nothtürfftige Gegenwehr“ gestatte, zu der summierenden Aussage, „dann was jemandt zu Schutz und Rettung seins Leibs oder Guts fürnimbt oder thut, darinn ist er billich ohn Straff“.⁸⁷ Der Einbezug der Tiere in das Recht dient argumentativ in der Praxis dazu, den Geltungsanspruch dieser Rechtsgrundsätze für den Menschen mit umso größerer Schärfe betonen zu können. Das Würmlein, das sich unter dem Druck eines gewaltigen Tieres krümmt, und nicht einfach töten läßt, wurde zur Legitimationsmetapher für das Recht des Menschen zur Selbstverteidigung, zur Selbsthilfe, zu Notwehr und auch zum Widerstand. Dietrich von Plieningen war damit bei den scharfen Auseinandersetzungen im bayerischen Landtag im Sommer 1514 den Herzögen entgegengetreten: „Der Babst vnnd Kayser mögen den vnnderthanen Jus naturale & Jus gentium, das nattürlich Recht vnnd das menschlich Recht, das aus der nattur genomen, nit benemmen, ob sy es aber vnnderstuenden, so seind die vnnderthanen solches zugedulden nit schuldig. Defensio ist den vnderthanen von natur zugelassen, vnnd mögen sich dagegen sezen. So ain klain würmlein von ainem gwaltigen Thier gedruckht wirdet, so khrymbt es sich von nattur, das ist dem menschen auch zugelassen.“⁸⁸
Ähnlich argumentierten Georg Erasmus Tschernembl während des Oberösterreichischen Bauernkriegs 1597 und die aufständischen oberösterreichischen Bauern in ihrem Schreiben an den Kaiser im Juli 1626.⁸⁹
Reinhard Heydenreuter, Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1598 – 1651) (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 72). München 1981 S. 144 Anm. 372. Andreas Perneder, Imp. Caes. Justiniani Institutiones, etc. Ingelstadt 1614, 5. Vorrede. Ebd., 6, De Jure Naturali, Gentium et civili, 8. Franz von Krenner, Der Landtag im Herzogthum Baiern vom Jahre 1514. München 1804 S. 472 f. Teilabdruck des Gutachtens von Tschernembl in: Schulze, Bäuerlicher Widerstand (wie Anm. 72) S. 185 – 190, hier 189. Schreiben der aufständischen Bauern von 1626 in: Felix Stieve, Der Oberösterreichische Bauernaufstand des Jahres 1626. Bd. 2, München 21905 S. 255 – 268, hier 266.
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Selbsterhalt – Legitimation jenseits staatlicher Ordnung Das Recht, sich selbst zu verteidigen, das die Natur den Menschen und den Tieren gab, folgt zwingend aus ihrem Recht auf Leben. Sich verteidigen ist ebenso natürlich, wie sich ernähren, ist eine andere Form des Selbsterhalts. Bei Perneder ist zu sehen, wie zwanglos das Recht der Kreatur, sich selbst zu beschützen, neben das Recht, für seine Nahrung zu sorgen, gestellt ist, beide sind eben die zwei Seiten einer Medaille. Bei Kreittmayr findet sich dieselbe Verbindung in der Beschreibung der christlichen Pflichtenordnung, als welche er die Sozialordnung versteht: „Nach den Pflichten gegen Gott sind die gegen uns selbst die allernächsten, welche wir mit dem Recht der Natur zu beobachten haben.“
Diese Pflichten gegen uns selbst sind das „Notwehrrecht“, der Wille zum Guten, die Pflicht, sein Leben, seine Gesundheit zu erhalten und für die eigene Notdurft zu sorgen.⁹⁰ Das natürliche Recht der Defension, das dem Menschen gegeben ist, erwächst ausschließlich aus seinem Recht auf Leben, ist von seiner Herkunft und in seinem Wesen auf die Situation des kreatürlichen Menschen bezogen. Erst in Ableitung davon erreicht es auch Bedeutung im Herrschaftsverhältnis. Die natürliche Defension hat statt, wenn der Mensch, sein Lebensunterhalt, seine Familie, Haus, Hof und Heimat in Gefahr sind, wenn der „Exitial-Untergang“ der „Provinz“ droht, wie im bayerischen Bauernkrieg 1705/06 geklagt wurde.⁹¹ Geht diese Gefahr von der eigenen Obrigkeit aus, dann greift dieses Recht auch gegenüber der eigenen Obrigkeit. Worauf es aber ankommt, ist zu erkennen, daß nicht das Handeln oder Unterlassen der Obrigkeit der Ausgangs- und Angelpunkt für das Tun der Untertanen war, sondern deren eigene Situation, die Betrachtung ihrer eigenen Lage. Unsere herrschaftsbesetzte Sehweise verführt dazu, Untertanen immer als auf Obrigkeit reagierend wahrzunehmen, aber so weit war es damals möglicherweise noch nicht. Der Mensch war erst in zweiter Linie Untertan oder Obrigkeit, zuerst stand er auf seinem Platz in der göttlichen Schöpfungsordnung. Der Begriff „Defension“ war in der frühen Neuzeit sehr positiv besetzt, wobei ein Teil dieser positiven Konnotation sich der Negativbesetzung des Gegenbegriffs „Offension“ verdankt. Der Defension entsprach als Mittel der Auseinandersetzung das „Wort“, der Offension die „Tat“. Im Streit kam es darauf an, die Rolle desjenigen einzunehmen, der gezwungen ist, sich zu verteidigen. In den frühneuzeitlichen Staaten und Herrschaften diente dem Zweck, den Menschen ihre ungehinderte Defension zu ermöglichen und zu gewährleisten, ein gut organisiertes und fest institu-
Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 83) 1. Th., 2. Kap., S. 32– 35; Wolfram Peitzsch, Kriminalpolitik in Bayern unter der Geltung des Codex iuris criminalis Bavarici von 1751 (Münchener Universitätsschriften/ Reihe der Juristischen Fakultät 8). München 1968 S. 24, 34, 52. Riezler/ Wallmenich, Akten (wie Anm. 60) T. II, S. 152.
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tionalisiertes Beschwerde- und Supplikenwesen.⁹² Beschwerden und Bitten waren das verbreitetste Mittel der Defension. Natürlich wurde auch der Gerichtsweg zu diesem Zweck beschritten. Diese beiden Wege waren die favorisierten Wege der Defension ohne „Tat“. Wesentlich spannungsreicher stellt sich die Defension durch Tun oder Nicht-Tun, nämlich die Notwehr dar. Im engeren strafrechtlichen Sinne gab es seit dem Mittelalter im gemeinen Recht, auch in der Carolina beispielsweise, Notwehrbestimmungen für die spontane Abwehr eines lebensbedrohlichen Angriffs.⁹³ Ein Recht auf Notwehr im Falle allgemeiner Existenzbedrohung und eines allgemeinen Notstandes, wie es 1633/ 34 in Anspruch genommen wurde, war nirgends gesetzlich geregelt, sondern bezog seine Legitimation aus dem Naturrecht der „defensio sui et rerum suarum“. Das war das Recht auf Selbsthilfe, das aufgrund der Pflicht zur Selbsterhaltung notwendig und gerechtfertigt war. Seine Inanspruchnahme konnte rasch und auf verschiedene Weise zur Kollision mit der Obrigkeit führen. Denn obrigkeitliche Gebote und Forderungen, die die Wahrnehmung des vordringlichen Existenzschutzes gefährden konnten, wurden als zweitrangig hintangestellt, nicht befolgt und nicht erfüllt. Die Scharwerks-, Kontributions- und Quartierforderungen des Landesherrn, die zu erheben er ebenso berechtigt war wie die Untertanen schuldig ihnen nachzukommen, verfielen der Ablehnung mit Rücksicht auf die höhere Dignität des Selbsterhalts der Untertanen. Erst in dieser nachgeordneten und abgeleiteten Weise wurde das Tun der Bauern und Bürger Widerstand gegen Obrigkeit.⁹⁴
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Beschwerdewesen steht in krassem Mißverhältnis zur Bedeutung dieser Einrichtung im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Die klarste Überblicksinformation gibt Werner Hülle, Das Supplikenwesen in Rechtssachen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 90. 1973 S. 194– 212. Ekkehart Kaufmann, Notwehr, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3, Berlin 1984 Sp. 1096 – 1101; His, Strafrecht (wie Anm. 63) T. 1 S. 196 – 209. Die Diskussion über den Widerstand von Untertanen in der frühen Neuzeit, ebenso wie die Abhandlungen über das Widerstandsrecht dieser Zeit in den staatstheoretischen Schriften sind Variationen zum „Tyrannen-Modell“. Die Widerstandsfrage wurde danach erst akut, wenn der Herrscher die Staatszweckgrenze oder der Herr die mutua obligatio verletzte. Widerstand gegen Obrigkeit erwuchs in breiter Front aber auch aus ganz anderer Wurzel, war eher ein Beiprodukt oder ergab sich als Folgeerscheinung aus der Sorge um den Selbsterhalt, wie das Hauptargument der frühneuzeitlichen Bauernbewegungen, das Nahrungsargument, belegt. – Überlegungen über einen möglichen Zusammenhang von Notwehrrecht oder einem analogen Notrecht und dem Tyrannenmordrecht finden sich bei den katholischen Monarchomachen. Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt. Breslau 1916 (ND Aalen 1961) S. 113, 243 – 246. Zu einer aus lutherischer Wurzel stammenden und ein Notwehrrecht gegenüber unrechter Herrschaft erwägenden Tradition: Winfried Schulze, Zwingli, lutherisches Widerstandsdenken, monarchomachischer Widerstand, in: Zwingli und Europa. Hg. Peter Blickle u. a. Zürich 1985 S. 199 – 216.
Frei von fremder Willkür. Zu den gesellschaftlichen Ursprüngen der frühen Menschenrechte. Das Beispiel Altbayern Die Menschenrechte sind das Credo unserer Tage – Menschenrechte sind eine Glaubensangelegenheit.¹ Die amtlichen internationalen Dokumente und Abkommen jedenfalls beschreiben sie als das Resultat einer Überzeugung: Der „Glaube“ an die „Grundrechte der Menschen“, so hatten die „Völker der Vereinten Nationen“ 1945 in der Gründungscharta erklärt, veranlasse und leite ihr gemeinsames Handeln.² Glaubensbekenntnisse kann man nicht verifizieren oder widerlegen, allenfalls akzeptieren oder ablehnen. Daher hebt ihr axiomatischer Charakter³ die Menschenrechte in eine Sphäre absoluter Wahrheit und befreit sie insoweit vom Zwang diskursiver Rechtfertigung. Menschenrechte sind andererseits jedoch historisch gewordene⁴ und als solche kulturell verortbare Erscheinungen: Sie sind nach Inhalt, Idee und Form ein Erzeugnis des Abendlandes, das heißt, eines einzelnen von mehreren Kulturkreisen auf der Erde. Der bereits früh formulierte universale Geltungsanspruch dieser Rechte begann sich in dem Moment als Problem zu erweisen, als man beschloß – eben vor etwa einem halben Jahrhundert –, Ideal und Appell in positivrechtliche Wirksamkeit zu überführen. Denn über das Vehikel der Menschenrechte wurde zwangsläufig das okzidentale – „westliche“ – Welt- und Menschenbild als allgemein gültiges propagiert und rechtlich fixiert. Daß dabei der Glaube an die Grundrechte der Menschen mit anderen Glaubensvorstellungen anderer Kulturen zusammenstieß und -stößt, ist unvermeidlich. Inzwischen schuf die technische Entwicklung ein erdumspannendes Kommunikationsnetz, ein Zurück der Kulturkreise in die relative Isolation dürfte kaum mehr möglich sein. Die globale Kommunikation erfordert akzeptable und praktikable Regeln des Umgangs aller Menschen untereinander. Aus diesem Grund kommt der
Der Beitrag ist auch unter dem Titel: Appetitus Libertatis. A Social Historical Approach to the Development of the Earliest Human Rights. The Example of Bavaria, in: Human Rights and Cultural Diversity. Hg. Wolfgang Schmale, Goldbach 1993 S. 143 – 162 erschienen. Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945. In: Menschenrechte. Ihr internationaler Schutz. München 21985 (neubearb.). 1. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution 217 (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, Präambel, in: ebd., S. 5. Ulrich Klug, Versuch einer philosophischen Begründung der Menschenrechte, in: Menschenund Bürgerrechte. Hg. Ulrich Klug/ Martin Kriele (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 33). Wiesbaden 1988 S. 9 – 19. Zur Notwendigkeit der Historisierung vgl. Horst Dreitzel, Grundrechtskonzeptionen in der protestantischen Rechts- und Staatslehre im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Hg. Günter Birtsch (Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte 2). Göttingen 1987 S. 180 – 214. DOI 10.1515/9783110541106-005
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wissenschaftlichen Diskussion darüber, ob und inwieweit die Menschenrechte die geeignete Basis für das Zusammenleben der Völker darstellen, keineswegs nur akademische, sondern allgemeine und praktische Bedeutung zu. Der Ort geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen in der aktuellen Debatte aktueller Probleme wird gewöhnlich nicht ein Platz in der vordersten Linie der Argumente sein. Das trifft auch für die Auseinandersetzung um die Menschenrechte zu, es heißt aber nicht, in diesem Zusammenhang wären historische Beiträge überflüssig oder ohne Nutzen.⁵ Gerade ein Phänomen wie die Menschenrechte, das als axiomatische Setzung mit universalem Geltungsanspruch auftritt, sollte in seiner historischen Perspektivität – als eine gewordene und wandelbare, nicht als ewige Wahrheit – gesehen werden: Über Bedeutung und Zweckmäßigkeit der Menschenrechte kann durchaus nachgedacht werden. Im Zentrum der Diskussion über die frühen Menschenrechte stand als ein sogenanntes „Urrecht“ die Freiheit.⁶ Ihr gelten die folgenden Ausführungen. Dogmatisch erfaßt man die liberalen Menschenrechte vornehmlich über ihren Abwehrcharakter, über die Schutzfunktion, durch die sie den einzelnen Bürger vor Übergriffen seines Staates bewahren.⁷ Diese Betrachtungsweise gibt der Form des Rechts deutlich Vorrang gegenüber seinem Inhalt, und sie reduziert zugleich Menschenrechte auf Bürgerrechte. Hier soll der anderen Seite, der inhaltlichen Herausbildung der Freiheitsvorstellung⁸ und ihres Durchbruchs zu einem sozialen Leitwert nachgegangen werden. Unter
Zur Geschichte der Menschenrechte vgl. Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß. Berlin 21978; Gerd Kleinheyer, Grundrechte, Menschen- und Bürgerrechte, Volksrechte, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck. Bd. 2, Stuttgart 1975 S. 1047– 1082; Günter Birtsch/ Michael Trauth/ Immo Meenken (Hg.), Grundfreiheiten – Menschenrechte, 1500 – 1800. Eine internationale Bibliographie. 5 Bde., Stuttgart 1991/1992. Lászlo Sógom, Menschenrecht und Zivilrecht. Zur Vermittlung der Idee der Autonomie durch das Zivilrecht, in: Menschenrechte und Menschenwürde. Hg. Ernst-Wolfgang Böckenförde/ Robert Spaemann. Stuttgart 1987 S. 250 – 259, hier 251. Kritisch zu dieser weithin akzeptierten Deutung: Michael Trapp, Naturrecht, Wertordnung, Vernunft. Über einige Probleme beim Verständnis der Menschenrechte, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 72. 1986 S. 153 – 175. Im Selbstverständnis des Abendlandes war „Freiheit“ schon im Mittelalter ein Kennzeichen seiner Eigenart. Johannes Fried, Über den Universalismus der Freiheit im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 240. 1985 S. 313 – 361; ders. (Hg.), Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert. Der Zusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich. Sigmaringen 1991. Im Allgemeinen wird „Freiheit“ als ein primär bürgerliches Phänomen und Anliegen gesehen: Jürgen Schlumbohm, Freiheit. Die Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitwertes. Düsseldorf 1975; Christoph Dipper, Freiheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck. Bd. 2, Stuttgart 1975 S. 488 – 538; Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976; Klaus Schreiner, Jura et libertates. Wahrnehmungsformen und Ausprägungen „bürgerlicher Freiheiten“ in
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einem wissenschaftsinternen Aspekt stellt die Untersuchung, da sie den in diesem Zusammenhang eher ungebräuchlichen sozialhistorischen Zugang wählt⁹, zugleich eine Konfrontation mit der herrschenden Lehre von der Herausbildung der Menschenrechte dar, dergemäß Menschenrechte als philosophische Idee entstanden und als eine Domäne der Ideengeschichte zu sehen sind. Die ideelle Richtung, der die liberalen Menschenrechte zugerechnet werden, ist die Aufklärung oder genauer, das jüngere Vernunftnaturrecht. Die entscheidende Aktion, die Ende des 18. Jahrhunderts den Durchbruch zur Freiheit gebracht haben soll, habe darin bestanden, eine ältere Gedankenfessel zu sprengen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Naturrechtstheoretiker davon ausgegangen¹⁰, der Mensch entäußere sich beim – fiktiven – Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft/den Staat ganz oder doch teilweise seiner natürlichen Freiheit um des lieben Friedens willen. Nun befanden sie hingegen, der Mensch verliere seine natürliche Freiheit keineswegs, sondern behalte sie als Bürger im Staat bei, da sie ihm angeboren und unveräußerlich sei. Der Mensch galt ab jetzt als vergesellschaftet und frei. Den Staat aber stellte man in den Dienst dieser Freiheit, er hatte fortan die Freiheit des Bürgers zu gewährleisten. Soweit, so knapp und so grob die Theorie. Das Problem, das die Idee des Gesellschafts-/Staatsvertrags der menschlichen Freiheit und ihren Theoretikern beschert hatte, machte – nach allem was sich dazu feststellen läßt – dem großen Rest der Menschen weniger Sorgen.¹¹ Dessen Schwie-
Städten des hohen und späten Mittelalters, in: Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Hg. Hans-Jürgen Puhle. Göttingen 1991 S. 59 – 106. Sozialgeschichtliche Ansätze finden sich bei: Peter Blickle, Von der Leibeigenschaft zur Freiheit. Ein Beitrag zu den realhistorischen Grundlagen der Freiheits- und Menschenrechte in Mitteleuropa, in: Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Hg. Günter Birtsch (Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte 1). Göttingen 1981 S. 25 – 40; Winfried Schulze, Der bäuerliche Widerstand und die Rechte der Menschheit, in: ebd., S. 41– 56; Renate Blickle, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Hg. Günter Birtsch. (Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte 2). Göttingen 1987, S. 42– 64. Wolfgang Schmale, Gerichte und Rechtsentwicklung in Frankreich. Frankfurt 1986. Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre. Wien usw. 1979. Die am stärksten propagierte Vorstellung vom Aufbau der gesellschaftlichen Ordnung dürfte diejenige gewesen sein,wonach Obrigkeit und Untertanen zueinander in einem Verhältnis standen, das als wechselseitige, verschiedenartige Verpflichtung – mutua obligatio oder Gegentreu – zu begreifen sei, und jedermann seinen Platz nach göttlichem Willen einnahm. Diese Vorstellung wird nicht zuletzt in den Verträgen und Schiedssprüchen bemüht, mit denen größere Konflikte zwischen Untertanenschaften und Obrigkeiten üblicherweise beendet wurden. – Die Idee des Gesellschafts-/Staatsvertrages der Theoretiker wurde, wie jüngst dargelegt, selbst von Prototypen aufgeklärten Fürstentums, wie Kaiser Joseph II. und dem Markgrafen von Baden, nicht verinnerlicht. Beide glaubten keineswegs, ihre Regentschaft einem Vertrag zu verdanken, sondern waren der Meinung, aufgrund göttlichen Willens zu regieren. Günter Birtsch, Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers, in: Aufklärung 2. 1987 S. 9 – 47, hier 16 – 19. – Auch Wiguläus Xaver Aloys Frh. v. Kreittmayr, den Juristen und Staatsmann, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts die bayerischen Rechtskodifikationen reformierte, überzeugte die Erklä-
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rigkeiten mit der Freiheit spielten sich in einem ganz anderen Gelände ab. Vielerorts lebten nämlich direkt Tür an Tür und allen täglich vor Augen tatsächlich freie Menschen neben solchen, die unfrei waren, und das in ein und derselben herrschaftlichen oder staatlichen und eben auch in ein und derselben christlichen Gemeinschaft. Das war das Faktum, an dem die Gedanken der Leute beim Thema Freiheit ansetzten. Auf diesen Punkt konzentrieren sich auch die folgenden Ausführungen: Es soll versucht werden, die Spur der Freiheit nachzuziehen, die ihre Auseinandersetzungen mit der Unfreiheit in die Geschichte eingegraben hat. Das ist ein Weg, der nicht durch Theoriegebäude führt, sondern eher durch Gerichtsstuben und auch mal durch Wirtshäuser, und der endlich doch geradewegs auf die erste Grundrechtsgarantie in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts zuläuft. Der Ansatz erfordert die Befragung von Handlungen und die Analyse von Äußerungen auf erkennbare Motive, Intentionen, Werthaltungen und Gründe hin. Er ist nur in räumlicher und zeitlicher Beschränkung durchführbar und soll hier anhand des Geschehens in Altbayern während der Zeit von 1600 bis 1800 erprobt werden.¹²
1 Der Kampf gegen Unfreiheit Unfreiheit bedeutete im frühneuzeitlichen Bayern zunächst Leibeigenschaft – verschiedene rechtsherkömmlich beschriebene Formen der Unmündigkeit.¹³ Die Ausrungskraft des Gesellschaftsvertragsmodells letztlich nicht. Er beendete seine diesbezüglichen Überlegungen mit einem unentschiedenen „sei dem wie ihm wolle“: sein Glaube an das christliche Naturrecht erwies sich als stärker. Vgl. Wolfram Peitzsch, Kriminalpolitik in Bayern unter der Geltung des Codex iuris criminalis Bavarici von 1751. München 1968, S. 23 – 30. Das Kurfürstentum Bayern im alten Deutschen Reich war zu der Zeit ein relativ geschlossener Landesstaat mit etwa 600.000 bis 700.000 Einwohnern. Diese lebten zu über 80 % auf dem Land als Bauern, kleine Handwerker, Gewerbetreibende und Tagelöhner in etwa 110.000 bis 120.000 Häusern. Grund und Boden befand sich zu über 90 % in Form verschiedener emphytheutischer Leihen in der Hand der bäuerlichen und kleingewerblichen Bevölkerung. Pachtverhältnisse waren selten. Die Städte hatten vor allem als Verwaltungs- und Gerichtsorte Bedeutung; zahlreicher waren die auf regionalen Austausch angelegten Märkte. Das Gewaltmonopol des bayerischen Landesherrn war nicht vollendet, aber die kurfürstliche Gerichtsorganisation bezog in den einheitlich geregelten Instanzenzug auch die Gerichtsrechte anderer Gewaltträger – Adel, Geistlichkeit, Städte – mit ein. Erheblichere Streitsachen im Land, insbesondere die Konflikte zwischen Herren und ihren Untertanenschaften, kamen unvermeidlich zur Kenntnis der Zentrale, der Regierung in München. Leibeigenschaft wurde im 17. und 18. Jahrhundert einerseits als ein Abhängigkeitsverhältnis in Analogie zur (haus)väterlichen, vormundschaftlichen oder obrigkeitlichen Gewalt begriffen: vgl. dazu die systematische Stellung des Titels „Von aigenleuten“ im Bayerischen Landrecht von 1616 und im Codex Maximilianeus von 1756; in der Verfassung von 1808 ist dann von der Aufhebung eines Untertänigkeitsverhältnisses die Rede; andererseits aber als ein Eigentümerrecht beschrieben: „Einen Leibherrn macht das Eigenthumsrecht“, meinte etwa der bayerische Kanzler Caspar von Schmid in seinem Kommentar zum Landrecht. – Landrecht der Fürstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. München 1616, Titel 4. – Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis oder Neu verbessert- und ErgänztChurBayrisches Land-Recht. München 1756, Kapitel 8. – Constitution vom 1. Mai 1808, Titel 1,3, und
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einandersetzung mit der Unfreiheit begann mit dem Handeln der Leibeigenen: Sie kauften sich frei und führten Prozesse um ihre Freiheit. Erst geraume Zeit später ergriff der Diskurs die Sprache. Er besetzte das semantische Feld der Unfreiheit, reicherte es mit pejorativen Bedeutungen an und schuf schließlich einen Kampfbegriff ,Leibeigenschaft‘, der den Durchbruch der Freiheitsperspektive als Sichtweise auf das Herrschaftsverhältnis bedeutete. Die Entwicklung endete mit dem veränderten Handeln der Herren und der grundrechtlichen Garantie der persönlichen Freiheit in der Verfassung von 1808.
Die Freikäufe Die personale Leibeigenschaft hatte in Bayern in nahezu allen Regionen das Mittelalter überdauert. Bald nach 1600 begannen – verstreut über das ganze Land, aber merkwürdig gleichzeitig – einzelne leibeigene Personen damit, sich und ihre Kinder freizukaufen. Aus früheren Jahrhunderten ist nichts direkt vergleichbares bekannt. Im 16. Jahrhundert beschränkten sich die Aktivitäten der Leibeigenen auf Manumissionsgesuche, die von abzugswilligen Personen eingebracht wurden. Das traf auf die Mehrzahl der Leibeigenen, die nach 1600 ihre Freiheit kauften, nicht zu. Die meisten von ihnen zogen nicht fort, sondern blieben als freie Leute auf ihren Höfen und in der alten Herrschaft sitzen.
Edikt über die Aufhebung der Leibeigenschaft vom 31. August 1808. – Caspar von Schmid, Commentarius oder Auslegung des churbairischen Land-Rechts. Ins deutsche übersetzt. Augsburg 1747 (zuerst München 1695) T. 2 S. 242. Leibeigenschaft existierte in Form von Personal-, Real- und Lokalleibeigenschaft oder als Mischform. Personalleibeigenschaft wurde vererbt, Real- und Lokalleibeigenschaft gewöhnlich mit der Übernahme eines Gutes erworben. Realleibeigenschaft bedeutet, der Grundherr beansprucht auch die Leibeigenschaft. Lokalleibeigenschaft meint, eine Obrigkeit verlange von allen in einem bestimmten Gebiet sich häuslich Niederlassenden, unabhängig von der Grundherrschaft, daß sie sich in die Leibeigenschaft begeben, so z. B. in den Gerichten Aichach, Schrobenhausen, Friedberg, Rain und in der Herrschaft Eberspoint. – Die wirtschaftlichen Belastungen der Leibeigenen waren in der Regel nicht hoch. Sie bestanden meist aus einem geringen Rekognitionszins oder auch aus Heirats-, Abzugs- und Todfallabgaben. Das Retraktrecht war in der Neuzeit offenbar außer Übung, ebenso Fronarbeit aufgrund von Leibeigenschaft, aber gelegentlich wurden von den Kindern Zwangsdienste gefordert. Die finanziellen Einnahmen der Herren waren entsprechend gering. Um 1500 betrugen sie z. B. rund 1 % des herzoglichen Staatshaushaltes. Trotzdem läßt sich auf Seiten der Herren wenig Neigung, auf das Recht zu verzichten, feststellen. – Zur Leibeigenschaft in Bayern vgl. Heinz Lieberich, Die Leibeigenschaft im Herzogtum Baiern, in: Mitteilungen für die Archivpflege in Oberbayern Nr. 28. München 1948 S. 741– 761; Friedrich Lütge, Die bayerische Grundherrschaft. Stuttgart 1949; Adolf Sandberger, Entwicklungsstufen der Leibeigenschaft in Altbayern seit dem 13. Jahrhundert, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 25. 1962 S. 71– 92; Werner Troßbach, Südwestdeutsche Leibeigenschaft in der Frühen Neuzeit – eine Bagatelle?, in: Geschichte und Gesellschaft 7. 1981 S. 69 – 90; Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA), Generalregistratur (GR) Faszikel Nr. 1114– 1117.
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Die Zunahme der Freikäufe läßt sich in allen Teilen des Landes konstatieren. Eindrückliche Zahlen liegen vom Hofkastenamt München vor: In 80 Jahren, zwischen 1624 und 1704, verringerte sich die Menge der dort verzeichneten kurfürstlichen Leibeigenen von 10.231 auf 2.117 Personen, also auf ein Fünftel. Die Leibeigenschaft sei ziemlich „in Abschwung gekommen“, ermahnte denn auch ein kurfürstliches Mandat 1723 die Beamtenschaft zur Wachsamkeit. Der Trend hielt aber an, 1785 registrierte man im Hofkastenamt nur noch 80 zinsende Leibeigene. Als am Ende des 18. Jahrhunderts systematische landesweite Erhebungen durchgeführt wurden, verwiesen die Berichterstatter öfter darauf, daß Leibeigenschaft in der jeweiligen Region früher verbreitet gewesen sei, zu ihrer Zeit aber „gottlob“ nicht mehr existiere. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Gerichte und Herrschaften, so stellte sich damals heraus, war die Leibeigenschaft bereits völlig erloschen, in andern nur noch in geringen Spuren erhalten. In der Herrschaft Hohenaschau im Chiemgau etwa, wo im Jahr 1606 500 leibeigene Personen – ein Viertel der Gesamtbevölkerung – lebten, waren 1723 noch 25 Menschen und nach 1750 noch ein „Stamm“ leibeigen. Als der Inhaber der Herrschaft 1795 in aufklärerischer Manier die unentgeltliche Aufhebung der Leibeigenschaft offiziell kundtun ließ, stieß diese Proklamation dort auf keinerlei Interesse, weil niemand mehr durch sie angesprochen wurde. Anders im hauptstädtischen Regierungsblatt, hier rühmte man das Vorgehen als beispielhaft fortschrittliche Tat mit Überschwang. Die Leibeigenschaft war in Hohenaschau, wie sich im einzelnen nachweisen läßt, durch den Loskauf der Leibeigenen – also auf dem Weg der Selbstbefreiung – beseitigt worden.¹⁴ Die Menschen, die sich überall im Land freikauften, handelten allein und auf sich gestellt, sie traten nicht als Gruppe in Erscheinung. Über ihre Beweggründe ist entsprechend wenig bekannt. Was etwa Christian Taxer aus Innerwald in der Herrschaft Hohenaschau, wo er nichts weiter besaß als ein Haus und ein wenig Grund und Boden, 1682 veranlaßte, seine neun Söhne und im Jahr darauf seine Frau für insgesamt 165 Gulden freizukaufen, erfährt man nicht. Er zahlte übrigens drei Jahre lang an dem Betrag ab. Aber vielleicht machte sein Beispiel Schule in Innerwald. 1687 kaufte dort nämlich Thomas Angerer seine beiden elf Jahre und neun Monate alten Töchter und sich selbst für 50 Gulden frei, und als er gerade alles abgezahlt hatte, erwarb sein Nachbar Peter Neuchel um 60 Gulden die Freiheit für seine drei Töchter. Innerwald bestand aus acht Häusern. Die kargen Verlautbarungen, die man den Quellen gelegentlich entnehmen kann, weisen alle auf das gleiche einfache Motiv: Die Menschen hofften, durch den Freikauf ihre soziale Position aufzubessern, vor allem aber ihre Heiratschancen zu steigern. An diesem Punkt läßt sich vielleicht etwas von dem „Neuen“, das mit Beginn des 17. Jahrhunderts diffus spürbar wird, konkret fassen: Auch zuvor hatten die meisten
Vgl. Anm. 13. – Zur Leibeigenschaft in Hohenaschau vgl. Staatsarchiv München, Herrschaft Hohenaschau B 51, 52, 56, 69; A 891, 894, sowie BayHStA, GR Fasz. 1117, Bericht vom 20. Juli 1803. Sandberger, Leibeigenschaft (wie Anm. 13) S. 81, 90.
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Freikäufe im Zusammenhang mit einer geplanten Eheschließung gestanden. Doch erfolgten diese frühen Loskäufe im Interesse der Herren. Der abziehende Ehekandidat kaufte sich beim alten Leibherrn frei. Damit entschädigte er den Herrn für die Verluste an Rechten und Vermögen, die sein Fortgang mit sich brachte, und zugleich beugte er einer möglichen Interessenkollision zwischen altem und neuem Herrn vor. Einen ganz anderen Grund hatten dagegen die Freikäufe von Ehekandidaten im 17. und 18. Jahrhundert. Sie wollten frei sein, nicht um den Ordnungsvorstellungen der Herren zu entsprechen, sondern um den Ehrvorstellungen ihrer Ehepartner zu genügen. Seit dieser Zeit wird berichtet, leibeigene Töchter seien „schwerlich ohne befreyung zu heyrathlichen ehren fortzubringen“ (1639), da „dergleichen leibaigene persohnen geschichen“ (1697) „und von denen freygebohrnen fuer verachtet gehalten“ (1799) würden. Die Aufwertung des eigenen Status, vor allem aber die Sorge um die gesellschaftliche Stellung der Kinder bildete das Hauptmotiv der Freikäufe. Nur im Hinblick auf die künftigen Generationen lohnte sich der Einsatz auch finanziell. Wenn ein Ehemann die ganze Mitgift seiner jungen Frau in Höhe von 45 Gulden ausgibt, um sie freizukaufen, wie Mitte des 17. Jahrhunderts in Hohenaschau geschehen, war das für ihn und für seine Frau ein Verlustgeschäft, aber er sicherte dadurch die Freiheit seiner Kinder – in diesem Fall seiner Söhne. In Bayern vererbten sich nämlich Freiheit und Leibeigenschaft überkreuz, vom Vater auf die Tochter, von der Mutter auf den Sohn. Im übrigen waren die Freikäufe – was sich präzis nachrechnen läßt – für die Leibherren ein ähnlich unrentables Geschäft. Das Handeln beider Seiten läßt sich über den finanziellen Aspekt nicht erklären. Doch die Menge und die breite Streuung der unkoordinierten einzelnen Handlungen deuten durchaus auf einen – für uns nur schemenhaften – gemeinsamen Vorstellungshintergrund.
Die Freiheitsprozesse – causae liberales Parallel zur Zunahme der Freikäufe in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts häuften sich die Freiheitsprozesse. Immer mehr Menschen entschlossen sich offenbar, ihren Anspruch, frei zu sein, vor Gericht durchzusetzen. Die streitige Auseinandersetzung über die Leibeigenschaft wurde zunächst von einzelnen Personen, bald aber auch von Gemeinden oder der Einwohnerschaft ganzer Regionen geführt. In diesen Verfahren stießen nicht nur die Parteien und Standpunkte aufeinander, sondern auch die Rechtskreise. Im Streitfall galt im frühneuzeitlichen Bayern jedermann für frei, solange das Gegenteil nicht gerichtlich festgestellt war. Das bedeutet, niemand mußte seine Freiheit vor Gericht beweisen, sondern umgekehrt, derjenige, der eine Person oder eine Gemeinde als seine Leibeigenen beanspruchte, hatte seine Behauptung zu belegen. In den Freiheitsprozessen wird niemals versäumt, auf diese „Vermutung für die
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Freiheit“ – die praesumtio pro libertate – zu verweisen.¹⁵ Das bedeutete aber nicht, daß die ihrer Freiheit wegen Prozessierenden, die Freiheit auch tatsächlich leicht erlangten, denn wie die Gerichte die gegnerischen Beweise würdigten, war damit ja noch nicht entschieden. Bei der Beweiswürdigung trat dann auch tatsächlich das große Problem der causae liberales deutlich zutage. Fragen der Leibeigenschaft sollten von Rechts wegen nach Herkommen entschieden werden, mit diesem Herkommen waren aber die entscheidenden Juristen an den höheren Instanzen häufig nicht sonderlich vertraut. Anhand der Freiheitsprozesse etwa, die im 17. Jahrhundert im Gericht Geisenhausen angestrengt wurden¹⁶, läßt sich die wirre Lage, in der mit Beweisen und Regeln aus drei Rechtskreisen durcheinander argumentiert wurde, veranschaulichen. Als z. B. 1621 zwei Schwestern die Beschwerde vorbrachten, der landesherrliche Beamte behandele sie als Leibeigene, während sie sich als freie Frauen betrachteten, da ihr Vater ein freier Mann gewesen sei, ging der beklagte Beamte vor Ort daran, diese Behauptung der Frauen zu widerlegen. Er wollte die Leibeigenschaft des Vaters nachweisen. Das gelang ihm nicht. Ganz anders die Beschwerdeinstanz; die dortigen am gemeinen Recht gebildeten Räte erinnerten sich ihrer Studien, schauten ergänzend ins Landrecht und erklärten die Schwestern für leibeigen, da ihre Mutter leibeigen gewesen sei und in ihren Rechtsquellen stünde, partus sequitur ventrem – die Kinder folgen der Mutter.¹⁷ Die Schwestern wollten nicht akzeptieren, wie man mit ihnen und dem herkömmlichen Recht umging und stritten 20 Jahre und bis in die letzte Instanz – das Revisorium – um ihre Freiheit. Aber auch dort saßen natürlich gelehrte Räte. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, wurden dann Freikäufe und Freiheitsprozesse immer öfter von ganzen Gemeinden ausgehandelt. In Geisenhausen etwa prozessierten damals alle Leibeigenen gemeinsam, denn in der Zeit entwickelte sich Leibeigenschaft in der bayerischen Bevölkerung zu einem diskutierten Problem. Selbst Konflikte, die von einzelnen Personen ausgefochten wurden, fanden ein großes interessiertes Publikum oder erzielten Breitenwirkung als Pilotverfahren. So nahm der Prozeß, den der leibeigene Bauer Hans Saelpel aus Finkenzell um 1660 „in causa praetendierter Leibeigenschaft“ seiner Tochter
Die praesumtio pro libertate ist die beweisrechtliche Regelung des (römisch-rechtlichen) favor libertatis. In Bayern war diese Regelung in der Neuzeit durchgängig in Geltung. Bereits Perneder (vor 1544) schreibt in seinem Lehrbuch des praktischen Rechts: „ein Herr, der ein person umb die leibeygenschaft anspricht, soll ihnen der Herr mit Muemling oder andern erbarn leuten stellen“. Andreas Perneder, Imp. Caes. Justiniani Institutiones. Ingolstadt 1614 (zuerst 1544), S. 17; Landrecht 1616, Titel 4 Art. 2. Vgl. BayHStA, GR Fasz. Nrr. 1114, 1115, sowie Ferdinand Ernst Zeller, Praejudicia sive Resolutiones a summis Bavariae Ducatus Dicasteriis. München 1733 S. 76 f. Nach römischem und gemeinem Recht folgten die Kinder dem Stand der Mutter, nach bayerischem Herkommen folgten die Söhne der Mutter, die Töchter dem Vater. Über die landrechtlichen Kodifikationen 1616 und 1756 (zuletzt noch einmal mit einem Mandat von 1803) wurde versucht, die gemeinrechtliche Regelung zu infiltrieren. Das führte jeweils zu Verwirrung und Konflikten, konnte in der Praxis aber letztlich nicht durchgesetzt werden.
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Regina anstrengte, alsbald die Konturen eines Musterverfahrens an.¹⁸ Im Gebiet Aichach/Schrobenhausen, wo Saelpel wohnte, existierte die Lokalleibeigenschaft. Die landesherrlichen Beamten dort behaupteten, alle Einwohner der Region seien leibeigen. Hans Saelpel hingegen vertrat die Auffassung, allenfalls die Besitzer eines Gutes seien der Leibeigenschaft unterworfen, ihre Kinder aber seien frei. Er verweigerte die geforderten vier Gulden Manumissionsgeld für seine Tochter und eröffnete stattdessen einen – weit kostspieligeren – Prozeß um ihre Freiheit. Der exemplarische Charakter dieses Streites wurde allen Beteiligten bald klar. Sein Ausgang entschied über die Freiheit oder Unfreiheit tausender von Menschen, weil – wie auch die gegnerischen Beamten zugaben – „solcher process wider alle leibeigne agiert“. Hans Saelpel wurde im August 1662 „von der seiner tochter leibaigenschaft halber anbegehrter 4 Gulden“ freigesprochen. Die abgewiesenen Beamten setzten ihre Einsprüche und Revisionsbegehren noch jahrzehntelang fort, aber auch der zermürbende Kleinkrieg um die Demontage der Lokalleibeigenschaft wurde hartnäckig weitergeführt. 1732/33 fand man nach zähen Verhandlungen, bei denen auch die alten Akten von Hans Saelpels Musterverfahren wieder aus der Registratur geholt worden waren, zu einer Lösung. Damals hörten die Auseinandersetzungen um die Leibeigenschaft im Gebiet Aichach/Schrobenhausen auf. Fortan konnte dort nämlich – wie man von Amts wegen feststellte – „von der leibeigenschaft in sensu strictu sumpto“ nicht mehr die Rede sein. Ein wichtiger Aspekt der Auseinandersetzung mit der Unfreiheit in der Zeit nach 1650 tritt besonders deutlich in einem Konflikt hervor, den die Bauernschaft im Ammergau zwischen 1650 und 1684 ausfocht.¹⁹ Die Bauern prozessierten um ihre Freiheit, weil in einem hofrätlichen Entscheid 1652 behauptet worden war, sie hätten „für eigen leuth“ zu gelten. Nach drei Jahrzehnten emotional und erbittert geführter Streitigkeiten fand man einen Kompromiß. Er war vor allem der Initiative Anton Wilhelm Ertls zu danken, der damals Richter in einer benachbarten Hofmark war und nachmals als Autor juristischer Bücher für die Praxis bekannt geworden ist. Er hatte sich der Ammergauer angenommen, um den – wie er sagte – „ziemlich ehrenruechrischen diffamationes, warumb die liebe underthanen beschwert werden“, ein Ende zu bereiten. In dem Vergleichsvertrag wurde den Ammergauern 1684 zugesichert, die Wörter „leibaigen und leibaigenschaft“ würden in amtlichen Dokumenten künftig nicht mehr auf sie angewandt werden. Der Herrschaft erkannte man hingegen ausdrücklich alle Rechte und Einnahmen ungeschmälert weiterhin zu. Die Übereinkunft wurde von beiden Seiten lange Zeit eingehalten. Es stellt sich daher unweigerlich die Frage, worüber war hier eigentlich gestritten worden? Welche Bedeutung hatten die Beteiligten den Sachen, den Sachverhalten, und welche den Wörtern, den Begriffen und Namen beigelegt? Den Bauern war es offenbar in erster
BayHStA, GR Fasz. 1115. Vgl. auch Anm. 13. BayHStA, Zivilakten Fasz. 1452 Nr. 702 II/III. Zitat Ertl in ebd., Nr. 702 II, fol. 1289‘. BayHStA, Klosterliteralien Ettal Nr. 45, fol. 27‘. BayHStA, Klosterurkunden Ettal Nr. 554; 1684 Sept. 15.
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Linie um den Begriff gegangen – jedenfalls mehr als um die Sache, die Belastung. Das Wort leibeigen drohte, wie sie sagten, sie „um ihren gueten namen und leumueth“ zu bringen. Sein Verschwinden bedeutete ihnen, das Streitziel im wesentlichen erreicht zu haben. Ein ähnlich empfindsames Sprach- und Ehrgefühl haben auch andere dörfliche Zeitgenossen an den Tag gelegt, so die Einwohner der Dörfer Wiedergeltingen, Siebnach und Irsingen, die sich von allen Spuren der Leibeigenschaft – „wie immer die Namen haben mögen“ – um viel Geld freikauften.²⁰
Der Kampfbegriff Leibeigenschaft Um die Mitte des 17. Jahrhunderts setzte aber auch ein Wandel im Begriff Leibeigenschaft ein. Begriff und Sachverhalt entwickelten sich auseinander. Die Diskrepanz zwischen dem Übel, das der Begriff auszudrücken in der Lage war, und dem Übel, das die Leibeigenschaft als sozialer Zustand darstellte, nahm beständig zu. Während die Belastungen, die die Leibeigenschaft mit sich brachte, im ganzen konstant blieben, lagerten sich am Begriff immer mehr negative Bedeutungen an. Um die Wende zum 18. Jahrhundert gab es einen neuen zweiten Leibeigenschaftsbegriff. Er hatte mit den existierenden Verhältnissen, die weiterhin ebenfalls mit Leibeigenschaft bezeichnet wurden, nur mehr wenig gemein. Diese Doppelbegrifflichkeit gilt es zu berücksichtigen, wenn in der Folgezeit von Leibeigenschaft die Rede war. Der neue Leibeigenschaftsbegriff fungierte als Kampfbegriff, er wurde taktisch und in polemischer Absicht eingesetzt, um soziale Zustände anzuprangern. Diese Strategie hat nur Sinn, wenn sie mit entsprechend breiter zeitgenössischer Zustimmung rechnen und auf das schlechte Gewissen der Gegner hoffen kann. Ein Konflikt, den die Bauern von Steingaden 1715/18 mit ihrer Herrschaft ausfochten, und ein bemerkenswerter Prozeß, den sie zugleich führten, veranschaulichen diese zunächst paradox scheinende Lage. Die Bauern legten im März 1716 bei der Landesregierung Beschwerde „wegen anbegehrter Leibeigenschaft“ ein. Was damit gesagt sein sollte, zeigt ihre weitere Argumentation. Sie klagten, sie könnten „auf Belieben und Willkuer [der Herrschaft] von den Guetern entsetzt werden“. Diesen Zustand der Abhängigkeit, des Ausgeliefertseins, nannten sie „Leibeigenschaft“. Konkret war ihre Klage über Leibeigenschaft eine Anklage der Eigentumsverhältnisse. Die Rechte und Beziehungen von Bauern und Herrschaft zu Grund und Boden – Besitz und Eigentum – wurden von ihnen als Problem von Freiheit und Unfreiheit erkannt. Und da der Beschwerde über Leibeigenschaft bei Abschluß des Konflikts mit der Zuerkennung von Eigentum – nämlich von Erbrecht an den Gütern – begegnet wurde, entsprach diese Sehweise offenbar einem verbreiteteren zeitgenössischen Verständnis.
Johann Georg von Lory, Der Geschichte des Lechrains zweyter Band, Urkunden enthaltend. München [1765] S. 526 f.
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Die Willkü rgefahr konkretisierte sich nach Ansicht der Steingadener ebenso in einem weiteren Bereich, nämlich bei den Fronen. Sie würden, so klagten sie, „als leibaigne mit guetter und scharwerch gehalten“, man versuche, alle erdenklichen und immer mehr Fronen von ihnen zu erpressen. Die Steingadener versuchten nicht, wie es etwa die benachbarten Ammergauer vor ihnen getan hatten, den „Namen“, das Wort „leibeigen“, von sich abzuwehren, sondern im Gegenteil, sie bezeichneten sich bewußt selbst als „leibeigen“. Das geschah nicht in nüchterner Anerkennung bestehender Rechtsverhältnisse – in der Tat waren sie leibeigen im älteren Sinn –, sondern in strategischer und denunziatorischer Absicht. Der „Kampfbegriff Leibeigenschaft“ sollte die attackierten sozialen Verhältnisse negativ und herabsetzend beschreiben und unterstellte einen allgemeinen Konsens darüber was die Verdammungswürdigkeit von Willkürzuständen angeht: „Alles was nur beyfallen mag zu geben und zu verrichten, würdet hoffentlich in dero Churlanden zu Bayrn nicht mehr erhöret werden“, appellierten die Bauern an Gerechtigkeitssinn und Patriotismus der bayerischen Regierung. Zweifellos war es die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“²¹, was sie forderten und was ihnen wünschenswert schien – das aber ist es, was nach einer berühmten Definition die „bürgerliche Freiheit“ kennzeichnet.
2 Sachen und Wörter Diese Denk- und Argumentationsweise war als Teil eines größeren zeitgenössischen Diskurses in Steingaden aufgenommen und den eigenen Bedürfnissen und Überzeugungen anverwandelt worden. Der Unterschied zu Bewußtsein und Kommunikationssituation hundert Jahre zuvor, ist eklatant. Die Entwicklung vom kommentarlosen Handeln zum hochartifiziellen Begriffsgefecht belegt die entscheidende Rolle, die der Sprache und der Kommunikation bei der Auseinandersetzung mit der Unfreiheit zukam. Die Sache – die materiellen und rechtlichen Zustände – wurde dabei von den Wörtern – der Sprache und den Ideen – bald überspielt. Die anfängliche Wortarmut wurde insbesondere in den Prozessen um die Freiheit allmählich überwunden. Der Selbstverständigung und zugleich der Schaffung einer Verständigungsgemeinschaft diente das Gespräch unter den Nachbarn in den Wirtsstuben, auf den Märkten und bei den Wallfahrten. Hans Saelpel, der um 1660 so nachhaltig für die Freiheit seiner Tochter Regina stritt, hatte weder die Angelegenheit noch den Prozeßverlauf für sich behalten, sondern ihn „hin und wider in den wuerths- und preuhäusern und bei seinen nachbarn ausgebraitet“, wie seine Gegner erzürnt bemerkten, weil er damit die ganze Gegend bestens unterrichtete und zum Protest animierte. Den
Es handelt sich um die Definition der bürgerlichen Freiheit durch Immanuel Kant. Vgl. Martin Kriele, Menschenrecht und Gewaltenteilung, in: Menschenrechte und Menschenwürde. Hg. ErnstWolfgang Böckenförde/ Robert Spaemann. Stuttgart 1987 S. 242– 259, hier 244.
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Nutzen wechselseitiger Information hatten die streitenden Bauernschaften bald erkannt. Sie zogen regelmäßig zu ihren Versammlungen Personen aus nichtbeteiligten, fremder Herrschaft unterstehenden Gemeinden in offiziöser Mission hinzu. Zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen und Ständen kam eine Art ständiger Informationsaustausch über die wesentlichen gesellschaftlichen Probleme in Bayern offensichtlich auf dem ausgiebig benutzten Beschwerde- und Gerichtsweg zustande.²² Der Wandel im Bild der Unfreiheit vollzog sich über und in der Rechtspraxis. Daher waren die gelehrten Rechtspraktiker, die Advokaten und Richter, in die Veränderungen involviert und gut informiert. Anton Wilhelm Ertls Äußerungen etwa können als relativ authentische Fixierung eines damaligen Meinungsstroms angesehen werden, die gleichen Grundüberzeugungen lassen sich auch bei anderen Autoren im Bayern des späten 17. Jahrhunderts nachweisen. Ertl war als Richter und Bauernadvokat tätig, und er war – hier sei an den Fall Ammergau erinnert – emotional engagierter Gegner der Leibeigenschaft, er hielt sie für entehrend, die menschliche Würde verletzend. Entsprechend häufig zitierte er die „rechtliche Vermutung für die Freiheit“, die „jegliches Ding“ für sich habe und auch die „natürliche Freiheit“, die es zu achten gelte – vornehmlich bei Verurteilung von wirtschaftlichen Hemmnissen –, da es unbillig wäre, „wenn ein freygeborener Mensch nicht freye Hand haben sollte, über seine Sache nach Gefallen zu disponiren“.²³
Externe Anstöße Bei der Entstehung des „Kampfbegriffs Leibeigenschaft“ in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dürften nicht zuletzt auch externe Impulse, Nachrichten von Vorgängen in näherer und weiterer Entfernung zum Land eine Rolle gespielt haben. Die Steingadener, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts Willkürherrschaft als Leibeigenschaft bezeichneten, sprachen auch von „böhmischer Leibeigenschaft“ oder von „Sklaverei“. Diese beiden Ausdrücke für extreme Unfreiheit kamen seit der späteren Mitte des 17. Jahrhunderts volkssprachlich in Umlauf. „Boehmische Servitut“²⁴ als Bezeichnung für die Lebensweise rechtloser, ausgebeuteter Untertanen entstand wohl
In der frühen Neuzeit, wie auch im späteren Mittelalter, war es in Bayern jedermann gestattet, sich mit einer Supplik an den Landesherrn (Regierung) zu wenden. Dieser Beschwerde- und Bittweg wurde ausgiebig genutzt. Rechtliche Verfahren, die Untertanen gegen ihre Herren anstrengten, wurden sehr häufig nach den Regeln des sogenannten Summarischen Verfahrens durchgeführt, die mehr auf einen Kompromiß als auf ein streng rechtliches Urteil hin orientiert waren. Der ordentliche Gerichtsweg konnte anschließend eingeschlagen werden. Anton Wilhelm Ertl, Practica Aurea de Jurisdictione inferiore civili: vulgo: Von der Nieder-Gerichtsbarkeit etc. Nördlingen 1737 (zuerst Nürnberg 1693) S. 948. Die abschreckende „böhmische Servitut“ war sprichwörtlich in Bayern, Schwaben und auch in der Schweiz. Sie fand Eingang in die beiden Kommentare zu den Landrechten von 1616 und 1756, wo man versichert, die bayerischen Leibeigenen und Fröner würden nicht „modo bohemico tractirt“, sondern „menschlich“.
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als Reaktion auf die akuten Vorgänge in diesem Nachbarland, auf die rapide Verschlechterung der bäuerlichen Lage während des Dreißigjährigen Kriegs, für die eine neue Herrenschicht verantwortlich war. Noch populärer im Kampf der Wörter und Begriffe gegen die Unfreiheit wurde das Wort „Sklaverei“, das damals die Rhetorik der Unfreiheit eroberte.²⁵ Es ist bis heute Inbegriff von Unfreiheit und Rechtlosigkeit geblieben. „Leibeigenschaft und Sklaverei“ wird zu einer stehenden Wendung aller Gegner der Unfreiheit. Sie haben damit ihre semantische Kurzformel gefunden: Leibeigenschaft ist Sklaverei. Diese Kombination macht den Kern des „Kampfbegriffs Leibeigenschaft“ aus – wer nun Leibeigenschaft hört, denkt Sklaverei. Hierin dürfte sich die Tatsache spiegeln, daß „Sklaverei“ eben zu jener Zeit zum Massenphänomen geworden war. Der atlantische Menschenhandel lief auf Hochtouren, und die westeuropäischen Menschenhändler bezeichneten ihre Ware mit dem Wort „Sklave“. Man wird davon ausgehen können, daß von Sachverhalt und Wort auch im binnenländischen Mitteleuropa zu hören war. Zumal – und das war ein zweiter Weg, auf dem das Wort „Sklaverei“ den Bayern nahekam – gelegentlich auch eigene Landsleute in „türkische Sklaverei“ gerieten, wenn sie die Christenheit gegen die heidnischen Aggressoren verteidigten. Daß diese gefangenen Menschen von sich selber als von „Sklaven“ sprachen, zeigen die Briefe, die sie mit der Bitte um Hilfe in die Heimat schickten, oder die Berichte an die Räte der Münchner Regierung, die sich von amtswegen um den Freikauf versklavter Landeskinder zu bemühen hatten.²⁶ Sklaverei löste hier eine vorgängige Semantik der Unfreiheit ab, die sich an den Begriff des Tyrannen angelagert hatte. „Türkisch“ und „tyrannisch“ waren häufig gebrauchte Negativattribute für den grausamen Herrn, denen als positive „christlich“ und „menschlich“ entgegengehalten wurden. Menschlich kontrastiert nicht nur mit tyrannisch, sondern auch mit „viehisch“. Im 18. Jahrhundert wuchs das kämpferische Vokabular der Unfreiheit kaum mehr an, während sich die Semantik der Freiheit damals bekanntlich stark erweiterte.
„Sklave“ im Sinne von „unfreier Knecht“ ist in Süddeutschland im 16. Jahrhundert noch ungebräuchlich und wird als „welsches“ Wort empfunden. Jacob Grimm/ Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Bd. 10. Leipzig 1905 Sp. 1309 – 1324, hier 1312. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts dagegen ist es in der volkstümlichen Rechtssprache geläufig. – Römischrechtlich lateinisch servus wurde deutsch mit „Knecht“ wiedergegeben. Die Notwendigkeit einer Übersetzung war relativ selten gegeben, da die Ausbildung der Juristen auch noch im 18. Jahrhundert in lateinischer Sprache erfolgte, während die Bereiche heimischer Unfreiheit – also die Leibeigenschaft und u.U. auch die Fronen – nicht im lateinisch begrifflichen gemeinen Recht, dem Juristenrecht, geregelt, sondern vom Herkommen oder Landrecht und folglich mit deutschen Begriffen erfaßt waren. – Vgl. auch die Material- und Raumzuteilung bei Johann Heinrich Zedler, Artikel „Knecht“, in: Grosses Universal Lexicon der Wissenschaften und Künste. Bd. 15. Halle/Leipzig 1737 Sp. 1065 – 1088 und den kurzen Artikel „Sklave“, in: ebd. Bd. 36. Halle/Leipzig 1743 Sp. 643 – 646. Adalbert Erler, Der Loskauf Gefangener. Berlin 1978 S. 120 – 124.
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Das 18. Jahrhundert Die Auseinandersetzung mit der Unfreiheit und mit der Begrifflichkeit der Unfreiheit blieb aber im 18. Jahrhundert so wichtig, wie sie es im 17. gewesen war. Der Kampfbegriff „Leibeigenschaft und Sklaverei“ kam nun zum vollen Einsatz.²⁷ Als Parole paßte er in die neue Zeit der Schlagwörter, die damals im Entstehen begriffen war. Als unspezifische Verbalattacke bei jedem Anzeichen von Willkürherrschaft einsetzbar, hatte er von Anfang an den Bereich der engeren Leibeigenschaftsproblematik gesprengt und den Begriff der Unfreiheit stark geweitet, so daß das gesamte Verhältnis ,Untertanen-Herrschaft‘ in seinen Blick kam. Die Behauptung, eine Obrigkeit behandele die Menschen nicht wie Untertanen, sondern wie Leibeigene und Sklaven wurde entsprechend zum Standardvorwurf. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts empfindet man fast allgemein, daß Leibeigenschaft als eine „hässliche“ Angelegenheit und als „odioser“ Begriff anzusehen sei. Begriffsempfindlichkeiten sind nicht mehr primär Sache der Bauern. Fürsten befehlen nun, ihre neuen Siedler sollten „nicht als Leibeigene, sondern als freie K.K. Untertanen […] angesehen werden“ oder sie ordnen an, in ihren Ländern „freie Leute und keine Sklaven“ anzusiedeln.²⁸ Beamte empfehlen empfindsam, das kränkende Wort „Manumission“ durch das neutrale „Dimission“ abzulösen und zeigen sich erfreut, wenn Adelige „dem in diesem Zeitalter so sehr auffallenden Wort Leibeigenschaft samt allen seinen Wirkungen“ gegenüber, eine „ebenso herzliche Abscheu gegen das Wort sowohl als gegen die Sache“ zu erkennen geben.²⁹ Die Intelligenzblätter sprechen empört von der „Sclaverey der Scharwerke“, und selbst in den Salons war der Bauer „im radikalen Gegensatz zu seiner Übersehung vor hundert Jahren, geradezu zum großen Gesprächsthema […] geworden“.³⁰ Die allgemeine Verbreitung und die starke politische Wirkung des Kampfbegriffs Leibeigenschaft bezeugen die Vorgänge in Österreich und in Preußen während des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts. In Österreich lancierte die Regierung seit den späteren 1760er Jahren die vorher ganz unübliche Bezeichnung ,Leibeigenschaft‘, um damit die ältere Erbuntertänigkeit zu diskreditieren. Sie beabsichtigte auf diese Weise, den Widerstand insbesondere der böhmischen Stände gegen eine Reformierung der alten Ordnung zu schwächen, und schuf sich so ein Mittel, um ein überlebtes Institut Einen Zusammenhang zwischen der Kritik an der „Negersklaverei“ und der Kritik an den Verhältnissen in Deutschland glaubt Rainer Koch erst für die Zeit nach 1790 – also mehr als ein Jahrhundert später – feststellen zu können. Rainer Koch, Liberalismus, Konservativismus und das Problem der Negersklaverei, in: Historische Zeitschrift 222. 1976 S. 529 – 577, hier 535 – 540. Das Ansiedlungspatent der Kaiserin Maria Theresia für die Batschka von 1755 und das Dekret Friedrichs II. von Preußen von 1780 sind publiziert in: Quellen zur Geschichte des Bauernstandes in der Neuzeit. Hg. Günther Franz. Bd. 2. Darmstadt 1963 S. 228 f., 284. Der Bericht der Vorderösterreichischen Regierung aus dem Jahr 1782 in: Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg. Bd. 2. Quellen. Hg. Wolfgang von Hippel. Boppard a. Rh. 1977 S. 26 – 30. Kurt von Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit, in: Historische Zeitschrift 183. 1957 S. 55 – 96, hier 87.
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leichter aus den Angeln heben zu können. 1781 hob Kaiser Joseph II. bekanntlich die „Leibeigenschaft“ in den böhmischen Ländern auf, weil „Vernunft- und Menschenliebe“ dafür sprächen.³¹ In Preußen kann man das umgekehrte Vorgehen, aber die selbe Kraft des Kampfbegriffs beobachten. Hier bestanden die Herrenstände darauf, den Begriff ,Leibeigenschaft‘ zu meiden und am Wort Untertanenschaft festzuhalten. Diesen Hang zur Schönfärberei bildet auch das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 noch ab. Es befindet in Paragraph 148 „die ehemalige Leibeigenschaft, als eine Art der persönlichen Sklaverei“ habe nicht mehr statt, regelt aber gleichzeitig in Paragraph 150 die Schollenbindung dieser sogenannten „freien Bürger des Staats“.³² Das Schreckensbild der Leibeigenschaft war das Gegenbild der Freiheit. Etwa hundert Jahre nach seiner Entstehung und viele Jahrzehnte, nachdem die Steingadener damit recht erfolgreich taktiert hatten, wurde es auch auf „höchster“ Ebene gefürchtet und benutzt. Die Aufhebung der Leibeigenschaft war überall der erste Schritt zur Bauernbefreiung. Kann man aber wirklich mit Fug behaupten, die Bauern hätten daran keinen Anteil gehabt? Wenn Aufklärung und Liberalismus den „Feudalismus“ weltanschaulich in erster Linie als System der Unfreiheit bekämpften, nahmen sie da nicht eine Werthaltung auf, die sich in breiten Schichten der Bevölkerung seit langem aufgebaut hatte? In Bayern verfügte die Konstitution von 1808 die grundsätzliche Aufhebung der Leibeigenschaft. Alle Wirkungen der persönlichen Leibeigenschaft hörten, wie das Ausführungsedikt formuliert, „ohne Unterschied und ohne Entschädigung auf, und der Leibeigene tritt aus dem bisherigen Untertänigkeitsverhältnisse gegen seinen Herrn in den freien, bürgerlichen Zustand mit Unterordnung unter die Gesetze über“. Hier wurden zum ersten Mal in Deutschland in einer Verfassung Grundrechtsgarantien ausgesprochen – wie Dieter Grimm kürzlich bemerkte.³³ Sie gingen nicht über das hinaus und betrafen nichts anderes, als was sich seit langem gegen alle Widerstände von einem Grundwert immer größer werdender Bevölkerungsteile zum Grundkonsens in der ganz überwiegenden Bevölkerungsmehrheit entwickelt hatte.
Das Aufhebungspatent in: Franz, Quellen (wie Anm. 28) S. 285 – 287. Karl Grünberg, Die Bauernbefreiung und die Auflösung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien. Bd. 1. Leipzig 1893 S. 94, 372 f.; Friedrich Lütge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 21976 S. 202. Anders: Roman Rosdolsky, On the Nature of Peasant Serfdom in Central and Eastern Europe, in: Journal of Central European Affairs 12. 1952 S. 128 – 139. Franz, Quellen (wie Anm. 28) S. 327. Dieter Grimm, Die Entwicklung der Grundrechtstheorie in der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Hg. Günter Birtsch (Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte 2). Göttingen 1987 S. 234– 266, hier 235, 238.
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3 Schluß Die Ansicht, Grundrechte seien im wesentlichen ein Produkt der abendländischen Philosophie, dürfte als die noch herrschende Lehre nicht falsch beschrieben sein, wenn diese Meinung auch selten so bündig präsentiert wird wie jüngst an prominenter Stelle durch Klaus Adomeit, der unerschrocken behauptet: „Die Idee der Menschenrechte ist im Prinzip und im Detail Ergebnis philosophischen Denkens“, und – im Jahre 1991 – selbstgewiß mit Blick auf die aktuelle Weltlage fortfährt: „Mit der politisch realisierten und rechtlich verbindlichen Menschenrechtsidee hat die Zunft der Philosophen und speziell der Rechtsphilosophen sehr guten Grund (causa) für Stolz und Zufriedenheit“.³⁴ Schon ein kurzer Seitenblick auf die Lage im eigenen Land hätte diese Illusion zerstört. In Deutschland wurden vor gut fünfzig Jahren die Grundrechte im liberalen Geist als angeborene, unveräußerliche, den Bürger bei Bedarf vor Übergriffen der Staatsmacht bewahrende – kurz als subjektive Abwehrrechte konzipiert. Seit dieser Zeit aber haben sie sich zu objektiven, von Wertentscheidungen getragenen Grundsatznormen ausgeweitet.³⁵ Diese Veränderung erfolgte durch die Praxis und als Reflex des gesellschaftlichen Wandels und neuer Wertorientierungen. Die Entwicklung wurde nicht von der Philosophie oder der Wissenschaft initiiert, sie geschah offensichtlich eher im Gegensatz zur Lehre und außerhalb der Theoriegebäude. Soziale Veränderungen und gewandelte Wertvorstellungen finden einen Weg in das Normensystem. Die forschende Betrachtung muß den Sprung über die Grenzen der Teilbereiche wagen: Gesellschaftliche und ideelle Entwicklungen vollziehen sich weder unter Ausschluß von Theorie, noch im keimfreien Labor, sondern auf tiefem sozialem Humus.
Klaus Adomeit, Menschenrechte und Rechtsphilosophie, in: Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute. Hg. Robert Alexy/ Rolf Dreier/ Ulfrid Neumann (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 44). Wiesbaden 1991. S. 9 – 15, hier 14. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 29. 1990 S. 1– 32; Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a. M. 1991.
Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit 1 Die weiße Stute der Gret Replin – zum Stand der Dinge Hans Schuster aus Saulgrub im Ammergau berichtet als Zeuge von einem Vorfall, der sich um das Jahr 1500 dort ereignet hat, folgendermaßen: „Als Grethn Replin von Seun nach absterben irs manns, Hanns Schmälzels, ain weisse stuet durch des von Raitenpuech diener auf der waid zu todtfall genomen worden, sey der Finsterle mit derselben Grethn gen hof gangen und solches clagt, und als sy widerumben anheimb khumen, hab derselb Finsterle dises zeugens vater gesagt, welches er zeug auch angehört, wie bemelte Replin ain geschefft an den von Raitenpuech erlanngt, er soll ir ir roß widerumben zustellen“.¹
Die Zeugenaussage – eine von zehn, wobei noch in zwei weiteren von Gret Replins weißem Pferd und ihrer Beschwerde am herzoglichen Hof in München berichtet wird – sollte einen Streit um die Verpflichtung zur oder die Freiheit von der Todfallabgabe der Ammergauer Bauern klären helfen. Hier wird sie ihrem Zweck entfremdet als ein Bericht über bäuerliche Handlungsräume gelesen. Man sieht eine Ammergauer Witwe mit ihrem Anliegen und männlichem Beistand die Stufen herrschaftlicher Ordnung kurzerhand überspringen und deren Spitze erreichen. Gret Replin umging die lokale Obrigkeit ebenso wie den landesfürstlichen Beamten in der Region und nahm Beschwernis und Kosten einer mehrtägigen Reise auf sich, um in die entfernt gelegene Residenz zu gelangen. Dort erwirkte sie, so hört man, ein „geschefft“ – in ihrem Fall vermutlich das Gebot an den beklagten Propst, auf die vorgebrachte Beschwerde zu antworten. Sie muß demnach am Hof einen Ort gefunden haben, wo sie ihren Fall vortragen konnte, wo man zuständig für derlei Personen und Affären war und zudem die Kompetenz hatte, einzugreifen. Das Vorgehen der Bäuerin wurde – auch das zeigt die Schilderung – weder von ihren Nachbarn auf dem Land, noch von den Leuten am Hof für sensationell gehalten; sie werden es als durchaus im Rahmen der bekannten Möglichkeiten vermerkt haben. Gret Replin folgte, als sie mit ihrer Beschwerde „gen Hof“ zog, keinem spontanen Einfall, sondern – so die hier vertretene These – einem vertrauten Handlungsmuster. Die Existenz dieses Musters plausibel zu machen, es zu beschreiben und seine Bedeutung zu bedenken, ist denn auch die erste Aufgabe dieses Beitrags. Dabei
Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Klosterurkunden (KU) Ettal 292; 1530 XI.23. – „Seun“ = Bayersoyen; „der von Raitenpuech“ = der Propst des Augustiner Chorherrenstifts Rottenbuch. Das Kloster hatte Besitzungen im Ammergau. DOI 10.1515/9783110541106-006
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wird es nötig sein, in etwas umständlicher Manier Begebenheiten und Verfahrensabläufe aus den Quellen vorzustellen; denn über die spätmittelalterliche zentral organisierte Beschwerdepraxis wird in der Literatur, soweit ich sehe, kaum etwas berichtet, und was Bayern anbelangt, so wurde ihr Vorhandensein mit Verweis auf die fehlenden Quellenzeugnisse ausdrücklich bestritten. Eduard Rosenthal, der Altmeister der bayerischen Gerichts- und Verwaltungsgeschichte, fand, wie er betont, keine Belege dafür, „daß die Untertanen sich vielfach an den Landesherrn statt an das Gericht zur Beilegung ihrer Streitigkeiten gewendet“ haben würden.² Einen Zugang zu entsprechenden Quellen erschloß erst die Frage nach den politischen Handlungsmöglichkeiten der Untertanen, insbesondere nach der Existenz und den Formen bäuerlichen Widerstands. Im späteren 15. Jahrhundert begann im deutschsprachigen amtlichen Schriftgut das Wort „Supplikation“ als Terminus technicus im Beschwerdebereich vorzudringen. In der Folgezeit wurden die schriftlich und mündlich vorgetragenen sehr verschiedenen Anliegen, Beschwerden, Klagen oder Bitten, die Untertanen an ihre Obrigkeiten richteten, gewöhnlich mit diesem Begriff bezeichnet. Hier ist daher auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem „Supplikenwesen“ kurz anzusprechen. Aus dem weltlichen Bereich findet man für das Mittelalter nur einige knappe Hinweise zum Supplikationswesen am deutschen Königshof.³ Auch die Forschung für die frühe Neuzeit verharrt in einem Anfangsstadium und ist mit dem Namen Helmut Neuhaus nahezu erfaßt.⁴ Werner Hülles mehr als zwanzig Jahre alte Situationsbeschreibung, wonach es sich bei der Supplikation um eine „im Dunkeln liegende Rechtsfigur“ handele⁵, trifft auf weite Strecken noch heute zu und ist von historischer Seite dahingehend zu ergänzen, daß es sich nicht nur um eine unbeleuchtete Rechtsfigur, sondern um einen wissenschaftlich nicht ausgeleuchteten sozialen Aktionsraum handelt. Da das Supplikenwesen jedoch aus metahistorischer Perspektive für ein Eduard Rosenthal, Besprechung: Adolf Stölzel, Die Entwicklung der gelehrten Rechtsprechung. 2. Bd. Berlin 1910, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 31. 1910 S. 522– 561, hier 538; ders., Das bairische Hofgericht und das Hofgeding, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte II. 1913. S. 415 – 444, hier 419. Helmut Neuhaus, Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Schriften zur Verfassungsgeschichte 24). Berlin 1977 S. 85 f. Ebd.; ders., Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert.T. I und II, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28. 1978 S. 110 – 190 und 29. 1979 S. 63 – 92. Das Fehlen historischer Forschung zum Thema bemerkte auch Hartwig Sengelmann, Der Zugang des einzelnen zum Staat abgehandelt am Beispiel des Petitionswesens. Hamburg 1965 S. 11. Vgl. zum Stand der Literatur Rosi Fuhrmann/ Beat Kümin/ Andreas Würgler, Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in: Gemeinde und Staat im Alten Europa. Hg. Peter Blickle (Historische Zeitschrift, Beiheft 25). München 1998 S. 267– 323, hier 267– 271. Werner Hülle, Das Supplikenwesen in Rechtssachen. Anlageplan für eine Dissertation, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 90. 1973 S. 194– 212, hier 194.
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ubiquitäres Merkmal von Staatlichkeit gehalten wird – es sei „geradezu konstitutiv für den Staat“, zu „allen Zeiten und in allen Staatswesen“ anzutreffen⁶, sei „selbstverständlich“⁷ oder „naturwüchsig“⁸ – gibt eine Untersuchung der spätmittelalterlichen Beschwerdepraxis nebenbei Auskunft über den Entwicklungsstand der Staatlichkeit. Als die bekannten institutionalisierten Möglichkeiten der Artikulation und der Interessenwahrnehmung, die dem einzelnen oder Gruppen von Untertanen in vorkonstitutioneller Zeit offen standen, gelten auf Landesebene die Vertretung auf Landtagen – soweit gegeben⁹ – und durchgängig der Gerichtsweg, als ultima ratio kommen der handgreifliche Protest, Widerstand und Verweigerung in unterschiedlichen Formen hinzu.¹⁰ In Bayern war die große Menge der Untertanen, nämlich die Landbevölkerung, auf Landtagen nicht vertreten. Sie kam folglich dort auch nicht zu Wort. Es blieb theoretisch also der Gerichtsweg, er war tatsächlich jedermann zugänglich, wobei selbstverständlich die Zuständigkeiten zu beachten waren, die sich meist aus dem Stand und Wohnort der Parteien oder der Lage des streitigen Objekts ergaben. Das spezifische Problem einer ständisch gestuften Sozialordnung, die rechtliche Auseinandersetzung mit einem Übergenossen – dem Angehörigen eines höheren Standes – und insbesondere mit dem eigenen Herrn, war derart organisiert, daß Adel und Prälaten ihren privilegierten Gerichtsstand vor dem landesherrlichen Hofgericht hatten, wohin nach herrschender Lehre auch der Rechtszug¹¹ mit „Geding“ und „Appellation“ aus Land-, Stadt- und Hofmarksgerichten ging, und Beschwerden über die Amtsausübung landesherrlicher Beamter sowie über Justizverweigerung gerichtet wurden.¹²
Neuhaus, Reichstag (wie Anm. 3) S. 97; ders., Supplikationen I (wie Anm. 4) S. 114; Hülle, Supplikenwesen (wie Anm. 5) S. 200. Hans Ludwig Rosegger, Petitionen, Bitten und Beschwerden. Berlin 1908 S. l. Dietmar Willoweit, Allgemeine Merkmale der Verwaltungsorganisation in den Territorien, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Hg. Kurt G. A. Jeserich/ Hans Pohl/ Georg-Christoph von Unruh. Bd. 1. Stuttgart 1983 S. 289 – 346, hier 310; Neuhaus, Supplikationen I (wie Anm. 4) S. 113 f. Zum Vorschlag, das Petitionsrecht der Arbeiter als „naturwüchsiges“ Phänomen zu verstehen: Klaus Tenfelde, Einleitung. Beschwerden der Arbeiter. Arbeit und Politik im Spiegel proletarischer Dokumente, in: „Bis vor die Stufen des Throns“. Bittschriften und Beschwerden von Bergarbeitern während der Industrialisierung. Hg. ders./ Helmuth Trischler. München 1986 S. 9 – 43, hier 11 f. Gerhard Oestreich, Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus: Ständische Verfassung, Landständische Verfassung und Landschaftliche Verfassung, in: ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Berlin 1980 S. 253 – 271. Zusammenfassend zu diesem Forschungsbereich: Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300 – 1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 1). München 1988; zuletzt: Helmut Gabel, Widerstand und Kooperation. Studien zur politischen Kultur rheinischer und maasländischer Kleinterritorien (1648 – 1794) (Frühneuzeit-Forschungen 2). Tübingen 1995. Jürgen Weitzel, Art. „Rechtszug“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4. Berlin 1990 Sp. 430 – 443. Hans Schlosser, Spätmittelalterlicher Zivilprozeß nach bayerischen Quellen. Gerichtsverfassung und Rechtsgang (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 8). Köln usw. 1971 S. 59 – 92; Eduard
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Die skizzierte relativ klare Kompetenzgliederung verliert, gerade was die Aufgaben des Hofgerichts angeht, bei der Betrachtung konkreter überlieferter Vorgänge viel von ihrer Deutlichkeit. Das referierte Schema des ordentlichen Gerichtswegs erfaßt die Praxis des Beschwerens nicht und blendet notwendig den Bereich der „Ausrichtung“, des Verhandelns, des gütlichen Vergleichens und des schiedlich-rechtlichen Entscheidens aus. Die Mehrgleisigkeit der rechtlichen Streiterledigung insgesamt und insbesondere die am landesherrlichen Hof wird infolgedessen eher verschwommen registriert, der Beschwerdeweg als eigener starker Strang des Einflusses auf die Entwicklung im Land bleibt unkenntlich. Hier liegt nicht nur ein perspektivisches Problem vor – die Fixierung auf das ordentliche Gerichtswesen –, sondern ebenso eine Schwierigkeit in der Überlieferungssituation. Die Menge der kleinen „täglichen Händel“, wegen welcher man im späten Mittelalter „gen Hof“ gelaufen sein mag, läßt sich nicht konkret nachweisen. Allenfalls Zufallsfunde wie Gret Replins Geschichte, die im Kontext größerer Beschwerdeaktionen stehen, erlauben ab und an einen flüchtigen Blick in das große Dunkel. Die Quellenlage resultiert einmal aus der im 15. Jahrhundert noch vorherrschenden Mündlichkeit im Verkehr bei Gericht und in der Verwaltung¹³, ebenso aber aus der geringen Bedeutung, die jedem einzelnen der Vorgänge für sich genommen zukam. Die meisten erschöpften sich im Tagesgeschehen, wo man besonders wenig schrieb, und gelegentlich doch anfallende Schriften bewahrte man nicht auf. Noch im 16. Jahrhundert wurden Rezesse von der Hofkanzlei nur auf Antrag einer Partei ausgefertigt, und was so alltägliche Schreiben wie Supplikationen und ihre administrativen Begleitschriften anging, so gebot die herzogliche Instruktion dem Registrator der Hofkanzlei 1566 ausdrücklich, sich der Menge durch systematische Ausmusterung zu entledigen.¹⁴ Das Material für diesen Beitrag stammt großteils aus klösterlichen Archivbeständen und entstand im Kontext bäuerlicher Unruhen. Es handelt sich um Berichte von drei benachbart wohnenden Bauernschaften im Teilherzogtum Bayern-München, der „Hausgenossenschaft“ der Bauern des Stiftes Rottenbuch, der Bauernschaft im Ammergau, die dem Kloster Ettal unterstand, und der Gemeinde der Bauern in der Pfarrei Steingaden, die zum gleichnamigen Kloster gehörte – alles in allem damals etwa 800 Haushalte. In die Schilderung werden Quellenbegriffe, die Signalfunktion für die Art und die Form der Verfahren haben, mit aufgenommen. Nach einer kurzen Erörterung der Verfahrensvarianten, die dabei zutage treten, und Überlegungen zur Position des Landesherrn als „oberster Richter“ wird die Si-
Rosenthal, Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Baierns. 2 Bde., Würzburg 1889/1906 (ND Aalen 1968), hier Bd. 1, S. 108 – 153. Zur Mündlichkeit im spätmittelalterlichen Gerichtsverfahren: Schlosser, Zivilprozeß (wie Anm. 12) S. 212 f., 458. Zur Entwicklung des Verwaltungsschriftguts: Joachim Wild, Die Fürstenkanzlei des Mittelalters. Anfänge weltlicher und geistlicher Zentralverwaltung in Bayern. München 1983. Hofrats-Kanzleiordnung vom 14.XI.I566, in: Quellen zur Behörden-Geschichte Bayerns. Die Neuorganisationen Herzog Albrecht‘s V. Hg. Manfred Mayer Bamberg 1890 S. 143.
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tuation am Hof betrachtet und von den Wirkungen des „Laufens gen Hof“ auf die Institutionalisierung des Regiments berichtet. Abschließend wird die Kontinuität koexistierender ordentlicher gerichtlicher und extrajudizialer Verfahren in der frühen Neuzeit angesprochen.
2 Laufen gen Hof – Skizzen zur zentralisierten spätmittelalterlichen Beschwerdepraxis Am Georgentag des Jahres 1418 befahl Herzog Wilhelm III. in München, einen Brief an die Nachbarschaft der Bauern in Rottenbuch zu schreiben.¹⁵ Die Rottenbucher und ihre Streitigkeiten mit dem Stift waren ihm seit langem bekannt, denn seit einem Vierteljahrhundert kamen die Bauern oder die Pröpste regelmäßig alle paar Jahre mit ihren wechselseitigen Beschwerden an den herzoglichen Hof: Zuerst – 1393 – waren die Vertreter der Bauernschaft vor seinem Vater erschienen und hatten wegen der Fronforderungen und der Erbansprüche Propst Heinrichs an ihre fahrende Habe geklagt. Herzog Johann hatte damals den Propst zu sich nach München gerufen und beide Seiten, die ebenfalls her beorderten Bauern und den Herrn, „von wort ze wort verhört“ und sie daraufhin veranlaßt, „hinter“ ihn zu gehen, das heißt, sich bereit zu erklären, den Schiedsentscheid, den er zu treffen beabsichtigte, anzunehmen und auszuführen. Der Spruch war dann erteilt und seine Einhaltung unter Strafandrohung für beide Seiten befohlen worden.¹⁶ Man hatte über den Vorgang eine Urkunde zweifach ausgefertigt und jeder Partei ein mit dem herzoglichen Siegel versehenes Exemplar ausgehändigt.¹⁷ – Dann, während Herzog Wilhelms nun schon seit zwanzig Jahren gemeinsam mit Herzog Ernst, seinem älteren Bruder, geführten Regiments,waren die Pröpste mehrmals nach München gereist und hatten sich darüber beschwert, daß, wie sie behaupteten, die Bauern die Bestimmungen des Spruchbriefs von 1393 nicht einhielten: Im November 1403 hatte Herzog Ernst daher an die „lieben besundern“ – die Bauernschaft – geschrieben und sie seiner Gnade versichert, aber zugleich streng geboten, den alten herzoglichen Schiedsspruch strikt zu vollziehen.¹⁸ – Sechs Jahre später, Ende November 1409, hatte er, Herzog Wilhelm, gemeinsam mit seinem Bruder aus München ein schriftliches und gesiegeltes Gebot BayHStA, Klosterliteralien (KL) Rottenbuch Nr. 47a, fol. 3; 1418 IV.23. Zur Ausbildung der Verwaltungskorrespondenz in Bayern: Wild, Fürstenkanzlei (wie Anm. 13) 9 f., 62, 121. Zum Schiedsverfahren in Bayern: Michael Kobler, Das Schiedsgerichtswesen nach bayerischen Quellen des Mittelalters. München 1967 S. 84 f., 93 – 96; Wolfgang Sellert, Art. „Schiedsgericht“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. Berlin 1990 Sp. 1386 – 1393. BayHStA, Kurbaiern Urkunden Nr. 18378; 1393 IX.13. Druck: Monumenta Boica. Bd. 8. München 1767 S. 83 f.; Renate Blickle, „Spenn und Irrung“ im „Eigen“ Rottenbuch. Die Auseinandersetzungen zwischen Bauernschaft und Herrschaft des Augustiner-Chorherrenstifts, in: Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. Hg. Peter Blickle. München 1980 S. 69 – 145, hier 81– 84. BayHStA, KL Rottenbuch Nr. 47a, fol. 1’; 1403 XI.28.
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nach Rottenbuch geschickt, in dem der Bauernschaft ernstlich befohlen wurde, dem Propst gehorsam zu sein und den Spruchbrief einzuhalten.¹⁹ – 1413, auf neuerliches Monieren des Rottenbucher Propstes in München hatten die Herzöge schriftlich bei ihrem beamteten Pfleger im nahen Landsberg Erkundigung darüber eingezogen, was es mit den Abgabenverweigerungen in der Gegend, insbesondere im benachbarten Peiting, auf sich habe.²⁰ Dieses Mal nun – um zum Anfang zurückzukehren – im Frühjahr 1418, waren es zwei verwitwete Bäuerinnen gewesen, die sich über die Zwangsdienstforderungen, die der Propst an ihre Kinder stellte, beschwert hatten. Herzog Wilhelm hatte den Propst vor sich gerufen und der Klagen wegen überhört. Jetzt ordnete er an, der „nachparschaft gemainlich zu Raitenpuch und sunderlich der Mairinn von Laytten und der Stroblin“ zu schreiben, ihnen seine Gnade zu entbieten und darzulegen, der Propst habe sein Vorgehen als herkömmlich bezeichnet und darauf verwiesen, daß auch zwölf andere Rottenbucher derzeit im Meierhof arbeiteten, weshalb er, Wilhelm, ihren Protest für unbillig halte.²¹ Als es nach der Mitte des 15. Jahrhunderts zu neuerlichen Auseinandersetzungen zwischen den Bauern und dem Kloster kam, gingen die Rottenbucher in gewohnter Weise nach München. Sie wandten sich, wie es in ihrer Klageschrift heißt, an den Landesherrn „als den obersten und rechten Erbherr und Fürst“²² oder – wie eine Einzelklage über die verletzte Ehre ihrer Töchter begründet wird – an den Fürsten „als den obersten Vogt und Herrn“, von dem allein sie Hilfe erwarten könnten.²³ Sie trugen ihre Beschwerden artikelweise vor, dabei schilderten sie allerdings mehr Zustände, als daß sie gerichtsförmige Anklagen formuliert hätten. Das Antwortschreiben des Propstes ging Punkt für Punkt darauf ein und anschließend zu Gegenklagen über.²⁴ Neben diesen schriftlich niedergelegten Streitpunkten wurden noch weitere bei mündlichen Unterhandlungen erörtert. Auf den 28. Juni 1466 hatten die Herzöge Sigmund und Albrecht IV. die Parteien vor sich und die Räte zur Tagsatzung nach München geladen. Es erschienen sechs Rottenbucher als „volmachtig answälde und sendtboten“ der Bauernschaft und Propst Georg, der für sich und seinen Konvent sprach. Der Spruchbrief von 1393 und die Klageund Antwortschreiben lagen vor, als man sie nun „gegeneinander“ verhörte. Die Herzöge und Räte redeten den Streitenden zu, bis diese sich mit einer schiedlichen Entscheidung einverstanden erklärten. Bauern und Propst gelobten mit „handt ge-
BayHStA, KU Rottenbuch 1409 XI.26. Druck: Monumenta Boica (wie Anm. 17) S. 86 f.; Karl-Ludwig Ay (Bearb.), Altbayern von 1180 bis 1550. Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern 1,2. München 1977 S. 445 f. BayHStA, KL Rottenbuch Nr. 47a, fol. 3; 1413 IX.22. Ebd.; 1418 IV.23. Ebd., fol. 3 – 4’; undatiert (vor 1466). Es handelt sich bei diesem Schreiben um die älteste mir bekannte bäuerliche Beschwerdeschrift aus Bayern. Ebd., fol. 4’. Ebd., fol. 4’ – 5’; undatiert.
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geben trewen“ zu akzeptieren, was Herzöge und Räte „gütlich entschaiden und zwischen in sprechen“ würden.²⁵ Den daraufhin erteilten Spruch ließen die Herzöge „als regierendt fürsten“ mit dem Sekretsiegel und mit einer Strafandrohung versehen doppelt ausfertigen. Etwa anderthalb Jahre später, in der Fastenzeit 1468, meldeten sich die Sendboten der Bauern neuerlich bei den herzoglichen Anwälten und Räten in München und baten um Erläuterung des ergangenen Entscheids. Die Räte kamen dem nach; und in einem Brief Herzog Albrechts IV. wurde der Bauernschaft mitgeteilt, was ihren Abgeordneten mündlich dargelegt worden war. Man forderte sie auf, ihre Beschwerden schriftlich abzufassen, damit der Propst informiert und seinerseits angehört werden könnte. Falls es erforderlich werden würde, sollte ein Termin bestimmt werden, an dem beide Seiten gehört und die gewünschte Erklärung abgegeben werden könnte.²⁶ Die Klageschrift lag am 4. April in München vor. Die Bauern nannten darin ihre Anliegen und baten, den Propst schriftlich zu einem ihnen und ihm „genantn tag fur ewr fürstlich gnad und gnaden rat“ vorzufordern. Sie würden, heißt es abschließend, dort ihre Beschwerden vorbringen, und versprachen, dies zu „verdienen“, indem sie, so lange sie lebten, Gott um ein langes Leben für den Fürsten bitten würden.²⁷ Herzog Albrecht befahl den „clagzedel“ an den Propst zu senden und kündigte diesem im Begleitbrief an, er beabsichtige, einige Mitglieder seines Rates, denen er befehlen werde, den Propst und die Bauern „gegeneinander“ zu verhören, in der Osterwoche nach Rottenbuch zu schicken. Er werde sich dann darüber Bericht erstatten lassen, um die Sache weiter zu behandeln, wie es sich gebühre. Der Propst solle die Bauern von dem Vorhaben in Kenntnis setzen.²⁸ Die Auseinandersetzung muß noch im Laufe des Jahres 1468 auf den ordentlichen Gerichtsweg eingeschwenkt, das heißt, an das Hofgericht gelangt sein. Denn als Propst Georg Anfang September ein Notariatsinstrument über die klösterlichen Urkunden und Salbücher anfertigen ließ, befand er sich „in hangender Rechten“.²⁹ Auch die Vollmacht, die von einhundert Rottenbuchern auf herzoglichen Befehl am 12. März 1469 „dem Riegermair, Jungweißkopf und Hans Engel als von des Rechtes wegen“ schriftlich erteilt wurde und sich auf „alles zu gewin zu verlust und zu allem rechten“ erstreckte, spricht von den „anhengenden rechten“ und von der Gewalt, deren man „im rechten notturftiklich“ sei.³⁰ In seiner Antwort und Gegenklage weist Propst Georg, dem es um die Behauptung seines freien Stiftrechtes über die Bauerngüter ging, nachdrücklich darauf hin, daß er in dieser Frage niemals und vor niemandem einem
Zu dieser Form des Gelöbnisses: Kobler, Schiedsgerichtswesen (wie Anm. 16) S. 99. BayHStA, KL Rottenbuch Nr. 47a, fol. 15; 1468 III.12. Ebd., fol. 16 f. Ebd., fol. 15’. Ebd., fol. 7– 8’, 7’; 1468 IX.2. Ebd., fol. 20’ f.; 1468 III.12. Der Gewaltbrief des Rottenbucher Konvents vom November 1469 bevollmächtigte drei Mitbrüder als „procuratores vor dem recht und allem recht“ zu handeln, ebd., fol. 21.
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„Hintergang“ zugestimmt hätte³¹, sondern als ein „clager in recht“ stünde, und er „setzte“ seine Behauptungen „mit allem herkommen zu […] rechtlichen spruch“.³² Mitte August 1469 setzte Herzog Albrecht IV. dem Propst und den Bauern einen Rechtstag vor den Räten in München und befahl ihnen, am 28. September in der Stadt „zunacht an der herberg zu sein und furo dem rechten und sollicher öffnung der urtail zu warten“.³³ Dazu ist es jedoch nicht gekommen, und „in seiner gnaden abwesen ditzmal zu München“ schrieben sein Hofmeister und seine Räte Anfang Dezember abermals an Propst und Bauern und setzen ihnen „an stat des benannten unnsers gnadigen Herrn als Anwalte“ auf den 11. Januar 1470 „widerumb ain rechttag fur sein genaden Rate gen Munchen“.³⁴ Der Brief ist mit dem herzoglichen Sekretsiegel versehen. Auch dieser Tag vor dem Hofgericht führte zu keinem Urteil. Ob bereits damals der Abbruch des ordentlichen Gerichtsprozesses vor dem Hofgericht beschlossen wurde oder der Entschluß erst in der Zeit danach heranreifte, ist heute nicht mehr zu klären. Jedenfalls hatten die gegnerischen Parteien noch im Frühjahr ihre Zustimmung für den Übergang der Angelegenheit auf den gütlichrechtlichen Weg erteilt. Der Streit sollte von Herzog und Räten mit einem Entscheid oder Abschied beendet werden, und Herzog Albrecht IV. setzte Propst und Bauern auf den 4. Juli einen neuerlichen Tag in München „für uns und unns rät“.³⁵ Der Konflikt wurde durch einen „Spruch“ Herzog Albrechts in Anwesenheit und mit dem Rat des Hofmeisters und weiterer sieben Räte, darunter des Kanzlers, abgeschlossen. Der Herzog verwies dabei auf die vorausgegangenen Handlungen, die „in recht“ vor ihn und seine Räte gebracht worden waren, sowie auf die beiderseits vorgetragenen Klagen, Antworten, Reden und Widerreden, über die man die Parteien verhört habe und fuhr dann fort, er habe sich „als ir baider herr und lanndtfurst“ um Propst und Bauern bemüht und sie dazu bewegt, daß sie ihren Streit gänzlich „in der guttigkhait“ an ihn übergeben hätten, und für sich und ihre Erben zugesagt hätten, ohne Widerrede zu vollziehen, was er „in der gutikayt zwischen ir sprechen setzen und entschaiden“ werde. Die anwesenden Bauernvertreter gelobten das „mit hant gegeben trewen“. Alle früher ergangenen Sprüche wurden aufgehoben. Wie üblich erfolgte die Ausfertigung des Spruchbriefs doppelt unter dem herzoglichen Sekretsiegel.³⁶
Der Propst nimmt Bezug auf die Bestimmungen über Schiedsrichter im Oberbayerischen Landrecht, Art. 24 bis 28. – Vgl. „Kayser Ludwigs Rechts-Buch. 1346“, in: Sammlung historischer Schriften und Urkunden Bd. 4/3. Hg. Max Frh. von Freyberg. o.O. 1834 S. 385 – 498. BayHStA, KL Rottenbuch Nr. 47a, fol. 16’-20. Ebd., fol. 21; 1468 Vlll.12. Ebd., fol. 21’. Vgl. zu diesem Vorgang die Bestimmungen der Regierungsordnung von 1466, die den Behördencharakter des Rates begründete in Kapitel 4. BayHStA, KL Rottenbuch Nr. 47a, fol. 21’. BayHStA, KU Rottenbuch 1470 Vlll.13. – Im Mai 1498 bat die Gemeinde Rottenbuch die herzoglichen Räte in München, zu „vernehmen“, daß der Propst ungewöhnliche Straßenbaufronen von ihr verlange. Das Schreiben wurde am 15.V. von den Räten zur Stellungnahme an den Propst gesandt. BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv Nr. 4143, fol. 152.
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Die Bauernschaft im Ammergau, die südlich des Rottenbucher Eigengebiets wohnende Nachbarschaft, hatte schon früh, nämlich im April 1330, ihre Abgesandten an den Hof geschickt, allerdings nicht, um Beschwerde zu führen, sondern um für die Zukunft vorzusorgen. Die Ammergauer hatten wegen der Pläne Ludwigs des Bayern, in ihrer unmittelbaren Nähe und wohl auf ihnen zugehörendem unbebauten Areal das Kloster Ettal zu gründen, Garantien ihres persönlichen Status und ihrer Güterrechte verlangt und erwirkt.³⁷ Zwei Jahre später erhielten sie ebenfalls in München das Recht einer Warenniederlage in ihrem Dorf zugesprochen.³⁸ Mit diesen Dokumenten sind sie in den folgenden Jahrhunderten – erstmals 1352³⁹ – regelmäßig zur landesherrlichen Kanzlei gereist, um sie bestätigen zu lassen. Die Vogtei und andere Herrenrechte im Ammergau waren 1330/48 an das Kloster Ettal übertragen worden, das Verhältnis zwischen Bauern und geistlichen Herren gestaltete sich in den folgenden Jahrhunderten sehr konfliktreich. Beide Seiten wandten sich mit ihren Beschwerden an den Münchner Herzogshof. Zunächst kamen Klagen über die Bauern vor den Landesherrn, im November 1352 erging daraufhin ein gesiegeltes Schreiben aus München an die „bauren und die gantze gemain, die in dem Tal zeu Ammergau gesezzen sind“, mit dem Gebot, dem Abt von Ettal „gehorsam“ zu sein.⁴⁰ Zu Beginn des Jahres 1393 beschwerte sich der Abt wegen der von den Ammergauern nicht korrekt entrichteten Herbststeuer. Herzog Johann, der sich des Problems annahm, schrieb aus München an den Abt, er sei „mit seinem rath darob gesessen“ und habe „erkhannt“, daß dem Gotteshaus Unbilliges widerfahre.⁴¹ Damit dürfte jedoch die Angelegenheit nicht bereinigt gewesen sein, denn 1405 mußte die Steuerfrage noch einmal aufgegriffen werden. Sie war offenbar auch nur ein Punkt in einem breiten Spektrum von Kontroversen. Zu deren Beilegung reisten die Bevollmächtigten der Ammergauer Bauernschaft und des Abtes von Ettal Anfang Dezember nach München und erklärten sich beiderseits vor den Herzogen Ernst und Wilhelm III. und ihren Räten bereit, Entscheidungen, die diese aussprechen würden, zu befolgen. Am Sankt Nikolausabend wurde der Schiedsspruch dann niedergeschrieben, mit den herzoglichen Siegeln versehen und je ein Exemplar der Urkunde an die Parteien ausgehändigt.⁴²
Am 23.IV.1330 befreite Kaiser Ludwig der Bayer zu seinem Seelenheil die Bauernschaft im Ammergau vom Todfall. Insert in: BayHStA, KU Etta1 292; 1530 XI.23. Die Erbrechtsgarantie in: Monumenta Boica Bd. 7. München 1766 S. 232 f:; 1330 IV.23.; Ay, Altbayern (wie Anm. 19) S. 444 f.; Joseph Alois Daisenberger, Geschichte des Dorfes Oberammergau, in: Oberbayerisches Archiv 20. 1859/61 S. 53 – 244, hier 71, 76;.Renate Blickle, Die Tradition des Widerstands im Ammergau. Anmerkungen zum Verhältnis von Konflikt- und Revolutionsbereitschaft, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 35. 1987 S. 138 – 159. BayHStA, KL Ettal Nr. 45, unfol.; 1332 XI. 10. Ebd.; 1352 IV.25. BayHStA, KU Ettal 1352 XI.24. BayHStA, KU Ettal 1393 II.10.; Druck: Monumenta Boica (wie Anm. 37) S. 268 f. BayHStA, KU Ettal 1405 Xll.5.; Druck: Monumenta Boica (wie Anm. 37) S. 269 – 272; Johann Georg von Lory, Der Geschichte des Lechrains zweyter Band, Urkunden enthaltend. München 1765 S. 97 f.
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Daß jetzt der Friede im oberen Ammertal einkehren würde, war auch deshalb nicht sehr wahrscheinlich, weil es zu Beginn des 15. Jahrhunderts in der ganzen Gegend rumorte. So ist denn einem Brief, den Herzog Ernst am 18. Dezember 1407 aus Starnberg an die Bauernschaft im Ammergau richtete, folgender Sachverhalt zu entnehmen: Abt Konrad von Ettal hatte sich bei Hof über Scharwerksverweigerungen der Ammergauer beschwert, woraufhin die Herzöge für beide Parteien eine Tagsatzung nach München auf den 18. Dezember anberaumt hatten. Da die Landesherren selbst nicht termingerecht erscheinen konnten, hatte Herzog Ernst von Starnberg aus, wo er sich an diesem Tag aufhielt, Boten nach München gesandt, um die Vorgeladenen zu benachrichtigen und zu sich zu rufen. Es hatte sich gezeigt, daß nur der Ettaler Abt gekommen, von den Bauern aber niemand angereist war. Der Fall war trotzdem verhandelt worden. Herzog Ernst und seine Räte hatten sich „über“ den Spruchbrief von 1405 „gesetzt“ und gemeinsam „erkannt“, daß die Ammergauer dessen Bestimmungen nicht erfüllt hätten und dem Herkommen nach zu den von ihnen verweigerten Heufronen verpflichtet seien. Das „Erkenntnis“ teilte der Herzog den Ammergauern nun schriftlich mit und befahl zugleich, die Arbeiten zu erledigen. Dagegen war Einspruch zugelassen. Der Herzog erklärte schon jetzt seine Bereitschaft, eine „kuntschaft“ für beide Seiten erteilen zu wollen, falls die Ammergauer den Sachverhalt anders beurteilten.⁴³ Das Ritual der Starnberger Verhandlungen läßt im Modus der Entscheidungsfindung Elemente erkennen, die an die Arbeitsweise des späteren landesherrlichen Hofrats erinnern.⁴⁴ Es ist eine Mehrzahl von Personen, die zusammentritt, in gerichtsförmiger Art „setzt“ man sich zur Beratung nieder und „erkennt“, was rechtens ist und zu geschehen habe. Doch scheint das Regiment noch persönlich zu sein, ohne die Anwesenheit des Herzogs kann die Tagsatzung offenbar nicht stattfinden. Die herzogliche Bereitschaft, eine Kundschaft für Bauern und Abt erteilen zu wollen, ist durchaus wörtlich zu nehmen. Jahre später, im Mai 1432, ritt Herzog Ernst, als er sich zur Jagd in der Gegend aufhielt, tatsächlich im Ammergau über die Weiden und markierte die Grenzlinie, die fortan Klosterwiese und Bauernwiese schied. Diese Kundschaft wurde der Form nach als Hintergang beschrieben, den der Abt und die Oberammergauer Bauernschaft getan hatten, und als Spruchentscheid, den daraufhin der Landesherr getroffen hatte, beurkundet.⁴⁵ BayHStA, KL Ettal Nr. 10,II, unfol. Die betreffende Stelle lautet: „Also sein wir mit unßn reten ob dem spruch gesessen den wir und unßer bruder vor zwischen ewr zu baiderseit nach eurem willen gesprochen […] und chunnen darum nit anders versteen noch erchennen […]“. Zur Arbeitsweise des Hofrats: Reinhard Heydenreuter, Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1598 – 1651) (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 72). München 1981 S. 100 – 112. BayHSTA, KU Ettal 1432 V.12. Zum Kundschaftsverfahren: Kobler, Schiedsgerichtswesen (wie Anm. 16) S. 79 f.; zum Kundschaftsbeweis: Schlosser, Zivilprozeß (wie Anm. 12) S. 371– 375. – Vom selben Datum gibt es auch die doppelte Ausfertigung eines Schiedsspruchs, den Herzog Ernst für die Bürger „gemainiclich“ des nahen Marktes Murnau am Staffelsee und den Abt von Ettal erließ, nachdem beide Seiten erklärt hatten, „hinter“ ihn zu gehen und seinen Entscheid zu akzeptieren; BayHStA, KU
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Zu Beginn des Jahres 1444 hatte Herzog Albrecht III. einen Termin für eine Tagsatzung vor seinen Räten in München zur Behandlung der neuerlichen Streitigkeiten zwischen der Ammergauer Bauernschaft und dem Ettaler Abt anberaumt. Das erwies sich jedoch als unnötig,weil die Kontrahenten mit Hilfe ihrer örtlichen Nachbarn einen Vergleich hatten schließen können. Diesen Vertrag brachten sie anschließend nach München, um ihn von „irn rechten landsfursten vnd erbherrn“ bestätigen zu lassen. Der Herzog erfüllte die Bitte „nach rath unserer räth und getreuen“,wie er schreibt, und siegelte für beide Teile gleichlautende Briefe.⁴⁶ Als in der Zeit um 1500 neuerlich ernstliche Auseinandersetzungen zwischen den Ammergauern und Ettal ausbrachen, waren Herzog und Räte in München also längst zum strategischen Fixpunkt aller Streitenden im Ammertal geworden. Die Bauern sandten ihre Vertreter nach München, damit sie ihre Klagen vor dem Herzog und den Räten vorbrächten. Diese setzten einen Termin zur Anhörung der Parteien an, veranlaßten den Abt und die Bauernvertreter, einem gütlichen Verfahren zuzustimmen und verlangten zu diesem Zweck von den Bauern eine schriftliche „suplicatio“.⁴⁷ Die Ammergauer wählten acht Männer aus dem ganzen Gericht und bevollmächtigten sie, die Schrift anzufertigen. Diese schrieben die Supplikation, verlasen sie in den Dörfern und holten die Zustimmung der Gemeinden ein. Ein Bote brachte das Schreiben an den landesherrlichen Hof. Da man aber dort offenbar anderweitig sehr beschäftigt war und die „Ausrichtung“ auf sich warten ließ, machten sich des öfteren einige Leute aus dem Ammergau auf den Weg, um in München größere Eile anzumahnen – allerdings längere Zeit vergeblich. Daneben waren auch Ammergauer in eher privater Mission häufiger am Hof, unter ihnen, wie eingangs berichtet, Gret Replin ihrer konfiszierten weißen Stute wegen. Eine etwa fünf Seiten lange Supplikationsschrift, die Heinz Schmid aus Oberammergau verfaßt hat, öffnet einen kleinen Durchblick auf das alltäglichere Geschehen, das uns ansonsten verborgen bleibt. Heinz Schmid schreibt, er habe am vergangenen Palmabend vor Herzog und Räten über die ehrlosen Faistenmantels, seine Nachbarn, geklagt und fasse nun seine Beschwerde als „suplicatio“ schriftlich ab. Zugleich kündigte er an, in anderer Angelegenheit eine weitere Supplikation vorlegen zu wollen, erwähnt, daß auch seine Gegner in München gewesen waren und dort ein „geschafft“ zu seinem Nachteil erwirkt hatten, sowie daß in Kürze mit der
Ettal 1432 V.12. Druck: Monumenta Boica (wie Anm. 37) S. 275 – 277. Hier war offenbar ein Verfahren vor dem Hofgericht unter Hofmeister Jörg von Gundelfingen und den Räten vorausgegangen; BayHStA, Staatsverwaltung 2230, Register aller Hofrechte unter Herzog Ernst, fol. 4’ (1432). BayHStA, KU Ettal 1444 III.6.; Monumenta Boica (wie Anm. 37) S. 285 – 288. Das Wort „suplicatio“ wird von Heinz Schmid aus Oberammergau in seiner Supplikation an Herzog Albrecht IV., wahrscheinlich im Frühjahr 1500 verfaßt, achtmal verwendet, mehrmals gleichgesetzt mit „eingelegter clag“; BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv Nr. 4092, fol. 72– 75’. Ein Schreiben Abt Johannes von Ettal an Herzog Albrecht vom 21. Juni 1500, ebd., fol. 76, enthält den Begriff „suplicatio“ und das Tätigkeitswort „suplicirn“ je dreimal. Vgl. allgemein Jacob Grimm/ Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Bd.10, Leipzig 1942 Sp. 1250 – 1255.
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Ankunft weiterer Ammergauer bei Hof zu rechnen sei.⁴⁸ Da Heinz Schmids Supplikation auf Befehl des Hofes zurückgesandt und vor Ort vom Richter „offenlich vor dem landtrechten verlesen“ worden war, der Ettaler Abt aber meinte, in dem Schreiben in seiner Ehre gekränkt worden zu sein, griff dieser nun seinerseits zur Feder und schickte seine Beschwerden an den Herzog.⁴⁹ Im April 1503 ließ Herzog Albrecht IV. dann den „Endschidbrief“ im Ammergau – Ettaler Hauptkonflikt ausfertigen. Dieser enthielt einen „enntlichen ausspruch und entschid“, der nicht durch den Herzog, sondern von dessen Hofmeister und den Räten nach gründlichem Überlegen und schriftlichem Vortrag der Streitpunkte sowie nach Vorlage von Briefen und Urkunden getroffen worden war. Zuvor hatten die Abgesandten der Parteien mündlich und später auch schriftlich ihre Bereitschaft erklärt, vollziehen zu wollen, was die Räte „erkennen, sprechen und entschaiden“ wü rden.⁵⁰ Von Dauer war das nicht, das nächste Dokument wurde im Dezember 1507 niedergeschrieben.⁵¹ Es läßt ein etwas anders verlaufenes vorausgegangenes Prozedere erkennen. Die Parteien – von Seiten der Nachbarschaft kamen 13 Verordnete – waren „zw güttlicher Verhöre“ vor Hofmeister und Räten erschienen. Die Räte hatten nach mündlichem und schriftlichem Vortrag, aber offensichtlich ohne einen Hintergang zu verlangen, also ohne Abschluß eines Schiedsvertrags, „erkenndt, und zw abschide geben“, was im doppelt ausgefertigten mit dem Sekretsiegel bekräftigten „Entschyd Brief“, auch „Abschyd Brieff“ festgehalten wurde. Der Ettaler Abt ließ sich am nächsten Tag noch einen zweiten Abschied der Räte bestätigen, der besagte, daß ein bestimmtes Waldstück ihm zustehe, und diejenigen Ammergauer, die behaupteten, es gehöre zu ihren Gütern, auf den ordentlichen Gerichtsweg verwies.⁵² In Steingaden, dem dritten der einander benachbarten Klostergebiete, verliefen die Dinge in Variationen nach demselben Muster. Auch hier kam es wie in Rottenbuch und im Ammergau im ausgehenden Mittelalter zu Auseinandersetzungen zwischen der Bauernschaft und den geistlichen Herren, die von beiden Seiten regelmäßig vor die Herzöge und nach München getragen wurden. Im späten November 1423 waren die Vertreter der „gepawrschaft gemainlich die in die pfarr gen Staingaden gehorend“ und der Propst des Gotteshauses in München erschienen, hatten sich bereit erklärt, „hinter“ die Herzöge Ernst und Wilhelm zu gehen und ihnen „mit iren hantgeben treuen gelobt vnd versprochen“ einhalten zu wollen, was entschieden würde. Daraufhin hatten sich die Herzöge mitsamt ihren Räten „über die sach“ gesetzt, um Klage, Rede und Widerrede jeder Partei aufzunehmen und zu verhören und um danach zu
BayHStA, Kurbaiern Äußeres Archiv Nr. 4092, fol. 72– 75’. Ebd., fol. 76; 1500 VI.21. Monumenta Boica (wie Anm. 37) S. 313 – 319; 1503 IV.24. Die Wörterreihe „erkennen, sprechen und entscheiden“ wird dreimal verwendet. BayHStA, KU Ettal 1507 XII.16. Druck: Monumenta Boica (wie Anm. 37) S. 319 – 321. Das ist der einzige unter den vorgestellten Entscheiden, der nicht in München, sondern von der Kanzlei Herzog Wolfgangs in Landsberg ausgefertigt wurde. Monumenta Boica (wie Anm. 37) S. 321– 323; 1507 XII.17.
2 Laufen gen Hof – Skizzen zur zentralisierten spätmittelalterlichen Beschwerdepraxis
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entscheiden. Sie sanktionierten ihren Spruch mit Androhung harter Strafe und ließen ihn mit ihrem Siegel versehen und doppelt ausfertigen.⁵³ In der Regel scheint die Initiative zu den Verhandlungen in der Zentrale von einer der streitenden Parteien ausgegangen zu sein, aber als Herzog Ernst im April 1437 den Abt von Steingaden und den Bauern Peter Schlauch zu sich an den Hof nach München rief, war er möglicherweise von sich aus tätig geworden. Er kannte die Streitigkeiten der beiden seit vielen Jahren; schon 1423 bei den Verhandlungen mit der gesamten Steingadener Bauernschaft hatte er sich mit dem Problem der Familie Schlauch zu befassen gehabt, und da jetzt offenbar die Gefahr bestand, Peter Schlauchs Agitationen könnten die Bauernschaft neuerdings in Aufruhr versetzen, forderte er die Gegner vor sich und die Räte. Er verhörte beide Seiten und redete ihnen solange zu, bis sie, wie er festhalten läßt, mit „ir spruch und irrung gäntzlich auf uns und unser Räte gangen sein“, und versprachen, einhalten zu wollen, was man entscheiden würde. Sie gelobten das an Eides statt und gaben jeder einen „anlas brief“.⁵⁴ Die Anlaßbriefe, die Bauer und Abt erteilten, bezeichnen den Übergang von einer wenig förmlichen Verhandlungsart zum förmlichen Schiedsverfahren. Der Spruch, der vom gleichen Gremium, nämlich Herzog und Räten, daraufhin gefällt wurde, beginnt mit der Versöhnungsformel und bestimmt dann, Peter Schlauch sei „als recht ist“ zum Beweis seiner Behauptung, vor 36 Jahren sei seinem Vater Erbrecht versprochen worden, vor den Räten zugelassen, sobald ihm und dem Abt dort vom Herzog ein Tag „gesetzt“ werde. Herzog Ernst beglaubigte den doppelt ausgefertigten Spruchbrief mit seinem Siegel.⁵⁵ Durch diesen Spruch war die Angelegenheit vom gütlichen Rechtsweg auf den ordentlichen Gerichtsweg gewiesen. Am nächsten Tag erschienen Peter Schlauch und Abt Johannes von Steingaden vor dem Hofmeister Jorg von Gundelfingen und sieben herzoglichen Räten, die das „hofrecht“ besaßen und trugen durch von ihnen gewählte „Fürleger“ ihre Rechtsbehauptungen vor. Die dort gesprochenen Urteile wurden mit dem Hofgerichtssiegel bekräftigt. Peter Schlauch wurde aufgetragen, sein beanspruchtes Recht zu beweisen. Er sollte deshalb mit sechs unbescholtenen Männern, die bereit wären, mit ihm zu schwören, daß der alte Abt von Steingaden seinem Vater Erbrecht für den Hof versprochen habe, innerhalb von sechs Wochen und drei
BayHStA, KU Steingaden 404; 1423 XI.25. Druck: Monumenta Boica. Bd.6. München 1766 S. 616 – 620; Lory, Lechrain (wie Anm. 42) S. 109 – 111; Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit 2). Hg. Günter Franz. Darmstadt 1963 S. 9 – 12; Renate Blickle, Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern, 1400 – 1800, in: Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa. Hg. Winfried Schulze (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien 27). Stuttgart 1983 S. 166 – 187, hier 182– 185. Der Anlaß oder das Compromiß bedeutet wie der Hintergang den Abschluß eines Schiedsvertrags; Kobler, Schiedsgerichtswesen (wie Anm. 16) S. 23. BayHStA, KU Steingaden 453 I und II; 1437 IV.7. Herzog Ernst ist Aussteller und Siegler.
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Tagen in München vor dem Hofmeister, falls dieser nicht anwesend wäre, vor den herzoglichen Räten erscheinen.⁵⁶ Anhand eines einzelnen Falles wird hier eine Reihe möglicher Verfahren erkennbar, die im 15. Jahrhundert am Münchner Hof zur Konfliktbeilegung eingeschlagen werden konnten, besonders klar tritt die Abfolge Verhandlungsstadium – Schiedsverfahren – Gerichtsprozeß hervor. Einen Einblick in den Ablauf einer Verhandlungssitzung selbst gibt der Spruchbrief Herzog Albrechts III., der im Januar 1441 in München ausgefertigt und in je einem Exemplar für das Gotteshaus und die Bauernschaft in Steingaden gesiegelt wurde. Auch hier hatten die Bauern geklagt und der Abt seine Entgegnung vorgetragen und waren Herzog und Räte bemüht gewesen, die Parteien zu veranlassen, mit Handschlag den Vollzug dessen zu versprechen, was entschieden würde. Sodann hatte sich der Herzog mit den Räten „daruber gesetzt“, und gemeinsam hatten sie Rede und Gegenrede beider Seiten erörtert und darüber entschieden.⁵⁷ Dieser Spruchbrief trägt Punkt für Punkt je eine Beschwerde der Bauern, die Entgegnung des Abtes und die Entscheidung der Räte vor, sodaß hier nicht nur zum erstenmal Beschwerden und ansatzweise die Argumentation von Bauern und Herren erkennbar werden, sondern auch eine Sequenz aus Artikel und Entscheidung. Eine weitere Variante der Münchner Verhandlungspraxis wurde im Frühjahr 1515 vorexerziert. Neun Bauern als Vertreter der Pfarrgemeinde Steingaden und der Abt waren damals von Herzog Wilhelm IV. zu sich und vor seine Räte beschieden worden. Man hatte die Klagen der Bauern und die Antwort des Abtes „gegeneinander verhört“, und die Räte hatten sich darum bemüht, daß die Streitpunkte mit dem „gueten Willen und Vorwissen“ der Parteien „betaidingt und gesprochen“⁵⁸ und die Streitenden selbst „entlich mit einander vertragen“ werden konnten. Die Ergebnisse wurden jedem Teil als „Spruch“ Herzog Wilhelms mit dem herzoglichen Sekretsiegel beurkundet. Hier hatten die Räte auf keinem Hintergang der Parteien bestanden – es gab keinen Schiedsvertrag –, und sie hatten auch keine autoritative Entscheidung getroffen, sondern konsentierte Sachlösungen ausgehandelt, die anschließend urkundlich fixiert wurden.⁵⁹
BayHStA, KU Steingaden 454; 1437 IV.8. Der Hofmeister siegelt mit dem Hofgerichtssiegel Herzog Ernsts. BayHStA, KU Steingaden 475; 1441 I.14.: „also seien wir mit sambt vnsern räten daruber gesessen beider tail red und wider red fur uns genomen und sprechen […]“. Zur Bedeutung von „taidingen“ als dem „umfassendsten Ausdruck für alle Bemühungen um eine außerordentliche gütliche Beilegung von Rechtshändeln“: Kobler, Schiedsgerichtswesen (wie Anm. 16) S. 6 f. BayHStA, KU Steingaden 921; 1515 IV.26. Druck: Lory, Lechrain (wie Anm. 42) S. 254 f.
3 Varianten rechtlicher Verfahren und eine Präsumtion für den „obersten Richter“
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3 Varianten rechtlicher Verfahren und eine Präsumtion für den „obersten Richter“ im Land Die Quellenzeugnisse aus Rottenbuch, dem Ammergau und Steingaden geben Auskunft darüber, wie man dort und wie man am herzoglichen Hof in München im Spätmittelalter mit Beschwerden und anderen vorgebrachten Anliegen umging. Die aufgezeigten Fälle mögen als Nachweis für die Existenz dieser Gewohnheit genügen, ein vollgültiger Beleg für ihre landesweite Verbreitung sind sie noch nicht. Doch spricht andererseits wenig für die Annahmen, nur die Leute vom Lechrain hätten diesen Weg gekannt und am herzoglichen Hof sei man allein mit Rottenbucher, Ammergauer und Steingadener Bauern und Prälaten nach diesem Muster verfahren. Es gibt auch entsprechende Anhaltspunkte: Als beispielsweise die landesherrlichen Jäger im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts dazu übergingen, sich in die Bauernhäuser einzuquartieren, „da lüffen“, wie Sigmund Riezler einen Bericht aus dem Gericht Aibling zitiert, „die armen läut gen hof, wollten das abprächt haben“.⁶⁰ Auch Marktgemeinden wie Dießen, Altomünster oder Murnau⁶¹ und Stadtgemeinden wie Reichenhall⁶² oder adelige Hofmarksherren wie Heinrich der Kammerberger⁶³ sind diesen Weg gegangen. Für die Zulassung bei Hof scheint es kaum Beschränkungen gegeben zu haben, es kamen Frauen und Männer, Laien und Geistliche, Gruppen und Einzelpersonen, Obrigkeiten und Untertanen. Die Schwellenscheu der Ankömmlinge war vermutlich nicht allzu ausgeprägt. Im Ablauf der Vorgänge lassen sich deutlich Phasen oder Bereiche erkennen. Auf den Vortrag eines Anliegens bei Hof folgte gewöhnlich eine Phase der Sondierung, in der Herzog und Räte die Initiative übernahmen, Informationen einholten und von zuständigen bzw. kundigen Personen oder lokalen Behörden Bericht anforderten oder gegebenenfalls eine Stellungnahme der Gegenpartei verlangten. Nach Erörterung der Angelegenheit in formalisierter Form konnte sodann ein schriftliches Gebot des Landesherrn ergehen, das zur Einhaltung des Herkommens aufforderte. Bei umfänglicheren oder unklaren Streit- oder Beschwerdefällen erweiterte man die Erkundungs- zur Verhandlungsphase und lud die Parteien gemeinsam zu einem gesetzten Termin vor, verhörte sie „gegeneinander“ und verhandelte mit ihnen über die Chancen eines Ver-
Sigmund Riezler, Nachtselden und Jägergeld in Bayern, in: Abhandlungen der Historischen Klasse der Königlich Bayrischen Akademie der Wissenschaften. 23. Bd. III. Abt., 1905/6 S. 537– 631, hier 574. Gero Kirchner, Probleme der spätmittelalterlichen Klostergrundherrschaft in Bayern. Landflucht und bäuerliches Erbrecht, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 19. 1956 S. 1– 94, 7; Klaus Frh.von Andrian-Werburg, Urkundenwesen, Kanzlei, Rat und Regierungssystem der Herzoge Johann II., Ernst und Wilhelm III.von Bayern-München (1392– 1438). Kallmünz 1971 S. 158; Wilhelm Liebhart, Kloster und Markt Altomünster im Streit um den St. Alto Bannwald, in: Oberbayerisches Archiv 102. 1977 S. 213 – 225. Zu Murnau vgl. Anm. 45. Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61) S. 149. Ein Spruchentscheid Herzog Wilhelms III. (gest. 1435) wird im Spruchbrief des Hofmeisters Marquard von Schellenberg für Heinrich den Kammerberger und die Bauern und Grundherren zu Vierkirchen (Dachau) am 14.III.1446 bekräftigt. Die Urkunden des Klosters lndersdorf. Bd. 1. Hg. Friedrich Hector Graf Hundt, in: Oberbayerisches Archiv 24. 1863 Nr. 721.
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gleichs. Mißlang die Schlichtung und kam kein Vertrag zustande, wurde von landesherrlicher Seite bis zum Jahr 1503 häufig auf Abschluß eines Schiedsvertrags gedrungen und damit in einen anderen Verfahrensbereich übergewechselt. Die Schiedsverfahren vor Herzog und Räten endeten mit definitiven Entscheiden. Des weiteren gab es die Möglichkeit, ein Verfahren vor dem Hofgericht zuzulassen, das heißt, eine Klage anzunehmen und Kläger und Beklagtem einen Termin zur ordentlichen Verhandlung bei Gericht zu setzen. Diese Verfahren endeten mit einem Urteilsspruch. Wie sich zeigte, wurde am Münchner Hof von einem Modus zum anderen und bei Bedarf wieder zurückgewechselt. Man unterschied, so läßt sich summierend feststellen, zwischen einem Bereich der Tädigung und Ausrichtung – des gütlichen Verhandelns, der Schlichtungs- und Vergleichsbemühungen – und einem zweiten Verfahrensbereich, in dem von den Parteien konsentierte schiedlich-autoritative, sowohl gütliche wie rechtliche Entscheidungen oder Sprüche getroffen wurden, sowie einem dritten Bereich, den die ordentlichen gerichtlichen Prozesse vor dem Hofgericht bildeten. Das Nebeneinander verschiedener Verfahrens- und Entscheidungsarten am Hof beschreibt, zugespitzt ausgedrückt, den damaligen Ort des Rechts zwischen Gericht und Regiment. Das Recht wanderte allmählich aus der Einheit von Gericht und Urteil, in die es durch das dinggenossenschaftliche Verfahren im Mittelalter eingebunden gewesen war⁶⁴, hinüber auf die Seite der Gebots- und Schutzgewalt, die sich immer deutlicher im landesherrlichen Regiment konzentrierte. Die Sprüche und Abschiede, die Herzöge und Räte am Hof erteilten, galten je länger je mehr als „rechtliche“ Entscheide mit der Dignität von Urteilen, und waren darin Ausdruck eines sich ändernden Rechtsverständnisses.⁶⁵ Die Verteilung der Kompetenzen zwischen Gericht und Rat am
Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-deutschen Mittelalter (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 15, 1/2). Köln usw. 1985. Wie die geschilderten Fälle des 14. und 15. Jahrhunderts gezeigt haben, war den Herzögen und ihren Räten im Rahmen dieser Verfahren keine Urteilskompetenz zugekommen. Als Legitimation für ihre Entscheidung wird regelmäßig der Konsens der Parteien, deren Handgelübde und Hintergang hinter den Herzog (1393) oder hinter die Herzöge und ihre Räte (1405, 1423, 1441, 1466, 1470) oder hinter den herzoglichen Rat (1503) genannt. Dagegen war den späteren Abschieden (1507, 1515) kein Schiedsvertrag vorausgegangen, der Hintergang ist aus den Verfahren vor dem Hofrat verschwunden. Bis Mitte der 1520er Jahre etwa scheint man das legitimatorische Defizit durch verstärkten Druck auf die Parteien, gütlich ermittelten Verhandlungsergebnissen zuzustimmen, ausgeglichen zu haben. Die Parteien stimmten dabei den ausgehandelten Sachentscheiden zu, die dann mit ihrem „wissen und willen“ als „Abschied“ der Räte (1515) urkundlich fixiert wurden. In dieser Form erging beispielsweise der „entliche bescheid“ des Hofrats im Streit der Söldner von Zell mit ihrem Hofmarksherrn. Nach Klage,Verhör und etlichen Schriften wurde ein „Vertrag“ ausgehandelt, der „mit jeder parthey ganntzem vorwissen und guetem willen“ als „abschid“ des Hofrats im September 1525 doppelt ausgefertigt und besiegelt wurde. BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1110, fol. 255 – 256’; 1525 IX.2. Auch der Streit der Schmiechener mit ihrem Hofmarksherrn wurde, nachdem die gütlichen Verhandlungen im Münchner Hofrat zu keinem Erfolg geführt hatten, im Juni 1526 „mit ihrem bewilligen vnd vorwissen“ durch einen „Abschied“ der Räte beendet. BayHStA, GerichtsU Landsberg Nr. 851; 1526 VI.27. Ein Jahrzehnt später scheint die legitimatorische Grundlage seiner Abschiede dem Hofrat nicht mehr problematisch ge-
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Hof oder die Relation zwischen den Pflichten, die dem Herzog als „oberstem Richter“ und denjenigen, die ihm als „oberstem Vogt“ und Schutzherrn im Lande oblagen, ist dafür kennzeichnend.⁶⁶ Der Begriff der „Justizgewährungspflicht“⁶⁷, die dem Herrscher oblag, kann, so treffend er zunächst scheint, nicht zur Erläuterung des Beschwerdewesens herangezogen werden, solange darunter eine Pflicht verstanden wird, die dem Richter und dem Gericht auferlegt war.⁶⁸ Die vom Land „gen Hof“ laufenden Leute zogen nicht vor Gericht, sie liefen nicht den obersten Richter an⁶⁹ und wurden auch nicht von einem Fürsten angehört, der sich dabei als Richter verstanden hätte. Wie die ersten erhaltenden bäuerlichen Beschwerden und die Äußerungen der Herzöge selbst zeigen, wandten sich die Bauern an den Landesherrn, als an ihren „obersten recht erbherrn und fürst“ oder an den „obersten vogt und herrn“, und die Herzöge handelten als „ihre“, der Prälaten und der Bauern „rechte landsfürsten und erbherrn“, als „regierendt fürst“ oder „als ihr beider herr und landtfurst“. Sie waren an ihre Pflichten als Herren und als Fürsten – nämlich ihre Schutzpflichten – gemahnt worden und hatten diesen Appellen genügt.
wesen zu sein. Die zahlreichen in den Jahren 1537 bis 1543 doppelt ausgefertigten „rezeß“ etwa, mit denen Landhofmeister und Räte die vorgeladenen Streitparteien nach Klage, Antwort und genügendem Verhör „verabschiden“, lassen keinerlei Unsicherheit mehr erkennen. Es wurden durchweg gütliche Verhandlungen gepflogen und wenn diese scheiterten, Abschiede erteilt. BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1110 – 1112. Die „Tatsache einer Trennung von Hofgericht und Hofrat“, das Nebeneinander eines gerichtlichen und eines sog. gütlichen Verfahrens und die Unterscheidung zwischen der Funktion des Landesherrn als Richter und als Herrn des Gerichtsschutzes waren schon in der Auseinandersetzung zwischen Eduard Rosenthal und Adolf Stölzel unstrittig. Rosenthal, Hofgericht (wie Anm. 2); ders., Besprechung (wie Anm. 2); Adolf Stölzel, Die Entwicklung der gelehrten Rechtsprechung Bd. 2. Berlin 1910 S. 317– 501. Ungeachtet dessen unterschieden sich die Folgerungen grundsätzlich. Rosenthal, fü r die bayerische Geschichte bis heute Autorität, neigt dazu, Vorgänge, die am Hof in irgendeiner Weise verfahrensförmig verhandelt wurden (Erledigung von Beschwerden, Gedinge, streitige Parteihandlungen) als Tätigwerden des Hofgerichts zu deuten.Wie stark seine Präsumtion fü r das Gericht ist, zeigt beispielsweise die Arglosigkeit, mit der er seinem Gegner versichert, er „habe niemals bestritten, daß ein Hofgericht einen Schiedsspruch fällen“ könne; Rosenthal, Hofgericht (wie Anm. 2) S. 427. Genau das aber muß entschieden bestritten werden. Das Hofgericht fällte keine Schiedsentscheide, sondern sprach stets Urteile; Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61) S. 157; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44) S. 194. Analog verfährt Rosenthal mit den Aufgaben des Landesherrn. Der Landesherr ist fü r ihn primär der oberste Richter im Land, seine Schutz- und Rechtsschutzpflichten werden angesprochen und sogleich dem favorisierten Richtertum beigefü gt; Rosenthal, Gerichtswesen 1 (wie Anm. 12) S. 109. Bitten um Rechtsschutz werden dem Herzog als oberstem Richter (ebd., S. 430) und entsprechend dem Hofgericht zugeordnet und nicht als Appell an die Schutzpflicht des Landesherrn verstanden, die von Regent und Räten wahrgenommen wurde. Schlosser, Zivilprozess (wie Anm. 12) S. 86 – 92. Gernot Kocher, Art. „Richter“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd.4. Berlin 1990 Sp. 1033 – 1040. Danach gilt „seit der Existenz richterlicher Organe ein prinzipieller Zwang, bei Anrufung tätig zu werden“, ebd., Sp. 1035. So jedoch Hülle, Supplikenwesen (wie Anm. 5) S. 198; Willoweit, Verwaltungsorganisation (wie Anm. 7) S. 294, 310.
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Die Unterscheidung ist aus wissenschaftsinternen Gründen nötig, da in der Literatur das breite Bedeutungsfeld von „richten“ auf die Tätigkeit des Gerichts reduziert zu werden droht.⁷⁰ Im Verständnis der Beteiligten jener Zeit „richteten“ Landesherr und Räte auch in den gütlich-rechtlichen, schiedlich-autoritativen Unterhandlungen, zu denen sie die streitenden Parteien vorluden. Sie gaben dort ,,Ausrichtung“, sie bemühten sich darum, etwas in Ordnung zu bringen, etwas richtig zu machen.
4 Am Hof. Landesherr und Räte – die Organisierung des Regiments Während des ganzen Spätmittelalters war das Land Bayern in mehrere Fürstentümer aufgeteilt. Dieser Umstand begünstigte den Ausbau des Verwaltungs- und Gerichtssystems. Auch für das Beschwerdewesen dürfte die Kleinräumigkeit von Vorteil gewesen sein. Durch die Teilung war alles überschaubarer – die Entfernungen, die Anzahl der Beteiligten sowie die Qualität und die Menge der zu bewältigenden Probleme. Umgekehrt beförderte das erleichterte „Laufen gen Hof“ die institutionelle Zentralisierung des angehenden Staatswesens⁷¹, jedenfalls zeigten sich Tendenzen zum Ausbau zentraler Organe hier am frühesten.⁷² Der herzogliche Hof in München, schon seit den Tagen Ludwigs des Bayern die bevorzugte Residenz im Oberen Bayern, wurde im 15. Jahrhundert zum Ziel der Untertanen, die Gehör beim Landesherrn suchten. Sie wandten sich an den Fürsten persönlich, wurden jedoch niemals allein empfangen, sondern standen immer einer Mehrzahl von Personen gegenüber, oft genug dürften sie dem Fürsten gar nicht begegnet sein, sondern nur seine Räte angetroffen haben. Die bayerischen Herzöge regierten seit der Mitte des 13. Jahrhunderts mit dem Beistand von Räten, die dem hohen einheimischen Adel angehörten.⁷³ Wenigstens zwei Räte sollten schon 1293 jeweils ständig am Hof weilen⁷⁴, während andere auf Anfordern zu erscheinen hatten. Die Räte mit Anwesenheitspflicht werden um 1464 als
Vgl. Gerhard Köbler, Richten – Richter – Gericht, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 87. 1970 S. 57– 113. Zentralisierung gilt als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Modernisierung der Verwaltung; Hans Patze, Die Herrschaftspraxis der deutschen Landesherren des späten Mittelalters, in: Histoire Comparée de I’Administration (IVe – XVIIIe siècles). Hg. Werner Paravicini/ Karl Ferdinand Werner. Zürich usw. 1980 S. 363 – 391, hier 368, 377, 382– 387. Die Finanzverwaltung blieb im Mittelalter dezentral; vgl. dazu Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61) S. 160 – 162; Walter Ziegler, Studien zum Staatshaushalt Bayerns in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die regulären Kammereinkünfte des Herzogtums Niederbayern 1450 – 1500. München 1981 S. 55. Wilhelm Volkert, Die innere Entwicklung. Staat und Gesellschaft bis 1500, in: Handbuch der bayerischen Geschichte. Bd. 2. Das alte Bayern. Begr. von Max Spindler. Hg. Andreas Kraus. München 21988 S. 536 – 624. Ay, Altbayern (wie Anm. 19) S. 611. Niederbayerische Hofordnung.
4 Am Hof. Landesherr und Räte – die Organisierung des Regiments
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„tägliche Räte“ bezeichnet.⁷⁵ Noch nach der Mitte des 15. Jahrhunderts sind die Räte in ihrer großen Mehrzahl adelige und – seltener – bürgerliche Laien ohne Universitätsbildung.⁷⁶ Der Einfluß der Stände auf den herzoglichen „Rat“⁷⁷ und durch ihn auf das Regiment reichte sehr weit. Doch gab es keine Räte von Geburt, alle wurden berufen und waren den Herzögen eidlich verpflichtet. Es sollten nur Landleute zu Räten angenommen werden, das ließen die Stände sich seit dem 14. Jahrhundert immer wieder zusichern.⁷⁸ Als „Hofgesind“ konnten Fremde engagiert werden, aber es mußte garantiert sein, „das land und leut mit inen und durch sy nicht geregirt“ würden.⁷⁹ Mit der Regierung von „Land und Leuten“ waren die Räte zwar vornehmlich befaßt, doch fielen auch sonst alle Probleme, mit denen der Landesherr konfrontiert wurde, in ihre Kompetenz. Die „prinzipielle Allzuständigkeit“⁸⁰, wie sie als Aufgabenbereich des landesherrlichen Hofrats im 16. Jahrhundert festgestellt worden ist, trifft als Funktionsbeschreibung auch auf die Tätigkeit der herzoglichen Räte des 15. Jahrhunderts zu.⁸¹ Traditionell kam der Rechtspflege als prophylaktischer Friedewahrung dabei große Bedeutung zu.Von Anfang an waren die Räte als Schlichtungsund Schiedsleute in die fortwährenden Streitigkeiten der Herzöge untereinander
Nach einer undatierten Münchner Hofordnung gab es damals „acht täglich Räth“; Max Josef Neudegger, Die Hof- und Staats-Personaletats der Wittelsbacher in Bayern vornehmlich im 16. Jahrhundert. Abt. 1, in:Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 26. 1889 S. 42– 49, hier 43; Ay, Altbayern (wie Anm. 19) S. 615. – Neudegger, S.42, datiert mit ca. 1464, Sigmund Riezler, Geschichte Baierns. Bd.3. Gotha 1889 S. 675, gibt 1465 an. Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61) S. 139 – 145; Heinz Lieberich, Die gelehrten Räte. Staat und Juristen in Baiern in der Frühzeit der Rezeption, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27. 1964 S. 120 – 189, hier 125, 132; ders., Art. „Gelehrte Räte“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1. Berlin 1971 Sp. 1474– 1477, hier 1475; Rainer A. Müller, Zur Akademisierung des Hofrats in Bayern 1450 – 1650, in: Gelehrte im Reich. Hg. Rainer Christoph Schwinges. Berlin 1996 S. 291– 307. Die Räte waren überwiegend Mitglieder der Landschaft; Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61) S. 155. Die altbaierischen landständischen Freibriefe mit den Landesfreiheitserklärungen. Hg. Gustav Frh. von Lerchenfeld. Mü nchen 1853. Für das Obere Bayern vgl. die Jahre 1363, 1392, 1393, 1396, 1402. Ebd. S. 105. Zusage Herzog Albrechts III. im 42. Freibrief. Willoweit,Verwaltungsorganisation (wie Anm. 7) S. 310, auch 307 f.; Rosenthal, Gerichtswesen 1 (wie Anm. 12) S. 433; Gerhard Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches, in: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte. Hg. Herbert Grundmann. Bd. 2, Stuttgart 91970 S. 361– 436, hier 405; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44) S. 231 ; Dieter Albrecht, Staat und Gesellschaft, in: Handbuch der bayerischen Geschichte. Bd. 2: Das alte Bayern. Begr. von Max Spindler. Hg. Andreas Kraus. München 21988 S. 651– 655; Peter Moraw, Art. „Reichshofrat“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. Berlin 1990 Sp. 630 – 638, hier 631. Fü r Bayern-Mü nchen: Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61) S. 151– 155; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44) S. 8 – 10. Allgemein: Paul-Joachim Heinig, Art. „Rat“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7. München usw. 1995 S. 449 – 453, hier 450; Karl-Heinz Blaschke, Art. „Hofrat“, in: ebd. Bd. 5. München usw. 1991 S. 77.
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eingeschaltet worden.⁸² In Niederbayern wurden sie bereits 1322 zur zuständigen Instanz für Beschwerden über landesherrliche Beamte und Klagen gegen den Herzog erklärt⁸³, in Oberbayern sollten sie spätestens seit 1402 – neben den Herzögen – vorgebrachte Klagen oder Anschuldigungen „verhören“.⁸⁴ 1458 wiederholte Herzog Albrecht III. diese Zusage in verallgemeinerter Form: „Wir wollen auch mit uns selbs und vnser reten also halten und bestellen, das alle die zu clagen oder anzubringen haben […] das wir die oder den genedigklich und furderlich horn und nach vnser rete erkantnus ausrichtung thun oder recht ergen lassen“.⁸⁵
Der Herzog garantierte die Annahme, die Behandlung und die Erledigung von Klagen und Anliegen unter Beiziehung der Räte – das geht aus dem Passus hervor – in den Formen des gütlich-rechtlichen und des gerichtlichen Austrags: Er versprach, nach Erkenntnis der Räte eine streitige Angelegenheit „ausrichten“ oder im ordentlichen Rechtsprozeß darüber Urteil sprechen zu lassen. Das Hofgericht, wo letzteres geschah, wurde im 15. Jahrhundert vornehmlich mit Räten besetzt.⁸⁶ Die Stellung der herzoglichen Räte im Oberen Bayern erhielt im Jahre 1466 eine neue Qualität. Den Anlaß dazu bot der Streit der jungen Herzöge „von des Regiments wegen“. Der Konflikt führte zur Ausarbeitung einer Ordnung⁸⁷, deren Kern die Etablierung des Rates als Regiment oder Regierung und ortsgebundener, permanenter und bevollmächtigter Zentralbehörde bildete. Für das ganze Fürstentum und für beide regierenden Herzöge wurden eine gemeinsame Kanzlei eingerichtet und ein gemeinsamer Hofmeister bestellt, dem sechs genannte Räte als Gremium zugeordnet waren.⁸⁸ Hofmeister und Räte gelobten, nach bestem Verständnis dem Reichen wie dem Armen Urteil zu sprechen und dem Regi-
Kobler, Schiedsgerichtswesen (wie Anm. 16) S. 52, 54 f. Lerchenfeld, Freibriefe (wie Anm. 78) S. 10, 12. Ebd. S. 52. Ebd. S. 105. Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61) S. 158; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44) S. 8. Die Söhne Albrechts III., Sigmund und Albrecht IV. (ihre Brüder Christoph und Wolfgang sind noch minderjährig), sind durch Herzog Ludwig von Niederbayern und Vertreter der Landschaften im Oberund Niederland zu Bayern und auf dem Nordgau gütlich vertragen worden; Baierische LandtagsHandlungen in den Jahren 1429 bis 1513. Hg. Franz von Krenner. Bd. 5. München 1803 S. 165 – 191; 1466 III.4.; Ay, Altbayern (wie Anm. 19) S. 616 – 618. Vgl. dazu: Riezler, Geschichte (wie Anm. 75) S. 675 f.; Rosenthal, Gerichtswesen 1 (wie Anm. 12) S. 138 f., 259 – 261; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44) S. 15 Anm. 57; Dietmar Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Hg. Kurt G. A. Jeserich/ Hans Pohl/ GeorgChristoph von Unruh. Bd. 1. Stuttgart 1983 S. 66 – 142, hier 111; ders., Verwaltungsorganisation (wie Anm. 7) S. 292; Volkert, Innere Entwicklung (wie Anm. 73) S. 598 – 609. Zur Zeit des gemeinsamen Regiments der Herzöge Ernst und Wilhelm III. von 1398 bis 1435 hatten beide Herzöge je einen Hofmeister; Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61) S. 92.
4 Am Hof. Landesherr und Räte – die Organisierung des Regiments
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ment der Landesherren „Land und Leut antreffend“⁸⁹ getreulich zu ,,raten“ sowie Schaden von ihnen abzuwenden. Ihr Versprechen betraf zwei gesondert benannte Bereiche, nämlich ihre Aufgaben im Hofgericht – wo die Urteile gesprochen wurden – und ihre Regierungsgeschäfte. Das Verfahren,wie ein Urteil zustande kommt, also die Arbeitsweise des Hofgerichts, wurde nicht weiter erörtert. Es gab offenbar keinen diesbezüglichen Bedarf, weil keine Veränderungen vorgesehen waren. Das Hofgericht wurde traditionell von Hofmeister und Räten besetzt – die Herzöge nahmen an den Sitzungen seit langem nur ausnahmsweise teil –, es trat viermal im Jahr zu festen Terminen zusammen und erhielt die Gewalt,Urteile zu sprechen, für jede Sitzungsperiode durch herzogliches Gebot. Das Hofgericht wurde bis ins 16. Jahrhundert hinein ad hoc, nicht auf längere Zeit bevollmächtigt.⁹⁰ Hingegen schien es erforderlich gewesen zu sein darzulegen, auf welche Weise das Regiment über Land und Leute auszuüben sei. Zunächst wurde es lokalisiert, die Regierung erhielt ihre dauernde Residenz in München. Ob ein Landesherr an den Regierungsgeschäften beteiligt wurde oder nicht, hing in Zukunft vor allem von seiner Anwesenheit oder Abwesenheit in der Stadt ab. Es sollte nicht dort regiert werden, wo der Regent sich aufhielt, sondern dort, wo die Regierung ihren Sitz hatte. Dieser Sitz befand sich „im alten Schloß in der gewöhnlichen Rathstuben“.⁹¹ Sodann wurde der Modus des Regiments über Land und Leute geregelt. Die betreffenden Angelegenheiten sollten von den je in München anwesenden Landesherren mit dem Hofmeister und den sechs Räten „gerathschlagt und gehandelt“ werden, und was „alle oder der mehrere Theil beschliessen“ würden, sollte vollzogen werden.⁹² Der Hofmeister und die sechs Räte bildeten ein exklusives Kollegium, aus den Räten war „der Rat“ geworden. Das zeigen die Bestimmungen über die „andern Räte“, die es ja nach wie vor auch noch gab. Diese Räte konnten im Unterschied zu denen, die dem Gremium
Ausgenommen vom Komplex ,,Land und Leut“, oder jedenfalls nur mit Zustimmung beider Herzöge zu regeln, waren Dinge, die „der Herrn Regalia, oder Veraͤnderung, Verpfaͤndung oder Versetzung oder Verkaufung ihrer Schloß, Staͤdte, Maͤrkte, Doͤrfer, Gerechtigkeit, Gilt, Rent, Zinß, oder Nutzung beruehren […]“; Krenner, Landtags-Handlungen (wie Anm. 87) S. 180 f. Zum Hofgericht vgl. Rosenthal, Gerichtswesen 1 (wie Anm. 12) S. 108 – 153; Schlosser, Zivilprozeß (wie Anm. 12) S. 80 – 86, 91 f., 395 – 399; Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61) S. 156 – 159; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44) S. 6, 184, 193, 200, 208 f.; Heinz Lieberich, Baierische Hofgerichtsprotokolle, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 36. 1976 S. 7– 22; auf Dauer mit Hofgerichtssachen betraute Räte sind erst fü r das 16. Jahrhundert nachweisbar: ebd., S. 15. „Was dann Sache die das gemeine Regiment der Herrn Land und Leute beruͤhrt, angebracht werden, dieselbe sollen durch beyde Herrn, ob sie derselben Zeit allhier zu Muͤnchen waͤren, oder durch ihrer einem, der dann im Abwesen des andern allhier waͤre, mit samt dem Hofmeister und sechs Raͤthen gerathschlagt und gehandelt, was sie dann alle oder der mehrere Theil beschliessen, dem soll nachgegangen werden.“ Krenner, Landtags-Handlungen (wie Anm. 87) S. 180. – Die Sitzungen in der Ratsstube sind die Regel, nur fü r den Fall, daß allein der jüngere Herzog, Albrecht IV., in München wäre, konnte er Hofmeister und Räte „in seinen Hof und Herberg fordern“, ebd., S. 181. Die Regimentsordnung von 1468 wiederholt diese Bestimmung, ebd., S. 292. Ebd. S. 180.
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Laufen gen Hof
angehörten, nur dann, wenn beide Landesherren dies für notwendig erachteten und diesen oder jenen aus ihnen eigens anforderten, „im Rathe ihre Stimme auch haben“.⁹³ Für einen umfangreichen Teilbereich der Regierungsarbeit aber erhielt das Kollegium der Räte noch weitergehende Kompetenzen: Der Hofmeister und die sechs Räte sollten nämlich, wenn keiner der Landesherren anwesend wäre „an der Herren Statt Macht haben zu handeln zwischen den Partheyen von Sachen wegen, die nicht die Herrn, sondern die Partheyen allein gegeneinander beruͤhrten“.⁹⁴ Die Vollmacht zu handeln wurde nicht einer Person, sondern dem Rat als kollegialer Institution übertragen, und diese Vollmacht war genereller Art, nicht ad hoc für den konkreten Einzelfall erteilt. Der Gewalttransfer bezog sich auf die Kompetenz, die Streitigkeiten und Anliegen, die von den Untertanen an die Regierung herangetragen wurden, allein zu verhandeln und zu entscheiden. Die Aufgabe der ersten zu selbständigem Handeln autorisierten Zentralbehörde in Bayern war es, sich mit dem Beschwerdewesen zu befassen. Die Konstituierung einer Zentralbehörde – der Anfang vom Ende der „ambulanten Stegreifverwaltung“⁹⁵ –, ein für den Entwicklungsstand der staatlichen Verwaltung und den Grad ihrer Institutionalisierung stets als Marke angesehenes Ereignis⁹⁶, stellt sich im Oberen Bayern als die organisatorische Antwort auf Anforderungen heraus, mit denen Land und Leute den Landesherrn konfrontiert hatten. Die Einrichtung einer Regierung oder eines ständigen Ratskollegiums als Behörde war eine Reaktion auf das „Laufen gen Hof“ der Untertanen. Handlungsbedarf im Bereich des Beschwerdewesens war offenbar seit einigen Jahren als akut empfunden worden. Am Hof hatte das zu der Überlegung geführt, künftig „khain paurntaͤding“ mehr vorfordern zu wollen⁹⁷, und im Februar 1464 die Publikation eines Landgebots zum selben Problemkreis veranlaßt. Angestoßen durch Beschwerden über saumselige Amtleute auf dem Land und ausgelöst von der Belastung, als die Herzog und Räte das stete „Nachlauffen“ der Untertanen empfanden, war eine Verordnung ergangen, wonach alles was die „armen Leute und Unterthanen fuero einer gen den anderen zu handeln, oder zu klagen haben“ würden, vor die Amtleute auf dem Land „gebracht“ werden solle. Diese sollten dann „die Partheyen gegeneinander“ verhören und dabei anstatt des Herzogs handeln, damit – heißt es – der Billigkeit Genüge ge-
Ebd. S. 181. Ebd. Werner Hülle, Art. „Kollegialbehörden“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd.2. Berlin 1978 Sp. 927– 930, hier 928. Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Neubearb. Aufl. Karlsruhe 1962 S. 315; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44) S. 15; Willoweit, Landesherrschaft (wie Anm. 87) S. 111; ders., Verwaltungsorganisation (wie Anm. 7) S. 297; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands. München 1990 S. 106 nennt als Kriterien des Übergangs vom locker gefaßten Rat zum Hofrat ein fixiertes organisatorisches Gerüst und detaillierte Verfahrensregeln. Neudegger, Personaletats (wie Anm. 75) S. 47; Beschwerden über Beamte (Pfleger, Richter, Amtleute) bei Hof werden davon ausdrücklich ausgenommen.
4 Am Hof. Landesherr und Räte – die Organisierung des Regiments
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schähe.⁹⁸ Die Richter auf dem Land hingegen sollten einem jeden nach Landrecht und „Buchsage“ Recht sprechen. Auch auf dieser Ebene werden zumindest zwei unterschiedliche Verfahrensarten erwähnt. Weiterhin mit einer Beschwerde bei Hof zugelassen war, wer sich „im Rechten“ durch den Richter „beschwert beduͤnkte“ und an den Hof dingte, und wer sich von den Amtleuten beschwert glaubte.⁹⁹ Hier handelt es sich um einen ersten Versuch, das „Laufen gen Hof“ zu regulieren und einzudämmen. Es blieb nicht der einzige. Auch nachdem das Kollegium der Räte in der Ratsstube des Alten Hofs in München fest etabliert und insofern den Anforderungen des Beschwerdewesens organisatorisch entsprochen worden war, wurden mehrmals gesetzliche und administrative Vorstöße unternommen, die der tendenziell anarchischen Beschwerdepraxis Ordnung geben, ihr aber auch Einhalt gebieten sollten. Nach dem Vorgang des Ratskollegiums in München folgte 1489 auf Anregung der Landschaft die Einrichtung einer gleichartigen Institution durch Herzog Georg von Niederbayern in Landshut Der Herzog verordnete „der taͤglichen Haͤndel und Ausrichtung halben“ etliche Räte, „die alle Werktage auf eine bestimmte Stunde nämlich um Sieben Vormittags zusammen auf die Kanzley kommen, und daselbst im Beywesen unsers Kanzlers […] einen jeden der alsdann in unserm Hofe zu thun hat, und was sonst gemeiner Sachen sind, verhoͤren und darinn foͤrderliche und ziemliche Ausrichtung zu thun Macht haben sollen“.
Außerdem sollten diese Räte auch ,,Macht haben guͤtliche und Rechttage […] zu setzen“.¹⁰⁰ Die Einsetzung und Ermächtigung des Ratsgremiums wird auch hier in erster Linie mit den Erfordernissen des Beschwerdewesens begründet. Die aus BayernMünchen bekannte Differenzierung nach einem variablen Modus des „Anhören-Verhandeln-Ausrichtens“ einerseits und den auf anberaumten Tagsatzungen vorgenommenen gütlich-rechtlichen Verhandlungen und Entscheidungen andererseits, sowie
Der Zusammenhang von außergerichtlichem Verfahren und Billigkeitsmaxime kann im Rahmen dieses Beitrags nicht abgehandelt werden. Krenner, Landtags-Handlungen (wie Anm. 87) S. 102– 105, hier 103; Buchsage meint das Landrechtsbuch von 1346. Rosenthal, Gerichtswesen 1 (wie Anm. 12) S. 132; Schlosser, Zivilprozeß (wie Anm. 12) S. 91 f.; ders., Rechtsgewalt und Rechtsbildung im ausgehenden Mittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 100. 1983 S. 9 – 52, hier 18, 21. Zu ähnlichen Verhältnissen in benachbarten Fürstentümern vgl. Willoweit, Verwaltungsorganisation (wie Anm. 7) S. 310. Krenner, Landtags-Handlungen (wie Anm. 87) Bd.12. München 1804 S. 275 f.; vgl. dazu ebd., S. 337; Ay, Altbayern (wie Anm. 19) S. 621; Rosenthal, Gerichtswesen 1 (wie Anm. 12) S. 151; ders., Hofgericht (wie Anm. 2) S. 429; Riezler, Geschichte (wie Anm. 75) S. 676; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44) S. 13; Willoweit, Verwaltungsorganisation (wie Anm. 7) S. 308;. Reinhard Stauber, Der letzte Kanzler des Herzogtums Bayern-Landshut. Eine biographische Skizze zu Wolfgang Kolberger, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 54. 1991 S. 325 – 367; ders., Herzog Georg von BayernLandshut und seine Reichspolitik. Möglichkeiten und Grenzen reichsfürstlicher Politik im wittelsbachisch-habsburgischen Spannungsfeld zwischen 1470 und 1505. Kallmünz 1993 S. 789.
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den gleichfalls an einem gesetzten Termin durchgeführten Rechtsprozessen vor dem Hofgericht als der dritten Verfahrensart, ist auch hier unschwer zu erkennen.¹⁰¹ Nach der Vereinigung der Teilfürstentümer und den administrativen Umstellungen der Jahre 1505/07 kam dem Münchner Hof die eindeutige Funktion eines Mittelpunkts für das ganze Land zu, doch blieben die alten Zentren Landshut, Straubing und Burghausen Regimentsorte, an denen ein Viztum mit einem Kollegium von Räten und einer Kanzlei in gleicher Weise wie das Münchner Rätekollegium die Geschäfte ihrer Amtsbezirke erledigten. Zu diesen Aufgaben zählte nach wie vor die Befassung mit dem Justizwesen. Die Hofräte – 1501 ist der Begriff erstmals überliefert¹⁰² – hörten der Verlesung von Klagzetteln oder den Worten eines Supplikanten bzw. seines Prokurators zu und antworteten darauf, sie verhörten vorgeladene Parteien gegeneinander, sie verhandelten mit ihnen und verglichen oder entschieden abschließend ihre Streitigkeiten.¹⁰³ Die Bildung von Institutionen – hier der Zentralbehörde Hofrat – wird im Rahmen neuerer theoretischer Modelle als eine Objektivierung von sinnorientierten Verhaltensmustern gedeutet.¹⁰⁴ Unter dieser Perspektive erscheint die Etablierung einer Behörde in erster Linie als die Folge gesellschaftlicher Erfordernisse und als das Ergebnis der inneren Entwicklung. Die Ausführungen zur Entstehung des Hofrats in Bayern stehen jenen Modellen näher als dem Erklärungsmuster, wonach die Bildung der Zentralbehörden in den deutschen Territorien als weitgehende Übernahme äußerer Vorbilder zu sehen ist und demnach eine Imitationsabfolge vom Burgunderhof über die Reformen Kaiser Maximilians bis in die kleineren Fürstentümern reicht.¹⁰⁵
Die Unterscheidung von Verfahren vor dem Hofgericht und vor den Räten wird für Niederbayern bereits 1444 erwähnt. Krenner, Landtags-Handlungen (wie Anm. 87) Bd.2. München 1803 S. 102; ebenso in der Landesordnung von 1474; Krenner Landtags-Handlungen (wie Anm. 87) Bd.7. München 1804 S. 502, 509, 511. In der Landesordnung Herzog Georgs von Niederbayern ist mehrmals von Hofräten die Rede; Krenner, Landtags-Handlungen (wie Anm. 87) Bd.13. München 1804 S. 270 ff. Zu 1501 als vermeintlichem Reformjahr in Bayern vgl. Oestreich, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 80) S. 405. Vgl. die Regiments- und Hofordnung von 1511; Neudegger, Personaletats (wie Anm. 75) S. 77– 85; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44) S. 16 f. Gert Melville, Institutionen als geschichtswissenschaftliches Thema. Eine Einleitung, in: Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde. Hg. ders. (Norm und Struktur 1). Köln 1992 S. 1– 24. Für den Forschungsstand zum vorgängigen Streit über die Behördenentwicklung als primär imitierenden oder eher autogenen Vorgang wird üblicherweise verwiesen auf: Fritz Hartung, Der französisch-burgundische Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Behördenverfassung, in: Historische Zeitschrift 167. 1943 S. 3 – 12. Im Kontext der „Hofforschung“ ist neuerdings das Modell Burgund als ein noch zu untersuchendes bezeichnet worden; Werner Paravicini, The Court of the Dukes of Burgundy. A Model for Europe? in: Princes, Patronage, and the Nobility. The Court at the Beginning of the Modern Age ca. 1450 – 1650. Ed. Ronald G. Asch/ Adolf M. Birke. Oxford 1991 S. 69 – 102.
5 Kontinuitäten – Supplikationen und Summarischer Prozeß in der frühen Neuzeit
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5 Kontinuitäten – Supplikationen und Summarischer Prozeß in der frühen Neuzeit Die bayerischen Untertanen behielten ihre Gewohnheit, mit Beschwerden und Anliegen vieler Arten beim landesherrlichen Hofrat vorstellig zu werden, in der frühen Neuzeit bei. Als Bezeichnung setzte sich das Wort Supplikation immer mehr durch. In der Landesordnung von 1516 wurden Vorschriften über die korrekte Handhabung der Supplikation durch die Supplikanten, die lokalen Obrigkeiten und die Hofräte erlassen.¹⁰⁶ Diese Bestimmungen gingen in die Landesordnungen von 1553 über und erschienen dort unter dem Titel eines „Summarischen Prozesses“.¹⁰⁷ Einen gewissen Endstand in der Entwicklung bedeutete die große Kodifikation, die 1616 als „Landrecht, Policey:Gerichts-Malefiz- vnd andere Ordnungen“ in München erschien. Sie enthielt eine völlig selbständige Ordnung für den „Summarischen Process Der Fuerstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn“. Hier finden sich in den ersten beiden Titeln die Relikte der Verfahren, die im Spätmittelalter bei Hof im Umgang mit dem Beschwerdewesen angewendet worden waren, es gibt Ausführungen zur Supplikation, zum Aushandeln von Vergleichen und zum Schiedsvertrag. Die Parallelität der verschiedenen rechtlichen Wege, wie sie aus dem 15. Jahrhundert bekannt war, blieb erhalten; denn neben dem Summarischen Verfahren vor dem Hofrat existierte nach wie vor das ordentliche Gerichtsverfahren vor dem Hofgericht. Es war bereits 1520 in einer Gerichtsordnung festgehalten worden und wurde 1616 abermals publiziert. Die Koexistenz endete erst 1753 mit der Ablösung beider Prozeßformen durch den Codex Juris Bavarici Judiciarii. „Iustitia“, so hieß es in der Vorrede jener Kodifikation von 1616, habe in bayerischen Landen „also florirt, daß sie vor inwendigen Kriegen und Auffruhren mehrers als andere Provintzen Ruhe gehabt“. Als vorteilhaft habe sich dabei der Umstand erwiesen, daß die bayerische Bevölkerung vor „langwirigen Rechtsprozessen“ bewahrt worden und ihr „vil ordenliche Rechtfertigungen“ erspart geblieben seien.¹⁰⁸ Justitia, so liest man also heute einigermaßen verblüfft, bewirkte den inneren Frieden, indem sie die „ordentliche Rechtfertigung“ mied. Doch – wie erinnerlich – es hatten ihr ja seinerzeit mehrere Wege offengestanden. Als Friedensstifterin war sie – nach Meinung des landesfürstlichen „Vorredners“ jedenfalls – außerhalb des ordentlichen gerichtlichen Prozesses auf den Pfaden der extrajudizialen Verfahren gewandelt.¹⁰⁹ Der innere Friede sei als Leistung des Summarischen Prozesses anzusehen.
Das buech der gemeinen Land-pot. Landsordnnung. s.L. 1516, 2. Teil, fol. 29 – 30‘. Bayrische Landtsordnung 1553. 2. Buch. 1. Titel bestehend aus 6 Artikeln, fol. 19 – 21: „Wie der Summarisch proceß in gü tlichen handlungen durchgenommen und gehalten werden soll“; vgl. auch ebd., 8. Titel, 2. und 3. Artikel. Summarisch bedeutet „verkü rzt, vereinfacht“. Landrecht, Policey: Gerichts-Malefitz- und andere Ordnungen. Der Fuͤrstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. Mü nchen 1616; „An den Leser“. Zur Einordnung des Summarischen Verfahrens als einem Extrajudizialverfahren vgl. die Hofratskanzleiordnung von 1569, wo von den Fällen, deren „erledigung außerhalb rechtens vnd an ordenlich gerechtlichen process in der guete summari mit schriftlicher einclag […]“ erfolgte, die Rede ist,
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ähnlich die Hofratskanzleiordnung von 1600. Mayer, Quellen (wie Anm. 14) S. 148, 187. Die Zweigleisigkeit der rechtlichen Verfahren in der frü hen Neuzeit ist jedoch keine Besonderheit Bayerns.
Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat Zwei Wochen bevor die Aschauer Bauern Mitte Februar 1670 mit 16 Schlitten zur Fahrt aus dem Priental nach München aufbrachen – eine Wegstrecke von neun Meilen oder rund 65 Kilometern –, war dort, in der Residenzstadt, bereits eine erste, durchaus alarmierend gemeinte Nachricht von ihren Reiseplänen eingetroffen. Der Aschauer Gerichtsverwalter hatte zu Beginn des Monats einen Boten in die Stadt geschickt und seinen dort wohnenden Herrn, den Grafen Johann Maximilian II. von Preysing, vom Vorhaben der Bauern unterrichtet. Der Beamte sah offenbar eine gewisse Gefahr für die Obrigkeit heraufziehen, zumindest hielt er es für angebracht, vorbeugende Maßnahmen anzuregen, denn er empfahl dem Grafen in seinem Schreiben, „wäre also gar gut, wenn Euer hochgräfliche Gnaden zu dero Gnaden Herr Geheimer Rat Vice Canzler, dann zu ihren Gnaden Herrn Lösch, zu Herrn Hofcanzler und Herrn Kreitt vermeldung“ tun würden.¹ Graf Preysing soll diese Herren, so meinte sein Verwalter, über den Plan der Bauern informieren und sie im Sinne der Herrschaft darauf einstimmen. Die Titel der anvisierten Personen lassen auf den ersten Blick erkennen, hier war nicht an vorsichtige Kontaktaufnahme, sondern an unverblümte Einflußnahme im „Vorraum der Macht“ gedacht: Freiherr von Lösch saß dem Münchner Hofrat als Präsident vor², Hofkanzler Dr. Hieronymus Störz und Hofrat Dr. Johann Baptist Kreitt waren als die zuständigen Hofräte – nämlich als die mit der Aschauer Materie vertrauten Referenten – von besonderer Bedeutung³, und der eingangs erwähnte Geheime Rat Vice Kanzler, der wegen der anreisenden Bauern bemüht werden sollte, war niemand anderer als Kaspar von Schmid, damals der einflußreichste Mann im Staat, Ratgeber des Kurfürsten Ferdinand Maria und die „Seele der bayerischen Politik“, wie seine Position und seine Person gekennzeichnet worden sind.⁴
Staatsarchiv München (StAM), Herrschaft Hohenaschau, Akten (A) 1147. Schreiben des Gerichtsverwalters Johann Stephan Ziegler in Hohenaschau vom 4. Febr. 1670 an Johann Maximilian II. Graf von Preysing in München. Eine ähnliche Empfehlung – nämlich den Hofratspräsidenten und den Hofkanzler anzugehen – gibt Ziegler seinem Herrn auch im Schreiben vom 27. Febr. 1670, nachdem die Aschauer Untertanen ihre Supplik in München eingeliefert hatten. Ebd. Albrecht Wilhelm Lösch war von 1666 bis Dezember 1670 Hofratspräsident. Reinhard Heydenreuter, Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1598 – 1651) (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 72). München 1981 S. 343 f. Zu Hofratskanzler Hieronymus Störz vgl. Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2) S. 357, zu Dr. Johann Baptist Khreitt ebd. S. 314. Beide hatten als Kommissare des Hofrats im August 1668 in Aschau einen Vergleich zwischen den Untertanen und der Herrschaft, resp. dem damaligen Gerichtsverwalter Scher ausgehandelt. Dr. Kaspar v. Schmid, seit 1662 Geheimratsvizekanzler, führte seit 1667 die Geschäfte des Geheimratskanzlers, er hatte bis zu seiner Entlassung 1683 maßgeblichen Einfluß auf die kurfürstliche Politik. Zitat nach Andreas Kraus, Bayern im Zeitalter des Absolutismus (1651– 1745), in: Handbuch der DOI 10.1515/9783110541106-007
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Supplikationen und Demonstrationen
Merkwürdig unspektakulär wirkt, verglichen mit der Aufregung, die es auslöste, was man über das Vorhaben der Aschauer Bauern erfährt. Sie hatten nämlich lediglich erklärt, „sie wollen anvor in München […] anfragen“, als der Gerichtsverwalter sie zu bestimmten Fuhrfronen aufforderte. Wie sich herausstellte⁵, beabsichtigten die Bauern, beim landesherrlichen Hofrat mit einem Supplikationsschreiben vorstellig zu werden, in dem sie die von ihnen verlangten Fuhren über neun Meilen mit dem SiebenMeilen-Fronmaß des Landrechts konfrontierten.⁶ Solche und ähnliche Schriftstücke aber gingen in der Münchner Hofkanzlei jeden Tag ein⁷, und auch die Aschauer Untertanen hatten dort in den letzten Jahrzehnten häufig auf diese Weise vorgesprochen. Für die Nervosität der Aschauer Obrigkeit kann man besondere Beweggründe benennen, die nicht übersehen werden sollen.⁸ Erst vor kurzem war es dort unter Druck der Landesregierung mit großer Mühe gelungen, einen langjährigen Konflikt zwischen Herrschaft und Untertanen mit einem Vergleichsvertrag zu beenden. Den alten Gerichtsverwalter hatte das sein Amt gekostet, er war zur Resignation und dazu gezwungen worden, Hans Kißling von Ginnerting, dem Sprecher der Bauern, 1000 Gulden als pauschale Entschädigung öffentlich bar in die Hand zu zählen – ein spektakulärer, für ihn zweifellos demütigender Vorgang. Der jetzige Verwalter war also neu im Amt, und das Schicksal seines Vorgängers konnte ihn durchaus bedenklich stimmen.⁹ Die aktuelle besondere Konstellation in Aschau vermag jedoch allenfalls als Teilerklärung der obrigkeitlichen Besorgnis hinreichen. Was hier zutage trat, war eine strukturelle Schwäche des Standortes, den die Zwischengewalten im damaligen Verfassungssystem einnahmen.¹⁰ Von der Warte der niederen oder Gerichtsobrigkeiten aus gesehen – womit, grob gesagt, die adeligen und geistlichen Inhaber der Hofmarken und Herrschaften gemeint sind, im Unterschied zur hohen Obrigkeit des
bayerischen Geschichte, begr. v. Max Spindler. Hg. Andreas Kraus. Bd. 2. Das Alte Bayern. Der Territorialstaat. München 21988 S. 459 – 532, hier 462. StAM, Herrschaft Hohenaschau, A 1147. Schreiben des Gerichtsverwalters Ziegler an den Grafen von Preysing vom 20. Febr. 1670. Landrecht der Fürstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn, München 1616, Tit. 22. Von den Scharwerchen, Art. 5. Welche Fährten oder Roßscharwerchen für Vnlandtsgebreuchig gehalten werden, S. 303. Einen ersten Eindruck von der Menge und der Bedeutung der Supplikationen für die Arbeit des Hofrats geben die Hofratsordnungen und die Hofratskanzleiordnungen seit dem 16. Jahrhundert. Manfred Mayer, Quellen zur Behörden-Geschichte Bayerns. Die Neuorganisation Herzog Albrecht’s V., Bamberg 1890. Vgl. auch Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2) S. 18, 29. Der Graf und Herrschaftsinhaber galt als ‚natürliche‘ oder ‚ordentliche‘, der Gerichtsverwalter als ‚gesetzte‘ Obrigkeit. Siehe auch Anm. 11. StAM, Herrschaft Hohenaschau, Gerichtsurkunden Nr. 811, 30. Aug. 1668; ebd., A 1028 I/II mehrmals. ‚Verfassung‘ hier verstanden als „die politisch-soziale Bauform einer Zeit“. Ernst-Wolfgang Böckenförde,Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, in: Ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt a. M. 1991 S. 244– 262, hier 244 (zuerst in: Juristische Schulung 1971, Heft 11).
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Landesherrn –¹¹ wirkte die herkömmlich garantierte Möglichkeit der Untertanen, sich mit einer Supplikation ziemlich umstandslos an den Landesherrn und die landesherrlichen Zentralbehörden zu wenden, allgemein verunsichernd oder sogar latent bedrohlich. In der Korrespondenz des Gerichtsverwalters nimmt diese generelle Situation konkrete Gestalt an. Johann Stephan Ziegler erinnerte seinen Herrn daran, wie er das Amt in Aschau nur zögernd übernommen habe. Es sei ihm nämlich bewußt gewesen, daß Beamte auf dem Land wegen der Querelen mit den Bauern Gefahr liefen, ihren guten Ruf aufs Spiel zu setzen, sie gerieten, so drückte er es aus, leicht „unverdienender in ybler praedicat“. Seinerzeit jedoch habe ihm, der damals als junger Rat im fürstlichen Dienst stand¹², Kaspar von Schmid persönlich stark zugeraten, auf das Angebot einzugehen, und dabei mehrmals die folgenden – in unserem Zusammenhang ebenfalls interessierenden – Erwägungen vorgetragen: „Es machen zwar sonderbar die bekante gebürg bauren, wan sie mit dergleichen geschrey in die statt kommen, bei denen, welche nit wissen, was lezte unrüeigen dropfen zu thun pflegen, einen üblen Klang, aber bei denen verständigen, daran einem am maisten gelegen, welche der kriegssichtigen natur und bosheit kennen, künden sie nit schaden, dan ein solcher werde dem blossen geschrey allein nit gleich glauben geben, und dem pauren wahr zu haben in audita altera parte inclinirn.“¹³
Im späteren 17. Jahrhundert pflegten, so läßt sich dieser Argumentation Kaspar von Schmids in den Worten des Gerichtsverwalters entnehmen, Untertanen vom Land – besagte „gebürg bauren“ – in die Stadt nach München zu kommen und dort ein „geschrey“ zu erheben, das eine negative Äußerung über ihre Gerichtsobrigkeit beinhaltete oder einen Landbeamten unrechter Taten beschuldigte. Dieses „geschrey“ wurde gehört, und diejenigen, die es wahrnahmen, reagierten unterschiedlich darauf. Die Art oder das Medium des Geschreis, ob es als akustisch vernehmbarer Lärm, auffälliges visuell registrierbares – schreiendes – Gebaren oder als ein eher meta-
Das Begriffspaar ‚Obrigkeit und Untertan‘ entspricht in der frühen Neuzeit zumindest in Bayern den gegebenen Verhältnissen besser als das in der Literatur häufiger verwendete Vokabular des Grundherrschaftstheorems.Vgl. dazu Renate Blickle, Scharwerk in Bayern. Fronarbeit und Untertänigkeit in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 17. 1991 S. 407– 433, bes. 408 f. Allgemein: Peter Blickle, Untertanen in der Frühneuzeit. Zur Rekonstruktion der politischen Kultur und der sozialen Wirklichkeit Deutschlands im 17. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 70. 1983 S. 483 – 521. Dietmar Willoweit, Obrigkeit, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3, Berlin 1984 Sp. 1171– 1174. Auf seinem Grabstein in der Kirche Niederaschau wird Ziegler (+ 24. 3.1682, 41½ Jahre alt) kurfürstlicher Rat und 13½ Jahre lang Gerichtsverwalter in Aschau genannt. Peter von Bomhard, Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Landkreises Rosenheim. 2. T., Die Kunstdenkmäler des Gerichtsbezirkes Prien (Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Stadt und des Landkreises Rosenheim II/ 2). Rosenheim 1957 S. 340. StAM, Herrschaft Hohenaschau, A 1147; Schreiben des Gerichtsverwalters Ziegler in Aschau vom 27. Febr. 1670 gerichtet an den Grafen von Preysing in München.
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phorisches Getöse auf dem Papier erhoben wurde, bleibt unerläutert, ebensowenig ist – für uns – ersichtlich, wer die Personen gewesen sein sollen, die auf das Geschrei angeblich voreilig oder aber verständig reagierten. Die Frage, an wen die Schreier appellierten, ob an ein städtisches Publikum oder eher an einen internen Kreis von Fachleuten und Hofräten, bleibt ebenfalls offen, zumal vom Landesherrn, dessen Aufmerksamkeit zu erregen in Zeiten des zumindest formell noch weitgehend persönlichen Regiments, das eigentliche Aktionsziel sein mußte, hier überhaupt nicht die Rede war. Aus dem Zusammenspiel von bäuerlichem Auftritt in der Stadt und dem Räsonnement der städtischen oder höfischen Zuschauer darüber – so kann man die Äußerungen vorsichtig deuten – konnte sich eine Fama über Amtsmißbrauch, Härte und Unfähigkeit zusammenbrauen, die für den Ruf einer Obrigkeit und ihrer Amtleute nicht bedeutungslos blieb. Dagegen war, um noch einmal die Gedankengänge des Aschauer Gerichtsverwalters auf – und die Perspektive der Gerichtsobrigkeit einzunehmen, kein Kraut gewachsen. Er würde zwar, beschreibt er seine Amtsführung, bei „kriegsgewohnten unterthanen“ ohnehin behutsam vorgehen, weil bekannt sei, „wie bald sie ein stuckh brot in die hand nehmen und weitter laufen“, um höheren Orts vorzusprechen.¹⁴ Da aber die Bauern ganz genau wüßten, „das es Styli, man lasse iedermann clagen“ und strafe zumindest anfangs niemanden, häuften sich die Widrigkeiten, die eine Gerichtsobrigkeit auf dem Land je länger je mehr zu gewärtigen habe, „wegen der underthanen freyheit“. Die Ursache seiner Schwierigkeiten sah der Vertreter der Obrigkeit demnach in einer Freiheit der Untertanen wurzelnd; er charakterisierte die Möglichkeit, mit einem Supplikationsschreiben ein Anliegen beim Landesfürsten oder dem fürstlichen Regiment vorzubringen, als ,Freiheit‘, das heißt im Sinn der Zeit, als Privileg der Untertanen. Dem Untertanenprivileg korrespondierte in diesem Vorstellungskonstrukt auf seiten des Landesherrn ein Reservatrecht.¹⁵ Die Gerichtsobrigkeiten und die Amtleute, dazwischen stehend sozusagen, konnten deshalb die Wege aus der Provinz in die Zentrale nicht gänzlich sperren, wenn ihnen in der Praxis auch genügend Gelegenheiten blieben, Hindernisse darauf zu errichten. Der bayerische Jurist Anton Wilhelm Ertl resümierte, die Gewichte und Balancen zwischen den Kräften wägend, die Situation am Ende des 17. Jahrhunderts folgendermaßen:
Ebd. (27. Febr. 1670) – Dieses hier zitierte Bild des unbeschwert mit dem Stück Brot im Sack gen Hof laufenden Bauern pflegten auch die Stände in ihren Gravamina gern anzuführen, sie hingegen seien, das war der Hintergrund, mit üppigen Repräsentationskosten belastet. Zur entsprechenden Klage der Ritterschaft auf dem Landtag von 1583 vgl. Eduard Rosenthal, Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Baierns. Bde. 1 u. 2, Würzburg 1889/1906, hier Bd. 1, S. 202, A. 2. In einem Reservatrecht „aüssert sich gar sichtbar“, wie Kreittmayr sagt, das „Majestätsrecht oder regale“ des Landesfürsten, es zeigt zugleich die Vorbehalte an den abgetretenen Herrschaftsrechten an. Xav. Frh. Von Kreittmayr, Grundriß des Allgemeinen, Deutsch- und Bayrischen Staatsrechtes. 1. Th. Von dem allgemeinen Staatsrecht. München usw. 1769, § 9.
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„Es ist sothane Libertät [die Freiheit der Supplikation (R.B.)] nicht zu des Gerichts–Herrn Verachtung, sondern vielmehr als ein Privilegium der Unterthanen eingeführt.“¹⁶
Die hier am Aschauer Beispiel skizzierte frühneuzeitliche Einrichtung, das ‚zentralisierte Supplikationenwesen‘, wie man es nennen könnte, soll in einem ersten Kapitel in seiner allgemeinen Ausprägung und Bedeutung im und für den bayerischen Territorialstaat und seine Einwohner kursorisch vorgestellt werden. In einem zweiten Teil kommt eine Sonderform des Supplizierens zur Sprache. Es wird über Aktionen berichtet, für die der Titelbegriff ‚Demonstration‘ steht: nämlich über Massenauftritte ländlicher Supplikanten in der Residenzstadt. Dazwischen geschaltet ist ein Exkurs, in dem Nachrichten über den persönlichen Zugang des Untertanen zum Fürsten und das persönliche Regiment des frühneuzeitlichen Landesherrn gesammelt werden.
1 Die Supplikation im bayerischen Territorialstaat Der Raster des öffentlichen Raumes Die administrativen Strukturen, die den Untertanen und dem Regiment im frühneuzeitlichen Bayern zur Verfügung standen, hatten den Anforderungen beider Seiten zu genügen. Gleichwohl wurden die öffentlichen Einrichtungen von ihnen natürlich auf unterschiedliche Weise genutzt. Auf der einen Seite dienten sie primär dem Transport von Geboten und auf der anderen vor allem der Artikulation von Beschwerden. Die Gesamtkonstruktion stellt sich dabei als ein konsequent, wenn auch locker auf die Zentrale ausgerichtetes System dar. Das Herzogtum, seit 1623/28 Kurfürstentum Bayern, wurde in der frühen Neuzeit durchweg von einem einzelnen Fürsten aus der einheimischen Dynastie der Wittelsbacher und von der Residenz in München aus regiert. Dort befanden sich auch die Zentralbehörden des Landes samt
Hier zitiert nach: Anton Wilhelm Ertl, Praxis aurea von der Niedergerichtbarkeit, Erb-Gericht, vogteylichen Obrigkeit und Hofmarch-Gericht etc. Verbesserte Auflage. Nördlingen Frankfurt 1737 (zuerst Nürnberg 1693) S. 983. „Dann daß einem Füersten von männiglich frey und ungehindert Supplicationes und Bittschreiben überreicht werden, das ist ein Stück der Fuerstlichen Reservatorum und Actus der höchsten Bottmäßigkeit […] und diese Freiheit zu suppliciren ist der Ursachen verordnet, damit die schwache Unterthanen vonn mächtigen Herrn nicht opprimirt werden und ein geschwindes Mittel wider der Richter Nachlässigkeit und unrechtmäßiges Verfahren obhanden sey […]. Es ist sothane Libertät nicht zu des Gerichts-Herrn Verachtung, sondern vielmehr als ein Privilegium der Unterthanen eingeführt.“ – Wenn die Supplikationspraxis der Untertanen von praktisch tätigen Juristen (Ziegler, Ertl) als die Handhabung von Freiheit und Privileg bezeichnet wird, dann werden Freiheit und Privileg nicht als „Befreiung“ von etwas (allgemeinen Gesetzen etwa), sondern als „Berechtigung“ zu etwas wahrgenommen. Vgl. allgemein Heinz Mohnhaupt, Privileg, neuzeitlich, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3, Berlin 1984 Sp. 2005 – 2011, hier 2005. Ders., Die Unendlichkeit des Privilegienbegriffs. Zur Einführung in ein Tagungsthema, in: Das Privileg im europäischen Vergleich. Hg. Barbara Dölemeyer/ Heinz Mohnhaupt (Jus Commune 93). Bd. 1, Frankfurt a.M. 1997 S. 1– 11.
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den Einrichtungen der hohen Justiz. An die vorgängige Aufspaltung in Teilherzogtümer erinnerte die Gliederung in vier, später fünf Rentämter, die von Kollegialbehörden, den sogenannten ‚Regierungen‘, mit Sitz in einer ehemaligen Residenzstadt geführt wurden. Unterhalb dieser Ebene der Mittelbehörden war das Land in etwa neunzig Land- oder Pfleggerichtsbezirken organisiert, die wiederum aus Ämtern bestanden, welche sich aus Ob- oder Hauptmannschaften zusammensetzten. Die Herrschaftsgebiete des Adels und der Prälaten, der erwähnten niederen oder Gerichtsobrigkeiten, sowie die Städte und Märkte wurden von der landesherrlichen Administration als teilautonome Fremdgebiete behandelt, aber im allgemeinen als innerhalb der Rentämter und Pfleggerichte liegend verstanden, sie waren in die Verwaltungs- und Gerichtshierarchie integriert und an den öffentlichen Informationsfluß angeschlossen.¹⁷ Die Landesregierung tat mit Hilfe dieses abgestuften, bis in die Dörfer und zu den Häusern reichenden administrativen Gerüsts ihre Gebote und Anforderungen kund und holte bei Bedarf auf dem umgekehrten Weg Informationen ein. In der Einrichtung des Rentmeisterumritts, einer Institution, die die Rentmeister verpflichtete, jährlich – im Idealfall – ihre Amtsbezirke abzureiten und das landesfürstliche ‚Interesse‘ in puncto Finanzen zu realisieren, zugleich aber auch die Amtsführung von Beamten und Magistraten zu überprüfen, hatte sie sich eine weitere bei Bedarf aktivierbare Nachrichtenquelle, was Zustände und Stimmungen im Land anging, erschlossen.¹⁸ Parallel zur fürstenstaatlichen, das Land überspannenden Ordnung existierte eine gleichfalls landesweit, vergleichsweise aber rudimentär ausgebaute ständische Or-
Der hier stark vereinfacht skizzierte Verwaltungsaufbau wird detaillierter vorgestellt bei: Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14); Sebastian Hiereth, Die bayerische Gerichts- und Verwaltungsorganisation vom 13. bis 19. Jahrhundert, München 1950.Volker Press, Die wittelsbachischen Territorien. Die pfälzischen Lande und Bayern, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Hg. Kurt G. A. Jeserich/ Hans Pohl/ Georg-Christoph von Unruh. Bd. 1, Stuttgart 1983 S. 552– 599, hier 575 – 599. Zum Forschungsstand vgl. Ferdinand Kramer, Verwaltung und politische Kultur im Herzogtum und Kurfürstentum Bayern in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 61. 1998 S. 33 – 44. Zwar hatte die Aufmerksamkeit des Rentmeisters vor allem dem Apparat zu gelten, aber wenn – wie zur Zeit der gegenreformatorischen Mobilisierung – das landesherrliche Kontrollbedürfnis stieg, konnte auch der einzelne Untertan ins Visier der Zentrale genommen werden. Die Aufgaben des Rentmeisters auf seinem Umritt werden in der Landesfreiheitserklärung (1516), 1553, 1616, Teil 1, Art. 3 beschrieben, dabei wird festgehalten, der Rentmeister solle sich „fremder henndl und sachen“ weitgehend enthalten und „allain zue unser [des Landesherrn] notdurfft sehen“. Gustav Frh. Von Lerchenfeld (Hg.), Die altbaierischen landständischen Freibriefe mit den Landesfreiheitserklärungen. München 1853. Zum Institut der Rentmeister-Umritte vgl. Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14) 1, S. 288 – 321 und 2, S. 144– 184; Hans Hornung, Beiträge zur inneren Geschichte Bayerns vom 16. – 18. Jahrhundert aus den Umrittsprotokollen der Rentmeister des Rentamtes Burghausen. München 1915; Gerhard Schwertl, Geschichte der Regierungen und Rentmeisterämter Landshut und Straubing 1507– 1802, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 116 – 117. 1990 – 1991 S. 237– 263, hier 245 – 249; Helmut Rankl, Der bayerische Rentmeister in der frühen Neuzeit. Generalkontrolleur der Finanzen und Justiz, Mittler zwischen Fürst und Bevölkerung, Promotor der „baierischen Libertät“, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 60. 1997 S. 617– 648.
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ganisation.¹⁹ Deren Einrichtungen und Artikulationskanäle waren der großen Mehrheit der Bevölkerung jedoch nicht zugänglich, da Untertanen, die ständisch als Bauern galten oder für unständisch gehalten wurden, der Landschaft nicht angehörten. Die Gravamina, die die Landstände seit dem 15. Jahrhundert auf den Landtagen einbrachten und über deren Erledigung sie mit den Landesfürsten und den Räten verhandelten, hatten Anliegen des Adels, der Prälaten oder der Städte zum Gegenstand.²⁰ Dabei wurde zwar die Not des ‚armen Mannes‘ oft genug argumentativ beschworen, jedoch ist bislang nicht bekannt, daß die Landschaft Eingaben aus der Bevölkerung entgegengenommen und vertreten hätte²¹, oder daß der gemeine Mann Beschwerden an die Landschaft adressiert und diese sich damit befaßt hätte.²² An den Reichstag Zu Forschungsstand und Literatur siehe die Beiträge in: Walter Ziegler (Hg.). Der Bayerische Landtag vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Probleme und Desiderate historischer Forschung (Beiträge zum Parlamentarismus 8). München 1995 S. 59 – 147, zum Thema insbesondere auch die Diskussionsbemerkung S. 143. Die regelmäßige Ausübung des Beschwerderechts der bayerischen Landstände seit der Mitte des 15. Jahrhunderts ist unstrittig. Sigmund Riezler, Geschichte Baierns. Bd. 3, Gotha 1889 S. 661, Bd. 6, Gotha 1903 S. 26; Karl Bosl, Die Geschichte der Repräsentation in Bayern. München 1974 S. 82; Volkmar Wittmütz, Die Gravamina der bayerischen Stände im 16. und 17. Jahrhundert als Quelle für die wirtschaftliche Situation und Entwicklung Bayerns (Miscellanea Bavarica Monacensia 26). München 1970. – Die Stände verfolgten seit den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts jedoch vorrangig ihre Sonderinteressen. Maximilian Lanzinner, Fürst, Räte und Landstände. Die Entstehung der Zentralbehörden in Bayern 1511– 1598 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 61). Göttingen 1980 S. 275 – 288; Karl-Ludwig Ay, Ständische Mitsprache und adeliges Sonderinteresse im Territorialstaat. Vom Niedergang der Landstände in Bayern (16. bis 18. Jahrhundert), in: Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Bosl zum 80. Geb. Hg. Ferdinand Seibt. Bd. 1, München 1988 S. 471– 487; Helmut Rankl, Zwischen „Privatnutz“ und „gemeinem Besten“. Anmerkungen zur Frage der Wirksamkeit der bayerischen Landschaftsverordnung im 17. und 18. Jahrhundert, in: ebd. S. 488 – 504. – Wolfgang Graf Vitzthum, Petitionsrecht und Volksvertretung. Zu Inhalt und Schranken des parlamentarischen Petitionsbehandelungsrechts. Darmstadt 1985 S. 20. Diese Aussagen sind vorläufig. Die Forschung ist der Frage noch nicht genügend nachgegangen. In den Akten zum Landtag von 1453 beispielsweise ist eine Beschwerdeschrift überliefert, die an den Landesfürsten gerichtet ist, aber auch die Räte und die Landschaft anspricht: „Durchleuchtiger hochgebohrner Fürst, gnädiger Herr! Ich armer Mann, der euern mit Leib und Gut, thue Ew. fürstlichen Gnaden, Ew. Gnaden Räthen, und auch der Landschafft zu wissen …“. Franz von Krenner (Hg.). Baierische Landtag-Handlungen. Bd. 1, München 1803 S. 230 – 232. Dies ist mit Verweis auf den 50. Freibrief von 1514 behauptet worden. Günter Karg, Die Praxis des Rechts der Petition an den Landtag in Bayern. Diss. jur. Köln 1966 S. 7. – Die Ausführungen zum „Landtagsbeschwerdeausschuß“ von 1514 bei Bosl, Geschichte der Repräsentation (wie Anm. 20) S. 82, 161– 163, übernommen von Helmut Neuhaus, Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28. 1978 S. 110 – 190, hier 113 und 29. 1979 S. 63 – 97, hier 71, Johann Heinrich Kumpf, Petitionsrecht und öffentliche Meinung im Entstehungsprozeß der Paulskirchenverfassung 1848/49 (Rechtshistorische Reihe 29). Frankfurt a. M. usw. 1983 S. 40 und Beat Kümin/ Andreas Würgler, Petitions, Gravamina and the early modern state. Local influence on central legislation in England and Germany (Hesse), in: Parliaments, Estates and Representation 17. 1997 S. 39 – 60, hier 44 sind durch die Darstellung bei Lanzinner, Fürst, Räte und Landstände (wie Anm. 20) S. 277– 279 überholt. Auch Kreittmayr meint um die Mitte des 18. Jahrhunderts, es sei „dasjenige was der 50.te Freyheitsbrief von den Zusammenkünften
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hingegen haben sich Beschwerdeführer jeder sozialen Herkunft direkt gewandt – ebenso wie an das englische Parlament.²³ In Bayern eröffnete erst die Verfassung von 1818 vergleichbare Möglichkeiten, sie gestattete es den Bürgern, ihre Beschwerden an die Ständeversammlung zu richten.²⁴ Dem Untertanen standen im bayerischen Territorialstaat zwei Wege zur Verfügung, auf denen er sich legal Gehör verschaffen und indirekt auch ein Votum zu obrigkeitlichen Maßnahmen abgeben konnte.²⁵ Er konnte die Gerichte in Anspruch nehmen und dort eine Klage einbringen, und er konnte die Obrigkeit mit einer Beschwerde (Klage) bzw. den Landesherrn mit einer Supplikation anrufen. Er initiierte damit einen gerichtlichen Prozeß – gegebenenfalls vor dem Hofgericht – oder ein extrajudiziales Verfahren – gegebenenfalls vor dem Hofrat. Die Verfahrensarten bestanden im Land und am Hof nebeneinander. Das Verfahren vor Gericht regelte die Gerichtsordnung von 1520²⁶, die 1614 nahezu unverändert erneut publiziert und erst 1753 aufgehoben wurde.²⁷ Die außergerichtlichen Verfahren verliefen zunächst nach Bestimmungen, die in „Das buech der gemeinen Land-pot“ von 1516 integriert waren²⁸, in der Landesordnung von 1553 unter einem eigenen Titel erschienen und 1616 als
in der ordinari und der beschränkten Anzahl, […] mit sich bringt, nicht mehr in usu“. Kreittmayr, Grundriß (wie Anm. 15) §§ 181– 187: Von denen bayrischen Landständen und Unterthanen, Zitat § 183 c. – Die Situation im frühneuzeitlichen Bayern unterscheidet sich in diesem Punkt nicht von der Lage in Hessen. Zu letzterer Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 22) 29. S. 71– 74. Rosi fuhrmann/ Beat Kümin/ Andreas Würgler, Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in: Gemeinde und Staat im Alten Europa. Hg. Peter Blickle (Historische Zeitschrift, Beiheft 25). München 1998 S. 267– 323, hier 305. Helmut Neuhaus, Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Schriften zur Verfassungsgeschichte 24). Berlin 1977 S. 115, 118, 299; Ders., Supplikationsausschuß (des Reichstages), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 5, Berlin 1995 Sp. 92– 94. Zu England vgl. Fuhrmann/ Kümin/ Würgler, Supplizierende Gemeinden (wie Anm. 22) S. 277, 279 – 283. Karg, Petition (wie Anm. 22) S. 21. Die Ständeversammlung hatte das Petitionsrecht an den König. – Im Hochstift Eichstätt nahm das Domkapitel das Recht für sich in Anspruch, Beschwerden der Untertanen gegen die bischöfliche Regierung anzunehmen und vom Bischof deren Behandlung zu verlangen. Josef Seger, Der Bauernkrieg im Hochstift Eichstätt (Eichstätter Studien N.F. Bd. 38). Regensburg 1997 S. 41, 165. – Für Sachsen wurde kürzlich die funktionelle Kontinuität zwischen Supplikations- und Petitionswesen konstatiert. Hier bestand „ein direkter historischer Zusammenhang zwischen Supplik an den Fürsten und Petition an die Stände als Recht des Staatsbürgers“. Der Übergang fand 1830/31 statt. Gunda Ulbricht, „… fordern wir unterthänigst“. Von der Supplik zur Petition, in: Landesgeschichte in Sachsen (Regionalgeschichte 10). Hg. Rainer Aurig/ Steffen Herzog/ Simone Lässig. Bielefeld 1997 S. 217– 234, hier 234. Die Praktiken des tätlichen Protests und der Verweigerung, wie sie bei den zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen Untertanen und Obrigkeiten zum Einsatz kamen, bleiben hier außer Betracht. Gerichtsordnung Im fürstenthumb Obern vnd Nidern Bayrn Anno 1520 aufgericht. Gerichtsordnung der Fürstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. München 1614. Das buech der gemeinen Landpot, Landsordnung, Satzung vnnd Gebreuch des Fürstenthumbs in Obern vnd Nidern Bairn Im Fünfzehenhundert vnnd Sechtzehenden Jar aufgericht, s. l., 2.T., fol. 29 – 30.
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„Summarischer Process“ in einer selbständigen Ordnung stark umgestaltet wurden²⁹, wobei hier wiederum Verfahrensmodifikationen erkennbar werden.³⁰ Die elaborierteste Variante fand ihre Fortsetzung im „Codex Juris Bavarici Judiciarii“ von 1753³¹, während andere etwas simplere Formen bis zu dessen Aufhebung 1802 weiterhin vom Hofrat gehandhabt wurden. Diese frühneuzeitliche Koexistenz mehrerer ziviler Verfahren ist ein Erbe des Spätmittelalters.³² Die extrajudizialen Verfahren hatten sich damals am Hof aus der schiedsrichterlichen und streitschlichtenden Tätigkeit der Landesherren entwickelt. Indem die Herzöge ihre Aufgabe als Vögte und Schutzherren wahrnahmen und gemeinsam mit ihren Räten die aus dem Land an sie herangetragenen vielfältigen Querelen anhörten, entstand neben dem älteren Hofgericht, das im Mittelalter nach dem Urteilerverfahren arbeitete, eine Instanz neuer Art. Herzog und Räte suchten zwischen den Parteien zu vermitteln, sie auszurichten, oder sie ließen sich, wenn die Verhandlungen zu nichts führten, von den Parteien die Vollmacht, einen Spruchentscheid zu geben, übertragen. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hatte die Fülle der ihnen auf diese Weise zuwachsenden Arbeit die Landesherren veranlaßt, die Zuständigkeit für diese Aufgaben bei einer neugeschaffenen – der ersten zentralen – Behörde im Land, dem Ratskollegium, zu etablieren.³³ Das Gremium war jedermann jederzeit zugänglich, garantierte Kompetenz und Zuverlässigkeit.³⁴ Es erhielt seinen dauernden Sitz in der Ratsstube im Alten Hof in München, dort trat es seit 1466 und bis zu Beginn des Bayrischen Landtsordnung 1553. Buch 2, Titel 1, fol. 19 – 21: Wie der Summarisch proceßz in gütlichen handlungen fürgenomen/ vnd gehalten werden soll. Summarischer Process Der Fuerstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. München 1616. Codex Juris Bavarici Judiciarii. München 1753. Vgl. dazu: Renate Blickle, Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern, in: Gemeinde und Staat im Alten Europa. Hg. Peter Blickle (Historische Zeitschrift, Beiheft 25). München 1998 S. 241– 266, hier 265 f. Zum Hofrat und seiner Tätigkeit vgl. Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14) 1, S. 236 – 264 und 2, S. 274– 32;. Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2); Theresia Münch, Der Hofrat unter Kurfürst Max Emanuel von Bayern (1679 – 1726) (Miscellanea Bavarica Monacensia 58). München 1979; Harro G. Raster, Der kurbayerische Hofrat (1651– 1679). Funktion und Personal der Spitzenbehörde des Kurfürsten Ferdinand Maria. München 1995; Lanzinner, Fürst, Räte und Landstände (wie Anm. 20) S. 76 – 81; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands. München 1990 S. 106 f., 109. Mit der Installierung des Rats entfielen die vielerlei Unwägbarkeiten, die mit der „ambulanten Stegreifverwaltung des Mittelalters“ (Werner Hülle, Kollegialbehörden, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2, Berlin 1978 Sp. 927– 930, hier 928) im allgemeinen verbunden waren. Die Stetigkeit und der Behördencharakter unterscheiden die Arbeit des Rats auch von der der Kommissionen, die auf Reichsebene ebenfalls seit Mitte des 15. Jahrhunderts zur Erledigung der Bittund Beschwerdeappelle an König und Reichstag ad hoc eingerichtet wurden. Neuhaus, Reichstag (wie Anm. 23), S. 86. – Zu den charakteristischen Behördenmerkmalen – Residenz, Permanenz, Kompetenz, geordneter Geschäftsgang – vgl. Dietmar Willoweit, Allgemeine Merkmale der Verwaltungsorganisation in den Territorien, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Hg. Kurt G. A. Jeserich/ Hans Pohl/ Georg-Christoph von Unruh. Bd. 1, Stuttgart 1983 S. 289 – 346, hier 297.
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19. Jahrhunderts – lange Zeit hindurch täglich – zusammen.³⁵ Es tagte zu festen Sitzungszeiten, morgens nach der Messe von 6 bzw. 7 Uhr an für mindestens drei Stunden³⁶, es hatte die generelle Vollmacht, anstatt des Landesherrn zu gebieten und zu entscheiden, und es arbeitete weiterhin nach den gewachsenen Verfahren und Methoden oder paßte diese den sich ändernden Umständen und Erfordernissen der Zeit an. Für den Hofrat, wie das Kollegium seit dem 16. Jahrhundert genannt wurde, blieb die Beschäftigung mit streitenden Parteien und den Beschwerden über Amtleute und Obrigkeiten eine Haupttätigkeit bis zu seiner Aufhebung. Die Hofratsordnungen des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts begründen ihre jeweilige Revision mit der gewachsenen Geschäftslast, die von den vermehrt eingehenden Supplikationen verursacht würde.³⁷
Supplikation – zu Begriff und Gebrauch Das Wort Supplikation wurde im deutschen Sprachraum nur während der frühen Neuzeit gebraucht, drei Jahrhunderte lang, von 1500 bis 1800. Es ist lateinischer Abkunft, wurde in Rom auch als juristischer Fachbegriff verwendet und blieb im Mittelalter an den Gebrauch des Latein gebunden.³⁸ Man trifft es folglich vor allem im
Vgl. dazu Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 47. – Die Räte des Teilherzogtums Niederbayern tagten vor der Vereinigung des Herzogtums in Landshut in der Kanzlei, nach der Reorganisation der Rentämter als Vitztum und Regierung bis 1779 (1802) in Landshut im Hause Altstadt 29. Schwertl, Geschichte der Regierungen (wie Anm. 18) S. 240. Die Sitzungszeiten schwankten anfangs zwischen einer Winter- und einer Sommersession, der Sitzungsbeginn wurde 1678 auf 7 bzw. 8 Uhr, 1750 auf 9 Uhr verschoben. Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 40, 42. – Anfang des 16. Jahrhunderts sollte sonntags und an bestimmten Feiertagen „vor der Predig oder vor dem Morgenmal kein Verhör noch Rath“ gehalten werden. Max Joseph Neudegger, Die Hof- und Staats-Personaletats der Wittelsbacher in Bayern, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 26. 1889 S. 5 – 162, hier 84. Dagegen fanden 1750 lt. Hofratsinstruktion an Sonn- und Feiertagen sowie an Donnerstagen gar keine Sitzungen mehr statt. Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 42. So die Hofratsordnung von 1551: Es habe sich gezeigt, daß „die Teglichen Supplication, auch güetlich vnnd Rechtlich etc. hören vnd handlungen, sich vast meren“, es sei daher eine verbesserte Ordnung nötig geworden. Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 133. Hofratsordnung von 1573 (ebd. S. 246 f.), 1590 (ebd. S. 160), 1624 (ebd. S. 196 f.). Supplicatio, in: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Verlegt von Johann Heinrich Zedler. Bd. 41, Leipzig-Halle 1744 Sp. 365; Werner Hülle, Das Supplikenwesen in Rechtssachen. Anlageplan für eine Dissertation, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 90. 1973 S. 194– 212, hier 195 – 197; Ders., Supplikation, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 5, Berlin 1995 Sp. 91; Gero Dolezalek, Suppliken, in: ebd. Sp. 94– 97, hier 94 f.; Neuhaus, Reichstag (wie Anm. 23) S. 74– 84. – Im Lexikon des Mittelalters. Bd. 8, München 1997 Sp. 327 finden sich keine Ausführungen zum Stichwort „Supplikation“, es wird dort auf die Stichwörter „Originalsupplik“ und „Papstregister“ verwiesen. Hinweise zur Handhabung der Gratial-Suppliken am päpstlichen Hof bei: Ludwig Schmugge, Schleichwege zu Pfründe und Altar. Päpstliche Dispense vom Geburtsmakel 1449 – 1533, in: Historische Zeitschrift 257. 1993 S. 615 – 645, hier 621 f. Vgl. auch Ludwig
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Umfeld der Kirche, schon seltener in fürstlichen und königlichen Dokumenten.³⁹ Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts fand es vereinzelt Aufnahme in deutschsprachige Texte.⁴⁰ Die sprunghafte Zunahme des Schriftverkehrs um 1500 ermöglichte es den gelehrten Schreibenden, die Sprache mit ihrer Begrifflichkeit zu durchsetzen. Die Popularisierung des Wortes Supplikation ging von den fürstlichen Kanzleien aus, wie die Wortwahl von Mandaten und Ordnungen in Tirol, Württemberg oder auch Bayern zeigt.⁴¹ Genauer und konkret, wenn auch nur beispielhaft, vermag folgender Vorgang den Transfer nachzuzeichnen. Im Jahr 1499 erschienen vor Herzog und Rat in München etliche Abgeordnete der Ammergauer Bauernschaft und klagten darüber, wie ihre Obrigkeit, der Abt von Ettal, sie mit „Beschwerungen“ bedrücke. Man hörte sie bei Hof an, wie es seit weit über hundert Jahren üblich war. Aber anschließend legte man ihnen nahe, ihre Anliegen schriftlich abzufassen und mit dem Schreiben neuerlich vorstellig zu werden. Die Schriftform des zuvor mündlich „Geklagten“ bezeichnete man den Abgeordneten gegenüber mit dem Wort „supplicatio“. Die Bauern befolgten das Gebot, kehrten heim und brachten ihre Klagen als „supplicatio“ zu Papier. Anschließend zogen sie mit dem Schreiben von Dorf zu Dorf, verlasen es vor den Nachbarn und warben deren Zustimmung ein.⁴² Bei dieser Gelegenheit nun dürfte das ganze Tal Bekanntschaft mit dem neuen fremden Ausdruck gemacht haben, da er dabei häufig zitiert worden sein wird und von aufmerksamen, weil persönlich interessierten Zuhörern gehört und registriert werden konnte. Schmugge/ Patrick Hersperger/ Béatrice Wiggenhauser, Die Supplikenregister der päpstlichen Pönitentiare aus der Zeit Pius’ II. (1458 – 1464) (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts Rom 84). Tübingen 1996. Auf Supplikationen, die an mittelalterliche weltliche Herrscher gerichtet waren, wird in der Literatur nur summarisch verwiesen. Hans Ludwig Rosegger, Petitionen, Bitten und Beschwerden. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte moderner Verfassungen in rechtsvergleichender Darstellung. Berlin 1908 S. 67; Neuhaus, Reichstag (wie Anm. 23) S. 85 f.; Alfred Gawlik, Originalsupplik, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 6, München usw. 1993 Sp. 1457. Jacob Grimm/ Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Bd. 10, Leipzig 1942 Sp. 1249 – 1275 (früheste Belege 1457, 1462). Vgl. etwa das Mandat, das Erzherzog Sigmund 1487 von Innsbruck aus an die Pfleger und Landrichter in Tirol richtete. Es gebot den Amtleuten u. a., ihre Pflichten sorgfältig zu erfüllen, damit „die leut nit also an vnsern hof lauffen mit Suplication“. Eberhard Schmidt, Die Maximilianischen Halsgerichtsordnungen für Tirol (1499) und Radolfzell (1506) als Zeugnisse mittelalterlicher Strafrechtspflege. Schloss Bleckede an der Elbe 1949 S. 112– 114, hier 114. – Die württembergische Landesordnung von 1495 enthält bereits Supplikationsbestimmungen. Rosi Fuhrmann, Amtsbeschwerden, Landtagsgravamina und Supplikationen in Württemberg zwischen 1550 und 1629, in: Gemeinde und Staat im Alten Europa. Hg. Peter Blickle (Historische Zeitschrift, Beiheft 25). München 1998 S. 69 – 147, hier 132 Anm. 301. – In der Neufassung der niederbayerischen Landesordnung von 1501 [Krenner, Landtag-Handlungen (wie Anm. 21) Bd. 13, S. 274] ist laut Lanzinner, Fürst, Räte und Landstände (wie Anm. 20) S. 77 die Rede davon, daß die Hofräte die „einlaufenden Supplikationen und Anbringen förderlich abfertigen sollten“. Vgl. auch Neudegger, Hof- und Staats-Personaletats (wie Anm. 36) S. 82 (zu 1511/12). Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Kurbayern Äußeres Archiv Nr. 4092, fol. 72– 76.
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Die Ammergauer lernten ein neues Wort kennen.⁴³ Mehr allerdings kaum, denn mit der Sache selbst waren sie seit langem vertraut. Wie die Leute aus ihren Nachbargemeinden waren nämlich auch sie während der vergangenen Jahrhunderte schon des öfteren „gen-Hof-gelaufen“ und hatten dort ihre Anliegen und Beschwerden vorgebracht, hatten langwierige Verhandlungen darüber geführt und am Ende herzogliche Spruchbriefe entgegengenommen. Mit der Supplikation importierte man am Ende des Mittelalters keine Institution, sondern ein Wort. Einer existenten Einrichtung wurde ein neues Etikett verpaßt. Das Auftauchen des Wortes in der deutschen Sprache ermöglicht keineswegs, die „Anfänge des Supplikenwesens“ zu beobachten.⁴⁴ Definitionen, die beim Wort Supplikation ansetzen, in der Wissenschaft ein übliches Verfahren, und von dessen Bedeutung in der lateinischen Sprache zur Römerzeit ausgehen, knüpfen eine bezüglich der Sache höchst fragwürdige Kontinuitätenkette. Der Begriff Supplikation blieb im Deutschen auf den verwaltungs- und rechtssprachlichen Bereich beschränkt.⁴⁵ Als Fachausdruck mag ihm innerhalb der Kanzleisprache aber ein gewisser Vorrang vor anderen Bezeichnungen und Formulierungen mit gleicher oder ähnlicher Bedeutung zugekommen sein. Sein älteres Pendant in deutscher Sprache dürfte Klagzettel sein, davon ist 1464 in einem Mandat die Rede.⁴⁶ Dieses Wort blieb in der Neuzeit auch weiterhin in Gebrauch. So heißt es in der Münchner Regiments- und Hofhaltungsordnung von 1511, bei der Ratskanzlei gingen „täglich vil Schriften, Clag-Zedl, Suplication vnd Beswärung aus allen Vitzdombambten, auch im Oberland, von allen Stenden der Landschaft, geistlichen vnd weltlichen, Armen und Reichen ein“, die dem Herzog vorzutragen seien.⁴⁷ Häufig werden
Daß dies tatsächlich der Fall war, belegt u. a. die Supplikation Heinz Schmids. Blickle, Laufen gen Hof (wie Anm. 32) S. 252. Eberhard Schmidt ist der Ansicht, das Erscheinen des Begriffs Supplikation in den Tiroler Ordnungen 1487 und 1493 ermögliche es, die „Anfänge einer Erscheinung, die in der Justizgeschichte der nächsten 400 Jahre eine bedeutende Rolle gespielt hat: die Anfänge des Supplikenwesens“ beobachten zu können. Schmidt, Halsgerichtsordnungen (wie Anm. 41) S. 205. – Die These, wonach sich im 15. Jahrhundert die „spätrömische supplicatio“ dem deutschen Rechtsleben in zweierlei Gestalt angeboten habe, nämlich als Rechtsmittel mit dem „rationalisierten Juristenprozeß der Kirche“ und als „Gratial-Supplik“ päpstlicher Handhabung [Hülle Supplikenwesen (wie Anm. 38) S.197; Ders., Supplikation (wie Anm. 38) Sp. 91; Dolezalek, Suppliken (wie Anm. 38) Sp. 95.] findet in der Praxis insofern kaum Bestätigung, als die weltlichen Verfahren am Hof zu dieser Zeit schon recht gut ausgebildet sind und vom Umgang mit der Supplikation am päpstlichen Hof ersichtlich abweichen [eine neuere Verfahrensdarstellung bei Dolezalek, Suppliken (wie Anm. 38) Sp. 95]. Grimm/ Grimm, Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 40) Sp. 1252. Krenner, Landtag-Handlungen (wie Anm. 21) Bd. 5, S. 105. Das Landgebot soll an der offenen Schranne dreimal nacheinander verlesen werden, damit „kein armer Mann mehr mit kainer Klagzettel.fu(e)r Uns gen Hof laufe, dann was er Beschwerung von unsern Amtleuten ha(e)tte“. – Vereinzelte Beschwerdeschriften aus dieser Zeit haben sich auch erhalten. Z. B. BayHStA, Klosterliteralien (KL) Rottenbuch Nr. 47a, fol. 3 – 4’. Neudegger, Hof- und Staats-Personaletats (wie Anm. 36) S. 82.
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die Kurzform „Zedl“ gebraucht und das unspezifische „Schriften“⁴⁸, daneben auch „Bittzedl“.⁴⁹ Die Tätigkeit des Beschwerens, Bittens, Supplizierens hieß etwas „anbringen, fürbringen, bei-Hof-anbringen“, mit etwas „einlangen, vorstellig werden“, vereinzelt seit dem 17. Jahrhundert auch „sollicitieren“⁵⁰, am häufigsten aber einfach „klagen“ oder auch „beschweren“.⁵¹ Im 18. Jahrhundert sind es „Vorstellungen, Gesuche“ oder „Memorabilien“, mit denen der Hofrat angegangen wird.⁵² Das Wort „Petition“ wird seltener verwendet, ist aber bekannt⁵³, seine große Zeit beginnt nach dem Abtritt von Supplikation⁵⁴, der um 1800 ziemlich abrupt und für immer erfolgte.⁵⁵ Als um 1500 das Wort Supplikation in die Verfahren bei Hof und in die deutsche Sprache eingeführt wurde, war die „prinzipielle Allzuständigkeit“ von Herzog und Rat für alles, was Land und Leute angeht, uneingeschränkt in Geltung.⁵⁶ Ihrer Rundum-
In der administrationsinternen Sprache der Hofrats- und Kanzleiordnungen des 16. Jahrhunderts ist die Rede von „schreiben vnnderricht oder zetln“ (1569), „einckhomne Zedl ainschichtigen Ersten zetl“ (1573), „Zettln“ (1590, 1600). Daraus wurden im 17. die „täglich einkhommente schrüfften vnd handlungen, ybergebene Supplicationen vnd schrifften“ (1624), „bey dem Hofrath einkommende sachen“ (1677). Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 149, 154, 156, 180, 182, 187, 205, 217, 224, 228, 233. Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 300 (Hofkammer-Instruktion 1565). Sollicitator (1600, Hofratskanzleiordnung); „Also wan ein parthey was zu Solicitieren hat“ (1624, Hofratsordnung); Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 191, 211. In der Landesordnung von 1516 ist in den Artikeln, die die Supplikation regeln (fol. 29 – 30’), etwa gleich häufig von Supplikation, Klage und Anbringen (Anliegen, Beschwerde) die Rede. Die Ordnung wurde 1520 und 1553 so gut wie unverändert abermals publiziert. Z. B. „supplication vnd clag“, „vilfelltign und täglichen supplicirn“, „anbringen vnnd clagen“, „clag oder beschwärung“, „Supplication vnnd anbringen“. Vgl. zu Supplikation auch den Wortgebrauch der Ordnung des Summarischen Prozesses von 1616, Tit. 1, (z. B. Art. 7: „Klage und Beschwerde“, bzw. „Klagen und Supplicationen“), Tit. 8, Art. 3, 9, Tit. 10, Art. 3. So etwa die Wortwahl der Erläuterung zur Hofkammerordnung von 1779. Georg Karl Meyer, Sammlung der Kurpfalz-Baierischen allgemeinen und besonderen Landes-Verordnungen. Bd.1, München 1784 Nr. 128 § 21 S. 191. Es werden nach wie vor auch die Wörter Supplik, Bitt- und Beschwerdeschrift gebraucht. Kumpf, Petitionsrecht (wie Anm. 22) S. 28 f.; Ders., Petition, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3, Berlin 1984 Sp. 1639 – 1646. – Kein Unterschied im Wortgebrauch von Supplikation und Petition läßt sich offenbar zur Römerzeit und im Mittelalter erkennen, jedenfalls vermittelt das Handbuch der Urkundenlehre diesen Eindruck. Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien. Bd. 2, 41968 S. 4 f. Derzeit bezeichnet Petition ein grundgesetzlich gesichertes Menschenrecht, Art. 17 GG. – Rosegger, Petitionen (wie Anm. 39) S. 1– 6; Robert von Keller, Freiheitsgarantien für Person und Eigentum im Mittelalter. Eine Studie zur Vorgeschichte moderner Verfassungsgrundrechte. Heidelberg 1933 S. 238, 277; Hartwig Sengelmann, Der Zugang des einzelnen zum Staat abgehandelt am Beispiel des Petitionswesens. Ein Beitrag zur allgemeinen Staatslehre (Schriften der freien Gesellschaft 2). Hamburg 1965 S. 13 – 45: Karg, Petition (wie Anm. 22) S. 3 – 21; Kumpf, Petitionsrecht (wie Anm. 22) S. 28; Ders., Petition (wie Anm. 53) Sp. 1641. Grimm/ Grimm, Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 40) Sp. 1250, 1251, 1255; Neuhaus, Reichstag (wie Anm. 23) S. 89; Kumpf, Petitionsrecht (wie Anm. 22) S. 29. Zur „prinzipiellen Allzuständigkeit“ des Hofrats: Willoweit, Verwaltungsorganisation (wie Anm. 34) S. 310; Peter Moraw, Reichshofrat, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte.
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kompetenz korrespondierte die Diversität der Anliegen, die aus dem ganzen Land an sie herangetragen wurden. Da nun die Schriften und Zettel, die bei Hof einliefen, ein breites Themen- und Funktionenband abdeckten, übernahm der Begriff Supplikation bei seiner Adaption eine beachtliche Skala an Bedeutungen. Er wurde keiner spezifischen Funktion vorbehalten. Der Trend zur Sonderung und Spezialisierung, der bald darauf einsetzte, führte zur Auslagerung von Kompetenzen aus dem Hofrat und zur räumlichen Gliederung des Landes in Administrativbezirke; er erfaßte das Wort Supplikation insoweit, als es nun mit in die Rent-Stube (1511) – ab 1550 war es die Hofkammer⁵⁷ – und hinaus zu den Regimenten der Rentämter (1507) wanderte.⁵⁸ Bei seiner Einführung in die deutsche Sprache war dem Terminus Supplikation die Funktion eines verwaltungstechnischen Pauschalbegriffs übertragen worden, unter dessen Fittiche alles geschoben werden konnte, was an Initiativen von Seiten der Untertanen an den Landesfürsten herangetragen wurde. Man subsumierte dem Begriff die Instrumente der Untertanen, die ihnen legal ermöglichten, in Form von Wünschen, Bitten, Beschwerden, Klagen, Benachrichtigungen der Obrigkeit gegenüber auf direkte Weise Position zu beziehen und Meinung zum Ausdruck zu bringen.
Supplikation – die Verfahren Die Leute, die mit ihren Anliegen zum Hof zogen, kamen als einzelne oder als Abgeordnete einer Gemeinde oder Gruppe, es waren Männer und Frauen⁵⁹, Bauern, Bürger, Adelige, Geistliche. „Einen jeden“ sollten seine Räte verhören, so hatte Herzog Georg von Niederbayern schon 1489 geboten.⁶⁰ Dieser Grundsatz der Allzugänglichkeit wurde im Prinzip aufrechterhalten, auch wenn in der Praxis restringierende Verfahrensregelungen zwischengeschaltet wurden. Offenbar existierte keine ständische Schranke. Auch Fürsten sind – etwa beim Reichstag – als Supplikanten aufge-
Bd. 4, Berlin 1990 Sp. 630 – 638, hier 631; Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14) 1, S. 433. Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2) S. 231. Nach den Bestimmungen der Münchner Regiments- und Hofhaltungsordnung von 1511 sollte die Ratskanzlei an die Verordneten in die Rentstuben übergeben, „was an Schriften oder Suplication fur sy kombt, vnsers gn. Herrn Camergut betreffent“. Neudegger, Hof- und Staats-Personaletats (wie Anm. 36) S. 84. Die organisatorischen Maßnahmen wurden infolge der Vereinigung des Fürstentums nötig, sie werden auf 1507 datiert. In der Hofordnung von 1511 ist noch die Rede von Schriften und Supplikationen, die aus allen „Vitzdombambten“ in München einkommen würden. Hingegen geht die Landesordnung von 1516 von einem Regelfall aus, wonach solche Schreiben aus den Rentämtern bei Vitztum und Räten in Landshut, Burghausen und Straubing einzubringen seien. Landesordnung 1516, Teil 2, BI. 29’. Wie Neuhaus für Hessen ermittelte, stellten Männer mehr als drei Viertel der Supplizierenden. Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 22) 28, S. 163. Krenner, Landtag-Handlungen (wie Anm. 21) Bd. 12, S. 275.
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treten.⁶¹ Aber es gab eine Kondition hierarchischer Art: der Supplikant orientierte sich nach oben. Keine Supplikation wurde an Personen gerichtet, die ständisch oder sozial tiefer rangierten als der Bittsteller. Eine weitere situative Vorbedingung, diesen Schluß möchte man aus der Beobachtung der Praxis ziehen, dürfte ein existentes Herrschaftsverhältnis gewesen sein. In aller Regel jedenfalls aktivierte eine „supplicatio“ eine gegebene „obligatio“. Die Anliegen, die von den Untertanen am Hof vorgebracht wurden, waren dem Inhalt oder Gegenstand nach völlig offen und unbegrenzt. In der äußeren Form hingegen glichen sie einander zumindest insoweit, als sie alle in eine Bitte gekleidet vorgetragen wurden.⁶² Die Hofkanzlei unterschied die einlaufenden Schriften nach den Funktionen, die ihnen zugedacht waren, und ordnete sie den behördlichen Zuständigkeiten entsprechend:
Für Bayern vgl. Blickle, Laufen gen Hof (wie Anm. 32) S. 255 f. Neudegger, Regiments- und Hofhaltungs-Ordnung (wie Anm. 36) S. 82. Zu den Supplikanten aller sozialen Schichten, die während des 16. Jahrhunderts zu den Reichstagen zogen: Neuhaus, Reichstag (wie Anm. 23) S. 98 f. Zu Bauern beim Reichstag, die dem Kaiser ihre Klagen vortragen wollten: Werner Troßbach, Raum, Zeit und Schrift. Dimensionen politisch-sozialen Handelns von Bauern in einigen Kleinterritorien (17. und 18. Jahrhundert), in: Gutsherrschaft als soziales Modell. Hg. Jan Peters (Historische Zeitschrift, Beiheft 18). München 1995 S. 405 – 418, hier 405. Zu Hessen: Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 22) 28, S. 161 und 29, S. 63. Vgl. auch Otto Ulbricht, Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, in: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Hg. Winfried Schulze (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2). Berlin 1996 S. 149 – 174, hier 152. Kümin/ Würgler, Petitions (wie Anm. 22) S. 43; Fuhrmann/ Kümin/ Würgler, Supplizierende Gemeinden (wie Anm. 22) S. 269. Es gab natürlich seit dem 16. Jahrhundert sowohl amtliche wie gesetzliche Vorschriften für die korrekte Abfassung von Supplikationen und eine Fülle von Formelbüchern, die dazu Beistand anboten. Die Schriften mußten vom Schreiber (Supplizisten) mit Namen unterschrieben sein, sie sollten kein unnötiges Geschwätz enthalten, die Gegenseite nicht beschimpfen. Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 176 (Hofratsordnung von 1590), S. 215 (Hofratsordnung von 1624). Landts vnd PoliceyOrdnung der Fürstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. München 1616, Buch 1, Tit. 7, Art. 1– 3; Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14) 1, S. 455, 2, S. 79 f.; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2) S. 222. – Vgl. etwa Fabian Frangk, Ein Cantzley und Titelbuechlin. Wittenberg 1531, ND Hildesheim usw. 1979. Kap. C, E; Laurentius Reichwein, Formular Underschiedlicher Supplicationen, darauff, sowol in Sachen Simplicis Querelae, als Appellationis, an dem hochlöblichen Kays. Camergericht nottürfftige Proceß gebetten, impetriert, und erhalten werden etc. Köln 1606; − Klaus Frh. von Adrian-Werburg, Ein Formularbuch aus dem Landgericht Lichtenfels 1531– 1538, in: Historischer Verein Bamberg, Berichte 131. 1995 S. 197– 214, hier 199 teilt mit, daß sich auf fol. 57’ des Büchleins Anweisungen für eine „schöne Suplication“ fänden. Ende des 18. Jahrhunderts wurde Bittschriftenabfassen, etwa an einen Fürsten oder an einen Prälaten, im Schulunterricht gelehrt (Schulordnung des Reichsstifts Neresheim 1789).Vgl. Norbert Bayrle-Sick, Elementare Volksbildung in Neresheim und Augsburg zwischen Aufklärung und Romantik, in: Augsburg in der Frühen Neuzeit. Hg. Jochen Brüning/ Friedrich Niewöhner (Colloquia Augustana 1). Berlin 1995 S. 343 – 369, hier 352. Zu den heuristischen Chancen der Interpretation von Sprache und Schreiber: Claudia Ulbrich, Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbsterfahrung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Hg. Winfried Schulze (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2). Berlin 1996 S. 207– 226.
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– In die Kompetenz des Hofrats und der drei (vier) Regierungen fielen alle Supplikationen, die eine Beschwerde über oder eine Klage gegen einen landesfürstlichen Beamten und eine niedere Obrigkeit zum Inhalt hatten oder einen Entscheid der niederen Obrigkeit anfochten. Auch der Streit mit einem Nachbarn konnte dort als Bitte um Rechtsschutz vorgetragen werden. Außerdem gingen an den Hofrat die Schreiben, die die Freilassung eines Inhaftierten forderten oder die über verweigerte, verzögerte, verschlampte Prozesse berichteten und um Beistand baten. – Hingegen gingen Supplikationen, in denen der Landesherr um eine Gabe (ein Lehen, Almosen, eine Pension, einen Titel, eine Ehrung usw., ein „Pürschwägerl“ aus dem Marstall, eine Beihilfe zur Hochzeit der Tochter usf.)⁶³, um einen Dispens (etwa einen Nachlaß an Gülten, Abgaben, Zöllen, einen Heiratskonsens oder eine Abzugserlaubnis) oder um eine Lizenz (etwa die Zulassung zu einem Handwerk, eine Konzession, die Aufnahme zum Bürger) angesprochen wurde, an die Hofkammer und soweit nötig – eine Entlassung aus der fürstlichen Leibeigenschaft beispielsweise erforderte das Handzeichen des Fürsten – auch an den Geheimen Rat und den Landesherrn. – Supplikationen, die als eigentliche Gnadenbitten um den Nachlaß einer Kriminalstrafe, auch um Gewährung der Landeshuld einkamen, waren im allgemeinen über den Geheimen Rat dem Landesherrn vorzulegen.⁶⁴ – Ebenso war mit der Supplikation ad manus zu verfahren. Zu dieser Kategorie gehörten auch die Revisionsgesuche, die nach Abschluß eines Summarischen Verfahrens gegen einen vom Hofrat ausgesprochenen Entscheid als Appellationsersatz eingebracht werden konnten.⁶⁵
Georg Ferchl, Über die Bittgesuche an die Herzöge von Bayern-München am Ende des 16. und am Anfang des 17. Jahrhunderts, in: Monatsschrift des Historischen Vereins von Oberbayern 6. 1897 S. 137– 138 (zu 1576). Das Gnadenrecht, wobei nach ergangenem Kriminalurteil eine Begnadigung ausgesprochen wurde, galt in der frühen Neuzeit als Regal und war den Landesfürsten vorbehalten. Reformacion der bayrischen Lanndrecht nach Christi vnsers Hailmachers geburde Im 1518 jar aufgericht. Tit. 19, Art. 6. Kreittmayr, Grundriß (wie Anm. 15) Teil 1, § 9, S. 20: „In dem Begnadigungsrecht oder jure aggratiandi, welches […] ein besonders regale ist“. Hofratsordnung von 1779: Der Kurfürst behält sich in Kriminalsachen nichts vor außer dem Jus aggratiandi. Meyr, Sammlung (wie Anm. 52) 1, Nr. 125 S. 158 – 178, S. 162. Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14) 1, S. 303 – 309, 431, dagegen 2, S. 298; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2) S. 182. – Zum Gnadenbitten, bei dem der Interzession – also der Fürbitte für einen anderen – eine hervorragende Bedeutung zukommt, vgl. Natalie Zemon Davis, Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler. Berlin 1987; Andreas Bauer, Das Gnadenbitten in der Strafrechtspflege des 15. und 16. Jahrhunderts (Rechtshistorische Reihe 143). Frankfurt a. Main usw. 1996. Hermann Krause, Gnade, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1, Berlin 1971 Sp. 1714– 1719. Ein bayerisches Beispiel: Renate Blickle, Die Supplikantin und der Landesherr. Die ungleichen Bilder der Christina Vend und des Kurfürsten Maximilian I.vom rechten ‚Sitz im Leben‘ (1629), in: Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen. Hg. Eva Labouvie. München 1997 S. 81– 99, 212– 216. Zur Supplikation ad manus principis: Summarischer Prozeß 1616, Tit. 10, Art. 3: Vom endtlichen Supplicirn an den Landtsfürsten. ‚Prozeßordnung‘ v. 5. Mai 1750: Von dem iudicio summario etc. und
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Ein Versuch, Ordnung in das „weite Feld der Supplik“ zu bringen, ist vor einiger Zeit von Werner Hülle unternommen worden. Seinen Zuordnungen schloß sich das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte zumindest insoweit an, als es das Phänomen nicht in einer Rubrik abhandelt, sondern durch zwei eigenständige Artikel erfaßt. Außer „Supplikation“⁶⁶ bringt es einen Artikel „Suppliken“.⁶⁷ Hülle schlug seinerzeit vor, das „weite Feld“ zunächst in zwei Gebiete, die „Gnaden-Suppliken“ und die „Rechts-Suppliken“ zu unterteilen.⁶⁸ Die Differenzierung dürfte in etwa der hier dargelegten Arbeitsteilung zwischen Hofkammer und Hofrat entsprechen. Mit „Gnaden-Suppliken“ sind nämlich die Gesuche um Gaben, Dispense und Lizenzen gemeint.⁶⁹ Die mögliche Verwechslung des Ausdrucks mit den „Gnadenbitten“, den Ansuchen um Milderung ergangener Kriminalurteile, stellt ein gewisses Risiko dieser Wortschöpfung dar. Das Gebiet der „Rechts-Supplik“, so wurde weiter präzisiert, solle sodann von dem der „Supplikation“ unterschieden werden.⁷⁰ Während der Begriff „Rechts-Supplik“ das „ungeschriebene, aber dauernd geübte Schutzmittel“ bezeichne, mit dem sich Petenten an den Landesherrn wandten⁷¹, bleibe das Wort „Supplikation“ dem „formalisierten Rechtsmittel gegenüber richterlichen Erkenntnisakten, das von einem geschriebenen Satz des Reichs- oder Partikularrechts“ abgeleitet wurde, vorbehalten.⁷² Auch hier gibt es, wie sich zeigt, Gelegenheit zum
recursu ad Manus, in: Meyr, Sammlung (wie Anm. 52) Nr. 7 S. 8 – 10, hier 9; Kreittmayr, Grundriß (wie Anm. 15) § 9 S. 21; Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14) 2, S. 61, 65 – 67; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2) S. 204 f. Hülle, Supplikation (wie Anm. 38) Sp. 91 f. Dolezalek, Suppliken (wie Anm. 38). Hülle, Supplikenwesen (wie Anm. 38) S. 194, 199. „Suppliken um Almosen und in Gnadensachen“ oder auch „Erlaßsuppliken“ sind Quellenausdrücke aus Hessen, die dieser Rubrik einzuordnen wären. Kümin/ Würgler, Petitions (wie Anm. 22) S. 44. Hülle, Supplikenwesen (wie Anm. 38) S.197 f. Eine Unterscheidung zwischen Supplik und Supplikation findet sich insofern auch bei Zedler, als der Artikel „Supplic, Supplicant etc.“ definitorische Erklärungen von der Bittschrift bis zur schriftlichen Beschwerde und dem Verlangen nach Revidierung eines Urteils gibt, während unter „Supplication“ ausführlich das formalisierte Rechtsmittel erläutert wird. Doch innerhalb des Artikels „Supplication“ ist dann häufig wieder von der „Supplic“ die Rede. Zedler, Universal-Lexicon (wie Anm. 38) Sp. 364– 369. – Der Sprachgebrauch der frühen Neuzeit – und nur während dieser Zeit waren die Wortvarianten in der deutschen Sprache geläufig – deckt weder diese Differenzierung noch die vorgenommene Zuordnung. Supplikation ist die gebräuchlichere Form, aber vermutlich in Anklang an die Bezeichnungen der Prozeßschriften als Replik, Duplik etc. findet sich auch die Form Supplique bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts, so in: BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv Nr. 4144 fol. 283 (1616). Vgl. Grimm/ Grimm, Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 40). Hülle, Supplikenwesen (wie Anm. 38) S. 197, nennt die „Rechts-Supplik“ das „dauernd geübte Schutzmittel, das auf ein verletztes oder gefährdetes Rechtsgut des Petenten oder ein ihn belastendes Justizgeschehen (einschließlich der Extrajudizialgeschäfte) bezogen und zumeist dem Landesfürsten als dem Hort des Rechtes zur unmittelbaren Abhilfe unterbreitet wurde.“ Zitat ebd. Zum formalisierten Rechtsmittel Supplikation vgl. für Bayern Summarischer Prozeß 1616, Tit. 10, Art. 3. Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14) 2, S. 61– 65; Heydenreuter, Hofrat, (wie Anm. 2) S. 204– 208. Allgemein: Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskam-
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Mißverständnis. In teilweise ausdrücklicher Anlehnung an die erwähnten definitorischen Bemühungen ist etwa von „Gnadensupplikationen“ und „Justiz-Supplikationen“ die Rede.⁷³ Aufs ganze gesehen hat sich der wissenschaftliche Sprachgebrauch denn auch zwischenzeitlich keineswegs geklärt. Die Unterscheidung zwischen „Supplikation“ und „Supplik“ scheint selbst ihrem Verfechter nicht mehr selbstverständlich zu sein⁷⁴, und die einschlägigen Artikel im rechtsgeschichtlichen Handwörterbuch lassen nicht erkennen, daß die Redaktion das Konzept tatsächlich verfolge.⁷⁵ In der Tat dürfte es schwerfallen, die vorgeschlagene Unterscheidung darstellerisch durchzuhalten, nachdem in den Quellen alle Arten der Initiativschriften mit dem Wort Supplikation – oder auch mit Supplik – bezeichnet werden. Aber auch die vorgenommene sachlich-definitorische Abgrenzung läßt sich jedenfalls auf das bayerische Material nicht einfach übertragen. Schon der postulierte Unterschied zwischen einem „ungeschriebenen“ gehandhabten Schutzmittel „Rechts-Supplik“ und der auf „geschriebenen“ Rechtssätzen basierenden „Supplikation“ gilt hier für die frühe Neuzeit nicht mehr. Erste gesetzliche Bestimmungen zur Handhabung der Supplikation traf nämlich schon die Landesordnung von 1516. Sie regelte in drei aufeinanderfolgenden Artikeln mit je eigener Überschrift das Vorbringen der Supplikation:⁷⁶ – „Wie die supplication vnd clag füran an die Fürsten vnd jre Vitzdomb vnd Räte söllen gebracht werden“, – den mitzubringenden Bericht der niederen Obrigkeit: – „Von vnnterricht gen hof zegeben“ – und die Behandlung der Supplikation am Hof und durch die Regierungen:
mergericht (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 4). Köln usw. 1976 S. 283 – 297; Ders., Rechtsmittel, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4, Berlin 1990 Sp. 315 – 321, hier 318 – 320; Wolfgang Sellert, Revision, Supplikation, in: ebd., Sp. 958 – 961. Neuhaus, Reichstag (wie Anm. 23) S. 114– 128; ders., Supplikationen (wie Anm. 22) 28, S. 120 f. Mit Berufung auf Neuhaus: Ulbricht, Supplikationen (wie Anm. 61) S. 151 f. Auch Kumpf, Petitionsrecht (wie Anm. 22) S. 41 nimmt den Begriff Gnadensupplikationen auf. Werner Hülle widerfuhr, als er seinen Aufsatz über das „Supplikenwesen“ aus dem Jahr 1973 im Artikel „Supplikation“ des Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte 1991 nannte, ein bezeichnendes Mißgeschick. Der Beitrag trägt den Titel „Das Supplikenwesen in Rechtssachen“ (wie Anm. 38) und wird vom Autor im Handbuchartikel mit „Das Supplikationswesen in Rechtssachen“ (wie Anm. 38) zitiert. So wird im Artikel „Supplikationsausschuß“ (wie Anm. 23), durchgehend das Wort „Supplikation“ benutzt, obwohl hier, beachtete man den Vorschlag zur Differenzierung, überwiegend von „Suppliken“ die Rede sein müßte. Die Klärung des Sprachgebrauchs, sowohl der Quellen als auch der wissenschaftlichen Literatur, und die Etablierung präziser Wissenschaftsbegriffe wäre natürlich sehr hilfreich. Voraus geht ein Artikel über den „Schreiberlon der Supplication“. Pro Bogen werden sechs Kreuzer vorgeschrieben. Landesordnung 1516. Teil 2, Blatt 29. Ebenso in: Das buech der gemeinen Landpot Landsordnung Satzung vnd Gebreüch des Fürstenthümbs in Obern vnd Nidern Bajrn im funftzehnhundert vnd Sechtzehendem Jar aufgericht. München 1520.
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– „Wie sich der Fürst, hofmaister, Cantzler,Vitzdomb, vnd Räte in außrichtung der Supplication hallten söllen“.⁷⁷ Die drei Supplikations-Artikel der Landesordnung enthalten in nuce die Prinzipien und die Formalien der Streitregulierung und der Beschwerdeführung, wie sie während der frühen Neuzeit in Bayern gehandhabt wurden. Dabei wird deutlich, daß die Beschäftigung mit Konflikten und deren Behebung im großen und ganzen außerhalb der Gerichte stattfanden.⁷⁸ Es war nämlich Aufgabe auch der niederen Obrigkeit, die „Parteien in der guetigkait“ zu vertragen. Gelang ihr das nicht, sollte sie nach Gesetzeslage und Billigkeit autoritativ entscheiden.⁷⁹ Die Partei, die sich durch ein solches obrigkeitliches „geschäft“ oder einen „enntschid“ ungerecht behandelt glaubte, konnte mit einer Supplikation bei Hof oder einer der Regierungen vorstellig werden. Sie hatte allerdings einen schriftlichen Bericht der niederen Obrigkeit über den Vorgang – den „vnterricht“ – mitzubringen. Wenn hingegen ein „Burger, auch Paur vnd annder gemainer man“ eine Klage oder Beschwerde über oder gegen die eigene Obrigkeit bei den Räten vorbringen wollte, wurde sein Anbringen bei Hof bzw. beim Regiment unvermittelt und ohne Vorverfahren akzeptiert.⁸⁰ Der Hofmeister und der Hofrat in München, bzw. der Viztum und die Räte bei den Regierungen waren bevollmächtigt, die ihnen vorgebrachten Anliegen des näheren zu „verhör[en]“, das heißt Erkundigungen einzuholen, die Parteien vorzuladen, sie in der Güte zum Vergleich zu bringen und mit „geschäfftn zum furderlichisten“ abzufertigen, also den Konflikt durch einen Abschied, einen Entscheid oder auch durch einen Befehl zu beenden. Im letzten der drei SupplikationsArtikel der Landesordnung wurde die Richtschnur zur Handhabung der GratialSuppliken aufgestellt. Die Angelegenheiten des herzoglichen „aigen guets“ und solche⁸¹, die „merklich“ die herzogliche „obrigkeit“ antrafen, blieben grundsätzlich der persönlichen Entscheidung des Landesfürsten vorbehalten. Da allerdings auch hier
Landesordnung 1516. Teil 2, Blatt 29’-30’, ebenso in der Landesordnung von 1520. Anders Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14) 1, S. 429 f. Landesordnung 1516 (1520). Teil 2, Blatt 29’. Ein herzogliches Mandat von 1464 enthielt bereits sehr ähnliche Überlegungen. Krenner, Landtag-Handlungen (wie Anm. 21) Bd. 5, S. 102– 105. Landesordnung 1516 (1520),T. 2, Blatt 29’ f. – Die uneingeschränkte Zulassung mit einer Beschwerde oder Klage bei Hof, die sich gegen herzogliche Amtleute richtet, war auch schon 1464 von restriktiven Bestimmungen ausgenommen worden. Krenner, Landtag-Handlungen (wie Anm. 21) Bd. 5, S. 102– 105.Vgl. auch T. 1, Artikel 12 der Landesfreiheitserklärung von 1508: „Wie und wo sich die bschwärdten undterthanen wider die pfleger, richter und anndere ambtleut beclagen muegen“, in: Lerchenfeld, Landesfreiheitserklärungen (wie Anm. 18) S. 221 f. Beschwerden über Entscheide der Hofmarksherren wurden in dem Mandat 1464 nicht erwähnt. In der Praxis waren derartige Beschwerden allerdings spätestens seit dem 14. Jahrhundert üblich. Die Menge der Gratial-Suppliken kam bald in die Obhut der Hofkammer, kurzfristig schob sich die Geheime Kanzlei dazwischen (Ende des 16. Jahrhunderts), und in wichtigen Dingen wurde der Geheime Rat hinzugezogen.
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der Rat der Räte willkommen war⁸², konnten sich die geschäftlichen Abläufe in der Praxis durchaus ähneln. Die Supplikations-Artikel der Landesordnung von 1516 (1520) gingen mit einer Ausnahme – der Regelung über den Bericht der Obrigkeit – wörtlich und vollständig in die Landesordnung von 1553 über.⁸³ Man faßte den gesamten Text, der 1516 (1520) zu drei Artikeln geordnet war, 1553 unter einem Titel zusammen – Titel eins des zweiten Buches – und gliederte ihn in sechs Artikel.⁸⁴ Dieser Titel, der tatsächlich nichts anderes als die alten, hier soeben in Kurzform wiedergegebenen Bestimmungen zum korrekten Umgang mit Klagen, Beschwerden und Supplikationen enthält, trägt die Überschrift: „Wie der Summarisch proceßz in gütlichen handlungen fürgenomen vnd gehalten werden soll.“ Der Ausdruck ‚Summarischer Prozeß‘ entstammt dem Kirchenrecht. Er meint ein vom ordentlichen gerichtlichen Prozeß abweichendes, amtliches Vorgehen der Streitentscheidung mit dem Ziel, zu einem raschen Abschluß zu kommen. Das Wort „summarisch“ erscheint in der bayerischen Gesetzgebung zum erstenmal in der Gerichtsordnung von 1520. Dort wird dem Richter vorgeschrieben, bei einem Streitwert zwischen zwei und zehn Pfund Pfennig „summarie vnd auf fürderlichest in recht zu verfarn“⁸⁵, das heißt in Bagatellfällen keinen ordentlichen Gerichtsprozeß zuzulassen.⁸⁶ Der Begriff war um die Mitte des 16. Jahrhunderts in der hofrätlichen Sprach-
Landesordnung 1516 (1520). T. 2, Blatt 30’. Es stellte sich heraus, daß die Regelung über die Berichterstattung der unteren Instanzen die Petenten stark benachteiligte, den Amtleuten und Herren aber Gelegenheit zur Schikane bot. Sie wurde 1536 durch ein landesherrliches Dekret an den Hofrat intern außer Kraft gesetzt, die Räte sollten alle einkommenden Schreiben akzeptieren. Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14) 1, S. 430; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2) S. 17 f.; Lanzinner, Fürst, Räte und Landstände (wie Anm. 20) S. 80. Die Neuerung schlug sich in der Landesordnung von 1553 insofern nieder, als bestimmt wurde, der Bericht der niederen Obrigkeit sei nur auf ausdrückliches Verlangen des Hofrats/der Regierungen zu erstellen. Landesordnung 1553. Buch 2, Titel 1, Art. 3, fol. 20 f. – Orientiert man sich an den Äußerungen der Hofratsordnung von 1573, wurde weder die Bestimmung von 1536 noch die von 1553 praktiziert, sondern meist nach wie vor ein Bericht der niederen Obrigkeit bei Abgabe der Supplikation in der Kanzlei verlangt. Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 270 f. Den gleichen Eindruck ruft die „Instruktion für die Kurfürstliche Oberlandesregierung“ vom Jahr 1779 hervor. Meyr, Sammlung (wie Anm. 52) S. 401 (§ 25). Bayrischen Landtsordnung 1553. Buch 2, Titel 1, Artikel 1– 6, fol. 19 – 21. – Die Orthographie ist nicht identisch. Die Artikel tragen alle Überschriften. Das bedingt bei den ersten Worten des folgenden Textes gelegentlich eine Angleichung und hat daher eine minimale Abänderung dieser Satzanfänge verglichen mit 1516 zur Folge. Eine weitere Neuerung enthält der 1. Artikel, wo zwischen „ain yeder Burger und Paurs vnd annder gemainer man“ der Ausdruck oder „lnwoner in vnsern Stetten vnd Märckten“ eingeschoben wurde. Gerichtsordnung 1520, Teil 4, Gesatz 6, Blatt 31. Gerichtsordnung 1614, Titel 5, Gesatz 7, S. 133, bestimmt: „In klainen ringschätzigen Sachen, die zwischen zwayen vnd zwaintzig Pfundt Pfenning seyn, sollen die Richter nach jnnhalt der ordnung deß Summarischen Proceß, auffs fürderlichist verfahren“. Überhaupt kein rechtliches Verfahren war gemäß der Landesfreiheitserklärung von 1508 bei einem Streitwert unter zwei Gulden erlaubt, hier mußte man nach „billichkait darjnn hanndln und schaffen“.
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praxis offenbar alltäglich; denn man unterschied damals die Arbeitsbereiche des Rates nach den „Recht“ und den „Sumarisch sachen“.⁸⁷ Genauer schildert die Hofratskanzleiordnung von 1569 die Ressorts. Sie unterscheidet die Aufgaben des Rates im Hofgericht von seiner Beschäftigung mit den summarischen und extrajudizialen Sachen und beides von den übrigen Ratsaufgaben. Als Hofgericht ging der Rat nach der Gerichtsordnung vor und sprach Urteile, summarisch handelte er dagegen „ausserhalb rechtens vnd an ordenlichen gerechtlichen process in der guete“, dabei lag ihm eine schriftliche(r) „einclag“ in Form einer Supplikation bzw. eines Anbringens vor.⁸⁸ Zum dritten, dem Bereich der „anndern raths vnnd Cannzlej hanndlungen vnd schriften“, gehörte das Gros der Supplikationen – die „gemaine Supplicationen“, wie sie 1566 genannt wurden⁸⁹– und die Menge der Berichte, Bescheide, „zetln“ und „schreiben“.⁹⁰ Der Titel über den Summarischen Prozeß wurde bei der großen Erneuerung der Rechte und Gesetze 1616 aus der Landesordnung ausgegliedert und an seiner Statt eine umfangreiche selbständige Prozeßordnung für das Summarische Verfahren neu gestaltet.⁹¹ Sie orientiert sich ausgiebig an den Bestimmungen der Gerichtsordnung. Der Begriff der Supplikation erscheint hier an drei Orten. Im Kontext der Verfahrenseinleitung wird er in einem Atemzug mit dem Wort Klage verwendet.⁹² Bei Erörterung der Hofratstätigkeit werden die Schreiben angesprochen, die inhaftierte, ihre Freilassung anmahnende Personen an den Rat schicken⁹³, und es wird der allgemeine Umgang des Hofrats mit Supplikationen – anhören, ausrichten,verabschieden – geregelt.⁹⁴ Sodann Lerchenfeld, Landesfreiheitserklärungen (wie Anm. 18) T. 2, Art. 15 S. 232. Gemäß der Gerichtsordnung 1614, Titel 5, Gesatz 6, S. 133, sollte „der Richter die Partheyen darumb in kein Rechtfertigung kommen lassen, sonder die Sachen zwischen ihnen in der Güetigkeit, oder wie er billich ze sein befindet nach seinen trewen entscheiden“. Das zeigen die Hofrats- und die Kanzleiordnung von 1551 bzw. 1566. Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 133, 136 f., 143 f. Die Hofratsordnung von 1573 spricht von „Hofgerichts-Sachen, die zur Vrtl stenndt, Item alle Summarische Process, Item die Appellationes aus den Vnndergerichten, die getrennt aufzubewahren seien“. Ebd. S. 253. Daß diese Klage als Supplikation und Anbringen bezeichnet wurde, belegen auch erhaltene Prozeßschriften. Vgl. etwa BayHStA, Kurbayern Hofrat 1100, fol. 38 – 41’; 17. März 1537: Hofratsrezeß, der nach einem Verfahren erging, das „auf der cläger furgetragne Supplication vnnd des beclagten darauf gegebene schrifftliche antbort“ nach einem Verhörtag vom Landhofmeister erteilt wurde. – Vgl. auch ebd. fol. 280; 14. Dez. 1538: Vor Landhofmeister und Räten wurden „mit Irem schriftlichen vnd muntlichen furpringen genugsam vnd nach lenngs gegenainander verhört“ […]. – Auch ebd. fol. 198. – BayHStA, Kurbayern Hofrat 1113, fol. 213 – 215: Ein Entscheid des Hofrats vom 26. Juni 1590 erfolgte „In der Sumarischen Hanndlung […] auf baiderthail mundt: vnnd schriftliches fürbringen […]“. Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 143. – Nach der Kanzleiordnung von 1566 sollen die „gemaine Supplicationen, berichtn vnnd dergleichen schrifften Darauff khain Abschidt beschaid oder enndtlicher beuelch verzaichent“ ist, ausgemustert werden. Hofratskanzleiordnung 1569. Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 148 f. Summarischer Process Der Furstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. München 1616. Summarischer Prozeß 1616, Tit. I, Art. 8 u. 9. Ebd. Tit. 8, Art. 3. Ebd. Tit. 8, Art. 9.
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kommt die Supplikation „zu deß Landtsfürsten aignen Händen“ zur Sprache, das meint die Supplikation als förmliches Rechtsmittel, mit dem der Landesherr nach Abschluß eines Summarischen Prozesses um Revision gebeten werden kann.⁹⁵ Nicht nur als gehandhabte Praxis, sondern auch als schriftlich fixiertes Verfahrensrecht bestanden in Bayern seit 1616 und bis 1753 die Zivilverfahren vor Gericht und außerhalb des Gerichts nebeneinander. Dabei könnte man mit einigem Recht die außergerichtlichen Verfahren als die eigentlichen Normalverfahren ansehen, weil sie weitaus häufiger angewendet wurden als die Gerichtsverfahren.⁹⁶ Die Erneuerung des Zivilverfahrens 1753 bedeutete denn auch eigentlich einen Sieg des Summarischen Prozesses.⁹⁷ Der Ort der Supplikation im Gefüge des frühneuzeitlichen Staatswesens läßt sich nicht ermitteln, wenn man sie isoliert und von den Verfahren abgelöst betrachtet, die mit ihrer Hilfe initiiert werden konnten. „Suppliciren“ sei nichts anderes als etwas der Rechtsordnung gemäß vom Richter bitten, definierte ein Jurist zu Beginn des 17. Jahrhunderts.⁹⁸ In unseren Tagen führte die Beschäftigung mit dem Reichsrecht zur Feststellung, unter Suppliken könne man die „jedwedes Verfahren einleitenden Prozeßschriften“ verstehen.⁹⁹ Soweit läßt sich definitorisch in Bayern nicht ausgreifen. Hier waren Supplikationen lediglich „alle außergerichtliche(n) Schriften, insbesondere Bitten und Beschwerden an den Hofrat“ bzw. „an den Herzog“.¹⁰⁰ Doch was die Einschränkung, mit der die gegebene Koexistenz von gerichtlichem und außergerichtlichem Verfahren zum Ausdruck gebracht wird, in der Praxis bedeutete, wäre erst zu überprüfen. Während das Interesse der Historiker an Verfahrensfragen eher gering ist, deren üppiges Nebeneinander beispielsweise wird meist stillschweigend übergangen¹⁰¹, neigen heutige Juristen dazu, die Supplikation – außer in ihrer Funktion als
Ebd. Tit. 10, Art. 3. Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14) 2, S. 63. Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2) S. 18, 194; Weitzel, Appellation (wie Anm. 72) S. 271– 273. Zu Baden: Wolfgang Leiser, Der gemeine Zivilprozeß in den Badischen Markgrafschaften (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg Reihe. B 16). Stuttgart 1961 S. 1 f., 28 f., 80 f. Werner Schöll, Der Codex Juris Bavarici Judiciarii von 1753 im Vergleich mit den prozeßrechtlichen Bestimmungen der bayerischen Gesetzgebung von 1616 und mit dem Entwurf und den Gutachten von 1752/53. München 1965 S. 11. So schon Johann Christoph Schwartz,Vierhundert Jahre deutscher Civilproceß-Gesetzgebung. Berlin 1898 S. 256. Reichvvein, Formular Underschiedlicher Supplicationen (wie Anm. 62) S. 1: „Darumben ist Suppliciren anders nichts, dan etwas furnemblich, und dem Recht Reichs Constitutionibus und Ordnungen gemäß vom Richter bitten.“ Weitzel, Appellation (wie Anm. 72) S. 288. Die Ausführungen selbst sind natürlich dem formalisierten Rechtsmittel Supplikation gewidmet. Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2) S. 18. Hans Schlosser, Rechtsgewalt und Rechtsbildung im ausgehenden Mittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 100 (1983) S. 9 – 52, hier 18. Differenzierend jedoch: Volker Press, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559 – 1619 (Kieler Historische Studien 7). Stuttgart 1970 S. 43 – 45, 93 – 95; Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 22) 28, S. 160 f.
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formalisiertes Rechtsmittel – aus dem Verfahrenskontext zu isolieren und in der Supplik einen subversiven Feind des Gerichts zu sehen. Die Sentenz über das „die Rechtspflege störende Supplikenwesen“ bringt ein nicht auf Eberhard Schmidt beschränktes Urteil zum Ausdruck.¹⁰² Die Attraktivität des extrajudizialen Summarischen Prozesses und der anderen verkürzten Verhandlungsverfahren, die auf die Eingabe einer Supplikation, Bittschrift oder Beschwerde hin in Gang gesetzt wurden¹⁰³, dürfte nicht zuletzt auf das Güteprinzip zurückzuführen sein, dem sie verpflichtet waren. So bevorzugten die Landesherren jahrhundertelang die außergerichtlichen Verfahren gegenüber den gerichtlichen.¹⁰⁴ Denn vor Gericht, so sagte man, spiele sich ein „unfreundlicher Rechtskrieg“ ab. Am Ende eines ordentlichen gerichtlichen Prozesses stünden die gegnerischen Parteien als Sieger und als Verlierer da und folglich einander nach wie vor feindlich gesonnen gegenüber. Beim „freundlichen Rechten“ hingegen, den Streitverfahren der Parteien vor dem landesfürstlichen Rat – analog auf tieferer Stufe vor dem Pfleger oder Richter – würden ein Kompromiß oder doch eine Entscheidung angestrebt und getroffen, deren vorrangiger Zweck darin bestand, den Streit beizulegen und künftig ein ‚friedlicheres‘ Miteinander der Kontrahenten zu ermöglichen.¹⁰⁵
Eberhard Schmidt, Kammergericht und Rechtsstaat. Eine Erinnerungsschrift, in: ders., Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaates (Schriften zur Verfassungsgeschichte 32). Berlin 1980 S. 267– 304, hier 278, 287 (zuerst 1968). „Das Supplikenwesen“ habe „für ein geordnetes Justizwesen immer eine Gefahr“ dargestellt, meinte Sengelmann, Zugang des einzelnen (wie Anm. 54) S. 30. Vgl. auch Hülle, Supplikenwesen (wie Anm. 38) S. 194, 200, 207; Dolezalek, Suppliken (wie Anm. 38) S. 96. Die Wirkung einer Supplikation konnte von der Nullreaktion bis zum Summarischen Prozeß mit Antwort, Replik, Duplik, Triplik und Quadruplik reichen. Die Behandlungsvarianten, die im Hofrat üblich waren, läßt die Hofratsordnung von 1573 gut erkennen. Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 270 f. – Anfang 1614 hatten die Rottenbucher Bauern ihre, wie sie schreiben, „gravamina“ (BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 4144, fol. 234) beim Hofrat schriftlich vorgebracht. Der Rat schickte daraufhin am 22. Apr. die „Klagen“ der Untertanen an den Prälaten und befahl, gegen die „Supplicanten“ nicht tätlich zu werden und seinen „bericht“ einzuschicken (fol. 235). Daraus entwickelte sich ein „Summarischer Prozeß“, der mit der „Erwiderung“ (Antwort) des Propstes (fol. 240’), der „Replik“ der Bauern (fol. 240’), der „Duplik“ des Propstes (fol. 253), der „Triplic- und Eventual Conclusionsschrift“ der Bauern (fol. 301), der „Quadruplik und Eventual Conclusionsschrift“ des Propstes (BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 116) geführt und 1619 mit dem „Rezeß“ des Hofrats abgeschlossen wurde. Vgl. etwa die programmatischen Äußerungen im Vorspruch „An den Leser“, der die umfangreiche Gesetzessammlung von 1616 einleitet – Landrecht, Policey: Gerichts-Malefitz- und andere Ordnungen. Der Fu(e)rstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. München 1616 – sowie Titel 1 und 2 des Summarischen Prozeß 1616. – Seit Kaspar von Schmids Kommentar zum Summarischen Prozeß ist es üblich, die bei dieser Prozeßform entfallende Möglichkeit, an das Reichskammergericht zu appellieren, als Erklärungsgrund für die Bevorzugung der summarischen Verfahren anzugeben. Weitzel, Appellation (wie Anm. 72) S. 281 f. Mit dem Ausdruck „unfreundlicher Rechtskrieg“ wird der ordentliche Gerichtsprozeß in der Ordnung des Summarischen Prozesses bezeichnet. Tit. 2, Art. 1. Der Gegenbegriff, das ,,freundliche rechten“, findet sich bereits Mitte des 15. Jahrhunderts. BayHStA, Klosterurkunden Steingaden Nr. 453; 1437 IV. 7.
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Der Rechtsfriede sollte nach Möglichkeit bereits während des Verfahrens heranreifen. Der resümierende Satz aus der Summarischen Prozeßordnung von 1616, wonach grundsätzlich so verfahren werden solle, „daß man etwas gebe, vnd etwas behalte“, dürfte die Prämisse und Maxime dieser Verfahrensformen ebenso anschaulich wie bündig zusammenfassen.¹⁰⁶ Summarisch und „auf fürderlichist“, in der Güte und der Billigkeit gemäß hießen die Stichwörter, hinter denen als gemeinsame Zielvorstellung stand: Konflikte sollten verhandelnd beigelegt, rasch und kostengünstig ausgeräumt werden. Andernfalls aber, und das war die Kehrseite und die raue Realität, wurde der Streit durch einen autoritativen Entscheid beendet und seine Durchsetzung durchaus mit dem Einsatz von Gewalt, Gefängnis und Militär erzwungen. So könnte man die Supplikation als das ,Logo‘ einer Gesellschaftsform ansehen, deren Ordnung auf Hierarchie und deren Legitimität auf Gnade beruhend gedacht wurden und deren Kommunikationssystem daher einen Bitt- mit einem Gebotskreislauf verflocht. In der Hand der bayerischen Untertanen hatte die Supplikation die Funktion eines Schlüssels gewonnen, der von den Ausgeschlossenen genutzt wurde, um sich einen schmalen Zugang zu öffnen.¹⁰⁷
2 Exkurs – der persönliche Zugang zum Fürsten und das persönliche Regiment des Landesherrn – Erzählbilder und Fakten Wiewohl die zentralen Organe des Territorialstaates sich mit den Anbringen der Untertanen auseinanderzusetzen hatten und wiewohl der Geschäftsgang institutionalisiert war und die Verfahren routinemäßig durchgeführt wurden, kamen während der ganzen frühen Neuzeit Leute aus dem Land in die Residenzstadt, um ihre Supplikationsschreiben dem Landesherrn persönlich zu übergeben, oder sie reisten dorthin, wo
Summarischer Prozeß 1616, Tit. 2, Art. 3. Ihre Bedeutung ist mit der Rolle eines Transporteurs von Informationen aus dem Land in die Zentrale in keiner Weise hinreichend erfaßt. Der Supplikant als Informant ist heute die verbreitetste Erklärung für die unbegreiflich erscheinende Duldung dieser „Landplage“ [Hülle, Supplikenwesen (wie Anm. 38) S. 198] durch den frühneuzeitlichen Staat. – Darauf, daß der Umgang mit Supplikationen „ein bezeichnendes Licht auf das Selbstverständnis des frühmodernen Territorialstaates“ werfe, verweist bereits Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 22) S. 160 f. Als Probe aufs Exempel können die Arbeiten von Thomas Robisheaux, Peasant Unrest and the Moral Economy in the Southwest 1560 – 1620, in: Archiv für Reformationsgeschichte 78. 1987 S. 174– 186 und Ders., Rural Society and the Search for Order in Early Modern Germany. Cambridge 1989, über Hohenlohe gesehen werden. Interessante Praxiseinblicke auch bei Casimir Bumiller, Die Junginger Audienzprotokolle von 1751– 1775. Strukturen, Szenen und Personen aus dem dörflichen Alltag im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 102. 1979 S. 121– 136.
2 Exkurs – der persönliche Zugang zum Fürsten
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der Fürst sich gerade aufhielt.¹⁰⁸ So ging etwa Erhart Gretz aus dem Ammergau im Auftrag seiner Nachbarn 1503 nach Straubing, weil Herzog Albrecht IV. dort weilte¹⁰⁹, und Lienhart Kistler und Wolfgang Wiellerstötter aus der Grafschaft Haag zogen im Mai 1567 nach Regensburg, weil sie in Landshut erfahren hatten, daß Herzog Albrecht V. derzeit nicht in München sei, sondern in der Reichsstadt an der Donau.¹¹⁰ Der Rottenbucher Georg Vend meinte empört, er wolle „den Herzog selbsten darumben hören“, nachdem man ihm befohlen hatte, seinen Hof zu räumen.¹¹¹ Die Leute „liefen“ den Landesherrn selbst an, so sagte man damals. Auch Herzog Maximilian I. unterschied zwischen den „gebürenden ortten“ – dem Behördenweg – und seiner Person – „bey uns selbst“, als er 1596 eine Rätekommission beauftragte, den unruhigen Bauern an der Ostgrenze des Landes zu erklären, wie sie ihre Beschwerden auf korrekte Art vorbringen könnten.¹¹² Es war eine Pflicht des frühneuzeitlichen Herrschers, sein Regiment persönlich auszuüben.¹¹³ Er versah auf Gottes Befehl hin ein Amt, zu dem die Natur und die Geburt ihn vorbestimmt hatten. Die Herrschaft hing seinem Körper unmittelbar an, in seinem Leib inkarnierte sich „der Gewalt“ über die Gerechtigkeit. Das Selbstbild der Fürsten amalgierte tiefgründig mit dem Idealbild aus den Fürstenspiegeln und Erziehungsschriften.¹¹⁴ Vom so entstandenen Tableau wären hier die Ausschnitte von
Das Bestreben, den Landesfürsten persönlich anzugehen, ist allgemein verbreitet. Vgl.insbesondere: André Holenstein, Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung. Zur Praxis „guter Policey“ in Gemeinde und Staat des Ancien Régime am Beispiel der Markgrafschaft Baden-(Durlach), in: Gemeinde und Staat im Alten Europa. Hg. Peter Blickle (Historische Zeitschrift, Beiheft 25). München 1998 S. 325 – 357. – Auch: Hülle, Supplikenwesen (wie Anm. 38) S. 98; Rainer Polley, Das nachfriderizianische Preußen im Spiegel der rechtlichen Behandlung von Immediatsuppliken an den König, in: Das nachfriderizianische Preußen 1786 – 1806. Hg. Hans Hattenhauer/ Götz Landwehr. Heidelberg 1988 S. 345 – 361, hier 359; Fuhrmann/ Kümin/ Würgler, Supplizierende Gemeinden (wie Anm. 22) S. 310. Monumenta Boica. Bd. 7, München 1766 Nr. 58 S. 313 – 319, hier 318. BayHStA, Klosterurkunden Ettal Nr. 249; 23. Apr. 1503. BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv Nr. 533, fol. 214 f. – Verhör des Wolfgang Wiellerstetter durch den Pfleger in Haag. BayHStA, KL Fasz. 641/ ad 18, fol. 231. Relatio über die Abstifung vom 12. März 1621. BayHStA, GR Fasz. 1230, fol. 6 – 9, hier 8. Instruktion vom 17. Jan. 1596. Vgl. dazu Anm. 176. Willoweit, Verwaltungsorganisation (wie Anm. 34) S. 315; ders., Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Hg. Kurt G. A. Jeserich/ Hans Pohl/ Georg-Christoph von Unruh. Bd. 1, Stuttgart 1983 S. 66 – 142, hier 105 f., 114 f. Dazu auch Lanzinner, Fürst, Räte und Stände (wie Anm. 20) S. 19, 108 – 126. Als bayerisches Beispiel sei der Fürstenspiegel des Wolfgang Seidel genannt. Er war von 1532 bis 1560 Prediger am Augustiner Kloster in München, und „aus dieser Nähe zum Hof wie zum Volk“ seien, bemerkt Bruno Singer, „seine Fürstenspiegel entstanden“. Wolfgang Seidel, Wie sich ein Christenlicher Herr, so Landt vnnd Leüt zu Regieren vnder jm hat, vor schedlicher Phantasey verhüten und in allen nöten trösten sol. Ingolstadt 1545; Bruno Singer, Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation (Humanistische Bibliothek. Reihe I: Abhandlungen Bd. 34). München 1981 S. 251. Der „verrichtung seines Ampts“, so fordert Seidel, habe der Landesfürst als seiner – nach dem Dienst an Gott – wichtigsten Aufgabe das größte Quantum seiner Zeit zu widmen.
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Interesse, die das Verhältnis zwischen dem Landesherrn und seinen Untertanen beleuchten, und insbesondere jene Passagen, die erkennen ließen, wie der Zugang zum Herrscher organisiert war oder welche Zusammenhänge zwischen dem Ideal des persönlichen Regiments der Fürsten und der Aktions- und Appellpraxis der Untertanen bestanden haben. Aber dazu läßt sich derzeit nur wenig sagen. Nach wie vor grundiert das Schlagwort vom naiven Monarchismus, das die Haltung der Untertanen zum Herrscher als blinde Vertrauensseligkeit charakterisiert, das ansonsten blasse Bild des Sachverhalts in der Wissenschaft. Die am Hof und von hofnahen Publizisten seinerzeit produzierten Schaubilder vom guten Fürsten dürften darin ihre Urständ feiern. Die Arten des Kontakts, die ein Untertan in der frühen Neuzeit zu seinem Landesfürsten herstellen konnte, bestanden zum einen in der Einlieferung schriftlicher Anbringen, die eine persönliche Stellungnahme des Fürsten erforderten, und zum anderen in der Herbeiführung einer persönlichen ‚Begegnung‘, bei welcher er dem Fürsten ein Schriftstück selbst überreichte. Die persönliche Stellungnahme des Landesherrn war in großem Umfang im Kontext der Interessesachen, die über die Hofkammer liefen, erforderlich. Die Wahrnehmung,Wahrung und Verwaltung der Herrschaftsrechte und der Finanzen, auch der hausväterlichen Pflichten gegenüber Dienern oder Amtleuten, die Gewährung oder Ablehnung erbetener Ehrungen, Titel oder Spenden, bedurften in allen wichtigeren Fällen der fürstlichen Entscheidung oder des Handzeichens. Das gleiche galt – wie erwähnt – für die Gnadengesuche nach Kriminalurteilen und die Beantwortung von Supplikationen ,zu eigenen Händen‘, die um die Abänderung eines Urteils oder eines Abschieds baten. In diesen Fällen stellte sich das persönliche Regiment als persönliche Reaktion des Fürsten auf den Appell eines Untertanen ziemlich unspektakulär dar. Der Fürst trat hier lediglich in Gestalt von Papier und Siegel in Erscheinung, und inwieweit deren Symbolcharakter die Distanz überbrücken konnte, die sie als Abstraktion erzeugten, bleibt recht fraglich. Der Akt der persönlichen Begegnung Untertan-Landesfürst erfuhr zu Beginn der frühen Neuzeit eine qualitative Veränderung. Während im Spätmittelalter die Möglichkeit gegeben war, daß Fürst und Untertan sich im institutionell gesicherten Rahmen einer Anhörung oder Tagsatzung bei Hof gegenübertraten, war ein solches Zusammentreffen später nur mehr auf informeller Basis möglich, da die Fürsten sich von der Arbeit im Hofrat zurückgezogen hatten. Schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts dünkte sie die Inanspruchnahme ihrer Person und ihrer Zeit durch die Untertanen, die gen-Hof gelaufen kamen, übermäßig.¹¹⁵ Die Gründung der Ratskollegien an den Höfen 1466 in München und 1489 in Landshut und die umfangreiche Delegierung von Gebots- und Entscheidungskompetenzen an die Gremien verfolgten bereits das
In einem Landgebot beklagt Herzog Sigmund 1464, wie stark er und seine Räte „mit stättem Nachlauffen von ihnen [den Untertanen] beladen“ wären. Krenner, Landtag-Handlungen (wie Anm. 21) Bd. 5, S. 102– 105.
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erklärte Ziel, die Fürsten von diesem Teil des Regiments zu entlasten. Herzog Georg bekundete offen, nur noch in Ausnahmefällen „ selbst persönlich hören“ zu wollen, was die anreisenden Leute vorbrachten.¹¹⁶ Sein Rückzug wurde im Land nicht gern gesehen, und der Herzog wußte das wohl. Als er 1492, wie berichtet wird, „vilmals wider seinen alten gebrauch selbs in die Räthe gangen und […] auch jedermann verhör gegeben habe“, da tat er das nur, weil er hoffte, bei den Landständen Gutwetter machen zu können.¹¹⁷ Die Ablösung vom Rat und von der direkten Teilnahme an der Beschäftigung mit großen Sachbereichen der inneren Regierung, wie sie bei den bayerischen Herzögen zu beobachten sind, entsprach im übrigen einer allgemeinen Entwicklungstendenz. Nur selten noch, so der generelle Befund zur Lage im Reich, hätten Landesherren im frühen 16. J a h r h undert den Vorsitz im Rat wahrgenommen.¹¹⁸ Ihr persönliches Regiment, das läßt sich den Bestimmungen der Regimentsund Hofhaltungsordnung von 1511 entnehmen, übten die bayerischen Herzöge nicht länger angebunden an das Kollektiv im Hofrat aus, sondern mit Rat und Hilfe weniger Personen ihres besonderen Vertrauens, den schon früh die vertrauten oder die geheimen genannten Räte.¹¹⁹ Als Institution wurde der Geheime Rat erst 1582 eingerichtet, und bei dessen Sitzungen nahm der Landesherr den Vorsitz zeitweise persönlich wahr.¹²⁰ Die Ideale waren in dem Punkt jedoch weit stabiler als die Realitäten. Noch um die Mitte des 16. Jahrhunderts propagierte man die Vorstellung, wonach der gute Fürst von amtswegen seiner Pflicht oblag, wenn „er in den radten sitze und der Armen leute klag hör“.¹²¹ Die Räte selbst forderten 1557 in ihren Bedenken Herzog Albrecht V. mit Nachdruck auf, „wo nicht täglich, doch einige gewisse und benannte Tag in [seinen] Hof- und Kammerrat abgewechselt“ zu gehen und versicherten, „daraus würde s.f.G. einen großen Ruhm, Autorität und Reputation bei mäniglich erlangen und bes. bei
Ebd., Bd. 12, S. 276. Vgl. dazu die Notizen Andreas Perneders in: Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 1594, fol. 30, sowie: Reinhard Stauber, Herzog Georg von Bayern-Landshut (Münchener historische Studien. Abteilung bayerische Geschichte, Bd. 15). Kallmünz 1993 S. 743. Zu dem mit Vorliebe gepflegten schriftlichen Umgang des Herzogs mit den Räten vgl. ebd. S. 812. Willoweit, Verwaltungsorganisation (wie Anm. 34) S. 315. Mit Bezug auf Bayern meinte Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14) 1, S. 425, die Landesherren seien in den Protokollen längere Zeit als Präsidenten des Hofrats geführt worden, doch müsse ihre Teilnahme als sehr unwahrscheinlich gelten. Lanzinner, Fürst, Räte und Landstände (wie Anm. 20) S. 108 – 114. Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2) S. 180 – 183; Lanzinner, Fürst, Räte und Landstände (wie Anm. 20) S. 120, findet für das späte 16. Jahrhundert kaum Belege für einen herzoglichen Vorsitz beim Geheimen Rat. Felix Stieve, Die Politik Baierns 1591– 1607. 2. Hälfte (Briefe und Acten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Bd. 5). München 1883, S. 25 f. Zitat Seidel nach Singer, Fürstenspiegel (wie Anm. 114) S. 253. – Einen „universalhistorisch belegten Haupttopos der deutschen Fürstenspiegel seit dem Mittelalter“ nennt Polley die Herrscherpflicht der Anhörung von Beschwerden der Untertanen über Verwaltung und Justiz. Diese Pflicht sei „grundsätzlich persönlich auszuüben“. Polley, Das nachfriderizianische Preußen (wie Anm. 108) S. 347.
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Landschaft und Unterthanen ein sondere Lieb und Affection“.¹²² Von den Anhörungen der armen Leute, denen der Herzog im Rat beiwohne, war hier allerdings nicht mehr die Rede, und als der abdankende Herzog Wilhelm V. 1594 in seinem Handschreiben an die Räte betont, wenn der Fürst selbst dabei ist, werde im Hofrat ordentliche Arbeit geleistet, meint er damit den disziplinierenden Effekt der fürstlichen Präsenz.¹²³ Aber selbst zu Beginn des 17. Jahrhunderts beschreibt man den guten Fürsten noch als einen, der „fleissig inn die Räth“ geht.¹²⁴ Wenn es auf der Ebene der institutionalisierten Kommunikation auch keine reale Möglichkeit persönlicher Begegnung mehr gab, so fanden leibhaftige Zusammentreffen auf eher informelle Weise gar nicht so selten statt. Als Herzog Maximilian I. sich anschickte, die Alleinregierung des Landes zu übernehmen – seine Regentschaft dauerte von 1598 bis 1651 und bildet in Bayern nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich die Epochenmitte –, legten ihm die Geheimen Räte in einem Memoriale nahe, er möge „auch außer der Audienzen armen Parteien und gleichsam jedermann Gelegenheit zum Vortrag oder zur Überreichung einer Bittschrift geben“. Der Fürst bemerkte in einer Randglosse dazu, „er wolle sich gerne, wo ihn einer treffe, solange aufhalten, bis dieser seine Werbung vorgebracht habe“.¹²⁵ Die Absichtserklärung wurde, wie sich vielfach belegen läßt, tatsächlich verwirklicht. Maximilian I. hat zahlreiche Supplikationsschreiben persönlich entgegengenommen. Allerdings tat er das auf eine Art und Weise, wie es seine Worte schon anzeigen. Er genügte einer moralischen Pflicht mit einem kurzen beiläufigen Innehalten auf dem Weg zu Wichtigerem und der Gestik eines frommen almosenspendenden Menschen. Auch für diese Haltung finden sich die exemplarischen Erzählbilder. Sie zeigen den Herrscher bei der Entgegennahme, dem Anhören oder zumindest dem SelbstLesen von Supplikationen. Der Kaiser, so verbreitet sich die Münstersche Cosmographie 1588 über das Tagewerk Karls V., ist fromm und mäßig, vor dem Morgenmahl und gegen Abend „hört er die Händel“, und „nach Mittag hört er jederman Supplicatze“.¹²⁶ Herzog Maximilian I. lebt, so eine zeitgenössische Beschreibung des Münchner Hoflebens, „gar eingezogen“, fromm und fleißig, „hört alle Morgen seine Meß, und wenn
Das Gutachten der Räte hier zitiert nach dem Druck bei Rosenthal, Gerichtswesen (wie Anm. 14) 1, S. 583 – 590, hier 585. Die eigenhändig verfaßte Stellungnahme Wilhelms V. zur Abdankungsempfehlung, die eine Kommission der Räte ihm gegeben hatte, ist veröffentlicht bei: Friedrich Anton Wilhelm Schreiber, Geschichte des bayerischen Herzogs Wilhelm V. des Frommen. München 1860 S. 271– 279, hier 277, auch 274. – Die Anwesenheit Herzog/Kurfürst Maximilians I. (1598 – 1651) im Hofrat läßt sich über die Protokolle nicht nachweisen, hingegen soll es Belege für die Präsenz Kurfürst Max Emanuels (1669 – 1726) im Hofrat geben. Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2) S. 100. Christian Häutle, Die Reisen des Augsburgers Philipp Hainhofer, in: Zeitschrift des Historischen Vereins Schwaben 8. 1881 S. 1– 316, hier 79. Hainhofer schildert das tugendsame Leben am Münchner Hof. Riezler, Geschichte Baierns (wie Anm. 20) 6, S. 91. Sebastian Münster, Cosmographey Oder beschreibung Aller Länder etc. Basel 1588 (ND Grünwald 1977) S. 457.
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er dazu oder davon geht, nimmt er von den armen Unterthanen die Supplicationes an“.¹²⁷ Die berühmte Rede des Donaubauern, jenes idealisierten Supplikanten und aufrechten Kritikers verlotterter Herrschaft vor dem römischen Senat, wurde von Antonio de Guevera, dem Hofprediger und Chronisten dieses vorbildlichen Kaisers, in Spanien publiziert und sieben Jahrzehnte später von Aegidius Albertinus, dem Ratssekretär des ebenso vorbildlichen Fürsten, ins Deutsche übertragen und mehrfach gedruckt.¹²⁸ Die Erzählmotive weisen im Lauf der Zeiten informative charakteristische Wandlungen auf. Das lehrt etwa die Geschichte der Jagdidylle, die spätestens nachdem Kaiser Maximilian I. sie in seinem Jagdbuch ausgemalt hatte, an den Fürstenhöfen zirkulierte. Der Kaiser pries nicht nur den gesundheitlichen Nutzen und das Vergnügen, das die Jagd bereite, sondern empfahl einem künftigen Landesherrn, die Pürsch auch „zw trost“ seiner Untertanen vorzunehmen. Er würde ihnen auf diese Weise bekannt werden, und Arm und Reich könnten „teglichen an solhen waidbetrieb iren zwgang […] haben, sich irer nott zu beklagen und anbringen“. Ja, mehr noch, der Fürst solle einige Räte und den Sekretär mitnehmen, damit er den „gemain man“, der ihn „besuechen“ würde, abfertigen könne, was auf der Jagd besser als in Häusern geschehe.¹²⁹ Der Nachklang dieser Idee ist im Seidelsehen Fürstenspiegel zu hören, wenn der ideale Fürst erklärt, er wolle das „gantz land durchziehen und alltenhalben jagen, damit die arme leut jrn zugang zu mir haben und jr not mir selbs klagen mügen“. Er gedachte dadurch auch zu erfahren, welche Beschwerden man in seinem Land habe und wie seine Amtleute arbeiteten.¹³⁰ Nur noch ein fernes, schon stark verzerrtes Echo ist im Testament Landgraf Philipps von Hessen aus dem Jahr 1562 vernehmbar. Der Fürst betont den Zugewinn an ungefilterter Information, den die Jagd einem Herrn biete, und meint dann nebenbei, es könne dort auch „mancher armer Mann fürkommen, der nicht sonstet zugelassen wirdet“.¹³¹ Nicht von den Jagdrevieren der Fürsten, sondern von den Städten ihres Landes, die sie regelmäßig besuchen mögen, ist 1711 im Mundus Christiano-bavaro-politicus die Rede. Dadurch „kommen sie in Erkenntnis ihrer Untertanen, so sie zu regieren haben“, und ihre Macht wird gestärkt da die Pracht ihres Auftritts den „Untertanen in ihre Gemüter den schuldigen Ge-
Riezler, Geschichte Baierns (wie Anm. 20) 5, S. 681, nach der Schilderung des Augsburgers Hainhofer. Vgl. dazu Norbert Bayrle-Sick, Gerechtigkeit als Grundlage des Friedens. Analyse zentraler politisch-moralischer Ideen in Antonio de Guevaras Fürstenspiegel. Nach der Übersetzung des Aegidius Albertinus, in: Politische Tugendlehre und Regierungskunst. Studien zum Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Otto Mühleisen/ Theo Stammen (Studia Augustana 2). Tübingen 1990, S. 9 – 69. – Soweit ich sehe, ist die Supplikation als literarisch-politische Gattung der frühen Neuzeit bislang nicht systematisch untersucht worden. Theodor G. von Karajan ( Hg.). Kaiser Maximilians I. geheimes Jagdbuch. Wien 21881 S. 23 f. Zitat Seidel nach Singer, Fürstenspiegel (wie Anm. 114) S. 262. Zitat nach Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 22) 28, S. 116.
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horsam fast tief eindrücke(n)“.¹³² In diesem politischen Programm geht jeder Impuls von oben aus. Jeder aktive Schritt im Verlauf der physischen Begegnung von Untertan und Herrscher wird als Initiative des Herrn vorgestellt. Der Fürst kommt, produziert sich und „verursacht“ mit seinem Anblick bei den Untertanen „einen mehrern Gehorsam und Respekt“.¹³³ Tatsachen zum Thema ‚eine Begegnung mit dem Landesherrn auf Initiative des Untertanen‘ lassen sich derzeit hingegen nur wenige berichten. Zu den fürstlichen Audienzen am Hof hatten die einfachen Untertanen während der frühen Neuzeit offenbar keinen Zutritt¹³⁴, jedenfalls gibt es bislang erst aus der Zeit des späten Ancien Régime Belege dafür, daß bäuerliche Abgeordnete in der landesfürstlichen Residenz empfangen worden wären.¹³⁵ Das frühneuzeitliche Zeremoniell sah zwei Situationen bzw. Orte vor, an denen eine Begegnung des supplizierenden Untertanen mit seinem Landesherrn für statthaft gehalten wurde. Vom institutionalisierten administrativen Betrieb her betrachtet lagen sie ähnlich im Abseits wie die Jagden. Es handelte sich um die fürstliche Tafel und den fürstlichen Kirchgang. Der bayerische Herzog speiste, gegen Ende des 16. Jahrhunderts jedenfalls, entweder „in der camer“ oder er hielt „hervornen in publico die tafel“.¹³⁶ Wenn er sich nun von dieser Tafel erhob, mochte er Personen, die mit einem Vortrag oder einer Bittschrift an ihn herantraten, anhören. Ob bis zu diesem Ort je ein ländlicher Untertan vordrang, darf man bezweifeln. So blieb dem normalsterblichen Kontaktsuchenden der Kirchgang des Fürsten, seine Fahrten von und zu den verschiedenen Gotteshäusern in der Stadt.¹³⁷ Er war in jedem Fall auf einen Auftritt des Fürsten in der Öffentlichkeit angewiesen, der sich für ihn, einen des fürstlichen Tagesablaufs Unkundigen, mehr oder minder zufällig ereignen mußte.
Jürgen Frh. von Kreudener, Die Rolle des Hofs im Absolutismus (Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 19). Stuttgart 1973 S. 81– 84, Anhang: Mundus Christiano-bavaro-politicus, Bd. I, Kap. 2 (Auszug), S. 82; Hubert Ch. Ehalt, Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 14). München 1980 S. 138. Mundus Christiano-bavaro-politicus, in: Kreudener, Die Rolle des Hofs (wie Anm. 132) S. 81. Es finden sich bislang keine Hinweise dazu. Zur Handhabung und Trennung des öffentlichen und des privaten Bereichs am bayerischen Hof, dessen Zeremoniell sich diesbezüglich stark von den französichen Gewohnheiten unterschied, vgl. Samuel John Klingensmith, The Utility of Splendor. Ceremony, Social Life, and Architecture at the Court of Bavaria, 1600 – 1800. Chicago usw. 1993, zu den Audienzen S. 15. – Der Zugang zum Kurfürsten war dem Normaluntertan nach der Kölner Hofordnung von 1726 offenbar gänzlich verbaut: „Der ‚gemeine Mann‘ konnte nicht zum Kurfürsten gelangen, es sei denn, er kam zu ihm heraus und hörte sich oben auf der Stiege stehend seine Suppliken an.“ Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 103). Göttingen 1994 S. 163. Wilhelm Hanseder, Tumultuarische Auftritte. Lokale Unruhen in Bayern an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Oberbayerisches Archiv 113. 1990 S. 231– 287, hier 256 – 258. Speiss-Küchen und KellerOrdnung 1589, in: Heinrich Föringer, Anordnungen über den herzoglichen Hofhalt in München während des sechszehnten Jahrhunderts, in: Oberbayerisches Archiv 9. 1847/48 S. 97– 138, hier 114. Nach dem undatierten Memoriale der Räte (ca. 1598). Riezler, Geschichte Baierns (wie Anm. 20) 6, S. 91.
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Der Akt der ‚Begegnung‘ dürfte sich normalerweise in der Übergabe des Schreibens erschöpft haben, jedenfalls wird – vor dem 18. Jahrhundert – nirgends von einem Wortwechsel zwischen Fürsten und Petenten berichtet. Die Funktionen des Vorgangs können in einer Art Ventilwirkung für starke Emotionen der einen Seite und als Gelegenheit, gute Herrschaft zu demonstrieren, auf der anderen gesehen werden. Der Sinn der Aktion sollte in der Szene selbst gesucht werden, denn die persönlich überreichten Schriften durchliefen anschließend den administrativen Routineweg aller Supplikationen. Die persönliche Übergabe einer Supplikation an den Fürsten wirkte deutlich aggressiver – auch wenn die Kontaktaufnahme mit betont friedfertigem Gestus erfolgte –, sobald eine größere Schar von Untertanen den Überbringer des Schreibens begleitete.
3 Demonstranten vom Land – Geschrei in der Stadt Am 27. März 1525 ließ Herzog Wilhelm IV. „auf der von Gulching suplicirn den armen leutn sagen“, er werde ein gnädiges Einsehen haben und Anordnung treffen, damit sie künftig nicht mehr über Schaden, den das Wild auf ihren Feldern anrichte, zu klagen hätten.¹³⁸ Die Gemeinde Gilching war auch in der erregten Atmosphäre des Frühjahrs 1525 den üblichen Beschwerdeweg gegangen, hatte also eine Supplikation verfaßt und in der Hofkanzlei eingereicht. Anderen Bauerngemeinden schien diese Gangart der Situation nicht angemessen. Ihre große Sorge – das Wildbret – und ihr Adressat – der Landesherr – waren dieselben, aber sie beabsichtigten, massiver aufzutreten. In den Tagen, als die Gilchinger in München supplizierten, trafen sich in Weilheim auf dem Markt die Männer der östlich vom Ammersee gelegenen Orte Erling, Machtlfing und Frieding und beratschlagten darüber, was zu tun sei.¹³⁹ Sie verabredeten, „das sich ain gmain gen heiligen perg verfuegen und in ainer gmain versammlung gen hof ziehen und sich ob dem wild beschwärn solle“.¹⁴⁰ Sie wollten also in Andechs, auf dem Heiligen Berg, zusammenkommen und von dort aus den Weg nach München, das sind in etwa fünf
Kanzleivermerk auf der Rückseite der Supplikation. Günther Franz, Der deutsche Bauernkrieg. Aktenband. Darmstadt 1968 Nr. 38, S. 176. Joseph Edmund Jörg, Deutschland in der Revolutions-Periode von 1522– 26 aus den diplomatischen Correspondenzen und Original-Akten bayrischer Archive. Freiburg i. Br. 1851 S. 372; Wilhelm Vogt, Die bayrische Politik im Bauernkrieg und der Kanzler Dr. Leonhard von Eck, das Haupt des schwäbischen Bundes. Nördlingen 1883 S. 135; Reinhard Riepertinger, Typologie der Unruhen im Herzogtum Bayern 1525, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 51. 1988 S. 329 – 386, hier 356. Helmut Rankl, Gesellschaftlicher Ort und strafrichterliche Behandlung von „Rumor“, „Empörung“, „Aufruhr“ und „Ketzerei“ in Bayern um 1525, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 38. 1975 S. 524– 569, hier 536; Riepertinger, Typologie (wie Anm. 139) S. 356. – Ich folge der Argumentation Riepertingers, wonach es sich bei den Vorgängen, die im Bericht des Landsberger Pflegers Eglofstein vom 23. März zur Sprache kommen, um dieselben Ereignisse handelt, die in der Urfehde Thoman Kramers vom 26. April berichtet werden.
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Meilen, gemeinsam zurücklegen, um persönlich und in großer Anzahl klagend vor dem Herzog zu erscheinen. Ähnliches wie hier im Westen zu beobachten war, ereignete sich knapp zwei Wochen später auch im Osten der Stadt. Aus dem Gericht Schwaben meldete der Landrichter am 3. April mit eiligem Brief dem Herzog, drei Bauern hätten das Gebiet des Gerichts unter sich in Bezirke aufgeteilt, in denen sie herumzögen und die Einwohner alarmierten. Als die Leute am Sonntag in den Dörfern versammelt waren, hätten die drei dazu aufgerufen, am „schiristen pfintztag nach dato ungefarlich um die zehent ur vormittag ausserhalb Munchen auf dem Laymbweg all zusamen [zu] komben; alsdann wellen sy“, so hatte der Landrichter erfahren, „gemainlich an E.F.G. ain begerung tun, ob inen durch E.F.G. genediglich zuegeben, das wiltprat mit den hunden von den veldern zu hetzen“. Nicht alle Bauern hätten zugestimmt, doch habe „der merer tayl solhen zug angenomben“.¹⁴¹ Großräumiger plante man zwei Wochen später im Süden Münchens. „Ain ratt vnd versamlung“ der Bauern hatte am Ostersonntag in Holzkirchen beschlossen, „das aus Ayblinger und Wolfartzhauser gericht ain zbeytawsendt pawren sollen gen Munchen auf das gasttag zusamen komen und geschray und clag uber das wyldpratt machen“. Auch die Wasserburger Bauern würden sich anschließen, wußte der Aiblinger Kastner zu melden, und am Donnerstag nach dem Georgentag „all zu munchen sein“.¹⁴² Ende Mai wurde derselbe Plan möglicherweise noch einmal in Erwägung gezogen. Die Vierer und Obleute, die Vertreter der Gemeinden im Gericht Wolfratshausen sollen ihrem Landrichter bedeutet haben, sie wären willens – so die Worte des Beamten – „sich zusammenzurotten und am Pfingstdienstag vor den herzog selbst zu gehen. Jeder der komme, müsse ein Pfund Heller mitbringen“.¹⁴³ Die zwischen dem 23. März und dem 30. Mai 1525 projektierten bäuerlichen Massenauftritte am herzoglichen Hof in München waren nicht koordiniert oder aufeinander abgestimmt. Ein Zusammenhang unter ihnen mag jedoch insofern bestanden haben, als sich die Projektidee durch Hörensagen verbreitet haben dürfte. Die Andechser, Schwabener und Aibling/Wolfratshausen/Wasserburger Aktivitäten folgten in vierzehntägigem Abstand auf einander, während aus der Zeit vor 1525 das Aktionsmuster nicht überliefert ist.¹⁴⁴ Franz, Bauernkrieg Aktenband (wie Anm. 138) Nr. 41, S. 178. Ebd. Nr. 43, S. 179. Vogt, Die bayrische Politik (wie Anm. 139) S. 153. „daß die Methode, Massenumzüge an den Hof zu veranstalten, dem normalen Konfliktverhalten der bayerischen Bauern entsprach“, – so Riepertinger,Typologie (wie Anm. 139) S. 357– kann ich nicht erkennen. Mit den Supplikationsartikeln der Landesordnung von 1516 ist die Aussage nicht zu belegen, nicht im Supplizieren, sondern im Massenauftritt vor dem Herrscher liegt die Brisanz. Doch mag die Idee damals in der Luft gelegen haben. Im Hochstift Eichstätt löste im Juni 1524 die Entwaffnung, die ein bischöflicher Jäger an einem Dollnsteiner vornahm, der einen Hasen geschossen hatte, große Empörung aus. Die Marktbewohner holten nicht nur die Waffe zurück, sondern sandten auch Boten in die umliegenden Orte aus, die dazu aufforderten, sich an einem bestimmten Tag in Eichstätt zu versam-
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Die erhaltenen Berichte handeln alle von der Vorbereitung der Züge gen Hof: der Mobilisierung der Bauerngemeinden durch engagierte Aktivisten oder beauftragte Agenten der Nachbargemeinden, der Versorgung mit Reisespesen¹⁴⁵, der Beschlußfassung in den Gemeinden, den vorgesehenen Terminen und Treffpunkten. Als spontan im Sinne von Hals über Kopf könnte man diese Auftritte – wären sie zustande gekommen – nicht charakterisieren. Die beteiligten Bauernschaften wohnten innerhalb eines Bogens von 30 bis 50 km im Süden, Südwesten und Südosten der Stadt, bis zu einer starken Tagesreise entfernt. Mindestens eine Übernachtung mußte jeder Teilnehmer einplanen. Man verabredete einen Sammelplatz vor den Toren der Stadt. Die Bauern des Gerichts Schwaben, die aus dem Osten kamen, wollten sich um zehn Uhr morgens „auf dem Laymbweg“ treffen, die zweitausend Mann aus den südlicher gelegenen Landgerichten auf dem Gasteig.¹⁴⁶ Es ist anzunehmen, daß sie an diesen Orten ihre Waffen abgelegt und deponiert hätten¹⁴⁷, bevor sie jeweils gemeinsam durch das Isartor eingezogen wären und den Weg zur nahen herzoglichen Residenz zurückgelegt hätten, wo sie ihr „geschray und clag“ vorzubringen gedachten. Es mag Zufall gewesen sein, wenn die Bauern vom Ostufer des Ammersees ihren Zug zur Stadt in anderer Weise durchzuführen planten. Aber bemerkenswert bleibt doch, daß gerade sie verabredeten, bereits den gesamten Weg in gemeinsamem Zug zurückzulegen: vom Heiligen Berg Andechs bis zum herzoglichen Hof in München. Eine – mehrfach – verkehrte Wallfahrt?¹⁴⁸
meln. Seger, Bauernkrieg im Hochstift Eichstätt (wie Anm. 24) S. 164 f. Nur sehr bedingt lassen sich Parallelen zum Zug der 12 000 (16 000) Wallfahrer aufzeigen, die 1476 von Niklashausen nach Würzburg zogen, um den gefangenen Prediger zu befreien. Klaus Arnold, Niklashausen 1476 (Saecula spiritualia Bd. 3). Baden-Baden 1980 S. 113 – 120, Nr. I, 13 – 20.Vgl. auch Bauer, Gnadenbitten (wie Anm. 64) S. 73, 81, 88. In seiner Urfehde vom 26. Apr. 1525 bekennt Thoman Kramer unter anderem, er habe von seinen Nachbarn „gelt daran genomen, gen heiligen perg zuziehen und die sag, das sich ain gmain doselbsthin verfuegen“ solle, zu verbreiten. Rankl, Gesellschaftlicher Ort (wie Anm. 140) S. 536. – Vogt, Die bayrische Politik (wie Anm. 139) S. 153. Auf dem „Laymbweg“ = Berg am Laim (?) und „Gasteig“ liegen auf dem rechten Isarufer der Stadt gegenüber. – In zwei der Fälle, in denen genauere Angaben gemacht werden (Gericht Schwaben und Gerichte Aibling/ Wolfratshausen/ Wasserburg), fanden die Versammlungen der Bauernschaften an einem Sonntag statt, und es wurde verabredet, an einem Donnerstag, in einem Fall am nächsten, im anderen am übernächsten, in München zu sein. Die bayerischen Bauern waren 1525 bewaffnet. Sigmund Riezler, Die treuen bayerischen Bauern am Peissenberg (Mai 1525), in: Sitzungsberichte der philos.-philol. u. d. hist. Classe der k. b. Akademie der Wissenschaften Jg. 1891. München 1892 S. 701– 770. Vgl. auch den Fall des Thoman Kramer in: Rankl, Gesellschaftlicher Ort (wie Anm. 140) S. 536. Daß sie als bewaffnete Menge schwerlich Einlaß in der Stadt erhalten hätten, darf man annehmen. Im Jahr 1633, in etwa vergleichbarer Lage, deponierten die Bauern vor der Stadt Wasserburg ihre Wehre in einer Kapelle. Die ‚Verkehrung‘ wäre in der Umkehrung der Bewegungsrichtung und des Zielortes sowie im profanen Gebrauch eines sakralen Ritus zu sehen. – Die Kollektivwallfahrt, der gemeinschaftliche Bittgang zu einer besonderen Gnadenstätte, hatte sich als neue Kultpraxis im späteren 15. Jahrhundert ausgebreitet. Auf dem Heiligen Berg kamen seit eben dieser Zeit auch die feierlichen Züge der Kirchfahrer aus der Stadt München an. Mit besonderem Eifer pflegte die herzogliche Familie ihre Beziehung
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Die Züge gen Hof dürften 1525 kaum zustande gekommen sein, mit Sicherheit erfolgten sie nicht im geplanten Umfang. Die angespannte Lage jenseits der Landesgrenzen hatte die Aufmerksamkeit der Beamten gesteigert, „Rottierungen“, zu denen diese Art von Veranstaltungen erklärt wurde, wurden im Keim erstickt. Nach zeitlos bewährtem strategischen Muster verhaftete man die Sprecher und Organisatoren unter den Bauern, mahnte die übrigen vom Vorhaben ab und verwies sie auf den gewöhnlichen Beschwerdeweg, oder machte gelegentlich, immer nur im Einzelfall, auch minimale Zugeständnisse: auf landesherrliche Weisung gestatteten die Beamten auf dem Land besonders aufgebrachten Gemeinden die Haltung von Hunden.¹⁴⁹ Der Aktions-Typus ‚Zug-gen-Hof‘ war damit aber nicht aus der Welt geschafft. Aus dem späten 16., dem 17. und dem 18. Jahrhundert ist eine Reihe weiterer Züge an den Hof überliefert, wobei der bewaffnete Marsch auf die Stadt, den die Oberländer 1705 zur Befreiung des Landes unternahmen¹⁵⁰, hier außer Betracht bleibt, auch wenn mögliche Traditionslinien zu bedenken wären. Die relativ geringe Anzahl derzeit bekannter Züge – es sind etwa 20 – gestattet nicht, die Frage, ob diese Art und Weise der Beschwerdeartikulation ein im Land allgemein geläufiges Handlungsmuster war, einfach zu bejahen. Es wäre auch eine spontane Wiedergeburt der Idee an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten denkbar. Die Unternehmen, von denen man weiß, standen alle im Zusammenhang mit einem Untertanenkonflikt. Weiterer Aufschluß ist deshalb zu erwarten, wenn ein größerer Teil des Quellenmaterials von den Auseinandersetzungen der Untertanen mit ihren Obrigkeiten erschlossen sein wird. Normative Quellen, Rechtsbücher, Ordnungen und Mandate sprechen das Phänomen nicht an. Die Züge wurden als Institution von Obrigkeit und Landesherrschaft weder akzeptiert noch theoretisierend diskutiert, sie blieben in Programm und Ausführung ein Produkt der Untertanen und der Praxis. Hier kann nach Lage der Dinge daher nicht mehr geboten werden als ein Register, in dem das Nachrichtenmosaik aus dem Vollzugsraum festgehalten ist.¹⁵¹ zu Andechs. Wolfgang Brückner, Zur Phänomenologie und Nomenklatur des Wallfahrtswesens und seiner Erforschung, in: Volkskultur und Geschichte. Festgabe für Josef Dünninger zum 65. Geb. Hg. Dieter Harmening/ Gerhard Lutz/ Bernhard Schemmel/ Erich Wimmer. Berlin 1970 S. 384– 424, hier 402– 404; ders., Das Problemfeld Wallfahrtsforschung oder: Mediaevistik und neuzeitliche Sozialgeschichte im Gespräch, in: Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und Früher Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 14).Wien 1992 S. 7– 26, hier 22. Zur Lage in Bayern 1525 vgl. die genannten Arbeiten von Vogt, Riezler, Rankl und Riepertinger, sowie Fritz Zimmermann, Unbekannte Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs 1525, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27. 1964 S. 190 – 234. Auf den Demonstrationsaspekt des Zuges verweist Klaus Gerteis, Regionale Bauernrevolten zwischen Bauernkrieg und Französischer Revolution, in: Zeitschrift für Historische Forschung 6. 1979 S. 37– 62, hier 54. Zur Geschichte vgl. Henric L. Wuermeling, Volksaufstand – Die Geschichte der Revolution von 1705 und der Sendlinger Mordweihnacht. München 1980. Zur Differenzierung eines Vollzugsraumes (oral, Körpereinsatz) von einem Raum der Programmatik (skriptural) vgl. Friederike Hassaur, Extensionen der Schrift. Textualität, Ritual und Raumvollzug im Mittelalter. Das Paradigma Santiago de Compostella. München 1992.
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Die geographische Verteilung der Herkunftsorte läßt auch die Option einer regional begrenzten Tradition offen. Bekannt geworden sind derartige Züge aus dem Gebiet der Grafschaft Haag¹⁵² und dem Gericht Ebersberg östlich der Stadt¹⁵³ sowie aus Raab, sehr viel weiter im Osten jenseits des Inns im Landgericht Schärding¹⁵⁴, aus den Hofmarken und Gerichten Rottenbuch¹⁵⁵, Steingaden¹⁵⁶, Ammergau¹⁵⁷ und aus dem Markt Murnau¹⁵⁸, alles benachbarte Gebiete im Südwesten Altbayerns, sowie aus Utting am Ammersee¹⁵⁹ und aus Scheyern an der Ilm, das in nördlicher Richtung liegt.¹⁶⁰ Man mag sich bei dieser Aufzählung, wie übrigens auch schon anläßlich der Nennung der Aktionspläne von 1525, an den Ausspruch Kaspar von Schmids bezüglich der „gebürg bauren“ und ihres „geschreys“ in der Stadt erinnert fühlen. Mit Ausnahme der Raaber kamen alle Gruppen aus dem Rentamt München. Das charakteristische Kennzeichen der Züge an den Hof ist die auffallende Menge der Teilnehmer. Von wie vielen Personen ist hier die Rede, und was sagen die genannten Zahlen aus? Bei den absoluten Mengenangaben schwankt der Grad der Genauigkeit zwischen großzügigen Formulierungen wie „mit grosser Versamblung“ (Rottenbuch 1618)¹⁶¹ oder „sammentlich“ (Rottenbuch 1619, Scheyern 1646)¹⁶² und Schätzungen wie „zu 100 oder 200 starck, hundert oder mehr pawren, gegen 100 Pauren, gegen 80 Untertanen“ (Haag vor 1596, Ebersberg 1606, Steingaden 1716 Mai
BayHStA, Gerichtsliteralien (GL) Haag 42, Nr. 2. Instruktion Herzog Maximilians I. für die Haager Kommissare vom 6. Jan. 1596 mit Randnotizen Herzog Wilhelms V. Stefan Breit, Die ganze Welt in der Gemain. Ein paradigmatischer Fall aus Bayern, in:Wald – von der Gottesgabe zum Privateigentum. (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 43). Hg. Stefan von Below/ Stefan Breit. Stuttgart 1998 S. 57– 236, hier 138 f. Sigmund Riezler, Der Aufstand der bayerischen Bauern im Winter 1633 auf 1634, in: Sitzungsberichte der philos.-philol.u. d. hist. Classe der k. b. Akademie der Wissenschaften zu München, Jg. 1900. München 1901 S. 33 – 95, hier 36. Die Untertanen des Stiftes Rottenbuch zogen im Zeitraum zwischen Juni 1618 und August 1628 mehrmals als große Versammlung nach München. Renate Blickle, „Spenn und Irrung“ im „Eigen“ Rottenbuch. Die Auseinandersetzungen zwischen Bauernschaft und Herrschaft des Augustiner-Chorherrenstifts, in: Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. Hg. Peter Blickle, München 1980 S. 69 – 145, hier 103 f., 110, 112, 128. BayHStA, Civilakten Fasz. 1201, Nr. 43. Schreiben des Steingadener Abtes an den Hofrat in München vom 24. Mai 1716 und vom 14. Okt. 1716. BayHStA, Civilakten Fasz. 1452/702 I, fol., 408, 411’. Supplikation ad manus der Ammergauer Bauernschaft, 1728. Simon Baumann, Geschichte des Marktes Murnau. Murnau 1855 S. 99. P. Magnus Sattler, Chronik von Andechs. Donauwörth 1877 S. 602 f.; Wilhelm Neu, David Hofmayer und der „Uttinger Bauernaufstand“ 1758 – 71, in: Lech-Isar-Land. 1981 S. 25 – 53, hier 42 f., 46, 50. Bernhard Hanser, Kloster Scheyern. Rechtsgeschichtliche Forschungen. München 1920 S. 75. BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 139, fol. 215 f.; Schreiben des Hofrats an den Propst von Rottenbuch, 8. Juni 1618. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 150’-152 (zu Rottenbuch 1619). Hanser, Kloster Scheyern (wie Anm. 160) S. 75.
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und Oktober)¹⁶³, oder auch Auf- oder Abrundungen wie 200 (Rottenbuch 1620, 1628)¹⁶⁴ und präzisen Zählungen wie 59 (Murnau 1698)¹⁶⁵, 117 (Ammergau 1728)¹⁶⁶ und 130 bzw. 126 Personen (Utting 1764, 1769).¹⁶⁷ Auch die relativen Quantitäten lassen sich nicht über einen erklärenden Leisten schlagen. Wenn aus Rottenbuch mehrmals um die 200 Personen nach München ziehen und aus Utting 130 bzw. 126, kann das nur bedeuten, hier sollte jedes einzelne Hauswesen durch einen Teilnehmer vertreten werden. Zur Hofmark Rottenbuch gehörten damals ca. 260¹⁶⁸, zu Utting ca. 140 Anwesen.¹⁶⁹ In diesen Gemeinden wurde die Teilnahme als eine Pflicht eingefordert, in Utting erhob man von Säumigen 15 Kreuzer Strafgeld.¹⁷⁰ Nur in diesen Fällen wird auch die Beteiligung von Frauen erwähnt.¹⁷¹ Dagegen sind die ein- oder zweihundert Haager, die wiederholt nach München zogen, als eine starke Abordnung der Grafschaftsbauern aufzufassen – Haag zählte zur fraglichen Zeit etwa 1500 Haushalte.¹⁷² Auch bei den 117 Ammergauern wird es sich um eine Delegation oder einen erweiterten Ausschuß gehandelt haben, jedenfalls bildeten sie die rund 570 Haushalte des Gerichts nicht eins zu eins ab.¹⁷³ Die personengenauen Teilnehmerzahlen basieren auf Angaben der Untertanen und letztlich wohl – im Fall Utting ist das belegt – auf Abrechnungen mit der Gemeindekasse.¹⁷⁴ Öffentliche Aufmerksamkeit dürften die angeführten Mengen gen-Hof-laufender Untertanen allemal erregt haben. Die Norm oder die erlaubten Quantitäten überschritten diese Zahlen aus der Praxis bei weitem. Die kritische Menge für den Tatbestand des Landfriedensbruchs sahen die gelehrten Juristen der frühen Neuzeit in Anlehnung an die römischen turba-Umschreibungen bei 10 bis 15 gewaltbereiten Personen.¹⁷⁵ Die Größenordnung mag einen Anhalt für theoretische Überlegungen
BayHStA, GL Haag 42, Nr. 2. – Breit, Die ganze Welt in der Gemain (wie Anm. 153) S. 138. – BayHStA, Civilakten Fasz. 1201, Nr. 43; 24. Mai 1716 und 14. Okt. 1716. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 192’ f.; Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 27 208, fol. 20 (zu 1628). Baumann, Murnau (wie Anm. 158) S. 99. BayHStA, Civilakten Fasz. 1452/702 I, fol. 411’. Sattler, Chronik von Andechs (wie Anm. 159) S. 602; Neu, David Hofmayer (wie Anm. 159) S. 42, 46, 50. Blickle, „Spenn und Irrung“ (wie Anm. 155) S. 75. Die zum Kloster grundbaren Hofstellen nach BayHStA, KL Rottenbuch Nr. 32. Neu, David Hofmayer (wie Anm. 159) S. 25. Ebd. S. 50. Ebd. S. 42 f.; Blickle, Die Supplikantin (wie Anm. 64). Renate Blickle, Die Haager Bauernversammlung des Jahres 1596, in: Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther Franz zum 80. Geburtstag. Hg. Peter Blickle. Stuttgart 1982 S. 43 – 73, hier S. 48. Dieter Albrecht, Die Klostergerichte Benediktbeuren und Ettal (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, Heft 6). München 1953 S. 39 – 42. Neu, David Hofmayer (wie Anm. 159) S. 42, 50. Heinz Holzhauer, Landfrieden II (Landfrieden und Landfriedensbruch), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2, Berlin 1978 Sp. 1465 – 1485, hier 1482. – Die Übergabe einer Petition
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abgegeben haben, im Kontext der gesetzlichen Regelungen und der Zugpraktiken spielte sie keine Rolle. Zwei oder drei, allenfalls vier Abgesandte hielten die Landesfürsten für völlig ausreichend, wenn eine Bauernschaft schon glaubte, Beschwerden anbringen zu müssen.¹⁷⁶ Der Entschluss einer Gemeinde, den Landesfürsten persönlich anzulaufen, mag von einem besonderen, als negativ empfundenen Ereignis ausgelöst worden sein¹⁷⁷, zu erkennen sind derartige Anlässe allerdings nur gelegentlich. Alle Gemeinden, bei denen dieser Plan auftauchte, waren in eine prozessuale Auseinandersetzung mit ihrer lokalen Obrigkeit verwickelt oder weigerten sich nach abgeschlossenem Verfahren, den Entscheid zu vollziehen. Ein neuralgischer Punkt in der Prozeßchronologie läßt sich jedoch nicht ausmachen. Als die Steinhöring-Ebersberger Bauern im April 1606 in München erschienen und eine Supplikation überreichten, befanden sie sich erst in der Vorbereitungsphase zu einem ordentlichen Gerichtsverfahren und waren aus Zorn über die Finten und Taktiken des Lokalbeamten, der ihre Bemühungen torpedierte,
durch 10 Personen erlaubte das Gesetz vom 14. Dez. 1789 in Frankreich, später waren Kollektivpetitionen allerdings wieder untersagt, nach 1830 aber stillschweigend geduldet. Karg, Petition (wie Anm. 22) S. 11– 15. – Von mehr als 20 Personen eingebrachte Petitionen wurden in England 1648/1661 unter Strafe gestellt, wenn sie Veränderungen in Kirche und Staat forderten. Ebd. S. 9. Belege zu den Zahlen: 1592 wurde den Haager Bauern geboten, sie sollten keine „zusamenkhonft oder rotierung“ mehr vornehmen, Beschwerden sollten „Ir 2. oder 3.“ dem Landrichter anzeigen. BayHStA, GL Haag Nr. 53 1/2, Prod. 2, 5. – Eine herzogliche Instruktion für die hofrätlichen Kommissare, die im Januar 1596 an die Ostgrenze gesandt wurden, ordnete an, daß die Bauern obmannschaftsweise vorgeladen und ihnen u. a. bekanntgegeben würde, wie sie bei künftigen Beschwerden vorzugehen hätten: Danach sollten „der oder dieselben, ein yegelicher für sich selbs, oder doch mit vorwissen der nachgesezten Obrigkhaiten, durch einen ausschuß von 2. 3. oder 4. Mannen solliche beschwernussen angebürender ortten oder auch bey vnns (‚vnns’ ist durchgestrichen – Maximilian I. war damals noch Mitregent – und dafür an den Rand geschrieben: Ir[er] D[urch]l[auch]t vnserm g[nädig]st gelibten H[ err] n vattern [Herzog Wilhelm V.]) selbs ordentlichen clagsweis fürbringen, sie sollten aber durchaus nicht zusamen lauffen, sich rottiern, beschreiben lassen oder zusamen verbünden oder schweren etc bey verliehrung Irer Leib, Ehr vnnd güetter.“ Instruktion Herzog Maximilians I. vom 17. Jan. 1596; BayHStA, GR Fasz. 1230. – Das Erscheinen der Steinhöring/Ebersberger 1606 wurde von Herzog Maximilian I. scharf kritisiert, die Aktion hätte allenfalls von wenigen unternommen werden sollen. Breit, Die ganze Welt in der Gemain (wie Anm. 153) S. 138. – „Mehr als drei“ sollten sich nicht auf den Weg nach Linz begeben, riet man 1739 den Untertanen der Klosterherrschaft Garsten, die sich bei der oberösterreichischen Landeshauptmannschaft über das Wild beschweren wollten. Da sie von ihrem Plan nicht abzubringen waren, empfahl man ihnen, nicht in einer Richtung nach Linz zu reisen, in Linz nicht an einem Ort, sondern an mehreren einzukehren und gleichzeitig „nie mehr als drei Personen beim landeshauptmannschaftlichen Gericht anzumelden“. Georg Grüll, Bauer Herr und Landesfürst. Sozialrevolutionäre Bestrebungen der Oberösterreichischen Bauern von 1650 bis 1848. Graz usw. 1963 S. 359. Zu einem „Protestmarsch“, zu dem sich 180 Untertanen aus Gföll in Niederösterreich am 13. Oktober 1771 in Wien eingefunden hatten, kamen die Teilnehmer „einzeln und in kleinen Gruppen“. Ebd. S. 426. Zum Ereignischarakter von Umzügen, in diesem Fall städtischer Prozessionen im Spätmittelalter, vgl. Gabriela Signori, Ritual und Ereignis. Die Straßburger Bittgänge zur Zeit der Burgunderkriege (1474– 1477), in: Historische Zeitschrift 264. 1997 S. 281– 328.
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gekommen.¹⁷⁸ Die Murnauer Bürger, die sich Anfang Juni 1698 auf den Weg zum Kurfürsten machten, hatte ein für sie unerwartet enttäuschend ausgefallener Zwischenentscheid des Münchner Hofrats dazu veranlaßt. Sie entsetzte das Holzschlagverbot, das der Abt von Ettal im laufenden Verfahren gegen sie erwirkt hatte.¹⁷⁹ Die Rottenbucher, die zwischen 1618 und 1628 mehrere Züge durchführten, zogen das erste Mal im Juni 1618 während des Verfahrens noch vor Eingang der letzten gegnerischen Prozeßschrift nach München, die Mehrzahl ihrer Unternehmungen fand aber nach der im Januar 1619 erfolgten Publizierung des Entscheids statt und galt der Durchsetzung ihrer Interpretation der Rezeßbestimmungen. Den konkreten Anstoß gaben dabei mehrmals Abstiftungen und Vertreibungen etlicher Familien von ihren Gütern. Aus dem 18. Jahrhundert sind mehrere Beispiele überliefert, die zeigen, daß die Untertanen nach München gingen, um ihre dort gefangen liegenden Sprecher zu befreien. So wollten die Steingadener, die sich im Mai 1716 auf den Weg machten, die Freigabe ihrer fünf Genossen erreichen, die kurz zuvor von Exekutionstruppen festgenommen, auf Wagen gekettet und über Land ins Münchner Zuchthaus transportiert worden waren.¹⁸⁰ Auch die Ammergauer, die 1728, und die Uttinger, die 1764 vor dem Kurfürsten erschienen, baten unter anderem um die Verschonung ihrer Abgeordneten oder um deren Entlassung aus dem Zucht- bzw. Arbeitshaus.¹⁸¹ Die Untertanen verheimlichten ihre Absicht, in größerer Schar vor den Fürsten zu ziehen, gewöhnlich nicht. Gelegentlich drohten sie der lokalen Obrigkeit wohl gar damit, „sammentlich nach München zu lauffen“, wie es beispielsweise von den Scheyerner Scharwerksbauern zu 1646 berichtet wird.¹⁸² Sebastian Stickl, ein Führer der Rottenbucher, hielt sich der Herrschaft gegenüber etwas darauf zugute, daß er im Februar 1619 „mit harter mihe erreicht habe, das nit jederman nacher München wider gezogen“.¹⁸³ Die lokalen Obrigkeiten gaben ihre Kenntnis der Untertanenpläne weiter, sie schickten warnende Botschaften zur Stadt, selbst hatten sie aber offenbar keine Möglichkeit, die Unternehmen aufzuhalten. In aller Regel gelangten die Supplikantenscharen bis vor den Fürsten.¹⁸⁴ Für die meisten der späteren Züge gilt der 1525 konstatierte Tagesreisenradius um die Residenz nicht. Auch in günstigeren Fällen wie bei den Ammergauern, Steingadenern, Rottenbuchern und Murnauern dehnte sich das Unternehmen zu einem Exkurs von fünf Tagen; denn die Supplikanten ‚liefen‘ tatsächlich ‚gen Hof‘, die
Breit, Die ganze Welt in der Gemain (wie Anm. 153) S. 138. Baumann, Murnau (wie Anm. 158) S. 99. BayHStA, Civilakten Fasz. 1201, Nr. 43. Schreiben des Steingadener Abtes an den Hofrat in München vom 24. Mai 1716. BayHStA, Civilakten Fasz. 1452/702 I, fol. 411’. Supplikation ad manus. Sept. 1728. Zu Utting: Sattler, Chronik von Andechs (wie Anm. 159) S. 603. Kritisch zu der Darstellung Sattlers: Neu, David Hofmayer (wie Anm. 159) S. 42 f. Hanser, Kloster Scheyern (wie Anm. 160) S. 75. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 148. Mit Ausnahme der Murnauer. Baumann, Murnau (wie Anm. 158) S. 99.
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große Menge jedenfalls kam nicht geritten, sondern ging zu Fuß oder fuhr auf Wagen zur Stadt. Die Bauern aus Raab bei Schärding östlich vom Inn im heutigen Oberösterreich, die im Mai 1631 „mit gemeinem Rat aufstanden und München zugelaufen“ waren, mußten als einfachen Weg vier bis fünf Tagesreisen rechnen, ehe sie in die Stadt einziehen konnten. Selbst die in größerer Nähe beheimateten, wie die Leute aus Utting am Ammersee, pflegten einmal in der Stadt zu übernachten.¹⁸⁵ Die Kosten trugen die Teilnehmer selbst, oder man beglich sie aus der Gemeindekasse.¹⁸⁶ Die Tagesspesensätze waren dieselben, nach denen auch die Abgeordneten der Gemeinden bei ihren Reisen während der laufenden Prozesse entschädigt wurden, sie betrugen um 1660 20 Kreuzer¹⁸⁷, 1764 aber 30 Kreuzer.¹⁸⁸ Die konkrete Durchführung eines solchen Zuges und das Vorgehen der Menge in der Stadt werden nirgends geschildert, aber es lassen sich einige Details von den Zügen der Rottenbucher zusammenstellen, die der Veranschaulichung und vor allem der Dokumentation des Phänomens dienen können. Nachdem die Achter, also die Gemeindevertreter, dem Probst des Stiftes ihre Vorstellungen vergeblich unterbreitet hatten¹⁸⁹ und der Prälat darauf beharrte, den im Januar 1619 ergangenen Rezeß in seinem Sinn zu vollziehen, beschlossen die Rottenbucher Bauern Anfang Mai 1619 „sämtlich“ nach München zu ziehen.¹⁹⁰ Es war dies das zweite Unternehmen der Art, das sie planten. Ein erstes Mal waren sie vor knapp einem Jahr, Anfang Juni 1618, „mit grosser Versamblung“ in der Stadt gewesen.¹⁹¹ Nun suchten die Achter jeden Hauswirt ihrer Rottschaft auf und geboten ihm, sich mit Reisegeld versehen am Mittwoch vor Pfingsten beim Bruckerhof einzufinden.¹⁹² Als Treffpunkt hatte man das letzte rottenbuchische Anwesen an der Grenze des Hofmarksgebiets in Richtung München bestimmt. Da es das Ziel der Bauern war, dem Fürsten persönlich zu begegnen, sandten sie vor dem Aufbruch zwei Männer in die Stadt, die erkunden sollten, ob der Herzog auch tatsächlich in der Residenz weile. Der beim Bruckerhof versammelten Menge verlas der Schulmeister den Text des „Cla Neu, David Hofmayer (wie Anm. 159) S. 50. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 150’-152. – Zur Verrechnung über die Gemeindekasse: Neu, David Hofmayer (wie Anm. 159) S. 42, 50. Mit 20 Kreuzern pro Tag verrechnet der Führer der Hohenaschauer Bauern, Hans Kißling von Ginnerting, im Nov. 1660 seine Unkosten. StAM, Herrschaft Hohenaschau, A 1028 I. Neu, David Hofmayer (wie Anm. 159) S. 42; 1769 ist der Spesensatz auf 45 Kreuzer gestiegen. Ebd. S. 50. Die Achter sind die bäuerlichen Vertreter der acht Rottschaften, in die das Gebiet des Eigens oder der Hofmark Rottenbuch untergliedert war. Blickle, „Spenn und Irrung“ (wie Anm. 155) S. 76 f. Pankraz Fried, Landgericht Landsberg und Pfleggericht Rauhenlechsberg (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, Bd. 22/23). München 1971 S. 101– 104, 178 – 180. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 150’-152. Aussagen von 11 befragten Bauern, undatiert. BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 139, fol. 215 – 216; 8. Juni 1618. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 116 – 134; Quadruplik des Prelaten vom 30. Juli 1618. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 150’. Mittwoch vor Pfingsten war der 12. Mai. Zu Bruckerhof (Brugger auf der Hawen) vgl. Karl Gerold, 500 Jahre Haus- und Hofgeschichte von Böbing. Böbing 1992 S. 69.
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gZetels“, der dem Herzog überreicht werden sollte. Ein Achter hatte die „schrift“ in der Stadt Schongau anfertigen lassen. Da die Untertanen sämtlich mitziehen sollten, werden es auch damals wohl an die 200 Personen gewesen sein, die sich auf den Weg machten. Ein Hauswirt, der an der persönlichen Teilnahme verhindert war, schickte einen Knecht oder Sohn als Vertreter.¹⁹³ Während der Reise stand jede Rottschaft unter der Führung ihres Achters. Auf dem rund 80 km langen Weg passierte der Zug zahlreiche Ortschaften sowie die Stadt Weilheim und bot deren Bewohnern zweifellos ein nicht zu übersehendes Schaustück dar. Die Rottenbucher unternahmen, wie gesagt, später noch weitere derartige Züge, den nächsten bereits in den ersten Februartagen des Jahres 1620¹⁹⁴, danach wieder im April 1627.¹⁹⁵ Im Jahr 1628 zogen mindestens drei große Versammlungen zur Stadt – Mitte März, um den 20. Juli und um den 10. August.¹⁹⁶ Eine knappe Meile vor der Stadt, in Forstenried, pflegten die Bauern so etwas wie ein Basislager einzurichten, von wo aus die Aktionen in der Stadt organisiert werden konnten.¹⁹⁷ Die Auftritte erfolgten nicht nach einem schematischen Muster, es lagen ihnen unterschiedliche Regiepläne zugrunde, sie kamen an verschiedenen Schauplätzen zustande, und sie variierten situationsbedingt. Da die Rottenbucher von Südwesten kommend durch das Sendlinger Tor einzogen, hatten sie die Stadt zu durchqueren, ehe sie ins Zentrum oder zu den fürstlichen Gebäulichkeiten im Nordosten gelangten, wo sie am ehesten auf eine Begegnung mit dem Landesherrn hoffen konnten. Ihr Erscheinen konnte daher in jedem Fall von vielen Münchnern und anwesenden Fremden beobachtet werden. In der Stadt mußten sie herausfinden, wo der Fürst sich aufhielt. Sie warteten beispielsweise am Morgen des 21. Juli 1628 zunächst vor der Augustiner Kirche. Als sie dann erfuhren, daß hier mit der Ankunft des Fürsten erst gegen Abend zu rechnen
BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 150’-152. Michael Linder entschuldigt sich und schickt einen Knecht, für den er das Reisegeld zu zahlen hat. Paulus Wolf schickt seinen Sohn, Hoiß Prugger einen Buben. Unter den am 12. August 1628 in München gefangengenommenen 70 Rottenbuchern waren fünf Männer, die als Vertreter eines verhinderten oder weiblichen Haushaltsvorstands am Zug teilgenommen hatten. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 399’-401. Von den damals ebenfalls in der Stadt anwesenden Frauen wurde keine verhaftet. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 180 – 182, 191’f., 192’f. Am 3. Febr. 1620 erörtert der Hofrat die eingebrachte Supplikation. Die Überlieferung ist nicht ganz zuverlässig. Clm 27 208, fol. 3’. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, zum März-Zug: fol. 329 f. (Text der Supplikation), fol. 333’ – 337 (Gravamen der im Falkenturm einliegenden Untertanen); zum Juli-Zug: fol. 383 – 385 (Text der Supplikation); zum August-Zug: fol. 398 – 399 (Texte der Supplikationen); sowie Clm 27 208, fol. 13’, 19 – 20, 26’, 29. Der Syndikus des Stifts Rottenbuch, der nach Abschluß des Konflikts, wahrscheinlich 1630, eine verständlicherweise parteiische Darstellung der Auseinandersetzungen der Jahre 1627/28 verfaßte, erwähnt sowohl für den März- wie auch für den August-Zug 1628 die Rottenbucher Quartiere in Forstenried. Clm 27 208, fol. 14, 29’.
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sei, zogen sie weiter vor das Gebäude des Hofrats.¹⁹⁸ Dort standen sie nun nicht einfach als formloser Haufen herum, der Dinge harrend, die da kommen würden, sondern sie inszenierten sich und ihr Anliegen in einem Schaubild. Es war wohl primär für die Augen des Fürsten gedacht, mußte den Passanten aber ebenso sehr auffallen. Sie bildeten aneinander gereiht einen weiten Halbkreisbogen, jeder hatte seine Hände unter der Brust gefaltet und wartete still. In die Mitte des Bogens, gut sichtbar, hatten sie eine Frau platziert, die in schauerliche Lumpen gehüllt war, einen kleinen Knaben auf dem Arm trug und fortwährend ein und dasselbe Bittgebet repetierte. Die Rottenbucher stellten auf diese Weise, so wird man ihre Aufführung interpretieren können, ihr künftiges Los dar, das erbärmliche Schicksal, das ihnen als Vertriebenen von Haus und Hof beschieden sein würde, falls der Landesfürst sich ihrer nicht annähme: Sie zeigten das ihnen bevorstehende Elend in einem lebenden Bild. Als der Fürst eintraf, erhob sich der greise Andreas Grezman aus dem Kreis und überreichte ihm die Supplikationsschrift.¹⁹⁹ Der Fürst gab das Schreiben an den Hofratspräsidenten weiter.²⁰⁰ Die Bauern schlugen anschließend nicht gleich den Heimweg nach Rottenbuch ein, sondern zeigten sich am nächsten Tag, einem Samstag, dem Fürsten abermals als bittend die Gerechtigkeit anmahnende Schar. Sie hatten herausgefunden, daß er sich in einer kleinen Kapelle aufhielt.²⁰¹ Die als Gruppe auftretenden Supplikanten waren auf die Chance, die der Kirchgang des Fürsten bot, in ähnlicher Weise angewiesen wie die Einzelsupplikanten. Im fürstlichen Tagesablauf dürfte die Übergabe der Bittschriften berücksichtigt gewesen sein, auch wenn dem konkreten Fall der Anschein des Zufalls und die Aura des Informellen anhafteten. Die Rottenbucher hatten schon bei einem früheren Zug – am Samstag, den 11. März 1628 – die Kutsche des fürstlichen Paares auf der Fahrt zur Kirche erwartet und ihre Supplikation, die an den Fürsten und die Fürstin gerichtet war, übergeben. Damals hatte der Kurfürst das Schreiben sogleich gelesen und es dann erst an den nebenhergehenden Hofratspräsidenten weitergereicht.²⁰² Auch von den Uttingern heißt es, sie hätten Anfang Februar 1764 den Fürsten nach seiner Sams-
“ iuxta Dni Praesidis aedes“, Clm 27 208, fol. 20. Der Autor von Clm 27 208 verwendet den Titel Praeses im allgemeinen für den Hofratspräsidenten von Preysing (fol. 12). Der Hofrat tagte im Alten Hof. Andererseits ist bekannt, daß Kurfürst Maximilian I. den Hofrat kaum mehr persönlich besuchte, sondern mit dem Geheimen Rat arbeitete, der aber trat in der Residenz zusammen. Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 2) S. 180 – 183. Da Andreas Grezman ‚sich erhob‘ und nicht anzunehmen ist, daß die Untertanen in Gegenwart des Kurfürsten saßen, dürften sie wohl gekniet haben. Die szenische Antwort der Obrigkeit erfolgte am Montag, den 14. August 1628 auf dem Münchner Schrannenplatz. Damals mußten 70 zu Paaren gefesselte Rottenbucher vor einer großen Menge Schaulustiger mitansehen, wie für drei ihrer Genossen ein Urteil verlesen und es anschließend vollstreckt wurde. Die drei wurden mit Ruten ausgepeitscht, Georg Vend außerdem ein Ohr abgeschnitten und dieses an das Gerüst genagelt. Clm 27 208, fol. 31– 32. Ebd. fol. 20’ f. Ebd. fol. 14.
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tagsandacht vor dem Herzogsspital erwartend sich an seinen Weg gestellt und seien ihm dann alle – es waren 130 Personen, Männer und Frauen, – durch die Stadt gefolgt.²⁰³ Bei ihrem letzten Gemeinschaftszug nach München im August 1628 trafen die Rottenbucher den Fürsten nicht in der Stadt an. Sie hatten faktisch die Flucht aus Rottenbuch ergriffen – dort half eine hofrätliche Kommission dem Propst dabei, die Familien von den Höfen zu vertreiben –, aber sie gingen auch jetzt nicht ohne Plan vor. Sie verfaßten eigenhändig zwei Supplikationsschreiben. In der Eile war es ihnen nicht möglich, einen auswärtigen Supplizisten oder Advokaten heranzuziehen. Den Schreibern in Bayern war schon seit Jahren verboten, sich des Anliegens der Rottenbucher anzunehmen.²⁰⁴ Das eine ihrer Schreiben sprach im Namen der Frauen die Fürstin an, das andere war im Namen der Untertanen an den Fürsten gerichtet. Als sie in München erfuhren, daß sich das fürstliche Paar in Schloß Schleißheim, mehr als eine Meile außerhalb der Stadt im Norden aufhielt, folgten sie ihm dahin. Die Frauen übergaben dort der Kurfürstin und die Männer dem Kurfürsten am Samstag, den 12. August, ihre Bittschriften.²⁰⁵ Der hier entstandene Eindruck, wonach der Landesherr einer supplizierenden Untertanenmenge nahezu regelmäßig zugänglich gewesen sei, dürfte wohl kaum trügen. Umso verwunderlicher wirkt das fürstliche Verhalten – das der Untertanen allerdings nicht minder –, wenn man die Fortsetzung des Geschehens in den Blick nimmt und betrachtet, was nach Abschluß einer solchen Szene geschah. Die Supplikanten wurden dann nämlich oft einfach festgenommen und nicht selten anschließend bestraft. Die Rottenbucher, um mit ihrer Geschichte fortzufahren, schickte man aus Schleißheim in die Stadt, wo sie ergriffen und in den Falkenturm gesperrt wurden. Die Amtleute schwärmten sogar über die Felder aus und folgten einzelnen Fliehenden bis nach Forstenried zum Stützpunkt der Bauern. Auch nach Übergabe der Märzsupplikation waren, kaum war die Kutsche mit dem Kurfürsten und seiner Gemahlin verschwunden, überall Büttel aufgetaucht, hatten die Supplikanten verhaftet und in den Falkenturm eingeliefert. Eigentlich dürften die Bauern damals darüber schon nicht mehr erstaunt gewesen sein. Daß ihr Vorgehen mit Strafen sanktioniert war, hatten sie schließlich von Anfang an am eigenen Leibe erfahren. Schon nach dem ersten Zug im Juni 1618 waren diejenigen, die sich länger vor der Hofkanzlei aufgehalten hatten, festgesetzt und für etliche Tage eingesperrt worden: sie hätten nämlich, meinten die Hofräte, „mit fürschreibung des Ungrundts mutwilliges supplicieren
Sattler, Chronik von Andechs (wie Anm. 159) S. 602 f. Dazu auch Neu, David Hofmayer (wie Anm. 159) S. 42 f. Bereits im Januar 1620 beschwerten sich die Bauern darüber, daß allen Schreibern in München verboten worden sei, für sie zu arbeiten. 1628 war das Verbot auf ganz Bayern ausgedehnt. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 182, 329, 359 f., Clm 27 208, fol. 18’. – Das Verbot galt für Schriften, die das Hauptanliegen der Bauern und den Rezeß von 1619 betrafen, nicht aber für mögliche andere Anliegen. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 398 – 401, Clm 27 208, fol. 26’, 29.
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gebraucht“. Die Achter, als die vermeintlich Verantwortlichen, wurden „wegen der Rottirung“ mit fünf Tagen Gefängnis in Weilheim abgestraft.²⁰⁶ Aber es gab eben auch Gegenbeispiele. Wenn nämlich die Untertanen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, wie am 21. und 22. Juli 1628, vor dem Fürsten auftreten konnten, heißt das, es waren zumindest am ersten Demonstrationstag keine umfassenden Verfolgungsmaßnahmen eingeleitet worden. Auch der Februar-Zug 1620 scheint keine weiteren Negativwirkungen gehabt zu haben, wenn man der Tatsache, daß drei Untertanen für einige Tage in München festgehalten wurden, entgegenhält, daß sich den Bauern hier auch eine Chance eröffnete. Die im Falkenturm, dem zentralen Malefizgefängnis des Fürstentums, gefangenliegenden Bauern wurden nämlich von Mitgliedern des Hofrats verhört und dabei nach den Gründen ihres Vorgehens befragt. Sie erhielten also Gelegenheit, vor den zuständigen Personen ihr Anliegen ausführlicher darzulegen. Gerade das erschien ihnen besonders dringlich, weil sie überzeugt waren, daß die Gegenseite aufgrund persönlicher Verbindungen wenig Mühe hatte, die eigene Position dort jederzeit zu Gehör zu bringen. Die Verhaftungen fanden übrigens niemals in Gegenwart des Fürsten statt. Sein Auftritt verlief als ungestörter würdevoller Akt, bei dem sich Hoheit und Gnadenbereitschaft gleichermaßen zelebrieren ließen. Doch wurden die Supplikanten selbstredend nicht gegen seinen Willen, sondern mit seinem Wissen festgenommen. Der ganze Vorgang mutet an wie eine praktizierte Lektion der Regierungstechnik, die in den Fürstenspiegeln propagiert wurde. So lehrte der Fürst, von dem hier im Rottenbucher Kontext die Rede war, in der „Vätterliche Ermahnung“ seinen Nachfolger: „Wan aber ie einer zubestraffen ist, lasse ein solches durch eines andern Mundt geschechen, dann […] Dein hoche Persohn wird dadurch in mehrern ansechen verbleiben […]. Was aber Gnaden sachen seint, solche Kanst Du selbst verthaillen.“²⁰⁷
Es ist kein Fall bekannt, wo ein Zug gen Hof den Untertanen einen Erfolg im Sinne einer spontanen positiven Entscheidung ihrer Sache eingetragen hätte. Am besten mögen noch die Ammergauer weggekommen sein. Als nämlich die 117 Männer aus diesem Gericht in den ersten Septembertagen des Jahres 1728 einen Fußfall vor dem Kurfürsten taten, soll dieser sich interessiert erkundigt haben, wieso sie in so großer Zahl vor ihm erschienen seien, und sie mehrmals aufgefordert haben, eine Suppli-
BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 139, fol. 215 – 216; 8. Juni 1618. Schreiben des Hofrats an den Propst von Rottenbuch und an den Pflegsverwalter in Weilheim. – Die Differenzierung der Straftaten in „mutwilliges supplicieren“ einerseits und „Rottirung“ andererseits zeigt die beiden Deliktbereiche an, denen man das Ärgernis der Untertanenzüge zuordnete. „Frevenliche Cleger“ sollen lt. herzoglicher Anordnung an den Hofrat, zuerst 1573, nach mehrmaligem Abweisen und nach Androhung der Strafe zu Leibesstrafe, Gefängnis und Landesverweisung verurteilt werden. Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 261, 177, 216. Zu Rottierung vgl. Anm. 216. ‚Vätterliche Ermahnung‘ (Monita paterna) Kurfürst Maximilians I. (1597/1623 bis 1651), in: Politische Testamente und andere Quellen zum Fürstenethos der frühen Neuzeit. Hg. Heinz Duchardt. Darmstadt 1987 S. 119 – 135, hier 126.
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kation ad manus einzubringen. Mit einem Schreiben zu des Fürsten eigenen Händen aber erhielten sie nicht nur die Gelegenheit, ihre Beschwerden ausführlich darzulegen, sondern der Hofrat mußte sich damit auch tatsächlich auseinandersetzen, obwohl die Gemeinden sich in einem laufenden – wie sie sagten, von ihrem Gegner, dem Abt von Ettal, bewußt verschleppten und manipulierten – Verfahren befanden.²⁰⁸ Schon als glimpflich muß man den Ausgang eines solchen Auftritts bezeichnen, wenn die Supplikantenschar einfach abgewiesen wurde. So war es anscheinend den Bauern der Grafschaft Haag ergangen, die nach Aussage Herzog Wilhelms V. in den 1590er Jahren „offt klagt und mehrmalen gar zu 100 oder 200 starck gegen München gelauffen (seien) und Ir nott fürbracht und sich angemeltt haben“.²⁰⁹ Häufiger dürfte man der Gruppe jedoch unter Androhung von Gefängnis – später dann Zucht- und Arbeitshaus – geboten haben, sofort heimzukehren.²¹⁰ Gelegentlich ereilte einige der Teilnehmer noch nachträglich die landesherrliche Ungnade und Strafe. Herzog Maximilian I. forderte im April 1606, nachdem er „von hundert oder mehr Paurn“ des Gerichts Ebersberg „mit beigefiegter Suplication ungestüemb angeloffen worden“ war, man möge eine Liste der „Rädelsführer“ einsenden, er wolle diese abstrafen lassen, denn das ganze hätte, so zürnte er, „von wenigern und mit mehr beschaidenheit geschechen könden“.²¹¹ Völlig fehlgeschlagen war wohl das Gemeinschaftsunternehmen der 59 Murnauer Bürger, denn man soll sie, kaum hatten sie die Stadt betreten, sofort verhaftet haben. Sie verbrachten drei Tage im Gefängnis und wurden anschließend unter Strafandrohungen heimgeschickt.²¹² Es gibt keine Hinweise darauf, daß Landesherren, die von einer großen Untertanenmenge angegangen wurden, darin eine physische Bedrohung sahen, Furcht für ihre Person, für Leib und Leben empfunden hätten. Sie fühlten sich „molestiert“²¹³, da mögen die geringen Distanzen und die massive Körperlichkeit mitgewirkt haben. Die ablehnende Haltung der Fürsten gegenüber dieser Art der Kommunikation mit den Untertanen wird man einmal damit erklären können²¹⁴, daß die Aktionsform im Zeremoniell nicht akzeptiert und daher nicht geregelt war. Die Begegnung mit der Menge wurde dem Fürsten aufgezwungen. Zum anderen war eben diese Menge das Problem. Größere Ansammlungen von Untertanen mißfielen der frühneuzeitlichen Obrigkeit grundsätzlich. Da Versammlungen ganz verschiedene Funktionen erfüllten, erfaßten die landesgesetzlichen
BayHStA, Civilakten Fasz. 1452/702 I, fol. 404– 413’; Supplikation ad manus der vier Hofmäder im Ammergau, an den Hofrat weitergeleitet am 15. Sept. 1728, dort präsentiert am 24. Sept. 1728. BayHStA, GL Haag 42, Nr. 2. Die Androhung soll 1764 – Sattler, Chronik von Andechs (wie Anm. 159) S. 602 – und 1767– Neu, David Hofmayer (wie Anm. 159) S. 50 – gegenüber den Uttingern ausgesprochen worden sein. Breit, Die ganze Welt in der Gemain (wie Anm. 153) S. 139. Baumann, Murnau (wie Anm. 158) S. 99. Das glaubte wenigstens der Syndikus des Stiftes Rottenbuch als kurfürstliche Reaktion wahrnehmen zu können. Clm 27 208, fol. 20’. Einzig der offenbar ‚gnädig‘ aufgenommene Ammergauer Fußfall fällt aus diesem Rahmen.
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Eingriffe die einzelnen Typen der Volksversammlung mit unterschiedlicher lntensität.²¹⁵ Das Kennwort für eine verbotene Versammlung war „Rottierung“, es bezeichnete das Erreichen einer merklichen Eskalationsstufe im Repertoire aufständischen Handelns und hatte strafrechtliche Relevanz.²¹⁶ Als Rottierung konnte auch die beschlußfassende Untertanenversammlung kriminalisiert werden, nämlich dann, wenn sie der Vorbereitung einer Auseinandersetzung mit der Obrigkeit diente und das Reglement der Polizeiordnung außer Acht ließ. Versammlungen, die von den Untertanen als Kundgebungen veranstaltet und als Protestmittel gehandhabt wurden, traf das Verbalverdikt in jedem Fall. Die Züge gen Hof und Auftritte vor dem Landesherrn galten als genuine Rottierungen. Die gefährlichen Weiterungen, die von ihnen ausgingen, sah man primär in ihrer Öffentlichkeit erschaffenden Wirkung, konkret im bösen Beispiel, das zur Nachahmung reizt, und in der Attacke auf die herrschaftliche Reputation, für die man sie hielt. Die Massenauftritte vor dem Landesherrn und die Züge über Land waren optische Botschaften.²¹⁷ Sie vereinten erprobte Handlungselemente aus dem Kampfgespräch mit der lokalen Obrigkeit, wie die von der Menge der versammelten Körper getragene Bekundung der Einheit und des eigenen „Gewalts“²¹⁸, mit Aktionssequenzen, die aus
So wird die Versammlung als Selbstverwaltungsorgan der Gemeinde in der Landes- und Policeyordnung von 1616 nicht angesprochen. Ausführlich reglementiert hingegen wird die Untertanenversammlung, die eine prozessuale Auseinandersetzung mit der Obrigkeit vorbereitet. Landts vnd PoliceyOrdnung der Fürstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. München 1616, Buch 5, Tit. 6, Art. 3, S.690 f.: „Von der Bawrschafft Gemeinhaltung vnd Zusammenkunften“. Vgl. allgemein: Fritz Zimmermann, Die Rechtsnatur der altbayerischen Dorfgemeinde und ihrer Gemeindenutzungsrechte. Straubing 1950 S. 66 – 69; Heinz Lieberich, Die Anfänge der Polizeigesetzgebung des Herzogtums Baiern, in: Festschrift für Max Spindler zum 75. Geburtstag. Hg. Dieter Albrecht. München 1969 S. 307– 378, hier 370; Blickle, Die Haager Bauernversammlung (wie Anm. 172) S. 43 f., 58 f. Der einschlägige Artikel der Landes–und Policeyordnung 1616 trägt die Überschrift: „Von auffwiglung/Rottierung/vnd Auffstandt der Vnderthanen“. Buch 5, Tit. 6, Art. 2, S. 689. Zum ‚massenhaftem Erscheinen von Bauern vor einer Residenz‘ außerhalb Bayerns vgl. Werner Troßbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648 – 1806.Weingarten 1987 S. 106 – 112 (Gericht Reichenbach 1652, Gericht Spielberg 1653, Florstädter Aufzug 1730, 1753, u. a.); ders., Die Reichsgerichte in der Sicht ländlicher Untertanen, in: Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 21). Hg. Bernhard Diestelkamp, Köln usw. 1990 S. 125 – 142, hier 133, 139 f.; Martin Merki-Vollenwyder, Unruhige Untertanen. Die Rebellion der Luzerner Bauern im Zweiten Villmerger Krieg (1712) (Luzerner Historische Veröffentlichungen Bd. 29). Luzern usw. 1995 S. 11, 13; Sengelmann, Zugang des einzelnen (wie Anm. 54) S. 32 f., 39, 43 (= zur einschlägigen Gesetzgebung in Preußen); Grüll, Bauer (wie Anm. 176) S. 426. Margareta Mommsen, Hilf mir, mein Recht zu finden. Russische Bittschriften. Berlin 1987 (zur Petitionsabsicht der Massendemonstration am Petersburger Blutsonntag 1905); David Zaret, Petitions and the ‚Invention‘ of Public Opinion in the English Revolution, in: American Journal of Sociology 101. 1996 S. 1497– 1555, hier 1518 (Prozessionen mit Petitionen zum Parlament). Dergleichen Kundgebungen waren als Mitteilung an die niedere Obrigkeit üblich. „Sobald einer erfordert wird“, das heißt, wenn ein Untertan in das Kloster zitiert wird, „erscheinen 30. 40. 100 oder mehr auf dem Anger vor dem Tor“, berichtete etwa der Rottenbucher Dekan. Sie scharen sich um den
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dem Bereich des institutionalisierten Beschwerdewesens übernommen waren, zumal den Usus der persönlichen Supplikationsübergabe, und den Konditionen, die der Zug als Formation und Bewegung über Land bedingte.²¹⁹ Zug und Auftritt stellten ein Skandalon dar. Das Aufsehen, das die Menge beim Zug über Land, in der Stadt und bei Hof erregte, war das große Ärgernis: Das „Geschrey“, das sie erhob, indem sie sich zeigte, und das „Geschrey“, das sich erhob, weil man sie sah. Die Menge der Körper stellte für niemanden eine körperliche Bedrohung dar, aber sie transportierte eine Aussage, die offenbar als Bedrohung gelesen werden konnte. Man erkannte darin zunächst einen Angriff auf die Reputation der lokalen Obrigkeit. Sie hätten ihren Herrn, den Propst, „stark verschrait gemacht“, hielt man den Rottenbuchern noch anderthalb Jahre nach ihrem ersten Zug gen Hof im Sommer 1618 vor. Sie hätten sich aufgeführt, als wäre „ihnen wider die billigckheit gethan und die ungerechte sachen vorgenommen worden“²²⁰, das heißt, als habe die Obrigkeit ihre Pflicht verabsäumt, als sei ihnen der ordentliche Weg abgeschnitten worden, auf dem die Gerechtigkeit ihren Lauf zu nehmen pflegt, und als zwänge man sie, sich in diesen illegalen Formen zu äußern.²²¹
Vorgeladenen in ihrer Mitte. (BayHStA, KL Fasz. Nr. 641/ad 18, fol. 217, vgl. auch fol. 195’, 199’, 202– 203, 213 – 214’). Ihre Versammlung verkörperlicht im wörtlichen Sinn eine Nachricht. Sie heißt: ‚ein Untertan kommt niemals allein‘, ‚wir sind eine Einheit‘, wir sind „samentlich in ainen model gegossen“ (ebd. fol. 319). Sie ist darum zugleich Antwort auf die obrigkeitliche Spaltungs- und Vereinzelungsstrategie und unterläuft deren Taktik der Rädelsführerkreation. Die zweite Botschaft der Versammlung ist ‚Druck‘, da sie spontan Macht erzeugt und vorzeigt. Zwischen den Zügen der Untertanen zum Hof und den Zügen der Wallfahrer zum heiligen Ort kann man grobe Analogien sehen. Hier wie da machte sich eine größere Menschenmenge mit einem gemeinschaftlichen Anliegen auf den Weg, um an einer besonderen Gnadenstätte Beistand zu erbitten. [Die Kollektivwallfahrten hatten nach einer Pause von etwa acht Jahrzehnten um 1600 wieder massiv eingesetzt. Vgl. Werner Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfälische Landesund Volksforschung 29). Paderborn 1991 S. 85 – 88, 358.] Allerdings ist die riesige Menge der Wallfahrerzüge nicht mit der geringen Anzahl der Untertanenzüge vergleichbar. Auch fehlt den Untertanenzügen jeder Ansatz zur Periodizität, wohingegen Wallfahrten nach der weithin akzeptierten Umschreibung Hans Dünningers nicht nur außerliturgische, gemeinschaftliche und daher in der Regel prozessionsweise, sondern auch „in regelmäßigen Zeitabständen … unternommene Bitt- oder Bußgänge zu einer bestimmten Gnadenstätte“ sind. Vgl. zuletzt: Wolfgang Brückner, Wallfahrt, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8, München 1997 Sp. 1980 f. BayHStA, KL Fasz. 641/ad 18, fol. 140 f.,Vorhalt des Richters vor den Untertanen vom 9. Jan. 1619. – Vom direkten Einsatz des Phänomens Wallfahrt im Kontext von Untertanenkonflikten berichtet David M. Luebke, Naive Monarchism and Marian Veneration in Early Modern Germany, in: Past and Present 154. 1997 S. 71– 106, hier 77 f. Welcher Grad an Negativ-Publizität unter Umständen allein durch eine geschickt formulierte und platzierte Supplikation zu erreichen war, zeigt ein Ebersberger Beispiel aus dem Jahr 1606, als es den Untertanen gelang, mit ihrer Darstellung jesuitischer Habgier nicht nur das Erbarmen der anderen christlichen Obrigkeiten anzurühren, sondern auch die Gegner des Ordens auf den Plan zu rufen. Breit, Die ganze Welt in der Gemain (wie Anm. 153) S. 123 – 126.
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Die Züge gen Hof konnten aber auch, so meinte jedenfalls Kurfürst Maximilian nach der zweitägigen Münchner Aufführung der Rottenbucher im Juli 1628, der Reputation des Landesherrn von Nachteil sein. Ihr Vorgehen wäre als eine „in unserm furstenthumb und lannden unerhörte und zu nit geringer verschimpfung unserer landsfürstlichen hochheit geraichende widersässigkeit“ zu verurteilen.²²² Die Art und Weise, wie sie hartnäckig und demonstrativ ihre Rechtsüberzeugung vertraten, wuchs sich ihm zum Ärgernis aus, das die Qualität seines Regiments verleumdete. Denn daß die Justizpflege „in disem Land mehr als in anderen“ gelobt zu werden verdiene und daran „S[eine]r D[urchlauc]ht selbst vnd dero hechsten vnnd oberisten Regiments Reputation vnnd Ehr vnnd von alter heergebracht gueten lobs hingen²²³, war ein oft zitierter Topos in der bayerischen Zentrale.²²⁴ Das ‚Geschrei‘ war eine Form rechtmäßiger Willenskundgebung der Menge, wurde jüngst in einer Untersuchung städtischer Wahlen und Gesetzgebung im späten Mittelalter festgestellt. Man tat damit ein Fehlverhalten der Regierenden kund und erzwang die Korrektur.²²⁵ Das „geschray“ und die „clag“, die die „gmain“ der bayerischen Bauern 1525 des Wildbrets wegen vor dem Herzog erheben wollte, stand noch in dieser mittelalterlichen Tradition des Geschreis als ‚‚öffentlicher Rechts- bzw. Klageform“.²²⁶ In den späteren Jahrhunderten der Neuzeit vollzogen die bayerischen Untertanen, die in großer Versammlung vor den Landesherrn zogen, ihr ‚Geschrei‘ akustisch geräuschlos. Es wurde ausgedrückt und visualisiert durch die Menge der Anwesenden. Die Basis war aber nicht tiefgreifend verändert, es ging nach wie vor um die bewußte Herstellung von Öffentlichkeit – das Geschrei unterscheidet sich in diesem Punkt grundsätzlich vom Gerücht –, um eine publizierte Kritik an der Regierung durch die vom Regiment Ausgeschlossenen und um eine Remedur durch Masse und Druck. Die Präsenz der Vielen bezeugte nämlich nach wie vor die Legitimität ihres Anliegens, denn sie bezeugte seine Dringlichkeit. Der Auftritt und das stumme ‚Geschrei‘ der Menge vor dem Fürsten hatten notrechtliche Qualität. Daher sprach die BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 221, fol. 130’, 28. Juli 1628. Zitat aus der Hofratskanzlei-Ordnung von 1600 (1613). Mayer, Behörden-Geschichte (wie Anm. 7) S. 181, vgl. auch S. 152, 159, 197, 246. Wie ‚empfindsam‘ zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit dem Ansehen des Landesfürsten als dem Schutzherrn der Untertanen argumentiert werden konnte, bekamen 1603 die Hohenaschauer Untertanen zu hören, als ihnen landesfürstliche Kommissare vorhielten, falls sie von ihrem verstorbenen Herrn tatsächlich so übel traktiert worden seien, wie sie behaupten, und sich nicht früher darüber beschwert hätten, sei das „nit zu geringem despect vnd verclienerung der hochen Landtsfürstlichen Obrigkeit geschehen“. StAM, Herrschaft Hohenaschau, A 1139 (Bescheid der Vormünder). – Herzog Christoph von Württemberg stellte 1550 fest, die Mißstände im dortigen Supplikenwesen hätten dazu geführt, „das Inn vnd ausserhalb dises Fürstenthums das geschrey ervolgt, Es seie bey diser Cantzley wenig, oder gar khein ausrichtung“. Anton Ludwig Reyscher, Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Bd. 12, Tübingen 1841 S. 173. Regula Schmid, Wahlen in Bern. Das Regiment und seine Erneuerung im 15. Jahrhundert, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 59. 1996 S. 233 – 270, hier 233, 237 f., 259. Ernst Schubert, „bauerngeschrey“. Zum Problem der öffentlichen Meinung im spätmittelalterlichen Franken, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34/35. 1975 S. 883 – 907, hier 887.
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Vermutung – auch die des Publikums – für die Menge. Das Geschrei über das ‚Geschrei‘ konnte einsetzten, die Gefahr für die Reputation der beschrieenen Obrigkeit.
4 Demonstration und Moderne Demonstrationen nehmen derzeit im Spektrum politischer Äußerungsformen eine prominente Stelle ein. Sie sind als ein direktdemokratisches Korrektiv der repräsentativen Demokratie zu verstehen. Es handelt sich dabei um appellatorische Meinungskundgebungen zu politischen Fragen. Meist werden sie von einer größeren Anzahl Personen im Freien, häufig auf Straßen und Plätzen durchgeführt. Es kommen dabei unterschiedliche Formen gewaltlosen Handelns zum Einsatz, der Demonstrationszug und die Versammlung können als ‚klassische‘ Erscheinungsweisen gelten. Das Demonstrationsrecht ist auch heute nicht positivrechtlich geregelt, das Recht zu demonstrieren wird von den Grundrechten, seine Meinung frei äußern und sich jederzeit mit anderen versammeln zu dürfen, abgeleitet. Das Grundrecht der Petition hingegen spielt im Begründungszusammenhang keine Rolle.²²⁷ Die Sozial- und Kulturgeschichtsschreibung untersucht das Phänomen Demonstration als eine Erscheinung, die vor 1790 nicht existiert hat. Die Demonstration gilt ihr als typisches Produkt der Moderne.²²⁸ „In der Forschungsliteratur im Großen und Ganzen unstrittig“ sei,wie Wolfgang Kaschuba zusammenfaßte, ein drei-EtappenModell mit den Einschnitten 1790, 1848, 1890, das die Entwicklung vom sozialen Protest zur Demonstration und die Ablösung des „Niedrigeren“ durch das „Höhere“ aufzeige.²²⁹ Als Protagonisten werden dabei die Handwerksgesellen²³⁰, das Bürgertum
Vgl. Claus Strohmaier, Die Reform des Demonstrationsstrafrechts. Tübingen 1984 S. 21, 32. So dezidiert Charles Tilly, Hauptformen kollektiver Aktionen in Westeuropa 1500 – 1975, in: Geschichte und Gesellschaft 3. 1977 S. 153 – 161, hier 157. Die Demonstration zählt zu seiner Kategorie der ‚proaktiven‘ Formen kollektiver Aktionen. Kaschuba selbst stellt die „Gegenthese“ auf, wonach es sich nicht um ein Nacheinander gehandelt habe, denn Protest und Demonstration „existierten in einer Art ungleichzeitigem Nebeneinander: Traditionelle Formen der Renitenz und des sozialen Protests begleiten die Arbeiterbewegung wie andere soziale Bewegungen schließlich bis ins 20. Jahrhundert.“ Auch er stellt weder den zu untersuchenden Zeitraum noch die Klassifizierung der Handlungsformen an sich infrage Wolfgang Kaschuba, Von der „Rotte“ zum „Block“. Zur kulturellen Ikonographie der Demonstration im 19. Jahrhundert, in: Massenmedium Straße: zur Kulturgeschichte der Demonstration. Hg. Bernd Jürgen Warneken. Frankfurt a. M. usw. 1991 S. 68 – 96, hier 75 f. Vgl. dazu Andreas Grießinger, Handwerkerstreiks in Deutschland während des 18. Jahrhunderts. Begriff – Organisationsformen – Ursachenkonstellationen, in: Handwerker in der Industrialisierung. Hg. Ulrich Engelhardt. Stuttgart 1984 S. 407– 434, hier 424– 427. – Belege für Gesellen(aus) züge auch in: Reinhold Reith/ Andreas Grießinger/ Petra Eggers (Hg.) Streikbewegung deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert. (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 17).Göttingen 1992 S. 67, 76 f.
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und die Arbeiterschaft gesehen.²³¹ In die Betrachtung der „Vorgeschichte“ der „eher undeutlichen kulturellen Herkunft der Demonstrationsform“ werden die „Sturmpetitionen“ des 19. Jahrhunderts von der Kulturgeschichte offenbar nicht mit einbezogen.²³² Wenn sich somit nicht die zarteste wissenschaftliche Spur von den Supplikationen und den frühneuzeitlichen Zügen der Untertanen gen Hof zur Demonstration der Gegenwart ziehen läßt, so heißt das nicht, die Auftritte in der Stadt und die Züge über Land seien keine Demonstrationen gewesen. Die Charakteristika der Demonstration, die gewaltfreie, in der Öffentlichkeit werbende, druckausübende Zurschaustellung der eigenen politischen Überzeugung waren auch ihre Kennzeichen.
Vgl. die Beiträge in: Warneken, Massenmedium Straße (wie Anm. 229), sowie Wolfang Kaschuba, Ritual und Fest. Das Volk auf der Straße, in: Dynamik der Tradition. Hg. Richard van Dülmen (Studien zur historischen Kulturforschung) Frankfurt a. M. 1992 S. 240 – 267, hier 259 – 262. Zitat nach Kaschuba, Von der „Rotte“ zum „Block“ (wie Anm. 229) S. 87. – Jedenfalls ist in dem zitierten resümierenden Beitrag Kaschubas davon so wenig die Rede wie in den anderen Beiträgen des Sammelbandes. Das Petitionswesen wird dort nur einmal und das eher beiläufig erwähnt (S. 49 zu Lyon). – Zu den Sturmpetitionen vgl. Rosegger, Petitionen (wie Anm. 39) S. 35 f. Sengelmann, Zugang des einzelnen (wie Anm. 54) S. 51– 53. Kumpf, Petitionsrecht (wie Anm. 22) passim.
„Gefangene Knechte und Dirnen“. Zur Wahrnehmung von Fronarbeit und Gesindedienst im frühneuzeitlichen Altbayern 1 Wahrnehmungen Als Georg Grüll um die Mitte unseres Jahrhunderts die Geschichte der Robot in Oberösterreich untersuchte, sprach er auch mit den Bauern und Landleuten der Region über jene alten Zeiten der Untertänigkeit. Zu seiner Verwunderung bekam er dabei „ständig Klagen über die einstigen Robot- und Zehntbedrückungen“ zu hören.¹ Er, ein erfahrener Landeshistoriker, wußte aber genau, daß in jener Zeit andere Abgaben – etwa das „Freigeld“– die oberösterreichischen Untertanen weit mehr beschwert hatten als die von ihren Enkeln und Urenkeln beklagten Robot- und Zehntleistungen. Gerade die Robot, also die Fronarbeit, war hier seit langem eine vergleichsweise unbedeutende Last gewesen.² Grüll nahm die Aussagen und das historische Wissen der Landleute als authentische Überlieferung. Er sah in den Ansichten der Nachgeborenen ein Wahrnehmungsmuster der Vorfahren und insoweit eine tradierte subjektive Deutung vergangenen Geschehens. Doch mußte er diese, weil sie dem objektivierten Befund und seinem daraus plausibel gefolgerten Urteil über die Vergangenheit entgegenlief, für sich selbst erklären. Er behalf sich mit einer Anleihe beim topischen Vorrat des überzeitlichen Bauernbildes und meinte, das Gefühl tiefgehenden Hasses, das der bäuerliche Mensch über Störungen seiner Arbeit auf dem eigenen Grund und Boden zu entwickeln pflege, reguliere dessen Wahrnehmung und Gedächtnis gleichermaßen.³ Die Irritation, die ein Wissenschaftler erleben kann, wenn seinem aus fachgerechten Bauelementen errichteten Konstrukt der Vergangenheit unverhofft das Produkt eines anderen Traditionsstranges mit anderen Gewichtungen der nämlichen Ereignisse entgegengestellt wird, dürfte dem Historiker der Frühen Neuzeit auf so direkte Weise wohl nicht mehr widerfahren.Wir haben keinen anderen Zugang zu jener Epoche als die wissenschaftliche Methode. Auch auf der Suche nach der ,subjektiven Seite‘ der Geschichte, die hier als Aufgabe gestellt wurde⁴, können wir ihren Richtlinien natürlich nicht entgehen.
Georg Grüll, Die Robot in Oberösterreich (Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs, Bd. l). Linz 1952 S. 19. Die Höchstmenge der Robot war in Oberösterreich ob der Enns seit 1597 auf 14 Tage pro Jahr festgeschrieben. Ebd. S. 249 Ebd. S. 20. Paul Münch, Überlegungen zur Vorbereitung der Sektionen auf der 3. Frühneuzeittagung Essen. 16. – 18. Sept. 1999: „ ,Erfahrung’ kann jene subjektive Seite der Geschichte sichtbar machen, die beim Objektivierungsgeschäft der Historiker gewöhnlich verloren geht. […] Es gilt, die verlorengegangenen Subjektivitäten wiederzuentdecken.“ DOI 10.1515/9783110541106-008
2 Vogtareuth – ein Fall
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Mein Vorhaben ist es, die Wahrnehmungsweisen, die sich im Kontext von Fronarbeit und Gesindedienst aus dem Handeln und Reden historischer Protagonisten im frühneuzeitlichen Bayern erschließen lassen, aufzuzeigen und sie zu Wahrnehmungsmustern zu verdichten.⁵ Auf diese Weise soll die Bedeutung, die einem Phänomen von den Beteiligten zugemessen wurde, sichtbar gemacht und vor dem Hintergrund des historischen Standardwissens beschrieben und gewürdigt werden. Fronen und Gesindezwang sind hier als zwei Erscheinungsformen ,unfreier Arbeit‘ zusammengefaßt. Unfreie Arbeit wird dabei als eine für das spätere Mittelalter und die Frühe Neuzeit charakteristische Relation von Arbeit und Freiheit verstanden, die sich deutlich vom antiken ,Arbeit bedeutet Unfreiheit’ und vom modernen ,Arbeit begründet Freiheit‘ abhebt. Das kontrastive Gegenüber unfreier Arbeit ist die freie Arbeit: vertraglich vereinbarte Lohnarbeit und selbstorganisierte Eigenarbeit. Im folgenden werden zunächst ein hinführendes Beispiel geschildert und anschließend daran drei Weisen der Wahrnehmung von Fronarbeit und Gesindedienst dargelegt: Fronarbeit als Konfliktpotential: Das Wahrnehmungsmuster der Landesregierung; Naturalscharwerk als naturale Herrschaft: Die Wahrnehmung von Obrigkeiten und Untertanen; Zwang: Die Wahrnehmung von Fron und Gesindedienst als abwesende Freiheit.
2 Vogtareuth – ein Fall Als Roman Zirngibl, der Prior von St. Emmeram in Regensburg, im Herbst 1786 politischer Geschäfte halber nach Vogtareuth kam, einer alten Hofmark des Reichsklosters, fiel ihm die düstere Stimmung auf, die auf dem Dorf lastete. Er erkundigte sich – das ist seinem Tagebuch zu entnehmen – nach dem Grund des Mißmuts und erfuhr, es seien die Scharwerk, die den Untertanen so aufs Gemüt drückten, insbesondere die 128 Holzfuhren, die der Verwalter der Propstei, der den Winter über doch tatsächlich fünf Öfen heize, in jedem Jahr von ihnen verlange. Der Prior bemühte sich, die Bauern zu beschwichtigen, indem er ihnen anhand des neuen Codex Civilis vorrechnete, wie gering die an sie herangetragenen Forderungen waren, wenn man sie mit den gesetzlich zulässigen vergliche.⁶ Seinem Fürstabt aber riet er in einem Schreiben doch lieber, die „verhaßten Hand- und Fuhrfronen auf Ruf und Widerruf“ durch die Un-
Das Vorhaben schien eher mit Hilfe der Kategorie ,Wahrnehmung’ als über die der ,Erfahrung’ durchführbar zu sein. Gemeint war der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis. München 1756, der in T. 2, Kapitel 11, S. 173 – 180 „Von Frohn- und Scharwerks-Diensten“ handelt.
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„Gefangene Knechte und Dirnen“
tertanen in Geld ablösen zu lassen; denn das wäre das beste Mittel, die so „niedergeschlagenen Bauern wieder aufzurichten und mit Vertrauen und Liebe zu erfüllen“.⁷ Die Vogtareuther konnten, wie diese Schilderung ihrer Gemütsverfassung zeigt, offenbar ihre letzte Niederlage vor Gericht, die bereits 20 Jahre zurücklag (November 1766), nicht verwinden und sich weder mit dem rechtlichen Entscheid⁸ noch mit den Umständen selbst abfinden. Sie hatten sich vom Beginn des 18. Jahrhunderts an⁹, also etwa sieben Jahrzehnte lang, gegen die ihrer Meinung nach neuen Fronforderungen gestellt, zwischen 1754 und 1766 überhaupt keine Scharwerk geleistet und der Sache offensichtlich grundsätzliche Bedeutung zugemessen.¹⁰ „Sye thuen keine Scharwerch und lassen sich darzue nit zwingen“, hatten die im Amtshaus gefangengesetzten Bauernführer 1764 verbittert und entschieden festgestellt, „der Fürst hat das nit geschafft, und wann er es geschafft hätte, wäre das auch ein geistlicher Fürst, das wäre nur ein Pfaff, das wäre mir ein Fürst wie s.v. Arsch“.¹¹ Vogtareuth steht hier als konkreter, aber in keiner Weise extremer Fall: – Die verlangten Fronen bedeuteten eine vergleichsweise geringe Belastung der Bauernwirtschaften, aber sie wurden als drückende Last empfunden – das wäre durchaus eine Analogie zum Grüllschen Oberösterreich; sie waren „verhaßt“, wie der gängige zeitgenössische Ausdruck dafür lautete. Das zeigt die Tatsache, daß sie über Jahrzehnte gerichtlich bestritten und faktisch verweigert wurden, und das bezeugen die Wahrnehmungen und der Augenschein des Klosterpriors, quasi eines Beobachters von der gegnerischen Warte aus. – Die Konflikthaftigkeit der Fronen als Ausdruck der Ablehnung ist ein weiteres Moment, das dem Beispiel exemplarischen Charakter verleiht. – Das gleiche gilt für die vorgeschlagene Lösung des Vogtareuther Problems, nämlich die Umwandlung der Naturalleistung in eine jährlich zu reichende fixe Geldsumme. Die Fronen verloren für die Pflichtigen meist ihre Anstößigkeit, wenn sie in Form einer monetären Leistung auftraten. Die rechtliche Grundlage blieb davon unberührt, und die ökonomische Belastung veränderte sich durch den Transfer gewöhnlich nicht zum Vorteil der Bauern.
Hans Meixner, Die Klosterpropstei Vogtareuth, in: Das bayerische Inn-Oberland 18. 1933 S. 22– 48, hier 47 f., und in: Ebd. 19. 1934 S. 5 – 55, hier 31. Die Ablösung in Scharwerksgeld erfolgte 1793 auf der Basis von zehn Gulden jährlich pro ganzem Hof für Jagd- und Gerichtsscharwerk. Meixner, Vogtareuth (wie Anm. 7) 19/1934 S. 30 f. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München [im folgenden: BayHStA], Civilakten Fasz. 1313, Nr. 427 II, fol. 586 – 600. Revisionsgesuch im Hofrat präsentiert am 31. Dez. 1766. Den Anfang hatte ein Prozeß über die Jagdfronen (1701– 1704) gemacht. Das Revisionsgesuch der Untertanen gegen das Urteil der Regierung Burghausen wurde vom Hofrat mit Schreiben vom 16. Juli 1704 abgelehnt; BayHStA, Civilakten Fasz. 1313, Nr. 427 II, fol. 466; Meixner,Vogtareuth (wie Anm. 7) 19/ 1934 S. 30. Meixner, Vogtareuth (wie Anm. 7) 19/1934 S. 31. Auszug aus dem Protokoll des Vogtareuther Amtmanns vom 13. Febr. 1764; BayHStA, Civilakten Fasz. 1313, Nr. 427 I, fol. 307.
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– Auch die agonale Attitüde, die die Bauernführer in dramatischen Momenten an den Tag legten, und die herabsetzende Infragestellung der Obrigkeit, die sie dabei äußerten, sind nicht ungewöhnlich.
3 Scharwerk als Konfliktpotential: Das Wahrnehmungsmuster der Landesregierung Die Fronarbeiten, darin stimmen die Wahrnehmungen der zeitgenössischen Befürworter und Gegner überein, waren im frühneuzeitlichen Bayern der weitaus häufigste Anlaß für den Ausbruch eines Konflikts und, zumindest als mitlaufendes Thema, Gegenstand der meisten Auseinandersetzungen zwischen Untertanen und Obrigkeiten.¹² Auf die Fronstreitigkeiten wurde schon im Landrecht von 1616 mehrmals Bezug genommen;¹³ juristische Kommentatoren sahen Ende des 17. Jahrhunderts die bayerischen Gerichte mit den Scharwerks- „Stritthändeln überhäuft“. Zählt und gewichtet man den archivalischen Nachlaß, so erweisen sich etwa im Rentamt Landshut 40 % der rund 400 Untertanenprozesse in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert als explizite Fronkonflikte, bei den meisten anderen sind Fronen eine Begleiterscheinung.¹⁴ Als Hauptepoche der Fronauseinandersetzungen im Land ist die Zeit zwischen 1580 und 1660 anzusehen. In gewisser Weise bildeten die landrechtlichen Bestimmungen über die Scharwerk eine Voraussetzung ihrer Konfliktträchtigkeit. Die gesetzlichen Scharwerk – nur von diesen Fronen ist hier die Rede –, die der niederen Obrigkeit, den adligen, auch dem landesfürstlichen und den geistlichen Niedergerichtsherren und Vögten, zustanden, waren „ungemessen“, so stand es im Landrecht von 1616 und auch noch im Codex Civilis von 1756.¹⁵ Die Fronarbeit sollte am Maß der Hausnotdurft von Herrenhof und Bauernanwesen ausgerichtet und gemäß Landesbrauch und lokalem Herkommen gehandhabt werden.¹⁶ Dieses Maß mußte immer wieder neu austariert werden; in der Praxis erforderte das Wachsamkeit oder eben Konfliktbereitschaft.
Vgl. dazu: Renate Blickle, Scharwerk in Bayern. Fronarbeit und Untertänigkeit in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 17. 1991 S. 407– 433, hier 416 f. Landrecht der Fürstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. München 1616, Tit. 22, Art. 4, Art. 13. Winfried Helm, Obrigkeit und Volk. Herrschaft im frühneuzeitlichen Alltag Niederbayerns, untersucht anhand archivalischer Quellen (Passauer Studien zur Volkskunde, Bd. 5). Passau 1993, S. 255. Landrecht 1616 (wie Anm. 13) Tit. 22, Art. 1, 2, 12, 13; Codex Civilis 1756 (wie Anm. 6) T. 2, Kap. 11, § 14. Blickle, Scharwerk (wie Anm. 12) S. 422– 429. Zu Scharwerk und Dienstzwang in Bayern vgl.: Hanns Platzer, Geschichte der ländlichen Arbeitsverhältnisse in Bayern (Altbayerische Forschungen, Bd. 2/3). München 1904 S. 3 – 43; Stephan Kellner, Die Hofmarken Jettenbach und Aschau in der frühen Neuzeit (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte, Bd. 10). München 1986, bes. S. 122 – 132; Franz M. Huber, Altbayerische Frondienste, eine Geschichte des Scharwerks, in: Bayerisches Landwirtschaftliches Jahrbuch 68. 1991 S. 823 – 907; Helmut Rankl, Die bayerische Scharwerksablösung von 1665/66. Bauernschutz und Fiskalismus unter Kurfürst Ferdinand Maria, in: Gegenwart in Vergangenheit. Festschrift für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag. Hg. Georg Jenal.
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Am Hof der Landesfürsten in München, so hier die These, wurde ihre Konflikthaftigkeit zu einem dominanten Muster für die Wahrnehmung der Fronen. Das ist insoweit einsichtig, als die rechtlich ausgetragenen Streitigkeiten zwischen Untertanen und Obrigkeiten für gewöhnlich vor den Hofrat gelangten und dort entschieden wurden. Man konnte am Hof also einen kompakten Eindruck vom Konfliktpotential gewinnen, das dem Scharwerkswesen innewohnte. Die Landesherren ergriffen noch vor 1600 erste Maßnahmen, um sich selbst aus diesem kritischen Bereich zurückzuziehen und kamen auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder auf das Vorhaben zurück, die Scharwerksrechte, die ihnen als Niedergerichtsherren im Lande zustanden, in Geldzahlungen umzuwandeln. 1595 bot Herzog Wilhelm den Untertanen an, die Scharwerk zum Preis von 100 Gulden pro ganzem Hof zu erwerben. Das eben angelaufene Unternehmen geriet jedoch bald ins Stocken.¹⁷ Von Kurfürst Maximilian initiierte Maßnahmen zu einer Scharwerksablösung sind aus den Jahren 1616, 1637 und 1642 überliefert.¹⁸ Seine persönlich zurückhaltende, bewußt vorsichtige Inanspruchnahme des Fronrechts geht aus den Hofkammerprotokollen hervor. Die Außenbeamten mahnte man mit dem Hinweis zum Maßhalten, auch der Landesfürst „ziehe“ „sich selbst mit Scharwerken ein“.¹⁹ Unter Kurfürst Ferdinand Maria erfolgte 1665/66 dann tatsächlich die landesweite Ablösung der gesetzlichen Naturalfronleistung der fürstlichen Niedergerichtsuntertanen.²⁰ Die Maßnahme verwandelte die Arbeitspflicht in eine Geldschuld. In der Praxis bedeutete sie die direkte Umsetzung von Fronarbeit in Lohnarbeit, von unfreier in freie vertragliche Arbeit; denn die Transporte und die übrigen Tätigkeiten mußten ja weiterhin erledigt werden. Sie wurden von gedingten Tagelöhnern bzw. Fuhrwerkern übernommen und aus der Scharwerkskasse bezahlt.²¹
München 1993 S. 91– 129; Monika Ruth Franz, Der Verkauf von Scharwerksgeldern an die bayerischen landständischen Klöster unter Kurfürst Max Emanuel, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 56. 1993 S. 649 – 723; Josef Seger, Eine Irrung der Scharwerk und Frondienst wegen – Scharwerksverweigerung in der Hofmark Woffenbach, in: Jahresbericht des Historischen Vereins fü r Neumarkt in der Oberpfalz und Umgebung 21. 1996 S. 41– 50. Bereits für 1591 lassen sich diesbezügliche Überlegungen am Hof aufzeigen. Gegner der Maßnahmen waren vor allem die Landstände, während die Untertanen „darzue […] gar willig“ gewesen sein sollen. Heinz Dollinger, Studien zur Finanzreform Maximilians 1.von Bayern in den Jahren 1598 – 1618 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 8). Göttingen 1968 S. 41, 84, 150, 416 – 418; Rankl, Scharwerksablösung (wie Anm. 16) S. 99; Huber, Frondienste (wie Anm. 16) S. 852. Von dem Ursprunge, oder der Entstehung, der Natur und der dermaligen Verfassung der Landgüter oder Bauernhöfe in Deutschland, besonders in Baiern. o.0. 1803 S. 37 f., Beilage A, 66, Beilage B, 67. Dollinger, Finanzreform (wie Anm. 17) S. 417. Von dem Ursprunge (wie Anm. 18) Beilage C, S. 68 – 80 (Scharwerksinstruktion); Rudolf Schlögl, Bauern, Krieg und Staat. Oberbayerische Bauernwirtschaft und frühmoderner Staat im 17. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 89). Göttingen 1988 S. 174– 176, 225 – 228; Rankl, Scharwerksablösung (wie Anm. 16); Huber, Frondienste (wie Anm. 16) S. 854– 858. Rankl, Scharwerksablösung (wie Anm. 16) S. 120 f., 123 f.
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Vom Vorgang 1665/66 war etwa die Hälfte der Untertanen auf dem Land betroffen; die andere Hälfte der Landbevölkerung, die Untertanen der adeligen und geistlichen Hofmarksherren, mußte weiterhin Naturalscharwerk leisten, außer man traf mit den Obrigkeiten anderslautende Vereinbarungen. Mit ihrem Rückzug aus dem konfliktträchtigen Scharwerkswesen nahm die Landesherrschaft sich selbst und ihre Beamten aus der direkten Schußlinie; an ihrer konfliktzentrierten Fron-Perspektive änderte die Maßnahme jedoch wenig. Die Zentrale übernahm die Rolle eines lebhaft interessierten Beobachters, ein Mittel, in das ihr mißfällige Geschehen einzugreifen, fand sie nicht – dazu war die ,ständische Lobby‘ gerade im 18. Jahrhundert zu stark. Der Menge der Fronstreitigkeiten wegen hielt die Regierung es in der Folgezeit für nötig, eine spezielle Scharwerkskommission einzusetzen. Das Kollegium bestand von 1669 bis 1683.²² In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts versuchten die Kurfürsten mehrmals, durch „deputierte Commissarien“ (1722/23)²³ und durch landesweite Erkundigungen, die von den Beamten vor Ort „der sicherheithalb sehr difficil und in höchster geheimbe tractirt werden“ sollten²⁴, präzisere Informationen über die,wie es durchweg heißt, „Scharwerks-Exzesse“ in den Hofmarken zu sammeln (1730, 1749), um in Zukunft „gegen die höchstschädlich und intolerable ungebür“ bessere Handhaben entwickeln zu können und, wenn möglich, überhaupt „die ungemessne Scharwerch als die unerschöpfliche quell ewiger strittigkeiten ganz und gar abzuschaffen“ und dafür „ein gewisses Gelt“ fordern zu lassen.²⁵ Wie sehr die Scharwerk als konflikthaft wahrgenommen wurden, zeigen die Gutachten, die von allen hohen Regierungskollegien zum Entwurf des neuen Codex Civilis von 1756 abgegeben wurden. Die Autoren beschäftigte außer den Vor- und Nachteilen für die Hofmarksherren vor allem der Umstand, daß der „sehr villen Scharwerchs Strittigkeiten wegen Menge der beschwerdten [halber], in judicando fast nit mehr forth zu khomen“ sei.²⁶ Eduard Rosenthal, Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Baierns. Bd. 2, Würzburg 1906 S. 401; Reinhard Heydenreuter, Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian 1. von Bayern (1598 – 1651) (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 72). München 1981 S. 267. „3 im Scharwerkswesen v[er]ordnete Rhäte“ lassen sich fü r die Zeit von 1677 bis 1683 nachweisen; BayHStA, Generalregistratur [im folgenden: GR] Fasz. 1279, Nr. 21. BayHStA, GR Fasz. 1273, Nr. 8 (unfol.). Im Bericht des Hofkammerpräsidenten v. Hellersperg an den Kurfürsten, München, 5. Dezember 1749, wird Bezug genommen auf eine am 12. Dezember 1722 erfolgte kurfürstliche Resolution der deputierten Kommissare, „die mit Untersuchung der Hofmarchs Scharwerch Excessen den 14. Jan. ao 1723“ beauftragt worden seien. BayHStA, GR Fasz. 1273, Nr. 8, Schreiben des Rentamts Burghausen an die Hofkammer vom 6. November 1749. BayHStA, GR Fasz. 1273, Nr. 8, Signet vom 27. April 1749, Geheimer Rat an Hofrat. Zitat in: BayHStA, Kurbayern Geheimes Landesarchiv Nr. 1597, fol. 153 – 158, hier fol.153’, Gutachten der Regierung Straubing zu Codex Civilis, T. 2, Kapitel 11 (Scharwerk), vom 30. Januar 1755; und fol. 161– 177, Gutachten zu T. 4, Kapitel 6 (Dienstzwang), vom 14. Juli 1755; Gutachten der Regierung Burghausen, fol. 299, zu T. 4, Kapitel 6 (Dienstzwang); Gutachten des Hofrats in München, fol. 369, zu T. 2, Kapitel 11 (Scharwerk), vom 28. Januar 1755; Gutachten des Revisionsrats, fol. 362– 363‘, zu T. 2, Kapitel 11
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Das Konfliktpotential der Fronarbeit prägte die Wahrnehmung dieser Einrichtung durch Landesherren und Regiment. Sie diagnostizierten den Konflikt als ein der Fronarbeit inhärentes Moment. Den „Vngleichheiten“ im Scharwerkswesen, so die Einsicht, die der Ablösung 1665/66 zugrundegelegen hatte, könne „one immerwehrendes Kriegen […] nit abgeholfen werden“.²⁷ Die Konflikte waren vorprogrammiert, der Naturalscharwerk eingezeichnet. Wollte man den Streit vermeiden, mußte man diese Form der Leistung eben beseitigen.
4 Naturalscharwerk als ,naturale‘ Herrschaft: Die Wahrnehmung von Obrigkeiten und Untertanen Die Landesfürsten hielten die Umwandlung der Naturalfronen in ein jährlich zu entrichtendes Geldfixum für die Lösung des Scharwerksproblems. Ihre Position als Obrigkeit wurde durch die Maßnahme nicht beeinträchtigt, sie verfügten über wirkungsvollere Hoheitsrechte und hatten genügend andere Möglichkeiten, Herrschaft zu demonstrieren. Das traf für die adligen und geistlichen Hofmarksherren, die übrigen scharwerksberechtigten Obrigkeiten, nicht in dem Maß zu. Die naturale Einforderung der gesetzlichen Scharwerk bedeutete für sie Wahrung und Ausdruck von Herrschaft und ständische Differenzdarstellung, denn nur Inhaber der Gerichtsherrschaft (Hofmarken) und der Edelmannsfreiheit fähige Personen (auf sogenannten einschichtigen Gütern) konnten diese Fron beanspruchen²⁸, und nur Bauern und ländliche Untertanen hatten sie zu leisten. Die Zeitgenossen nannten die Scharwerk daher „das Kleinod der Niedergerichtsbarkeit“.²⁹ Die obrigkeitliche Nutzung der Naturalfron ging über den wirtschaftlichen Nutzen hinaus. Fronarbeit war nicht bloße ,Abschöpfung‘ fremder Arbeit, sondern ebenso die Realisierung von Herrschaft, konkrete Übung des Gewaltverhältnisses über leibhaftige untertänige Personen – und keineswegs nur ein rechtliches Schuldverhältnis, wie es eine Geldabgabe darstellt.³⁰ Die Obrigkeit ließ die Untertanen durch den Amtmann zur Arbeit aufbieten, nicht etwa bitten: „[M]ir dißvalls zu pitten nit gelegen, [und mich] dadurch meine[r] obrigkeit zu begeben“, hatte ein Hofmarksherr sein Verständnis der Scharwerk schon um 1550 klargestellt.³¹ Die Obrigkeit wollte die (Scharwerk), vom 25. Januar 1755; Gutachten der Landschaft, fol. 398 – 400, zu T. 2, Kapitel 11 (Scharwerk), vom 18. August 1755; Gutachten, fol. 413, zu T. 4, Kapitel 6 (Dienstzwang), vom 16. September 1755. Von dem Ursprunge (wie Anm. 18) S. 75. Landrecht 1616 (wie Anm. 13) Tit. 22, Art. 1, 9; Codex Civilis 1756 (wie Anm. 6) T. 2, Kap. 11, §§ 1, 4, 6, 15. Blickle, Scharwerk (wie Anm. 12) S. 422. Vgl. dazu Hans Schmelzle, Der Staatshaushalt des Herzogtums Bayern im 18. Jahrhundert (Münchner Volkswirtschaftliche Studien, Bd. 41). Stuttgart 1900 S. 45. Staatsarchiv München, Herrschaft Hohenaschau, Akten 2366; Schreiben des Pankraz von Freyberg auf Wildenwart an den Hauptmann von Burghausen, undatiert [1550].
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Untertanen aufbieten, wenn und wann sie ihrer bedurfte: Erst wenn „der Herrschafft Getraydt, so billig den Vorgang, gänzlich abgeschnitten“, sollten sich die Untertanen nach Meinung des Herrn auf Schwarzenfeldt (1630) dem eigenen Korn zuwenden,³² denn – so wird als ,allgemeines Sprichwort‘ noch ein Jahrhundert später zitiert – „Gottes Gewaldt und Herren Geschäfft gehet allem vor“.³³ Zudem hatte die Obrigkeit das Recht, denjenigen, der nicht pünktlich erschien, nicht korrekt arbeitete oder überhaupt die Arbeit verweigerte, selbst zu strafen³⁴, bis ins 17. Jahrhundert hinein vor allem mit Geld, zunehmend häufiger mit Gefängnis. Die Scharwerk, die die Hofmarksherren verlangten, waren überwiegend Arbeiten zu deren Hofbau, wie die landwirtschaftlichen Betriebe des Adels und der Klöster hießen: Die Scharwerker mußten pflügen, Dünger fahren und auf dem Acker ausbreiten, Getreide und Gras mähen, rechen, einfahren. Es waren dieselben Arbeiten, die zur selben Zeit auch auf den Feldern und Wiesen der Untertanen getan werden mußten. Diese Gleichartigkeit des Wirtschaftens setzte die direkte Herrschaftsausübung in besonderem Maße dem direkten Vergleich aus. Mein Korn oder ihr Korn, diese durchaus existentielle Frage stellte sich angesichts der nämlichen Abhängigkeit von Sonnenschein und Regen ganz konkret und Jahr für Jahr aufs neue. „Ich bin so oft“, hatte Sigmund Strasser öffentlich die Jesuiten beschuldigt und versichert, der Teufel habe sie gebracht und würde sie auch wieder holen, „[i]ch bin so oft ihret wegen an den Scharberg gefahren, ich kann’s und mag’s nimmer tun, der Schauer hat mir all mein Traid erschlagen und ich und mein Ross haben nichts zu essen“ (1594).³⁵ Der nahezu invariable Zeitpunkt, zu dem eine Arbeit in der Landwirtschaft getan werden muß, wurde von den fronpflichtigen Untertanen als Möglichkeit wahrgenommen, durch Weigerung Druck auf die Obrigkeit auszuüben. Führten sie den Dung nicht aus, ließen sie das Heu auf den Wiesen verfaulen, hatte die Herrschaft – waren sie sich einig – kaum die Chance, Ersatzarbeiter aufzutreiben und den drohenden Verlust abzuwenden. Der Scharwerkstreik begleitete daher die Herrschaftskonflikte mehr oder minder regelmäßig³⁶, wie denn die Boykott- und Sabotageanfälligkeit dieser Einrichtung für jedermann auf der Hand lag.³⁷ Die Schadensdrohung war
Walter Hartinger, „… wie von alters herkommen …“. Dorf-, Hofmarks-, Ehehaft- und andere Ordnungen in Ostbayern (Passauer Studien zur Volkskunde, Bd. 15). Passau 1998 S. 889 – 893, hier: Schwarzenfeld, Eid der Untertanen 1630 und 1655, S. 892. BayHStA, Kurbayern Geheimes Landesarchiv Nr. 1597, fol. 176’; Gutachten der Regierung Straubing zum Entwurf des Codex Civilis, T. 4, Kapitel 6, vom 14. Juli 1755. Codex Civilis 1756 (wie Anm. 6) T. 2, Kapitel 11, § 13: Während den Untertanen nur der Rechtsweg, die Klage bei der hohen Obrigkeit, dem Landesfürsten, offenstand, konnte die Herrschaft „auch eigenmächtiger Weiß mit behörigen Zwangsmitteln verfahren“. Hans Hornung, Beiträge zur inneren Geschichte Bayerns vom 16. – 18. Jahrhundert aus den Umrittsprotokollen der Rentmeister des Rentamts Burghausen. München 1915 S. 75. Die Verweigerung der Fronarbeit ist jedenfalls dann eindeutig Streik – Appell und Druckmittel – , wenn die Fronen nicht Gegenstand des Herrschaftskonfliktes sind. Eine Auflistung üblicher Verfehlungen bringt die Ehaft-Ordnung von Lutzmannstein (1662). Danach käme „einer heut der andre morgen“, etliche erschienen erst „umb den Mittag zur Arbeit“, gingen nach
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aber nur das eine Ziel derartiger Aktionen, zusätzliche Wirkung erreichten sie durch die Anstößigkeit, die sie als eine ganz konkrete Offenbarung obrigkeitlicher Abhängigkeit bedeuteten. Die Fronen waren daher auch den Pflichtigen ein Feld, auf dem Macht und Meinung demonstrativ geäußert und sichtbar gemacht werden konnten. Hans Furter, ein Vogtareuther Bauer, befahl seinem Knecht, das vor dem Propsttor umgeworfene Fuder Heu nicht nur liegen zu lassen, sondern auch mit dem Roß darum herum zu reiten.³⁸ Ihre naturale Qualität – der verwirklichte Anspruch auf den Körper eines anderen, auf dessen Kraft, Geschick, Zeit und Aufenthalt, und auf der anderen Seite die (meist) mit dem eigenen Leib erfüllte Arbeitsverpflichtung – machte die Scharwerk zum allergewöhnlichsten Schauplatz direkter Herrschaftsausübung. Naturalscharwerk waren untransponierte akute Herrschaft.
5 Der Zwang: Die Wahrnehmung von Fron und Gesindedienst als abwesende Freiheit Die Metaphern, mit denen Fronarbeit und Gesindedienst gefaßt wurden, sind Metaphern des Zwangs. Wie Kloster Ettal, das im Gericht Ammergau junge ledige Frauen und Männer zur Arbeit auf seinen großen Schwaighöfen aufbot, sein Vorgehen verstand, drückt sich in seiner Buchführung deutlich aus. Ettal registrierte die Namen der zum Dienst verpflichteten Bauernkinder über zweihundert Jahre lang unter der Rubrik „gefangene Knechte und Dirnen“.³⁹ Die Arbeitsleistung dieser Untertanen war erzwingbar – erzwungene Arbeit ist die Arbeit Unfreier, eben „Gefangener“ –, wie denn auch das Gefängnis selbst im Laufe der Neuzeit jeder kleinen Hofmark und deren Einwohnern bekannt wurde. Die verwendeten Tiermetaphern heben ebenfalls auf die Momente der Gefangenschaft oder schweren erzwungenen Arbeit ab. Man zog Haustiere und insbesondere solche⁴⁰, die unter dem Joch gehen, vergleichend heran. „Die Frohndienste sind ein nachtheiliges System; der Arme wird dadurch noch unter die Klasse der Lastthiere herabgesetzt“, denn Esel und Pferd würden besser gepflegt als dieser, liest man 1778 im Intelligenzblatt.⁴¹ Eine andere Variante, die Differenz
zwei bis drei Stunden wieder ohne Erlaubnis, nicht wenige blieben „gar daheimb“ oder schickten kleine „untichtige Khünder“, andere verrichteten nicht, was sie sollten, sondern „was ihnen gelibt“ usw. Hartinger, Ordnungen (wie Anm. 32) S. 712– 731, hier 722 f. BayHStA, Civilakten Fasz. 1313, Nr. 427 II, fol. 474, Extrakt aus der Vogtareuther Amtsrechnung [1654]. Placidus Glasthanner, Die Dienstpflicht im ettalischen Gericht Ammergau-Murnau, in: Ettaler Mandl 40. 1961 Heft 13 S. 83 – 89; Blickle, Scharwerk (wie Anm. 12) S. 420 f. Es sei nur an den Unterschied zwischen ,Vieh‘ und ,Tier‘ erinnert und auf Schubarts (Deutsche Chronik 1774. Bd. 1, 8) Gespräch zwischen Wolf und Hund verwiesen: „Drum bist Du Wolf; Ich Hund, Du frey; Ich aber in der Sklaverey“. Münchner Intelligenzblätter. Für das Jahr 1778, 212, Art. VII. ,,Zur Haus- und Landwirtschaft. Paris den 16. May.“
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zwischen Mensch und Tier, hatten dagegen die Oberarnbacher vor Augen, als sie während eines Fronprozesses klagten, man nenne sie „jenseits“ – also aufseiten der Hofmarksherrschaft – „vicher“, sie aber wollten „wie Menschen und nicht wie die Vicher tractirt“ werden.⁴² Auch die übrigen verbreitet benutzten Wortbilder assoziieren sich mit dem Zwangsmoment dieser Arbeitsformen. Fronarbeit und Gesindedienst werden seit der Mitte des 17. Jahrhunderts mit Leibeigenschaft verglichen – mit der die Scharwerk, das sei noch einmal rekapituliert, als Untertanenpflicht gegenüber dem Vogt oder Gerichtsherrn in Altbayern nichts zu tun hatten.⁴³ Die „ägyptische Dienstbarkeit“, die „böhmische Servitut und Leibeigenschaft“, seit etwa 1700 „Sklaverei“ als Nonplusultra der Zwangsausübung⁴⁴ werden vorgebracht, gegen Ende des 18. Jahrhunderts sieht man das Dienstgesinde auf dem Felde „wie Sklaven an der Küste der Barbarei“ zusammengetrieben.⁴⁵ Die Wortbilder wurden nun inflationär.⁴⁶ Das Nebeneinander von freier und unfreier Arbeit in der frühneuzeitlichen Gesellschaft hielt das Wissen um den Unterschied wach und provozierte immer aufs neue Vergleich und Abgrenzung. Den Knechten und Dirnen in Ettal wurde das Attribut „gefangen“ schließlich auch beigelegt, weil sie an der Seite freier Ehalten arbeiteten und die Differenz festgehalten werden sollte. Noch 1791 betonte die Hofmarksherrschaft Pörnbach den ihrer Meinung nach wesentlichen Unterschied, der zwischen „jenen Dienstboten, die ihren freyen willen haben […] und keiner Servitut unterworfen sind“, und solchen „Untertanns Kinder[n]“, die der Servitut unterstanden und, „wenn man es fordert, ihrer Herrschaft zu dienen schuldig seyen“, bestehe.⁴⁷ Dem Arbeitsverhältnis des gedingten Gesindes lag nach allgemeiner Überzeugung eine Willenserklärung beider Seiten, ein Vertrag, zugrunde⁴⁸, und genau diese Möglichkeit, aktiv
BayHStA, Hofrat Fasz. 66, Nr. 261 (unfol.), Schreiben der Hofmarksuntertanen, präsentiert im Hofrat in München am 9. Juni 1762. Blickle, Scharwerk (wie Anm. 12) S. 414, 421; Renate Blickle, Leibeigenschaft. Versuch über Zeitgenossenschaft in Wissenschaft und Wirklichkeit, durchgeführt am Beispiel Altbayerns, in: Gutsherrschaft als soziales Modell. Hg. Jan Peters (Historische Zeitschrift, Beiheft NF. 18). München 1995 S. 53 – 79, hier 66 f. Zwangsdienste lediger Personen wurden sowohl von einigen Leibherren als auch von einigen Gerichtsherren verlangt. Renate Blickle, Appetitus Libertatis. A Social Historical Approach to the Development of the Earliest Human Rights:The Example of Bavaria, in: Human Rights and Cultural Diversity. Ed.Wolfgang Schmale. Goldbach 1993 S. 143 – 162, hier 154 f. Anonymus, Über den Werth und die Folgen der ständischen Freyheiten in Bayern. o.0. 1797 S. 75. Vgl. dazu: Wolfgang Stammler, Politische Schlagworte in der Zeit der Aufklärung, in: ders., Kleine Schriften zur Sprachgeschichte. Berlin/Bielefeld/München 1954 S. 48 – 100. BayHStA, GR Fasz. 1616, Nr. 8, Schreiben des Reichsgräflich Gronsfeld-Törringschen Hofmarksgerichts Pörnbach an das Land- und Pfleggericht Pfaffenhofen vom 18. Juli 1791. Der Ausdruck „Ehalt“, der in Bayern die gedingten Dienstboten bezeichnet, bildet bereits im Wort das Vertragsmoment des Arbeitsverhältnisses ab. Seit dem 14. Jahrhundert findet man landrechtliche Regelungen der vertraglichen Lohnarbeitsverhältnisse, in der Neuzeit gibt es zahlreiche eigenständige Gesindeordnungen. Platzer, Geschichte der ländlichen Arbeitsverhältnisse (wie Anm. 16); Walter Hartinger, Bayerisches Dienstbotenleben auf dem Land vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für
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und willentlich zwischen Alternativen zu entscheiden und freie Vereinbarungen zu treffen, war dem zwangsdienstleistenden Gesinde verwehrt. Zwang wurde auch dort als das entscheidende Differenzkriterium empfunden, wo eine Obrigkeit Fronarbeit einforderte, während die Untertanen allenfalls Bittarbeit schuldig zu sein meinten. Kontroversen darüber treten auch noch im 18. Jahrhundert auf. So bestanden die Uttinger 1764 darauf, für die Herrschaft bisher nur einzelne Fuhren „bittweis“ erledigt zu haben, während diese behauptete, es habe sich um Zwangstransporte gehandelt.⁴⁹ Man registrierte den Unterschied zwischen einer erbetenen/konsentierten und einer gebotenen/zwangsbefolgten Tätigkeit ganz genau, obwohl Zustimmung oder die Erfüllung einer Bitte nicht dasselbe Maß an Freiwilligkeit bekunden, wie es für einen Vertragsabschluß unterstellt wird. In den Schriften maßgeblicher bayerischer Juristen wird der Zwangscharakter der Fronarbeit und des Gesindedienstes besonders hervorgehoben. Den Wissens- und Wahrnehmungshintergrund der Schreiber bildete nicht das Gelehrtenmilieu einer Universität – dort wurden solche Themen nur selten behandelt –, sondern die Praxis.⁵⁰ Sie waren als Anwälte von Untertanen und Obrigkeiten oder als Ratsmitglieder in zahlreichen Streitfällen direkt mit der Materie befaßt. Kaspar von Schmid, der im Kommentar zum Landrecht von 1616 häufig auf seine Erlebnisse als Hofmarksherr und Hofrat zu sprechen kommt, resümierte seine Erfahrungen in dem Satz, es müßten die bayerischen Bauern zur „Verrichtung [von] dergleichen Dienst gezwungen werden, wie Simon Cyreneus zur Tragung des Creutz des Herrn“.⁵¹ Christoph Chlingensberg verglich die Titel des bayerischen Landrechts über die Leibeigenschaft (Tit. 4) und über die Fronen (Tit. 22) mit der christlich-naturrechtlichen Lehre, wonach wir alle Brüder in Christo und von Natur frei und gleich seien, und kam zu dem resignativen Schluß, in diesen beiden Landrechtstiteln habe „die antike Servitut wie ein Spiegel überlebt“.⁵²
bayerische Landesgeschichte 38. 1975 S. 598 – 638; Hermann Heidrich, Knechte, Mägde, Landarbeiter. Zur Geschichte einer schweigenden Klasse, in: Knechte, Mägde, Landarbeiter. Arbeitskräfte in der Landwirtschaft in Süddeutschland. Hg. ders. (Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums, Bd. 27). Neustadt an der Aisch 1997 S. 7– 38. Wilhelm Neu, David Hofmayer und der „Uttinger Bauernaufstand“ 1758 – 71, in: Lech-Isar-Land. 1981 S. 25 – 53 und 43 f.; Blickle, Scharwerk (wie Anm. 12) S. 429 f. So stellt Ertl (Anton Wilhelm Ertl, Practica aurea de Jurisdictione inferiore civili: Vulgo: Von der Nider-Gerichtbarkeit/Erb-Gericht/Vogtey/oder Hofmarck-Gericht etc. Nürnberg 1693 Lib. 1, Cap. 7, S. 43 – 66: Sextus Effectus Jurisdictionis, Operae Subditorum, vulgo, Frohndienst, Robold, Scharwerchen) einleitend fest: „De qua materia, praeter Jacobinum de S. Georgio, Joannem Balthasarem et Eucharium Erhardum neminem hactenus scripsisse scimus; cum tamen ea sit quotidiana, et in Dicasteriis aulicis variarum provinciarum famosissima, adeo ut dici possit: lites de operis praestandis esse fulcrum Jurisdictionis.“ Christoph Chlingensperg, Disputatio juridica de operis subditorum Ad intellectum Chur-Bayrische-Landrecht. Tituli XXII. Von den Scharwerchen. lngolstadt 1692 Kapitel 1, 2. Caspar von Schmid, Commentarius, oder Auslegung des churbairischen Land-Rechts. Ins deutsche übersetzt. Augsburg 1747 (zuerst München 1695). Commentarius zum Landrecht, Th. 2, S. 137. Chlingensperg, Disputatio juridica de operis subditorum (wie Anm. 50) Kap. 1, 7 und 10. Die Wahrnehmungskategorie ,Zwang‘ führte in Bayern Scharwerk und Leibeigenschaft in einen polemischen Betrachtungszusammenhang, gesetzlich und gerichtlich blieben sie jedoch separiert. Anders
5 Der Zwang: Die Wahrnehmung von Fron und Gesindedienst als abwesende Freiheit
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Zwang oder Erzwingbarkeit wurden als substantielles Merkmal der Fronen – als ein Teil ihrer Natur⁵³, wie man später sagte – erkannt und angesprochen. Die Wahrnehmung des Zwangs ließ das Ideal des freien Willens in umso hellerem Licht erstrahlen. Obrigkeiten und Untertanen schätzten den eigenen freien Willen als hohes Gut. Im Willen des Gegenüber aber sahen sie nicht selten eine Bedrohung für die rechte Ordnung. Die Gefahr der „tyrannischen Willkür“ und der Vorwurf, „nach eigenem Gefallen“ – also ohne Herrschaft und Gehorsam – leben zu wollen,waren daher Standardargumente ihrer Auseinandersetzungen. Die Beachtung ihrer subjektiven Seite verändert die Geschichte der Fronen und des Gesindedienstes; sie erweitert unser Wissen und relativiert zugleich seine Gültigkeit.
verlief die Entwicklung im Reich. Maßgebliche Reichsjuristen vertraten im 18. Jahrhundert die Ansicht, Fronen seien eine Folge der Leibeigenschaft. Vgl. dazu bereits Oskar Siebeck, Der Frondienst als Arbeitssystem (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Ergänzungsheft 13) Tübingen 1904 S. 1– 3. Die These hatte fatale Wirkungen, da sie durch die Rechtsprechung des Reichskammergerichts praxisrelevant wurde. Werner Troßbach, „Südwestdeutsche Leibeigenschaft“ in der Frühen Neuzeit – eine Bagatelle?, in: Geschichte und Gesellschaft 7. 1981 S. 69 – 90, hier 86 – 90; Rita Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 33). Köln/Weimar/Wien 1999 S. 177– 188. Carl Joseph A. Mittermaier, Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechts. Bd. 1. Regensburg 6 1842 § 191, 514. „Natur der Frohnen“: Frohnen seien „zu gemeinen körperlichen Diensten verpflichtende Leistungen, welche […] zwangsweise“ gefordert werden könnten.
Opus publicum − Dienst und Strafe. Anmerkungen zur Zwangsarbeit im frühneuzeitlichen Bayern 1 Zwangsgewalt contra freier Wille – die Praxis Michael Harrer lebte um die Wende zum 19. Jahrhundert in der Hofmark Jetzendorf im bayerischen Landgericht Kranzberg. Er nannte ein passables bäuerliches Anwesen sein eigen und hatte zwei arbeitsfähige erwachsene Söhne. Er stand also, was seine existentiellen Grundlagen anlangt, eigentlich ganz gut da, seine aktuelle Situation war trotzdem nicht erfreulich:Vater Harrer war nämlich die Verfügungsgewalt über die Arbeitskraft seiner Söhne entzogen worden. Einen der beiden jungen Männer hatte der Kurfürst zum Militär beordert, und nach dem anderen streckte der Hofmarksherr, die lokale Obrigkeit, die Hand aus. Er sollte als Dienstknecht die anfallenden Arbeiten auf den Reichsfreiherrlich von Lösch’schen Feldern und Wiesen erledigen.¹ Die bayerische Regierung nannte diese Konstellation den „doppelten Dienstzwang“.² Die Eheleute Harrer beschwerten sich beim Kurfürsten und forderten, den Eltern müsse beim Zugriff auf die Arbeitskraft der Kinder von Rechts wegen ein Vorrang eingeräumt werden. Soweit eine erste Facette dieser Episode. Sie zeigt wie in jener Zeit ledige Bauernkinder zugleich drei Herren oder drei „Gewalten“ unterstanden, die Anspruch auf ihre Arbeitskraft erheben konnten: dem Vater oder den Eltern als Inhabern der väterlichen bzw. häuslichen Gewalt, sodann der Ortsobrigkeit, dem Hofmarksherrn, dem die vogteilich-gerichtsherrliche Gewalt zukam und dem Landesfürsten, der über die hohe, die Gewalt über Leib und Leben verfügte. Im geschilderten Fall kollidierten die Interessen der Gewalten³, und der Streit darüber sollte einen Stein ins Rollen bringen, der die Rechtslage im ganzen Land veränderte. Im Sommer 1801 erging der kurfürstliche Befehl, den Sohn des Bauern Harrer vom obrigkeitlichen Dienstzwang zu absolvieren⁴, und im November desselben Jahres generalisierte ein landesherrliches Mandat die ergangene Spezialentscheidung, es begrenzte die Zwangsdienste auf die mildere „Vormiete“.⁵ Dem häuslichen Arbeitskräftebedarf des bäuerlichen Untertanen
Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA), MInn Nr. 31232 (46); Schreiben vom 26. Juni 1801. Bei Hanns Platzer, Geschichte der ländlichen Arbeitsverhältnisse in Bayern. München 1904 S. 27, „Jetzendorf“ verlesen zu „Deggendorf“. Zur vermehrten Einberufung des Landvolks im Sommer 1800: Helmut Rankl, Landvolk und frühmoderner Staat in Bayern 1400 – 1800. München 1999 S. 959 f. BayHStA, MInn Nr. 31232 (41); 25. Nov. 1801. – Wehrpflicht/Ersatzdienstpflicht bzw. Dienstverpflichtungen im Fall des Staatsnotstands werden heute unter Dienstpflichten rubriziert. Vgl. dazu Artikel ‚Dienstpflichten‘ in: Creifelds, Rechtswörterbuch. Hg. Hans Kauffmann. München 111991 S. 279 und ebd., ‚Zwangsarbeit‘ S. 1437. Die Hierarchie der Anspruchsberechtigungen war seit Erlaß des Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, München 1756 (Codex Civilis 1756) nicht eindeutig; T. 4, Kap. 6, § 2. BayHStA, MInn Nr. 31232 (46), 26. Juni 1801. Vormiete = Pflicht der Untertanenkinder, ihre Dienste zuerst der Ortsobrigkeit anzubieten, wenn sie Arbeit außerhalb des Elternhauses aufnehmen wollen. − Beschluß des Staatsrats vom 25. Nov. 1801, DOI 10.1515/9783110541106-009
1 Zwangsgewalt contra freier Wille – die Praxis
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sollte Vorrang vor den Forderungen der lokalen Obrigkeit zukommen.⁶ Die Ansprüche der Staatsgewalt allerdings wurden nicht reduziert. Die Harrerschen Söhne selbst, um einen weiteren Aspekt anzusprechen, die persönlich zweifellos am meisten betroffen waren, hatte man zu Art, Ort und Vollzug ihrer Dienste nicht befragt. Ihre Präferenzen oder auch nur ihre Meinung spielten keine Rolle. Der analog gelagerte Fall einer „Dienst-Dirn“ aus der Hofmark Pörnbach, erlaubt zu diesem Punkt klarere Aussagen. Auch in ihrem Fall war die Lage der Dienstherren – des Bauern, der Ortsobrigkeit und des Landesfürsten⁷ – überdacht worden, an das Schicksal der jungen Frau hingegen hatte man keinen Gedanken verschwendet. Sie selbst kam auch nicht zu Wort. Hingegen legte die Herrschaft ihren Rechtsstandpunkt ausführlich dar. Die „Dienst-Dirn“, so erläuterte die Ortsobrigkeit, sei einer „Servitut unterworfen“, für ihresgleichen gälten die staatlichen Polizeigebote der Gesindeordnungen nicht, und anders als eine gewöhnliche Magd, so die zweite argumentative Schiene, habe eine „Dienst-Dirn“ keinen „freien Willen“.⁸ Während das freie Gesinde, die „gedingten Ehehalten“⁹, auf Vertragsbasis arbeitete, fehle Personen, die der „Servitut“ unterworfen seien, die Freiheit zu einer willentlichen Entscheidung. Sie könnten eine entsprechende Arbeitsforderung also weder ablehnen noch konsentieren. Die Arbeitsforderungen, denen sich die ledigen Landleute konfrontiert sahen, wurden, wie sich gezeigt hat, als Effekt der Herrschaftsverhältnisse interpretiert, ein Begründungsmuster, das man im übrigen auch heranzog, um Frondienste von den haussässigen Landleuten und Territorialscharwerk von den Landeseinwohnern zu fordern. Diese Spielarten unfreier Arbeit wurden aus dem Untertanenstatus abgeleitet, die Dienste also als eine Statusfolge gedeutet. Anders begründete man jene Zwangsarbeit, die einem frühneuzeitlichen Straftäter auferlegt wurde. Sie basierte auf dem Urteil eines Kriminalgerichts, und war die Folge der Taten eines Individuums, nicht der seines Standes.
genehmigt am 28. Nov. BayHStA, MInn Nr. 31232 (41). Hans Schmelzle, Der Staatshaushalt des Herzogtums Bayern im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1900 S. 46; Platzer, Arbeitsverhältnisse (wie Anm. 1), S. 8. Die Abschaffung des Gesindezwangsdienstes auch in der Form der Vormiete erfolgte durch die Constitution vom 1. Mai 1808, Tit. 1, § 3. (Regierungsblatt 1808, 987); Ausführungsvorschriften des Edikts vom 31. Aug. 1808 (Regierungsblatt 1808, 1933). Obwohl es sich im konkreten Fall um eine Frau handelte, argumentierte die Herrschaft mit der Parallele ‚obrigkeitlicher Dienstzwang − landesfürstlicher Militärdienst‘. BayHStA, Gerichtsliteralien Fasz. 1616, Nr. 8; 1791– 1801; Schreiben der Törringschen Verwaltung vom 18. Juli 1791. Zu Ehehalten vgl. Johnann Andresas Schmeller, Bayerisches Wörterbuch. 5. Neudruck der von G. Karl Frommann bearb. 2. Aufl., München 1872/77. Bd. 1,1 München 1996 Sp. 8. Im 18. Jahrhundert stellte man „die gezwungenen Ehalten“ den „freiwilligen Ehalten“ gegenüber, so z. B. in: BayHStA, MInn Nr. 31232 (41).
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2 Unfreie Arbeit als Zwangsarbeit − das Thema Unfreie Arbeit ist Arbeit im Auftrag anderer. Das unterscheidet sie von selbstbestimmter Arbeit, die autonom verantwortet und organisiert wird. Und unfreie Arbeit ist erzwingbar, sie wird nicht freiwillig erledigt. Das unterscheidet sie von jener Arbeit für andere, der eine vertragliche Vereinbarung über Leistung und Lohn vorausgeht.¹⁰ Dieses Differenzkriterium, der freie Wille, war zeitgenössisch gültig. Im Folgenden werden zunächst die statusbedingten Formen unfreier Arbeiten oder Dienste, wie sie in Bayern in der frühen Neuzeit verbreitet waren, kurz vorgestellt. Als relevant erweisen sich dabei insbesondere die Arbeitsdienste, die im Rahmen der Konstellationen Hauskinder − Hauseltern, ländliche Untertanen – Ortsobrigkeit und Landesuntertanen –landesfürstliche (hohe) Obrigkeit anfielen (3). Im anschließenden Teil des Beitrags kommen jene Zwangstätigkeiten zur Sprache, die aufgrund gerichtlicher Urteile ausgeführt werden mußten: etwa auf den Galeeren, beim Festungsbau, als Kriegsdienst und im Zuchthaus (4). Die vorgestellten Formen der Zwangsarbeit sind in der Forschung bislang nicht gemeinsam betrachtet worden. Daher sollen hier abschließend beide Bereiche verglichen und danach gefragt werden, was sie im Verständnis der frühen Neuzeit verband (5): die gefundene Antwort ergab den Titel des Beitrags – das opus publicum.
3 Dienst – Zwangsarbeit als Statusfolge Die unterschiedlichen mit dem Status begründeten Zwangsdienste lassen sich drei Personengruppen zuordnen: den ledigen Landleuten (1), den haussässigen Untertanen auf dem Land (2) und den Einwohnern des Fürstentums (3). Anschließend wird versucht, ein Profil der Zwangsdienste zu erstellen (4).
Die Gruppe der Ledigen In der Gruppe der Ledigen dominierten quantitativ zweifellos die Hauskinder. Ihre Arbeit dürfte jedoch häufig erst im Konfliktfall als Zwangstätigkeit wahrgenommen worden sein. Anders die Situation bei den Leibeigenen-Kindern, den Kindern der Gerichtsuntertanen und den zum Militär eingezogenen jungen Männern: Hier stand der Zwangscharakter der Dienste jeder Zeit erkennbar im Vordergrund.
Zum Arbeitsvertrag vgl. Gustaf Klemens Schmelzeisen, Polizeiordnung und Privatrecht. Münster usw. 1955 S. 314, 338. Zum frühneuzeitlichen (naturrechtlichen) Vertragsverständnis: Klaus-Peter Nanz, Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert. München 1985 S. 145, 156, 159 ff.; Klaus Luig, Die Grundsätze des Vertragsrechts in Kreittmayrs Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756, in: Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr 1705 – 1790. Hg. Richard Bauer/ Hans Schlosser. München 1991 S. 59 – 76, hier 62 ff.
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Die Arbeit der Haus-Kinder in der Wirtschaft der Eltern war die Regel und ist auch überall nachweisbar.¹¹ Den Eltern stand das Recht zur Nutzung der Arbeitskraft ihrer Kinder zu, und sie konnten zur Durchsetzung ihres Anspruchs legitimer Weise Zwang anwenden. Kinder waren nach natürlichem Recht und göttlichem Gebot zu Gehorsam verpflichtet.¹² Die elterliche Zwangsgewalt war jedoch gesetzlich befristet und die Zwangsarbeit der Kinder deshalb auf ihre Jugendzeit beschränkt. Nach dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, so gebot das bayerische Landrecht von 1616, dürfe kein Vater sein Kind „bey ihme zu bleiben nötigen“ oder es daran hindern, sich selbstständig zu machen.¹³ Das Zwangsmoment im Arbeitsverhältnis von Eltern und Kindern läßt sich über die normativen Verlautbarungen zum Thema Entlohnung während der ganzen frühen Neuzeit verfolgen. Kinder haben ihren Eltern unentgeltlich zu dienen, stellte die bayerische Landesordnung von 1516 fest. „Auf beger und clag“ der Eltern solle die Obrigkeit daher Bauernkinder „ze dienen zwingen“, falls diese von den Eltern Lohn forderten.¹⁴ Die Landesordnungen von 1553 und 1616 wiederholten die Bestimmung.¹⁵ Der 1756 in Kraft getretene Codex Civilis erinnerte im Kapitel über den „Haus- und Familien-Stand“ an die Verpflichtung der Kinder, ihren Eltern „zur gewöhnlich- und anständiger Dienstleistung verbunden“ zu sein, solange sie Unterhalt bezögen, „ohne daß sie derwegen eine besondere Belohnung zu fordern hätten“.¹⁶ In lokalen Ordnungen findet sich das gleiche Gebot. Noch 1792 ordnete die Obrigkeit in Hohenaschau an: „Hauskinder sollen ihren Vätern und Müttern vor anderen dienen, aber darumb khainen Lohn nehmen“.¹⁷
Schmelzeisen, Polizeiordnung (wie Anm. 10), S.75 f.; Michael Mitterauer, Familie und Arbeitsteilung. Historischvergleichende Studien. Wien usw. 1992 S. 28, 339, 357: „In der alteuropäischen Familie war Kinderarbeit eine Selbstverständlichkeit.“ Paul Münch, Lebensformen in der frühen Neuzeit. 1500 bis 1800. Frankfurt a. M. 1992 S. 409 f.; Wolfgang Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München 2004 S. 247. Codex Civilis 1756, T. 1, Kap. 4, § 3. Landrecht der Fürstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. München 1616, Tit. 3, Art. 2. (Landrecht 1616). Das Büech der gemeinen Landpot, Landsordnung, Satzung und Gebreüch des Fürstenthumbs in Obern vnnd Nidern Bairn. o.O. 1516, T. 4, Blatt 69: „Von straff der Sön vnnd Töchter, die irn Eltern umb lon dienen“. Das bedeutet nicht, daß tatsächlich kein Lohn gezahlt worden wäre. Martin Hille, Ländliche Gesellschaft in Kriegszeiten. München 1997 S. 60; Platzer, Arbeitsverhältnisse (wie Anm. 1) S.123. Die hier eingeflochtenen Erläuterungen zum Vorrang des häuslichen Eigenbedarfs und zu den Lohnangeboten Dritter erhellen den konkreten sozialen Hintergrund. Bayrischen Landtsordnung. München 1553, Buch 5, Tit. 12, Art. 6. Landts- vnd Policeyordnung der Fürstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. München 1616, Buch 4, Tit. 12, Art. 11. (Landesordnung 1616). Platzer, Arbeitsverhältnisse (wie Anm. 1) S. 7, 100, 108. Codex Civilis 1756, T.1, Kap. 4, § 3. Staatsarchiv München (StAM), Herrschaft Hohenaschau B 296.
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Die Regierung verfolgte eine Doppelstrategie, sie betonte durchweg die elterliche Zwangsgewalt im Verhältnis zu den Kindern, attackierte aber auf der anderen Seite kontinuierlich die Autorität der Hauseltern mit dem Angebot obrigkeitlicher Amtshilfe gegenüber unbotmäßigen Kindern. Der offerierte Beistand mutierte am Ende zu angedrohtem Zwang: Die Offerte obrigkeitlichen Beistands für die genervten Eltern von 1516 wird hundert Jahre später durch das Gebot ergänzt, die Väter und Mütter seien „mit Ernst an(zu)halten“, ihre „müßiggehenden“ Kinder zu verdingen oder in die Lehre zu schicken¹⁸, und 1781 war die Entwicklung soweit gediehen, daß von dergleichen „bösartige(n) Aeltern“ die Rede sein konnte, die man „zu Abgebung ihrer Kinder in ehrliche Dienste mit angemessen verfänglichen Zwangsmitteln an(…)halten“ müsse.¹⁹ Gesindezwangsdienste der Kinder leibeigener Eltern lassen sich in der Praxis vom späten Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert nachweisen.²⁰ Die Anzahl der davon betroffenen jungen Leute war allerdings vergleichsweise gering. Der Leibherr forderte die Söhne und Töchter leibeigener Väter oder Mütter zur Arbeit in seiner Eigenwirtschaft an, wo sie ihre „gefangenen Jahre“²¹ nach Herkommen gegen Unterhalt und geringes Entgelt abzudienen hatten. Während des 18. Jahrhunderts kam der Begriff „Waiseljahre“ ²² für die Dienstjahre der jungen Leibeigenen auf, man konstruierte damit eine Obervormundschaft der Obrigkeit als Rechtsgrund. Eine zweite, weiter verbreitete Art des Gesindezwangsdienstes waren jene eingangs vorgestellten Arbeitsdienste, die der Inhaber der Ortsobrigkeit von den Kindern seiner Untertanen forderte, gleich ob sie persönlich frei oder leibeigen waren.²³ Diese Dienste wurden auf ein sog. Näherrecht zurückgeführt, das aus dem Untertanenstatus der Eltern resultierte. Der eigenen „nahen“ Obrigkeit, so der Standpunkt, müsse ein Vorrecht (die Vormiete) an der Arbeitskraft der Untertanenkinder eingeräumt werden. Die Einrichtung verführte zu Repressalien und Mißbräuchen. Eine verschärfte Ausübung des Gesindezwanges ist in einigen Gebieten nach Erscheinen des Codex Civilis von 1756 zu beobachten.²⁴ Die Obrigkeiten steigerten ihre Forderungen bis zur Idee Landesordnung 1616, Buch 4, Tit. 11, Art. 1. Taglöhner- und Ehehaltenordnung von 1781 für Baiern und die obere Pfalz, in: Georg Karl Mayr, [Meyr] (Hg.), Sammlung der Kurpfalz-Baierischen allgemeinen und besonderen Landesverordnungen. 6 Bde., München 1784 ff., hier Bd. 2, S. 972. Renate Blickle, Scharwerk in Bayern. Fronarbeit und Untertänigkeit in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 17. 1991 S. 407– 433, hier 418 ff. M. Luitraud Ober, Kohlgrub. Eine Ortsgeschichte. o.O. 1956 S. 221; Renate Blickle, „Gefangene Knechte und Dirnen“. Zur Wahrnehmung von Fronarbeit und Gesindedienst im frühneuzeitlichen Altbayern, in: „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. Hg. Paul Münch (Historische Zeitschrift, Beiheft 31). München 2001 S. 141– 153, hier 141 ff. Der Ausdruck kommt in Bayern seit Mitte des 18. Jahrhunderts in größerer Dichte vor. Zum Gesindezwangsdienst vgl. Platzer, Arbeitsverhältnisse (wie Anm. 1) S. 3 ff.; Otto Könnecke, Rechtsgeschichte des Gesindes in West- und Süddeutschland. Marburg 1912 S. 324 ff.; Robert Wuttke, Gesindeordnungen und Gesindezwangsdienst in Sachsen bis zum Jahr 1835. Leipzig 1893; Schmelzeisen, Polizeiordnung (wie Anm. 10), S. 325 ff.; vgl. auch Kapitel 1. Codex Civilis 1756, T. 4, Kap. 6, § 2.5. − In den älteren Ordnungen waren die Zwangsdienste der Untertanenkinder im Zusammenhang mit dem Dienstbotenwesen in den Policeyordnungen ange-
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jener „Servitut“, deren sich an der „Dienst-Dirn“ zu erfreuen man in Pörnbach 1791 behauptet hatte – zur Verwunderung der Regierung.²⁵ Der Militärdienst als eine gegen Ende der Epoche auftretende weitere Spielart der Zwangsdienste betraf allein die Söhne der ländlichen Untertanen. Bei der Reform der Landesverteidigung 1753 hatte man das Institut der „Landkapitulanten“ eingerichtet. Je zwanzig Anwesen auf dem Land sollten einen Mann im Alter zwischen 18 und 26 Jahren zu dreijährigem Dienst stellen. Nach mehreren Umorganisationen ging man 1793 auch zu Zwangsaushebungen über, und die politische Lage um 1800 brachte weitere Verschärfungen.²⁶ Die Parallelisierung des Militärdienstes mit den überkommenen älteren Zwangsdiensten war zu jener Zeit eine Selbstverständlichkeit. Das bezeugen sowohl die Äußerungen der betroffenen Landleute wie die der lokalen Obrigkeit und die Verlautbarungen der Regierung. „Die veränderte Art, das nothwendige Militär zu ergänzen“ habe „den Untertanen eine andere Art des Dienstzwangs auferlegt“, ließ Kurfürst Max Joseph im November 1801 dem Landschaftsausschuß mitteilen, nicht ohne seine Absicht kundzutun, in Bälde die ältere Form abzuschaffen, da die „doppelten Dienste“ die Landleute zu hart belasteten.²⁷
Die haussässigen Untertanen auf dem Land Die Arbeitsdienste der haussässigen Untertanen auf dem Land und die frühneuzeitlichen Zwangsdienste schlechthin waren die Fronen. Neben der Arbeit der Hauskinder dürften die Fronarbeiten der Untertanen die wichtigsten und wirtschaftlich bedeu-
sprochen worden: Landesordnung 1616, Buch 4, Tit. 12, Art. 13. 1756 erfolgte der Transfer aus dem Policey- ins Zivilrecht (Vertragsrecht), dabei entfiel der Passus über den Vorrang der Eltern. Daß hier ein Versehen Kreittmayrs vorlag, wie in der Literatur gewöhnlich gesagt wird, ist nicht anzunehmen. Die Gutachten, die vor Publizierung des Codex von den bayerischen Regierungen und der Landschaft eingeholt worden waren, zeigen, daß das Fehlen des Passus diskutiert worden war. BayHStA, Kurbayern Geheimes Landesarchiv Nr. 1597, fol. 163 ff. Gutachten Regierung Straubing vom 14. Juli 1755; fol. 172’ f., 297 ff. Regierung Burghausen; fol. 299, 413 Landschaft. – Die rechtliche Situation der Dienstboten wurde 1756 ebenfalls im Codex Civilis, Kapitel „Von dem Haus- oder Familien-Stand“ (T. 1, Kap. 4, § 4) angesprochen. Ihre Arbeit wird allerdings als nach Geding, Ehaltenordnung, Landsbrauch und Vertragsrecht geregelt bezeichnet. BayHStA, GR Fasz. 1616 Nr. 8; Schreiben v. 28. Juli 1791. − Im Schriftverkehr der Behörden ist die Rede von der „sogenannten Ehehalten Servitut“, der „angeblichen Servitut“, der „vermeynten Ehehalten-Servitut“, „unter dem Titl einer Servitut“ geforderten Diensten. Ludwig Hammermayer, Das Ende des Alten Bayern, in: Das Alte Bayern. Handbuch der bayerischen Geschichte. Begr. Max Spindler. Hg. Andreas Kraus. Bd. 2, München 21988 S. 1135 – 1283, hier 1135 ff., 1254 f.; Rankl, Landvolk (wie Anm. 1) S. 957 ff. BayHStA, MInn Nr. 31232 (42); 28. Nov. 1801. Ebd., Nr. 41. BayHStA, GR Fasz. 1616 Nr. 8; 18. Juli 1791. − Die Dienst- und Arbeitspflichten in der Bundesrepublik, gespiegelt an Artikel 12 des Grundgesetzes, erörtert Gisbet Uber, Arbeitszwang, Zwangsarbeit, Dienstpflichten, in: Hamburger Festschrift für Friedrich Schack zum 80. Geburtstag. Hg. Hans Peter Ipsen. Hamburg 1966 S. 167– 182, hier 167 ff.
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tendsten Tätigkeiten gewesen sein, die in der frühen Neuzeit erzwungen werden konnten. Fronpflichtig war der Untertan als Repräsentant eines Haushalts, der seinen Unterhalt durch selbstbestimmte Arbeit erwirtschaftete – mit bäuerlicher, handwerklicher oder lohnarbeitlicher Tätigkeit − und über ein Minimum an Grund und Boden verfügte.²⁸ Fronen sind also unfreie Arbeit, die von selbständigen, auf freier Arbeit basierenden Existenzen erbracht werden − ledige oder zur Miete wohnende Personen schuldeten keine Fron. Der Untertan war verpflichtet, seiner Obrigkeit zu huldigen, er gelobte ihr eidlich „Rat und Hilfe“, Gehorsam und getreuen Beistand. Da die meisten Untertanen zwei Obrigkeiten unterstanden, der niederen Ortsobrigkeit und der hohen landesherrlichen Obrigkeit, mußten sie auch zwei Obrigkeiten huldigen, zweimal „Rat und Hilfe“ versprechen und zweierlei Arten von Fronen als operae publicae, als Arbeit für das Gemeinwesen, leisten. In Bayern hießen Fronen gewöhnlich Scharwerk. Das Landrecht von 1616 und der Codex Civilis von 1756 widmeten ihnen jeweils einen ganzen Titel.²⁹ Die Scharwerk waren „ungemessen“. Ihrem Charakter als Hilfe – „operae vel hilff“ übersetzte man im ausgehenden Mittelalter −³⁰, als außerordentlichem Beistand im Fall der Not entsprach es, daß sie unfixiert blieben. Ihr Maß bestand im für den je angemessenen Unterhalt nötigen Bedarf, konkret in der bäuerlichen und der herrschaftlichen „Hausnotdurft“.³¹ Arbeiten, die dem Gewinn oder dem Luxus des Herrn dienten, zählten ebenso wenig dazu wie Tätigkeiten innerhalb des Herrenhauses oder Auftragsreisen außerhalb eines Siebenmeilenradius. Dazu gehörten hingegen notwendige unregelmäßig anfallende Arbeiten für den herrschaftlichen Betrieb und Frachtfuhren. Söldner ohne Gespann erledigten Handarbeiten in Wald und Feld oder verrichteten Botengänge. Zur Rechtfertigung der Scharwerk bemühte man unterschiedliche Argumente. Noch gegen Ende des 17. Jahrhunderts operierten Juristen wie Caspar von Schmid und Anton Wilhelm Ertl mit dem Argument der mutua obligatio, der wechselseitig verpflichtenden Bindung, die das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen aus-
Zur Fronarbeit in Bayern Platzer, Arbeitsverhältnisse (wie Anm.1) S. 3 ff.; Renate Blickle, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Hg. Günter Birtsch. Göttingen 1987 S. 42– 64; Blickle, Scharwerk (wie Anm. 20); Franz M. Huber, Altbayerische Frondienste, eine Geschichte des Scharwerks, in: Bayerisches Landwirtschaftliches Jahrbuch 68. 1991 S. 823 – 907; Helmut Rankl, Die bayerische Scharwerksablösung von 1665/66. Bauernschutz und Fiskalismus unter Kurfürst Ferdinand Maria, in: Gegenwart in Vergangenheit. Festschrift f. Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag. Hg. Georg Jenal. München 1993 S. 91– 129; allgemein Andre Holenstein, Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg. München (Enzyklopädie deutscher Geschichte 38) 1996. Landrecht 1616, Tit. 22; Codex Civilis 1756, T. 2, Kap. 11. Das Zitat aus einem Wörterbuch von ca. 1480, hier nach Konrad Wiedemann, Arbeit und Bürgertum. Die Entwicklung des Arbeitsbegriffs in der Literatur Deutschlands an der Wende zur Neuzeit. Heidelberg 1979 S. 57. Blickle, Hausnotdurft (wie Anm. 28).
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mache und organisiere. Ihnen galt der Schutz der Obrigkeit, den diese als „GegenTreu“ für deren Hilfe gewähre als äquivalente Leistung zur Arbeit der Untertanen.³² Mitte des 18. Jahrhunderts allerdings begnügte sich Wiguläus X. A. von Kreittmayr, angesichts der langjährigen Regelung der Materie im Landrecht mit der Feststellung, Scharwerk seien ex lege zu leisten. Er stellte sie den ex pacto, also den freiwillig vereinbarten Arbeiten (Lohnarbeit) gegenüber.³³ Zugleich bezweifelte er auch den Charakter der ‚niederen‘ Scharwerk als „offenliche […] Dienst“, als die von Schmid sie noch verstanden hatte. Die „ordninäre Gerichts-scharwerk“, so von Kreittmayr, „gehört mehr ad operas privatas et ordinarias, als extraordinarias, publicas et territoriales“.³⁴ Während diese Deutungen die obrigkeitliche Position in juristischem Vokabular wiederspiegeln, wird eine weitere, während der ganzen frühen Neuzeit immer wieder vertretende Auffassung von der Art und dem Grad der Verpflichtungen insbesondere von den Untertanen vorgebracht.³⁵ Danach war Scharwerk ihrer Herkunft und ihrem Wesen nach Bittarbeit. Die von den Untertanen verrichteten Arbeiten seien erbetene und von ihnen konsentierte Leistungen, nicht aber Rechte („Gerechtigkeiten“), deren Durchsetzung befohlen und erzwungen werden dürfe.³⁶ Das Verständnis der Schar-
Anton Wilhelm Ertl, Praxis aurea de Jurisdictione Inferiore, civili et Bassa Vulgo von der Niedergerichtbarkeit. Nürnberg 1705 (zuerst 1693), hier Nördlingen/ Frankfurt 1737, Buch 1, Kap. 7, § 1. Ertl erklärt die Scharwerk als Effekt der Vogtei und der Niedergerichtsbarkeit, sie seien den Untertanen kraft der Huldigung auferlegt und würden durch den Schutz, den diese genössen, aufgewogen. In § 3 führt er aus, falls der Gerichtsherr, der die Untertanen „beschützen solle“, „seine Gegen-Treu nicht hält“ (fidem reciprocem), seien die Untertanen „zu den Frohndiensten nicht gehalten“. Caspar von Schmid, Commentarius oder Auslegung des churbairischen Land-Rechts / Ins deutsche übersetzt. Augsburg 1747 (zuerst 1695) T. 2, Tit. 22, Art. 1. Wiguläus Xaverius Aloysius Frh. von Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem. Unveränderte Aufl. München 1821 (zuerst 1758), S. 958 f. Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm 33) S. 999. Aber nicht nur, vgl. etwa das Rechtsgutachten zum Landrecht von 1616, wo es heißt, Scharwerk seien gleichsam ex officio morali zu leisten. Max von Freyberg, Pragmatische Geschichte der bayerischen Gesetzgebung und Staatsverwaltung seit den Zeiten Maximilians I. 4 Bde. Leipzig 1836 – 1839, hier Bd. 2, S. 227. Vgl. Ertl, Praxis aurea (wie Anm. 32) hier Buch 1, Kap. 7, § 31. Beispiele bei Blickle, Scharwerk (wie Anm. 20) S. 429 ff.; Beate Spiegel, Adeliger Alltag auf dem Land. Eine Hofmarksherrin, ihre Familie und ihre Untertanen in Tutzing um 1740. Münster usw. 1997 S. 470 ff.; Maria Schimke/ Manfred Hörner, Prozesse zwischen Untertanen und ihrer Herrschaft vor dem Reichskammergericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Europa im Umbruch 1750 – 1850. Hg. Dieter Albrecht. München 1995 S. 279 – 303, hier 283 f., 288, und 290 ff. − Das Wort „Bittarbeit“ gilt als Prägung Karl Büchers. Karl Bücher, Schenkung, Leihe, Bittarbeit, in: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Hg. ders., 2. Sammlung. Tübingen 1920 S. 1– 25. Oskar Siebeck, Der Frondienst als Arbeitssystem. Tübingen 1904 S. 51 ff. und 73 ff. − Das Problem der entstehenden Zwangsfronen war 1525 so beschrieben worden: „hewer ain selbs gutwilligen frondienst, zu jar darauß ain vergweltig vermüssung; wie dann merertayls ir alt herkommen gerechtigkait erwachsen ist“. Zitat in: „An die Versammlung gemeiner Bauernschaft“. Eine revolutionäre Flugschrift aus dem Deutschen Bauernkrieg (1525). Hg. Siegfried Hoyer/ Rüdiger Bernd, Leipzig 1975 S. 94.
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werksarbeit als ursprünglicher Bittarbeit beharrt auf einem Unterschied im Grad der Willensbeteiligung, wie sie einerseits im Konsens zum Ausdruck kommt, der Zustimmung, die zwar herkömmlich bedingt ist, aber jedes Mal aufs neue gewährt wird, und wie sie andererseits dem gesetzlichen Zwang, der dem Willen nicht die geringste Reverenz erweist, gänzlich mangelt. Anmutungen zur Zwangsarbeit besonders ausgeliefert waren jene Untertanen, aus denen sich die große Gruppe der Tagelöhner zusammensetzte.³⁷ In der Praxis gestaltete sich nicht nur der Übergang zwischen Tag- und Scharwerk fließend, sondern auch der zwischen Tagwerk und Vormiete.³⁸ Als Scharwerk eigener Art, die ebenfalls von den Haushalten der Untertanen erbracht werden mußten, seien ergänzend die Jagdscharwerk und die Gemeindefronen erwähnt. Die Jagdfronen galten im allgemeinen als Annex des Wildbannes³⁹, das zeigte sich noch einmal 1733 anläßlich der Umwandlung der landesherrlichen Jagdscharwerk in eine Geldabgabe.⁴⁰ Die Gemeindescharwerk forderte man zur Instandhaltung von Weg und Steg oder zugunsten der Gemeindehandwerker; sie waren und sind noch heute Zwangsarbeiten. ⁴¹
Zu den Lebensbedingungen der Tagelöhner in Bayern Rainer Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne. München 1993 S. 323 ff. Zum Arbeitsvertrag der Tagelöhner Sema Simon, Die Tagelöhner und ihr Recht im 18. Jahrhundert. Berlin 1995. Simon kommt in der Frage des freien Vertragsschlusses, allerdings unter der Prämisse moderner Kriterien, zu dem Ergebnis: „Da der einzelne vom Staat und von seinen Rechtsgenossen gezwungen werden konnte, sich in ein bestimmtes Rechtsverhältnis zu begeben, muß eine ‚Abschlußfreiheit‘ verneint werden.“ Ebd. S. 203. Hertha Hon-Firnberg, Lohnarbeiter und freie Lohnarbeit im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Baden usw. 1935 S. 55 ff. Zum Spektrum der praktischen Möglichkeiten anschaulich Spiegel, Adeliger Alltag, S. 465 ff.; zur Gesetzeslage Landrecht 1616, Tit. 25, Art. 9; Platzer, Arbeitsverhältnisse (wie Anm. 1) S. 41 ff. Einschlägige gerichtliche Entscheide in: BayHStA, Kurbayern Hofrat Nr. 1116, fol. 33‘ ff. (1631); Ernst Ferdinand Zeller, Praejudicia sive Resolutiones a summis Bavariae Ducatus Dicasteriis. München 1733 S. 33; Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 33) S. 970. Geiaidsordnung der Fürstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn, München 1616, Kap. 7, 780. Das Revisorium bestätigte 1667 diese umstrittene Zuordnung. Ertl, Praxis aurea (wie Anm. 39) S. 321 zitiert einen Entscheid von 1649 X. 2. und dessen Revision im Jahr 1667. Zu ersterem auch Zeller, Praejudicia (wie Anm. 18) S. 132; Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 33) S. 966 f. behauptet allerdings wieder, die Jagdfron sei „hier zu Land […] ein unstreitiger Effectus Jurisdictionis bassae“. – Die Jagdscharwerk wurden oft beschrieben. Vgl. z. B. Spiegel, Adeliger Alltag (wie Anm. 36) S. 391 ff.; Martin Knoll, Umwelt – Herrschaft – Gesellschaft. Die landesherrliche Jagd Kurbayerns im 18. Jahrhundert. St. Katharinen 2004 S. 201 ff. Mandat vom 22. August 1733 bei Wiguläus Xaverius Aloysius Frh. von Kreittmayr, Sammlung der neuesten und merkwürdigsten churbaierischen Generalien und Landesverordnungen. München 1771 S. 194 f.; Rankl, Landvolk (wie Anm. 1) S. 880 ff.; Knoll, Umwelt (wie Anm. 39) S. 217. Die nahezu überall nötigen Gemeindescharwerk werden in den Ehaft- und Dorfordnungen geregelt, vgl. z. B.Walter Hartinger, „…wie von alters Herkommen …“. Dorf-, Hofmarks-, Ehehaft- und andere Ordnungen in Ostbayern. Passau 1998 S. 172 ff., Statutenbuch des Marktes Geisenfeld von 1543, auch ebd. S. 187, 489, 764, 811, 885.Vgl. „Zwangsarbeit“ bei Creifelds, Rechtswörterbuch (wie Anm. 2) S. 1437.
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Die Einwohner des Fürstentums Die dem Landesfürsten zu leistende Scharwerk (hohe Scharwerk) galt als „außerordentliche“ Scharwerk, zu der „alle Unterthanen, Mittel- und Unmittelbare, ohngehindert aller Befreyung und exemption“ bei Bedarf und im Fall der Not gezwungen werden konnten. Jedenfalls „bezeuge die Erfahrung“, daß in der Vergangenheit jedermann im Land ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Stand und Amt zu solchen Arbeiten herangezogen worden ist.⁴² Der Rekurs auf die Erfahrung, der hier gegen Ende des 17. Jahrhunderts vorgenommen wurde, um die Territorialscharwerk als ein Faktum zu belegen, schien deshalb nötig, weil die Scharwerk der hohen Obrigkeit gesetzlich nirgends geregelt oder beschrieben wird. Rechte des Landesfürsten seien kein Gegenstand der Gesetzbücher, so deutete man die legislatorische Lücke damals, weil Gesetze „denen Underthanen und nicht dem Lands-Fürsten gegeben werden“.⁴³ Auch die Territorialscharwerk waren grundsätzlich ungemessen, das Maß gab der Bedarf vor. Ihr Charakter als operae publicae, als Leistung für das Gemeinwesen, war nicht umstritten. Als Arbeitsarten werden immer wieder genannt: die Stellung von Heerwagen und Fuhrwerken, Schanzarbeiten zum Festungsbau oder zur Landesfortifikation⁴⁴, Einquartierungen,Vorspann und Kriegsfuhren, das Streifen auf Übeltäter⁴⁵ und die Jagd auf Wölfe und schädliche Tiere⁴⁶, sowie Erdarbeiten bei Straßen-, Brücken- oder Uferverbauungen.⁴⁷ Großen Aufwand verursachten auch die Reisen der Landesherren. Im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts begann man damit, monetäre Leistungen (sog. Hofanlagen) anstelle der naturalen Arbeitsleistungen zu verlangen. Das Surrogat Geld verwandelte Zwangsarbeit in freie Lohnarbeit, und aus der außerordentlichen naturalen „Not-Hilfe“ in Form der operae publicae wurde eine regelmäßige Steuer.
Ertl, Praxis aurea (wie Anm. 32) Buch 1, Kap. 7, § 14; Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 33) S. 997 ff. Die Erklärung gibt Caspar von Schmid, Commentarius (wie Anm. 32) T. 2, Tit. 22, Art. 1, bei Erörterung der gewöhnlichen Scharwerk. Der Codex Civilis 1756 erwähnt die hohe Scharwerk insofern, als er die „Kriegs- und anderen Landsfürstlichen Scharwerk, welche zu Behuf des Militaris, oder sonst von gemeiner Lands-Noth wegen zu verrichten ist“, von den getroffenen Regelungen ausdrücklich ausnimmt. T. 2, Kap. 11, § 17. Rankl, Landvolk (wie Anm. 1) S. 229 f. Die Verpflichtung zur Nacheile, an der teilzunehmen „ein jeder nach satzung Göttlichs vnd deß H. Reichs Rechten, und Landtfridens, auch zu beschutzung vnd befridung seines Vatterlands schuldig ist“, betont die Landesordnung 1616, Buch 5, Tit. 10, Art. 4. Vgl. Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 33) S. 967, wonach die Jagd auf Wölfe und andere gemeinschädliche Tiere ad operas territoriales zu rechnen seien. Christoph Chlingensperg, Disputatio juridica de operis subditorum. Ingolstadt 1692 Kap. 1, Ass. 10, 21; Ertl, Praxis aurea (wie Anm. 32) Buch 1, Kap. 7, § 14; Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 33) S. 998; vgl. Hans Hornung, Beiträge zur inneren Geschichte Bayerns vom 16. bis 18. Jahrhundert aus den Umrittsprotokollen der Rentmeister des Rentamts Burghausen. München 1915 S. 75, 141; Huber, Frondienste (wie Anm. 28) S. 859, 875.
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Ein Profil der Zwangsdienste Statusbedingte Zwangsarbeit war im frühneuzeitlichen Bayern durchweg befristet und begrenzt. Quantitativ machte sie nur einen Bruchteil der gesamten Arbeitsleistung aus, und auch die einzelne zu Zwangsarbeit verpflichtete Person arbeitete die weitaus meiste Zeit nicht unter Fremdzwang. Unfreie Arbeit war eine Sache auf Zeit: Das Erreichen eines bestimmten Alters und die Verehelichung hoben die Pflicht der Kinder zur Arbeit im Elternhaus endgültig auf, auf gleiche Weise endeten die Obligationen der jungen Leibeigenen und der Untertanenkinder. Herkommen und Gesetz beschränkten die Dauer des Dienstes, auch die des Militärdienstes. Die Scharwerk war dem Grundsatz nach ungemessen, da sie aber Untertanenhaushalte voraussetzte, die sich in freier Arbeit selbst erhielten, waren die möglichen Leistungen naturgemäß begrenzt. Die unfreien Arbeitsdienste waren sozial-ständisch markiert, sie wurden nur von Angehörigen des Bauernstands verlangt.⁴⁸ Ebenso lastete der Militärdienst allein auf der Landbevölkerung, selbst Marktbürger hatte man davon ausgenommen.⁴⁹ In den konkreten alltäglichen Arbeitssituationen existierten freie und unfreie Arbeit ungeschieden nebeneinander. Ein Mann, der heute einer freien Betätigung nachging, leistete morgen Zwangsarbeit. Nach der Art der Tätigkeit unterschieden sich freie und unfreie Arbeit in nichts. Es gab keine Beschäftigung, die dem Zwangsarbeiter deshalb zugeschoben worden wäre, weil sie als besonders unangenehm, gefährlich oder anstrengend galt. Statusbedingte Zwangsarbeit war keine unehrliche Arbeit. Die Kinder sollten den Eltern nur „zu gewöhnlich- und anständiger Dienstleistung“ verbunden⁵⁰, die Eltern nur verpflichtet sein, ihre Kinder zu „ehrlichen Diensten“ anzuhalten.⁵¹ Mit Scharwerk durfte niemand zu „unehrlicher“ Arbeit gezwungen werden.⁵² Unfreie Arbeit wurde im allgemeinen geringer entlohnt als gedingte. Aber jede für eine andere Person geleistete Arbeit, ob aus freien Stücken oder gezwungenermaßen vollzogen, erforderte die sichtbare Gegengabe. ⁵³ Für die „Herren“ war Zwangsarbeit allerdings nicht nur billig, sondern auch bequem. Ihre Bevorrechtung entlastete sie von den Mühen des Wettbewerbs, der Nutzen, den die Verfügbarkeit bedeutete, dürfte den Wert des Lohnkostenvorteils der Zwangsarbeit sogar übertroffen haben. Personen zur Arbeit zwingen zu können, hat auch den Effekt, ihnen, sich selbst und dem Publikum Herrengewalt vorzuführen − ein Demonstrationseffekt, wie ihn
Gesetzlich werden die Fronen erst im Codex Civilis 1756, T. 2, Kap. 11, § 5 als exklusiv bäuerliche Pflicht bezeichnet. Rankl, Landvolk (wie Anm. 1) S. 926. Codex Civilis 1756, T. 1, Kap. 4, § 3. Taglöhner- und Ehehaltenordnung von 1781, in: Meyr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 2, S. 972. Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 33) S. 963. Zu der variantenreichen Entlöhnungspraktiken und -taktiken vgl. Spiegel, Adeliger Alltag (wie Anm. 36).
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etwa der Gestiefelte Kater gekonnt handhabte. Die Deutung der Fronen als operae publicae stützte die Position der niederen Obrigkeiten als Teilhabern an der öffentlichen ‚staatlichen‘ Gewalt. Die Statusrelationen enthielten alle noch Anteile oder doch Relikte von Kompetenzen öffentlich-rechtlicher Natur.
4 Strafe – Zwangsarbeit als Urteilsfolge Während unfreie Arbeit in Bayern als Statusfolge ein Erbe des Mittelalters war, ist sie als Strafe ein genuin neuzeitliches Phänomen. Ihren Zwangscharakter fixierte man allerdings am selben negativen Merkmal: Wie dem Arbeitsdienst fehlte der Arbeitsstrafe die Freiwilligkeit der Leistung. Einem Übeltäter wurde mit dem Urteil „das Vermögen nach eigener Willkühr zu handeln“ abgesprochen.⁵⁴ Das Gericht hatte die Befugnis (Gewalt), dem Delinquenten ein Strafübel aufzuerlegen und ihm zugleich die Freiheit, zu tun und zu lassen was er wolle, zu entziehen. Die Strafform „Arbeit“ wird in Bayern seit dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts in gesetzlichen Bestimmungen und gerichtlichen Entscheidungen faßbar. ⁵⁵ Bis dahin war sie der Praxis unbekannt geblieben, nicht aber der Theorie: Die gelehrten Juristen kannten die Figur des mendicus validus, des starken Bettlers, aus dem römischen Recht⁵⁶, und sie wußten um die Verurteilungen ad opus publicum im kaiserzeitlichen Rom, als sie sich im 16. Jahrhundert anschickten, die Rechtsprechung an den heimischen Kriminalgerichten zu dominieren. Für Bayern kann der Münchner Unterrichter und langjährige herzogliche Rat Andreas Perneder als Trendzeuge beigezogen werden. Er handelte in seinem praxisorientierten, populär gewordenen Werk Von Straff unnd Peen auch von Übeltätern, die in „Ertzgruben, oder zu Saltzsieder arbayt verurtheilt“ würden.⁵⁷ So etwas konnte man aber zu seiner Zeit, der ersten Gallus Aloys Kleinschrod, Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinlichen Rechts. 3 Teile, Erlangen 1794/1796 (ND Goldbach 1996) S. 107. Er erörtert in Kapitel IV. die Strafzwecke. Reinhard Heydenreuter,, Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I.von Bayern (1598 – 1651). München 1981 S. 228 f. Das Repertoire der Gerichtsbußen in einigen Städten sah im Spätmittelalter allerdings gelegentlich einen Beitrag zum Mauerbau vor, auch wurden adelige Delinquenten zum „öffentlichen Reiterdienst“ verurteilt. Hermann Knapp, Alt-Regensburgs Gerichtsverfassung, Strafverfahren und Strafrecht bis zur Carolina. Berlin 1914 S. 176 f., 235 und 261; Peter Schuster, Eine Stadt vor Gericht. Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz. Paderborn 2000 S. 235 f. Ernst Schubert, Duldung, Diskriminierung und Verfolgung gesellschaftlicher Randgruppen im ausgehenden Mittelalter, in: Kriminalität und Gesellschaft in Spätmittelalter und Neuzeit. Hg. Sigrid Schmitt/ Michael Matheus. Stuttgart 2005 S. 47– 69, hier 61 ff. sieht im römisch-rechtlich initiierten Beifall der Gelehrten zum Vorgehen gegen Bettler und Müßiggänger,wie es von der Reichsgesetzgebung seit Ende des 15. Jahrhunderts propagiert wurde, ein ausschlaggebendes Moment. Die Stabilität des um 1500 erfolgten Einstellungswandels in der Gesellschaft sei darauf zurückzuführen. Andreas Perneder, Von Straff vnnd Peen aller unnd yeder Malefitzhandlung ein kurtzer bericht. Ingolstadt 1547. 4. Teil, 2. Art., fol. 3. Zuerst 1544 erschienen, in späteren Ausgaben als Halsgerichts-
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Hälfte des 16. Jahrhunderts, weder in bayerischen Gesetzen lesen, noch in der heimischen Praxis beobachten – das stand in den Digesten. Später, als Arbeit dann tatsächlich Sanktionsform wurde, hielten die gemeinrechtlich geschulten Juristen die Regie über Prozeß und Urteil längst fest in Händen. Im Rahmen der von ihnen angewandten, in der italienischen Jurisprudenz entwickelten Lehre, funktionierte die Arbeitsstrafe als poena extraordinaria. Die Doktrin ermöglichte es den Urteilern, „proportionierlicher“ zu strafen, vom Kanon der peinlichen Regelstrafen abzusehen, die Umstände der Tat stärker zu berücksichtigen und Sanktionen zu verhängen, die dem konkreten Fall angemessener schienen. Die arbiträren Strafen fielen milder aus als die ordentlichen. Außerdem konnten Verurteilungen nun auch dann erfolgen, wenn in einem Inquisitionsverfahren der Wahrheitsbeweis unvollkommen geblieben war − etwa weil kein Geständnis vorlag. Arbeitsstrafen waren überwiegend Kriminalstrafen. In Bayern amteten als strafentscheidende Gremien in Kriminalprozessen die Räte der „Regierungen“ in München, Landshut, Straubing, Burghausen und Amberg, als aussprechende Instanzen die Landrichter oder der Rat einer Stadt. Zwangsarbeit als Strafe fiel daher − anders als die standesbedingte unfreie Arbeit − weitgehend in den Kompetenz- und Organisationsbereich des Landesfürsten. Als geeignete Tätigkeiten galten insbesondere solche, die dem militärischen Schutz des Gemeinwesens dienten: Man schickte die Delinquenten auf die Galeeren, zum Festungsbau und „in das Kriegswesen“, seit 1682 auch zur Miliz. Die Strafpraxis folgte den Konjunkturen des Krieges, sie gestaltete sich entsprechend diskontinuierlich und betraf in erster Linie Männer. Die Verurteilungen erfolgten ad opus publicum, zum öffentlichen Werk und Wohl. Selbst das Zuchthaus, das 1682 in München eröffnet wurde, stand von Anfang an in dieser Traditionslinie.
Die Strafe der Galeere Die Strafe der Galeere war offenbar die erste in Bayern angewandte Arbeitsstrafe. Ichrer Einführung ging eine Initiative der christlichen Mittelmeerstaaten voraus, deren Gerichte schon seit dem 15. Jahrhundert Delinquenten zur Ruderarbeit verurteilten. Mitte des 16. Jahrhunderts appellierten sie an die Regenten der nördlichen Binnenstaaten, ihrerseits ebenfalls Straftäter zur Galeerenarbeit verurteilen zu lassen. Der Bedarf an Ruderknechten war nämlich, nicht zuletzt wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den heidnischen Osmanen, stark gestiegen. Dem Ansinnen wurde − „der Christenheit zum besten“ – entsprochen.⁵⁸ Schon bald zogen triste
ordnung bezeichnet. Straßenräuber, so heißt es bei Perneder an anderer Stelle, sollen „in einen gemeinen Paw zur Arbayt verurthailt“ werden. Seine Belege entnimmt er dem Corpus juris civilis. Zur Arbeitsstrafe in der Antike vgl. Thomas Krause, Geschichte des Strafvollzugs: von den Kerkern des Altertums bis zur Gegenwart. Darmstadt 1999 S. 13 ff. So Kaiser Maximilian II. 1570. Paul Frauenstädt, Zur Geschichte der Galeerenstrafe in Deutschland, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 16. 1897 S. 712– 735, hier S. 525;
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Sammeltransporte aus dem Reich über die Alpen.⁵⁹ Der erste Schub aus Bayern ging 1569 mit 22 Sträflingen von München ab, wohin man die Delinquenten aus den Landgerichten verbracht hatte, er führte wohl über Mittenwald nach Italien.⁶⁰ Im April dieses Jahres hatte ein landesfürstliches Mandat den „gartenden“ Landsknechten mit der Galeere gedroht, und im darauf folgenden wurden auch Zigeuner und Amtleute, die das Gebot nur lasch befolgten, ausdrücklich verwarnt.⁶¹ 1574 und 1581 ergingen weitere Mandate.⁶² Unter Herzog Maximilian I. und während des Dreißigjährigen Krieges verlor die Galeerenstrafe an Bedeutung⁶³, aber seit den 1660er Jahren wurden neuerlich einschlägige Mandate publiziert⁶⁴ und die Ruderstrafe für einige Jahrzehnte, nicht zuletzt aufgrund der Nachfrage aus Venedig, auch tatsächlich revitalisiert. Der Codex Criminalis von 1751 behandelte die Galeerenruderei als gesetzliche Strafe⁶⁵, doch faktisch war sie bei seinem Erscheinen schon weitgehend
Elmar Müller, Anmerkungen zur Galeerenschiffahrt und Galeerenstrafe, in: Festschrift für Wolf Middendorff zum 70. Geburtstag. Hg. Josef Kürzinger/ Elmar Müller. Bielefeld 1986 S. 197– 212, hier 203. Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. Göttingen 3 1965 § 175: De opera publica; Adalbert Erler, Galeerenstrafe, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1, Berlin 1971 Sp. 1373 – 1375. Georg Fumasoli, Ursprünge und Anfänge der Schellenwerke. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des Zuchthauswesens. Zürich 1981 S. 26 ff.; Hans Schlosser, Die Strafe der Galeere als Verdachtsstrafe, in: Nit anders denn liebs und guets. Petershauser Kolloquium aus Anlaß des 80. Geb. v. Karl S. Bader. Hg. Clausdieter Schott/ Claudio Soliva. Sigmaringen 1986 S. 133 – 141; Müller, Galeerenschiffahrt (wie Anm. 58); Krause, Strafvollzug (wie Anm. 57) S. 22; Gerhard Schuck, Arbeit als Policeystrafe, in: Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft. Hg. Karl Härter. Frankfurt a. M. 2000 S. 611– 625, hier 612 ff.; Igor Ivanovic, Zwangsarbeit als Strafe und als Folge von Kriegsgefangenschaft: eine rechtshistorische Untersuchung. Diss. Jur. Regensburg 2002 S. 52 ff.; Reinhard Heydenreuter, Kriminalgeschichte Bayerns. Regensburg 2003 S. 249 ff.; Thomas Krause, Opera publica, in: Gefängnis und Gesellschaft. Zur (Vor‐)Geschichte der strafenden Einsperrung. Comparativ 13. 2003 S. 117– 130, hier 122 ff. Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 250. Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 250; Elisabeth Schepers, Als der Bettel in Bayern abgeschafft werden sollte. Regensburg 2000 S. 81 ff. Sigmund Riezler, Geschichte Baierns. Bd. 6, Gotha 1903 S. 113; Elisabeth Schepers, Regieren durch Grenzsetzungen. Struktur und Grenzen des Bettelrechts in Bayern im 16. und 17. Jahrhundert, in: Menschen und Grenzen in der Frühen Neuzeit. Hg. Wolfgang Schmale/ Reinhard Stauber. Berlin 1998 S. 241– 258, hier 249; Schuck, Policeystrafe (wie Anm. 49) S. 615. Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 55) S. 228. − In einem Rechtsgutachten lehnte der Hofrat den Vorschlag Herzog Maximilians I., bäuerliche „Rädelsführer“ zur Galeerenarbeit zu verurteilen, mit folgenden Begründungen ab: die Galeerenstrafe sei „nit vast gebreüchig“, sie sei in der Carolina nicht vorgesehen, die Kandidaten seien in zu schlechter körperlicher Verfassung. BayHStA, Gerichtsliteralien Haag 42 (23. Jan. 1596). Freyberg, Pragmatische Geschichte (wie Anm. 35) Bd.2, S. 25, 26, 14 (zu 1695), 15, 16 (zu 1705), 17 (zu 1716). Codex Juris Criminalis Bavarici, München 1751. Teil 1, Kap. 10 (Wilderer) und Kap. 11 (Bettler). Hingegen hatten weder die Carolina (1532) noch die bayerischen Landrechte und Landesordnungen oder die Malefizprozeßordnung von 1616 die Strafe der Galeere erwähnt.
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außer Übung.⁶⁶ 1789 und 1793 soll die Sanktion gesetzlich abgeschafft, 1794 ausnahmsweise noch einmal angewendet worden sein. ⁶⁷ 1796 jedenfalls war diese „schwerste Strafe“ innerhalb der Gattung der „Oeffentlichen Arbeiten“ nach Aussage Kleinschrods „in Teutschland fast ganz ausser Gebrauch“.⁶⁸ Tatsächlich belangt wurden von Anfang an vor allem unstet mobile Personen – Vaganten, Bettler, entlassene Soldaten, Zigeuner – und die im allgemeinen sozial besser integrierten Wildschützen, sowie während der ersten Konjunkturphase im späten 16. Jahrhundert religiöse Abweichler. Das heißt, man strafte auf diese Weise jene Delinquenten, bei denen erfahrungsgemäß die Neigung zum Rückfall besonders ausgeprägt war. Das dürfte der gemeinsame Nenner gewesen sein, der die ansonsten recht verschiedenen Zielgruppen in den Augen der Obrigkeit einte. Es handelte sich um Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen offenbar nicht in der Lage sahen, ihre Lebensform zu ändern. Zur Menge der Sträflinge, die während rund zweier Jahrhunderte aus Bayern auf die Galeeren geschickt wurden, können keine Angaben gemacht werden. Es stehen nur sporadische Zahlen und Hinweise auf Einzelfälle zur Verfügung. Der Zug 1569 wurde schon erwähnt; in den Jahren 1570, 1572, 1581, 1584 registrieren die Hofzahlamtsrechnungen beachtliche Ausgaben für Transport und Sicherung von Galeerensträflingen;⁶⁹ im Rentamt Burghausen wurden 1570, 1574 (6 Personen), 1581, 1582, 1583 und 1586 (7 Personen) Straftäter zur Galeere verurteilt, aus München führte man 1586 einen Konvoi mit 27 Häftlingen ab.⁷⁰ Als exemplarische Vertreter der Delinquentengruppen sollen hier Leonhard Soyer und Melchior Barth genannt werden. Dem Weinwirt Soyer warf der Münchner Rat 1584 vor, er führe einen höchst liederlichen Lebenswandel. Er habe die Jesuiten beleidigt und öffentlich in „hoch verächtlicher Weis wider Gott und die heilige Messe sträflich sich versündigt“. Man entschied daher, ihn zusammen mit anderen „strafmässigen Gallioten auf drei Jahr lang zur Meerfahrt der Galeeren“ zu schicken.⁷¹ Melchior Barth hingegen wurde 1695 im Gericht Weilheim „auf der Gart betreten“.⁷²
Venedig nahm keine Sträflinge mehr ab. Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 252. Schuck, Policeystrafe (wie Anm. 48) S. 617. Kleinschrod, Entwicklung (wie Anm. 54) S. 66. Kleinschrod hatte 1789 in Würzburg eine Untersuchung publiziert mit dem Titel: Ueber die Strafe der öffentlichen Arbeiten. Nach Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 250 f. Dem zuständigen Amtmann von Perlach wurden für Beförderung und Verpflegung von Galeerensträflingen 1570 300 Gulden, 1572 92 Gulden, 1581 300 Gulden und 1584 sogar 1500 Gulden ausbezahlt. Hornung, Umrittsprotokolle (wie Anm. 47) S. 132; Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 250. Franz Anton Wilhelm Schreiber, Geschichte des bayerischen Herzogs Wilhelm V. des Frommen. München 1860 S. 231; Riezler, Geschichte Baierns (wie Anm. 62) S. 114; Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 251.Wahrscheinlich sind auch die zwei Ingolstädter Buchdruckergesellen, die 1581 zur Galeere verurteilt wurden, hier einzureihen. Winfried Freitag, Das Netzwerk der Wilderei,Wildbretschützen, ihre Helfer und Abnehmer in den Landgerichten um München im späten 17. Jahrhundert, in: Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial-
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Man hatte ihn bereits vor etlichen Jahren einmal verhaftet, der Wilderei beschuldigt und für den Wiederholungsfall mit „exemplarischer Straf“ bedroht. 1689 war dieser Fall dann eingetreten, Barth war abermals gefaßt und des gleichen Delikts wegen „auf ein gewisse Zeit in das Zuchthaus“ eingewiesen worden. 1695 dann, beim dritten Mal also, übergab man ihn den Venezianern.⁷³ Die Galeerenarbeit galt als außerordentlich hart, bestraft wurden auf diese Weise nur einigermaßen gesunde Männer. Hans Stieler und Georg Mair aus Haag, denen auf der Folter die Achsel „ab“ bzw. der Arm gebrochen worden waren, kamen dafür nicht mehr infrage. Der herzogliche Vorschlag, die der Rädelsführerei angeklagten Männer auf die Galeere zu schicken, hatte sich somit im Vorverfahren von selbst erledigt.⁷⁴ Die Schiffseigner verlangten, daß Verurteilungen auf die Dauer von mindestens drei Jahren lauten⁷⁵, über dieses Minimum hinaus war die Skala bis hin zu lebenslänglich nach oben offen.⁷⁶ Etwa die Hälfte der Sträflinge überlebte den Vollzug nicht, wie die Daten der Marseiller Galeerenmatrikel zeigen.⁷⁷ Bezweckt wurden mit der Galeerenstrafe wie mit anderen Strafen auch die Verhinderung weiterer Vergehen durch den Sträfling und die Abschreckung potentieller Täter, die Besänftigung des göttlichen Zorns und der demonstrative Vollzug einer obrigkeitlichen Amtspflicht. Über die allgemeinen Strafzwecke hinaus stellt sich bei einer Arbeitsstrafe die Frage nach dem Nutzen, auch nach möglichen finanziellen Erträgen. Die Kriminalgerichtsbarkeit kam den frühneuzeitlichen Staat bekanntlich teuer zu stehen, das Kurfürstentum Bayern wandte hierfür Mitte des 18. Jahrhunderts jährlich 100.000 Gulden auf. Doch die Galeerenstrafe dürfte der fürstlichen Kasse kaum zu nennenswerten Einnahmen verholfen haben.⁷⁸ Ihr Nutzen lag auf anderen Ebenen. Ganz real bedeutete die Ruderarbeit der Sträflinge eine Stärkung der Front im Kampf gegen die Heiden, und ideell ließ sie sich als eine Leistung zum Nutzen der
und Kulturgeschichte der Vormoderne. Hg. Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff. Konstanz 2000 S. 707– 757, hier S. 717, 727, 750. Von 164 Personen, deren Wildereidelikte im Waldgürtel südlich von München in den Jahren 1686 bis 1700 zur Kenntnis des Hofrats gelangten, wurden 13 mit „schweren Strafen“ belegt: 1 Hinrichtung, 3 nicht näher spezifizierbare Malefizstrafen, 5 Landesverweisungen, 3 langjährige Zuchthausstrafen, und die Übergabe Barths an die Venezianer. Auch Hornung, Umrittsprotokolle (wie Anm. 47) S. 123 (zu 1695). Ein weiteres Beispiel: 1595 wurde ein Wildschütz aus dem Gericht Oetting zur Galeere verurteilt. Auf Fürbitten seiner Frau, der Kinder und der ganzen Verwandtschaft ließ man ihn des langen Aufenthalts im Münchner Falkenturm und der wiederholt vorgenommenen Tortur wegen gegen Bürgschaft von 200 Gulden frei. Als er wieder wildernd gefaßt wurde, schlug man ihn die rechte Hand ab und verbot ihm das Land Bayern, die Bürgschaft wurde eingezogen. Hornung, Umrittsprotokolle (wie Anm. 47) S. 73. BayHStA, Gerichtsliteralien Haag 42, 1596 I. 23. Eine dreijährige Galeerenstrafe wurde den wiederholt aufgegriffenen Wildschützen mit Mandat vom 15. Oktober 1674 angedroht. Freyberg, Pragmatische Geschichte (wie Anm. 35) Bd. 2, S. 26. Wolf Sighard im Rentamt Burghausen beispielsweise wurde 1570 „in perpetuum auf die Galeere condemnirt“. Hornung, Umrittsprotokolle (wie Anm. 47) S. 132. Müller, Galeerenschiffahrt (wie Anm. 58) S. 211. Für das spätere 16. Jahrhundert vgl. Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 250 f.
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christlichen Gemeinschaft verbuchen. Die Strafe der Galeere erfolgte ad opus publicum der Christenheit.
Die Verurteilung zum Festungsbau Die „Schanzstraf“, galt in Bayern als die Strafe zum opus publicum schlechthin. Eingeführt wurde sie um die Wende zum 17. Jahrhundert als man damit begann, die Festungen an den Grenzen des Landes auszubauen. Ein früher Nachweis liegt mit dem landesherrlichen Mandat vom August 1595 vor, das den Amtleuten gebot, Vaganten und Müßiggänger „in Springern“ (Fußketten) zum Bau nach Schärding zu führen.⁷⁹ Grundsätzlich äußerte sich Herzog Maximilian in der Proposition zum Landtag von 1605 zum Thema und zu den positiven Wirkungen der projektierten Festungsbauten. Diese seien ein „nottwendig gemain nuzig Werkh“. Im Kriegsfall bewahrten sie das Land und den Feldherrn davor, „des feindts freyem Willen also Vnderworfen zusein“, sie schützten also davor, die eigenen Handlungen an der Willkür eines anderen ausrichten zu müssen. Zudem könnten zu ihrem Ausbau die „starkhe missigeher Vnd pettler“ herangezogen werden, wodurch diese wieder an Arbeit gewöhnt und die Klagen der von ihnen bedrängten Bauern abgestellt würden.⁸⁰ Die zwangsweise Verpflichtung der Vaganten zur Arbeit am Festungsbau sollte also mit der Gemeinnützigkeit und der Notwendigkeit dieses „Werks“ gerechtfertigt werden – dasselbe Argumentationsmuster, das man der Scharwerk als operae publicae unterlegte. Schanzarbeit war damals auch als Strafe im Kriminalverfahren noch nicht Routine. Sie sollte bei Missetätern angewandt werden, die nicht an Leib und Leben zu büßen waren.⁸¹ Ihre Befürworter im Münchner Hofrat sahen einen Vorzug gegenüber herkömmlichen Sanktionsformen wie dem Stehen am Pranger und der Landesverweisung, in der Vermeidung lang wirkender sozialer Schäden. Die älteren Strafformen würden infamierend wirken, nicht zuletzt wegen des Kontakts mit dem Nachrichter, und hätten zwangsläufig ein Abgleiten in die Dauerdelinquenz zur Folge: Es würde, wie die Räte sagten, „also ein gefahr aus der andern entsteen“, womit niemandem gedient wäre, und folglich plädierten sie dafür, die aufrührerischen Bauernführer, um
Freyberg, Pragmatische Geschichte (wie Anm. 35) Bd. 2, S. 5; Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 253. Der Landtag im Herzogthum Baiern vom Jahre 1605, o. O. 1802, 25. Rankl, Landvolk (wie Anm. 1) S. 405. Freyberg, Pragmatische Geschichte (wie Anm. 35) Bd. 2, S. 5. 1609 gebot ein Mandat, diese Delinquenten „ad opera publica (vor der Hand nach Ingolstadt zum Festungsbau)“ einzuliefern. Gerhard Schuck, Zwischen Ständeordnung und Arbeitsgesellschaft. Der Arbeitsbegriff in der frühneuzeitlichen Policey am Beispiel Bayerns, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1997. München 1998 S. 113 – 139.
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die es in ihrem Gutachten vom Januar 1596 konkret ging, eine Zeitlang „in schellen oder springer schlagen, vnnd gen Schärding zum Paw“ schicken zu lassen.⁸² In der Folgezeit setzte sich die zwangsweise Schanzarbeit durch. Nicht zuletzt,weil der Festungsbau während des Dreißigjährigen Krieges Konjunktur hatte. Man verstärkte die Anlagen in Schärding, Ingolstadt, München, Landsberg, Rain, Burghausen und Braunau.⁸³ Die Regierung befahl wiederholt, die „starken Bettler“ gegen Unterhalt und Lohn zum opus publicum zu schaffen ⁸⁴ und ordnete an, Straftäter aller Deliktarten, Männer wie Frauen, bevorzugt zur Schanzarbeit zu verurteilen.⁸⁵ Mit Dekret vom ersten Juli 1650 wurde die Arbeit ad opus publicum durchgängig als Strafe anstelle der öffentlichen Rutenzüchtigung und Landesverweisung verfügt.⁸⁶ Einen ersten Anstoß zu dieser Maßnahme hatte die Einsicht in die verheerenden Folgen der Landesverweisung als Sanktion des Ehebruchs gegeben.⁸⁷ Die Revision bezweckte, Unschuldige, insbesondere Kinder, nicht länger durch die Bestrafung eines Täters in Mitleidenschaft zu ziehen.Verurteilte Personen mit Familie sollten laut Dekret nicht mehr als ein oder zwei Monate pro Jahr zur Arbeit antreten müssen. Man verrechnete ein Jahr Landesverweisung mit ein bis zwei Monaten „Schanzarbeith in Eisenpanden“.⁸⁸ Im Jahr nach Inkrafttreten des Dekrets machten die Verurteilungen zur Schanzarbeit im Rentamt München fast ein Drittel der Malefizstrafen aus.⁸⁹ Die Strafe der Landesverweisung war damit jedoch nicht abgeschafft, sie wurde auch den eigenen Untertanen gegenüber weiterhin praktiziert.⁹⁰ Ein grundsätzliches Problem der Arbeitsstrafen ist ihre Abhängigkeit von den Arbeitsmöglichkeiten. Die Schanzstrafe zu realisieren, machte der dafür zuständigen Zentrale häufig Probleme. Schon 1613 stellte der Landesfürst in einer Randnotiz zu
BayHStA, Gerichtsliteralien Haag 42. Hofratsgutachten, Januar 1596. Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 253 ff.; Rankl, Landvolk (wie Anm. 1) S. 268. Zu Mandaten der Jahre 1632 und 1638 vgl. Riezler, Geschichte Baierns (wie Anm. 62) S. 66; Rankl, Landvolk (wie Anm. 1) S. 431; Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 254. Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 254. – Vgl. auch die Verurteilungen aufständischer Bauern, die im Mai 1634 in Wasserburg vor Gericht standen. BayHStA, Dreißigjähriger Krieg Akten 343; 1634 Mai 8. Dekret Kurfürst Maximilians I. v. 1. Juli 1650, in: Walter Ziegler, (Bearb.), Altbayern von 1550 – 1651. Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern. Abt. I. Bd. 2. T. 2, München 1992, S. 1297 ff.; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 55) S. 229. Bereits mit Dekret vom 10. Mai 1641 war die fünfjährige Landesverweisung für den ersten Ehebruch durch Freiheits- sowie Geld- und Zwangsarbeitsstrafen ersetzt worden. Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 255. Die Überprüfung von 150 Straffällen in der Zeit zwischen 1657 und 1675 ergab, daß das Strafmaß in der Regel tatsächlich einige Monate betrug. Schuck, Policeystrafe (wie Anm. 48) S. 620. Wolfgang Behringer, Mörder, Diebe, Ehebrecher. Verbrechen und Strafen in Kurbayern vom 16. bis 18. Jahrhundert, in:Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Hg. Richard van Dülmen. Frankfurt a.M. 1990 S. 85 – 132, hier 103. Ein Beispiel: Georg Schinckh von Wolferszell wurde 1675 zum Tode verurteilt, dann zur Schanzarbeit begnadigt, nach neuerlichen Vergehen 1680 des Landes verwiesen, 1685 auf ewig des Landes verwiesen.
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einem Hofratsmemorandum fest, es gäbe zu wenig Möglichkeiten, die avisierten Arbeitsstrafen zu vollziehen, es fehlten für eine wirklich umfassende Beschäftigung auch der Müßiggänger an öffentlichen Gebäuden schlicht die geeigneten Bauvorhaben.⁹¹ Und selbst 1627, während des Krieges, wird im Landgebot zum Bettelwesen ein möglicher Mangel an „gemeinen hauptgebäu in unseren landen“, wohin Arbeitsunwillige zur Strafarbeit verbracht werden könnten, bedacht.⁹² Bei Erlaß des Dekrets im Sommer 1650 erhielt die Hofkammer den Auftrag, „aintweders bey den Schanz gepeyen oder in anderweeg ein stete arbeith vnd opus publicum“ bereitzustellen.⁹³ Der Festungsbau verlor aber in der Folgezeit an Bedeutung, und die Organisation der erwähnten anderen Arbeitsstätten dürfte einige Schwierigkeit bereitet haben. 1664 ist in einem Mandat bezüglich der Wildschützen von einer „Verurtheilung bei Wasserbauten in Eisen und Banden“ die Rede.⁹⁴ Sebastian Reiserer etwa wurde 1702 wegen des Betrugs mit Falschgeld verurteilt, „auf 3 Monate lang ad opus publicum einer kurfürstlichen Schanz oder anderen dergleichen Arbeit“ zu leisten, der Maurergeselle Michael Aurnhammer sollte 1753 wegen eines unglücklichen Flintenschusses mit Todesfolge „in Ermangelung eines anderen operis publicis […] Schanzarbeit beim Märzenkeller allhier auf 14 Tage“ tun ⁹⁵ und Ignaz Lochner im Juni 1756 „sofort auf ein Jahrlang in die Schanz nach Ingolstadt“ condemniert werden.⁹⁶ Die „Schanzstraf beim Märzenkeller“ verdeutlicht sinnfällig das anhaltende Problem der fehlenden Alternativen für den Vollzug der Arbeitsstrafen zum opus publicum. Als Versuche diese Schwierigkeit zu beheben, sind die Errichtung des Zuchthauses − dazu später –⁹⁷ und das Vorhaben zu verstehen, den Vollzug ziviler Strafen in bestimmten Fällen in das Haus und die „Gewalt“ der Untertanen zu verlegen: Das Landgebot von 1627 sah vor, daß Hausarme, die sich weigerten, für den üblichen Lohn zu arbeiten, von den Niedergerichten verurteilt und gezwungen werden konnten, auf den Höfen oder Anwesen von Bürgern oder Bauern zu arbeiten. Personen, die der verbotenen Bettelei überführt waren, sollten denjenigen, „so groß gebäu oder sonsten
von Freyberg, Pragmatische Geschichte (wie Anm. 35) Bd. 2, S. 8. Druck des Landgebots vom 19. Nov. 1627 (Armenordnung), in: Schepers, Bettel (wie Anm. 61) S. 256 ff. Dekret vom 1. Juli 1650, in: Ziegler, Altbayern (wie Anm. 86) S. 1297 ff. Freyberg Pragmatische Geschichte (wie Anm. 35) Bd. 2, S. 25. Mandat vom 11. Aug. 1664, Bezug auf 1657 und 1663. Stefan Breit, Verbrechen und Strafe. Strafgerichtsbarkeit in der Herrschaft Hohenaschau. Laufen 2000 S. 206 f., 355. Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 4, S. 989. Die Strafe ad opus publicum endete nicht mit Gründung des Zuchthauses, wie Wolfgang Feuerhelm, Stellung und Ausgestaltung der gemeinnützigen Arbeit im Strafrecht. Historische, dogmatische und systematische Aspekte einer ambulanten Sanktion. Wiesbaden 1997 S. 102 unter Verweis auf Behringer, Mörder (wie Anm. 89) S. 106 f. angibt.
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starke arbeit“ haben, „in springer oder halsring geschlagen“ auf „2 monat zur dienstbarkeit und arbeit“ übergeben werden.⁹⁸ Mit kurfürstlichem Erlaß vom 20. Mai 1789 wurde die Sanktionsform abgeschafft: „jetzt und in die Zukunft“, so heißt es, sollten „keine Delinquenten mehr zur Schanzstraf verurtheilt werden“.⁹⁹
Die Verurteilung zum Militärdienst In der frühen Neuzeit wurden Delinquenten durch Gerichtsurteil auch „ins Kriegswesen condemniert“ oder, was seit Einführung des stehenden Heeres häufiger vorkam, „unter die Miliz gestoßen“. Man verstand diese Strafen als Tätigkeiten zum opus publicum. Ihr Arbeitscharakter wurde, analog dem Militärdienst als einer statusbedingten Zwangsarbeit, von ihrer Zuordnung zum öffentlichen Wohl abgeleitet.¹⁰⁰ Ursprünglich war die Verurteilung zum „öffentlichen Reiterdienst“ auf Adelige beschränkt. Sie konnten mit Waffen umgehen und verfügten auch über genügend Vermögen, um auf eigene Kosten nach Ungarn in den Kampf gegen die Türken zu ziehen.¹⁰¹ Die Landesordnung von 1616 bezeichnet als die herkömmliche Strafe, die den Mann vom „Stand der Ritterschaft vnd Adels“ erwarte, falls er einen Ehebruch beginge, er habe „ein Ritterdienst […] vngeferlich mit vier Pferden, fünff Monat wider den Erbfeind den Türcken“ zu dienen oder bei Landesnot anzutreten.¹⁰² 1727 wurde die Sanktionsdauer auf acht Monate verlängert.¹⁰³ Daß die Standesgrenzen der „Kriegssträflinge“ im 17. Jahrhundert fielen, dürfte zum Teil auf den zwischen 1595 und 1615 erfolgten Aufbau der Landfahnen zurückzuführen sein, aber ausschlaggebend war der immense Bedarf an Soldaten nach Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. Bereits 1620 stellte man Straftätern frei, gegen den Erbfeind oder sonstige Feinde des Kaisers zu kämpfen.¹⁰⁴ So wurden 1624/25 beispielsweise zwei bezechte Mörder des Landes verwiesen und verurteilt, fünf Jahre
Landgebot 1627, Art. 12 u. 18. Schepers, Bettel (wie Anm. 61). – Zu vergleichbaren vollzogenen Arbeitsstrafen, allerdings verhängt von Kriminalgerichten, vgl. Andrea Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert. Wien usw. 2000 S. 309 ff.; Norbert Schindler, Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution. München 2001 S. 254. Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 5, S. 563 f. Daß die Schanzstrafe Ende des 17. Jahrhunderts in Bayern abgeschafft worden wäre, so Krause, Strafvollzug (wie Anm. 57) S. 29, 54; Krause, Opera publica (wie Anm. 59) S. 125, trifft nicht zu. Von der Wissenschaft ist die Zuordnung nicht durchweg übernommen worden. Vgl Knapp, AltRegensburgs (wie Anm. 55) S. 176; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 55) S. 228 f. Knapp, Alt-Regensburgs (wie Anm. 55) S. 176; Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 248. 1599 werden 2.000 Gulden als alternative Geldstrafe für einen Ungarnzug verlangt. Landesordnung 1616, Buch 5, Tit. 9, Art. 6, S. 703. Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 3, S. 118. Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 248.
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lang gegen die Türken oder andere Reichsfeinde zu streiten.¹⁰⁵ Als Anfang der 1630er Jahre die feindlichen Schweden an den Grenzen standen, schickte man sogar zum Strang verurteilte Diebe an die Front.¹⁰⁶ Nach dem Aufstand der bayerischen Bauern im Winter 1633/34 wurden etliche „Rädelsführer“ „in das Kriegswesen kondemniert“, bevorzugt zur Artillerie.¹⁰⁷ Und während die Bitten um Erlaubnis zur Heimkehr, die 1634 von vierzig Personen beim Rentamt Burghausen vorlagen, großteils abgewiesen wurden¹⁰⁸, bot man im Jahr 1639 sämtlichen Verwiesenen die Rückkehr an, wenn sie sich zum Kriegsdienst meldeten.¹⁰⁹ Die Strafe hatte inzwischen zwar Regelcharakter angenommen¹¹⁰, aber die Möglichkeit, zum Kriegsdienst zu verurteilen, hing natürlich vom Bedarf ab, und der wechselt. Wenn der Burghausener Rentmeister noch 1645 empfahl, beim Mangel an Artillerieknechten künftig die verurteilten Diebe einzusetzen, so hatte sich das zwei Jahre später bereits erledigt, weil es dafür keine Verwendung mehr gab.¹¹¹ Nach dem Friedensschluß 1648 wurden die Heere völlig abgedankt. Allerdings blieb die Bedrohung durch die Türken akut, und man schickte daher auch weiterhin taugliche Delinquenten an die Front im Südosten. 1661 etwa zogen der nach einem Todesurteil zum Kriegsdienst begnadigte Junker Nikolaus Bernhard von Eck und 1670 der mehrfach vorbestrafte Wildschütze Caspar Puecher „auf ein GräntzHaus nach Ungarn“, um dort die Christenheit gegen die Heiden zu verteidigten.¹¹² Nachdem 1682 die Gründung eines stehenden Heeres erfolgt war¹¹³, fortan also kontinuierlich eine militärische Organisation existierte, tat sich als Nebeneffekt die Möglichkeit auf, Straftäter regelmäßig „unter die Soldateska stoßen“ zu können.¹¹⁴ Die Befugnis dazu hatten alle Gerichtsobrigkeiten, auch die niederen Strafgerichte konnten „die wegen Polizey-Freveln, angewöhntem Muthwillen, und Ungehorsam,
BayHStA, Staatsverwaltung Nr. 2218, 10, 11. Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 249. Renate Blickle, Rebellion oder natürliche Defension. Der Aufstand der Bauern in Bayern 1633/34 im Horizont von gemeinem Recht und christlichem Naturrecht, in: Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Hg. Richard van Dülmen. Frankfurt a. M. 1990 S. 56 – 84, hier 64, 66 f. BayHStA, Dreißigjähriger Krieg 343 (unfol.). Verzeichnis der Landesverwiesenen 1634. Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 249. Vgl. StAM, Herrschaft Hohenaschau, Akten 891, 894 (Amtsberichte zu 1639, 1650). Hornung, Umrittsprotokolle (wie Anm. 42) S. 109; Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 249. Behringer, Mörder (wie Anm. 89) S. 120; Knoll, Umwelt (wie Anm. 39) S. 311. Nach Ansicht Ertls war die „Schickung auf die Gräntz-Vestungen in Ungarn“ der „Verdammung auf die Galeeen […] nicht ungleich“. Ertl, Praxis aurea (wie Anm. 32) Buch 2, Kap. 1, S. 777. Dieter Albrecht, Das Heerwesen, in: Das Alte Bayern. Handbuch der bayerischen Geschichte. Begr. Max Spindler. Hg. Andreas Kraus. Bd. 2, München 21988 S. 660 – 663, hier 662. Freyberg, Pragmatische Geschichte (wie Anm. 35) Bd. 2, S. 24, 28 (Wildschützen-Mandat, 1738). Verurteilungen Salzburger Wilderer zum Militär bei Schindler, Wilderer (wie Anm. 98) S. 106, 107, 179, 191, 242.
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auch andern derley Civil-Verbrechen betrettenen Bauernpursche und Delinquenten ad Militam“ verurteilen.¹¹⁵ In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts häuften sich die Mandate mit der Androhung eines strafweise zu leistenden Militärdienstes. Wer mit einem Gewehr im Wald gesehen wurde¹¹⁶,wer sich als Milizsoldat weigerte, seine Haare lang zu tragen¹¹⁷, wer als Knecht seinen Dienst vor der Zeit verließ oder an den abgeschafften Feiertagen festhalten wollte¹¹⁸, die „Vaganten und Müßiggänger überhaupt“, wie es 1769 ausgreifend hieß¹¹⁹, alle wollte man im Wiederholungsfall für drei, vier oder sechs Jahre „ins Heer stoßen“, vorausgesetzt sie waren tauglich. Dem Ansehen des Militärs bei den Landleuten schadete dieses Vorgehen ungemein. Die Verachtung für das Soldatentum nahm stetig zu, auch der reguläre Militärdienst wurde jungen Bauernburschen derart verhaßt, daß einige unter ihnen offenbar nicht zögerten, sich selbst zu verstümmeln, um der Einberufung zu entgehen.¹²⁰ 1788 versuchte man, den sog. „Strafdienst“ abzuschaffen, Straftäter sollten nicht mehr zum Militärdienst verurteilt werden, doch die Regelung war nicht von Dauer.¹²¹ Was dem Fürsten allerdings nicht zugestanden wurde, war die Überstellung von Sträflingen an fremde Heere¹²², dem Soldatenhandel war ein Riegel vorgeschoben. Die zwangsweise Einziehung von Delinquenten zum Militärdienst praktizierte man indessen auch noch am Ende des 18. Jahrhunderts.¹²³
Das Zuchthaus Zwangsarbeit und gemeinschaftliche Zwangsunterbringung waren die Kennzeichen des „alten“ Zuchthauses. Die Pflicht zur Arbeit und die im Schnitt längere Verweildauer
Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 3, S. 83 f.; Mandate vom 17. März und 12. Apr. 1786. Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 3, S. 101 (16. Nov. 1756). Generale vom 15. Apr. 1766 mit Bezug auf Verordnung vom 23. Febr. 1765, in: Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 4, S. 928 f. Vgl. die Ehehaltenordnung von 1781, in: Meyr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 2, S. 967, 969, 970, 972. Dazu Platzer, Arbeitsverhältnisse (wie Anm. 1) S. 180. Mandat vom 6. Aug. 1769, in: Kreittmayr, Sammlung (wie Anm. 40) S. 546. Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 5, S. 674. Nach der Verordnung vom 20. Juli 1795 drohte ihnen eine zweijährige Zuchthausstrafe. Rankl, Landvolk (wie Anm. 1) S. 958, 961. Wolfram Peitzsch, Kriminalpolitik in Bayern unter der Geltung des Codex Juris Criminalis Bavarici von 1751. München 1968 S. 85 f. Zur Frage, ob die Landeshoheit das Recht umfasse, Soldaten für fremde Truppen zu rekrutieren, siehe die Gutachten des Reichskammergerichts in der Causa ‚Stadt Höxter contra Fürstabt von Corvey, 1777/78‘, bei Karl Kroeschell, Justizsachen und Polizeisachen, in: Gerichtslauben-Vorträge. Hg. ders., Sigmaringen 1983 S. 57– 72. Zwei Beispiele: 1783 wurde ein Wildbretschütze im Gericht Hohenaschau für sechs Jahre „unter die Miliz gesteckt“. Breit, Verbrechen (wie Anm. 95) S. 212 (auch 209). 1794 wurde ein des Diebstahls Verdächtigter aus Burghausen „ad militiam abgegeben“. Hornung, Umrittsprotokolle (wie Anm. 47) S. 142.
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der Insassen unterschieden diese Institution von den anderen Haftanstalten, die es seit dem späteren 15. Jahrhundert über das Land verstreut in großer Anzahl als sog. bürgerliche Gefängnisse und in geringer als peinliche Fronfesten gab. In diesen Kerkern, die durchaus auch zu Strafzwecken genutzt wurden, hielten sich die Insassen zwar ebensowenig freiwillig auf, aber arbeiten mußten oder konnten sie dort nicht. Die frühe Geschichte des Zuchthauses ist samt den gesellschaftlichen Problemen, denen man damit steuern wollte, häufig beschrieben worden.¹²⁴ Das erste bayerische Zuchthaus wurde relativ spät errichtet. Als es 1682 in München den Betrieb aufnahm¹²⁵, waren die Arbeitsstrafen auf der Galeere, beim Festungsbau und als Kriegsdienst seit langem bekannt und als Sanktionen etabliert, die man dem opus publicum zuordnete. Die Zwangsarbeit im Zuchthaus ließ sich der gegebenen Kategorie offenbar problemlos einpassen. Im Publikationsmandat hieß es, man habe das Zuchthaus „dem ganzen Land zu gutem aufrichten (zu) lassen“, es sei von allgemeinem Nutzen. Im übrigen entsprach das einer verbreiteten Auffassung, die Zuordnung der Zuchthäuser zur Kategorie des opus publicum ist schon Mitte des 17. Jahrhunderts überliefert.¹²⁶ Im 18. Jahrhundert war sie die allgemein übliche.¹²⁷ In dem Mandat, das im Juni 1682 im ganzen Land vor den Kirchen verlesen, gedruckt verteilt und öffentlich plakatiert wurde, um die neue Einrichtung in Bayern bekannt zu machen, ist vornehmlich von vagierendem Gesindel, fremden Bettlern, inländischen Müßiggängern, respektlosen und liederlichen Dienstboten, umherziehenden Handwerksburschen und Schülern, faulen Tagwerkern und ungeratenen Kindern die Rede, die von ihrem üblen Treiben ab und zur Raison gebracht werden sollten. Alle Obrigkeiten im Land, vom Hausvater über den Meister oder Dienstherrn bis zum Niedergerichts- und Hochgerichtsherrn waren aufgefordert, Personen, die
Vgl. zur Vor- und Frühgeschichte des Zuchthauses Fumasoli, Schellenwerke (wie Anm. 59) zu den englischen Arbeitshäusern Andreas Präuer, Zwischen Schicksal und Chance. Arbeit und Arbeitsbegriff in Großbritannien im 17. und 18. Jahrhundert auf dem Hintergrund der „Utopia“ des Thomas More. Berlin 1997 S. 77 ff. Mandat vom 4. Juni 1682, in: Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 4, S. 563 ff.; Peitzsch, Kriminalpolitik (wie Anm.122) S. 102 ff.; Katja Vera Taver, Die Entstehung der Freiheitsstrafe in ihrer Zweiteilung in Gefängnis als leichtere und Zuchthaus als schwerere Strafform. Unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in Deutschland. Basel 1973 S. 205 ff.; Christoph Sachße/ Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. Stuttgart 1980 S. 113 ff.; Ekkehard Kaufmann, Strafe, Strafrecht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4, Berlin 1990 Sp. 2011– 2059, hier 2025; Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit. München 1995 S. 50 ff., 109 f.; Thomas Krause, Zuchthaus, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 5, Berlin 1998 Sp. 1777– 1780; Krause, Strafvollzugs (wie Anm. 57) S. 30 ff.; Schuck, Policeystrafe (wie Anm.59) S. 620 ff.; Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm. 59) S. 257, 265 f., 267, 277 f., 328. Zur Beurteilung des Verhältnisses von opus publicum und Zuchthaus in der Wissenschaft Taver, Freiheitsstrafe (wie Anm. 125) S. 107; Fumasoli, Schellenwerke (wie Anm. 59) S. 25; Feuerhelm, Stellung (wie Anm. 97) S. 102 ff. Peitzsch, Kriminalpolitik (wie Anm. 122) S. 103 f., 113; Taver, Freiheitsstrafe (wie Anm. 125) S. 111, 124, 205; Krause, Strafvollzug (wie Anm. 57) S. 56.
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„nicht gut thun“, im Zuchthaus anzumelden.¹²⁸ Ein weitreichender Freibrief also, doch wurden dem allzu heftigen Sanktionseifer von vornherein wirkungsvolle Zügel angelegt: Die anmeldenden Herren mußten den Transport und den Aufenthalt der Sträflinge oder Züchtlinge finanzieren¹²⁹, falls diese selbst dazu nicht in der Lage waren − was bei der infragekommenden Klientel zweifellos häufig der Fall war. Dem Zuchthaus wurden vielerlei schwer vereinbare Funktionen aufgebürdet. Die Münchner Anstalt beherbergte von Anfang an Schwerverbrecher, denen ein Malefizprozeß bevorstand, neben verurteilten Delinquenten, die eine längere oder kürzere Strafzeit absolvierten oder auf den Weitertransport nach Venedig bzw. an die ungarische Grenze warteten, und den eigentlichen „Züchtlingen“, einem bunt gemischten Völkchen aus Männern und Frauen – vor 1776 auch Kindern −, dem hier Arbeiten und Mores beigebracht werden sollten, hinzu kamen Personen, die man kurzfristig aus dem Verkehr ziehen wollte, wie etwa protestierende Bauernführer¹³⁰, oder Leute, die wegen Ordnungswidrigkeiten zeitweise festgehalten wurden. Das Zuchthaus wurde als Justizinstitut – als Untersuchungsgefängnis und als Strafvollzugsanstalt −, zugleich aber auch als eine Korrektionseinrichtung oder Erziehungsanstalt genutzt, wo durch harte Arbeit und streng organisierte Lebensweise, durch religiöse Übungen und Unterweisung, karge Nahrung und periodische Züchtigung „ordentliche“ Mitglieder der Gesellschaft herangezogen werden sollten. Allerdings stellte sich auch hier das schon angesprochene Problem der Arbeitsbeschaffung – eine Schwierigkeit, mit der nicht nur die bayerischen Zuchthäuser zu kämpfen hatten.¹³¹ Die Anstaltsinsassen waren hauptsächlich mit der Herstellung von Textilien befaßt, eine hervorragende Rolle dürfte der Spinnerei zugekommen sein. In der „Verhaltens- und Strafordnung das Zucht- und Arbeitshaus betreffend“ von 1788 ist vom Spinnen, Haspeln, Stricken und der Baumwollverarbeitung die Rede.¹³² Entsprechend kamen die Haupteinnahmen des Zuchthauses aus der Tuchmacherei, aber der Absatz der Erzeugnisse war keineswegs problemlos. 1780 wurden die „Zuchthausfabrikate“, „Tücher, Zeuge, Flanelle, Unterfutter etc.“ dem Landvolk im Intelligenzblatt – offenbar mit wenig Erfolg − zum Kauf angeboten.¹³³ Einen weiteren Produktionszweig stellte die Holzverarbeitung dar. Beschäftigungen außerhalb der Anstalt, also Arbeit in der Öffentlichkeit, war hingegen selten. Um 1800, im neuen
Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 4, S. 563: Nach Aufzählung der einzelnen Gruppen von Zuchthausaspiranten heißt es, es solle „in Summa ein jeder, der sonst nicht gut thun, oder sich auf den Bettl und Müßiggang legen will, zur Buß, Arbeit und zu besserem Leben gebracht, oder an solches Ort gesetzt werden, wo er niemand mehr beschweren, noch andere verführen kann.“ Meyr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 1, S. 108. BayHStA, Civilakten Fasz. 1201, Nr. 43 (zu 1716, Steingaden);Wilhelm Neu, David Hofmayr und der „Uttinger Bauernaufstand“ 1758 bis 1771, in: Lech-Isar-Land 1981 S. 25 – 53, hier S. 42 ff. Peitzsch, Kriminalpolitik (wie Anm. 122) S. 102 (zu 1781), 126 ff. Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 6, S. 97 f.; Thomas Nutz, Strafanstalt als Besserungsmaschine. Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft 1775 – 1848. München 2001 S. 97 f. Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 4, S. 644.
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Zuchthaustyp, diversifizierte man die Tätigkeiten, es gab nun auch die Schreinerei, Schneiderei, Metzgerei und Schlosserei.¹³⁴ Die Erwartung, daß das Zuchthaus durch die Arbeit, die hier geleistet wurde, rentabel sein könne, erfüllte sich nicht, obwohl der Fiskus als Betreiber der Anstalt durchweg versuchte, sich an jedermann schadlos zu halten. Die Zuchthausinsassen sollten ihren Unterhalt selbst finanzieren. Streitbare Bauernvertreter etwa, die von Amtleuten oder vom Militär in Haft genommen, auf Wagen gekettet ins Zuchthaus transportiert und dort etliche Wochen gefangen gehalten wurden, hatten für Transport und Unterhalt aufzukommen.¹³⁵ Knechte und Mägde, die bei diversen Vergehen im Wiederholungsfall ins Zucht- und Arbeitshaus verbracht werden sollten, erhielten dort, wenn sie selbst ihren Unterhalt nicht bezahlen konnten, lediglich trockenes Brot zu essen.¹³⁶ Neben dem Begriff Zuchthaus¹³⁷ wird in bayerischen Quellen seit Mitte des 18. Jahrhunderts vermehrt das Wort Arbeitshaus verwendet¹³⁸, wobei sowohl die Kombination „Zucht- und Arbeitshaus“ vorkommt, als auch durch die Wahl des einen oder des anderen Begriffs eine Differenz ausgedrückt werden sollte; konsequent gehandhabt wurde die Unterscheidung jedoch lange Zeit hindurch nicht.¹³⁹ Man hat angenommen ¹⁴⁰, daß der Gebrauch des Begriffs Arbeitshaus den Versuch darstellt, das negative Image des Wortes Zuchthaus zu unterlaufen, das vom kriminellen Segment der Anstaltsklientel ausging, aber auf alle Insassen abzufärben drohte − obwohl der Aufenthalt in einem Zuchthaus an sich nicht infamierend wirken sollte. Es gibt jedoch auch deutliche Hinweise auf einen anderen gewichtigen Umstand: Arbeit sollte aus dem Randdasein geholt werden, das sie aufs ganze gesehen im frühneuzeitlichen Strafsystem gefristet hatte. Innerhalb der Regierung diskutierte man um 1750 über eine grundsätzliche Umorganisation des Kriminalgerichtswesens und stellte dabei den Faktor „Arbeit“ ins Zentrum des Strafvollzugs. Man wollte die Untersuchungshäftlinge Peitzsch, Kriminalpolitik (wie Anm. 122) S. 127. BayHStA, Civilakten, Fasz. 1201, Nr. 43; 9. März 1716; 23. Juni 1716, aus dem Zuchthaus zu entlassende Steingadener Bauern sollen die Atzung zahlen. − Neu, David Hofmayr (wie Anm. 130) S. 42 f. Meyr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 2, S. 765 f.: Ehehalten- und Tagwerkerordnung vom 17. März 1755; Platzer, Arbeitsverhältnisse (wie Anm. 1) S. 135 ff.; Breit, Verbrechen (wie Anm. 95) S. 292. Im Mandat von 1682 wird ausschließlich das Wort Zuchthaus (vier mal) verwendet. Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 4, S. 563 ff. – Außer in München gab es seit etwa 1753 bis 1811 ein Zuchthaus in Burghausen. Amberg gegründet 1786, Neuburg a.D. 1781, Straubing 1813. Peitzsch. Kriminalpolitik (wie Anm. 122) S. 106. Die frühneuzeitlichen Arbeitshäuser können, so Johanna Jahn, Zur Geschichte der strafrechtlichen Arbeitshausunterbringung in Deutschland. München 1966 S. 14, 19 f., insofern nicht als Vorläufer des modernen Arbeitshauses (abgeschafft in den 1960er Jahren) gelten, als die Anstalten des 20. Jahrhunderts der korrektionellen Nachhaft dienten − die Einweisung also nach erfolgter Abbüßung einer Kriminalstrafe erfolgte −, während in den Arbeitshäusern älterer Art (bis 1871) Strafen verbüßt worden seien. Zu den damaligen terminologischen Unklarheiten Peitzsch, Kriminalpolitik (wie Anm. 122) S. 104. Platzer, Arbeitsverhältnisse (wie Anm. 1) S. 153.
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zur Arbeit heranziehen, und man plante, auf „keine andere als die Arbeitshaus-Straff auf gewisse Zeit und Jahr oder gestalt der Dinge nach, ad dies vitae, gegen den Delinquenten“ zu erkennen – außer, wenn erforderlich, auf den Tod.¹⁴¹ Das Projekt scheiterte, aber das Problem blieb. Einige Jahre später, 1756 bis 1759, konferierte der Rat abermals wegen „Errichtung eines operis publici“.¹⁴² Eine klarere Neuregelung der Funktionen und des Wortgebrauchs von Zuchthaus sollte sich erst allmählich nach 1790 durchsetzen. Die damals ergangene Verordnung sah vor, zwischen den Zuchthäusern, wohin nur verurteilte Verbrecher eingewiesen würden, und den Arbeitshäusern, in denen Freiwillige sich zur Arbeit einfinden könnten, zu unterscheiden.¹⁴³ Zwar stellte sich die faktische Situation der Arbeitshäuser dann doch anders dar, denn es erfolgten dort weiterhin Einlieferungen als Strafmaßnahme¹⁴⁴, aber das Zuchthaus als Arbeits-Erziehungsanstalt, als die man es einst vornehmlich gegründet hatte, gelangte damit an sein Ende. Das Zuchthaus hatte seine moderne Funktion als besonders gesicherte Strafvollzugsanstalt übernommen, in der die schwerste Form der Freiheitsstrafe abgebüßt wurde, so wie es dann im 19. und 20. Jahrhundert allgemein üblich wurde.¹⁴⁵
Das Ende der „alten“ Arbeitsstrafen Die hier vorgestellten Typen der Arbeitsstrafe sind als frühneuzeitliche Erscheinungsformen unfreier Arbeit anzusehen. In Bayern überdauerten sie das Epochenende nicht: 1789 wurde per Dekret die Schanzarbeit abgeschafft, nach 1790 folgte das Zuchthaus alter Observanz und 1793 die Galeerenstrafe, ob die Militärdienststrafe nach 1794 beibehalten wurde, bleibt zu klären. Das Gassenkehren, eine andernorts früh eingesetzte, harte Form der Arbeitsstrafe¹⁴⁶, kam in Bayern offenbar spät, selten und allenfalls als Schandstrafe zur Anwendung¹⁴⁷ – Rosina Dröscherin aus der Hofmark Peitzsch, Kriminalpolitik (wie Anm. 122) S. 103; Reinhard Heydenreuter, Kreittmayr und die Strafrechtsreform unter Kurfürst Max III. Joseph, in: Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr 1705 – 1790. Hg. Richard Bauer/ Hans Schlosser. München 1991 S. 37– 57, hier 41. Peitzsch, Kriminalpolitik (wie Anm. 122) S. 113. Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 5, S. 13 (zu 1790). BayHStA, MInn Nr. 31232 Nr. 45 (28. Nov. 1801). Verordnung, das unbotmäßige Gesinde statt mit Stock- oder Karbatschenstreichen, mit Arrest oder Arbeitshaus zu strafen. Zur Entwicklung in Bayern vom Codex Criminalis 1751, über den Entwurf Kleinschrods 1802 und den Feuerbachs 1810 bis zum Strafgesetzbuch von 1813 Taver, Freiheitsstrafe (wie Anm. 125) S. 205 ff. Die Debatte über die wechselnden Funktionen, die „Arbeit“ in den preußischen Zwangsanstalten – Zucht-, Arbeits-, Armen-, Waisenhäuser – zugedacht waren, erörtert Nutz, Strafanstalt (wie Anm. 132) S. 140 ff. Fumasoli, Schellenwerke (wie Anm.59) S. 30 ff. (Ateliers publics, Berner Schellenwerke); Eva Macho, Joseph II. – Die Condemnatio ad poenas extraordinarias. Schiffziehen und Gassenkehren. Frankfurt a. M. 1999 S. 29 ff. Gassenkehren wurde im Reichsabschied von 1548 als Strafe bei Gotteslästerung genannt, ging in die Landesordnung 1616 (Tit.7, Art. 1, 693 f.) über, taucht in anderem Kontext 1727 in einem Mandat auf,
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Rottenbuch etwa mußte 1765 eine Viertelstunde lang „öffentlich Gassenkehren“.¹⁴⁸ Weitere Strafarten sind bislang nicht bekannt. Soweit den Arbeitsstrafen in der Forschung Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, galt diese vor allem dem Aspekt, inwieweit sie als Vorstufen der modernen Freiheitsstrafe gelten können. Das Zuchthaus, in dem Strafen stationär und teils auch mit dem Ziel der Besserung vollzogen wurden, fand daher das größte Interesse. In jüngerer Zeit wurde vorgeschlagen, die frühneuzeitlichen Arbeitsstrafen, und zwar auch die Galeeren-, Schanz- und Zuchthausstrafe, als „Policeystrafen“ zu charakterisieren¹⁴⁹, das ist insofern eine problematische Kennzeichnung, als man mit „PoliceyFrevel“ damals solche Delikte meinte, die gerade nicht mit den genannten schweren Strafen sanktioniert wurden, sondern in die Kompetenz der sog. zivilen Strafgerichte fielen und jedenfalls unter einer Höchststrafe von 30 Pfund liegen sollten.¹⁵⁰ Das Ende der alten Arbeitsstrafen bedeutete nicht das Ende der Arbeit im Strafvollzug, auch beim Abbüßen der modernen Freiheitsstrafen wurde fleißig gearbeitet.
5 Opus publicum Für die skizzierten Arten unfreier Arbeit, die im frühneuzeitlichen Bayern praktiziert wurden, führte man zwei verschiedene Begründungen an: Zwangsarbeit wurde als Dienst oder als Strafe absolviert, sie war status- oder urteilsbedingt. Die beiden Gruppierungen haben insoweit nichts miteinander zu tun. Auch in ihrer sozialen Bedeutung differierten sie stark. Die allgegenwärtigen Dienste betrafen und belasteten ungleich mehr Menschen als die eher sporadisch anfallenden Strafen. Immerhin wurden einige Zwangsarbeiten ungleicher Abkunft an den gleichen Orten abgeleistet − Miliz und Krieg waren Dienstorte und zugleich Straforte, ebenso der Festungsbau. Was jedoch für beide Phänomene von zentraler Bedeutung war und ihre parallele Betrachtung lohnend erscheinen läßt, sind das Zwangsmoment, das sie − und zwar als rechtsgestützte Gewalt − charakterisiert, und die Ausrichtung auf das opus publicum, wie sie offiziell propagiert wurde.
das diese Strafe „gar frechen Weibspersonen“ beim Vergehen der Leichtfertigkeit als Zusatzstrafe androht, Mayr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 3, S. 117, und erscheint im Codex Criminalis 1751, Teil 1, Kap. 4; vgl. die Mandate von 1766 und 1771 in Meyr, Landesverordnungen (wie Anm. 19) Bd. 1, S. 35, 113. Fälle praktischer Anwendung sind erst aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. bekannt. Aber Heydenreuter, Kriminalgeschichte (wie Anm.59) zu 1623. Abgeschafft wurde die Strafe 1804. Peitzsch, Kriminalpolitik (wie Anm.122) S. 128. Stefan Breit, „Leichtfertigkeit“ und ländliche Gesellschaft.Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit. München 1991 S. 135, 129; Breit, Verbrechen (wie Anm. 95) S. 349. Schuck, Policeystrafe (wie Anm. 59). Eduard Rosenthal, Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Baierns. 2 Bde., Würzburg 1889/1906, hier Bd. 2, S. 153, 155 (Rentmeister-Instruktionen von 1613 und 1669).
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Das Vordringen des rechtlichen Zwangs auf das Gebiet der sittlichen Pflichten tritt im Dienstbereich an den Tag, wenn die geschuldete Arbeit, die solange als Hilfe erbracht worden war, seit etwa 1500 von den Hauskindern unter Androhung von Sanktionen als unentgeltliche Arbeit erzwungen werden konnte, und wenn die Fronpflichtigen jetzt auf Befehl erledigen sollten, wozu man sie bislang gebeten und was sie solange konsentiert hatten. Im Strafbereich wird der Trend deutlich, wenn Müßiggänger und Bettler, deren Christenpflicht, sich selbst durch Arbeit zu ernähren, schließlich alles andere als neu war, nun zur Arbeit gezwungen und bald auch zu Arbeitsstrafen verurteilt wurden. Allenthalben sah sich der gemeine Mann Gesetzen und Zwängen konfrontiert, die er als von außen kommend als Oktroy erfuhr, und daher − anders als die Lehren der Tradition und der Sitte − bewußt wahrnahm und überdachte. Die Betonung des Zwangsmoments durch die Obrigkeiten führte zur Popularisierung der Idee des freien Willens, die während des 17. Jahrhunderts im Handlungs- und Sprachdiskurs der Untertanen erfolgte.¹⁵¹ Die Vorstellung, daß Unfreiheit vor allem fehlende Willensfreiheit anzeige, wurde allgemein; sie führte beispielsweise dazu, wie im Eingangsexempel angesprochen, ständische Unfreiheit in die Absenz freien Willens umzudeuten. Der im 18. Jahrhundert voraneilende Triumph des Freiheitspathos besiegelte das Schicksal der unfreien Arbeit: sie verschwand als Dienst und als Strafe zeitgleich in den Jahrzehnten um die Wende zum 19. Jahrhundert. Zum anderen ist da das opus publicum, dem hier wie da, für den Dienst und für die Strafe, offensichtlich große Bedeutung zukam.¹⁵² Man bezeichnete die Fronarbeiten, die von den Untertanen gefordert wurden, als operae publicae, und man sanktionierte Verbrechen mit Strafen ad opus publicum. Die Übersetzung von opus, opera, operae mit Arbeit und von publicus mit öffentlich ist auch in der frühen Neuzeit durchgängig. Allerdings führt die Mehrdeutigkeit von publicus/öffentlich zu unterschiedlichen Akzentuierungen. Öffentlich kann als Gegensatz zu privat und als Gegensatz zu heimlich verstanden werden. Öffentlich im Sinne von „zum Gemeinwesen, zur res publica, zum Staat gehörig“ steht neben öffentlich im Sinne von „vor aller Augen, vor Publikum“. Opus publicum kann also als „Arbeit für das Gemeinwesen“ oder/und als „Arbeit in der Öffentlichkeit“ verstanden werden. Bei den Scharwerk als operae publicae stand die Bedeutung „Arbeit für das Gemeinwesen“ oder „für die Organisatoren der öffentlichen Gewalt“ im Vordergrund. Öffentlich hießen die Arbeiten wegen ihres Gemeinwohlbezugs, die operae publicae
Blickle, Gefangene Knechte (wie Anm.21) S. 150 ff.; Renate Blickle, Frei von fremder Willkür. Zu den Ursprüngen der frühen Menschenrechte. Das Beispiel Altbayern, in: Leibeigenschaft. Bäuerliche Unfreiheit in der frühen Neuzeit. Hg. Jan Klußmann. Köln usw. 2003 S. 157– 174, hier 161 ff. Die Literatur zum ‚opus publicum‘ behandelt nur die Arbeitsstrafe. Ekkehard Kaufmann, Opera publica, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3, Berlin 1984 Sp. 1248 – 1252; Schuck, Policeystrafe (wie Anm. 59); Krause, Opera publica (wie Anm. 59).
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zielen „nur ad necessitatem et utilitatem publicam“ betonen die Kommentatoren.¹⁵³ Allenfalls könnte „öffentlich“ hier in Opposition zu „häuslich“ stehen, nicht aber zu „heimlich“. Arbeit war im Normalfall häusliche Arbeit, sie fand im und für den Haushalt statt, die operae publicae wären dann die nicht-häuslichen Tätigkeiten gewesen und evt. als eine Besonderheit zu vermerken. Die Wortform operae war im klassischen Latein ungebräuchlich, sie wurde im Spätmittelalter von italienischen Juristen benutzt und deutsch mit „fleiß vel hilff. arbeit. gewerb.“ wiedergegeben.¹⁵⁴ In der frühen Neuzeit bezeichnete operae in Verbindung mit verschiedenen Beifügungen wie jurisdictionales, territoriales und vor allem publicae Varianten der Fronarbeit. Das Verständnis von operae als Arbeit und Hilfe schließt an Rechtsvorstellungen an, die bei der Huldigung in der Formel von „Rat und Hilfe“ zum Ausdruck kamen. „Hilfe“ meinte die materielle Leistung des Holden/ Untertanen für den Herrn/die Obrigkeit, die in Zeiten der Not und als Ausnahme – „extraordinär“ – in Form von Arbeit oder Geld, als operae oder Steuer, zu geben war. Die Bezeichnung opera publica für die frühneuzeitlichen Arbeitsstrafen nimmt einen römisch-rechtlichen Begriff auf. In der Antike waren damit Straftätigkeiten – Straßenbau-, Reinigung- und Bergwerks- und andere Arbeiten – zum Nutzen des Staates gemeint.¹⁵⁵ Dasselbe Verständnis dürfte bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts auch den Strafurteilen der frühneuzeitlichen Juristen zugrunde gelegen haben, und vornehmlich in diesem Sinne verstand man in Bayern die hier vorgestellten Strafen zur Galeere, zum Festungsbau, zum Kriegsdienst, zur Miliz, zum Zuchthaus. In der Strafrechtsdebatte der Aufklärungszeit verschoben sich die Akzente im Verständnis dessen, was Arbeit zum opus publicum bezwecke. Öffentlich sollte Strafarbeit jetzt vor allem in dem Sinn sein, daß sie vor Publikum zu erledigen war, damit der Delinquent beschämt und die Menge durch den schmählichen Anblick gewarnt würden.¹⁵⁶ Derzeit ist sich die Wissenschaft weder über den Charakter – Leibesstrafe, Schandstrafe, Freiheitsstrafe –, noch über einen Kanon der ad opus publicum verhängten Sanktionen einig. Dazu gerechnet werden allgemein die Galeerenstrafe und der Festungsbau, während das Zuchthaus häufig einer gesonderten Betrachtung unterzogen wird und die Kriegs- und die Milizstrafen meist unerwähnt bleiben.¹⁵⁷
Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 33) S. 997 zitiert zustimmend Schmid, Commentarius (wie Anm. 32). Zitat nach Wiedemann, Arbeit (wie Anm. 30) S. 57. − Seine Auswertung der Wörterbücher (und von Literatur) des 15. und 16. Jahrhunderts ergab im übrigen, daß ‚opus‘ damals „völlig gleichwertig“ mit „arbeit“ und „werk“ verwendet wurde. − Blickle, Scharwerk (wie Anm. 20) S. 429. Anschaulich Ivanovic, Zwangsarbeit (wie Anm. 59) S. 47 ff. Schuck, Policeystrafe (wie Anm. 59) S. 625. Vgl. die Systematik bei Schmidt, Einführung (wie Anm. 59) § 175: „Die Opera publica. Galeerenstrafe. Festungsbaustrafe.“ Zur Behandlung des Zuchthauses in der Rechtshistorie Taver, Freiheitsstrafe (wie Anm. 123) S. 106 f., 111, 124; Fumasoli, Schellenwerke (wie Anm. 59) S. 25; Feuerhelm, Stellung (wie Anm. 97) S. 102. Eine Zuordnung der Militärdienststrafe zu den Arbeitsstrafen erfolgt allerdings bei Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 55) S. 228 f.; Heydenreuter, Kreittmayr (wie Anm. 141) S. 41.
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Die Deklaration unfreier Arbeit als Tätigkeit zum opus publicum/als operae publicae ist als Bemühen um eine Rechtfertigung des ausgeübten Zwanges zu verstehen. Das Gemeinwohl erschien seiner hohen Wertschätzung wegen als besonders geeignetes Argument, um mögliche Zweifel an der Legitimität des eingesetzten Zwanges zu überspielen.¹⁵⁸
Vgl. Feuerhelm, Stellung (wie Anm. 97) S. 3, zur Legitimationskrise des modernen Strafrechts und zur gemeinnützigen Arbeit als dominierender und fraglos akzeptierter Maßnahme im Jugendstrafrecht.
Erscheinungsnachweise¹ Leibeigenschaft und Eigentum. Vom Zusammenhang der Erscheinungen in Verfassung und Geschichte des „Eigens“ oder der Hofmark Steingaden, in: Steingadener Chronik 3. Hg. Sigfrid Hofmann. Gemeinde Steingaden 1987 S. 958 – 972. Die Tradition des Widerstandes im Ammergau. Anmerkungen zum Verhältnis von Konflikt- und Revolutionsbereitschaft, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 35. © DLG-Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1987 S. 138 – 159. Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. (Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte 2). Hg. Günter Birtsch. © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987 S. 42 – 64. Rebellion oder natürliche Defension. Der Aufstand der Bauern in Bayern 1633/34 im Horizont von gemeinem Recht und christlichem Naturrecht, in: Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Hg. Richard van Dülmen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1990 S. 56 – 84, 281 – 286. Frei von fremder Willkür. Zu den gesellschaftlichen Ursprüngen der frühen Menschenrechte. Das Beispiel Altbayern, in: Leibeigenschaft. Bäuerliche Unfreiheit in der frühen Neuzeit. Hg. Jan Klußmann. © Böhlau, Köln usw. 2003 S. 157 – 174. (zuerst englisch: Appetitus Libertatis, 1993). Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Gemeinde und Staat im Alten Europa. Hg. Peter Blickle (Historische Zeitschrift, Beiheft NF. 25). © De Gruyter, München 1998 S. 241 – 266. Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat, in: Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne. Hg. Werner Rösener. © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000 S. 263 – 317. „Gefangene Knechte und Dirnen“. Zur Wahrnehmung von Fronarbeit und Gesindedienst im frühneuzeitlichen Altbayern, in: „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. Hg. Paul Münch (Historische Zeitschrift, Beiheft NF. 31). © De Gruyter, München 2001 S. 141 – 153. Opus Publicum – Dienst und Strafe. Anmerkungen zur Zwangsarbeit im Bayern der frühen Neuzeit, in: Unfreie Arbeit. Ökonomische und kulturgeschichtliche Perspektiven. (Sklaverei– Knechtschaft–Zwangsarbeit Bd. 3). Hg. M. Erdem Kabadayi/Tobias Reichardt. © Olms, Hildesheim usw. 2007 S. 166 – 199.
Wir danken den Verlagshäusern für die großzügige Überlassung der Wiederabdrucksrechte. DOI 10.1515/9783110541106-010
Schriftenverzeichnis (Auswahl) Monographien Landgericht Griesbach (Historischer Atlas von Bayern. Teil Altbayern Heft 19). München 1970. Schwaben von 1268 bis 1803 (Dokumente zu Staat und Gesellschaft in Bayern. Abt. 2 Bd. 4), bearb. von Peter Blickle und Renate Blickle. Mü nchen 1979.
Aufsätze Besitz und Amt. Bemerkungen zu einer Neuerscheinung über bäuerliche Führungsschichten, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 40/1. 1977 S. 277 – 290. „Spenn und Irrung“ im „Eigen“ Rottenbuch. Die Auseinandersetzungen zwischen Bauernschaft und Herrschaft des Augustiner-Chorherrenstifts, in: Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. Hg. Peter Blickle. München 1980 S. 69 – 145. Die Haager Bauernversammlung des Jahres 1596. Bäuerliches Protesthandeln in Bayern, in: Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther Franz zum 80. Geburtstag. Hg. Peter Blickle. Stuttgart 1982 S. 43 – 73. Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern. 1400 – 1800, in: Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa. Hg. Winfried Schulze (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien 27). Stuttgart 1983 S. 166 – 187. Leibeigenschaft und Eigentum. Vom Zusammenhang der Erscheinungen in Verfassung und Geschichte des „Eigens“ oder der Hofmark Steingaden, in: Steingadener Chronik 3. Hg. Sigfrid Hofmann. Steingaden 1987 S. 958 – 972. Die Tradition des Widerstandes im Ammergau. Anmerkungen zum Verhältnis von Konflikt- und Revolutionsbereitschaft, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 35. 1987 S. 138 – 159. Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Hg. Günter Birtsch (Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte 2). Göttingen 1987 S. 42 – 64. Nahrung und Eigentum als Kategorien in der ständischen Gesellschaft, in: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. Hg. Winfried Schulze (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 12). München 1988 S. 73 – 93. Rebellion oder natürliche Defension. Der Aufstand der Bauern in Bayern 1633/34 im Horizont von gemeinem Recht und christlichem Naturrecht, in: Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Hg. Richard van Dülmen. Frankfurt am Main 1990 S. 56 – 84, 281 – 286. Scharwerk in Bayern. Fronarbeit und Untertänigkeit in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 17. 1991 S. 407 – 433. From Subsistence to Property: Traces of a Fundamental Change in Early Modern Bavaria, in: Central European History 25. 1992 p. 377 – 385. Appetitus Libertatis. A Social Historical Approach to the Development of the Earliest Human Rights: The Example of Bavaria, in: Human Rights and Cultural Diversity. Ed. Wolfgang Schmale. Goldbach 1993 p. 143 – 162. Frei von fremder Willkür. Zu den gesellschaftlichen Ursprüngen der frühen Menschenrechte. Das Beispiel Altbayern, in: Leibeigenschaft. Bäuerliche Unfreiheit in der frühen Neuzeit. Hg. Jan Klußmann. Köln usw. 2003 S. 157 – 174 (zuerst englisch: Appetitus Libertatis, 1993). DOI 10.1515/9783110541106-011
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Schriftenverzeichnis (Auswahl)
Leibeigenschaft. Versuch über Zeitgenossenschaft in Wissenschaft und Wirklichkeit, durchgeführt am Beispiel Altbayerns, in: Gutsherrschaft als soziales Modell. Hg. Jan Peters (Historische Zeitschrift, Beiheft NF. 18). München 1995 S. 53 – 79. Die Supplikantin und der Landesherr. Die ungleichen Bilder der Christina Vend und des Kurfürsten Maximilian I. vom rechten ‚Sitz im Leben‘ (1629), in: Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen. Hg. Eva Labouvie. München 1997 S. 81 – 99, 212 – 216. Peasant protest and the language of women’s petitions: Christina Vend’s supplications of 1629, in: Gender in Early Modern German History. Ed. by Ulinka Rublack. Cambridge University Press 2002 p. 177 – 199 (zuerst deutsch: Die Supplikantin, 1997). Bauernkönige in der bürgerlichen Wissenschaft. Eine epistemologische Untersuchung und ein melancholisch stimmender Befund, in: Historie und Eigen-Sinn. Festschrift für Jan Peters. Hg. Axel Lubinski/Thomas Rudert/Martina Schattkowsky. Weimar 1997 S. 13 – 22. Das Land und das Elend. Die Vier-Wälder-Formel und die Verweisung aus dem Land Bayern. Zur historischen Wahrnehmung von Raum und Grenze, in: Menschen und Grenzen in der Frühen Neuzeit. Hg. Wolfgang Schmale/Reinhard Stauber. Berlin 1998 S. 131 – 154. Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Gemeinde und Staat im Alten Europa. Hg. Peter Blickle (Historische Zeitschrift, Beiheft NF. 25). München 1998 S. 241 – 266. Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat, in: Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne. Hg. Werner Rösener. Göttingen 2000 S. 263 – 317. Denunziation. Das Wort und sein historisch-semantisches Umfeld: Delation, Rüge, Anzeige, in: Der Staatsbürger als Spitzel. Denunziation während des 18. und 19. Jahrhunderts aus europäischer Perspektive. Hg. Michaela Hohkamp/Claudia Ulbrich. Leipzig 2001 S. 25 – 59. „Gefangene Knechte und Dirnen“. Zur Wahrnehmung von Fronarbeit und Gesindedienst im frühneuzeitlichen Altbayern, in: „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. Hg. Paul Münch (Historische Zeitschrift, Beiheft NF. 31). München 2001 S. 141 – 153. Intercessione. Suppliche a favore di altri in terra e in cielo: un elemento di rapporti di potere, in: Suppliche e „gravamina“. Politica, amministrazione, giustizia in Europa (secoli XIV – XVIII). Ed. Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, Quaderni 59). Bologna 2002 p. 367 – 406. Interzession. Die Fürbitte auf Erden und im Himmel als Element der Herrschaftsbeziehungen, in: Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert). Hg. Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Bd. 19). Berlin 2005 S. 293 – 322 (zuerst italienisch: Intercessione, 2002). Opus Publicum – Dienst und Strafe. Anmerkungen zur Zwangsarbeit im Bayern der frühen Neuzeit, in: Unfreie Arbeit. Ökonomische und kulturgeschichtliche Perspektiven. (Sklaverei– Knechtschaft–Zwangsarbeit Bd. 3). Hg. M. Erdem Kabadayi/ Tobias Reichardt. Hildesheim usw. 2007 S. 166 – 199. Gegengeschichte – erprobt an den Menschen und Mäusen der Aschauer Bannrichtersage: 1668/1964, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 74. 2011 S. 765 – 839.