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German Pages 272 Year 2014
Georg Glasze Politische Räume
Georg Glasze (Dr. rer. nat.) ist Lehrstuhlinhaber für Kulturgeographie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsinteressen liegen in der Politischen Geographie, der geographischen Stadtforschung und der interdisziplinären Diskursforschung.
Georg Glasze
Politische Räume Die diskursive Konstitution eines »geokulturellen Raums« – die Frankophonie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2013 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Gipfelkonferenz der »Organisation Internationale de la Francophonie« (2004) Lektorat & Satz: Georg Glasze Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1232-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Danksagung
13
1 Die Frankophonie – ein espace géoculturel?
15
2 Kollektive Identität und Raum – traditionelle Ansätze, Kritik und Vorschläge zur Neukonzeption
21
2.1 Von der natürlichen Ordnung zu sozialen Identitäten
22
2.2 Von Räumen als Ganzheiten zu Räumen als soziale Konstrukte
27
2.2.1 Räume als Ganzheiten
27
2.2.2 Räume als Konstrukt I: das handlungstheoretische Konzept der „alltäglichen Regionalisierungen“ und das systemtheoretische Konzept der „Raumsemantiken“
33
2.2.3 Räume als Konstrukt II: radical geography und new cultural geography
44
3 Ausarbeitung eines politischen Konzepts von Identitäten und von Räumen
63
3.1 Grundlagen der Diskurstheorie
64
3.1.1 Die strukturalistische Linguistik nach Saussure: Bedeutung als Effekt von Differenzierung
64
3.1.2 Weiterführung, Kritik und Radikalisierung strukturalistischen Denkens im Poststrukturalismus: Bedeutung als fragil und niemals endgültig fixiert
67
3.1.3 Der Diskursbegriff bei Michel Foucault: Diskurse als historisch kontingente Sagbarkeitsräume
70
3.2 Die Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe
73
3.2.1 Weiterführung und Präzisierung des Diskursbegriffs
73
3.2.2 Neuformulierung einer Hegemonietheorie
76
3.2.3 Ein politisches Konzept von Identitäten
80
3.2.4 Ein politisches Konzept von Räumen
87
3.3 Identitäten, Räume und das normative Ziel einer radikalen Demokratie
94
4 Operationalisierung: Untersuchung der Fixierung von Differenzbeziehungen in sprachlichen und nichtsprachlichen Artikulationen
97
4.1 Analyse sprachlicher Artikulationen 4.1.1 Abgrenzung gegenüber Verfahren der Inhaltsanalyse
99 99
4.1.2 Lexikometrische Verfahren: von quantitativen Beziehungen zur Bedeutung
101
4.1.3 Untersuchung narrativer Muster: von der Einbindung in narrative Muster zur Bedeutung
113
4.2 Analyse nicht-sprachlicher Artikulationen
118
4.2.1 Ansätze einer diskurstheoretisch orientierten Bildanalyse
119
4.2.2 Ansätze zur Untersuchung von Institutionen als sedimentierte Diskurse
121
5 Die diskursive Konstitution der Frankophonie
125
5.1 Die Frankophonie als internationale Gemeinschaft und geokultureller Raum: Ausgangspunkt und empirische Fragestellung
125
5.2 Forschungsstand: Frankophonie als Thema literatur- und sozialwissenschaftlicher Forschung
126
5.3 Forschungsdesign der Fallstudie „Diskursive Konstitution der Frankophonie“
128
5.4 Von der langue française zur diversité culturelle – die diskursive Konstitution der Frankophonie
134
5.4.1 Die Formierung des Frankophoniediskurses und die Etablierung der ersten Organisationen einer weltumspannenden französischsprachigen Gemeinschaft in den 1950er und 1960er Jahren
134
5.4.2 Die Frankophonie als internationale Gemeinschaft der Französischsprachigen – der Frankophoniediskurs zu Beginn der 1970er Jahre 152
5.4.3 Verschiebung des Frankophoniediskurses Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre: Verknüpfung mit Hochwertbegriffen und Ausbau der organisatorischen Strukturen
161
5.4.4 „Herr, befreie uns von der Frankophonie“: die Verknüpfung von Frankophonie und (Neo-) Kolonialismus in Gegendiskursen
172
5.4.5 Die Frankophonie als „Schutzschild der kulturellen Vielfalt“ – der Diskurs der Frankophonie zu Beginn des 21. Jahrhunderts
181
5.5 Stabilisierung des Frankophoniediskurses durch Bezüge zu Historizität und Territorialität
199
5.5.1 „Ursprünge“ der Frankophonie im 19. Jahrhundert? Zur Funktion von Geschichte und Historizität im Frankophoniediskurs
199
5.5.2 Der „frankophone Raum“ als Gemeinschaft der „frankophonen Länder“ – zur Funktion der Verbindung von „Frankophonie“ mit territorialräumlichen Begriffen
208
5.6 Ergebnis: von der Gemeinschaft der Französischsprachigen zur Frankophonie als Schutzschild der kulturellen Vielfalt 212 6 Zusammenfassung: Diskurs – Hegemonie – Raum
217
7 Anhang
227
7.1 Ergebnisse der korpuslinguistisch-lexikometrischen Analysen
227
7.2 Beikarte: Anteil der „Französischsprachigen“ und Status des Französischen in den Mitgliedstaaten der Organisation Internationale de la Francophonie
235
8 Bibliographie
237
Ab bildungs verzeichnis
Abbildung 1: Eine Maison de TV5 in Burkina Faso
16
Abbildung 2: Die Staats- und Regierungschefs auf dem X. Gipfeltreffen
17
Abbildung 3: Kulturräume der Erde nach Banse 1912
28
Abbildung 4: Geographische Legitimation für revanchistische und expansionistische Politiken: „Deutscher Volks- und Kulturboden“ nach Penck 1925
30
Abbildung 5: Herstellung von Bedeutung durch Abgrenzung
64
Abbildung 6: Die Fixierung von Bedeutung in einer strukturalistischen Perspektive
66
Abbildung 7: Scheitern fixierter Bedeutung in der Perspektive des Poststrukturalismus
68
Abbildung 8: Die Beziehung von Signifikanten in der Perspektive der Diskurstheorie: temporäre Fixierung
83
Abbildung 9: Das fort/da-Spiel nach Freud
88
Abbildung 10: Karten werden vielfach als „indexikalische Zeichen“ gelesen – d. h. es wird unterstellt, dass sie die Wirklichkeit abbilden
120
Abbildung 11: Ersterscheinungsjahr von Büchern und Zeitschriften mit francophon* im Titel im Archiv der französischen Nationalbibliothek 134 Abbildung 12: Grundpfeiler der französischen Afrikapolitik nach der Entkolonialisierung – Militärabkommen und Beibehaltung der CFA-Währungszone
149
Abbildung 13: Das französische Kolonialreich als Gemeinschaft unterschiedlicher Hautfarben: „Drei Farben – eine Fahne – ein Imperium“
160
Abbildung 14: Relative Häufigkeiten von langue française, francophonie, paix und démocratie in den Korpora „ACCT“ und „Sommets“ bis 1999 164 Abbildung 15: Organisationsstrukturen der internationalen Frankophonie nach der Gipfelkonferenz 1991
168
Abbildung 16: Organisationsstrukturen der internationalen Frankophonie nach Revision der Charta der Frankophonie auf der Gipfelkonferenz 1997 und der erneuten Revision 2005
171
Abbildung 17: Die von der französischen Nichtregierungsorganisation Survie erstellte Karte zeigt „die Länder der ‚Françafrique’“ zu Beginn des 21. Jh. als Ansammlung von Autokratien 179 Abbildung 18: Die Frankophonie als vielfältiger Baum – Logo des Kulturfestivals „francofffonies“ 2006 in Frankreich 185 Abbildung 19: Die Entwicklung der Mitgliedstaaten der Frankophonie
193
Abbildung 20: Territoriale Entwicklung des französischen Kolonialreichs
202
Abbildung 21: Das Werbeplakat des Senghor-Festjahres 2006
207
Abbildung 22: Die Frankophonie als Collage der Territorien „frankophoner Länder“
210
Abbildung 23: „Die Welt der Frankophonie“: Weltkarte der Organisation Internationale de la Francophonie 2007
211
Abbildung 24: Langue française als Knotenpunkt des Frankophoniediskurses in der Gründungsphase der institutionalisierten Frankophonie
213
Abbildung 25: Diversité culturelle als Knotenpunkt des Frankophoniediskurses zu Beginn des 21. Jahrhunderts
215
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Für die lexikometrischen Analysen erstellte Textkorpora 130 Tabelle 2: Zusätzliche für die Analyse narrativer Muster digital aufbereitete und in AtlasTI integrierte Texte
131
Tabelle 3: Gründung von Nichtregierungsorganisationen in den 1950er und 1960er Jahren, welche internationale Verbindungen auf der Basis der französischen Sprache etablieren
140
Tabelle 4: Etablierung „frankophoner“ Regierungsorganisationen in den 1960er Jahren
150
Tabelle 5: Analyse der charakteristischen Formen des Teilkorpus „Gipfelkonferenzen der Frankophonie 1999, 2002 und 2004“ im Vergleich zum Gesamtkorpus der zehn Gipfelkonferenzen seit 1986 (dargestellt bis zu einer Spezifität von 10-16)
182
Tabelle 6: Spezifische Wörter und Wortfolgen in den Verhandlungsbänden der ACCT Konferenzen 1969, 1970 und 1971 im Vergleich zum Gesamtkorpus 1969-1996
227
Tabelle 7: Spezifische Wörter und Wortfolgen in den Verhandlungsbänden der ACCT Konferenzen 1991, 1993 und 1996 im Vergleich zum Gesamtkorpus 1969-1996
229
Tabelle 8: Spezifische Wörter und Wortfolgen in den Verhandlungsbänden der Gipfelkonferenzen der Frankophonie 1999, 2002 und 2004 im Vergleich zum Gesamtkorpus 1986-2004
233
Exkurse
Exkurs 1: Léopold Sédar Senghor, die Négritude-Bewegung und die Idee einer franko-afrikanischen Gemeinschaft
137
Exkurs 2: Organisation der französischen Afrikapolitik nach der Entkolonialisierung
147
Exkurs 3: Die Etablierung der ACCT 1969 und 1970 in Niamey (Niger)
152
Exkurs 4: Von der ACCT zu den Sommets de la Francophonie
165
Exkurs 5: Budget und Finanzierung der FrankophonieOrganisationen
169
Exkurs 6: Kritik und partielle Reform der Afrikapolitik Frankreichs in den 1990er Jahren
177
Exkurs 7: Die Durchsetzung der UNESCO-Konvention zum Schutz der „kulturellen Vielfalt“
194
Danksagung Das vorliegende Buch ist als Habilitationsschrift entstanden. Es wäre in dieser Form nicht möglich gewesen ohne zahlreiche Impulse, Anregungen, Diskussionen und Hilfestellungen. Danken möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen, die von 2005 bis 2010 im Wissenschaftsnetz „Diskursforschung in der Humangeographie“ zusammengearbeitet haben – insbesondere Dr. Annika Mattissek. Das Netzwerk bot auch für diese Arbeit einen sehr kreativen und produktiven Kontext. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Arbeit des Netzwerks finanziell unterstützt und zudem – unabhängig davon – die Drucklegung dieses Buches bezuschusst. In Mainz ermöglichte die Förderung durch das Zentrum für interkulturelle Studien (ZIS), dass ich von zuverlässigen Hilfskräften unterstützt wurde. Namentlich bedanke ich mich bei Ulrike Mayr, Simon Lyding, Kathrin Samstag und Florian Weber. Die Kooperation mit Prof. Dr. Véronique Porra in der Mainzer Romanistik hat mir Zugänge zur literaturwissenschaftlichen Frankophonieforschung eröffnet. Der Deutsche Akademische Austauschdienst und die Maison des Sciences de l'Homme ermöglichten mir im Winter 2004/2005 einen Forschungsaufenthalt in Paris: Der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Kontext der so genannten „französischen Schule der Diskursforschung“ insbesondere am CEDITEC an der Universität Paris EstCréteil hat das Forschungsdesign der Arbeit in hohem Maße beeinflusst. Weitere wichtige Impulse verdanke ich Prof. Dr. Robert Pütz, Prof. Dr. Paul Reuber, Prof. Dr. Sebastian Lentz und Prof. Dr. Günter Meyer. Und nicht zuletzt gilt mein Dank dem Verlag, der das Publikationsprojekt wohlwollend unterstützt hat, obwohl die neuen Aufgaben und Projekte an meinem jetzigen Standort Erlangen-Nürnberg die endgültige Fertigstellung verzögert haben. Erlangen im August 2012, Georg Glasze 13
1 Die Fra nk ophonie – ein es pace géoc ulture l ? Die Frankophonie ist berufen, alle anderen Sprachen der Welt zu versammeln, damit die kulturelle Vielfalt, [...] bewahrt wird [...]. Wir müssen Kämpfer für den Multikulturalismus sein, um die Erstickung der verschiedenen Kulturen durch eine einzige Sprache zu bekämpfen.1 Jacques Chirac, Staatspräsident der Republik Frankreich, 1997 an der Universität in Budapest Die Frankophonie ermöglicht uns, uns zu organisieren, wir Araber, Afrikaner und andere von der Dampfwalze der amerikanischen Kulturindustrie bedrohte Identitäten, denn alleine wären wir nicht stark genug, um uns zu verteidigen.2 Youssef Chahine, ägyptischer Filmemacher, 2000 im Haut Conseil de la Francophonie in Paris Die Zeit ist gekommen, die Ideale der Frankophonie auch über den frankophonen Raum hinaus zu befördern [...]. Die Frankophonie muss heute aus der Energie ihrer Anhänger ihre Fähigkeit der Ausstrahlung und des Einflusses in der Welt gewinnen.3 Boutros Boutros-Ghali, Generalsekretär der Organisation Internationale de la Francophonie, zur Eröffnung der Konferenz der frankophonen Nichtregierungsorganisationen 2003 in Québec Die kulturelle und linguistische Vielfalt ist das Herz der Aktivitäten, die von der Frankophonie unternommen werden. Sie ist zu einer politischen Frage geworden, denn in dem gegenwärtigen Prozess der Globalisierung ohne die kulturelle Vielfalt, laufen wir sonst Gefahr, eine Schwächung des Dialogs der Kulturen, des Gleichgewichts einer multipolaren Welt und gar der fundamentalen Werte des Friedens, der Gerechtigkeit und der Demokratie beobachten zu müssen.4 Abdou Diouf, Generalsekretär der Organisation Internationale de la Francophonie, Neujahrsansprache 2005 in Paris
Am 28. November 2004 eröffnete die stellvertretende Staatspräsidentin der Sozialistischen Republik Vietnam, Frau Truong My Hoa, in der westafrikanischen Provinzstadt Boulmiougou (Burkina Faso) eine so genannte Maison de TV55. Diese Maison de TV5 sind Cafés, in denen die Bewohner eines Stadtviertels die Möglichkeit geboten bekommen, 15
POLITISCHE RÄUME
die Sendungen des internationalen französischsprachigen Fernsehsenders TV5 zu verfolgen (s. Abbildung 1). Abbildung 1: Eine Maison de TV5 in Burkina Faso
Photo: Glasze 2004
1
2
3
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„La Francophonie a vocation à appeler toutes les autres langues du monde à se rassembler pour faire en sorte que la diversité culturelle [...] soit sauvegardée. [...] Il nous faut être les militants du multiculturalisme dans le monde pour lutter contre l’étouffement, par une langue unique.“ Das Zitat wird reproduziert auf einer Internetseite des französischen Außenministeriums (www.diplomatie.gouv.fr/fr/article-imprim.php3?id_ article=6542, Zugriff: 12.01.2007). Diese Übersetzung und alle folgenden übersetzten Zitate GG. „La Francophonie nous permet de nous organiser, nous Arabes, Africains et autres identités menacées par le rouleau compresseur des industries culturelles américaines car, seuls, nous ne serions pas assez forts pour nous défendre.“ Das Zitat wird reproduziert auf einer Internetseite des französischen Außenministeriums (www.diplomatie.gouv.fr/fr/articleimprim.php3?id_article=6542, Zugriff: 12.01.2007). „Le temps est venu, de promouvoir les idéaux de la Francophonie au-delà de l’espace francophone [...] la Francophonie doit aujourd’hui puiser dans l’énergie de ses militants sa capacité de rayonnement et d’influence dans le monde.“ Das Zitat ist einem Korpus der empirischen Fallstudie entnommen (s. Kapitel 5.3). „La diversité culturelle et linguistique est [...] au cœur de l’action engagée par la Francophonie. Elle est devenue un enjeu politique, car sans
DIE FRANKOPHONIE – EIN ESPACE GÉOCULTUREL?
Warum finanziert ein armes Land in Südostasien ein solches Café in der westafrikanischen Provinz? Was verbindet Vietnam und Burkina Faso? Die stellvertretende Präsidentin war im Herbst 2004 nach Ouagadougou gereist, um dort an der 10. Gipfelkonferenz der Organisation Internationale de la Francophonie (OIF) teilzunehmen. Neben Vietnam und Burkina Faso sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr als 70 Staaten Mitglied in dieser internationalen Organisation. Seit 1986 treffen sich deren Staats- und Regierungschefs alle zwei Jahre (s. Abbildung 2). Abbildung 2: Die Staats- und Regierungschefs auf dem X. Gipfeltreffen der Frankophonie 2004 in Ouagadougou
Photo: OIF 2004 Aber wie kann eine Gemeinschaft von Staaten wie Togo, Griechenland, Haiti, Libanon, Bulgarien, Vietnam und Djibouti erklärt werden? Folgt man der Selbstdarstellung der Organisation Internationale de la Francophonie, so haben die gemeinsame Sprache, die damit geteilten Werte und eine weit zurückreichende gemeinsame Geschichte eine „internationale Gemeinschaft“ (communauté internationale) und einen „geokulturellen Raum“ (espace géoculturel) geschaffen: die Frankophonie. Die Organisation Internationale de la Francophonie und weitere frankophone Organisationen sind danach nichts anderes als die Manifestation bzw. Institutionalisierung dieser Gemeinschaft und ihres weltumspannenden Raumes.
5
diversité culturelle dans l’actuel processus de mondialisation, nous courons le risque de voir fragiliser le dialogue des cultures, l’équilibre d’un monde multipolaire, de même que les valeurs fondamentales de la paix, de la justice et de la démocratie.“ Das Zitat ist einem Korpus der empirischen Fallstudie entnommen (s. Kapitel 5.3). Beobo, Ben Alex (2004): Une ´Maison TV5´ à Boulmiougou – le Viêtnam signale. L’Opinion (Ougadougou) N° 375 vom 27.11.2004. (www.zedcom .bf/actualite/op375/02.htm; Zugriff: 16.11.2006).
17
POLITISCHE RÄUME
Folgt man aber den linguistischen Studien, welche von der Organisation Internationale de la Francophonie selbst veröffentlicht werden, dann ist in zahlreichen Mitgliedsländern der Anteil derer, die Französisch sprechen, verschwindend gering. In weniger als der Hälfte der heutigen Mitgliedstaaten hat die französische Sprache einen offiziellen Status (in 29 von 68 Mitgliedstaaten6, Stand 2006; s. die Beikarten im Anhang 7.2). So einfach, wie die internationale Organisation der Frankophonie die Beziehung zwischen Französischsprachigkeit und Frankophonie zeichnet, scheint die Sache also nicht zu sein. Aber wie kann die Existenz einer solchen „internationalen Gemeinschaft“ und eines solchen „geokulturellen Raumes“ dann erklärt werden? Fragen nach der Gliederung der Menschheit in spezifische Gruppen und der Gliederung der Erde in spezifische Räume gehören seit der Etablierung der Geographie als wissenschaftliche Disziplin zu ihren zentralen Themen. In der traditionellen Geographie im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominierten dabei Ansätze, welche die Aufteilung der Welt auf der Basis von wesenhaften Unterschieden erklärten. So grenzte der Geodeterminismus des 19. Jahrhunderts geographische Einheiten auf der Basis von natürlichen Unterschieden ab. Spätere, kulturgeographische Ansätze suchten die Grundlagen geographischer Einheiten in den als wesenhaft gedachten Charakteristika der Bewohner eines bestimmten Ausschnitts der Erdoberfläche und grenzten auf dieser Basis Kulturräume ab. Solche Ansätze könnten daher die Selbstdarstellung der institutionalisierten Frankophonie akzeptieren und würden die Frankophonie als Gemeinschaft und Raum der Frankophonen denken – als logische Folge deren gemeinsamer Sprache, Geschichte sowie Kultur und damit deren gemeinsamen Wesens. Nun sind allerdings sowohl die Vorstellung, Identitäten und Gemeinschaften auf wesenhafte Charakteristika und damit eine natürliche Ordnung zurückführen zu können, als auch die Vorstellung, dass es eine „wahre“ Gliederung der Welt gibt und die entsprechenden räumlichen Ganzheiten von der Wissenschaft herausgearbeitet werden können, seit vielen Jahren in die Kritik gekommen. Neuere Ansätze betonen, dass sowohl Gemeinschaften als auch Räume immer als hergestellt und nicht als natürlich gegeben konzeptionalisiert werden müssen. Auch in weiten Teilen der wissenschaftlichen Humangeographie haben sich bereits seit einigen Jahren konstruktivistische Paradigmen durchgesetzt. In der deutschsprachigen Humangeographie waren es insbesondere handlungsorientierte Ansätze, welche die Idee verworfen haben, dass die Geographie an der Erforschung vermeintlich gegebener 6
18
Davon 13 mit einem Beobachterstatus.
DIE FRANKOPHONIE – EIN ESPACE GÉOCULTUREL?
Räume ansetzen könne. Handlungstheoretische Ansätze fassen die Handlungen intentionaler Akteure als die Bausteine des Sozialen. Gemeinschaftlichkeit wird damit letztlich in hohem Maße auf die Nutzenabwägung von intentional handelnden Individuen zurückgeführt. Geht man allerdings davon aus, dass Identität Interessen definiert, dann laufen entsprechende Ansätze Gefahr, einen Zirkelschluss zu vollziehen, weil Identität einerseits mit Interessen erklärt werden soll und andererseits aber erst Interessen herstellt. Folgendes Gedankenspiel mag diese Überlegungen veranschaulichen: Ersetzt man in den Zitaten, die dem Kapitel vorangestellt sind, das Wort „Frankophonie“ durch „Germanophonie“, „französische Sprache“ durch „deutsche Sprache“, den französischen Präsidenten durch eine deutsche Bundeskanzlerin, das ägyptische Mitglied des Haut Conseil de la Francophonie bspw. durch einen ungarischen Schriftsteller in einem – fiktiven – „Hohen Rat der Germanophonie“ und den senegalesischen bzw. ägyptischen Generalsekretär der Organisation Internationale de la Francophonie durch bspw. einen Liechtensteiner Generalsekretär einer – wiederum fiktiven – „Internationalen Organisation der Germanophonie“, dann zeigt sich, dass entsprechende Äußerungen für eine deutsche Bundeskanzlerin, einen ungarischen Schriftsteller oder einen Liechtensteiner Generalsekretär unakzeptabel wären. Sie würden einen erheblichen Regelverstoß darstellen. Auch entsprechende Organisationen erscheinen undenkbar. Für den Präsidenten der französischen Republik aber beispielsweise auch für einen ägyptischen Filmemacher im Haut Conseil de la Francophonie sind diese Äußerungen jedoch möglich – sie sind sozusagen regelkonform und die Reproduktion zweier Zitate auf einer Internetseite des französischen Außenministeriums lässt die Vermutung zu, dass entsprechende Äußerungen von Personen in diesen Positionen erwartet werden. Ein Forschungsansatz, der die entsprechenden Äußerungen und letztlich die Konstitution der Frankophonie auf die individuelle Intention spezifischer Akteure zurückführen möchte, würde daher zu kurz greifen. Vor diesem Hintergrund wird die vorliegende Arbeit in der poststrukturalistisch informierten Diskursforschung verortet. Kernidee der Diskursforschung ist es, dass es überindividuelle und situationsübergreifende Regeln und Regelmäßigkeiten (Diskurse) gibt, welche die (Re-)Produktion sozialer Wirklichkeit(en) anleiten. Diese sind zwar den Individuen nicht unmittelbar zugänglich, können aber durch eine entsprechende Methodik erschlossen werden. Konstruktivistisch und dabei insbesondere poststrukturalistisch orientierten Arbeiten wurde verschiedentlich vorgeworfen, dass mit der Verabschiedung der Idee einer absoluten Wirklichkeit und damit einer 19
POLITISCHE RÄUME
universellen Wahrheit das Potenzial der Wissenschaft zur Kritik und damit letztlich die gesellschaftliche Relevanz verloren gingen. Auf der Basis einer grundlegenden Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen Ansätzen, dem postmarxistischen Hegemoniebegriff und dem Foucault’schen Diskursbegriff entwickeln Laclau und Mouffe eine Diskurstheorie, welche die gesamte soziale Wirklichkeit als diskursiv konstituiert fasst, damit als radikal historisch und letztlich immer kontingent. Die soziale Wirklichkeit ist also das Ergebnis erfolgreicher, d. h. hegemonialer Diskurse. Die Diskurstheorie bietet damit der Geographie eine Chance, die Konstitution von Gemeinschaften und Räumen neu zu verstehen und öffnet neue Perspektiven für eine gesellschaftskritische Wissenschaft.
20
2 Kollektive Identitä t und Raum – traditionelle Ansätze, Kritik und Vorsc hlä ge z ur Ne uk onze ption In diesem Kapitel werden zunächst die traditionellen Ansätze zur Konzeption von individueller sowie kollektiver Identität umrissen, die von einer Gegebenheit von Identitäten ausgehen. Anschließend werden die zentralen Elemente der Kritik an den traditionellen Ansätzen skizziert sowie einige wichtige Impulse für eine Neukonzeption dargestellt. Ein Schwerpunkt wird dabei auf die Konzeption von kollektiven Identitäten und die Erklärung von Gemeinschaften am Beispiel der Nationen gelegt. Die Frage nach den Zusammenhängen zwischen kollektiver Identität und Raum war und ist ein zentrales Themenfeld der Geographie. Im zweiten Teil des Kapitels werden zunächst traditionelle Ansätze zur Konzeptionalisierung dieses Zusammenhangs vorgestellt, die ebenfalls von einer gegebenen und gleichsam natürlichen Gliederung der Menschheit in bestimmte Gemeinschaften und des Erdraums in bestimmte Räume ausgingen. Vor dem Hintergrund der Kritik an traditionellen Identitätskonzepten sowie der kritischen Auseinandersetzung mit der Kategorie Raum werden dann die einflussreichsten Neukonzeptionen dargestellt und kritisch diskutiert.
21
POLITISCHE RÄUME
2.1
Von der natürlichen Ordnung zu sozialen Identitäten
Verschiedene Autoren haben herausgestellt, dass das Interesse an Fragen der Identität als eine Reaktion auf die Auflösung traditioneller Ordnungen im Zuge der Modernisierung gesellschaftlicher Beziehungen interpretiert werden kann. Obwohl sich einzelne Ansätze einer Thematisierung von Problemen individueller und kollektiver Identität auch in der philosophischen Diskussion der griechischen Antike und des Mittelalters identifizieren lassen, hatte das Thema in vormodernen Gesellschaften einen geringen Stellenwert: Gemeinschaften und gesellschaftliche Ordnungen wurden überwiegend als natürlich bzw. von Gott gegeben und damit feststehend wahrgenommen und wurden daher i. d. R. nicht problematisiert (Giesen 1999: 11 ff., Stavrakakis 2001, Keupp 2002: 18). Die Aufklärung entzog diesen feststehenden Ordnungen die Grundlage. Die Individualisierung und die Herausbildung kapitalistischer Marktbeziehungen lösten und lösen traditionelle Ordnungen zunehmend auf. Eine sozialwissenschaftliche Diskussion der Identitätsproblematik im engeren Sinne setzte jedoch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein (Wagner 1998, Natter und Wardenga 2003). Mit Assmann und Friese kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Beschäftigung mit der Problemstellung, die im 20. Jahrhundert mit „Identität“ bezeichnet wird, schon früher beginnt, eben mit der Aufklärung. Allerdings wurde diese Diskussion unter anderen Begriffen geführt wie „Wesen“, „Person“, „Charakter“ oder „Volk“ (1998: 12). Die vier Begriffe veranschaulichen bereits ein Charakteristikum der Debatte, welches auch die sozialwissenschaftliche Diskussion der Identitätsproblematik seit dem 20. Jahrhundert prägt: die Unterscheidung zwischen einer individuellen Identität und einer kollektiven Identität. Fragen von individueller und kollektiver Identität waren also in der Neuzeit „zum Thema geworden“, auch wenn das Thema bis ins 20. Jahrhundert nicht mit dem Begriff „Identität“ gefasst wurde. So entwickelte sich seit der frühen Neuzeit zunächst in den gesellschaftlichen Eliten Europas eine Diskussion über die Individualität und Autonomie des Menschen. Mitte des 20. Jahrhunderts wird diese Diskussion in die Sozialwissenschaften eingeführt und der Begriff „Identität“ gebraucht, um das Bewusstsein eines Menschen seiner „eigenen Kontinuität über die Zeit hinweg und die Vorstellung einer gewissen Kohärenz seiner Person“ zu bezeichnen (Wagner 1998). Eine herausragende Rolle spielen dabei die Publikationen des Psychologen und Philosophen Mead (Mead und Morris 1934) sowie die Schriften des Psychoanalytikers Erikson (1963). 22
KOLLEKTIVE IDENTITÄT UND RAUM
George Herbert Mead lehnt die Vorstellung ab, dass den Menschen eine Identität gegeben sei. Er konzipiert Identität vielmehr als Ergebnis der Auseinandersetzung eines Individuums mit seiner gesellschaftlichen Umwelt und wird daher auch als ein Vordenker des Sozialbehaviorismus sowie des Symbolischen Interaktionismus und der Rollentheorie betrachtet (Schmieder 1991). Erikson baut auf den Arbeiten von Mead sowie der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie von Sigmund Freud (s. beispielsweise 1926) auf und fasst die Herausbildung einer individuellen Identität als stufenartige Entwicklung, die in den gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist. Individuelle Identität wird dabei konzipiert als die Vorstellung der „Einheit und Nämlichkeit“ einer Person, welche auf die psychische Integrationsleistung dieser Person zurückzuführen ist (Straub 1998). Ausgehend von den Publikationen Meads und Eriksons wird „Identität“ im 20. Jahrhundert zu einem zentralen Begriff der Sozialwissenschaften. Individuelle Identität wird dabei gedacht als eine gelingende Passung von einem subjektiven Inneren und einem sozialen Äußeren (Keupp 2002).Bestimmend wird die Vorstellung einer Integration von Subjekten in eine spezifische, weitestgehend als stabil gedachte soziale Struktur und die damit verbundene Entstehung bzw. Festigung eines „inneren Kerns“ der Subjekte (ebd.: 30). Daneben wird der Begriff „Identität“ im 20. Jahrhundert in zunehmender Weise auch für die Bezeichnung der Gemeinsamkeiten von sozialen Kollektiven verwendet – als „kollektive Identität“. Mit dem Begriff der „kollektiven Identität“ wird die Vorstellung verbunden, dass Kollektive auf der Basis identitätsschaffender Gemeinsamkeiten entstehen. Die Wortkombination der „kollektiven Identität“ wird zwar erst ab dem 20. Jahrhundert verwendet, allerdings wird bereits seit der Romantik eine intensive Diskussion über Konzepte einer kollektiven Identität geführt (Niethammer 2000). Zunächst in der philosophischen und später auch der politischen Debatte des späten 18. und des 19. Jahrhunderts wurden Vorstellungen spezifischer Kulturen entworfen. Einflussreich waren dabei die Schriften Johann Gottfried Herders (s. die gesammelten Werke 1877-1913), der Ende des 18. Jahrhunderts Völker als klar abgegrenzte, wesenhafte Einheiten gefasst hat (Welsch 1998). Im 19. Jahrhundert wurden insbesondere in der deutschsprachigen Diskussion gemeinsame körperliche und geistige Merkmalen, eine gemeinsamen Sprache und ein gemeinsamer „Volksgeist“ beschworen – insbesondere in Abgrenzung gegenüber Frankreich. Die Überzeugung war also, dass diese Gemeinsamkeiten die Gemeinschaft „deutsches Volk“ schaffen (Koselleck 1992, Wagner 1998, Bär 2000, Gardt 2000). In der sozialwissenschaftlichen Diskussion im 20. Jahrhundert wird dann teilweise eine Unterscheidung zwischen zugeschriebenen d. h. as23
POLITISCHE RÄUME
kriptiven und erworbenen Merkmalen vorgenommen und damit eine Unterscheidung zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften vorgenommen. Danach seien Gemeinschaften, die sich durch die Gemeinsamkeit „natürlicher“ Kennzeichen (wie bspw. Hautfarbe oder Geschlecht) auszeichnen, als traditionell zu unterscheiden von modernen Gemeinschaften, die sich bestimmen durch dauerhaft sozial erworbene (wie eine Sprache oder ein wesenhaft gedachter „Volksgeist“) oder gewählte Gemeinsamkeiten (wie die Zugehörigkeit zu einer politischen Nation im Sinne Ernest Renans (1882 )). Mit der Rezeption poststrukturalistischer Ansätze gerät diese Gegenüberstellung und letztlich die gesamte sozialwissenschaftliche Konzeption von Identität seit den 1970er Jahren jedoch zunehmend in die Kritik (zusammenfassend s. bspw. Hall 1996, Stäheli 2000a): So hinterfragt zunächst Foucault 1973 die Idee eines festen, kontinuierlichen und unverrückbaren „Kerns“ von Individuen. Er stellt dieser Idee das Konzept von Subjektpositionen gegenüber (75 ff.; insb. 82): Subjekte werden in Diskursen hergestellt. Das vermeintlich einheitliche Subjekt löst sich damit „in eine Vielzahl von Subjektpositionen und Subjektivierungspraktiken“ auf. In einer Rezeption von Ansätzen der Psychoanalytiker Freud und insbesondere Lacan (1966) entwickelt Žižek 1989 eine Subjektkonzeption, welche von der grundsätzlichen Unmöglichkeit von Selbstidentität ausgeht. Dem Mangel an Identität werde permanent durch Identifikationsprozesse begegnet – Diskurse böten dabei Angebote zur Identifikation (Stäheli 2000a). Identifikation gehe dabei immer mit der Abgrenzung von einem „konstitutiven Außen“ einher. Da im Poststrukturalismus aber nicht länger von der Existenz permanenter, feststehender Differenzsysteme ausgegangen wird, sondern Differenzen ständig in Bewegung sind, rücken die Grenzziehungen selbst in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. So hinterfragen bspw. Arbeiten von Butler 1991 die Gegenüberstellung von „weiblich“ und „männlich“ und Publikationen von Latour 1995 die Differenzierung zwischen „Natur“ und „Kultur“. Die Frage, ob bestimmte Kennzeichen zu einem Kriterium persönlicher bzw. kollektiver Identität werden, kann damit nicht auf der Basis der Kennzeichen geklärt werden, sondern ist immer eine Frage danach, welche Kennzeichen sozial bedeutsam werden. So ist es beispielsweise zunächst absolut unbestimmt, ob Körpergröße, Hautfarbe oder Muttersprache zu einem persönlich bedeutsamen Kriterium werden. Genauso offen ist die Frage, ob Kollektive bspw. auf der Basis einer gemeinsa-
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men Sprache, Hautfarbe oder dem Glauben an eine gemeinsame Herkunft gebildet werden (Wagner 1998)1. Vor dem Hintergrund dieser Kritik wird in den Diskussionen um eine (post-)feministische Sozialwissenschaft sowie in den postkolonialen Theorien herausgearbeitet, dass die Vorstellung eines stabilen und steuernden Subjekts eine historisch spezifische Vorstellung sei, die in der europäischen Neuzeit und nur mit der (abwertenden) Differenzierung gegenüber dem Anderen möglich wurde – der Natur, dem Wilden, der Tradition, den Frauen (Said 1978, Spivak und Harasym 1990, Butler 1995). Die feministische und postkoloniale Kritik setzt vor diesem Hintergrund zunächst bei einer Betonung und Stärkung unterdrückter Identitäten an – hält damit aber an der Vorstellung stabiler und letztlich primordialer Identitäten fest. In den vergangenen Jahren rückt dann zunehmend die Erkenntnis in den Mittelpunkt, dass ein unauflöslicher und letztlich unvermeidlicher Zusammenhang zwischen jeglichen Identitäten und Differenzierungen besteht (Natter und Jones III 1997, Wagner 1998). Teilweise wird die damit erforderliche Neukonzeption von Identität mit dem Begriff der „politischen Identität“ (Laclau 1994a, Stavrakakis 2001) markiert (ausführlich s. Kapitel 3.2.3.). Die gängige sozialwissenschaftliche Konzeption einer „sozialen Identität“ erkenne danach zwar den gesellschaftlichen Charakter von Identität an. Allerdings würde dabei letztlich vielfach von einer feststehenden gesellschaftlichen Ordnung ausgegangen, welche die Existenz bestimmter Gruppen als gegeben voraussetze (wie bspw. Klassen, Ethnien, Nationen). Das Problem der persönlichen Identität würde dann alleine darin bestehen, die eigene Identität zu erkennen. Sozialwissenschaftliche Forschung in diesem Sinne bestünde darin, die Charakteristika der entsprechenden Identitäten herauszuarbeiten: Entsprechende Untersuchungen versuchten zu zeigen, inwiefern sich „Weiße“ und „Schwarze“, „Ossis“ und „Wessis“, „Frankophone“ und „Anglophone“ unterscheiden. Wenn aber jegliche Identität als radikal historisch und kontingent gedacht wird, dann kann jede Identität verändert werden – ist also letztlich politisch. Damit wandelt sich die Position sozialwissenschaftlichen Arbeitens grundlegend: So kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Kategorien wie „schwarz“ oder „weiß“, „Ossi“ oder „Wessi“ sowie „anglophon“ oder „frankophon“ ein1
Max Weber hat bereits 1922 darauf hingewiesen, dass die Grundlagen für Gemeinschaften kontingent sind: „Fast jede Art von Gemeinsamkeit und Gegensätzlichkeit des Habitus und der Gepflogenheiten kann Anlass zu dem subjektiven Glauben werden, dass zwischen den sich anziehenden oder abstoßenden Gruppen Stammverwandtschaft oder Stammfremdheit bestehe“ (1976).
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POLITISCHE RÄUME
fach existierende Identitäten bezeichnen. Vielmehr werden diese Identitäten erst mit der Bezeichnung produziert und reproduziert. Konsequenz dieser Überlegungen ist die Notwendigkeit einer radikalen EntEssentialisierung von Identitäten (Wagner 1998) und damit eine Neuausrichtung der Forschung. Was bedeutet das für die Analyse von Gemeinschaften? Dies soll im Folgenden kurz am Beispiel der Analyse von Nationen skizziert werden: Eine traditionelle sozialwissenschaftliche Analyse würde die Erklärung für die Existenz einer bestimmten Nation in den Gemeinsamkeiten ihrer Mitglieder suchen, in geteilten Orientierungen und Weltanschauungen. Die Hintergründe dieser gemeinsamen Orientierung würden beispielsweise in einer geteilten Geschichte gesucht und dort auch regelmäßig gefunden. Die geteilte Geschichte würde dann zum Beleg für die Existenz der Nation herangezogen (ebd.: 69 f.). Die neuere Nationalismusforschung in der Nachfolge von Gellner 1983) und Anderson 2005) lehnt hingegen die Vorstellung ab, dass Nationen auf wesenhafte Charakteristika oder eine gemeinsame Geschichte zurückgeführt werden können. Danach geht nicht eine als wesenhaft gedachte Gemeinschaft – wie das Volk im Sinne der deutschen Romantik – der Idee einer Nation voraus, sondern die Idee steht am Anfang: Nationen sind also „vorgestellte Gemeinschaften“. Eine Analyse von Nationen im Sinne der Untersuchung ihrer politischen Identität sucht also nicht nach Gemeinsamkeiten der „Mitglieder“, sondern nach den Differenzierungen gegenüber einem Anderen. Sie sucht nicht nach der Identität der Nation, sondern arbeitet den Prozess der Identitätsbildung heraus, und sie sucht nicht in der Vergangenheit nach den Beweisen für die Existenz der Nation, sondern fragt vielmehr, wie aktuell eine Geschichte des Kollektivs im Sinne von „erfundenen Traditionen“ (Hobsbawm 1983: 14) hergestellt wird und wie dabei Symbole die Gemeinschaft konstituieren – man denke an Flaggen, Hymnen und die Ehrenmäler für „den unbekannten Soldaten“. Fragen nach dem „Wesen“ und dem „gemeinsamen Kern“ von Gemeinschaften müssen daher reformuliert werden. Vor dem Hintergrund der skizzierten Kritik erscheint es heuristisch sinnvoller zu untersuchen, wie Vorstellungen von Gemeinschaftlichkeit hergestellt werden. Fazit: Erst als in der Neuzeit Vorstellungen von natürlichen, von Gott gegebenen Ordnungen zunehmend hinterfragt wurden, werden individuelle und kollektive Identität(en) zu einem Problem. Im 20. Jahrhundert werden dann Konzepte von individueller und kollektiver Identität, die von Stabilität und eindeutiger Bestimmbarkeit ausgehen, zu zentralen Elementen von Gesellschaftstheorien. Neuere Ansätze gehen allerdings davon aus, dass die Vorstellung einer individuell gegebenen 26
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bzw. sich kohärent und kontinuierlich festigenden Identität nicht auf eine universelle Natur des Menschen zurückgeführt werden kann. Vielmehr wird diese Vorstellung als historisch spezifische Voraussetzung für das Selbstbild des modernen Menschen gefasst. Analog können Kollektive nicht auf wesenhafte, quasi natürliche Gemeinsamkeiten zurückgeführt werden, sondern werden erst im Zuge von Identifizierungsprozessen hergestellt. Vor diesem Hintergrund kann die Untersuchung von kollektiver Identität nicht darauf ausgerichtet werden, das Wesen oder den „wahren Kern“ einer Gemeinschaft herauszuarbeiten. Vielmehr muss die permanente Konstitution von kollektiven Identitäten ins Blickfeld genommen werden.
2.2
Von Räumen als Ganzheiten zu Räumen als soziale Konstrukte
2.2.1 Räume als Ganzheiten Seit den Anfängen der wissenschaftlichen Geographie im 19. Jahrhundert gehören Fragen nach den Zusammenhängen zwischen der Gliederung der Menschheit in spezifische Gruppen und der Gliederung der Erdoberfläche in spezifische Räume zu den zentralen Fragen, welche Forschungsobjekte bzw. Perspektiven des Faches konstituieren. Ausgangspunkt geographischer Überlegungen war die Gliederung der Erde in abgrenzbare Teilräume. Nachdem dabei zunächst geodeterministische Vorstellungen dominierten, welche die Erde auf der Grundlage natürlicher Unterschiede gliederten, treten im 20. Jahrhundert Ideen einer kulturräumlichen Gliederung hinzu. So legt Banse 1912 in Petermanns Geographischen Mitteilungen eine „geographische Gliederung der Erdoberfläche“ vor, die spätere Kulturraumkonzepte vorzeichnet (s. Abbildung 3).2 Banse unterscheidet „Erdteile“ nach „Milieus“ und wendet sich damit gegen die bis dorthin vorherrschende Gliederung nach Landmassen bzw. Kontinenten (1912: 1). Er berücksichtigt „nicht nur die greif- und sichtbaren Eigen- und Besonderheiten einer Erdhüllenpartie, sondern daneben und mit ihnen innig verbunden die geistigen und fühlbaren 2
Banse nimmt in der Geographiegeschichte eine „schillernde Stellung“ (Böge 1997: 49) ein. In den 1930er Jahren zeigte er sich durch mehrere „wehrgeographische“ Publikationen als überzeugter Nationalsozialist. Es gelang ihm nie endgültig, sich in der institutionalisierten Geographie zu etablieren. Dennoch waren viele seiner Denkansätze einflussreich – insbesondere seine Konzeption des Orients.
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Charakteristika“ (ebd.). Banse steht damit in der langen Tradition geographischen Denkens, das auf die Identifizierung von räumlichen „Ganzheiten“ zielt. Wie Stöber 2001 herausarbeitet, ist die Verknüpfung von Kultur und Raum zu Kulturräumen aber keine „Erfindung“ der Geographie, sondern ist eingebettet in einen breiten bildungsbürgerlichen Diskurs, der im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch in anderen Disziplinen seinen Niederschlag fand – beispielsweise in „Völkerkunde“ und Geschichte. Kultur wird dabei in Anlehnung an das Kulturkonzept Herders als Entität gedacht, Menschen sind Elemente einer Kultur (s. Kapitel 2.1). Abbildung 3: Kulturräume der Erde nach Banse 1912
Quelle: Banse 1912 Eine jeweils spezifische Natur und eine Kultur gehen eine spezifische Verbindung ein und schaffen auf diese Weise unterschiedliche „Ganzheiten“, die als „Landschaften“ oder „Kulturräume“ identifiziert und benannt werden können. Vor dem Hintergrund der Erschließung der Erde durch die europäischen Kolonialmächte stießen Entwürfe einer weltumspannenden Gliederung mit solchen ganzheitlichen Räumen, wie sie beispielsweise Banse vorgelegt hat, auf großes Interesse. Wie verschiedene Autoren gezeigt haben (ausführlich Böge 1997, zusammenfassend Ehlers 1996, Popp 2003), wurde die Idee der Kulturräume in der deutschsprachigen Geographie von Hettner 1923, Schmitthenner 1938
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und Kolb 1962 weiter verfolgt und erlebt in jüngster Zeit – seit Mitte der 1990er Jahre – gar eine Renaissance.3 Gleichzeitig spielt die Geographie im 19. und 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle bei der Konstitution der Vorstellung von Nationen, die mit einem spezifischen Territorium verwurzelt sind. Die Grundlagen dieses Denkens werden bereits Ende des 19. Jahrhunderts von Friedrich Ratzel gelegt (Ratzel 1897, 1899), der Staat und Staatsboden als organische Einheit fasste. Der Staat sei in seinen „Erdraum“ eingewurzelt durch das Volk, das sich diesen durch „Schweiß und Boden“ angeeignet hätte (zit. n. Büchner 1998). Darüber hinaus geht Ratzel in einer sozialdarwinistischen Perspektive davon aus, dass „kulturhohe Völker“ ihren Staatsboden auf Kosten „kulturärmerer Völker“ erweitern. Die Vorstellung einer Verbindung von Volk bzw. Nation und Boden wurde und wird vielfach in der politischen Kommunikation zur Legimitation territorialer Ansprüche herangezogen. So liefern Geographen im Kontext des Revanchismus der 1920er Jahre und des Nationalsozialismus eine wissenschaftliche Legitimation für revanchistische und expansionistische Politiken (s. Abbildung 4, die Karte von Albrecht Penck 1925 verzeichnet zahlreiche Gebiete außerhalb des Deutschen Reichs als „deutschen Volks- oder Kulturboden“ und liefert damit eine Legimitation für revanchistische und expansionistische Politiken der 1920er und 1930er Jahre).
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Mit der voranschreitenden Industrialisierung und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Modernisierungen war die Kategorie Kultur im 20. Jahrhundert zunächst vielfach durch sozialwissenschaftliche Kategorien wie Klasse, Schicht oder andere sozioökonomische Klassifizierungen verdrängt worden. Damit einher ging eine neue Gliederung der Welt. „Weltregionen“ wurden jetzt nach dem Grad ihrer Modernisierung als Industrie- und Entwicklungsländer bzw. nach ihrem sozio-politischen System als die „freie Welt“ oder als die „sozialistische“ bzw. „kommunistische“ Welt/Einflusssphäre differenziert. Zusammen gedacht wurden diese beiden Schemata im Dreiweltenmodell von Erster, Zweiter und Dritter Welt. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die Zweiteilung in eine „freie“ und in eine „sozialistische“ Welt obsolet. Im Schema der Ersten, Zweiten und Dritten Welt entfiel die Zweite Welt. Vor diesem historischen Hintergrund entfaltete sich seit Anfang der 1990er Jahre ein Diskurs, der das Bild eines „globalen Dorfes“ (global village, McLuhan und Powers 1995) zeichnete. Nur wenige Jahre später kommt es seit Mitte der 1990er Jahren zur (erneuten) Verbreitung von Schemata, welche die Welt als kulturell fragmentiert fassen. Rasch popularisiert wurde insbesondere das Schlagwort eines clash of civilizations (dt. „Kampf der Kulturen“) des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel Huntington 1996. In diesem Kontext findet das Konzept von Kulturräumen als didaktisches Modell in neuen Schulbüchern (wieder) Verwendung (vgl. bspw. Newig 1995, kritisch dazu Reuber und Wolkersdorfer 2002, Wolkersdorfer 2006).
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Abbildung 4: Geographische Legitimation für revanchistische und expansionistische Politiken: „Deutscher Volks- und Kulturboden“ nach Penck 1925
Quelle: Penck 1925 Nach dem Zweiten Weltkrieg werden die geopolitischen Ansätze vielfach als Arbeiten einiger „fehlgeleiteter“ Geographen beurteilt (so bspw. Troll 1947). In der Geographie – insbesondere im deutschsprachigen Raum – wird die Aufarbeitung dieser Ansätze und die Beschäftigung mit dem Politischen lange Zeit tabuisiert (Kost 1997, Wolkersdorfer 2001).4 In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg avanciert die Landschaftsgeographie zum weithin dominierenden Forschungsparadigma der deutschsprachigen Geographie. Bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts 4
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Dies bedeutet aber nicht, dass die Tradition geopolitischer Denkansätze 1945 abgebrochen wäre. Vielmehr finden sich im Kontext der so genannten orthodoxen international relations, in Sicherheits- und Militärstudien zahlreiche Arbeiten, welche politische Strategien und Handlungen aus den vermeintlichen Gesetzen der Geographie ableiten wollen – also geopolitisch argumentieren (Mamadouh und Dijkink 2006). Seit Ende der 1980er Jahre entwickelt sich innerhalb der wissenschaftlichen Geographie ein Ansatz, der auf eine kritische Analyse dieser Arbeiten zielt und untersucht, welche Rolle die Herstellung von Geographien im Politischen spielt: die critical geopolitics (s. Kapitel 2.2.3)
KOLLEKTIVE IDENTITÄT UND RAUM
wird der Begriff der „Landschaft“ zu einem „Zentralbegriff“ des Faches. Das Konzept der Landschaftsgeographie sieht vor, Landschaften als spezifische individuelle Ganzheiten zu identifizieren und so die Erdoberfläche zu gliedern.5 Für den Erfolg des Landschaftskonzepts lassen sich mehrere Gründe identifizieren: Erstens entsprach die Vorstellung einer Kammerung der Welt dem Interesse der Schulgeographie an überschaubaren Unterrichtseinheiten. Zweitens führte die Tradition der Forschung durch Anschauung sowie der kartographischen und photographischen Darstellung dazu, dass mit dem Bild die Existenz räumlicher Ganzheiten evident wurde. Drittens ermöglichte die Vorstellung einer in Räume gekammerten Welt eine Organisation der vielfältigen Informationen, welche die sich rasch entwickelnden Spezialdisziplinen lieferten und damit auch eine Legitimation für das „integrierende Brückenfach“ Geographie (Bartels 1968, Hard 1969, 1970, Wardenga 2006). Und viertens ermöglichte das Landschaftsparadigma der deutschsprachigen Geographie, sich nach 1945 als apolitisches Brückenfach zu positionieren. Für den internationalen und interdisziplinären Austausch führte dieser Weg aber in eine Sackgasse (Anreiter und Weichhart 1998). Konsequenz dieser Isolation ist, dass das Landschaftsparadigma in der deutschsprachigen Geographie erst in den 1970er Jahren überwunden wurde. In der Geschichtsschreibung des Faches wird der Umbruch vielfach am Geographentag 1969 in Kiel festgemacht. Dort fand erstmals eine öffentliche und vehemente Diskussion des Landschaftsparadigmas statt. In den folgenden Jahren gerät das Konzept der räumlichen Ganzheiten zunehmend in die Defensive. Die deutschsprachige Geographie rezipiert aus der englischsprachigen Geographie die quantitativ orientierten Ansätze einer Geographie als nomothetischer Raumwissenschaft und tritt in den Austausch mit den Sozialwissenschaften (ebd.). Zumindest in Teilen kann sich damit auch ein neues Verständnis von Raum etablieren. Konsequent zu Ende gedacht, führt ein raumwissenschaftlicher Ansatz dazu, dass die von Geographen abgegrenzten Räume „methodisch kontrollierte gedankliche Konstrukte von Wissenschaft darstellen“(Wardenga 2006). Vielfach werden allerdings in einer vermittelnden Position zwar die Methoden der empirischen Sozialforschung aufgegriffen, andererseits jedoch an der Vorstellung von räumlichen Ganzheiten festgehalten. So werden vielfach Zählbezirke, die bspw. ähnliche sozio-demographische oder wirtschaftsstrukturelle Werte aufweisen, zu Räumen zusammengefasst und diese Räume hypostasiert –
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Teilweise wurde auch von „Räumen“ gesprochen, diesen aber ebenso wie den „Landschaften“ ein Status von Ganzheiten oder wie es Otremba formuliert „Persönlichkeiten“ (1961: 131) zugesprochen.
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d. h. als real existierende, wesenhafte Entitäten angesprochen. Dennoch ist mit dem Paradigmenwechsel zum raumwissenschaftlichen Ansatz die unhinterfragte Vorstellung real existierender räumlicher Ganzheiten erstmals aufgebrochen worden. Ein weiterer für die Konzeption von Raum wichtiger Impuls ging von der Wahrnehmungsgeographie aus. Zwar wird die Existenz einer Wirklichkeit und von real existierenden, physischen Räumen dabei nicht grundsätzlich hinterfragt. Allerdings „unterhöhlt“ die Idee, dass Individuen und Gruppen diese Wirklichkeit unterschiedlich wahrnehmen, die Vorstellung einer einzigen Wirklichkeit: Aus „dem“ Raum werden die Räume unterschiedlicher Individuen und Gruppen (Wardenga 2006). Mit der Intensivierung der Rezeption von Ansätzen der englischsprachigen Geographie sowie von Ansätzen der benachbarten Sozialwissenschaften treten seit den 1970er Jahren in immer rascherer Folge neue Paradigmen in der Humangeographie auf, so dass man heutzutage von einer ausgeprägten Paradigmenvielfalt innerhalb der Geographie sprechen kann (Anreiter und Weichhart 1998). Wie in den nächsten beiden Kapiteln dargestellt wird, ist eine Gemeinsamkeit dieser Paradigmen, dass sie Räume nicht als quasi natürlich gegeben, sondern als konstruiert konzeptionalisieren. Fazit: Die traditionelle Geographie bis in die 1960er Jahre zielte auf die Identifizierung und Benennung von Räumen, die als gegebene, wesenhafte Ganzheiten gedacht wurden. Nachdem dabei zunächst geodeterministische Vorstellungen dominiert hatten, treten im 20. Jahrhundert Ideen einer kulturräumlichen Gliederung hinzu, welche Menschen als Teilelemente einer als wesenhaft gedachten Kultur begreifen und die so verstandenen Kulturen räumlich voneinander abgrenzt. Aufgebrochen wird dieses Paradigma mit der Hinwendung zu raumwissenschaftlichen Ansätzen, welche – zumindest idealtypischerweise – Räume als wissenschaftliche Konstrukte fassen sowie der Wahrnehmungsgeographie, welche die unterschiedlichen räumlichen Vorstellungen unterschiedlicher Gruppen und Individuen herausarbeiten will. Allerdings hält die Wahrnehmungsgeographie dabei an der Gegebenheit eines objektiven Raumes fest und ist aufgrund der vorherrschenden behavioristischen Mikroorientierung kaum in der Lage, gesellschaftliche Strukturen zu fassen. Auch raumwissenschaftlich orientierte Arbeiten halten vielfach an der Idee einer quasi natürlich gegebenen räumlichen Gliederung fest, d. h. sie verdinglichen die Räume, die sie selbst auf der Basis der quantitativen Sozialforschung konstruiert haben. 32
KOLLEKTIVE IDENTITÄT UND RAUM
2.2.2 Räume als Konstrukt I: das handlungstheoretische Konzept der „alltäglichen Regionalisierungen“ und das systemtheoretische Konzept der „Raumsemantiken“ Für die deutschsprachige Humangeographie werden ab der Mitte der 1980er Jahre zwei Theorieentwürfe bedeutsam, welche nicht länger davon ausgehen, dass es einfach einen realen Raum gibt – die eine ontische Wirklichkeit. Sie verschieben den Analysefokus auf die Frage, wie „raumbezogene Begriffe als Elemente von Handlungen und Kommunikation auftreten und welche Funktionen raumbezogene Sprache in der modernen Gesellschaft erfüllt“ (Wardenga 2006): die systemtheoretische Konzeption von „Raumabstraktionen“ durch Helmut Klüter (1986, 1994, 1999) sowie das von Benno Werlen im Kontext von handlungsund strukturationstheoretischen Bezügen entwickelte Konzept der alltäglichen Regionalisierungen (1987, 1995, 1997). Werlen geht von dem Drei-Welten-Modell von Karl Popper (1978) aus. Danach lassen sich ein physisch-materieller, ein psychischer und ein sozialer Wirklichkeitsbereich unterscheiden. Kernpunkt der von Werlen geforderten Abkehr von einer raumzentrierten Sozialgeographie ist, dass ausschließlich Objekte der physisch-materiellen Welt lokalisierund kartierbar sind, nicht aber mentale und soziale Gegebenheiten. Eine Sozialgeographie könne daher nicht „raumzentriert“ von der Lokalisierung physisch-materieller Objekte ausgehen und anschließend auf die soziale Welt schließen. Vielmehr müssten Objekte der physisch-materiellen Welt als Folge, Bedingung und Voraussetzung von Handlungen konzeptionalisiert werden. „Raum“ fasst Werlen dabei als „begriffliche Konzeptualisierung der physisch-materiellen Wirklichkeit“ auf (2004: 327). Wie kein anderer wissenschaftlicher Beitrag in den letzten zwei Jahrzehnten haben die Publikationen Werlens die theorieorientierte (und -informierte) Debatte in der deutschsprachigen Humangeographie angeregt und damit Wege für Neukonzeptionen der Humangeographie eröffnet. Dabei hat Werlen sich auch mehrfach mit dem Verhältnis von kollektiver Identität und Raum auseinandergesetzt: Er weist Vorstellungen zurück, Regionalbewusstsein kartographisch festhalten zu können, wie es eine Forschungskonzeption von Blotevogel, Heinritz und Popp 1987 vorsieht (Werlen 1992, 1993b). Vielmehr müsse die Sozialgeographie darauf ausgerichtet werden, Fragen nach der Konstitution von Regionen zu untersuchen. Werlen entwickelt ein Konzept der „Geographien symbolischer Aneignung“ (1997) mit dem er die Grundlagen dafür legen möchte, die „Zu33
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sammenhänge zwischen symbolischer Aneignung und ideologischen Diskursen abzuklären“ (ebd.: 401). Am Beispiel des Brandenburger Tores in Berlin veranschaulicht Werlen, dass die symbolische Bedeutung nicht eine Eigenschaft des materiellen Artefaktes ist, sondern vielmehr „eine Eigenschaft der Praktiken, die ihm diese Eigenschaft zuweisen…“ (ebd.: 402). Bedeutungen sind den Dingen also nicht immanent und gegeben. Werlen schließt dabei an eine Grundaussage des (Post-) Strukturalismus an: „Zeichen bestehen als Elemente der Bedeutungskonstitution, nicht aber als Bedeutungen“ (ebd.). Im Rahmen seiner handlungstheoretischen Konzeption bindet er die Konstitution von Bedeutung aber nicht an diskursive Fixierungen, sondern an „die Einbettung in den Strom der Alltagsaktivitäten“ (ebd.: 403). Die „signifikativen Regionalisierungen“ konzipiert Werlen nicht nur als „Ausdruck der sozialen Wirklichkeit, sondern [auch als] zentrale[n] Bestandteil von deren sinnhaften Konstitution“ (ebd.: 409; Hervorhebung GG) und nimmt damit auch die konstitutive Rolle von Regionalisierungen ins Blickfeld. Das entsprechende Forschungsprogramm bringt er wie folgt auf den Punkt: „Aufgrund welcher allokativen und autoritativen Ressourcen spielen welche signifikativen Regionalisierungen welche Rolle bei der Produktion und Reproduktion gesellschaftlicher Wirklichkeit?“ (ebd.: 411). Werlen unterscheidet damit gesellschaftliche Strukturen auf der einen Seite (diese geben dann die allokative und autoritative Ressourcenverteilung vor und sind am Ende das Ergebnis – die „gesellschaftliche Wirklichkeit“) und den signifikativen Regionalisierungen auf der anderen Seite. Dementsprechend übernimmt er den Ideologiebegriff von Anthony Giddens, für den Ideologie resultiert aus den „Asymmetrien von Herrschaft, die Signifikation mit der Legitimation von partikulären Interessen verbinden“ (1988: 86 zit. n.Werlen 1997) und damit dem marxistischen Ideologiebegriff nahe steht, welcher eine bestimmte Ideologie letztlich aus einer prädiskursiv gegebenen sozioökonomischen Struktur ableitet. An verschiedenen Stellen fordert Werlen dazu auf, Regionalisierungen mit den Mitteln der Diskursanalyse zu untersuchen. Leider versäumt er es aber, seinen Diskursbegriff zu spezifizieren, was angesichts der sehr unterschiedlichen Verwendung des Diskursbegriffs in den Sozialwissenschaften (dazu bspw. Klemm und Glasze 2004, Angermüller 2005) überrascht. Insgesamt fasst Werlen die soziale Realität als das Produkt von Deutungs- und Aushandlungsprozessen. „Informations- und Sozialisationsprozesse“ stellen danach sicher, dass ein kollektiver Vorrat geteilter „Deutungsschemata [...] als Set semantischer Regeln“ entsteht. Die Wissenschaft kann diese Deutungsschemata verstehend nachvollziehen (Werlen 1997). Das Potenzial der Konzeption von Werlen zeigt 34
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beispielsweise ein Forschungsprojekt zur „Schaffung von Mitteldeutschland“, das in einer handlungstheoretischen Perspektive untersucht, wie seit der Wende eine Region „Mitteldeutschland“ zum einen zielgerichtet in den Medien geschaffen wurde und zum anderen welche alltagsweltliche Bedeutung diese Regionalisierung hat (Felgenhauer, Mihm und Schlottmann 2005). Die Konzeption Werlens ähnelt den Ansätzen einer „Wissenssoziologischen Diskursanalyse“ wie sie insbesondere von Keller (2001, 2005) entworfen wird. In beiden Ansätzen werden die Handlungen von Subjekten als Gegenpol zu den Strukturen gefasst. Diskurs ist danach ein intersubjektiv (ggf. auch unbewusst) geteilter Konsens, der hermeneutisch interpretierend erschlossen werden kann.6 Aus der Perspektive der Fragestellung der vorliegenden Arbeit erscheinen allerdings v. a. drei Punkte an der Konzeption von Werlen problematisch:7 1. Die Fundierung der Theorie in dem Drei-Welten-Modell Poppers bringt mit sich, dass der physisch-materielle Raum in Werlens Theoriegebäude einen sehr prominenten Platz erhält. Dies führt dazu, dass Werlen neben dem Konzept vom Raum als „Begriff“ auch von „der physisch-materiellen Komponente der Handlungskontexte in ihrer Räumlichkeit“ (1993a) spricht und damit vom physisch-materiellen Raum. Dieser physisch-materielle Raum kann aber nach der handlungsorientierten Konzeption Werlens niemals unmittelbar zum 6
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Das Scheitern von Bedeutung, d. h. die permanenten Uneindeutigkeiten und damit die grundlegende Dynamik von Diskursen, welche poststrukturalistische Ansätze betonen, kommen bei diesen Ansätzen allerdings kaum ins Blickfeld (zur Kritik an einer Kombination diskurstheoretischer Ansätze, welche das Subjekt „dezentrieren“ und wissenssoziologischer bzw. handlungstheoretischer Ansätze, die von einem verstehenden und handelnden Subjekt ausgehen, s. auch Angermüller 2005). Die Kritik an den Arbeiten Werlens macht sich vielfach an der von ihm vorgenommenen Parallelsetzung der theoretischen und einer sozialen Ebene fest. So erscheint die Dichotomisierung zwischen traditionellen und (spät)modernen Gesellschaften sowie zwischen traditioneller Geographie und (spät)modernen handlungsorientierter (Sozial-)Geographie in hohem Maße verkürzend und homogenisierend. Zudem entwickelte sich auch die traditionelle Geographie in der Moderne und kann daher zumindest teilweise als Verwissenschaftlichung anti-modernistischer Diskurse interpretiert werden und nicht im Sinne Werlens als die – damals – zeitgemäße Perspektive auf vermeintlich „traditionelle Gesellschaften“. So ist hier sicherlich Sahr zuzustimmen (1999), der die Argumentation Werlens als Erfindung einer Tradition im Sinne Hobsbawms interpretiert, die in erster Linie dazu diene, in der innerfachlichen Auseinandersetzung der eigenen Position Autorität zu verleihen. Für das theoretische Argument Werlens ist diese Dichtomisierung unnötig und wird hier auch nicht weiter diskutiert.
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Handlungskontext gezählt werden, sondern immer nur als gedeuteter Raum (so auch Hard 1998). Die prominente Stellung des physischen Raums macht das Konzept daher zwar oberflächlich anschlussfähig an ältere geographische Konzepte, ist aber widersprüchlich. Die enge Verbindung von physisch-materiellem Raum einerseits und Raum als Begriff andererseits gelingt Werlen nur, indem er in seinem Konzept Raum an die „Erfahrung der eigenen Körperlichkeit, deren Verhältnis zu den übrigen ausgedehnten Gegebenheiten (inklusive der Körperlichkeit anderer Handelnder) und deren Bedeutung für die eigenen Handlungsmöglichkeiten und -unmöglichkeiten“ knüpft (2004). An anderen Stellen hebt Werlen die Bedeutung der Kopräsenz für die Konstitution der „regionalen Differenzierungen der Manifestierung sozial-kultureller Welten“ hervor (1992). Es erscheint aber zumindest fraglich, ob beispielsweise zur Analyse regionalistischer bzw. insgesamt geopolitischer Diskurse, die Werlen mehrfach als wichtiges Themenfeld der (Human-) Geographie einfordert (1992, 1993b, 1997, 2004), der Rückgriff auf einen Raumbegriff ausreicht, der an der Körperlichkeit von Subjekten und an Kopräsenz ansetzt. Auch die Rede von der „Bedeutungszuweisung zu räumlichen Kontexten“ läuft Gefahr, eine Dichotomie zwischen einem prädiskursiv gegebenen Raum und der ihm zugewiesenen Bedeutung herzustellen.8 2. Der Subjektbegriff Werlens erscheint – mit den Worten von Gerhard Hard – „opak und kompakt“ (1998). Werlen überwindet zwar die Vorstellung von Räumen als Ganzheiten, führt aber gleichzeitig eine Konzeption von Subjekten als Ganzheiten ein (ebd.). Das Subjekt wird damit zur gegebenen black box seines Ansatzes. Die Frage nach der Konstitution von Subjekten, die bspw. in der poststrukturalistischen Debatte (s. Kapitel 2.1 und 3.2.3) und im NeoInstitutionalismus (Hasse und Krücken 2005) intensiv geführt wird, bleibt in der Konzeption Werlens weitgehend außerhalb des Blickfeldes. Damit können Fragen danach, warum bestimmte Subjekte bestimmte Intentionen bzw. Strategien verfolgen, kaum beantwortet
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Im Rahmen der Operationalisierung des Konzepts argumentieren Schlottmann, Mihm, Felgenhauer, et al. 2007 ähnlich, wenn sie schreiben, dass ihre Untersuchung der Herstellung von Mitteldeutschland konsequent nicht auf den „betreffenden Raumausschnitt selbst“ (304) sondern seine Bedeutung abgehoben wird. Der „betreffende Raumausschnitt“ scheint also prädiskursiv gegeben zu sein und wird „nur noch“ mit Bedeutung aufgeladen. Wenn aber von einer auch konstitutiven Rolle der „signifikanten Regionalisierung“ (303) ausgegangen wird, dann müsste konsequent auf die Herstellung von Räumen fokussiert werden.
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werden. Gesellschaftliche Entwicklung wird auf die letztlich unbestimmbaren „Intentionen“ von Individuen zurückgeführt. 3. Werlen spricht zwar davon, dass Regionalisierungen ein Bestandteil der Konstitution der sozialen Wirklichkeit sind. Konsequent zu Ende gedacht, müsste die Folgerung dieser Überlegung sein, dass immer neue Regionalisierungen möglich sind und damit neue soziale Wirklichkeiten. Regionalisierungen wären dann das temporäre Ergebnis der (immer wieder scheiternden) Fixierung von Bedeutungen. Diese Radikalität entwickelt der Ansatz von Werlen allerdings nicht. Er scheint vielmehr zwischen einer sozialstrukturellen Ebene, die dann mit Begriffen wie „Ressourcen“ gefasst wird und einer Ebene der Diskurse zu unterscheiden. Die Diskurstheorie scheint hier insofern radikaler aber auch konsequenter zu sein, indem sie die gesamte soziale Wirklichkeit als diskursiv konstituiert fasst. Fast zeitgleich mit Benno Werlen hat Helmut Klüter eine theoretische Neuorientierung der Sozialgeographie entwickelt (1986, 1987, 1994, 1999), die er aus der Rezeption der Systemtheorie nach Niklas Luhmann entwickelt. Niklas Luhmann hat seit den 1980er Jahren eine Systemtheorie als umfassende Gesellschaftstheorie entworfen, die auf kybernetischen und evolutionsbiologischen Paradigmen aufbaut. Luhmann geht dabei davon aus, dass sich die Gesellschaft von einer stratifizierten in eine funktional differenzierte entwickelt hat. Als kleinste Einheit von Gesellschaft fasst Luhmann dabei nicht Subjekte, sondern Kommunikation. Hier setzen die Überlegungen von Helmut Klüter an: Er möchte herausarbeiten, welche Funktion Raum als „Element sozialer Kommunikation“ hat (1987). Als „Raumabstraktionen“ bezeichnet Klüter dabei die „gezielte Projektion sozialer Systeme oder Systemelemente auf physische Umwelt“ (1999). Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, dass fast alles räumlich dargestellt werden kann, dass aber nur weniges tatsächlich räumlich dargestellt wird: „Physische Erdoberfläche mag mit ‚allen’ [Themen] angefüllt sein, der in sozialen Handlungskontexten relevante, ‚vertextete’ Raum ist es jedenfalls nicht“ (1987). Konsequenter als Werlen fokussiert Klüter also auf den Raum als „Element der Kommunikation“ und „Spezialfall von Text“ (ebd.: 88), der als solcher auch „kodier- bzw. dekodierbar“ sei (1999). Die Raumabstraktionen werden nach Klüter strategisch von Organisationen entworfen, die damit gesellschaftliche Steuerung ausüben. Gelesen werden die Raumabstraktionen hingegen eher beiläufig. Räumliche Orientierung verbinde daher effektiv Fremd- und Selbststeuerung (1987). Klüter erwartet, dass „in einer immer komplizierter werdenden Gesellschaft der Bedarf an vereinfachenden, aber dennoch überzeugenden informativen Stimuli ohne direkten 37
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Zwang wächst“ und daher „der besonderen Textform Raum eine glorreiche Zukunft [bevorsteht]“ (ebd.: 97). Die Konzeption Klüters wurde zunächst nicht in derselben Breite diskutiert, wie die Konzeption Werlens. Es war insbesondere Gerhard Hard (1986, 1999), der die Arbeiten Klüters aufgriff. Während Klüter neben einer theoretisch-konzeptionellen Weiterentwicklung der Sozialgeographie v. a. eine Anwendungsorientierung anstrebt und die Sozialgeographie darauf ausrichten möchte, „Raumabstraktionen zu verbessern“ um damit Gesellschaft besser steuern zu können, zielt Hard in erster Linie auf eine Irritation und Neuausrichtung der Raumkonzepte der wissenschaftlichen Geographie. In höherem Maße als Klüter schließt er an neuere Entwicklungen der Systemtheorie sowie an Konzepte aus den Sprachwissenschaften an. Anstelle von „Raumabstraktionen“ spricht Hard daher auch von „Raumsemantiken“ und unterstreicht damit die operative Geschlossenheit sozialer Systeme: Raumsemantiken existieren nur in der Kommunikation und weisen keine Kopplung zu Materiellem auf (dazu auch: Redepenning 2006). Nach Hard soll die wissenschaftliche Geographie als Beobachter zweiter Ordnung (s. u.) die Raumsemantiken erster Ordnung, die innerhalb oder außerhalb der Wissenschaft entworfen wurden und werden, kritisch ausleuchten. Neuere Publikationen rezipieren Weiterentwicklungen der Luhmann’schen Systemtheorie umfassend und setzen sich vor diesem Hintergrund in einigen Punkten von dem Klüterschen Konzept der Raumabstraktionen ab (bspw. Miggelbrink und Redepenning 2004, Redepenning 2006). So kritisiert Redepenning, dass Klüter neuere und entscheidende Entwicklungen der Luhmann’schen Systemtheorie nicht berücksichtigt (2006): Klüters Vorstellung, „Raumabstraktionen erzeugen Effekte räumlicher Orientierung“ würde zudem implizit wieder einen physischmateriellen Raum einführen, denn Klüter spreche von einer Orientierung im Raum. Offen bliebe zudem, wer sich hier orientieren soll. Redepenning vermutet, dass Klüter damit quasi durch die Hintertür wieder einen physisch-materiellen Raum und Subjekte einführt. Diese Kopplung an einen physisch-materiellen Raum findet sich auch noch in einer neueren Publikation von Klüter 1999, wo er die Grundstücksgrenze eines Unternehmens als Symbol für die Gültigkeitsgrenze des „Programms“ der Organisation „Unternehmen“ definiert: „Wenn er [der Arbeiter] sie [die Grundstücksgrenze] morgens von zu Hause kommend überschreitet, übernimmt der freie Staatsbürger die Rolle des disziplinierten, gehorsamen Arbeiters. Verlässt er das Grundstück abends wieder, ist er frei“ (193). Mit einer solchen Engführung von Raum als Begriff und physisch-materiellem Raum bleibt dann im Beispiel Klüters völlig offen, warum auch Heimarbeit, Vertretungstätigkeiten außerhalb des Firmen38
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geländes oder viele anderen wirtschaftliche Tätigkeiten „funktionieren“ können. Redepenning plädiert hingegen „orthodox an Luhmann orientiert“ (2006) dafür, Raumsemantiken als eine bestimmte Form der Beobachtung „autopoietischer (also operativ geschlossener) sozialer Systeme“ zu konzeptionalisieren. Er kommt dabei letztlich zu einer Konzeption, die in einigen Punkten Parallelen aufweist mit der diskurstheoretischen Konzeption von Raum als temporärer Bedeutungsfixierung und als politischem Konzept (s. Kapitel 3.2.4). Seine Überlegungen sollen daher hier mit einigen der notwendigen Kürze geschuldeten Vereinfachungen dargestellt und kritisch bewertet werden: Redepenning geht von dem systemtheoretischen „Theorem der operativen Geschlossenheit“ aus, wonach Systeme sich selbst reproduzierende und damit autopoietische Zusammenhänge sind (Redepenning 2006). Luhmann unterscheidet dabei lebende Systeme, psychische Systeme und soziale Systeme. Gegenstand seiner Gesellschaftstheorie sind die sozialen Systeme. Diese Systeme beruhen auf Kommunikation und nichts anderem. Die Systemtheorie bricht so – ähnlich wie die Diskurstheorie – mit der Vorstellung, dass Gesellschaft auf der Interaktion von Individuen beruht. Ein In- oder Output aus dem System ist nicht möglich, es ist operativ geschlossen. Die Umwelt wird vom System als „Störung“ konzipiert. Da aber die Komplexität der Umwelt jene des Systems bei weitem übersteigt, kann das System nur ganz bestimmte Irritationen aus der Umwelt verarbeiten. Ein unmittelbarer Kontakt mit der Umwelt des Systems ist unmöglich, wohl aber die Beobachtung der Umwelt. Beobachtung wird dabei als Akt des Unterscheidens und Bezeichnens gefasst, wobei zwischen Beobachtungen erster und zweiter Ordnung unterschieden wird. Die Beobachtung erster Ordnung operiert mit dem was der Beobachtung und damit im „Dingschema“. Die Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet die Beobachtung erster Ordnung und interessiert sich für die getroffene Unterscheidung, für das wie der Beobachtung. Wissenschaft sei danach von der Beobachtung erster Ordnung auf die Beobachtung zweiter Ordnung auszurichten. Die Systemtheorie versteht sich – wiederum ebenso wie die Diskurstheorie – als eine postfoundational theory. Sie geht also nicht von feststehenden Grundlagen der Gesellschaft aus. Stabilität und soziale Wirklichkeit werden danach alleine durch Wiederholungen und interne Konditionierungen innerhalb des kommunikativ geschlossenen Systems geschaffen. Identität und soziale Wirklichkeit entstehen also auf der Grundlage einer Beobachtung erster Ordnung, die „getroffen, mitgeteilt und verstanden werden müssen“ (ebd.: 68).
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Um jetzt zu fassen, warum bestimmte Beobachtungen wahrscheinlicher sind als andere und warum bestimmte Beobachtungen persistent sind, führt Luhmann den Begriff „Semantik“ ein. Luhmann greift dabei nicht den Semantikbegriff der Sprachwissenschaften und der Diskurstheorie auf, welche mit „Semantik“ die Bedeutung von sprachlichen und anderen Zeichen benennen und Konzepte entworfen haben, welche die Konstitution von Bedeutung fassen (s. Kapitel 3.1 und 4.1). Vielmehr entwickelt Luhmann sein Konzept auf der Basis der Begriffsgeschichte (zur Konzeption der Begriffsgeschichte siehe Koselleck 1978). Wie Stichweh (2000) und insbesondere Stäheli (2000b) gezeigt haben, wird der Semantikbegriff bei Luhmann allerdings kaum theoretisch reflektiert, was angesichts der zentralen Bedeutung von Kommunikation in der Systemtheorie überrascht und zu einigen konzeptionellen Schwierigkeiten führt: 1. Die begriffsgeschichtliche Konzeption unterscheidet zwischen zwei ontologisch verschiedenen Ebenen: der „realen“ Geschichte und der Semantik. Um zwischen der historischen Realität und der Semantik unterscheiden zu können, muss die Begriffsgeschichte davon ausgehen, dass Wissenschaft von einer privilegierten Position aus auf die „reale Geschichte“ blicken kann und rückt damit in die Nähe marxistisch-ideologiekritischer Positionen (Stäheli 2000b; zur Kritik an der Begriffsgeschichte siehe den Überblick bei Landwehr 2001). Luhmanns Semantikkonzept verwirft zwar die Unterscheidung zweier ontologisch differenzierter Ebenen und bettet sowohl die Sozialstruktur als auch die Semantik im Medium des Sinns ein.9 Der Semantik weist Luhmann dabei aber nur eine nachträgliche, nachlaufende Rolle zu. Im Sinne eines „‚dokumentarischen’ Modells interessiert also nicht die Semantik selbst, sondern immer nur ihr ‚Ausdruckswert’ und die von ihr geleistete ‚Visibilisierung’ von Gesellschaftsstruktur“ (Stäheli 2000b). Die konstituierende Rolle von Semantik hat Luhmann nicht im Blick und unterscheidet sich damit deutlich von einer diskurstheoretischen Perspektive, welche gerade die konstituierende, Strukturen fixierende und damit soziale Wirklichkeit(en) konstituierende Rolle von Diskursen ausarbeitet (vgl. Kapitel 3). 2. Ähnlich wie in der Konzeption der Begriffsgeschichte, beschränkt Luhmann seinen Semantikbegriff auf „gepflegte Semantik“, d. h. „ernste, bewahrenswerte Kommunikation“ (s. bspw. Luhmann 9
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Stäheli (2000b: 197) weist an dieser Stelle auf eine Nähe zwischen dem Diskursbegriff bei Laclau und Mouffe und dem Sinnbegriff bei Luhmann hin. Auch der Diskursbegriff umfasse sowohl eine linguistisch-semantische als auch eine sozio-strukturelle Ebene (vgl. Kap. 3.2).
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1980). Indem er sich damit von vorneherein auf einen kleinen Bereich der Semantik beschränkt, wird es unmöglich, die Auseinandersetzungen darüber zu untersuchen, welche Semantik sich durchsetzen kann und eben damit zur bewahrenswerten Semantik wird bzw. in den Worten der Diskurstheorie zu einem hegemonialen Diskurs (vgl. Kapitel 3.2.2). Die Pluralität widerstreitender Semantiken kann Luhmanns Semantikbegriff letztlich nicht fassen (Stäheli 2000b). 3. Luhmann bemüht sich, die Systemtheorie auf einem allgemeinen Kommunikationsmodell zu basieren und will daher Schrift und Sprache aus seinen Überlegungen ausschließen. Sinn (d. h. Bedeutung) existiert in dieser präsemiotischen Perspektive bereits bevor er durch Differenzbeziehungen von Zeichen fixiert wird (Stäheli 2000b). Die Schwierigkeiten der Konstitution und Fixierung von Sinn infolge der Konfusion von Zeichen, die im Mittelpunkt poststrukturalistischer Überlegungen stehen (vgl. Kapitel 3.1.2), kann Luhmann daher nicht fassen – bzw. betrachtet er als „Oberflächenphänomen“. Das Semantikkonzept Luhmanns kann daher auch kaum sinnvoll mit Methoden aus den Sprach- und Literaturwissenschaften, die im Kontext des Strukturalismus und Poststrukturalismus entwickelt wurden, operationalisiert werden, was vielleicht die Schwierigkeiten der empirischen Umsetzung des Luhmann’schen Semantikkonzepts erklärt.10 10 So liegen insgesamt bislang nur wenige Arbeiten vor, welche eine Operationalisierung des Luhmann’schen Semantikbegriffs versuchen. Problematisch scheint insbesondere die „Passung“ zwischen theoretischen Annahmen und methodischem Instrumentarium zu sein. Miggelbrink und Redepenning 2004 scheinen dabei von der von Luhmann vollzogenen Trennung von Sozialstruktur und Semiotik auszugehen, wenn sie eine „Differenz zwischen sozialstruktureller Wirklichkeit [...] und kommunikativer Repräsentation“ feststellen (318). Während für die „sozialstrukturelle Wirklichkeit“ die Globalisierung dominiere, stehe auf der Ebene der Semantik (noch immer) der Nationalstaat im Mittelpunkt. Sie nehmen diese beobachtete Differenz als Ausgangspunkt zur Analyse der kommunikativen Repräsentation des Nationalstaats. „Globalisierung“ muss dabei also als eine prä-semiotische Wirklichkeit gefasst werden. Nur vier Seiten später gestehen sie allerdings die Probleme dieses Ausgangspunkts ein und schreiben mit Bezug auf Luhmann, dass „die Hoffnung aufgegeben werden müsse, eine vorgeblich verzerrte Realität durch das Abgleichen mit der wahren Realität entlarven zu können“ (322). Meyer zu Schwabedissen und Micheel 2006 greifen zur Operationalisierung des Luhmann’schen Semantikkonzepts auf die Wissenssoziologie von Berger und Luckmann sowie die wissenssoziologische Diskursanalyse von Keller zurück. Im scharfen Gegensatz zu Luhmann gehen diese Ansätze jedoch davon aus, dass Bedeutung bzw. Sinn intersubjektiv geteilt wird, d. h. in Subjekten verankert ist. Die eigentliche Textanalyse stützen Meyer zu
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Stäheli 2000b und Stichweh 2000 haben – teilweise in einer Rezeption diskurstheoretischer Überlegungen – Weiterentwicklungen eines systemtheoretischen Semantikkonzepts vorgeschlagen, welche auch die konstituierende und antizipative Rolle von Semantiken ins Blickfeld nehmen. Hier versucht die Idee „raumbezogener Semantiken“ (Miggelbrink und Redepenning 2004, Redepenning 2006) anzusetzen: Raum wird hier konsequent nicht als Gegenstand gedacht, sondern als Beobachtungen, die an der Unterscheidung hier/dort anknüpfen. Die Frage, die sich Redepenning stellt, lautet: Welche Funktion haben raumbezogene Semantiken? Und seine schlüssige Antwort ist: „Raumbezogene Semantiken sind [...] unabkömmliche Bestandteile der Strukturierung und Rationalisierung der Alltagswelt – und damit Sinnfixierungen. Ihr Funktionsmechanismus liegt wesentlich in der Möglichkeit, Raum als bloße, vornehmlich kartographisch aufbereitete Projektionsfläche zu nutzen, auf der komplexe soziale Zusammenhänge in einfache, intelligible und auch dichotomisierte Kausalzusammenhänge übersetzt werden können“ (Redepenning 2006; ähnlich argumentieren bereits Miggelbrink und Redepenning 2004). Vor dem Hintergrund der (in der Systemtheorie vorausgesetzten) Annahme einer funktional differenzierten Sozialstruktur interpretiert Redepenning die Raumsemantiken als „Mahnruf zur Integration und Inklusion“.
Schwabedissen und Micheel auf eine Untersuchung der rhetorischen Stilmittel, in welche die „Raumkonstruktionen“ „Heldenstadt Leipzig“ und „Weihnachtsland Erzgebirge“ eingebunden werden. Sie arbeiten heraus, dass „für die Profilierung von Standorten vor allem anschlussfähige Raumkonstruktionen relevant sind“ [...], die „im Kommunikationsprozess erhalten bleiben und dementsprechend nicht nur in einem Zusammenhang produziert werden“ (153). Miggelbrink und Redepenning greifen für die empirische Operationalisierung das Luhmann’sche Konzept „Schema“ auf und sprechen von „raumbezogenen Schema“. Sicherlich als Konsequenz der fehlenden Konzeptualisierung von Sprache in der Systemtheorie bleibt der Status der Konzepte „Raumkonstrukt“ und „Raumschema“ allerdings diffus: „Raumkonstrukt“ scheint nahe zu legen, dass Sinn bzw. Bedeutungen bezeichnet werden sollen. Die Idee, dass die Wortkombinationen „Heldenstadt Leipzig“ und „Weihnachtsland Erzgebirge“ erhalten bleiben, lässt hingegen darauf schließen, dass hier eher an Zeichen gedacht wird, die in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen herstellen. „Raumschema“ bezeichnen Miggelbrink und Redepenning als „inhaltsleere Hülle, die einer weitergehenden inhaltlichen und damit sinnkonstitutiven Füllung offen steht“ (324). Damit scheinen sie „Raumschema“ als Zeichen fassen zu wollen. Gleichzeitig schreiben sie aber, dass ein „Raumschema“ eine „im Alltag verständliche und maßstabsunabhängige Ortsreferenz“ darstelle – also Bedeutung trägt (ebd.; Hervorhebung GG).
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Wie zu zeigen sein wird, kann aus einer diskurstheoretischen Perspektive ähnlich argumentiert werden. Die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe betrachtet die gesamte soziale Wirklichkeit als diskursiv konstruiert, als notwendige aber immer wieder scheiternde Fixierung. Die Konstitution von Räumen spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Vorteile einer diskurstheoretischen Orientierung liegen aber darin, dass innerhalb der Diskurstheorie die Rolle von Zeichen und die Konstitution von Bedeutungen konzeptionalisiert werden. Damit kann auch untersucht werden, inwieweit und warum bestimmte Bedeutungen hegemonial werden und damit Fragen der Macht ins Blickfeld genommen werden (s. Kapitel 3.2). Darüber hinaus können für die empirische Operationalisierung der Diskurstheorie Methoden aus den poststrukturalistisch informierten Sprach- und Literaturwissenschaften sinnvoll ins Forschungsdesign integriert werden (s. Kapitel 4.1). Fazit: In der deutschsprachigen Humangeographie werden Mitte der 1980er Jahre zwei Theorieentwürfe bedeutsam, welche beide die Idee verwerfen, die Geographie könne einfach die Gliederung der Welt in gegebene Räume untersuchen. Sie heben vielmehr darauf ab, wie Räume in den alltäglichen Handlungen bzw. in der Kommunikation produziert und reproduziert werden. Auf der Basis von handlungs theoretischen und strukturationstheoretischen Ansätzen zielt dabei der Entwurf von Werlen darauf ab zu untersuchen, wie intentional handelnde Akteure regionalisieren – d. h. Räume (re-)produzieren. Benno Werlen plädiert also dafür, dass humangeographische Arbeiten nicht „am Raum“, sondern an Handlungen ansetzen sollten und hat damit entscheidend dazu beigetragen, dass sich die Humangeographie nicht länger als Raumwissenschaft, sondern als Sozialwissenschaft versteht. Konsequenz der handlungstheoretischen Positionierung ist allerdings, dass in diesem Ansatz intentional handelnde Akteure als gegebene und nicht hinterfragbare Ganzheiten gesetzt werden. Helmut Klüter schließt hingegen an die Grundüberlegung der Luhmann’schen Systemtheorie an, die nicht intentionale Akteure, sondern Kommunikation als Baustein des Sozialen fasst. Raum konzeptionalisiert Klüter daher als Element von Kommunikation. Neuere Arbeiten radikalisieren diesen Ansatz und sprechen von Raumsemantiken als eine bestimmte Form der Beobachtung – eine Semantik, welche die Komplexität sozialer Beziehungen reduziert. Luhmann entlehnt seinen SemantikBegriff allerdings nicht aus der Sprachwissenschaft, sondern aus der Begriffsgeschichte und weist der Semantik gegenüber der Sozialstruktur nur eine nachlaufende, dokumentatorische Rolle zu. Damit können die konstituierende Rolle von Semantiken und die Pluralität wider43
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streitender Semantiken kaum analysiert werden – Fragen von Hegemonie und Macht bleiben außerhalb des Blickfeldes dieses theoretischen Ansatzes.
2.2.3 Räume als Konstrukt II: radical geography und new cultural geography In der englischsprachigen radical geography (und in geringerem Maße auch in der französischsprachigen géographie marxiste) wird seit den 1970er Jahren eine (neo-)marxistisch informierte Diskussion über die „Produktion des Raumes“ geführt (einen einführenden Überblick bieten Belina und Michel 2007b). In den 1980er Jahren erreicht der so genannte cultural turn die englischsprachige Geographie – es entwickelt sich eine new cultural geography. Dabei wurden poststrukturalistische Ansätze zu einem wichtigen Paradigma der englischsprachigen Geographie – vielfach in Auseinandersetzung aber auch in Verbindung mit (neo-) marxistischen Ansätzen (kurze einführende Überblicke bieten Natter und Jones III 1997, Dixon und Jones III 2004, Murdoch 2006). Einen Schwerpunkt humangeographischer Arbeiten im Kontext des cultural turn bilden Fragen danach, wie Räume zu einem Element der vermeintlich gegebenen sozialen Wirklichkeit werden. In der deutschsprachigen Geographie werden diese Diskussionen erst seit Ende der 1990er Jahre in größerem Umfang aufgegriffen. Der folgende Abschnitt bietet eine kurze kritische Darstellung beider Perspektiven. Ende der 1960er Jahre setzte in der englischsprachigen Geographie eine Auseinandersetzung mit marxistischen Theorieentwürfen ein. Ein zentraler Kritikpunkt der marxistisch informierten radical geography gegenüber dem vorherrschenden Paradigma einer Geographie als spatial science war der Vorwurf, dass dabei von einem absoluten Raum ausgegangen würde. Die Analysen der spatial science wären als „Raumfetischismus“ zu beurteilen, welcher die eigentlichen gesellschaftliche Strukturen und Prozesse hinter vermeintlich räumlichen Strukturen nicht ins Blickfeld nehme (Anderson 1973). Marxistisch informierte Ansätze in der Geographie zielen darauf, diese Perspektive umzudrehen und zu analysieren, welche Rolle Räumlichkeit innerhalb gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse hat. Zu einem einflussreichen Bezugspunkt der Diskussion wurden die Publikationen des französischen Stadtsoziologen Henri Lefebvre (für die englischsprachige Geographie dabei insbesondere 1986), welche darauf zielen, „Raum als soziales Produkt zu verstehen, in dem [...] soziale Prozesse und Strukturen konkret werden“, woraus folgt, „dass alle Raumproduktionen umkämpft sind“ (Belina und Michel 2007a). Harvey bringt die Perspektive marxistisch informierter Ansätze 44
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auf den Punkt, wenn er schreibt: „Jede gesellschaftliche Formation konstruiert objektive Konzeptionen von Raum und Zeit entsprechend ihrer jeweiligen Bedürfnisse und Zwecke in Bezug auf ihre materielle und soziale Reproduktion und organisiert ihre materiellen Praktiken in Übereinstimmung mit diesen Konzepten“ (Harvey 2007a; Hervorhebung GG). Unterschiedliche Gesellschaften produzieren also qualitativ unterschiedliche Konzepte von Raum (und Zeit). Diese wirken gesellschaftlich als „objektive Fakten“ und sind tief „in Prozesse gesellschaftlicher Reproduktion“ verankert (ebd.: 36-38). Die Konzepte von Raum (und Zeit) müssen sich danach jeweils verändern, „um sich neuen materiellen und sozialen Praktiken anzupassen“ (ebd.). Einerseits wird Raum also durch „aktives Handeln, Arbeiten und Leben“ produziert (Smith 2007), andererseits werden durch die Raumproduktion gesellschaftliche Ordnungen gefestigt: „Über den bloßen Akt des Identifizierens hinaus, verweist die Zuweisung eines Ortes innerhalb einer sozialräumlichen Struktur auf bestimmte Rollen, Handlungsmöglichkeiten und Zugänge zu Macht in der gesellschaftlichen Ordnung“ (Harvey 2007b). Harvey unterscheidet dabei einerseits eine Ebene des „Identifizierens“ und der Ideologie von Räumen und andererseits eine Ebene der Nutzung von Räumen und der räumlichen Praxis. In einer dezidiert marxistischen Perspektive plädiert er dafür, dass geographische Analysen der Art und Weise, wie Raum „unter verschiedenen historischen und geographischen Umständen geformt wurde“, nicht an der „Welt des Denkens und der Ideen“ ansetzen dürfe, sondern ausgerichtet werden müsse auf die „Untersuchung der materiellen Prozesse gesellschaftlicher Reproduktion“ (ebd.: 43). In der deutschsprachigen Geographie hat in jüngerer Zeit insbesondere Bernd Belina eine marxistisch informierte Perspektive entwickelt, die unmittelbar an den skizzierten Konzepten zur Produktion des Raumes anknüpft. In seiner Dissertation arbeitet er heraus, welche Rolle „Raum und räumliche Maßstabsebenen“ als Instrument staatlicher Kriminalpolitik und damit letztlich als Instrumente des Regierens spielen (Belina 2006). Danach ist „Raum [...] sowohl in seiner Materialität als auch in seiner Bedeutung durch räumliche Praxen produziert, kann kontrolliert werden und wird praktisch angeeignet“ (ebd.: 45). Dabei weist er drei Akteuren eine herausragende Rolle zu: Das Kapital produziert Raum zur Profitmaximierung, Private können Raum entweder ebenfalls als Wertanlage betrachten, sind aber immer auch am Gebrauchswert des Raumes interessiert (bspw. zum Wohnen und zum Erholen), und der Staat produziert Raum mit dem Zweck, die Reproduktion der Produktionsverhältnisse und seine Machtstellung zu sichern. Von Raumstrategien spricht Bernd Belina, „wenn räumliche Praxen gegen andere einge45
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setzt werden“ (ebd.: 65). Daneben knüpft er an die scale-Debatte in der englischsprachigen Geographie an (vgl. Smith 1992, Delaney und Leitner 1997, Smith 2007) und spricht von Skalenstrategien: „Die Zuordnung verschiedener Aktivitäten zu unterschiedlichen Maßstabsebenen ist kein Zufall, sondern das Ergebnis sozialer Praxen, mittels derer Zwecke verfolgt werden“ (ebd.: 78). Belina arbeitet heraus, wie durch „Raumideologien“ und „Praxen der Raumkontrolle“ in der Kriminalpolitik von politischen Intentionen und sozialen Verhältnissen abstrahiert werden kann und diese Praktiken damit als „governing through crime through space“ beurteilt werden können. Die marxistisch informierten Ansätze in der Geographie haben die sozialwissenschaftliche Raumdebatte enorm befruchtet: Erstmals wurde herausgearbeitet, dass „these so-called spatial relations and spatial processes were actually social relations taking a particular social form “ (Massey 1992). In den 1980er und v. a. den 1990er Jahren wurden jedoch in zunehmendem Maße Stimmen laut, welche kritisierten, dass zahlreiche marxistisch informierte Arbeiten letztlich immer von einer Anpassung des produzierten Raumes an die „materielle und soziale Reproduktion“ (so Harvey in dem Zitat oben) ausgingen. Vielfach würden dabei die Zusammenhänge zwischen polit-ökonomischen Veränderungen einerseits sowie den Zwecken, Interessen und der Konstitution von Raumstrategien und Skalenstrategien andererseits mechanisch gezeichnet, so dass Räume letztlich als logische und zwingende Konsequenz polit-ökonomischer Veränderungen erscheinen müssen (Johnston 1997, Dixon und Jones III 2004).11 Die Gefahr sei daher, dass auch aktuelle marxistisch informierte Ansätze in die Nähe eines vulgär-marxistischen Determinismus geraten, der alle sozialen Prozesse auf eine ökonomische Basis zurückführt.12 Paradoxerweise – und sicherlich entgegen der Absichten der Autoren – besteht damit das Risiko, dass Entscheidungen, d. h. das Politische, kaum ins Blickfeld der Analyse kommen, da in dieser Perspektive ja letztlich davon ausgegangen wird, dass das Soziale durch das Ökonomische bestimmt wird. 11 Ursache dieser Tendenz könnte sein, dass innerhalb der radical geography polit-ökonomische Ansätze dominieren und kultur- und hegemonietheoretische Ansätze marxistischen Denkens bspw. in der Nachfolge von Antonio Gramsci keine bedeutende Rolle spielen. 12 Ein deutschsprachiges Beispiel für eine solche Tendenz zum ökonomistischen Determinismus ist ein Beitrag von (Arnold 2004), in dem er „die Verketzerung des Islam“ alleine (!) auf die „massiven Bedürfnisse des US-Kapitals“ und den „Kampf um vorhandene und potenzielle Ölquellen“ zurückführt. In seiner Perspektive stehen „sozialökonomische Interessen und Kräfte“ außerhalb von Theorien – sind also quasi natürlich gegeben (101).
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Darüber hinaus wird kritisiert, dass (neo-)marxistische Ansätze vielfach einen – zumindest implizit – universalistischen Wahrheitsanspruch vertreten: Kategorien wie „falsches Bewusstsein“ oder „ideologische Verzerrung“, welche Arbeiten der marxistisch informierten Ideologiekritik durchziehen, seien ja nur dann haltbar, wenn man davon ausgeht, dass wissenschaftliches Arbeiten eine unverzerrte Wahrheit erreichen kann – genau dies wird aber insbesondere von poststrukturalistisch informierten Ansätzen verneint (Laclau 1996; s. Kapitel 3.2). Vor dem Hintergrund der Rezeption von im weitesten Sinne poststrukturalistisch informierten Ansätzen in den Literatur- und Kulturwissenschaften wurden ab den 1980er Jahren sowohl die positivistischen Ansätze der spatial science als auch die universalistischen und vielfach deterministischen Ansätze der radical geography von zahlreichen Autoren der englischsprachigen Humangeographie zunehmend kritisch betrachtet. Unter dem Label cultural turn werden diese Kritik sowie die durchaus heterogenen Ansätze zusammengefasst, deren Gemeinsamkeit v. a. in einer Verschiebung der ontologischen und epistemologischen Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens liegt – das heißt in einer „gewandelte[n] Auffassung von der Seinsweise der Forschungsgegenstände (Ontologie) und von der Möglichkeit ihrer Wahrnehmung und Beschreibung (Epistemologie)“ (Blotevogel 2003). Die gesamte soziale Wirklichkeit wird danach als hergestellt und damit kontingent betrachtet und in diesem Sinne als kulturell. Die Ansätze im Kontext des cultural turn arbeiten also nicht mit dem überkommenen Kulturbegriff, der Kultur von Natur scheidet, Hochkultur von Populärkultur und eine wesenhaft gedachte Kultur von einer anderen – wie in den kulturräumlichen Ansätzen (Boeckler 2005). Vielmehr wird im Kontext des cultural turn Kultur als ein Zeichensystem verstanden, in dem Bedeutungen und damit die soziale Wirklichkeit hergestellt werden. In der Konsequenz muss die Forschung daher auf die Untersuchung der Konstitution und Reproduktion sozialer Wirklichkeit und damit Bedeutungen ausgerichtet werden. Das heterogene Feld der new cultural geography ist daher v. a. durch eine geteilte Forschungsperspektive, einen erkenntnistheoretischen Zugriff, und weniger durch eine gemeinsame thematische Orientierung bestimmt und liegt damit quer zu den traditionellen Teilgebieten der Geographie (den so genannten Bindestrichgeographien wie bspw. Stadt-, Bevölkerungs- oder Wirtschaftsgeographie, in diesem Sinne auch Gebhardt, Mattisek, Reuber, et al. 2007) Für den cultural turn in der Humangeographie waren dabei v. a. drei Impulse richtungweisend: Erstens wird mit der Rezeption von Arbeiten der cultural studies, der postcolonial studies und der (post-)feministischen Theorie der so genannte linguistic turn für die Humangeographie 47
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erschlossen. Auf der Basis von sprachphilosophischen Arbeiten sowie den Schriften des Poststrukturalismus setzt sich im Rahmen des cultural turn in weiten Bereichen der Humangeographie die Erkenntnis durch, dass Sprache nicht einfach als Medium zur Erfassung und Kommunikation von Wirklichkeit gedacht werden kann. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass in Sprache und weiteren ähnlich funktionierender Zeichensystemen soziale Wirklichkeit erst hergestellt wird. Damit werden zweitens Identitäten nicht mehr länger einfach also gegeben akzeptiert, sondern als sozial hergestellte Kategorien hinterfragt – für die Geographie nahmen dabei Debatten innerhalb der (post-)feministischen Geographie eine Vorreiterrolle ein. Und drittens führt die Auseinandersetzung mit der Orientalismus-Debatte und den Arbeiten der postcolonialstudies dazu, dass die Positionalität wissenschaftlichen Arbeitens in deutlich höherem Maße berücksichtigt wird als früher. 1. Mit dem Begriff linguistic turn wird ein grundlegender Paradigmenwechsel bezeichnet, der sich Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst in der Philosophie (namensgebend wurde eine Aufsatzsammlung von Rorty 1967) und seit den 1970er Jahren nach und nach auch in weiten Teilen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften durchgesetzt hat (s. bspw. für die Geschichtswissenschaft Schöttler 1997). Ausgangspunkt ist die philosophische Erkenntnis, dass Aussagen über das Wesen der Dinge, die „Wirklichkeit an sich“ letztlich unmöglich sind, da solche Aussagen immer auf der Basis von Kategorien getroffen werden, die jeglicher Erkenntnis und jeglicher Aussage vorausgehen. Im Zuge des linguistic turn verlagert sich philosophische Arbeit daher auf die Untersuchung dieser Kategorien, wobei insbesondere sprachliche Strukturen in den Mittelpunkt des Interesses rücken – daher auch der Begriff der linguistischen bzw. sprachlichen Wende. Sprache wird dabei also als Grundlage und Produzentin sozialer Wirklichkeit gedacht. Den linguistic turn in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften beeinflussen neben der philosophischen Diskussion insbesondere die strukturalistische Linguistik in der Nachfolge von Ferdinand de Saussure, deren Ausweitung zu einer allgemeinen Zeichentheorie, der Semiotik, bspw. durch Roland Barthes sowie deren Radikalisierung und Ausweitung im Poststrukturalismus bspw. durch Jacques Derrida (dazu ausführlicher Kapitel 3.1.2). Die Rezeption der vielfach unter dem Label des Poststrukturalismus zusammengefassten französischen Denker wie insbesondere Michel Foucault und Jacques Derrida als french theory in den englischsprachigen Literatur- und Kulturwissenschaften (Angermüller 2004a) führte dazu, dass sich in weiten Bereichen der englischspra48
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chigen Kulturwissenschaften ein Paradigma durchsetzt, welches die Grundlagen und die Ziele von Wissenschaft neu fasst. Die Idee, universell gültige Aussagen über „die Wirklichkeit“ produzieren zu können, wird abgelehnt und als ein Mythos kritisiert, mit welchem die Wissenschaft in der Moderne eine unhinterfragbare Legitimation produzieren wollte. Vielmehr wird Wissen als kontextuell und kontingent gefasst. Als Aufgabengebiet der Wissenschaft rücken vor diesem Hintergrund Fragen der Konstitution und Reproduktion von Wissen in den Mittelpunkt. Diese Konzeption beeinflusst in hohem Maße Autoren wie Stuart Hall, Edward Said oder Judith Butler und damit die Entwicklung der cultural studies,13 der (post-) feministischen Theorie sowie der postcolonial studies. Wichtige Inspirationsquellen für den cultural turn in der Humangeographie werden daher also über den Umweg der french theory vom Poststrukturalismus geprägt. 2. Innerhalb der feministischen Geographie kommt es seit Ende der 1980er Jahre zu einer Neuausrichtung: In den 1960er und 1970er Jahren herrschten empirische Arbeiten vor, welche Frauen als Thema geographischer Forschung ins Blickfeld rückten. Vor dem Hintergrund der Rezeption poststrukturalistischer Arbeiten wird dann aber zunehmend die Gegebenheit und Natürlichkeit der Differenzierung zwischen männlich und weiblich hinterfragt und damit die Idee kritisiert, dass die Geschlechtsidentität durch biologische Merkmale determiniert sei – teilweise wird diese Neuausrichtung sprachlich als Postfeminismus markiert. Geschlechtsidentitäten entstünden vielmehr durch die Bedeutungen, die mit biologischen Merkmalen verknüpft werden. Damit rücken die Prozesse der Differenzierung und Abgrenzung, welche konstitutiv für Identitäten sind, in den Mittelpunkt der Forschung (zur Neuausrichtung der feministischen Theorie
13 Die theoretische Grundlage für die Entwicklung cultural studies war in den 1970er Jahren ein „kultureller Materialismus“, der in der Fortführung von Überlegungen des marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci die Rolle von Kultur in Machtbeziehungen herausarbeiten will (Kemper 2003). Seit den 1980er Jahren werden dann über die french theory auch zunehmend poststrukturalistische Perspektiven integriert (s. die Schriften des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham wie bspw. Hall 1980). Aus den cultural studies rezipiert die englischsprachige Geographie die Pluralität des Kulturellen und die enge Verknüpfung von Fragen der Macht und des kulturellen Ausdrucks. Der Kulturbegriff der new cultural geography hat daher wenig gemeinsamen mit dem Kulturbegriff der traditionellen Geographie (Boeckler 2005; zur Entwicklung der new cultural geography s. Cook, Crouch, Naylor, et al. 2000, Kemper 2003, Natter und Wardenga 2003).
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siehe beispielsweise: Butler 1991, Heintz 1993). Die Neuausrichtung der feministischen Geographie beeinflusst dann in hohem Maße die Debatte über die Kontingenz und Konstruiertheit von Identitäten in der Humangeographie (Institute of British Geographers. Women and Geography Study Group 1997, Strüver 2007). Vor diesem Hintergrund werden die Ansätze der spatial science kritisiert, da sie Identitäten einfach als quasi natürlich gegeben akzeptierten und spezifische Kategorien (implizit) in essentialistischer Weise als Wesensmerkmale fassten. Damit trüge die spatial science dazu bei, soziale Kategorien wie „männlich“ und „weiblich“ oder „weiß“ und „schwarz“ unkritisch zu reproduzieren. Die Frage, warum und auf welche Weise in bestimmten Kontexten bestimmte Identitätskonzepte sozial relevant werden und wie sich diese im Zeitverlauf verändern, könne damit nicht geklärt werden. Andererseits werden aber auch die Ansätze der radical geography kritisiert, da dabei Identitäten, die sich bspw. auf Kategorien nationaler oder ethnisch-kultureller Zugehörigkeit, des sozialen Geschlechts (gender) oder der sexuellen Orientierung beziehen, vielfach nur als sekundäre Effekte der „eigentlichen“ sozio-ökonomischen Differenzierung beschrieben werden. Damit könnten diese marxistisch orientierten Studien eine Vielzahl aktueller politischer Konflikte, in denen Identitätsfragen im Mittelpunkt stehen, nur unvollständig fassen. Im Rahmen der sich seit den 1980er Jahren im Kontext einer Rezeption poststrukturalistischer Ansätze entwickelnden new cultural geography stehen hingegen Fragen der Konstitution von Identität im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. 3. Postkoloniale Ansätze in den Sozialwissenschaften zielen darauf, die Persistenz kolonialer Strukturen in einer formal dekolonisierten Gegenwart aufzuzeigen. Dabei zielen marxistisch informierte, politökonomische Ansätze auf eine Analyse polit-ökonomischer Abhängigkeits- und Ausbeutungsstrukturen. Mit der Rezeption poststrukturalistischer Ansätze über die literatur- und kulturwissenschaftlichen postcolonial studies kam aber auch die so genannte epistemische Gewalt ins Blickfeld der Analysen, d. h. die Macht, welche subtil durch die Etablierung bestimmter Kategorien („entwickelt“ versus „unterentwickelt“, „zivilisiert“ versus „unzivilisiert“) wirksam wird (Castro Varela und Dhawan 2005). Die Rezeption der Orientalismus-Debatte, in der insbesondere (Said 1978) in einer von der Foucault’schen Diskursanalyse beeinflussten Perspektive herausgearbeitet hat, inwiefern das Bild des Orients als das Ergebnis eines eurozentrischen Blicks europäischer Wissenschaftler und Schriftsteller auf Gesellschaften in Nordafrika und Asien beurteilt werden 50
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muss, sowie die Rezeption der postcolonial studies haben die Positionalität wissenschaftlichen Arbeitens auch in der Geographie ins Blickfeld gerückt (Crush 1994, Gregory 1994, Lossau 2000). Der (zumeist implizite) Anspruch der spatial science, Gesetze herausarbeiten zu können, die universell gültig sind, ist vor dem Hintergrund dieser Diskussion nicht haltbar. Aber auch die Position, welche der Wissenschaft in marxistischen Ansätzen zugeschrieben wird, erscheint vor diesem Hintergrund problematisch: Die Unterscheidung zwischen einer Ebene der Ideologie und einer Ebene der (wirklichen) sozialen Strukturen und Praxen wäre ja nur dann möglich, wenn an der Idee festgehalten würde, dass die Wissenschaft im Gegensatz zu anderen, alltäglichen Praktiken der Wissensgenerierung in der Lage ist, hinter den „Vorhang“ der Ideologien zu schauen und dort die „wirklichen“ Strukturen und Praxen zu beobachten. Die Kritik der radical geography und der poststrukturalistischen Ansätze an der Idee einer Gegebenheit von Räumen wird im Rahmen der critical geopolitics aufgegriffen und für eine Neukonzeption der Politischen Geographie genutzt. Die Arbeiten der critical geopolitics gehen davon aus, dass die vielfach als (natur-)gegeben erfahrenen Geographien als konstruiert zu analysieren sind – sei es auf nationaler Ebene oder auf irgendeiner anderen Maßstabsebene. Damit rücken die Produktion und Reproduktion von Regionen, d. h. Regionalisierungen, ins Zentrum der Forschung. Ausgangspunkt der ersten Arbeiten, welche die critical geopolitics etablieren, ist die Kritik an den überkommenen Ansätzen der Politischen Geographie. Diese seien von einem naiv-realistischen Weltbild geprägt und verföchten mit ihren quantitativ-positivistischen Ansätzen einen Mythos der Objektivität. Zudem seien sie staatsbezogen – hinterfragten also nicht die Gegebenheit von Staaten. Insgesamt produzierten sie damit unkritisches und gar herrschaftsstabilisierendes Wissen (s. bspw. O'Tuathail 1987 sowie zusammenfassend Redepenning 2006). Zu einem Grundlagentext der critical geopolitics avanciert ein Aufsatz von O'Tuathail und Agnew , in welchem sie definieren: „Geopolitics is defined as a discursive practice by which intellectuals of statecraft ‘spatialize’ international politics and represent it as a ‘world’ characterized by particular types of places, peoples and dramas“ (1992: 190). Die dominierende Perspektive der Politischen Geographie wird damit umgedreht. Es wird nicht länger danach gefragt, „how [...] the external environment influences foreign policy, [sondern] [...] how geographical representations are constructed and how those representations in turn structure the perceived reality of places“ (Dodds 1993). In hohem Maße beeinflusst durch die Foucault-Rezeption in der Orientalismus-Debatte 51
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wird die Entwicklung der critical geopolitics geprägt durch die Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen zwischen Wissen und Macht (Dodds und Sidaway 1994). In der Nachfolge Foucaults wird Macht dabei nicht interpersonal gefasst, sondern als der wirklichkeitsstrukturierende (und damit machtvolle) Effekt, welcher unweigerlich mit Kategorisierungen, Typisierungen und Beschreibungen einhergeht. Wie sich in dem Zitat von O'Tuathail & Agnew zeigt, sind zahlreiche Arbeiten dabei von einer Fokussierung auf Aussagen staatstragender Eliten geprägt – erst in jüngerer Zeit kommen auch geopolitische Repräsentationen in den alltäglichen Medien (Zeitungstexte, Cartoons, Filme, Computerspiele etc., bspw. Sharp 1993, Dodds 1996) und den alltäglichen Praktiken ins Blickfeld der Analysen (bspw. Megoran 2006). Die critical geopolitics haben dazu beigetragen, dass in der Politischen Geographie ein überkommenes Verständnis von Politik als spezifisches und begrenztes Feld gesellschaftlicher Aktivität überwunden werden konnte und die enge Verschränkung jeglicher Geographien mit Fragen von Macht und politischen Entscheidungen ins Blickfeld rückten. Damit konnte sich in der Politischen Geographie auch ein neues Verständnis von Geographie etablieren: Grenzen, Regionen, Territorien werden nicht länger als quasi natürlich gegeben betrachtet, sondern als konstruiert und damit letztlich immer als kontingent. Als den entscheidenden Moment geopolitischer Diskurse analysieren die critical geopolitics „the division of space into ‘our’ place and ‘their’ place: its political function being to incorporate and regulate ‘us’ or ‘the same’ by distinguishing ‘us’ from ‘them’, the ‘same’ from the ‘other’” (Dalby 1991). In diesem Zusammenhang wurden Fragen der persönlichen und kollektiven Identität und der spezifischen Rolle von Räumlichkeit für Identitätskonzepte zu zentralen Themen der Politischen Geographie (Dodds 2001). In der deutschsprachigen Geographie haben die am Geographischen Institut der Universität Heidelberg von 1997 bis 2006 organisierten „Hettner lectures“ mit renommierten englischsprachigen Geographen sowie die jährliche Tagungsreihe zur Neuen Kulturgeographie ab 2004 die Rezeption der englischsprachigen Diskussion enorm beschleunigt und insgesamt die Diskussion über theoretische und konzeptionelle Grundlagen der Humangeographie angeregt und verbreitert (Berndt und Pütz 2007, Gebhardt, Mattisek, Reuber und Wolkersdorfer 2007). Auch die critical geopolitics wurden in der deutschsprachigen Geographie ab Ende der 1990er Jahre rezipiert und als Chance beurteilt, der in der deutschsprachigen Geographie stigmatisierten und marginalisierten Beschäftigung mit dem Politischen eine neue und konzeptionell tragfähige Grundlage zu geben (Lossau 2000, Reuber 2000, Lossau 2001, Reuber 52
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und Wolkersdorfer 2001). Tatsächlich wurden zahlreiche Forschungsarbeiten in der deutschsprachigen Geographie von den Ansätzen der critical geopolitics inspiriert (bspw. Lossau 2000, Meyer zu Schwabedissen 2001, Redepenning 2002, Reuber und Wolkersdorfer 2004). Die critical geopolitics haben damit entscheidend zu einer Renaissance und Neufundierung einer theoretisch reflektierten Politischen Geographie im deutschsprachigen Raum beigetragen. Die vorliegende Arbeit ordnet sich in diese Renaissance und Neufundierung einer theoretisch reflektierten Politischen Geographie ein und will aus der Perspektive der Diskurstheorie einen Beitrag zu einer theoretischen Konzeptionalisierung und empirischen Operationalisierung entwickeln, die einige Probleme der critical geopolitics vermeidet (s. u.). In der englischsprachigen Humangeographie konnten sich die Ansätze im Kontext des cultural turn bis Ende der 1990er Jahre so weitgehend durchsetzen, dass einige Autoren bereits eine hegemoniale Stellung eines „kulturalistischen“ Paradigmas befürchten und zunehmend kritische Stimmen geäußert werden. Auch die Entwicklung einer deutschsprachigen Neuen Kulturgeographie hat eine Vielzahl von kritischen Kommentaren hervorgerufen, welche überwiegend Argumente der englischsprachigen Kritik an der new cultural geography aufgreifen und nachzeichnen. Dabei lassen sich Autoren unterscheiden, welche den cultural turn in der Humangeographie grundsätzlich eher als Wende zum Schlechten ablehnen (bspw. Hamnett 1997, Martin 2001, Arnold 2004, Ehlers 2005, Klüter 2005) und Autoren, welche die konzeptionellen Impulse im Kontext des cultural turn grundsätzlich begrüßen und ihre Kritik eher als Beitrag zu einer Weiterentwicklung formulieren (bspw. Thrift 1991, Philo 2000, Thrift 2000a, Lippuner 2005, Pott 2005). Vereinfacht lassen sich drei Kritikstränge identifizieren: 1. Politische Irrelevanz: So bemängelt Martin, dass mit dem cultural turn eine Hinwendung zu „’sexy’ philosophical, linguistic and theoretical issues“ (2001) einhergehe und eine Abwendung von politisch relevanten Fragestellungen (ähnlich argumentiert Hamnett 1997). Mitchell befürchtet, dass der cultural turn in der Geographie dazu führe, dass eine kritische Perspektive aufgegeben werde und wissenschaftliches Arbeiten nicht länger auf Erklärung, sondern nur noch auf das Interpretieren von Bedeutung(en) ziele (2000: 8 ff.). 2. Textzentriertheit: Insbesondere Thrift hat den Arbeiten der new cultural geography vorgeworfen, dass sie auf Texte und Bilder fixiert seien und sich in einem Labyrinth von Textualität verlören (1991, 2000b, 2001). In eine ähnliche Richtung zielt ein viel beachteter Aufsatz von Philo, der Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahren aktiv die Rezeption des cultural turn in der englischsprachigen 53
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Geographie vorangetrieben hatte: Philo äußert 2000 die Sorge, dass der cultural turn in der Geographie gleichsam zu erfolgreich gewesen sei und sich die Forschungsansätze der Geographie in der Konsequenz zu weitgehend „dematerialisiert“ und „desozialisiert“ hätten (28 ff.). Hamnett bemängelt 1997, dass die neuen Ansätze sich kaum für die soziale Wirklichkeit interessieren würden (127): „Under the banner of postmodernism, postimperialism, discourse, narrative, deconstruction, textuality, and the like, a language, a set of concepts, and a mode of writing permeated human geography which bear an increasingly tenuous relationship to social relations and social practices as they are lived and experienced by many people.“ 3. Mangelnde empirische Operationalisierung: Mehrere Autoren kritisieren, dass zahlreiche Arbeiten im Kontext des cultural turn von einer fehlenden Martin (2001) oder ungenügenden Werlen (2003) empirischen Operationalisierung geprägt seien und sich auf eher essayartige Darstellungen beschränken. Im Folgenden werden diese drei Kritikstränge bewertet und die Konsequenzen für die theoretische Konzeptionalisierung und die empirische Operationalisierung der vorliegenden Arbeit dargestellt: Zu 1.): Die Kritik an der politischen Irrelevanz der Humangeographie nach dem cultural turn lässt sich in zwei Argumentationsstränge differenzieren. Auf der einen Seite stehen Autoren wie Martin, welche geographische Forschung stärker auf die Beratung der Politik ausrichten möchten. Innerhalb eines Verständnisses, welches Politik als ein spezifisches Feld der Gesellschaft fasst und von Wissenschaft erwartet, Handlungsanleitungen für dieses Feld zu liefern, können die Ansätze im Kontext des cultural turn tatsächlich kaum Politikberatung leisten. Diese gehen von einem komplexeren Verständnis des Politischen aus, wonach Wissen immer politisch ist, d. h. bspw. alle Klassifizierungen, Bezeichnungen, Ordnungsschemata politisch sind. In diesem Sinne ist Wissenschaft nach dem cultural turn in hohem Maße politisch relevant, da sie auf das Hinterfragen und Reflektieren der sozialen Wirklichkeit ausgerichtet ist. Autoren, die sich einer (neo-)marxistisch orientierten Geographie zurechnen lassen wie Mitchell (2000) und Arnold (2004), kritisieren hingegen, dass der cultural turn dazu führe, dass das Potenzial der Humangeographie zu kritischer Forschung verloren gehe. Die Schlussfolgerungen aus dieser Befürchtung unterscheiden sich allerdings fundamental: Während Arnold Ansätze einer Neuen Kulturgeographie rundum ablehnt, sucht Mitchell nach Wegen, die Kulturgeographie stärker auf Fragen nach der Produktion von Kulturellem und damit auch auf die dahinter liegenden „systems of domination, oppression, and exploita54
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tion“ auszurichten (2000: 13; sowie der ambitionierte Versuch einer marxistisch informierten Kulturgeographie Mitchell 2003). Eine simple Kombination der kritischen Perspektive einer marxistisch orientierten radical geography mit poststrukturalistischen Ansätzen der new cultural geography führt allerdings zu einigen konzeptionellen Schwierigkeiten, wie Redepenning 2006 am Beispiel der critical geopolitics zeigt: Die Arbeiten der critical geopolitics stehen einerseits in der Tradition der Ideologiekritik marxistisch informierter Ansätze, welche auf eine Enthüllung von Ideologien zielen. Andererseits beziehen sich die Autoren der critical geopolitics regelmäßig auf die Dekonstruktion nach Jacques Derrida. Während aber Derrida die Dekonstruktion als nicht abschließbaren Prozess konzeptionalisiert und die Unmöglichkeit einer Fundierung betont (ausführlicher dazu Kapitel 3.1.2), wollen ideologiekritische Arbeiten den „wahren“ (und polit-ökonomischen Kern) sozialer Beziehungen aufdecken. Da in den Arbeiten der critical geopolitics diese konzeptionelle Spannung nicht reflektiert werde, führe das „theoretische patchwork“ (ebd.: 77 ff.) von marxistischen und poststrukturalistischen Ansätzen zu Inkonsistenzen.14 Daher begründen zahlreiche Autoren der critical geopolitics ihre Aussagen moralisch. Dieser Ausweg ist allerdings problematisch, da die Moral nicht begründet wird und letztlich auch nicht begründbar ist (Redepenning 2006). Wenn aber eine poststrukturalistisch informierte Wissenschaft Letztfundierungen ablehnt und nicht länger danach strebt, die eine Wahrheit zu finden, um dann von diesem vermeintlich festen Fundament aus zu sprechen, wie kann Wissenschaft dann überhaupt Kritik äußern? Dafür werden zwei Vorschläge diskutiert: So reflektieren Arbeiten der cultural studies und dabei insbesondere der postcolonial studies den Umgang mit der jeweils spezifischen Positionalität, von der wissenschaftliche Kritik unweigerlich geäußert werden muss und diskutieren Konzepte eines „strategischen Essentialismus“ (Spivak 1996 ) und „arbiträrer Schließungen“ (Hall 2000, eine Rezeption dieser Diskussion bietet Lossau 2002). Laclau und Mouffe entwickeln auf der Basis der Diskurstheorie das normative Konzept einer „radikalen Demokratie“, welches akzeptiert, dass es kein Außerhalb des Diskursiven und keine absoluten Wahrheiten geben kann und jeglicher Versuch einer konfliktfreien, harmonischen 14 Die Heterogenität der Theorieansätze innerhalb der critical geopolitics wird regelmäßig auch von den Autoren der critical geopolitics betont – als Stärke und Element der Offenheit des Ansatzes (bspw. Dalby und Tuathail 1996: 452). Vielfach scheint jedoch eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftstheoretischen Grundlagen auszubleiben, so dass die Unvereinbarkeiten und Inkonsistenzen zwischen den Ansätzen nicht reflektiert und damit auch nicht bearbeitet werden.
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Gesellschaft als Mythos beurteilt werden muss. Vor diesem Hintergrund zielt das Konzept einer „radikalen Demokratie“ darauf, einen Rahmen zu schaffen, in dem Konflikte immer wieder neu ausgetragen werden können (1985: 149 ff., s. Kapitel 3.3). Wissenschaft kann einen Beitrag dazu leisten, immer wieder hegemoniale Schließungen aufzubrechen und neue politische Auseinandersetzungen zu ermöglichen. Die vorliegende Arbeit will in dieser Perspektive einen Beitrag zu einer kritischen Forschung leisten. Zu 2.): Von einer (übertriebenen) Textzentriertheit der Humangeographie im Kontext des cultural turn sprechen zum einen Autoren, welche einem konstruktivistischen Paradigma grundsätzlich ablehnend gegenüber stehen und welche das empirische Instrumentarium der Geographie auf die traditionellen geo- und sozialwissenschaftlichen Methoden konzentrieren bzw. beschränken wollen. Methoden, die vermeintlich einen unmittelbaren Zugang zur sozialen Wirklichkeit versprechen (Kartierungen, Fernerkundungen, Zählungen, Messungen, quantitative Sozialforschung etc.). Zum anderen sprechen aber auch Autoren, welche sich einem konstruktivistischen Paradigma zurechnen und den theoretischkonzeptionellen Impulsen im Kontext des cultural turn gegenüber aufgeschlossen sind, von einer übertriebenen Zentrierung der new cultural geography auf Texte und Bilder (insbesondere Thrift 1999, 2000b). Diese Zentrierung mache die Humangeographie blutleer und vorhersehbar (ders. 2001). Thrift möchte hingegen „the richness of the world“ (wieder) in die Geographie bringen (2004). Mit diesem Ziel entwirft er die so genannte non-representational theory. Er will Praktiken ins Blickfeld nehmen, die nicht adäquat bezeichnet werden können und die nicht in Worten ausgedrückt werden können. Die Humangeographie solle sich also von ihrer Fokussierung auf Texte und Bilder lösen und den Schwerpunkt der Forschung verschieben: vom Kognitiven auf die „gewöhnliche Praktiken“ und von den Intellektuellen auf die „einfachen Leute“ (Thrift 1997). Nash wirft Thrift allerdings vor, mit der nonrepresentational theory die Geographie auf das Präkognitive und Prädiskursive ausrichten zu wollen und weist (zurecht) darauf hin, dass eine solche Ausrichtung epistemologisch unmöglich und politisch problematisch wäre (2000). Tatsächlich lässt die Ende der 1990er Jahre immer wieder von Thrift geäußerte Ablehnung der wissenschaftlichen Analyse von Text und Bildern und seine Hervorhebung von Praktiken und Performanz vermuten, dass er zwischen einer Sphäre des Wissens (des Diskursiven) und einer Sphäre der Praktiken (des Prädiskursiven) unterscheiden möchte. Nash weist daher vollkommen zurecht darauf hin, dass auch vermeintlich „körperliche Praktiken“ wie der von Thrift mehrmals als Beispiel herangezogene Tanz nicht sinnvoll als rein körperliches, 56
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präkognitives und prädiskursives Phänomene gedacht werden können: „Dance is always mediated by words as it is taught, scripted, performed and watched“ (Nash 2000: 658). Tatsächlich Präkognitives und Prädiskursives ist sozialwissenschaftlicher Forschung nicht zugänglich und kann nicht kommunikativ vermittelt werden – ein solcher Ansatz wäre also epistemologisch unmöglich. Und nicht zuletzt liefe eine Fokussierung auf das Prädiskursive und das Präkognitive Gefahr, Wissenschaft zu entpolitisieren, da in einer solchen Konzeption das prädiskursive und präkognitive „echte Leben“ ja keiner Veränderung zugänglich wäre. Sicherlich nicht zuletzt in Reaktion auf diese Lesart und die damit verbundene grundlegende Kritik an einer non-representational theory bettet Thrift (2000b) sein Konzept dezidiert innerhalb poststrukturalistischer Ansätze und innerhalb des Diskursiven ein und vermeidet damit, dass sein Ansatz als Plädoyer für eine Hinwendung zum Prädiskursiven verstanden werden kann. Er differenziert zwei Arten, das Diskursive zu konzipieren (ebd.: 380 f.): So werde das Diskursive von zahlreichen Autoren (vielfach implizit) als rein sprachliches Phänomen konzipiert. Damit würde eine Unterscheidung zwischen einer prädiskursiven Sphäre und einer diskursiven Sphäre vollzogen. In dieser Konzeption gibt also das Diskursive dem Prädiskursiven Bedeutung und die wissenschaftliche Analyse konzentriert sich auf die Bedeutungszuweisung, die Repräsentation. Diesem Konzept stellt Thrift ein umfassenderes Konzept des Diskursiven gegenüber, das die gesamte soziale Wirklichkeit als diskursiv fasst, und rückt damit in die Nähe des Diskurskonzeptes von Laclau und Mouffe (s. Kapitel 3.2.1).15 Thrift weist darauf hin, dass die Proponenten der critical geopolitics eher der ersten Konzeption anhängen. Tatsächlich fällt auf, dass die theoretische Fassung des Diskursiven innerhalb der critical geopolitics kaum diskutiert und „Diskurs“ selten definiert wird (aber Reuber 2004, Glasze 2007a, Müller 2008). Eher implizit als explizit folgen zahlreiche Autoren einer Konzeption von Diskurs, wie sie von O'Tuathail und Agnew 1992 entworfen wurde. Wie oben bereits dargestellt, fassen die beiden in einem der grundlegenden Texte der critical geopolitics Diskurse als sozio-kulturelle Ressourcen, die von intentional handelnden Akteuren strategisch eingesetzt werden „in the construction of meaning about their world and their activities“ (192 f.). Obwohl sich also zahlreiche Arbeiten der critical geopolitics explizit im Konzept der Dekonstruktion von Derrida (s. Kapitel 3.1.2) und dem Diskurskonzept von Foucault (s. Kapitel 3.1.3) verorten wollen, läuft die Konzeption von Diskursen als Ressource intentionaler Akteure deren 15 Die Ideen von Thrift müssten in der Konsequenz auch eher als „more than representation-theory“ genannt werden (Lorimer 2005).
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Überlegungen zuwider. Denn während Derrida und Foucault die Vorstellung intentional handelnder Akteure hinterfragen und die Subjekte als diskursiv konstituiert fassen, zielen die Arbeiten der critical geopolitics vielfach explizit darauf, die Aussagen einzelner Politiker bzw. Intellektueller (die damit implizit als prädiskursiv gefasst werden) zu deuten, um damit deren Strategien und Interessen aufzudecken (die damit ebenfalls prädiskursiv wären, kritisch dazu Redepenning 2006 und Müller 2008; ähnlich bereits Reuber 2004). Die mangelnde theoretische Auseinandersetzung mit dem für die critical geopolitics zentralen Konzept „Diskurs“ zeigt, dass die critical geopolitics – und ähnliches gilt für zahlreiche Arbeiten im Kontext des cultural turn (Barnett 2004a) – nicht „zu theoretisch“ sind, wie das einige Kritiker meinen, sondern, dass vielmehr eine fundiertere Auseinandersetzung mit Gesellschafts- und Kulturtheorien sowie Politischen Theorien notwendig erscheint (ähnlich argumentieren bspw. Werlen 2003, Lippuner 2005, Pott 2005). Vor diesem Hintergrund werden in Kapitel 3.2 die Grundlagen und heuristischen Potenziale der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe herausgearbeitet und die Konzeption und Operationalisierung der Forschungsarbeit in der Diskurstheorie verortet (s. Kapitel 4). Zu 3.): Auch innerhalb der Kritik an der fehlenden bzw. mangelhaften empirischen Operationalisierung lassen sich zwei Stränge unterscheiden. Auf der einen Seite stehen Autoren, welche grundsätzlich abzulehnen scheinen, dass sich der Stellenwert der „Forschung im Gelände“ in weiten Teilen der Humangeographie zugunsten der theoretischkonzeptioneller Reflektion verschoben hat – so sind wohl die Sorgen vor einer „Stubenhocker“-Geographie (armchair geography) zu interpretieren. Auf der anderen Seite stehen Autoren, welche die erhöhte theoretisch-konzeptionelle Reflexivität geographischer Forschung begrüßen, aber eine fundierte Auseinandersetzung über die Anpassung der empirischen Instrumente an die veränderte Ontologie vermissen (Werlen 2003). So stellt beispielsweise Dodds mit Bezug auf die critical politics fest, dass diese methodologisch und methodisch enttäuschend geblieben seien (2001: 471). Der finnische Geograph Paasi äußert 2000 die Sorge, dass die critical politics sich häufig auf eine Art Ferndiagnose, ein geopolitical remote sensing, beschränken würden. Moisio und Harle bezeichnen als geopolitical remote sensing eine verbreitete Forschungspraxis, bei der weit reichende Aussagen auf der Basis unspezifischer Konzepte und heterogener Textsammlungen gemacht werden, deren Zusammenstellung nicht begründet wird, die kaum (nicht-englischsprachige) Originaldokumente berücksichtigen und die eher aus Texten von Akademikern bestehen denn aus Texten, die im Rahmen politischer 58
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Aktivitäten entstehen (2006: 205). In der Tat ist es verwunderlich, dass lange Zeit Fragen einer angemessenen Operationalisierung innerhalb der new cultural geography und insbesondere der critical geopolitics kaum diskutiert wurden: Fragen der Zusammenstellung des zu analysierenden Korpus an Texten (oder Bildern) und Fragen der Analyseinstrumente werden kaum diskutiert – gerade so, als würden die Autoren letztlich doch davon ausgehen, dass das empirische Material genau eine Wahrheit enthält (daher kein Bedarf, sich über die Zusammenstellung Sorgen zu machen), die sich dem Wissenschaftler unmittelbar deutend erschließt (daher kein Bedarf, sich über die Analyse von Bedeutungen Sorgen zu machen). Vor diesem Hintergrund wird in der vorliegenden Arbeit ausführlich dargestellt, inwiefern empirische Instrumente aus den poststrukturalistisch informierten Sprach- und Literaturwissenschaft eine den theoretischen Vorannahmen entsprechende empirische Umsetzung poststrukturalistischer Ansätze leisten, im Speziellen der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe (s. Kapitel 4.1). Mit der Fokussierung auf die Analyse von Textkorpora wird dabei nicht einer Konzeption von Diskurs als rein sprachlichem Phänomen gefolgt. Wie in Kapitel 3 dargestellt wird, folgt diese Arbeit vielmehr einem umfassenden Diskurskonzept, das letztlich die gesamte soziale Wirklichkeit als sozial konstituiert fasst. Aus dieser Perspektive ist die Forderung zu begrüßen, die humangeographische Empirie im Nachgang des cultural turn dürfe sich nicht nur auf Texte und Bilder beschränken: Diskurse sind mehr als Text (und Bilder). Dennoch wird für die vorliegende Arbeit eine dezidierte Fokussierung auf Instrumente der Sprachanalyse für sinnvoll erachtet: Erstens scheint der linguistic turn bis heute nicht wirklich in der Geographie angekommen zu sein, eine Auseinandersetzung mit der Konstitution von Bedeutung in und mit Sprache hat bislang kaum stattgefunden. Zweitens scheint genau dies aber von grundlegender Bedeutung, wenn man mit Roland Barthes davon ausgeht, dass Sprache die Grundlage aller Sinnzusammenhänge ist, „weil in ihr und durch sie Sinn für den Menschen kodiert wird“ (Münker und Roesler 2000: 15; siehe auch Röttger-Denker 2004). Drittens laufen die Forderungen nach einer stärkeren Berücksichtigung von Praktiken, von Emotionen und Gefühlen, von den „joys and sufferings of the people“ (Paasi 2006) immer wieder Gefahr, zwischen Text, Diskurs, Bildern, Repräsentationen auf der einen Seite und sozialen Praktiken, Gefühlen und Emotionen auf der anderen Seite eine Grenze ziehen zu wollen (so beispielsweise Paasi ebd.), die Geographie damit auf ein „beyond discourse“ auszurichten und letztlich (der wohl auch gerade auch in der Geographie verbreiteten) Sehnsucht nach der „wirklichen“ und unmittelbar erlebbaren Welt zu erliegen. Damit würde 59
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die Geographie nicht nur die Erkenntnisse des linguistic turn außer Acht lassen, sondern de facto auch hinter den kritischen Realismus zurückzufallen und letztlich einen naiven Realismus zu praktizieren.16 Eine Auseinandersetzung mit Praktiken und Performanz sollte daher im Rahmen der Analyse von Diskursen erfolgen – gefragt sind also empirische Instrumente, welche die Analyse von Texten sowie von Bildern und Praktiken in einer diskurstheoretischen Perspektive ermöglichen. Fazit: In der so genannten radical geography wird seit den 1970er Jahren die Produktion von Räumen kritisch analysiert. Mit diesen marxistisch informierten Arbeiten kann sich erstmals auf breiter Front in der englischsprachigen Humangeographie eine Perspektive durchsetzen, welche davon ausgeht, dass vermeintlich räumliche Strukturen bzw. Prozesse immer Ausdruck und Ergebnis sozialer Strukturen bzw. Prozesse sind. Auch die Arbeiten der englischsprachigen Geographie im Kontext des cultural turn fassen Räume als hergestellt. Mit der Rezeption poststrukturalistischer Ansätze wird aber der Anspruch der radical geography, die wahren sozialen Strukturen enttarnen zu können, als universalistisch kritisiert. Poststrukturalistisch informierte Arbeiten gehen davon aus, dass es keine unverrückbaren, allem Sozialen bzw. Diskursiven vorgängigen Fundamente (wie ein „Gesetz der Ökonomie“, „intentionale Akteure“ oder eine „Staatenordnung der Welt“) gibt. Die Tendenz der radical geography, alles Soziale auf polit-ökonomische Strukturen zurückzuführen, läuft aus dieser Perspektive Gefahr, einen ökonomischen Determinismus zu produzieren. Die so genannten critical geopolitics greifen konzeptionelle Anregungen der radical geography und der new cultural geography auf und analysieren, wie geographische Entitäten konstituiert und mit Bewertungen versehen werden. Die Kritik an den heterogenen und unzureichend reflektierten theoretisch-konzeptionellen Grundlagen der new cultural geography und im Speziellen der critical geopolitics zeigt allerdings, dass eine fundierte Auseinandersetzung mit den theoretischen Ansätzen des Poststrukturalismus sowie mit einer der veränderten Ontologie 16 Daher scheint die Vorstellung, die Geographie könnte jetzt eine Phase der Orientierung auf Sprache verlassen und sich (wieder) den Praktiken zuwenden, kontraproduktiv und letztlich gefährlich. Ein simples Ersetzen oder Ergänzen der Analyse von Texten und Bildern durch ethnographische Methoden (in diesem Sinne verstehe ich die Forderungen an die critical geopolitics von Thrift 2000b, Dodds 2001, Megoran 2006) greift daher zu kurz. Das Ziel müssten letztlich innovative Ansätze sein, welche auf die diskursive Konstitution sozialer Wirklichkeit in den Assoziationen von Texten, Bildern, Artefakten, Praktiken, Technologien etc. zielen.
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entsprechenden empirischen Operationalisierung noch nicht in ausreichendem Maße geleistet wurde. Hier setzt die vorliegende Arbeit an und möchte auf der Basis der Diskurstheorie einen Beitrag zur konzeptionellen Weiterentwicklung einer diskurstheoretisch informierten Humangeographie liefern sowie Instrumente testen, die eine der veränderten Ontologie entsprechende empirische Operationalisierung ermöglichen.
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3 Au sarbeitung eines politischen Konzepts von Identitäten und von Räumen
In Kapitel 2 wurde herausgearbeitet, dass neuere theoretische Ansätze sowohl Identitäten als auch Räume nicht als wesenhaft und gegeben, sondern als hergestellt konzeptualisieren. Die Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe baut auf zentralen theoretischen Denklinien des 20. Jahrhunderts auf (dem Strukturalismus Saussures, der Hegemonietheorie Gramscis, der Diskursanalyse Foucaults, der Psychoanalyse Freuds und Lacans sowie der Dekonstruktion Derridas) und fasst die gesamte soziale Wirklichkeit als diskursiv konstituiert (Nonhoff 2007a). Sie bietet daher eine Chance für eine konsistente gesellschaftstheoretische Konzeption der Konstitution von Identitäten und Räumen. Die seit den 1980er Jahren von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entwickelte Diskurs- und Hegemonietheorie hat zahlreiche theoretische wie empirische Studien angeregt – insbesondere aus dem Bereich der Soziologie und Politikwissenschaft, aber beispielsweise auch der Philosophie und Geschichte (Howarth 1993, Laclau 1994b, Norval 1996, Howarth, Norval und Stavrakakis 2000, Stäheli 2000b, Norris 2002, Sarasin 2003, Critchley und Marchart 2004, Nonhoff 2006, 2007b). In der Geographie haben sich einige englischsprachige Autoren mit einzelnen theoretisch-konzeptionellen Anregungen von Laclau und Mouffe auseinandergesetzt (Massey 1992, 1995, Barnett 2004b, Thomassen 2005). Für die theoretische Konzeption und Operationalisierung empirischer Studien innerhalb der Geographie wird die Diskurstheorie allerdings erst in jüngster Zeit genutzt (Mattissek 2005, Glasze 2007a, b, Mattissek 2007, Brailich, Germes, Glasze, et al. 2008, Müller 2008, Dzudzek in Druck). 63
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3.1 Grundlagen der Diskurstheorie 3.1.1 Die strukturalistische Linguistik nach Saussure: Bedeutung als Effekt von Differenzierung Die Grundlagen der Diskurstheorie liegen in den strukturalistischen Sprachwissenschaften. Der Schweizer Linguist Saussure verwirft die Vorstellung, dass (Sprach-)Zeichen die Welt einfach so abbilden können „wie sie ist“. Sprache (langue) wird vielmehr als System von Zeichen konzipiert, das erst Bedeutung herstellt und so die soziale Welt konstituiert.1 Er wendet sich damit sowohl gegen die zu seiner Zeit vorherrschende Forschungsrichtung, die Sprache mittels einer historischphilologischen Untersuchung der Entwicklung unterschiedlicher Sprachen verstehen will, als auch gegen eine naturwissenschaftlichpositivistisch ausgerichteten Forschungsrichtung, welche die Sprache mittels einer Untersuchung der physischen Auswirkungen von Klängen auf das Nervensystem verstehen will (Dixon und Jones III 2004). Abbildung 5: Herstellung von Bedeutung durch Abgrenzung
Quelle: Saussure 2001 [1916]: 137 Nach Saussure vereinigt das sprachliche Zeichen das Bezeichnende (den Signifikanten) und das Bezeichnete (das Signifikat; s. Abbildung 5). So verweist die gesprochene Laut- bzw. die geschriebene Buchstabenfolge „H u n d“ (der Signifikant) auf das Konzept bzw. die physische Vorstellung „Hund“ (das Signifikat). Kernidee von Saussure ist nun, dass diese Beziehung zwischen Signifikanten und Signifikat arbiträr ist. Isoliert betrachtet, könnte das geschriebene (Graphem) oder gesprochene Wort (Phonem) „H u n d“ auch auf irgendein anderes Konzept verweisen. Es gibt keine naturgegebene Verbindung von Signifikant und Signifikat. Die strukturalistischen Sprachwissenschaften gehen mit Saussure also
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Der 1916 erstmals erschienene Cours de Linguistique Générale wurde posthum von drei Studenten Saussures auf der Basis seiner Unterlagen und Mitschriften verfasst. Eine erneute Bearbeitung der Unterlagen Saussures in den 1960er Jahren hat eine anhaltende Diskussion um die „Authentizität“ des Cours ausgelöst. Für die hier skizzierten Konzepte ist diese Diskussion allerdings nicht relevant.
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davon aus, dass es keine „positiven Zeichen“ mit einer innewohnenden, intrinsischen Bedeutung gibt (Saussure 2001: 143). Das Konzept Saussures lässt sich mit einem Vergleich unterschiedlicher Sprachen veranschaulichen. So zeigt die Tatsache, dass das Konzept „Hund“ (Signifikat) in unterschiedlichen Sprachen mit jeweils anderen Signifikanten verknüpft ist (z. B. engl. dog, frz. chien, russ. ɫɨɛɚɤɚ), dass die Signifikanten arbiträr sind. Aber auch die Konzepte gehen nicht dem Sprachsystem voraus. Wäre dies der Fall, dann müssten in allen Sprachen die gleichen Konzepte existieren, die nur mit jeweils anderen Signifikanten verknüpft wären. Übersetzung wäre dann immer einfach und präzise. Viele Konzepte existieren aber nur in bestimmten Sprachen, in anderen jedoch nicht. Übersetzung ist daher immer mit Schwierigkeiten verbunden. So existieren in den samischen Sprachen in Lappland mehrere Dutzend Konzepte für das eine Konzept „Rentier“ im Deutschen, das Konzept „Heimat“ der deutschen Sprache existiert in vielen anderen Sprachen überhaupt nicht. Beide Beispiele zeigen, dass auch die Konzepte, die Signifikate, nicht dem Sprachsystem vorausgehen, sondern erst im Sprachsystem gebildet werden (ebd.: 138). Nach Saussure ist ein sprachliches System also eine „Reihe von Verschiedenheiten des Lautlichen, die verbunden sind mit einer Reihe von Verschiedenheiten der Vorstellungen“ (2001 [1916]: 144). Die Ordnung der Signifikanten und die Ordnung der Signifikate decken sich nach Saussure allerdings vollständig. Das System stelle „im Inneren jedes Zeichens“ die Verbindung zwischen Signifikant und Signikat her (s. Abbildung 6): „Obgleich Bezeichnetes und Bezeichnendes, jedes für sich genommen, lediglich differentiell und negativ sind, ist ihre Verbindung ein positives Faktum“ (ebd.). Dies bedeutet auch, dass die Individuen einen gegebenen Signifikanten nicht beliebig interpretieren können, also eine beliebige neue Verbindungen zu einem Signifikat herstellen können (Stäheli 2000a: 17). Sprache konzipiert Saussure als eine soziale Institution, die den Gebrauch von Zeichen reguliert (2001 [1916]: 86). Er unterscheidet dabei zwischen Sprache (langue) als die „Gesamtheit der sprachlichen Gewohnheiten, welche es dem Individuum gestattet, zu verstehen und sich verständlich zu machen“ (ebd.: 91) und dem Sprechen (parole) als die konkrete Realisierung durch ein Individuum (ebd.: 21-24). Die Sprache (langue) als ein System gesellschaftlicher Konventionen kann nach Saussure nicht durch die Individuen verändert werden, sondern ist innerhalb einer Sprachgemeinschaft weitgehend unveränderlich. Sprache wird also gedacht wie ein Netz (Phillips und Jørgensen 2002: 11) – jedes Zeichen hat eine feste Position wie die Knoten in einem Fischernetz (s. Abbildung 6). Veränderung ist im Konzept von 65
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Saussure zwar möglich, wird allerdings eher vage mit der Umgestaltung des Verhältnisses zwischen Signifikant und Signifikat in der Zeit konzeptualisiert (2001 [1916]: 87-91). Abbildung 6: Die Fixierung von Bedeutung in einer strukturalistischen Perspektive
Saussure hat in seinem Cours de linguistique générale bereits den Anspruch formuliert, dass sein Konzept von Sprache als System von Zeichen die Grundlage lege für eine neue Wissenschaft, die Semeologie. Die Semeologie sei die „Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht“ (ebd.: 19). Letztlich ließen sich „…symbolische Riten, Höflichkeitsformen, militärische Signale usw.“ wie Sprache als System von Zeichen analysieren. Saussure entwirft also bereits die Übertragung strukturalistischen Denkens auf das Feld nicht-sprachlicher Bedeutungssysteme und damit letztlich des Sozialen insgesamt. Ab den 1950er Jahren legen der Anthropologe Claude Lévi-Strauss und der Kulturkritiker Roland Barthes entsprechende Arbeiten vor. So arbeitet Lévi-Strauss Strukturen verwandtschaftlicher Beziehung heraus und analysiert diese wie sprachliche Strukturen (LéviStrauss 1971, 1993). Roland Barthes greift 1957 den Vorschlag zur Konstitution der Semeologie auf und wendet sich der Analyse eines nichtsprachlichen Bedeutungssystems zu – der Mode (Barthes 1985: 2, 7 ff.). Anstelle von Semeologie hat sich für die Analyse nicht-
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sprachlicher Bedeutungssysteme allerdings der Begriff Semiotik etabliert. Fazit: Im strukturalistischen Denken wird Bedeutung als ein Effekt der Differenzierung von Einheiten gedacht, die für sich alleine ohne Bedeutung sind. Bedeutung wird danach als analysierbarer und eindeutig identifizierbarer Effekt einer Struktur betrachtet. Auf die Kategorie des Subjekts als Sinnstifter kann im strukturalistischen Denken daher verzichtet werden. Die Semiotik überträgt die sprachtheoretischen Ansätze Saussures auf nicht-sprachliche Bedeutungssysteme.
3.1.2 Weiterführung, Kritik und Radikalisierung strukturalistischen Denkens im Poststrukturalismus: Bedeutung als fragil und niemals endgültig fixiert Die späten Publikationen von Roland Barthes sowie die Arbeiten von Jacques Derrida haben die Konzepte des Strukturalismus weiter entwickelt, radikalisiert und hinterfragt, indem sie die Kontingenz der Beziehung zwischen Signifikant („Bezeichnendes“) und Signifikat („Bezeichnetem“) betonen und damit die Grundlagen für ein Denken legen, das vielfach als Poststrukturalismus bezeichnet wird. Während Roland Barthes in seinen frühen Arbeiten (Barthes 1957) die Überlegungen von Saussure noch insofern ergänzt, als er in Anlehnung an den Linguisten Hjemslev neben der Denotation als der primären Bedeutungszuschreibung die Konnotation als latente Nebenbedeutungen stellt, geht er in seinen späteren Arbeiten grundsätzlich über Saussure hinaus. Er betont die Vielfalt an möglichen Verweisen und die Mehrdeutigkeit jedes Signifikanten. Eine Grenze zwischen Denotation und Konnotation könne nicht gezogen werden, abschließende und eindeutige Interpretationen seien unmöglich und letztlich sei jeder Text „plural“ (Barthes 1987: 7 ff.). Auch Jacques Derrida geht insofern von den Überlegungen Saussures aus, als er Bedeutung als den Effekt von Differenzierung betrachtet. Er wertet gegenüber Saussure allerdings die Stellungen der Signifikanten auf. Nach Derrida erklärt sich das Verhältnis des Signifikats zu einem Signifikanten „aus dessen Abgrenzung zu anderen Signifikanten“ (Münker und Roesler 2000: 43). Letztlich entkommt damit „kein Signifikat [...] dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten. [...] Das Signifikat fungiere seit je als Signifikant.“ (Derrida 1983: 17). Man kann die Überlegung anhand der Funktion eines Wörterbuches veranschaulichen: Jeder Eintrag wird mit dem Verweis auf andere Einträge erläutert und diese wieder mit Verweis auf andere Einträge und so fort. 67
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Konsequenz ist, dass es kein ursprüngliches, „transzendentales“ Signifikat geben könne, denn dieses müsste ja außerhalb der Differenzierung stehen und wäre nicht mehr als Effekt der Differenzierung beschreibbar (Münker und Roesler 2000: 43). Derrida lehnt daher die strukturalistische Vorstellung ab, dass jeder Signifikant im Zusammenspiel mit den differierenden Signifikanten eine eindeutig zu bestimmende Bedeutung habe. Letztlich sei Bedeutung niemals feststehend, da jeder Signifikant immer auf verschiedene vorausgegangene oder nachfolgende Signifikanten verweist (s. Abbildung 7). Abbildung 7: Scheitern fixierter Bedeutung in der Perspektive des Poststrukturalismus
Entwurf: Glasze, Zeichnung: Samstag/Weber
Differenzbeziehung
Signifikanten
... in unterschiedlichen Kontexten
... in unterschiedlichen Kontexten
Mit dem Neologismus différance verdeutlicht Derrida, dass einerseits Differenzierung die Voraussetzung von Bedeutung ist, aber gleichzeitig der Prozess des Unterscheidens diese Differenzierung erst erzeugt. Derrida ersetzt dabei das lexikalisch korrekte Substantiv différence (Differenz) durch das im Französischen gleich klingende différance. Er spielt damit an auf das Verb différer, welches sowohl für „etwas auf später verschieben“ als auch für „nicht identisch sein“ steht und will damit zeigen, dass die Differenzbeziehungen niemals fixiert sind, sondern immer weiter verweisen. Das „a“ in différance leitet Derrida vom Partizip Präsens ab (différant) und spielt damit auf die „Aktivität“ des différer im 68
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Sinne von unterscheiden und verweisen an, die dann die Unterschiedlichkeit (différence) hervorbringe. Die Endung „ance“ steht nach Derrida dabei „unentschieden zwischen dem Aktiv und dem Passiv“ (Derrida 1999: 36 f.). Die différance spielt damit also „auf die unentscheidbare, nicht-synthetische Alternation zwischen der Perspektive der Struktur und des Ereignisses an“ (Culler 1988: 108). Derrida verdeutlicht die Unmöglichkeit fixierter Bedeutungen auch anhand der „Iterabilität“. Während strukturalistische Arbeiten einseitig davon ausgehen, dass die Wiederholung eines Zeichens dessen Bedeutung konsolidiert, weist Derrida auch daraufhin, dass Wiederholung immer mit einer Bedeutungsverschiebung verbunden ist (Zima 1994, Münker und Roesler 2000). Das heißt, ein Signifikant differiert nicht – wie vom Strukturalismus angenommen – von einem feststehenden Set von Signifikanten, sondern immer wieder von anderen Signifikanten. In einem solchen offenen Verweisungszusammenhang wandeln sich Bedeutungen permanent (Zima 1994: 41 f.). So ist auch zu erklären, dass ein und dasselbe Wort (lexem) in verschiedenen Kontexten immer wieder unterschiedliche Bedeutungen hat. So ändert sich beispielsweise die Bedeutung des Wortes „Hund“, je nachdem, ob im Kontext von Tieren in einem Hundesportverein oder bspw. von Autohändlern die Rede ist – ohne dass aber dann jeweils genau eine Bedeutung feststehen würde. Im Gegensatz zu hermeneutischen Ansätzen, hält Derrida daher jegliche Letztfundierung (d. h. eine „wahre Bedeutung“) und damit Verstehen letztlich für unmöglich. Der Hermeneutik stellt er die Dekonstruktion als Praxis einer nicht abschließbaren Interpretation von Texten gegenüber. Fazit: Poststrukturalistische Ansätze gehen wie strukturalistische Ansätze davon aus, dass Bedeutung ein Effekt von Differenzierung ist. Im Gegensatz zum Strukturalismus betonen die poststrukturalistischen Arbeiten jedoch, dass je nach Kontext unterschiedliche Differenzierungen und damit immer wieder neue Bedeutungen möglich sind. Die Suche des Strukturalismus nach invarianten und ewig gültigen Gesetzen muss daher scheitern.
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3.1.3 Der Diskursbegriff bei Michel Foucault: Diskurse als historisch kontingente Sagbarkeitsräume Vor dem Hintergrund der Etablierung des Strukturalismus und dessen Kritik in poststrukturalistischen Ansätzen hat Michel Foucault seit den 1960er Jahren das Konzept von Diskursen als Aussagesystemen entwickelt. Dieses Konzept wurde zu einer wichtigen Grundlage der so genannten „Französischen Schule der Diskursanalyse“: einer interdisziplinären, aber insgesamt stark sprachwissenschaftlich orientierten Forschungsrichtung (Maingueneau 1991: 14). In den englischsprachigen Kulturwissenschaften wurde der Foucault’sche Diskursbegriff zunächst v. a. in den Literaturwissenschaften aufgegriffen und zu einem der zentralen Begriffe des cultural turn erhoben. In diesen Kontext lässt sich auch die Foucault-Rezeption in der englischsprachigen Humangeographie, wie bspw. den critical geopolitics, einordnen (Dodds und Sidaway 1994; s. Kapitel 2.2.3). Seit den 1980er Jahren entwickeln Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler wie Judith Butler und Ernesto Laclau gesellschaftstheoretische Ansätze, die sich u. a. auf den Foucault’schen Diskursbegriff beziehen. In den deutschsprachigen Sozialwissenschaften war „die Foucault-Rezeption lange Zeit eine Angelegenheit einiger semi- oder außeruniversitärer Diskussionszirkel“ und erst eine „zweite Rezeptionswelle, die Mitte der 1990er Jahre einsetzte, hat Foucault als eine anerkannte Figur in den Sozialwissenschaften etabliert“ (Angermüller 2004b: 14). Diese „zweite“ Rezeption verlief vielfach v. a. indirekt über die Foucault-Rezeption in der englischsprachigen Debatte um den Postkolonialismus, neuere (post-)feministische Theorien und den cultural studies (s. Kapitel 2.2.3). Im Rahmen des sich seit den 1990er Jahren etablierenden Feldes einer empirisch ausgerichteten „Sozialwissenschaftlichen Diskursforschung“ (einen Überblick bieten die Handbücher von Keller, Hirseland, Schneider, et al. 2001, 2003) wird vermehrt auch eine Auseinandersetzung mit den Originaltexten von Foucault gesucht, wobei sich diese Auseinandersetzung allerdings vielfach auf Foucault selbst beschränkt und der Kontext, in dem diese Arbeiten entstanden sind, (noch) kaum wahrgenommen wird (Angermüller 2007). Foucault geht in „Die Ordnung der Dinge“ von einem wissenschaftshistorisch-epistemologischen Interesse aus (1971). Er fragt sich, wie in einer bestimmten Epoche „die Kohärenz und die Wahrheitsfähigkeit (Evidenz)“ wissenschaftlicher Diskurse hergestellt wird (Diaz-Bone 2002: 75). Mit dem Begriff der Episteme bezeichnet Foucault dabei das Ensemble der Zusammenhänge zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Diskursen einer Epoche (2005 [1972], Bd. II, Text 109). 70
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Die Episteme seien das „Mittelgebiet“ zwischen der unmittelbaren Erfahrung und der (wissenschaftlich-) reflektierenden Erkenntnis. Die Episteme gehen aber in gewisser Weise der Erfahrung voraus, da sie diese strukturieren: „Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wieder finden wird.“ (Foucault 1971: 22)
Indem er Regelmäßigkeiten in wissenschaftlichen Texten untersucht, will Foucault gleichsam archäologisch die Grundstrukturen der Wissensordnung einer bestimmten Epoche rekonstruieren. Er zeigt sich dabei in hohem Maße vom Strukturalismus beeinflusst (Marti 1999: 55 ff.; Münker und Roesler 2000: 24). Im Gegensatz zur dezidiert strukturalistischen Anthropologie von Lévi-Strauss sucht Foucault allerdings nicht universale, sondern historisch situierte Strukturen. In der „Archäologie des Wissens“ öffnet Foucault die strukturalistische Grundperspektive weiter, indem er die Ereignishaftigkeit von Aussagen betont (1973: 43). Die Idee der Episteme als Grundstruktur von Wissensordnungen tritt zurück und Foucault setzt den Begriff des Diskurses als Aussagesystem ins Zentrum seiner Überlegungen. Nicht zuletzt will er Konzepte wie „Tradition“, „Mentalität“ und „Geist“ (einer Epoche) meiden, da diese eine Strukturierung von Wissensordnungen ohne empirische Überprüfung auf individuelle Subjekte, ein kollektives Bewusstsein oder eine transzendentale Subjektivität zurückführen (ebd.: 177). Er plädiert hingegen für die „reine Beschreibung“ (ebd.: 41) der endlichen Menge von Aussagen, die tatsächlich geäußert wurden. In diesem Sinne sieht er sich als „fröhlicher Positivist“ (ebd.: 182). Den Begriff der Aussage (im frz. Original énoncé) unterscheidet Foucault von den Begriffen der Proposition (dem Informationsgehalt), des Satzes und des Sprechaktes (ebd.: 115 ff.). Eine Aussage im Foucault’schen Sinne könne „irgendeine Folge von Zeichen, von Figuren, von Graphismen oder Spuren“ (ebd.: 123) sein, die nicht unbedingt den Regeln der Sprache entsprechen müsse (ebd.: 125). Voraussetzung sei allerdings, dass die Folge von Zeichen eine spezifische Beziehung „zu etwas anderem“ hat, wobei dieses andere weder ihre Ursache noch ihre Elemente sind (ebd.: 129). Foucault verdeutlicht diese „Beziehung“ durch die Unterscheidung zwischen der Tastatur einer Schreibmaschine, die keine Aussage sei und der Buchstabenfolge „A, Z, E, R, T, in einem
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Lehrbuch für Schreibmaschinen“ welche die Aussage der alphabetischen Ordnung französischer Schreibmaschinen sei (ebd.: 125 ff.). Der Diskurs bei Foucault ist nicht einfach eine „Gesamtheit von Zeichen“, sondern eine Praxis, „die systematisch die Gegenstände bildet“, von denen sie spricht. „Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muss man ans Licht bringen und beschreiben“ (ebd.: 74). Das zitierte „mehr“ fasst Foucault als diskursive Praxis. Die diskursive Praxis konzipiert er als das Regelsystem, das sich in der Gesamtheit aller Aussagen realisiert. Seine Analyse zielt also darauf, diese Regeln der Aussagenproduktion herauszuarbeiten (dazu auch Diaz-Bone 2002: 78). Wie kommt es, dass gerade jene und keine andere Aussage in einem Zusammenhang von Aussagen geäußert wurde? Welche Mechanismen stabilisieren die Aussagenproduktion und „verknappen“ die möglichen Aussagen? „In der Analyse, die hier vorgeschlagen wird, haben die Formationsregeln ihren Platz nicht in der ‚Mentalität’ oder dem Bewusstsein der Individuen, sondern im Diskurs selbst; sie auferlegen sich folglich gemäß einer Art uniformer Anonymität allen Individuen, die in diesem diskursiven Feld sprechen.“ (Foucault 1973: 92).
Das Zitat macht den auf den ersten Blick mehrdeutig erscheinenden Regelbegriff Foucaults verständlich (kritisch zum Regelbegriff Foucaults auch: Howarth 2002). Einerseits beschreibt er Regeln als empirisch beobachtbare Regelmäßigkeiten (régularités) (z. B. Foucault 1973: 177f.), andererseits fasst er Regeln aber auch als Normen (régles), die vorschreiben, „was in einer diskursiven Praxis in Beziehung gesetzt werden muss“ (z. B. ebd.: 108). Die Regelmäßigkeiten der Aussagen sind für Foucault also die Regeln für neue Aussagen. Um zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Kontext als sinnvoll und wahr akzeptiert zu werden, müssen Aussagen bestimmten Regeln folgen. Gleichzeitig sind Aussagen durch ihre Einmaligkeit gekennzeichnet. In Diskursen erfolgt somit eine – immer nur temporäre – Fixierung von Bedeutungen. Die Regelmäßigkeit der Aussagen wird also „durch die diskursive Formation selbst definiert“ (ebd.: 170). Foucault sucht die Ursachen für eine bestimmte Regelmäßigkeit von Aussagen nicht „hinter“ dem Diskurs, sondern geht davon aus, dass das System von Aussagen selbst den Kontext bildet, der bestimmte Aussagen ermöglicht. Er will „die Koexistenz dieser verstreuten und heterogenen Aussagen“ untersuchen, 72
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„das System, das ihre Verteilung beherrscht, die Stütze, die sie sich gegenseitig bieten, die Weise, wie sie sich implizieren oder ausschließen, die Transformation, der sie unterliegen, den Mechanismus, wie sie sich abwechseln, sich anordnen und sich ersetzen“ (ebd.: 52, dazu auch DiazBone 2002: 81). Wie Angermüller 2007 zeigt, steht der Begriff der Aussage bei Foucault „janusköpfig“ zwischen der Ebene eines Zeichens im Sinne des (Post-)Strukturalismus und der Ebene eines spezifischen Geschehnis im Sinne der Pragmatik. Einige Autoren haben vorgeschlagen, das Foucault’sche Konzept hier mit etablierten sozialwissenschaftlichen Konzepten zusammenzuführen und die „Regeln“ in den Praktiken der sozialen Akteure zu verorten (Keller 2005). Die im Folgenden dargestellte Diskurstheorie von Laclau und Mouffe ordnet sich hingegen dezidiert in die (post-)strukturalistische Theorieentwicklung ein. Fazit: Nach Foucault müssen Aussagen bestimmten Regeln folgen, um zu einem bestimmten Zeitpunkt als sinnvoll und wahr akzeptiert zu werden. Er geht also davon aus, dass das System von Aussagen selbst den Kontext bildet, der bestimmte und nur diese Aussagen ermöglicht. Gleichzeitig sind Aussagen durch ihre Einmaligkeit gekennzeichnet. Diskurse können daher als eine temporäre Fixierung von Bedeutungen angesehen werden.
3.2 Die Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe 3.2.1 Weiterführung und Präzisierung des Diskursbegriffs Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entwickeln seit Mitte der 1980er Jahre eine Diskurstheorie, die auf dem Foucault’schen Diskurskonzept, den Konzepten des Poststrukturalismus und einer Weiterentwicklung des (post-)marxistischen Hegemoniekonzepts aufbaut (Laclau und Mouffe 2001). Im Anschluss an die Überlegungen Derridas gehen sie davon aus, dass Bedeutungen niemals endgültig fixiert werden können und daher auch Identitäten und gesellschaftliche Beziehungen letztlich immer kontingent sind. Gesellschaftliche Strukturen können nicht auf irgendein unverrückbares Fundament wie eine „göttliche Ordnung“ oder das „Gesetz der Ökonomie“ zurückgeführt werden. Die Unmöglichkeit einer endgültigen Fixierung bedeute gleichzeitig, dass immer neue partielle, temporäre Fixierungen möglich und notwendig werden. Sie ist Grundlage für die fortwährenden Auseinandersetzungen um soziale Be73
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ziehungen und Identitäten. Die provokative These in ihrem Buch Hegemony and socialist strategy lautet daher, dass Gesellschaft als umfassende, prädiskursive Grundlage aller gesellschaftlichen Prozesse nicht existiert (Laclau und Mouffe 1985: 108 ff.). Diese Unmöglichkeit einer umfassenden, fixierten gesellschaftlichen Struktur sehen die beiden als die Grundlage für die fortwährenden Auseinandersetzungen um soziale Beziehungen und Identitäten (ebd.: 112). Die Unmöglichkeit einer endgültigen Fixierung bedeutet also gleichzeitig, dass es immer neue partielle, temporäre Fixierungen geben muss. Hier führen Laclau und Mouffe den Diskursbegriff ein: „Any discourse is constituted as an attempt [...] to arrest the flow of differences“ (ebd.). Sie beziehen sich dabei explizit auf den Diskursbegriff in der „Archäologie des Wissens“ (ebd.: 105). Allerdings unterscheidet sich ihr Diskurskonzept in zwei Punkten grundsätzlich von demjenigen Foucaults. Erstens gehen Laclau und Mouffe konsequenter als Foucault über den Bereich der Sprache hinaus: Für die beiden Politikwissenschaftler gibt es im Gegensatz zu Foucault keinen Bereich des Außer- bzw. Vordiskursiven.2 Vielmehr sind nach der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe alle sozialen Beziehungen die letztlich immer fragilen und temporären Ergebnisse diskursiver Auseinandersetzungen. Die Vorstellung, dass jedes Objekt, jedes soziale Phänomen ein Objekt des Diskurses ist, muss dabei allerdings nicht bedeuten, dass es keine Welt außerhalb von Sprache und Gedanken gibt: „An earthquake or the falling of a brick is an event that certainly exists, in the sense that it occurs here and now, independently of my will. But whether their specificity as objects is constructed in terms of ‘natural phenomena’ or ‘expressions of the wrath of God’, depends upon the structuring of a discursive field. What is denied is not that such objects exist externally to thought, but 2
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Foucault unterscheidet in der „Archäologie des Wissens“ zwischen diskursiven (d. h. sprachlichen und anderen symbolischen) und nichtdiskursiven Praktiken: „Die archäologische Analyse individualisiert und beschreibt diskursive Formationen. Das heißt, sie muß sie in der Gleichzeitigkeit, in der sie sich präsentieren, konfrontieren und sie einander gegenüberstellen, sie von denen unterscheiden, die nicht dieselbe Zeitrechnung haben, sie in ihrer Spezifität mit den nicht diskursiven Praktiken in Beziehung setzen, die sie umgeben und ihnen als allgemeines Element dienen“ (Foucault 1973: 224). Allerdings ist Foucaults Positionierung zu der Frage, ob sich Sphären des Diskursiven bzw. Nicht-Diskursiven unterscheiden lassen, keineswegs eindeutig. So bemerkt er in einer Fachdiskussion mit Kollegen, auf die Unterscheidung diskursiv/nicht-diskursiv angesprochen, es sei „kaum von Bedeutung, zu sagen: das hier ist diskursiv und das nicht“ (Foucault 1978: 125, vgl. dazu ausführlicher Jäger 2001: 90ff.; Bührmann und Schneider 2008 : 47f.).
POLITISCHES KONZEPT VON IDENTITÄTEN UND VON RÄUMEN
the rather different assertion that they could constitute themselves as objects outside of any discursive condition of emergence“ (Laclau und Mouffe 1985: 108).
Laclau und Mouffe argumentieren dabei nicht radikalkonstruktivistisch – sie gehen also nicht davon aus, dass es keine Welt jenseits der Diskurse gebe. Aber eine solche Welt werde für die Menschen nur dann bedeutungsvoll, wenn sie diskursiv von den Menschen und für die Menschen mit Sinn versehen wird (s. das Beispiel mit dem Erdbeben im Zitat oben). Insofern ist die Diskurstheorie eine Gesellschaftstheorie. Der Diskursbegriff von Laclau und Mouffe umfasst dabei sowohl „die Artikulation von Wörtern als auch von Handlungen“ (Laclau 2005: 106). Laclau veranschaulicht dies mit der Kooperation zweier Bauarbeiter: Der eine bittet den anderen, ihm einen Ziegelstein zu reichen. Obwohl nun die Frage als sprachlich und das Herüberreichen als außersprachlich beschrieben werden können, so sind beide Praktiken doch Teil eines größeren Zusammenhangs „Hausbau“, und genau die Qualität dieser Verknüpfung in größere Zusammenhänge macht beide Praktiken zum Teil eines Diskurses (Laclau 1990a: 100). Zweitens betont Laclau gerade die Bedeutung der Abgrenzung eines Diskurses (s. u.) und werfen Foucault vor, dass seine Idee der diskursiven Formation als einer „Regelmäßigkeit der Streuung von Aussagen“ (régularité dans la dispersion des énoncés) es letztlich unmöglich mache, die Grenze eines Diskurses zu bestimmen (Laclau 1993: 434). Um analytisch zwischen Entitäten unterscheiden zu können, die außerhalb bzw. innerhalb des Diskurses stehen, führen Laclau und Mouffe inneralb ihrer Theorie die Differenzierung zwischen „Elementen“ und „Momenten“ ein. Als „Momente“ beschreiben sie all jene Differenzierungen, deren Bedeutung in einem spezifischen Diskurs partiell fixiert wurde. Im „Feld der Diskursivität“ gibt es hingegen einen Überschuss an Bedeutungen. Diese Bedeutungen, welche in anderen Diskursen existierten bzw. existieren, bezeichnen sie als „Elemente“. Die Praktiken, die eine Beziehung zwischen Elementen herstellen, so dass deren Identität verändert wird, nennen sie „Artikulation“.3 Auf diese Weise können sie ihren Diskursbegriff wie folgt präzisieren: „The structured totality resulting from the articulatory practice, we will call discourse.“ (1985: 3
Im Englischen (wie auch im Französischen) wird mit dem Wort „artikulieren“ nicht nur die Bedeutung „aussagen“ und „formulieren“ transportiert, sondern gleichzeitig auch die Bedeutung „verbinden“ („durch ein Gelenk zusammenfügen“). Die deutsche Übersetzung kann daher die sowohl sprachliche als materielle Bedeutung des Konzepts „Artikulation“ nur teilweise wiedergeben.
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105). Ein Diskurs ist also der Versuch, die Bedeutung von Elementen zu fixieren und sie somit in die Momente eines Diskurses umzuwandeln. Diese Umwandlung ist allerdings niemals vollständig und damit scheitert letztlich jede Identität: „The status of the ‘elements’ is that of floating signifiers, incapable of being wholly articulated to a discursive chain. And this floating character finally penetrates every discursive (i.e. social) identity.“ (ebd.: 113). Fazit: Ein Diskurs kann bei Laclau und Mouffe als eine Fixierung in einem Netz von Differenzbeziehungen interpretiert werden und damit letztlich als eine Struktur im Sinne Saussures. Im Unterschied zu Saussure und in Anlehnung an die Konzepte des Poststrukturalismus verneinen Laclau und Mouffe jedoch die Möglichkeit einer geschlossenen Struktur. Ein Diskurs leistet danach immer nur eine partielle und temporäre Fixierung. Im Feld der Diskursivität gibt es immer einen Überschuss an Bedeutungen, die in neuen Artikulationen aktualisiert werden können und so die Struktur eines Diskurses verändern. Laclau und Mouffe trennen im Gegensatz zu Foucault nicht einen Bereich des Diskursiven von einem Außer- bzw. Vordiskursiven. Vielmehr sind nach der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe alle sozialen Beziehungen die kontingenten und letztlich immer temporären Ergebnisse diskursiver Auseinandersetzungen. Der Diskursbegriff von Laclau und Mouffe umfasst damit sowohl sprachliche als auch nichtsprachliche Artikulationen.
3.2.2 Neuformulierung einer Hegemonietheorie Die Weiterführung des Diskurskonzeptes führen Laclau und Mouffe mit einer Kritik des historischen Materialismus zusammen und formulieren auf dieser Basis eine neue Hegemonietheorie. Die intensive Beschäftigung mit den theoretischen Konzepten des Marxismus erklärt sich aus der intellektuellen Biographie der beiden Politikwissenschaftler. Ernesto Laclau war Anfang der 1960er Jahre Aktivist in der Sozialistischen Partei Argentiniens und später Herausgeber der Parteizeitschrift einer kleineren sozialistischen Partei. Seit Ende der 1960er Jahre setzt er sich zunehmend kritisch mit der Tendenz einiger marxistischer Ansätze auseinander, soziale Konflikte zum einen letztlich immer auf einen Klassenkonflikt zurückzuführen (Klassenreduktionismus) und damit zum anderen der Ökonomie eine determinierende Rolle für alles Soziale einzuräumen (ökonomischer Determinismus). Ende der 1960er Jahre emigrierte er nach Großbritannien, wo er in Politikwissenschaft promovier76
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te. Chantal Mouffe engagierte sich in den 1960er Jahren in der belgischen Studentenbewegung. Nach dem Umzug nach Paris Mitte der 1960er Jahre besuchte sie Vorlesungen von Louis Althusser und wurde Mitglied in mehreren anti-imperialistischen Lateinamerikagruppen. Seit den 1970er Jahren publizieren die beiden zunächst getrennt zu Weiterentwicklungen marxistischer Konzepte (einen Überblick über den intellektuellen Werdegang der beiden bietet Torfing 1999: 15 ff.). In Hegemony and socialist strategy kritisieren Laclau und Mouffe 1985 jene marxistischen Ansätze, welche v. a. im Rahmen der Ersten und Zweiten Internationale entwickelt wurden und welche „den Anspruch erheben, die Totalität gesellschaftlicher Phänomene zu erklären, indem sie letztere auf ökonomische Basisprozesse zurückführen (ökonomischer Determinismus) und einer historischen Teleologie einschreiben (‚Gesetze der Geschichte’), derzufolge eine einzige Klasse aufgrund ihrer ökonomischen Position dazu bestimmt sei (Klassenreduktionismus), die Menschheit qua Revolution ein für allemal zu befreien (Revolutionismus)“ (Marchart 2007). Die Basis, d. h. die Ökonomie, determiniere also den Überbau, d. h. das Rechts- und Bildungssystem, die Medien etc.. Die Ökonomie bestimme damit die wahre Identität gesellschaftlicher Gruppen – im Kapitalismus bringe sie die Gliederung der Gesellschaft in Klassen hervor. Der Überbau sei im Kapitalismus von einer Ideologie bestimmt, welche das kapitalistische System stütze. Da das Bewusstsein der Arbeiterklasse von dieser Ideologie geformt werde, könne sie ihr wahres Interesse nicht erkennen und leide an „falschem Bewusstsein“. Nach Laclau und Mouffe 1985 habe die Differenzierung von Basis und Überbau dazu geführt, dass in diesen marxistischen Ansätzen die Ökonomie als ein Bereich konzipiert wurde, dessen interne Strukturen feststehen, der daher gerade nicht durch politische Auseinandersetzungen geprägt sei und als Fundament, als Basis alles Sozialem gedacht wurde (1985: 7 ff.). Der daraus resultierende Determinismus untergrabe damit aber letztlich die Konzeption des Politischen. Solange von einem Überbau ausgegangen werde, der durch die Ökonomie determiniert werde, bleibt kein Raum für Politik oder wie der LaclauSchüler Torfing 1999 schreibt: „the political theory of Marxism invokes the disappearance of politics“ (19). Laclau und Mouffe zeigen, dass Antonio Gramsci diese deterministische Sichtweise teilweise aufgebrochen hat (1985: 7 ff). Mit dem Begriff der Hegemonie entwarf der italienische Marxist in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ein Konzept, um die politischen Auseinandersetzungen innerhalb des Überbaus fassen zu können und löste sich damit von der Vorstellung einer mechanistischen Determinierung des Überbaus durch die Ökonomie. Hegemonie ist nach Gramsci die Fähigkeit 77
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der herrschenden Klasse, die Gesellschaft moralisch und intellektuell zu führen, indem es dieser gelingt, ihre Überzeugungen als „kollektiven Willen“ zu etablieren, der zum Zement eines „historischen Blocks“ wird – einer Allianz gesellschaftlicher Kräfte (ebd.: 67, Torfing 1999, Demirovic 2007). Nach Gramsci muss die herrschende Klasse dabei über die korporativ-ökonomische Solidarität, die bspw. einen Kaufmann mit einem anderen Kaufmann verbinde, hinausgehen: „Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, dass den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, dass sich ein gewisses Gleichgewicht der Kompromisse herausbildet, dass also die führende Gruppe Opfer korporativökonomischer Art bringt, aber es besteht kein Zweifel, dass solche Opfer und ein solcher Kompromiss nicht das Wesentliche betreffen könne, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivitäten ausübt“ (Gramsci 1991: Gefängnishefte H. 13 §18: 1567 zit. n. Demirovic 2007).
Gramsci hinterfragte also nicht die Gegebenheit von Klassen. In seiner Perspektive bringt die Ökonomie Klassen hervor und diese Klassen haben wahre Interessen (Gramsci 1986:180 f.). Laclau und Mouffe kritisieren daher, dass Gramsci in letzter Instanz dem ökonomischen Determinismus verpflichtet bleibe (69). Sie „befreien“ das Hegemonie-Konzept von diesen „Resten“ eines ökonomischen Essentialismus: Hegemonie definieren sie als die Expansion eines Diskurses zu einem dominanten Horizont sozialer Orientierung. Die Entwicklung von diskursiven Auseinandersetzungen zur sozialen Wirklichkeit wird in hegemonialen Interventionen realisiert, wobei alternative Perspektiven unterdrückt werden und auf diese Weise eine spezifische soziale Wirklichkeit naturalisiert wird (Phillips und Jørgensen 2002: 36). Soziale Wirklichkeit ist danach also in keiner Weise determiniert, sondern radikal kontingent: „It is not the case that the field of the economy is a self-regulated space subject to endogenous laws; nor does there exist a constitutive principle for social agents which can be fixed in an ultimate class core; nor are class positions the necessary location of historical interests“ (Laclau und Mouffe 1985: 85). Auch wenn der Ausgangspunkt von Laclau und Mouffe also strikt anti-essenzialistisch ist, d. h. ohne Vorstellungen eines ökonomischen Determinismus oder von Interessenskonflikten vordiskursiv bestehender Klassensubjekte auskommt, teilen sie doch das Forschungsinteresse marxistischer Theo78
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rien an der Analyse und Kritik gesellschaftlicher Machtverhältnisse und verstehen sich in diesem Sinne als postmarxistisch. Das Soziale nennt Laclau unter Bezugnahme auf eine Begrifflichkeit von Husserl „sedimentierte Diskurse“ (1990a: 34 f.). Die soziale Wirklichkeit entsteht nach Laclau durch eine Routinisierung und ein Vergessen des Aktes der Instituierung. Das Politische geht also immer dem Sozialen voraus: “the political is [...] the anatomy of the social world, because it is the moment of the institution of the social. Not everything in society is political, because we have many sedimented forms which have blurred the traces of their original political institution…“ (Laclau 2005). Letztlich scheitert jeder Versuch, eine permanente und universelle soziale Wirklichkeit zu etablieren. Ereignisse, die nicht in der bestehenden Struktur verarbeitet werden können, unterminieren die Struktur – Laclau spricht von Dislokationen (ebd.: 40 f.). Dislokationen schaffen Situationen, die nicht aus der bestehenden sozialen Wirklichkeit heraus bearbeitet werden können, sondern radikal unentscheidbar sind und daher in einem politischen Akt entschieden werden müssen. Dies bedeutet nicht, dass jederzeit alles möglich wäre, denn jeder politische Akt findet vor dem Hintergrund sedimentierter Praktiken statt – muss sich also in die soziale Wirklichkeit einschreiben. Für den Erfolg eines spezifischen Diskurses ist nach Laclau entscheidend, dass er in einer bestimmten historischen Situation überhaupt zur Verfügung steht (availability) und in einer bestimmten historischen Situation eine glaubwürdige Lösung (credibility) zur Überwindung der Krise, d. h. der Dislokation, bietet. Je tiefgreifender die Dislokation einer Struktur ist, umso größer werden die Möglichkeiten für Reartikulationen (Laclau 1990a). Vor dem Hintergrund diskursiver Auseinandersetzungen ist dann die Herstellung (einer neuen und letztlich wieder unmöglichen) sozialen Wirklichkeit durch einen partikularen Diskurs ein hegemonialer Akt und gleichzusetzen mit Macht. Fazit: Laclau und Mouffe setzen sich intensiv mit der Ideengeschichte des Marxismus auseinander. Sie wenden sich gegen die Vorstellung, dass alle gesellschaftlichen Strukturen von einer unverrückbaren Basis determiniert werden – wie bspw. in einigen marxistischen Ansätzen von der Ökonomie. Mit ihrer Weiterentwicklung des Hegemoniebegriffs und dessen Integration in die Diskurstheorie legen sie eine Politische Theorie vor, die ohne solche Essentialisierungen auskommt. Hegemonie definieren sie als „besonders erfolgreichen“ Diskurs, der bestimmte Bedeutungen, eine bestimmte Weltsicht, als natürlich gegeben erscheinen lässt, d. h. als soziale Wirklichkeit konstituiert. 79
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3.2.3 Ein politisches Konzept von Identitäten Die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe ermöglicht es, die Konstitution von individuellen und kollektiven Identitäten zu konzeptualisieren, ohne auf die essenzialistische Vorstellung von Wesensmerkmalen zurückgreifen zu müssen. Identität wird als ein „articulated set of elements“ (Laclau 1990a: 32) konzipiert – als kontingente und temporäre Struktur, die verschiedene Elemente verbindet und auf diese Weise Einheit und Zugehörigkeit vor dem Hintergrund der Vielschichtigkeit sozialer Bruchlinien schafft. In Hegemony and socialist strategy greifen Laclau und Mouffe zunächst das Konzept der Subjektpositionen von Louis Althusser auf (Laclau und Mouffe 1985, 1993: 114ff.). Der marxistische Philosoph hatte das Konzept der „Anrufung“ (interpellation) als Alternative zur Idee des autonomen Subjekts entworfen. In dieser Perspektive werden Individuen durch die Ideologie „angerufen“, d. h. in bestimmte Subjektpositionen platziert. Institutionen, die Althusser als ideologische Staatsapparate bezeichnet – wie die Medien, das Bildungssystem oder die Familie – konstruieren die Überzeugung, dass die Individuen autonom seien, indem sie definieren und „lehren“, was eine Arbeiterin, ein Fabrikbesitzer, eine Schülerin etc. ist (Althusser 1977 [1970]: 140ff.; Scharmacher 2004). Die Anrufung bezeichnet Althusser als ideologisch, da sie die wahren sozialen Beziehungen verdeckt, welche er als durch die Ökonomie bestimmt ansieht. Wie gezeigt, gibt es für Laclau und Mouffe allerdings keine „wahren sozialen Beziehungen“ und keine ökonomische Determinierung von Subjektpositionen. Sie verwerfen daher das Konzept der Ideologie, da diese in marxistischen Ansätzen mit der Vorstellung eines ökonomischen Determinismus und der Idee verbunden wird, dass die Wissenschaft ideologische Verzerrungen „demaskieren“ könne, d. h. die „tatsächlichen“ ökonomischen Verhältnisse hinter sozialen Beziehungen aufdecken könne. Die Idee des nicht-autonomen Individuums, d. h. der Subjektpositionen, greifen sie hingegen auf und rücken an die Stelle des Ideologiebegriffs den Diskursbegriff (Laclau und Mouffe 1985: 115; Laclau 1996). Laclau und Mouffe gehen davon aus, dass ein Individuum von verschiedenen Diskursen, bspw. als Umweltschützerin, Mann, Christ, Französin, Schwarzer, Fußballfan etc., angerufen wird. Identität ist für Laclau und Mouffe die Identifikation mit einer diskursiv konstituierten Subjektposition. Letztlich scheitert aber jede Identifikation, weil keine Subjektposition eine vollkommene, ganze und endgültig fixierte Identität bieten kann. Die Idee des ganzen, autonomen und stabilen Subjekts interpretieren Laclau und Mouffe genauso wie die Idee einer determi80
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nierten und feststehenden Gesellschaftsstruktur als Wunsch nach einer letztlich unmöglichen Ganzheit (Laclau und Mouffe 1985: 121). In den späteren Publikationen, nach Hegemony and socialist strategy, vertieft v. a. Laclau die Idee des Wunsches nach Ganzheit – ein Wunsch der zwangsläufig immer scheitert: Angeregt durch den slowenischen Philosophen Slavoj Žižek setzt sich Laclau intensiver mit den Arbeiten des (post-)strukturalistischen Psychoanalytikers Jacques Lacan auseinander. Lacan geht davon aus, dass das Subjekt permanent nach Ganzheit strebt und dabei scheitert.4 Identität ist also für Lacan nicht auf einen Wesenskern zurückzuführen, sondern ist immer die Identifikation mit diskursiv konstituierten Subjektpositionen. Diese Subjektposition wird nach Lacan durch so genannte Polsterknöpfe (points de capiton) definiert. So wie die Knöpfe das Polster einer Couch festhalten, fixieren bestimmte Signifikanten eine Subjektposition – zumindest partiell und temporär (Stavrakakis 1999, Phillips und Jørgensen 2002: 42). Diese Vorstellung haben Laclau und Mouffe bereits in Hegemony and socialist strategy aufgegriffen (1985: 112). Privilegierte Signifikanten etablieren als „Knotenpunkte“ (nodal points) Signifikantenketten und fixieren so Bedeutung relational. So wird beispielsweise im traditionellen Patriarchatsdiskurs der Knotenpunkt „Mann“ mit anderen Signifikanten wie „Stärke“, „Vernunft“, „Fußball“ etc. äquivalent gesetzt.5 Die Bildung von sozialen Gemeinschaften verläuft entlang derselben Linien. Letztlich besteht kaum ein logischer Unterschied zwischen der Identifikation bspw. als Mann und der Identifikation mit einer Gemeinschaft der Männer (Phillips und Jørgensen 2002: 43 f.). Gemeinschaften 4
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Lacan verdeutlicht seine Überlegungen am Beispiel des Kleinkindes, das sich noch nicht als eigenständiges Subjekt wahrnimmt, aber in einem Zustand der Ganzheit und des Genießens (jouissance) lebt. Das Erkennen als eigenständiges Ich beschreibt Lacan mit der Metapher des Spiegels. Während des Spiegelstadiums sieht sich das Kind erstmals ganz in einem Spiegel und erkennt sich erfreut als eigenständiges und ganzes Lebewesen. Das Subjekt erkennt sich allerdings, in dem es sich mit etwas anderem, dem Bild im Spiegel, identifiziert, so dass mit dem Blick in den Spiegel gleichzeitig Identifikation und Entfremdung, d. h. das Scheitern der vollständigen Identität einhergeht (Stavrakakis 1999: 17f.). Mit dem Eintritt in die Welt der „Bilder“ und allgemein der Bedeutungsstrukturen tritt das Kind also gleichzeitig aus dem Zustand der Ganzheit und verliert den Zugang zum absoluten Genießen. Das letztlich immer scheiternde Streben nach Ganzheit und dem Zugang zum absoluten Genießen (jouissance) wird bestimmend für die Existenz des Subjekts. Subjekte sind danach in der Diskurstheorie insofern auch diskursive Elemente, als dass sie ihre Identität immer aus der Relationierung im Diskurs erfahren: „Individuen erscheinen immer als mit Sinn versehene, differente und spezifische Individuen, und damit erst in Diskursen als Subjekte“ (Nonhoff 2006: 156).
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werden danach in einem doppelten Prozess gebildet, der zum einen eine Äquivalenzkette ausbildet, welche die Differenzen innerhalb der Gemeinschaft aufhebt, und zum anderen eine antagonistische Grenze gegenüber dem Außen definiert. Die Äquivalenzkette und die antagonistische Grenze eines Diskurses werden von einem spezifischen Knotenpunkt repräsentiert: Dieser als Signifikant zu verstehende Knotenpunkt bricht die Logik der Differenz und ermöglicht so die Logik der Äquivalenz zwischen den Mitgliedern (s. Abbildung 8). Der Knotenpunkt müsse von jeglicher spezifischer Bedeutung entleert sein, da er sonst ja wieder in eine Differenzbeziehung treten würde und keine Äquivalenzbeziehung herstellen könne: Er repräsentiere die vollkommene, aber letztlich unmögliche Identität. Die Frage, welche Signifikanten zu einem bestimmten Zeitpunkt als leere Signifikanten funktionieren und wie diese (immer wieder) mit Bedeutung gefüllt werden, sei eine Frage hegemonialer Auseinandersetzung (Laclau 2002, Nonhoff 2006). Das Außen ist dabei in paradoxer Weise auf der einen Seite Existenzbedingung jeder Identität.6 Laclau spricht mit Bezug auf Derrida von dem „constitutive outside“ (1990a: 9, 17). Die gemeinsame Identität werde also durch den gemeinsamen Antagonismus gegenüber dem Außen hergestellt. Auf der anderen Seite blockiere das Außen die volle Ausbildung der Identität, indem es die Kontingenz dieser Identität zeige (ebd.: 21). Žižek weist unter Bezug auf Lacan allerdings darauf hin, dass jede Identität bereits „in sich selbst blockiert“ sei. Die „intrinsische, immanente Unmöglichkeit“ von Identität werde also auf ein Außen, einen antagonistischen Gegner, „projiziert“ (1998). Damit kommt es zu einer antagonistischen Zweiteilung des diskursiven Feldes (s. Abbildung 8). Dabei ist es allerdings zentral, die antagonistische Zweiteilung nicht als Konflikt zweier Akteure zu interpretieren, die aus einer Art außerdiskursiven bzw. außersozialen Adlerposition analysiert werden könnte. Die antagonistischen Zweiteilung ergibt sich hingegen immer nur aus einer bestimmten Perspektive, wird in dieser Form also sozusagen nur „von einer Seite“ artikuliert (Nonhoff 2006, Laclau 2007). Laclau hat diese hegemoniale Logik einmal mit dem SolidarnoĞü-Diskurs im Polen der 1980er Jahre veranschaulicht. Danach definierte SolidarnoĞü eine antagonistische Grenze gegenüber den Elementen Kommunismus und Unfreiheit. SolidarnoĞü wurde damit zum Kno6
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Laclau veranschaulicht dieses Argument mit der Konstitution verschiedenster Regionen von Marrokko, über Indien bis nach China als eine einzige Weltregion um den Knotenpunkt „Orient“. Eine Konstitution,. die nur möglich wird, weil „Orient“ dabei gleichbedeutend mit der Abgrenzung gegenüber „dem Westen“ ist: „Orient“ ist also gleich „NichtWesten“ (1990a: 32).
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tenpunkt aller anti-kommunistischen Elemente: Freiheit, polnische Ehre und Katholizismus. Abbildung 8: Die Beziehung von Signifikanten in der Perspektive der Diskurstheorie: temporäre Fixierung
Entwurf: Glasze, Zeichnung: Samstag, Weber
Differenzbeziehung zu bestimmter Zeit
Signifikanten zu bestimmter Zeit Knotenpunkt
Äquivalenzbeziehung
Antagonistische Grenze
Identität „mit sich selbst“ könne letztlich auch nach der Vernichtung eines antagonistischen Gegners niemals erreicht werden. In der Fortführung dieses Gedankens beschreiben die Laclau-Schüler Glynos und Stavrakakis 2004 das „Phantasma“, durch die Überwindung des Gegners eine vollkommene Identität erreichen zu können, als Antriebskraft der diskursiven Dynamik. In seinen neuesten Publikationen greift Laclau diese Überlegungen auf und betont die Rolle des Affekts als Antriebskraft für die Bemühung (investment) um eine vollkommene Identität (Laclau 2005).7 Die Etablierung einer neuen hegemonialen Ordnung und damit eines neuen Antagonismus wird dann notwendig, wenn die etablierte diskursive Ordnung destablisiert wird. Diesen Vorgang bezeichnet Laclau als 7
Damit eröffnet sich eine Chance, Affekt und Emotionalität innerhalb eines diskurstheoretischen Rahmens zu konzeptionalisieren und damit nicht wie in einigen der im Kontext des emotional turns entstandenen Arbeiten (für einen Überblick siehe Davidson, Bondi und Smith 2007) als ein vollkommen außer- oder vordiskursives Phänomen.
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Dislokation (1990a). Dislokationen sind danach Ereignisse, die nicht in einem bestehenden Diskurs dargestellt und integriert werden können. Sie brechen existierende Strukturen auf, unterminieren die determinierende Wirkung von Diskursen und machen damit die Ausbildung vollständiger, permanenter Identitäten unmöglich. Die Herausbildung eines Antagonismus ist eine mögliche – diskursive – Antwort auf die Dislokation, welche die Ursache für die Dislokation in einem antagonistischen Gegner verortet: „…antagonism is not only the experience of a limit to objectivity but also a first discursive attempt at mastering and reinscribing it”. (Laclau 2001 in einem Interview zit. n. Norris 2006). Die Versuche, die Dislokation zu überwinden und eine neue Struktur, eine neue „Objektivität“ und damit neue Identitäten zu konstituieren, indem die dislozierten Elemente reartikuliert werden, bezeichnet Laclau als Mythos (1990a). Die Faszination eines Mythos, bspw. des „verheißenen Landes“ oder der „idealen Gesellschaft“, leitet sich dabei unmittelbar von der Vorstellung einer Vollkommenheit ab, welche die Gegenwart gerade nicht bietet (ebd.: 63). Jedes soziale Kollektiv, jede politische Gemeinschaft beruht also Laclau und Mouffe zufolge auf einem Prozess der Grenzziehung, der den Diskurs in einen Bereich des „Eigenen“ und einen des „Anderen“ unterteilt. Dieser Mechanismus der Ausbildung antagonistischer Äquivalenzrelationen ist damit ein konstitutiver und notwendiger Bestandteil von Gesellschaft; sein jeweiliger Inhalt, also die Frage, welche Elemente hier mit Berufung auf welche Gemeinsamkeiten miteinander verknüpft werden, beruht jedoch auf keinerlei vordiskursiven Kausalitäten und ist Gegenstand hegemonialer Auseinandersetzungen. Gemeinschaften wie „die Basken“, „die Muslime“ und politische Zusammenschlüsse wie „die Gemeinschaft erdölexportierender Staaten“ etc. stellen danach also keine objektiv gegebenen oder zwingenden, quasi-natürlichen Zusammenschlüsse dar. Vielmehr beruhen sie auf spezifischen Abgrenzungsprozessen nach außen, durch die eine innere Einheit erst hergestellt wird. Die Diskurstheorie befähigt, die Idee von „vorgestellten Gemeinschaften“ (Anderson 2005) wie Nationen, Ethnien, politische Gruppen, Sprachgemeinschaften etc. konzeptionell zu schärfen: Die Erinnerung historischer Konflikte, die Idee einer gemeinsamen Hautfarbe oder Sprache funktionieren als Knotenpunkte, welche eine Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen Elementen definieren, diese gegenüber einem Außen abgrenzen und so eine Gemeinschaft herstellen (genauer dazu bspw. Norval 1996, Keohane 1997, Sarasin 2003). Gleichzeitig können mit der Diskurstheorie Vorstellungen einer konsistenten, geradlinigen Geschichte und teleologischen Entwicklung von Gemeinschaften und „ihren Regionen“ überwunden werden und so der Blick auf die Brüche 84
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in der Entwicklung gerichtet werden. Auch wenn wir handeln, als ob Identitäten d. h. als ob Nationen, Ethnien, Sprachgemeinschaften etc. objektiv gegebene Fakten seien, so muss diese Objektivität, d. h. die soziale Wirklichkeit, als das historische Ergebnis von politischen Prozessen gelesen werden – als „sedimentierter Diskurs“ (Laclau 1990a). Laclau und seine Schüler sprechen daher auch nicht länger von sozialer, sondern von politischer Identität (bspw. Stavrakakis 2001). Obwohl Laclau insbesondere in jüngeren Publikationen dem Konzept der Institutionalisierung einen größeren Stellenwert einräumt (1990a, b, 2005) verbleibt bislang allerdings eine theoretisch-konzeptionelle Lücke zwischen der Konzeption kollektiver Identitäten und den unterschiedlichen Formen der Institutionalisierung von Gemeinschaften. Vor diesem Hintergrund bietet die von Martin Nonhoff getroffenen Unterscheidung zwischen institutionalisierten Gruppen und Diskurskoalitionen eine sinnvolle Ergänzung der Diskurstheorie (2006). Diese Unterscheidung wird im Folgenden übernommen, an der Stelle von „institutionalisierten Gruppen“ werde ich jedoch von Organisationen sprechen, da die von Nonhoff dargestellten Merkmale sich in hohem Maß mit der traditionellen sozialwissenschaftlichen Definition von Organisationen decken – wohingegen der Begriff „institutionalisierte Gruppe“ weit weniger trennscharf erscheint. Denn wenn im Sinne des Neo-Institutionalismus ein weiter Institutionenbegriff angenommen wird, wären bspw. auch Diskurskoalitionen als „institutionalisierte Gruppen“ zu bezeichnen. Für Organisationen (d. h. bei Nonhoff: „institutionalisierte Gruppen“) macht er folgende Merkmale aus: Die Organisationen manifestieren sich durch das Angebot bestimmter Subjektpositionen – insbesondere die Position „Mitglied der Organisation X“. Als „Mitglieder der Organisation X“ werden Elemente in eine Äquivalenzbeziehung gesetzt, wobei die Mitgliedschaft vielfach mit einer expliziten Artikulation verbunden wird (Beitrittserklärung, Treueschwur, Arbeitsvertrag etc.). Die Stabilität einer Organisation wird erhöht, indem die Existenz der Organisation und ihre Beziehung zu bestimmten Artikulationsmustern explizit und rechtsförmig in Verträgen, Grundordnungen, Manifesten etc. artikuliert werden. Darüber hinaus werden in Organisationen Sprecherpositionen artikuliert (Vorsitzende, Sprecher, Generalsekretäre, Präsidenten etc.), von denen aus im Namen der Organisation „artikulatorische Akte vollzogen“ werden können (ebd.: 185).8 Organisationen sind daher 8
Nonhoff nennt diese Sprecherpositionen „Repräsentationssubjektpositionen“. Über die oben dargestellten Merkmale hinaus machen zwei weitere Merkmale „institutionalisierter Gruppen“ aus: So führe die Gleichzeitigkeit von Repräsentation und Mitgliedschaft dazu, dass mit der Mitglied-
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auch eine ganz entscheidende Größe bei der Verstetigung von Diskursen, indem sie das gemeinsame, koordinierte Artikulieren institutionalisieren. Als Diskurskoalitionen bezeichnet Nonhoff (ebd.: 188 ff.) unter Bezugnahme auf Hajer (1993, 1995) hingegen Artikulationen, in denen Elemente in eine Äquivalenzbeziehung gestellt werden, ohne die institutionalisierte Fixierung von Organisationen zu erreichen. Die individuellen Elemente, die zu einer Organisation bzw. einer Diskurskoalition artikuliert werden, sind dabei vielfach selbst wiederum Organisationen: So kann argumentiert werden, dass im Polen der 1980er Jahre die Organisationen SolidarnoĞü und Katholische Kirche in einer Diskurskoalition artikuliert wurden. Die auch als Organisationen funktionierenden Nationalstaaten Deutschland, Italien und Frankreich werden als Mitglieder der Organisation Europäische Union artikuliert. Fazit: Laclau und Mouffe entwickeln eine Gesellschaftstheorie, die keine prädiskursive Basis der sozialen Organisation voraussetzt, wie zahlreiche marxistische Ansätze mit der Idee einer ökonomischen Basis oder kulturalistische Theorien mit der Vorstellung prädiskursiver kultureller Differenzen. Identitäten sind danach immer historisch und kontingent, damit veränderbar und in diesem Sinne politisch. Kollektive Identitäten und damit Gemeinschaften entstehen danach nicht auf der Basis eines positiven Wesenskerns, sondern werden um einen Knotenpunkt herum gebildet, der eine antagonistische Grenze gegenüber einem constitutive outside herstellt und damit die vollkommene aber letztlich immer unmögliche Identität der Gemeinschaft präsentiert. Die Diskurstheorie befähigt, die Idee von „vorgestellten Gemeinschaften“ konzeptionell zu schärfen und bietet sich damit als konzeptionelle Grundlage für die Untersuchung der Konstitution von Gemeinschaften an. Unterschiedliche Formen der Institutionalisierung von Gemeinschaften werden in der Diskurstheorie bislang nicht differenziert. Eine sinnvolle Ergänzung bietet daher die Unterscheidung zwischen Organisationen und Diskurskoalitionen.
schaft nicht immer einer Unterstützung eines gemeinsam artikulierten Diskurses einhergehen muß, aber dennoch das Mitglied weiterhin als Miglied artikuliert wird. Diese Mechanismen lassen sich aber nach meiner Einschätzung aus dem oben dargestellten ableiten und stellen nur beispielhaft das Zusammenspiel von institutioneller Fixierung und permanenter Dynamik dar.
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3.2.4 Ein politisches Konzept von Räumen In dem 1990 erschienenen Buch New Reflections on the Revolution of our Time räumt Laclau dem Raumbegriff einen prominenten Platz ein. Er definiert dabei Raum als das Gegenteil von Zeitlichkeit. Die britische Geographin Massey, eine der profiliertesten Autorinnen der raumtheoretischen Debatte (siehe dazu überblicksartig Bauriedl 2009), hat diese Verwendung des Raumbegriffs scharf kritisiert – obwohl sie die Arbeiten von Laclau und seiner vielfachen Koautorin Mouffe gleichzeitig als wichtige Impulse für die Sozial- und Kulturgeographie rezipiert. Wie lässt sich verstehen, dass Ernesto Laclau in seiner Diskurs- und Hegemonietheorie, die das Feld des Politischen gegenüber den traditionellen Ansätzen der Politischen Theorie deutlich ausgeweitet hat, einen Begriff von „Raum“ entwickelt, den die neuere Sozial- und Kulturgeographie als dezidiert a-politisch zurückweist? In diesem Kapitel soll zunächst diese Frage geklärt werden, indem die jeweilige Argumentation von Laclau und Massey gegenübergestellt werden. Zum Verständnis der unterschiedlichen Konzeptualisierung von Raum und Räumen trägt eine Differenzierung der beiden Laclau Schüler Marchart und Howarth bei, die herausarbeiten, dass der Raumbegriff bei Laclau auf einer ontologischen Ebene operiert und die Unmöglichkeit von Raum als endgültig fixierte Struktur thematisiert, während Massey auf der ontischen Ebene Räume der sozialen Wirklichkeit konzeptualisiere. Auf Basis dieser Klärung wird die Verwendung des Begriffs „Raum“ bei Laclau zur Bezeichnung des theoretischen Extremfalls einer absoluten und endgültig fixierten Struktur kritisiert – für die Sozialwissenschaften kann diese Begriffsverwendung nicht sinnvoll übernommen werden. Alternativ wird aufbauend sowohl auf der Diskurs- und Hegemonietheorie als auch der raumtheoretischen Debatte in der Sozial- und Kulturgeographie eine dezidiert politische Konzeption von Räumen entworfen: Räume sind als ein Element der (Re-)Produktion von Gesellschaft immer umstritten, veränderbar und in diesem Sinne politisch. Die Versuche der Durchsetzung, Naturalisierung und Fixierung gerade bestimmter Räume sind in dieser Perspektive hegemoniale Akte. Laclau verbindet Zeitlichkeit mit nicht determinierten und unerwarteten Ereignissen, den dadurch notwendigen Entscheidungen – und damit mit dem Politischen. Raum versteht er hingegen als fixierte Struktur – den Gegenpart von Zeitlichkeit. So dass er formulieren kann: „Politics and space are antinomic terms“ (Laclau 1990a: 68). Dabei will Laclau seinen Raumbegriff nicht metaphorisch verstanden wissen: „There is no metaphor here. […] If physical space is also space, it is because it participates in this general form of spatiality“ (ebd.: 41f.). 87
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Die Verräumlichung eines Ereignisses ist nach Laclau die Auslöschung seiner Zeitlichkeit (insbes. Laclau 1990a). Sein Argument verdeutlicht er mit dem fort/da-Spiel nach Freud. Der Wiener Psychoanalytiker hatte bei seinem Enkel beobachtet, dass dieser im Alter von anderthalb Jahren ein „Spiel“ entwickelt hatte, bei dem er immer wieder Gegenstände wegwarf, so dass diese „fort“ waren, und sie dann wieder zurückzog, so dass sie wieder „da“ waren (s. Abbildung 9). Abbildung 9: Das fort/da-Spiel nach Freud
for t da
Quelle: eigener Entwurf Nach Freud ermöglicht das fort/da-Spiel dem Kind, die Angst vor der Abwesenheit der Mutter zu verarbeiten. Laclau interpretiert diese Symbolisierung von An- und Abwesenheit als die Verräumlichung eines Ereignisses (ebd.: 41) – die zeitliche Abfolge von Ereignissen wird symbolisiert und damit synchron präsent gemacht, indem diese wiederholt werden: „If the child comes to terms with that absence in this way, it is because absence is no longer just absence but becomes a moment of the presence-absence succession. Symbolization means that the total succession is present in each of its moments. This synchronicity of the successive means that the succession is in fact a total structure, a space for symbolic representation and constitution. The spatialization of the event's temporality takes place through repetition, through the reduction of its variation to an invariable nucleus which is an internal moment of the pre-given structure.“
Das Ereignis wird durch eine Abfolge von An- und Abwesenheit symbolisiert, in diesem Sinne synchron präsent gemacht und verräumlicht. Letztlich konzeptionalisiert Laclau alle wiederkehrenden Abfolgen daher nicht als zeitlich, sondern als räumlich. Auch jede teleologische Konzeption von Veränderung, bei der Richtung, Ziele und Zwecke einer Veränderung determiniert sind, sei räumlich. 88
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Vor dem Hintergrund einer solchen exklusiven Gleichsetzung von Zeitlichkeit mit Wandel, Entscheidungen und dem Politischen verwundert es nicht, dass Massey Laclau vorwirft, dass seine Perspektive auf Raum es unmöglich mache, die politische Dimension von Räumlichkeit ins Blickfeld zu nehmen (Massey 1992).9 Eine Konzeption von Raum als statischem Gegenpart von Zeit, welche Veränderungen und Wandel bewirke, wird in der raumtheoretischen Debatte der Geographie seit Ende der 1980er-Jahre kritisiert (s. insbes. Massey 1992, Soja 1995, 1996, Massey 1999, 2005; zusammenfassend Bauriedl 2009, Glasze 2012). Aufbauend auf marxistischen, poststrukturalistischen und postkolonialen Ansätzen hat Massey eine Konzeption von Raum entwickelt, die Raum als ein Ergebnis wechselseitiger Beziehungen fasst, als die Sphäre der Möglichkeit für die Existenz von gleichzeitiger Vielfalt (multiplicity) und als Sphäre in der verschiedene Wege und Verläufe (trajectories) existieren. Raum ist danach niemals gegeben sonder immer „under construction“ (2005: 9). Massey kritisiert die Tendenz zahlreicher zeitgenössischer (und inbesondere auch poststrukturalistischer) theoretischer Ansätze, die Fixierung von Bedeutung und allgemein Repräsentation mit Raum gleichzusetzen (2005: 21). Zum einen laufe eine solche Gleichsetzung Gefahr, Raum als eine Anordnung „inerter Dinge“ zu fassen und eben nicht als „heterogenes Ensemble von Praktiken und Prozessen“ (ebd.: 107). Zum anderen könne es bei der Frage der Repräsentation ja niemals darum gehen, pure Zeit zu repräsentierten, sondern die Herausforderung sei vielmehr, spezifischer Zeit-Raum-Zustände zu repräsentieren (ebd.: 27). Massey möchte ein Raumkonzept entwickeln, das auf die Pluralität und Vielfältigkeit des Raums abhebe und das ein teleologisches Denken in zeitlichen Sequenzen überwinde, welches durch Eindeutigkeit und eine scheinbar widerspruchsfreie Abfolge unterschiedlicher Zustände gekennzeichnet sei. „Truly recognizing spatiality […] necessitates acknowledging a genuinely co-existing multiplicity – a different kind of difference from any which can be compressed into a supposed temporal sequence“ (Massey 1999: 281). Die Ursachen für diskursiven Wandel liegen nach Massey auch im Raum begründet. Veränderungen entstünden aus den unüberwindbaren (gleichzeitigen) Widersprüchen, die im Raum angelegt sind (ebd.). Nach Massey bietet die Konzeptionalisierung von Raum als Gleichzeitigkeit von Widersprüchen und Vielfalt letztlich eine Voraussetzung für das normative Ziel einer radikalen De-
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In ähnlicher Weise kritisiert auch Kohn die Dichtomisierung von Raum und Zeit bei Laclau. Sie betont, dass sowohl Zeit als auch Raum „elements of fixity and flux“ enthalten (Kohn 2003).
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mokratie, wie es Laclau und insbesondere Mouffe skizziert haben (Laclau und Mouffe 1985, Massey 1995, 1999, 2005, Mouffe 2005). Obwohl sowohl Laclau als auch Massey vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Ansätze argumentieren und die normativen Zielrichtungen ihrer Arbeiten sich im Leitbild der „radikalen Demokratie“ (s. Kapitel 3.3) treffen, scheinen beide von unterschiedlichen Konzepten zu sprechen, wenn sie sich auf Raum beziehen. Die Laclau-Schüler Howarth (1993) und Marchart (1998b) greifen diese Widersprüche in den Konzeptionen von Laclau und Massey auf: Letztlich werfen sie Massey in ihren Repliken vor, dass sie die Laclau’sche Konzeption missverstehe. Dieses „Missverstehen“ führt Howarth darauf zurück, dass die Konzeption von Laclau auf einer ontologischen Ebene operiere, während Massey als Sozialwissenschaftlerin auf einer ontischen Ebene argumentiere. Während Laclau also nach den Voraussetzungen der sozialen Wirklichkeit frage, bemühe sich Massey, angemessene Kategorien für die Beschreibung und Analyse sozialer Wirklichkeit zu entwickeln. Marchart (1998b) schlägt folgende Systematisierung der Raumbegriffe bei Laclau und Massey vor: Laclau fasse Raum als „Namen für den theoretischen Extremfall einer völligen Auslöschung von Zeitlichkeit und Dislokation, d. h. Ereignissen, welche in eine Struktur einbrechen. Dieser Extremfall kann jedoch nie eintreten, weil das konstitutive Außen der Struktur immer Spuren und dislokatorische Turbulenzen im Inneren hinterlassen wird […]“. Raum setze Laclau also gleich mit einer (letztlich unmöglichen) endgültig fixierten Struktur. Der Umstand, dass es Raum (sing.) als endgültig fixierte Struktur im ontologischen Sinn nicht geben könne, sei die Voraussetzung und der Grund dafür, dass es auf der ontischen Ebene, d. h. der Ebene der sozialen Wirklichkeit, hingegen unterschiedliche, veränderbare und immer wieder (re-)produzierte Räume (pl.) geben könne. Nach Howarth argumentiert Massey also auf der Ebene der sozialen Wirklichkeit, während Laclau eben gerade nicht über die Räume der sozialen Wirklichkeit spreche, sondern über die theoretischen Voraussetzungen dieser Räume (Howarth 1993). Howarth weist auf das Risiko hin, dass die Betonung (gleichzeitiger) räumlicher Vielfalt, wie sie Massey ausführe, nicht nur als Potenzial für Koexistenz und gesellschaftliche Dynamik gelesen werden kann, sondern dass eine solche Argumentation Gefahr laufe, dass damit nationalistische und regionalistische Politiken legitimiert werden, welche Gesellschaft territorial gekammert organisieren wollen und damit progressiven Ideen universeller Rechte und politischer Partizipation zuwiderlaufen (1993.: 53). Während Massey von einem relationalen Raumkonzept ausgeht, sieht Howarth die Gefahr, dass ihr Plädoyer für räumliche Vielfalt in eine Containerraumlogik eingebaut werden und dann als Legiti90
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mation für nationalistische und rassistische Politiken verwendet werden kann.10 Eine weitere Auseinandersetzung mit der raumtheoretischen Debatte leisten die Laclau Schüler allerdings ebenso wenig wie eine weitere Ausarbeitung der konzeptionell-begrifflichen Differenzierung zwischen „Raum“ und „Räumen“. Erst in jüngster Zeit hat der Laclau-Schüler Stavrakakis darauf aufmerksam gemacht, dass innerhalb der Diskursund Hegemonietheorie sowie insbesondere bezüglich des normativen Ziels einer radikalen Demokratie (bislang) kaum über die soziale Kategorie „Räume“ nachgedacht wurde (2008). So weist er darauf hin, dass Dislokationen im Sinne der Diskurstheorie immer vor dem Hintergrund sedimentierter Diskurse stattfinden, d. h. im Sinne der oben skizzierten Unterscheidung: in Räumen. Er warnt davor, in der diskurstheoretisch orientierten Politischen Theorie einseitig auf die pure Temporalität, auf Ereignisse, abzuheben. Denn auch wenn das Neue immer die Dislokation einer gegebenen hegemonialen Struktur bedürfe, so muss es doch immer auch räumlich repräsentiert und dargestellt werden. Stavrakakis verdeutlicht diesen Punkt mit dem simplen Satz „events ‘take place‘. Again and again“ (Tschumi 1996: 160, zit. nach Stavrakakis 2008). Eine demokratische Gesellschaft müsse sich der Notwendigkeit bewusst sein, ihre eigenen Räume11 zu schaffen und immer wieder zu reproduzieren, aber sich gleichzeitig auch bewusst sein, dass eine endgültige Fixierung unmöglich sei (ebd.: 156). Die Diskussion zwischen Laclau, Massey, Howarth, Marchart und Stavrakakis zeigt zum einen die Potenziale der Diskurs- und Hegemonietheorie nach Laclau und Mouffe für die Humangeographie sowie die raumbezogenen Sozial- und Kulturwissenschaften insgesamt. So verdeutlicht die Replik von Howarth und Marchart einen für die raumbezogenen Sozial- und Kulturwissenschaft entscheidenden Punkt der Diskurstheorie: Genauso wie das Streben nach Identität und Bedeutung nur möglich, aber auch unvermeidlich ist, weil Identitäten und Bedeutungen niemals endgültig fixiert werden können, so gibt es Verräumlichungen nur deswegen, weil eine endgültige und absolute Fixierung unmöglich 10 So wie beispielsweise der bayerische Landesverband der NPD auf seiner Internetseite fordert: „Die Vielfalt der Kulturen erhalten! Überfremdung und Einwanderung stoppen!“. NPD Landesverband Bayern 2012 (http://www.npd-bayern.de; 10.06.2012) 11 Stavrakakis spricht im Originalzitat vom Singular „Raum“ („A democratic society is – or should be – conscious of the need to represent itself, to create and institute its own space, but, at the same time, aware of the ultimate impossibility of any final representation.“). Im Sinne der klärenden Unterscheidung von Marchart wäre es hier aber angebracht, von „Räumen“ zu sprechen.
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ist. Weil Räume also niemals gegeben sind, sondern (immer wieder neu) konstituiert werden, diese Herstellungsprozesse regelmäßig umstritten sind, sind Räume immer politisch.12 Stavrakakis hebt hervor, dass eine demokratische Gesellschaft sich daher mit der Konstitution von Räumen auseinandersetzen müsse und er greift dabei explizit auf die oben skizzierte Konzeption von Räumlichkeit bei Massey 2005 zurück. Die Diskussion verdeutlicht aber auch die Probleme der Rezeption einer politischen bzw. philosophischen Theorie in den Sozialwissenschaften. So kann man mit Massey durchaus fragen, ob es für die sozialwissenschaftliche Forschung sinnvoll und notwendig ist, den „theoretischen Extremfall einer völligen Auslöschung von Zeitlichkeit und Dislokation“ mit dem Begriff „Raum“ zu fassen (Massey 2005). Darüber hinaus erscheint es für die Humangeographie und die Sozialwissenschaften problematisch, jegliche Versuche einer Fixierung sozialer Wirklichkeit, d. h. jegliche Sedimentation von Diskursen, als Räume zu bezeichnen. Es ist zwar richtig, dass jede Strukturierung in dem Sinne räumlich ist, als dass sie nur topologisch gedacht und präsentiert werden kann (s. dazu beispielsweise in den vorherigen Kapiteln Abbildung 6, Abbildung 7 und Abbildung 8, kritisch zur Gleichsetzung jeglicher Strukturierung mit Raum auch Massey 2005). Würden die Humangeographie und die Sozialwissenschaften insgesamt aber jegliche Strukturierungen als Räume bezeichnen, dann würde auf der ontischen Ebene eine sozialwissenschaftliche Differenzierungsmöglichkeit verloren ge12 Nicht auf der Basis der Diskurs- und Hegemonietheorie, sondern auf der Basis der politischen Theorien von Jacques Rançiere leitet Dikeç 2005 ein politisches Konzept von Raum her. Rançiere fasst den Versuch einer Ordnung, an der alle und jedes ihren und seinen vermeintlich richtigen Platz zugeordnet bekommen, als „Polizei“ (einen deutschsprachigen Überblick über die politische Philosophie Rançieres bietet Krasmann 2010 ). Ähnlich wie in der Diskurs- und Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe argumentiert Rançiere, dass diese (durchaus topologischräumliche) Ordnung niemals endgültig sein könne und immer wieder aufgebrochen werde. Nach Rançiere setzt Politik dann ein, wenn die etablierte Ordnung hinterfragt wird und sich neue politische Subjekte artikulieren können – auch hier zeigt sich eine große Nähe zur Konzeption des Politischen bei Laclau und Mouffe. Vor diesem Hintergrund argumentiert Dikeç, dass Raum politisch sei, weil es der Ort sei, indem die Ordnung im Sinne Rançieres daraufhin hinterfragt würde, ob sie den Anforderungen von Egalität entspreche (186). Raum sei sowohl ein Element der „Polizei“ als auch der „Politik“: „Space is pertinent to the police because identificatory distribution (naming, fixing in space, defining a proper place) is an essential component of government. The police is an attempt to make the political order neatly correspond with the spatial order. Space is pertinent to politics because it is this very distribution, this very partitioning of space, that is put into question.” (ebd.).
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hen. Es wäre dann bspw. unmöglich zu unterscheiden zwischen Identitätskonstruktionen, die mit einer hier/dort-Unterscheidung arbeiten (s. dazu den systemtheoretisch hergeleiteten Vorschlag von Redepenning 2006) wie „Umland“ versus „Kernstadt“, „London“ versus „Frankfurt“, „Europa“ versus „USA“ und anderen Identitätskonstruktionen wie „weiß“ versus „schwarz“, „akademisch“ versus „nicht-akademisch“, „Mann“ versus „Frau“, „Geschäftsführerin“ versus „Angestellte“ etc. Die Beziehungen zwischen diesen sozialen Kategorien und damit die spezifische soziale Funktion von Räumlichkeit im Sinne der hier/dortUnterscheidung könnte dann nicht mehr untersucht werden: Die spezifische Sehschärfe eines sozialwissenschaftlichen bzw. humangeographischen Blicks drohte verloren zu gehen. Für eine diskurs- und hegemonietheoretisch informierte Bearbeitung raumbezogener Fragestellungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften erscheint es sinnvoll, die Konzeption von Räumen als immer kontingent und damit politisch aufzugreifen, allerdings nur jene Artikulationen als Konstitution von Räumen zu fassen, die symbolisch und/oder materiell hier/dort-Unterscheidungen herstellen, indem bspw. in einem territorialen Sinne Grenzen gezogen und Regionen differenziert werden („hier in Bayern wird…, während dort in Hessen…“), in einem skalaren Sinne Maßstabsebenen („hier vor Ort versuchen wir …, aber Europa macht es…“) oder in einem topologischen Sinne Orte konstituiert und unterschieden werden („hier in Frankfurt wird…., aber in Köln läuft das…“). Fazit: Laclau fasst Raum als den unmöglichen Extremfall einer geschlossenen und endgültigen Struktur. Auf der sozialen Ebene gebe es Räume deshalb, weil Raum als geschlossene und endgültige Struktur unmöglich ist. Gerade weil Räume auf der ontischen Ebene nicht einfach gegeben sind, sondern fortwährend konstituiert werden, ist der Prozess der Verräumlichung bzw. Sedimentierung der „Moment der Politik“: Jede Verräumlichung ist also politisch. Aus Gründen der Heuristik erscheint es jedoch für die Sozialwissenschaften problematisch, alle Strukturen der sozialen Wirklichkeit als „Räume“ zu bezeichnen. Daher wird vorgeschlagen, im Sinne Masseys die Konzeption von Räumen als immer kontingent und damit politisch aufzugreifen, allerdings nur jene Artikulationen als Konstitution von Räumen zu fassen, die symbolisch und/oder materiell hier/dort-Unterscheidungen herstellen, indem bspw. in einem territorialen Sinne Regionen, in einem skalaren Sinne Maßstabsebenen oder in einem topologischen Sinne Orte konstituiert und differenziert werden. 93
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3.3
I d e n t i t ä t e n , R ä u m e u n d d a s n o r m a t i ve Z i e l einer radikalen Demokratie
Poststrukturalistisch orientierten Ansätzen wird verschiedentlich vorgeworfen, gesellschaftlich bzw. politisch irrelevant zu sein (s. Kapitel 2.2.3). Tatsächlich lassen sich Ansätze, welche eine Letztfundierung ablehnen und welche die Idee einer absoluten Wahrheit, die durch die Wissenschaft aufgedeckt werden könne, als Illusion beurteilen, kaum in ein traditionelles Verständnis der Aufgaben von Wissenschaft integrieren. Wenn solche Ansätze aber weder davon ausgehen, der Gesellschaft (vermeintlich) wahre und richtige Erkenntnisse liefern zu können (wie das beispielsweise die spatial science anstrebt), noch davon ausgehen, von einer feststehenden Position aus Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen leisten zu können (wie das die radical geography anstrebt), welche Funktion und Legitimation hat dann eine solche Wissenschaft? Worin kann also die gesellschaftliche Relevanz der oben skizzierten Konzepte von „politischen Identitäten“ und „politischen Räumen“ liegen? Eine mögliche Antwort auf diese Frage bietet das von Laclau und Mouffe in den 1980er Jahren entwickelte (1985) und später von Mouffe weiter ausgearbeitete normative Ziel einer „radikalen Demokratie“ (1988, 2000, 2005, 2007a, b). Das Konzept der radikalen Demokratie baut unmittelbar auf den theoretisch-konzeptionellen Grundlagen der Diskurstheorie auf, geht also von einem prozessualen Verständnis von Identität aus und fasst die gesamte soziale Wirklichkeit als diskursiv konstituiert, damit kontingent und niemals endgültig fixiert. Da es keine absoluten und ewig gültigen Wahrheiten gebe, sei es für eine demokratische Gesellschaft notwendig, den Dissens anzuerkennen. Chantal Mouffe lehnt daher Vorstellungen einer „perfekt harmonischen“ Gesellschaft als letztlich gefährliche „Träume“ ab. Im Sinne der Diskurstheorie wird davon ausgegangen, dass Identitäten immer erst in antagonistischen Beziehungen diskursiv konstituiert werden und letztlich niemals eine endgültig fixierte Identität möglich ist (2007a). Das Konzept der radikalen Demokratie will also das Potenzial der Diskurstheorie, Identitäten nicht essentialistisch zu fassen, sondern als immer nur temporäre und kontingente Versuche der Fixierung zu konzeptualisieren, für die gesellschaftliche Praxis erschließen. Damit soll es möglich werden, in den unvermeidlichen politischen Auseinandersetzungen den anderen nicht als „Feind“, sondern als „legitimen Gegner“ zu verstehen (ebd.: 45). Bei aller Anerkennung und Betonung der Konflikthaftigkeit gesellschaftlicher Beziehungen muss Mouffe allerdings eingestehen, dass diese Transformation ein gewisses Maß an 94
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Konsens bezüglich der „konstitutiven ethisch-politischen Prinzipien“ der Demokratie voraussetzt (ebd.: 46). Die Grundlagen und Voraussetzungen der radikalen Demokratie liegen nach Laclau und Mouffe in den symbolischen Ressourcen des demokratischen Diskurses. Mit der Französischen Revolution seien Freiheit und Gleichheit als grundlegende Knotenpunkte der Konstruktion des Politischen etabliert worden (zusammenfassend dazu Jörke 2004). Vor diesem Hintergrund könne eine radikale Demokratie ein doppeltes emanzipatorisches Potenzial entwickeln: Zum einen könne das Konzept „Gleichheit“ auf immer weitere Bereiche des Sozialen ausgedehnt werden (d. h. immer weitere soziale Ungleichheiten als kontingent, damit politisch und veränderbar, konzeptionalisiert werden). Und zum anderen können partikulare Setzungen, d. h. Versuche der Fixierung, immer wieder aufs Neue hinterfragt und aufgebrochen werden. 13 Die oben entwickelten Konzepte politischer Identitäten und politischer Räume fassen diese als nicht-wesenhafte, letztlich immer wieder scheiternde Versuche von Fixierung. Sie bieten damit eine Grundlage dafür, dass wissenschaftliche Arbeiten dazu beitragen können, soziale Strukturen als Sedimentierungen zu fassen, die Prozesse der Sedimentation zu untersuchen und damit immer wieder den kontingenten und damit veränderbaren Charakter jeglicher sozialer Strukturen herauszuarbeiten. Fazit: Poststrukturalistischen Ansätzen wird verschiedentlich vorgeworfen, letztlich gesellschaftlich irrelevant zu sein. Das auf der Basis der konzeptionell-theoretischen Grundlagen der Diskurstheorie von Laclau sowie insbesondere Mouffe ausgearbeitete normative Ziel einer radikalen Demokratie, bietet allerdings eine normative Orientierung und Legitimation für poststrukturalistisch orientierte wissenschaftliche Arbeiten. Das Konzept der radikalen Demokratie geht mit der Diskurstheorie davon aus, dass Identitäten nicht essentialistisch gefasst werden können, sondern als immer nur temporäre und kontingente Versuche der Fixierung gedacht werden sollten. Vor diesem Hintergrund bietet die radikale Demokratie eine Chance, in den unvermeidlichen politischen Auseinandersetzungen den Anderen nicht als „Feind“, sondern als „legitimen Gegner“ zu verstehen. Gleichzeitig
13 Verschiedene Autoren haben darauf hingewiesen (insbesondere Critchley 2004, zusammenfassend Nonhoff 2010), dass die Diskurs- und Hegemonietheorie darüber hinaus allerdings wenig normative Orientierung für die Frage bietet, welche Hegemonien wünschenswert und welche nicht wünschenswert seien.
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entfaltet eine radikale Demokratie ein doppeltes emanzipatorisches Potenzial: Zum einen können immer weitere soziale Ungleichheiten als kontingent und damit als politisch und veränderbar konzeptionalisiert werden. Und zum anderen können jegliche Versuche der Fixierung immer wieder aufs Neue hinterfragt und aufgebrochen werden. Diskurstheoretisch informierte wissenschaftliche Arbeiten bieten damit eine Chance, Beiträge zum normativen Ziel einer radikalen Demokratie zu leisten, indem sie immer wieder den kontingenten und damit veränderbaren Charakter jeglicher sozialer Strukturen herausarbeiten und kommunizieren.
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4 Operationalisierung: Untersuchung der Fixierung von Differenzbeziehungen in sprachlichen und nicht-sprachlichen Artikulationen
Empirische Studien, die auf der Diskurstheorie aufbauen, stehen vor dem Problem, dass Laclau und Mouffe sich kaum zur empirischen Umsetzung ihrer Theorie geäußert haben. Die Diskussion über eine angemessene empirische Operationalisierung dieser Diskurstheorie steht erst in den Anfängen. Die Laclau-Schüler Howarth und Stavrakakis gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass empirische Arbeiten, die auf der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe aufbauen, vor den „Fallstricken“ eines reinen Empirismus gefeit sind, da in der diskurstheoretischen Literatur die Bedeutung der Theorie für die Abgrenzung von Forschungsobjekten und -methoden betont wird. Sie weisen allerdings bereits auf die Gefahr hin, empirische Fallstudien einfach nur in abstrakte theoretische Konzepte einzupassen (2000: 4 f.). Tatsächlich fällt auf, dass zahlreiche Arbeiten, welche die Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe zur Untersuchung empirischer Fallstudien verwenden, kaum Fragen einer angemessenen Operationalisierung diskutieren. So ist Keller zuzustimmen, der mit Blick auf diese Arbeiten kritisiert: „Die methodische Umsetzung des Ansatzes gerät häufig zu einem deduktionistischen, im konkreten Vorgehen unbestimmt bleibenden Interpretationsvorgang“ (Keller 2001: 162). Vor diesem Hintergrund erscheint es also notwendig, Wege für eine Operationalisierung der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe zu finden, die eine den theoretischen Vorannahmen entsprechende empirische Umsetzung leisten können. 97
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Wie dargestellt, werden in der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe Diskurse als temporäre Fixierung von Differenzbeziehungen betrachtet. Bedeutung, d. h. Identitäten und letztlich jegliche soziale „Objektivität“, werden als Effekt einer solchen Fixierung konzeptionalisiert. Ich schlage vor, für die Operationalisierung der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe auf folgende Verfahren zu setzen: Die Lexikometrie und die Analyse narrativer Muster untersuchen die Fixierung von Bedeutung in Texten (Glasze 2007b). Ergänzend wird die diskursive Fixierung von Bedeutung in Bildern sowie die Sedimentierung und Desedimentierung von Diskursen in formellen Institutionen und Organisationen ins Blickfeld der Analyse genommen. Die Lexikometrie und die Analyse narrativer Muster zielen dabei auf zwei unterschiedliche, allerdings eng miteinander verschränkte Dimensionen der Bedeutungskonstitution: Lexikometrische Verfahren untersuchen, wie Bedeutungen durch Beziehungen zwischen lexikalischen Elemente hergestellt werden (s. Kapitel 4.1.2), und die Analysen narrativer Muster arbeiten heraus, wie Bedeutungen konstituiert werden, indem sprachliche Elemente in narrative Muster eingebunden werden, die bspw. Beziehungen der Äquivalenz, der Temporalität oder der Opposition herstellen (s. Kapitel 4.1.3). Eine „Übersetzung“ der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe in die Begrifflichkeiten dieser sprach- und literaturwissenschaftlichen Verfahren ist nicht zuletzt deswegen möglich, da sowohl die Diskurstheorie als auch diese Analyseverfahren vor dem Hintergrund strukturalistischer Ansätze und deren Radikalisierung im Poststrukturalismus entwickelt wurden. So werden die „Elemente“ der Diskurstheorie als lexikalische Formen gefasst, die in temporären Fixierungen zu „Momenten“ eines Diskurses werden. Das „Feld der Diskursivität“ der Diskurstheorie kann empirisch mit dem von Pêcheux ausgearbeiteten Begriff des Interdiskurses konzeptionalisiert werden. Interdiskurs lässt sich danach als das Ensemble aller Elemente fassen, die Elemente von Diskursen sind. Diskurse werden durch permanente Abgrenzung im Interdiskurs reproduziert (Pêcheux 1975: 147; in deutscher Übersetzung bietet Pêcheux 1984 eine knappe Darstellung ). Man mag grundsätzlich gegen die Verwendung von Forschungsmethoden, die an Texten ansetzen, einwenden, dass die „Elemente“ und „Momente“ in der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe mehr als nur lexikalische Formen umfassen (s. Kapitel 3.2.1). Tatsächlich erscheint es nicht zuletzt vor dem Hintergrund der hohen und wachsenden Bedeutung von Bildern sinnvoll, ergänzend auch zu untersuchen, wie in Bildern Bedeutungen fixiert werden. Darüber hinaus soll die Sedimentierung und Desedimentierung von Diskursen in formellen Institutionen und Organisationen ins Blickfeld der Analyse genommen werden. Al98
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lerdings gelingt auch die Analyse dieser nicht-sprachlichen Artikulationen immer nur in Sprache.
4 . 1 An a l ys e s p r a c h l i c h e r Ar t i k u l a t i o n e n 4.1.1 Abgrenzung gegenüber Verfahren der Inhaltsanalyse Die Verfahren der Lexikometrie und der Analyse narrativer Muster sind nicht zu verwechseln mit Verfahren der Inhaltsanalyse. Dieses Kapitel bietet daher zunächst eine Abgrenzung von den in der sozialwissenschaftlichen Forschung bekannteren und etablierteren Verfahren der quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse. Die Inhaltsanalyse hat ihre Ursprünge in der US-amerikanischen Kommunikationswissenschaft und baut auf einem Kommunikationsmodell „Sender Î Inhalt Î Empfänger“ auf. Ziel ist dabei, vom „Inhalt“ auf „die soziale Wirklichkeit“ zu schließen – d. h. auf den „Kommunikator“, den „Rezipienten“ oder die „Situation“. Wichtigste Methodik ist die Kodierung der „Inhalte“ von Texten mittels eines Kategoriensystems (Merten 1995). Die Inhaltsanalyse geht dabei davon aus, dass jeder Text(-teil) einen „Inhalt“, d. h. eine Bedeutung transportiert und dass dieser „Inhalt“ durch den Inhaltsanalytiker erschlossen werden kann. Aus der Sicht einer poststrukturalistisch informierten Diskursforschung ist ein solches Repräsentationsmodell, das von einem Text(-teil) auf die (!) Bedeutung schließen will, problematisch. Insbesondere französische Diskursforscher kritisierten, dass die Arbeit mit Kategoriensystemen zudem das Risiko mit sich bringt, Tautologien zu erzeugen, indem ein voretabliertes System durch Belegstellen reifiziert wird (siehe den Artikel analyse de contenu von Simone Bonnafous in Maingueneau 2002). Berelson, der als einer der Väter und Vordenker der Inhaltsanalyse bezeichnet werden kann, plädierte allerdings Anfang des 20. Jahrhunderts dezidiert für eine Inhaltsanalyse, die am „manifesten Inhalt“ und an den „black-marks-on-white“ ansetzt (Berelson 1952: 19). Tatsächlich gehen Frequenzanalysen von Wörtern und Wortfolgen, wie sie in so genannten „quantitativen Inhaltsanalysen“ in der Tradition von Berelson durchgeführt werden, ähnlich vor, wie Frequenzanalysen in der Lexikometrie bzw. Korpuslinguistik (s. u.). Der theoretische Hintergrund und damit der Stellenwert, der den Ergebnissen zugesprochen wird, ist jedoch ein anderer: In der Inhaltsanalyse werden Wörter nicht wie in der Lexikometrie als „Bausteine“ der Konstitution von Bedeutung, sondern unmittelbar als Indikatoren für die „soziale Wirklichkeit“ interpretiert, indem ihnen eine denotative „Standardbedeutung“ zugeschrieben wird 99
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(Merten 1995). Berelson war sich zwar der engen Grenzen einer solchen Perspektive durchaus bewusst. Sein Lösungsvorschlag lautet etwas naiv: „…content analysis must deal with relatively denotative communication materials and not with relativeley connotative materials“. Er nennt „Nachrichtenmeldungen“ (news stories) als Beispiel für solche „denotative Kommunikationen“ (Berelson 1952: 19 f.). Auch neuere computergestützte Verfahren der Inhaltsanalyse gehen von der Prämisse aus, dass die Bedeutung von Wörtern feststeht. Sie arbeiten mit „a priori Wörterbüchern“, welche Wörter „gleicher Bedeutung“ auflisten, die von den Programmen gemeinsam kategorisiert werden (Atteslander und Cromm 2006: 202 ff.). Wie insbesondere Roland Barthes gezeigt hat, kann allerdings eine Grenze zwischen der einen, denotativen „Standardbedeutung“ und weiteren konnotativen Nebenbedeutungen nicht sinnvoll gezogen werden (s. Kapitel 3.1.2). Innerhalb der Sozialforschung wurde versucht, der Problematik der Inhaltsanalyse insofern zu begegnen, als Methoden entwickelt wurden, welche die Interpretation methodisch kontrollieren und intersubjektiv absichern sollen. In diese Richtung zielen die Vorschläge einer „Objektiven Hermeneutik“ nach Oevermann (s. einführend Wernet 2006) oder auch der „Qualitativen Inhaltsanalyse“ nach Mayring 1995. In den vergangenen Jahren hat zudem ein Austausch zwischen Inhaltsanalyse und Sprachwissenschaften eingesetzt und in der Forschungspraxis finden sich Überschneidungen zwischen Inhaltsanalysen und sprachwissenschaftlichen Verfahren. Die Unterschiede in der theoretischen Fundierung bleiben jedoch bestehen: Aus einer poststrukturalistisch informierten Perspektive fehlt der Inhaltsanalyse nach wie vor eine Auseinandersetzung mit einer Theorie der Bedeutungskonstitution (so auch der Inhaltsanalytiker Merten 1995). Die Kritik am Repräsentationsmodell (Text als Repräsentation einer vor- bzw. außertextlichen Wirklichkeit) und der Vorstellung der Sinntransparenz eines Textes bedeutet allerdings nicht das „Ende der Interpretation“. Wie zu zeigen sein wird, erfordert das vorgestellte Forschungsdesign an mehreren Stellen interpretative Entscheidungen. Die diskurstheoretische Perspektive soll jedoch sicherstellen, dass die empirische Arbeit von einer hohen Sensibilität für die erkenntnistheoretischen Probleme der Interpretation bestimmt wird. Bedeutung wird als Effekt von Differenzbeziehungen konzipiert. Das Forschungsdesign zielt daher darauf ab, zunächst Differenzbeziehungen herauszuarbeiten und die Interpretation dann soweit wie möglich an die Ergebnisse dieser Analysen anzuschließen.
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Fazit: Die Verfahren der Lexikometrie und der Analyse narrativer Muster sind nicht zu verwechseln mit Verfahren der Inhaltsanalyse. Die Inhaltsanalyse hat ihre Ursprünge in der US-amerikanischen Kommunikationswissenschaft und baut auf einem Kommunikationsmodell „Sender Î Inhalt Î Empfänger“ auf. Ziel ist dabei, vom „Inhalt“ auf „die soziale Wirklichkeit“ zu schließen. Es wird dabei davon ausgegangen, dass jeder Text(-teil) einen „Inhalt“, d. h. eine Bedeutung transportiert und dass dieser „Inhalt“ durch den Inhaltsanalytiker erschlossen werden kann. In der Inhaltsanalyse werden Wörter also nicht als „Bausteine“ der Konstitution von Bedeutung, sondern unmittelbar als Indikatoren für die „soziale Wirklichkeit“ interpretiert. Aus diskurstheoretischer Perspektive wird ein solches Repräsentationsmodell, welches Text als Repräsentation einer vor- bzw. außertextlichen Wirklichkeit fasst, abgelehnt.
4.1.2 Lexikometrische Verfahren: von quantitativen Beziehungen zur Bedeutung Lexikometrische Verfahren untersuchen die quantitativen Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen in geschlossenen Textkorpora, d. h. in Textkorpora, deren Definition, Zusammenstellung und Abgrenzung klar definiert ist und die nicht im Laufe der Untersuchung verändert werden. Im Rahmen diskursorientierter Ansätze können diese Verfahren genutzt werden, um Rückschlüsse auf diskursive Strukturen und deren Unterschiede zwischen verschiedenen Kontexten wie bspw. Entwicklungen über die Zeit zu ziehen. Ziel lexikometrischer Verfahren in der Diskursforschung ist es also, großflächige Strukturen der Sinn- und Bedeutungskonstitution in Textkorpora zu erfassen (allgemein zur Lexikometrie und korpusbasierten Verfahren1 der Linguistik s. Maingueneau 1991: 48ff., Fiala 1994, Bonnafous und Tournier 1995, Lebart, Salem und Berry 1998, Marchand 1998, Teubert 2005, Baker 2006, Lemnitzer und Zinsmeister 2006, Scherer 2006, Glasze 2007b, Bubenhofer 2009).2 Die Verfahren der Lexikometrie und der Korpuslinguistik wurden innerhalb der Sprachwissenschaften entwickelt. Ihre konzeptionellen Grundlagen liegen in der Saussure’schen Linguistik und zumindest teil1
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Während in der französischsprachigen Wissenschaftslandschaft eher von léxicométrie oder statistique textuelle gesprochen wird, ist in englischund deutschsprachigen Publikationen die Rede von corpus linguistics bzw. Korpuslinguistik. Informationen zur Korpuslinguistik bieten darüber hinaus die Internetseiten http://www.corpus-linguistics.de (Zugriff: 2.2.2007) sowie http:// www.bubenhofer.com/korpuslinguistik (Zugriff: 2.2.2007).
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weise auch in der Radikalisierung der de Saussure’schen Ansätze im Poststrukturalismus sowie den diskurstheoretischen Überlegungen Foucaults. Dabei ermöglichen lexikometrische Verfahren, gerade auch die Unterschiedlichkeit von Verweisstrukturen und damit der Bedeutungen von einzelnen Wörtern und Zeichenverkettungen in unterschiedlichen diskursiven Formationen zu erfassen. Während bei Verfahren der quantitativen Inhaltsanalyse mit der Kategorisierung und Kodierung von Textabschnitten wichtige Teile der Interpretation i. d. R. an den Anfang der Untersuchung gestellt werden, steht bei der Lexikometrie die Herausarbeitung quantitativer Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen innerhalb eines gegebenen Textkorpus im Vordergrund – der Schwerpunkt der Interpretation wird im Forschungsprozess damit tendenziell nach hinten an das Ende des Forschungsprozesses verlagert. Dabei handelt es sich jedoch „nur“ um eine Verlagerung des Schwerpunktes, da die Formulierung der Fragestellung sowie die Zusammenstellung, Definition und Abgrenzung der geschlossenen Korpora immer bereits interpretative Entscheidungen erfordern. Die eigentliche Interpretation der Ergebnisse erfolgt aber erst, nachdem die Ergebnisse der korpuslinguistischen Analysen vorliegen. Innerhalb der lexikometrischen Verfahren lassen sich zwei Herangehensweisen unterscheiden: Als corpus based werden korpuslinguistische Verfahren bezeichnet, bei denen aufgrund von zuvor aufgestellten Hypothesen über sprachliche Verknüpfungen die Verteilung eines im Voraus definierten lexikalischen Elements in einem definierten Teilkorpus (bspw. in einem bestimmten Zeitabschnitt oder in den Texten einer bestimmten Sprecherposition) untersucht wird. Als corpus driven werden hingegen induktive Verfahren bezeichnet, die ohne im Voraus definierte Suchanfragen auskommen und damit die Chance bieten, auf Strukturen zu stoßen, an die man nicht schon vor der Untersuchung gedacht hat (Tognini-Bonelli 2001). Ein corpus driven-Vorgehen ist daher besonders für explorative Zwecke geeignet, d. h. um einen ersten Überblick über Unterschiede und Gemeinsamkeiten sprachlicher Verweisstrukturen aufzuzeigen. Folgt man der gemeinsamen theoretischen Grundannahme von Strukturalismus und Poststrukturalismus, dass Bedeutung ein Effekt der Beziehung von (lexikalischen) Elementen zu anderen (lexikalischen) Elementen ist, dann können lexikometrische Verfahren herangezogen werden, um diese Beziehungen und damit die Konstitution von Bedeutung herauszuarbeiten.3 Bislang werden lexikometrische Verfahren al3
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John Rupert hat diese Perspektive als „Kontextualismus“ bereits in den 1950er-Jahren in die Linguistik eingeführt. Die Kontexte lexikalischer
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lerdings kaum im Rahmen von Forschungsprojekten eingesetzt, die auf eine Operationalisierung von Diskurstheorien – etwa im Anschluss an Foucault oder Laclau und Mouffe – zielen. Wo liegen die Ursachen für diese Zurückhaltung? Baker vermutet, dass lexikometrische Verfahren als quantitative Methoden vielfach in eine Schublade mit Ansätzen gesteckt werden, die in einem naiven Realismus davon ausgehen, dass wissenschaftliche Analysen einfach objektive Fakten messen können (2006: 8). Hinzu kommt, dass lexikometrische Verfahren vielfach selbst bei diskursanalytisch arbeitenden SozialwissenschaftlerInnen nicht bekannt sind. Auch in sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Bereichen der deutsch- und englischsprachigen Sprachwissenschaften werden bislang nur vereinzelt korpusbasierte lexikometrische Verfahren angewendet (für die deutschsprachige Diskursgeschichte s. aber bspw. Jung 1994 und Niehr 1999, für die – überwiegend englischsprachige – critical discourse analysis s. aber bspw. Orpin 2005 sowie Baker, Gabrielatos, Khosravinik, et al. 2008).4 In der Konsequenz bleibt der Einsatz lexikometrischer Verfahren vielfach auf Bereiche der Linguistik beschränkt, die kaum im Austausch mit gesellschaftstheoretischen Überlegungen stehen. Dabei werden lexikometrische Verfahren teilweise in Forschungsdesigns eingebunden, die in einer rein strukturalistischen Perspektive darauf abzielen, sprachliche Strukturen zu messen (kritisch dazu bspw. der Sprachwissenschaftler Teubert 1999).5
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Elemente geben danach Hinweise auf deren Gebrauch und damit deren Bedeutung: „You shall know a word by the company it keeps“ (1957, zit. nach Belica und Steyer 2006, Lemnitzer und Zinsmeister 2006 ). Anders stellt sich die Situation in der französischsprachigen Forschungslandschaft dar: Hier existieren im Rahmen der so genannten „französischen Schule der Diskursforschung“ seit den 1960er-Jahren vielfältige Beziehungen zwischen Linguistik, Politik- und Geschichtswissenschaft, so dass politik- und geschichtswissenschaftliche Arbeiten regelmäßig auch auf lexikometrische Verfahren zurückgreifen (Bonnafous und Tournier 1995, Guilhaumou 1997, Mayaffre 2004). In Deutschland wurden diese Arbeiten bislang nur vereinzelt von einigen Romanisten rezipiert (Lüsebrink 1998, Reichardt 1998), einen englischsprachigen Überblick liefert Williams 1999. Einige Hinweise zur Verwendung lexikometrischer Verfahren in der französischsprachigen Geschichtswissenschaft bietet auch der von Reiner Keller ins Deutsche übersetzte Aufsatz von Guilhaumou 2003. Abzuwarten bleibt, inwieweit die neuere Debatte um digital humanities hier auch Anstösse für die deutschsprachigen Sozialwissenschaften liefert. Dies scheint wiederum Wissenschaftler, die an der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe anknüpfen, in ihren Vorbehalten gegenüber Verfahren zu bekräftigen, die Marchart bspw. pauschal als „rein statistisches Wörterzählen“ ablehnt (1998a: FN 19).
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Lexikometrische Verfahren können jedoch durchaus sinnvoll in ein Forschungsdesign eingebunden werden, das entsprechend einer diskurstheoretischen Positionierung auf die Kontingenz und Dynamik von Bedeutungen abhebt (ähnlich argumentieren bspw. Teubert 1999, 2005, Koteyko 2006, Glasze 2007b, Mattissek 2008)6. Grundlage lexikometrischen Arbeitens sind digitale Textkorpora.7 In den Analysen werden unterschiedliche Teile des Korpus miteinander verglichen. Korpora für lexikometrische Analysen müssen „geschlossen“ sein, da die lexikometrischen Analysen nur dann sinnvoll sind, wenn sie sich auf ein stabiles Ensemble von Texten beziehen. Für die Zusammenstellung des Korpus ist es entscheidend, dass – mit Ausnahme der zu analysierenden Variable (bspw. unterschiedliche Zeitabschnitte oder unterschiedliche Sprecherpositionen) – die Bedingungen der Aussagenproduktion möglichst stabil gehalten werden (s. u.). Denn bei einem Vergleich, bei dem zwischen den zu vergleichenden Teilen sowohl die Zeit bzw. Epoche, die Kommunikationskanäle, die Sprecherposition, die Genres etc. wechseln, könnten keine sinnvollen Ergebnisse gewonnen werden, da nicht mehr bestimmt werden kann, auf welche Veränderungen sprachliche Unterschiede zurückzuführen sind. Bei der Vorbereitung lexikometrischer Verfahren ist die Überlegung zentral, bezüglich welcher Kriterien die Bedeutungskonstitution verglichen werden soll, denn dies entscheidet über die Segmentierung, d. h. Aufteilung des Textkorpus in entsprechende vergleichbare Teilkorpora: Sollen zeitliche Verschiebungen untersucht werden, wird man eine diachrone Segmentierung wählen. Geht es darum, die Unterschiedlichkeit von Bedeutungskonstitutionen aus der Sicht von einzelnen Sprecherpositionen oder in einzelnen Genres zu erfassen, wird man einen zeitlich homogenen Korpus wählen, der nach den auftretenden Sprecherpositio-
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Die Lexikometrie ermöglicht es bspw., grundlegende Prinzipien der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe (Kapitel 3.2) zu operationalisieren: So werden die „Elemente“ der Diskurstheorie als lexikalische Formen gefasst, die in temporären Fixierungen zu „Momenten“ eines Diskurses werden. Das Konzept der „Regelmäßigkeit von Differenzbeziehungen“ wird operationalisiert als die mit einer gewissen Signifikanz verknüpften lexikalischen Elemente. Die Signifikanz ist dabei das Maß der Überwahrscheinlichkeit für das Auftreten eines lexikalischen Elements im Kontext eines anderen Elements. Dabei kann die Temporalität jeglicher Fixierung mittels einer vergleichenden Untersuchung verschiedener (Sub-)Korpora im Zeitvergleich herausgearbeitet werden (Glasze 2007b). Dafür wird entweder auf Texte zurückgegriffen, die bereits digital vorliegen, oder die Texte müssen mittels Texterkennung digitalisiert werden.
OPERATIONALISIERUNG
nen bzw. nach einzelnen Genres segmentiert wird etc. Die anderen Merkmale des Textes werden dabei jeweils konstant gehalten.8 Sprecherpositionen werden hier in Anlehnung an Überlegungen Foucaults (1973: 106) als institutionell stabilisierte Positionen i. d. R. innerhalb von Organisationen gefasst, die spezifische Zugangskriterien haben und die bestimmte Möglichkeiten, Tabus und Erwartungen des Sprechens bzw. allgemein der Textproduktion mit sich bringen – weitgehend unabhängig von den Individuen, welche die Position einnehmen. Die Sprecherpositionen sind dabei selbst diskursiv konstituiert. Je nach Fragestellung der Untersuchung kommen unterschiedliche Sprecherpositionen infrage. In der Regel sind gesellschaftlich bedeutsame Sprecherpositionen in Organisationen eingebunden, sind also Positionen, von denen aus im Namen und als Organisation gesprochen werden kann (bspw. Texte von Wissenschaftsorganisationen, Zeitungstexte, Texte von Behörden etc.). Für diachron angelegte Studien ist darüber hinaus die Arbeit mit Serien sinnvoll, die durch regelmäßige Publikationen einer Sprecherposition entstehen (Texte regelmäßig erscheinender Medien, Verhandlungsbände regelmäßig stattfindender Konferenzen, Protokolle regelmäßig tagender Gremien etc.). Mit dem Begriff des Genre bzw. der Gattung werden in den Sprachwissenschaften Gruppen von Texten bezeichnet, für deren Strukturierung und damit deren Kohärenz sich historisch spezifische, institutionell stabilisierte Regeln etabliert haben (Maingueneau 2000[1986]). So gelten für die Strukturierung und Kohärenz wissenschaftlicher Fachaufsätze andere Regeln als für Zeitungsartikel und wiederum andere für politische Reden. Im Rahmen der Diskurstheorie können die entsprechenden Institutionen, d. h. Sprecherpositionen bzw. Genres, selbst als diskursiv konstituiert konzeptionalisiert werden – als „sedimentierte Diskurse“ (Laclau 1990a).9
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Die Zusammenstellung des Korpus ist also abhängig von der Fragestellung der Untersuchung, wobei immer auch die Frage geklärt werden muss, wofür ein bestimmter Korpus steht. In den Sprachwissenschaften gibt es zudem Bemühungen, durch die Zusammenstellung sehr großer Textmengen Standardkorpora zu erstellen, welche „den“ typischen Sprachgebrauch einer bestimmten Epoche abbilden sollen. Beispiele sind der British National Corpus (BNC) (verfügbar unter http://www.natcorp.ox.ac.uk, Zugriff: 25.9.2006), das Projekt Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (verfügbar unter http:// www.dwds.de, Zugriff: 25.9.2006), die Korpora des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (verfügbar unter http://www.ids.de, Zugriff: 16.1.2007) sowie der französische Korpus Frantext (verfügbar unter http:// www.frantext.fr, Zugriff: 25.9.2006). Ziel solcher Bemühungen
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Für die Zusammenstellung der Texte für das zu untersuchende Textkorpus lassen sich zwei prinzipielle Strategien unterscheiden: 1. Es werden alle Texte einer bestimmten Textserie (z. B. alle Texte einer bestimmten Zeitung, alle öffentlichen Reden eines Präsidenten, alle Verlautbarungen einer Organisation etc.) über einen festen Zeitraum berücksichtigt. 2. Anhand des Auftretens von Schlüsselwörtern oder thematischen Kodierungen wird ein thematisches Korpus erstellt. Das zweitgenannte Verfahren erscheint dabei insofern problematisch, als ein solches Vorgehen immer Gefahr läuft, dass nur jene Texte bzw. Textpassagen berücksichtigt werden, die den impliziten Erwartungen der Wissenschaftler entsprechen (Baker 2006). Eine Arbeit mit thematisch zusammengestellten Textkopora, wie sie Busse und Teubert 1994 vorgeschlagen haben (14), scheint daher für lexikometrische Studien nicht geeignet.10 Darüber hinaus kann argumentiert werden, dass nicht alle sprachlichen Muster an Schlüsselbegriffen festzumachen sind: So können etwa oft als „neoliberal“ bezeichnete sprachliche Formen auf ganz unterschiedliche Art und Weise und mithilfe sehr unterschiedlicher Wortverbindungen ausgedrückt werden (Mattissek 2008). Die Analyse geschlossener Korpora, bspw. mit Serien von Texten einer homogenen Sprecherposition, begrenzt das Risiko von Zirkelschlüssen und erhöht die Chance, Diskursmuster herausarbeiten zu können, die nicht den impliziten Erwartungen entsprechen (Glasze 2007b). Innerhalb lexikometrischer Verfahren lassen sich insbesondere vier grundlegende Methoden unterscheiden, die vielversprechende Ansätze für diskurstheoretisch orientierte Arbeiten bieten. Dies sind Frequenzund Konkordanzanalysen, Analysen der Charakteristika eines Teilkorpus sowie Analysen von Kookkurrenzen (eine ausführlichere Darstellung bieten Lebart und Salem 1994, Lebart, Salem und Berry 1998, Marchand 1998: 28ff, Baker 2006). Für die Berechnung bzw. Erstellung der jeweiligen Parameter und Auswertungen kann auf unterschiedliche Computerprogramme zurückgegriffen werden (s. u.). 1. Frequenzanalysen zeigen, wie absolut oder relativ häufig eine spezifische Form in einem bestimmten Segment des Korpus auftritt: Auf ist es u. a., Vergleiche zwischen spezifischen Textkorpora und „dem“ Sprachgebrauch in einer Epoche zu ermöglichen. 10 Für die stärker interpretativ ausgerichteten Methoden, wie bspw. kodierende Verfahren, kann hingegen mit offenen Korpora gearbeitet werden, die im Laufe der Analyse verändert, d. h. verkleinert bzw. ergänzt, werden. Dann kann auch mit einem auf Basis des Kontextwissens thematisch zusammengestellten Korpus begonnen werden.
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der Basis von diachronen Korpora lassen sich damit also bspw. die relative Häufigkeit eines Wortes (Graphems, d. h. der kleinsten zusammenhängenden Einheit, die im Schreibfluss auftritt) oder von regelmäßig verknüpften Wörtern (Wortfolgen, segments répétés bzw. N-Grammen) im Zeitverlauf herausarbeiten. In der Regel werden zunächst Wortlisten erstellt, in denen alle grammatischen Formen eines Wortes (d. h. die einzelnen Grapheme) getrennt gezählt werden (also bspw. Forscher/Forscherin/Forschern/Forschers). Oftmals kommt es aber vor, dass man solche Flexionen für die Analyse als gleichwertig betrachten möchte. In diesem Fall wird mit dem Lemma bzw. Lexem gearbeitet, d. h. mit einer Gruppe verschiedener Flexionsformen, die alle zum gleichen Begriff gehören. Dieser Vorgang wird als Lemmatisierung bezeichnet (Lebart, Salem und Berry 1998: 23). Die Grenze, welche Wortformen für eine gegebene Analyse als äquivalent angesehen werden und welche nicht, hängt von der Fragestellung ab – so kann etwa in einem Fall, wo es um ungleiche Geschlechterverhältnisse an Universitäten geht, die Unterscheidung zwischen „Forscher“ und „Forscherin“ entscheidend sein, in einem anderen Fall, wo es nur darum geht, welche Rolle in einer bestimmten Stadt die Forschung spielt, ist diese Differenzierung nicht relevant (ebd.: 22). 2. Konkordanzanalysen. Die einfachste Möglichkeit, den Kontext eines Wortes bzw. einer Wortfolge zu untersuchen, ist die Anzeige von Konkordanzen. Dabei werden die jeweils vor und hinter einem Schlüsselwort stehenden Zeichenfolgen dargestellt. Eine Konkordanz ist eine Liste, die alle Vorkommen eines ausgewählten Wortes – oder auch Wortfolgen – in seinem Kontext zeigt. Für Konkordanzen üblich ist eine zeilenweise Darstellung, die als KWIC (key word in context) bezeichnet wird (Scherer 2006: 43; Lebart, Salem und Berry 1998: 32f.). Auf dessen linker und rechter Seite wird, je nach verwendeter Analysesoftware, ein festgelegter Kontext angezeigt, bestehend aus einer bestimmten Anzahl an Zeichen oder Wörtern. Konkordanzanalysen können sinnvoll als Vorbereitung und Hilfe für die qualitative Interpretation des Kontextes bestimmter Schlüsselwörter verwendet werden. 3. Analysen der Charakteristika eines Teilkorpus zeigen, welche lexikalischen Formen für einen Teil des Korpus im Vergleich zum Gesamtkorpus bzw. einem anderen Teilkorpus spezifisch sind. Hierzu werden diejenigen Wörter ermittelt, die in einem bestimmten Teil-
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korpus signifikant über- oder unterrepräsentiert sind.11 Die Analysen von Charakteristika eines Teilkorpus sind also induktiv und corpus driven, d. h. sie kommen ohne im Voraus definierte Suchanfragen aus und bieten damit die Chance, auf Strukturen zu stoßen, an die man nicht schon vor der Untersuchung gedacht hat (Teubert 2005, Bubenhofer 2007). 4. Die Untersuchung von Kookkurrenzen12 zeigt, welche Wörter und Wortfolgen (N-Gramme) im Korpus mit einer gewissen Signifikanz miteinander verknüpft werden, d. h. welche Wörter in der Umgebung eines bestimmten Wortes überzufällig häufig auftauchen.13 Dafür wird ein Teilkorpus mit der Umgebung um ein bestimmtes Schlüsselwort erstellt. Diese Umgebungen können Einheiten sein wie der Satz oder Absatz, in dem das Schlüsselwort vorkommt, ein definierter Bereich mit einer bestimmten Zahl von Wörtern vor und nach dem Schlüsselwort oder Einheiten, aus denen der Korpus zusammengesetzt wurde (bspw. einzelne Reden oder Presseartikel, in denen das Schlüsselwort vorkommt). Der Teilkorpus mit den Wörtern und Wortfolgen in der Umgebung des Schlüsselwortes wird dann auf Charakteristika im Vergleich zum Gesamtkorpus untersucht (s. o.).14 11 Grundlage der Berechnung der Signifikanz sind die absolute Häufigkeit eines bestimmten Wortes bzw. einer Gruppe von Wörtern (d. h. von Graphemen oder Lexemen) bzw. einer Wortfolge und die Gesamtzahl aller Wörter in einem gegebenen Korpus (Okkurrenzen). Aus dem Verhältnis zwischen der Häufigkeit einzelner Wörter bzw. Wortgruppen und der Gesamtzahl aller Wörter im Korpus lässt sich die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Frequenz des Wortes in einem Teil des Korpus berechnen. Auf diese Weise lässt sich zeigen, welche Wörter und ggf. Wortfolgen in einem Teilkorpus im Vergleich zum Gesamtkorpus spezifisch häufiger bzw. seltener vorkommen. Je nach Analysesoftware stehen unterschiedliche statistische Tests für die Berechnung der Signifikanzen zur Verfügung (s. Exkurs „Lexikometrische bzw. korpuslinguistische Software und Ressourcen“). 12 Teilweise werden Wörter, die regelmäßig in der Nähe voneinander auftreten, auch als Kollokationen bezeichnet (Baker 2006). 13 Zur Berechnung von Signifikanzen s. unter (3.) „Analyse der Charakteristika eines Teilkorpus“. 14 Eine sinnvolle Erweiterung der Kookkurrenzanalyse bieten multivariate Analyseverfahren von Differenzbeziehungen, mithilfe derer sich Kookkurrenzen verschiedener Begriffe in unterschiedlichen Teilkorpora in einen Zusammenhang bringen lassen (Dzudzek, Glasze, Mattissek, et al. 2009). Während bei der Kookkurrenzanalyse die Bedeutungsverschiebung eines Begriffs durch unterschiedliche Teilkorpora verfolgt wird und man davon ausgeht, dass es einen fixen Knotenpunkt gibt, der in allen Teilkorpora eine zentrale, wenn auch sich verändernde Rolle spielt, bieten multivariate Analyseverfahren von Differenzbeziehungen die Möglich-
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Für lexikometrische Analysen steht eine Vielzahl von Programmen bereit, die auf den unterschiedlichen Betriebssystemen (Windows, UnixSysteme, Linux etc.) basieren. Diese Programme wurden fast ausschließlich im Rahmen sprachwissenschaftlicher Fragestellungen entwickelt und bieten ein umfangreiches Spektrum an Funktionen. Einen Überblick über verschiedene lexikometrische Programme bieten der Linguist Noah Bubenhofer15 sowie eine Internetdatenbank des belgischen Soziologen Christophe Lejeune16. Für Frequenz-, Konkordanz-, Kookkurrenzanalysen oder die Berechnung von N-Grammen stehen einerseits verschiedene Tools und Programme zur Verfügung, die ausschließlich für die jeweiligen Analyseverfahren entwickelt wurden (wie z. B. das Ngram Statistics Package (NSP) zur Berechnung von N-Grammen oder das KonkordanzProgramm AntConc). Andererseits gibt es mit dem französischsprachigen Lexico317 und dem englischsprachigen Wordsmith418 zwei komplexe lexikometrische Programme, welche die Durchführung aller oben angesprochenen lexikometrischen (Grund-)Verfahren ermöglichen.19 Die beiden Pogramme haben in sozialwissenschaftlichen Studien bereits mehrfach Anwendung gefunden. Lexico3 und Wordsmith4 unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Analyseverfahren nicht grundlegend. Sie ermöglichen die Berechnung von Frequenzen, Konkordanzen, N-Grammen (als segments repetés bzw. cluster bezeichnet) und Kookkurrenzen (bei Wordsmith4 als Berechnung von keywords bezeichnet).20 Unterschiede gibt es jedoch bzgl. ih-
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keit, diskursive Verschiebungen im Sinne eines Gleitens von „Signifikant zu Signifikant“ zwischen unterschiedlichen Teilkorpora zu verfolgen. Online abrufbar unter http://bubenhofer.com (Zugriff: 7.10.2008) Online verfügbar unter http://analyses.ishs.ulg.ac.be/logiciels/ (Zugriff: 28.1.2009) Informationen zu Lexico3 finden sich unter http://www.cavi.univparis3.fr/ilpga/ilpga/tal/lexicoWWW/lexico3.htm (Zugriff: 18.12.2008) Informationen verfügbar auf Mike Scotts Website unter http://www. lexically.net/wordsmith/index.html (Zugriff 15.01.2009) Für komplexe multivariate Analysen, wie bspw. Cluster- oder Faktorenanalysen, bieten sie jedoch keine bzw. nur begrenzte Möglichkeiten (Ausnahmen: SenseCluster (Online verfügbar unter http://www.d.umn.edu /~tpederse/senseclusters.html (Zugriff: 14.9.2008)), HyperBase (Informationen zu dem Programm finden sich unter: http://ancilla.unice.fr/~brunet/ pub/hyperbase.html (Zugriff: 18.12.2008)). Lexico3 bietet bspw. nur die Möglichkeit einer auf sechs Dimensionen begrenzten Faktorenanalyse. Je nach Analyse-Software werden unterschiedliche Signifikanztests bereitgestellt. Grundlage der Berechnung der Signifikanzen ist in beiden Fällen die absolute Häufigkeit eines bestimmten Wortes (Graphems) bzw. einer Wortfolge und die Gesamtzahl aller Wörter in einem gegebenen
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rer Leistungsfähigkeit und ihrer Handhabung. Wordsmith4 ermöglicht durch die direkt miteinander verknüpften drei Basis-Werkzeuge Wordlist, Concord und Keyword eine flexiblere Analyse. Zudem ist es leistungsstärker und lässt eine Analyse von Textkorpora mit einem Umfang von mehr als 150 MB zu, während Lexico3 bei diesem Datenvolumen an seine Leistungsgrenzen stößt. Vorteilhaft erscheint bei Lexico3, dass sich im Anschluss an die Analyse der N-Gramme (ségments répetés) diese mit in die Berechnung der Kookkurrenzen bestimmter Teilkorpora einbeziehen lassen. So kann Lexico3 neben den einzelnen Wörtern auch die N-Gramme berechnen, die im Korpus mit einer gewissen Signifikanz miteinander verknüpft werden. Dies ist einerseits für Analysen in Sprachen sinnvoll, in denen im Gegensatz zum Deutschen keine Bildung von zusammengeschriebenen Nominalkomposita erfolgt, wie bspw. im Fall romanischer Sprachen, in denen Komposita zumeist mithilfe einer Präposition (etwa organisation de la francophonie) oder durch SubstantivAdjektiv-Konstruktionen (z. B. conseil permanent) ausgedrückt werden. Andererseits ist dies von großer Bedeutung, wenn man die regelmäßigen sprachlichen Verknüpfungen mit bestimmten, aus zwei oder mehr Lexemen bestehenden Bedeutungskonzepten untersuchen möchte, wie z. B. „Nachhaltige Entwicklung“. Bevor Texte mithilfe lexikometrischer Software analysiert werden können, müssen diese aufbereitet werden. So scheint es bei einigen Programmen, wie auch Lexico3, sinnvoll, den gesamten Korpus auf KleinKorpus (Okkurrenzen). Aus dem Verhältnis zwischen der Häufigkeit dieses Wortes und der Gesamtzahl aller Wörter im Korpus lässt sich die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Frequenz des Wortes in einem Teil des Korpus berechnen. Auf diese Weise lässt sich zeigen, welche Wörter und ggf. Wortfolgen in einem Teilkorpus im Vergleich zum Gesamtkorpus spezifisch häufiger bzw. seltener vorkommen. Im Fall von Lexico3 wird aus dem Verhältnis zwischen der Häufigkeit des bestimmten Wortes und der Gesamtzahl aller Wörter im Korpus die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Frequenz des Wortes in einem Teil des Korpus berechnet. Dabei werden die negativen Exponenten der Zehnerpotenzen dieser Wahrscheinlichkeiten als Spezifität bezeichnet (10-x). Die empirisch gefundenen Wahrscheinlichkeiten unterschreiten dabei vielfach 10-5 deutlich. Gemäß Lebart, Salem und Berry können diese Werte daher unmittelbar als Aussage über die Spezifität eines bestimmten Wortes (Graphems) bzw. einer Wortfolge in einem bestimmten Teilkorpus interpretiert werden (1998: 135). WordSmith4 stellt zwei statistische Tests für die Berechnung der als keyness-Wert bezeichneten Signifikanzen zur Verfügung. Die Berechnung des keyness-Werts erfolgt entweder anhand des klassischen Chi-Quadrat-Tests mit Yates-Korrektur oder mithilfe des statistischen Tests auf Basis von Ted Dunnings Log Likelihood (Dunning 1993). Eine gute Einführung in diese beiden statistischen Verfahren bietet Noah Bubenhofer unter http://www.bubenhofer.com (Zugriff: 12.1.2009).
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schreibung umzustellen, da diese Programme graphische Formen unterscheiden – dasselbe Wort einmal in Groß- und einmal in Kleinschreibung wird als zwei unterschiedliche Formen registriert. Für spezifische Fragestellungen kann es darüber hinaus sinnvoll sein, eine Lemmatisierung durchzuführen, d. h. eine Reduktion der Flexionsformen eines Wortes auf die Grundform. Für die Lemmatisierung sind sprachspezifisch spezielle Programme notwendig. WordSmith4 verfügt über eingeschränkte Möglichkeiten zur Lemmatisierung von Texten. So ist es anhand einer eigens zu erstellenden Lemma-Liste möglich, ausgewählte Flexionsformen auf die Grundform zurückzuführen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass bislang keine lexikometrische Software vorliegt, die auf die Unterstützung einer sozialwissenschaftlich orientierten Diskursforschung ausgerichtet ist. So bieten die Programme Lexico3 und Wordsmith4 bspw. keine Möglichkeit, Dokumente zu verwalten und auf diese Weise flexibel unterschiedliche Kombinationen von Dokumenten (z. B. Presseartikel unterschiedlicher Jahrgänge oder mit unterschiedlichen Schlagwörtern) kontrastieren zu können. Folglich muss für neue Kontrastierungen jeweils aufwendig ein neuer Korpus erstellt werden. Hilfreich für eine flexible Korpuserstellung erweisen sich Datenbankensysteme, mit denen sich die einzelnen digitalen Texte verwalten lassen.21 Das Institut für Deutsche Sprache (IDS) sowie die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) bieten digitale Korpora, die über das Internet abfragbar sind. Verschiedene lexikometrische Analyseverfahren können mit diesen Ressourcen online durchgeführt werden wie bspw. Kookkurrenzanalysen und die Berechnung von Kookkurrenzprofilen oder Synonymen (Cosmas II22, CCBD23, DWDS24) – ohne dass dafür spezielle Programme notwendig wären.
21 Aus Sicht einer sozialwissenschaftlichen Diskursforschung erscheint es daher wünschenswert und wichtig, dass die komfortableren QDAProgramme (bspw. MaxQDA und Atlas.ti) zukünftig um korpuslinguistische Werkzeuge ergänzt werden bzw. lexikometrische Programme weiterentwickelt werden. 22 Über Cosmas II kann anhand eines umfangreichen Abfragepakets auf die Korpora des IDS zugriffen werden, verfügbar unter http://www.idsmannheim.de/cosmas2/uebersicht.html (Zugriff: 18.12.2008). 23 Zugriff auf die Kookkurrenzdatenbank CCBD des IDS unter http://corpora.ids-mannheim.de/ccdb (Zugriff: 18.12.2008) 24 Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften bietet eine lemmabasierte Kollokationssuche im DWDS-Kerncorpus, durchführbar unter http://www.dwds.de (Zugriff: 18.12.2008).
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Wie die Ausführungen gezeigt haben, können lexikometrische Analysen im Rahmen diskursanalytischer Arbeiten einen wichtigen Beitrag leisten. Sie ermöglichen es, große Textmengen zu erfassen und auf Regelmäßigkeiten und Strukturen zu untersuchen, die „von Hand“, d. h. durch Lesen des/der Forschenden, nicht zu erfassen wären. Lexikometrische Verfahren bieten zudem die Chance, induktiv diskursive Strukturen herauszuarbeiten, die gerade nicht den Vorannahmen der Forschenden entsprechen. Strukturalistische bzw. poststrukturalistische Theorien teilen die Auffassung, dass Bedeutung durch regelmäßige Verknüpfungen von symbolischen (insbesondere sprachlichen) Formen entsteht. Die Lexikometrie hilft, diese theoretische Annahme zu operationalisieren, indem sie Differenzbeziehungen von sprachlichen Elementen untersucht und damit die kontextspezifische Konstitution von Sinn im diachronen oder synchronen Vergleich herausarbeitet. Gerade der Vergleich unterschiedlicher Teilkorpora kann dabei eingesetzt werden, um auch Unterschiede, Verschiebungen und Brüche innerhalb des Diskurses – etwa Veränderungen über die Zeit oder Unterschiede zwischen Sprecherpositionen – herauszuarbeiten. Damit kann aufgezeigt werden, wie sich die Konstitution von Bedeutungen abhängig vom jeweiligen diskursiven Kontext verschiebt, wie sie verändert und von neuen Formen der Sinnproduktion herausgefordert wird (Glasze 2007b). Mithilfe der entsprechenden statistischen Verfahren können aber nicht nur Unterschiede zwischen einzelnen Teilkorpora untersucht werden, sondern auch Begriffshäufungen im Kontext bestimmter sprachlicher Formen. So kann für Fragestellungen, die sich mit der Herstellung kollektiver Identität und diskursiver Gemeinschaften beschäftigen, nach Kookkurrenzen des Begriffs „wir“ (sowie „uns“ etc.) gesucht werden. Die Signifikanten, die in solchen sprachlichen Kontexten besonders häufig auftreten, können Hinweise auf Prozesse der Identifikation und Abgrenzung bieten (Mattissek 2007). Die Verwendung lexikometrischer Verfahren stößt allerdings auch an Grenzen: So kann mittels lexikometrischer Verfahren bspw. gezeigt werden, ob und wann das Wort „Afrika“ regelmäßig mit „Armut“ verknüpft und dementsprechend eine bestimmte Bedeutung hergestellt wird – oder nicht. Die lexikometrischen Analysen sind aber nur teilweise in der Lage, die Qualität dieser Verknüpfungen herauszuarbeiten und damit zu analysieren, ob bspw. zwischen den Elementen Beziehungen der Temporalität, der Äquivalenz, der Opposition oder der Kausalität hergestellt werden. Es erscheint daher heuristisch fruchtbar, auch diese Di-
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mension der Konstitution von Bedeutung ins Blickfeld zu nehmen.25 Darüber hinaus erweist sich die Lexikometrie auch als wenig hilfreich, wenn es darum geht, ungesagtes oder implizites Wissen (etwa Prämissen, die als selbstverständlich vorausgesetzt werden) zu erfassen. Auch Phänomene wie Ironie oder Sarkasmus lassen sich kaum ausschließlich mit computergestützten Verfahren analysieren. In der Regel bietet es sich daher in empirischen Arbeiten an, lexikometrische Methoden mit anderen Verfahren zu kombinieren, die die Konstitution von Bedeutung in einzelnen Aussagen oder Texten adressieren. Insbesondere können die hier vorgestellten Verfahren der quantitativen Makroanalyse von Texten sinnvoll mit Verfahren der Aussagenund Argumentationsanalyse und kodierenden Verfahren bspw. der Analyse narrativer Muster verknüpft werden. Für diese „Mikroverfahren“ liefert die Lexikometrie wichtige Anregungen, indem sie Hinweise auf relevante Themen- und Begriffsfelder gibt. Fazit: Korpusbasierte lexikometrische Verfahren arbeiten quantitative Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen heraus. Die Herstellung von Bedeutung wird dabei empirisch gefasst als die Regelmäßigkeit der Verknüpfung von lexikalischen Elementen. Frequenzanalysen zeigen, wie absolut oder relativ häufig eine spezifische Form in einem bestimmten Segment des Korpus auftritt, Analysen der Charakteristika eines Teilkorpus zeigen, welche lexikalischen Formen in einem Teil des Korpus überzufällig häufig sind, die Untersuchung von Kookkurrenzen zeigt, welche Wörter in der Umgebung eines bestimmten Wortes überzufällig häufig auftauchen.
4.1.3 Untersuchung narrativer Muster: von der Einbindung in narrative Muster zur Bedeutung Bedeutung wird in Texten nicht nur durch die Verknüpfung einzelner lexikalischer Elemente hergestellt, sondern auch und v. a. durch vielfältige Verbindungen und vielschichtige Relationen oberhalb der Wortund Satzebene, häufig sogar oberhalb der Ebene einzelner konkreter Texte. Um diese im Rahmen einer diskursanalytischen Untersuchung greifen zu können, reichen Verfahren, die unmittelbar quantifizierend an 25 Prinzipiell könnten diese Fragen auch mittels lexikometrischer Verfahren adressiert werden – die Untersuchung müsste dann letztlich unendlich lange fortgesetzt werden, um auch die signifikanten Umgebungen der signifikanten Umgebungen der signifikanten Umgebungen zu untersuchen usw. In der Forschungspraxis ist dies allerdings kaum umsetzbar.
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der sprachlichen Oberfläche ansetzen (wie lexikometrisch-korpuslinguistische Verfahren) vielfach nicht aus. Ein wichtiges Verfahren diskursanalytischer Arbeiten ist daher auch das stärker interpretative Kodieren von Elementen und deren Verknüpfungen (s. u.). Das Ziel des Kodierens als Teilschritt einer Diskursanalyse ist es, Regelmäßigkeiten im (expliziten und impliziten) Auftreten (komplexer) Verknüpfungen von Elementen in Bedeutungssystemen herauszuarbeiten. Diese lassen sich dann als Hinweise auf diskursive Regeln verstehen. Dabei werden Techniken der interpretativen Textanalysen sowie der qualitativen Inhaltsanalyse angewendet, die allerdings an die theoretischen Vorannahmen angepasst verwendet werden müssen. Konzeptionell kann bei diesem Vorgehen an Überlegungen aus der Narratologie zurückgegriffen werden. Ziel der Narratologie bzw. Erzähltheorie ist eine systematische Darstellung der strukturellen Zusammenhänge des Erzählens (Stanzel 1995 zit. nach Nünning 2002). Die Grundlagen liegen in der literaturtheoretischen Schule des russischen Formalismus sowie insbesondere im Strukturalismus (Barthes 1988). Dabei wurden eine Vielzahl von Kategorien für die Analyse literarischer Erzählungen entwickelt (bspw. Fragen der Zeitstruktur und der Perspektive der Erzählung, s. insbesondere Genette 1998). Mit der Rezeption der Ansätze des Poststrukturalismus sowie der Anwendung von Konzepten der Narratologie auf Frage- und Themenstellungen der postcolonial studies und der gender-Forschung rücken seit einigen Jahren verstärkt die „kontextuellen und funktionellen Aspekte des Erzählens“ (Nünning 2002) in das Blickfeld der Forschung. Parallel zu dieser Öffnung der vormals überwiegend auf literarische Texte ausgerichteten Erzählforschung werden Konzepte der Erzähltheorie vermehrt auch in den Sozialwissenschaften für die Untersuchung nicht-fiktionaler Texte verwendet.26 Neuere Ansätze der Erzählforschung betrachten Narrationen als Konzepte einer sozialen Epistemologie und Ontologie: Narrationen konstituieren soziale Wirklichkeit und dies eben nicht nur in fiktionalen Texten (White 1981, Stone 1989, Fiol 1990, Somers 1994, Gutenberg 26 So macht beispielsweise der Historiker Hayden White 1981 darauf aufmerksam, dass alle Darstellungen historischer Zusammenhänge letztlich Erzählungen sind; die Politikwissenschaftlerin Stone untersucht , wie politische Akteure in Narrationen Kausalzusammenhänge konstruieren (1989) und diese damit als Fakten erscheinen lassen; der Soziologe Viehöver arbeitet 2003 sechs Narrationen über den Klimawandel heraus und der Soziologe Angermüller geht von einem formalerzähltheoretischen Zugang aus und reflektiert am Beispiel eines biographischen Interviews die narrativ-diskursive Konstitution historischen Wandels (2003).
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2000, Viehöver 2001, Birk und Neumann 2002). Im Folgenden werden narrative Muster in Anlehnung an Somers (1994: 616) als regelmäßige Verknüpfungen von Elementen gefasst, die Beziehungen einer spezifischen Qualität herstellen. Die narrativen Muster fügen sich in umfassendere Narrationen ein, die allerdings in konkreten Texten vielfach nur teilweise reproduziert werden. Ein Schwerpunkt der neueren Erzählforschung liegt auf Fragen der Konstitution von Identitäten, wobei von einer relationalen Konstitution von Identität und damit einer notwendigen aber letztlich immer unmöglichen Abgrenzung von „dem Anderen“ ausgegangen wird (s. Somers 1994, Birk und Neumann 2002). Narrationen können danach als Artikulationen im Sinne der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe analysiert werden, die eine Beziehung zwischen Elementen herstellen, Grenzen etablieren, auf diese Weise eine temporäre Fixierung leisten, Bedeutung und damit Identität konstituieren.27 Zur Operationalisierung werden im Folgenden kodierende Verfahren genutzt. Kodierungstechniken wurden in den Sozialwissenschaften zunächst vor dem Hintergrund interpretativ-hermeneutischer Theorien entwickelt, bspw. im Rahmen der „qualitativen Inhaltsanalyse“ (Mayring 1995) und Ansätzen der grounded theory (Strauss und Corbin 1996 [1990]; Glaser und Strauss 1998 [1967]). Innerhalb dieser interpretativ-hermeneutisch orientierten Ansätze dient das Kodieren dazu, Textstellen zu klassifizieren und zu bündeln. Die dabei entwickelten Codes werden als Indikatoren für einen bestimmten Inhalt, einen bestimmten Sinn interpretiert. In diskurstheoretisch orientierten Forschungsprojekten dient das Kodieren von Elementen und deren Verknüpfungen dazu, Regelmäßigkeiten herauszuarbeiten und von diesen Regelmäßigkeiten auf die Regeln der diskursiven Bedeutungskonstitution zu schließen. Dementsprechend halten die beiden Diskursforscher Diaz-Bone und Schneider fest (2003: 474): Die Kodierungen in diskurstheoretisch orientierten Analysen „dienen zwar ebenso der Identifizierung (‚Markierung‘) von Textstellen, stellen jedoch nicht […] gehaltvolle Indikatoren (im Sinne eines Konzept-Indikator-Verhältnisses) [und damit] den notwendigen (!) Weg hin zu ‚Schlüsselkonzepten‘ dar […]. Vielmehr müssen die jeweiligen ‚Codes‘ (als Verweis auf die in den Daten materialisierte Diskursordnung als Realität ‚sui generis‘) entsprechend ihrer empirisch rekonstruierbaren ‚Verwendungsweisen‘ zu empirisch begründeten, diskurstheoretischen Aussagen über die Strukturiertheit, Regelhaf27 Der von der Soziologin Somers 1994 dargestellte Ansatz der „narrativen Konstitution von Identität“ weist dabei zahlreiche Übereinstimmungen mit dem Konzept der „diskursiven Konstitution von Identitäten“ bei Laclau und Mouffe 1985 auf.
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tigkeit dieser Ordnung zusammengefügt werden“. Während der Ablauf der Kodierung (Markierung, Ordnung, Klassifizierung) in diskurstheoretisch orientierten Analysen also vielfach ähnlich verläuft wie in interpretativ-hermeneutisch orientierten Analysen (Reuber und Pfaffenbach 2005: 162; Mayring 1995), ist der konzeptionelle Stellenwert des Kodierens jedoch ein anderer. Wenn das Ziel des Kodierens ist, Regelmäßigkeiten in den Beziehungen von lexikalischen Elementen bzw. Konzepten (s. u.) in Diskursen herauszuarbeiten, um damit auf die Regeln der Konstitution von Bedeutung zu schließen, muss bei der Frage, was eigentlich kodiert werden kann, zwischen zwei Schritten unterschieden werden: erstens dem Kodieren selbst, und zweitens der Analyse von Regelmäßigkeiten, die sich im Überblick über die kodierten Textstellen erkennen lassen. Was kodiert wird, ist also eine Frage, die sich im Wesentlichen im ersten Schritt stellt. Um diesen zu operationalisieren, werden unmittelbar anknüpfend an Laclau und Mouffe (1985) Elemente und Artikulationen unterschieden. Elemente können als Basiseinheit des Diskurses begriffen werden. In der vorliegenden Arbeit werden diese Elemente als lexikalische Elemente (d. h. Wörter bzw. Wortfolgen) gefasst. Je nach Forschungsfrage können die Elemente entweder im Vorhinein festgelegt werden oder auch durch andere Verfahren, wie z. B. lexikometrische Analysen, ermittelt und anschließend im Text gesucht werden. Das, worauf das Kodieren eigentlich abzielt, sind nicht die einzelnen Elemente selbst, sondern ihre Verknüpfungen untereinander. Um diese greifen zu können, wird das Konzept der Artikulation verwendet. Demnach setzen Artikulationen Elemente miteinander in Beziehung und stellen auf diese Weise Beziehungen einer spezifischen Qualität her – bspw. Beziehungen der Äquivalenz, der Opposition, der Kausalität oder der Temporalität (s. o. Somers 1994: 616). Dabei können minimal zwei Elemente miteinander verknüpft werden, vielfach werden aber komplexe Verbindungen zwischen verschiedenen Elementen gebildet. Diese komplexen Verknüpfungen werden als narrative Muster bezeichnet.28 Artikulationen, die sich in hohem Maße zu einem Gemeinplatz verfestigt haben, werden zuweilen unter dem Begriff Topos (Wengeler 2003) gefasst. Da die kodierenden Verfahren im Rahmen von Diskursanalysen darauf zielen, Regelmäßigkeiten herauszuarbeiten, erscheint es grundsätzlich sinnvoll, mit umfangreichen Textkorpora zu arbeiten. Dabei muss
28 Narrative Muster sind zu vergleichen mit den von Viehöver (2001: 197) als plot und von Hajer und Wagenaar (2003: 277) als storyline bezeichneten Mustern.
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die Zusammenstellung des Korpus auf vorhandenem Kontextwissen basieren. In erster Linie entscheidet die Fragestellung über die Auswahl der zu untersuchenden (textlichen sowie ggf. auch nicht-textlichen) Materialien. Welche Sprecherpositionen sind gesellschaftlich besonders relevant? Welche Genres sind einflussreich? Im Gegensatz zu lexikometrischen Untersuchungen kann im Rahmen der kodierenden Analyse narrativer Muster auch mit einem „offenen, sich […] erweiternden Korpus“ (Pêcheux 1983 [1975]: 54, zit. nach Busse 2000: 44) gearbeitet werden. Da zu Beginn des Forschungsprozesses vielfach nicht das gesamte zu untersuchende Diskursfeld überblickt werden kann und sich aus den ersten Ergebnissen neue Detailfragen ergeben können, erscheint es dabei sinnvoll, sich an die Methode das theoretical sampling der grounded theory anzulehnen (Strauss und Corbin 1996 [1990]: 25f.; Lamnek 1995: 100f.). Hier erfolgen Datensammlung und -auswertung in mehreren Schritten und werden so lange fortgesetzt, bis bei der Auswertung neuer Daten keine neuen Ergebnisse mehr hinzutreten (Lamnek 1995: 100f.). Im Rahmen einer Operationalisierung der Diskurstheorie ergänzt die Analyse narrativer Muster die lexikometrischen Verfahren v. a. in zwei Punkten: 1. Die lexikometrischen Verfahren geben Hinweise auf Charakteristika bestimmter historisch bestimmter Teilkorpora sowie auf die Kookkurrenzen bestimmter Begriffe (bspw. eben francophonie). Mittels einer Analyse narrativer Muster wird geklärt, inwieweit die lexikometrisch ermittelten Wörter bzw. Wortfolgen als Knotenpunkte dienen, welche narrativ Äquivalenzbeziehungen herstellen, ein Außen definieren und auf diese Weise Gemeinschaft konstituieren. „Leer“ sind diese Knotenpunkte also insofern, als dass sie disparate Elemente in eine Äquivalenzbeziehung setzen. 2. Die lexikometrischen Verfahren geben Hinweise auf die Brüche und Verschiebungen des Diskurses. Nach der Diskurstheorie können diese Brüche und Verschiebungen als Folgen einer Dislokation des Diskurses interpretiert werden, die dadurch ausgelöst werden, dass „Ereignisse“ nicht in einen bestehenden Diskurs integriert werden können. Dabei kann gezielt nach narrativen Mustern gesucht werden, die Beziehungen artikulieren, die im Widerspruch zu dem für eine bestimmte Epoche als hegemonial identifizierten Diskurs stehen und so Hinweise auf die Ursache für dessen Dislokation liefern. Die Textverwaltungs-, Such- und Kodierfunktionen von Programmen zur computergestützten qualitativen Inhaltsanalyse können die Analyse von narrativen Mustern erleichtern, indem zunächst alle Absätze kodiert 117
POLITISCHE RÄUME
werden, in denen ein Wort bzw. eine Wortfolge vorkommt, die sich in der lexikometrischen Analyse als Kookkurrenz bzw. für bestimmte Epochen als charakteristisch erwiesen hat.29 Anschließend wird untersucht, in welche Verknüpfungen diese Wörter und Wortfolgen eingebunden werden. Dabei wird induktiv ein Set an narrativen Mustern entwickelt.30 Fazit: Narrative Muster werden gefasst als regelmäßige Verknüpfung, d. h. Artikulation, von Elementen, die Beziehungen einer spezifischen Qualität herstellen – bspw. Beziehungen der Äquivalenz, der Opposition, der Kausalität oder der Temporalität. Narrative Muster fügen sich vielfach in umfassendere Narrationen ein, die allerdings in konkreten Texten i. d. R. nur teilweise reproduziert werden. Mit der Analyse narrativer Muster wird geklärt, ob bestimmte lexikometrisch ermittelte Wörter bzw. Wortfolgen als Knotenpunkte dienen. Darüber hinaus kann herausgearbeitet werden, was jeweils zur Dislokation eines Diskurses geführt hat.
4 . 2 An a l ys e n i c h t - s p r a c h l i c h e r Ar t i k u l a t i o n e n Wie in Kapitel 3.2 dargestellt, umfasst das Diskurskonzept von Laclau und Mouffe mehr als nur sprachliche Artikulationen: „… our notion of discourse [...] involves the articulation of words and actions, so that the quilting function is never a merely verbal operation but is embedded in material practices which can acquire institutional fixity“ (Laclau 2005: 106). Allerdings gelingt auch die Beschreibung und Analyse nichtsprachlicher Artikulationen letztlich immer nur in Sprache. Wenn man mit Roland Barthes davon ausgeht, dass Sprache die Grundlage aller Sinnzusammenhänge ist, dann erscheint die Fokussierung des Forschungsdesigns auf die Lexikometrie und die Analyse narrativer Muster mehr als gerechtfertigt. Vor diesem Hintergrund und angesichts der nicht zu unterschätzenden methodischen Schwierigkeiten werden nichtsprachliche Artikulationen in der vorliegenden Arbeit nur ergänzend in den Analysefokus genommen. Dazu werden im Folgenden zwei Vorschläge entwickelt: zum einen eine diskurstheoretisch orientierte Bild29 Darüber hinaus kann mit einer auf Basis des Kontextwissens erstellen Stichwortliste gearbeitet werden, die im Laufe der Analyse induktiv erweitert werden kann (ähnlich arbeitet Viehöver 2003). 30 In den meisten Forschungsprojekten laufen die Prozesse der CodeBildung entsprechend ihrer jeweiligen Fragestellung sowohl induktiv als auch deduktiv ab, jedoch ggf. mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Grundsätzlich sollte jedoch stets transparent gemacht werden, warum welche Textstelle wie kodiert wird.
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OPERATIONALISIERUNG
analyse sowie zum anderen eine diskurstheoretisch orientierte Analyse der Dynamik von institutionalisierten Praktiken und Organisationen.
4.2.1 Ansätze einer diskurstheoretisch orientierten Bildanalyse Die Bedeutung von Bildern für die Konstitution sozialer Wirklichkeit wird spätestens seit den in Anlehnung an den linguistic turn in den 1990er Jahren ausgerufenen visual, iconic bzw. pictorial turn(s) (Mitchell 1994, 1997, Böhme 1999, Belting 2007) in weiten Bereichen der Sozial- und Kulturwissenschaften diskutiert. Vielfach wird dabei argumentiert, dass die Verbreitung der Massenmedien die Bedeutung von Bildern noch weiter erhöht habe. Gerade auch für die Geographie mit ihrer langen Tradition der Beobachtung und Herstellung von Weltbildern erscheint eine Beschäftigung mit dem Visuellen fruchtbar und notwendig (siehe dazu bspw. Burgess und Wood 1988, Harley 1996, Escher und Zimmermann 2001, Campbell 2007, Schelhaas und Wardenga 2007, Tzschaschel, Wild und Lentz 2007, Schlottmann und Miggelbrink 2009). Im Gegensatz zu Texten sind Bilder nicht aus lexikalischen Elementen aufgebaut, die im Rahmen der Syntax linear verbunden werden. Vielmehr wird in Bildern simultan und räumlich eine Vielzahl äußerst heterogener Elemente in Beziehung gesetzt. Diese Simultanität und Räumlichkeit von Bildern ist es auch, die dazu führt, dass Bilder vielfach als „indexikalische Zeichen“ gelesen werden (Meier 2005, 2007 in Weiterführung einer Überlegung von Peirce). So sind bspw. bei Karten oder bei Photos sowohl Bezeichnendes als auch Bezeichnetes räumlich organisiert sind und diesen Bildern wird daher der Charakter einer Abbildung von Wirklichkeit zugestanden (s. Abbildung 10). Das heißt Bilder werden vielfach in höherem Maße als Texte als eine unmittelbare Abbildung von Wirklichkeit gelesen. Auf diese Weise ist auch zu erklären, dass Bildern vielfach eine hohe Evidenz zugesprochen wird (was Bilder zeigen, ist so!) und Bilder in höherem Maße als Texte unmittelbare Sinneseindrücke auslösen können (ebd.). Allerdings kann für eine diskurstheoretisch orientierte Analyse visuellen Materials kaum sinnvoll an die etablierten, vielfach hermeneutisch ausgerichteten Verfahren der Bildanalyse angeknüpft werden. Ziel ist nicht ein vermeintliches „Verstehen“ dessen, was Bilder repräsentieren, sondern eine Analyse, wie in Bildern Bedeutung und damit soziale Wirklichkeit konstituiert wird. Eine unmittelbare Übertragung der oben skizzierten Verfahren einer sprachbasierten Diskursanalyse ist indes auch nicht möglich. Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht darin, 119
POLITISCHE RÄUME
dass für nicht-textliches Material nicht unmittelbar mit Konzepten wie „Lexik“ oder „Syntax“ gearbeitet werden kann (für das Beispiel Karten in diesem Sinne s. Robinson und Bartz Petchenik 1976). Trotz einiger Ansätze zur Entwicklung einer diskurstheoretisch orientierten Bildanalyse (Rose 2005, Renggli 2007) und Vorschlägen für eine „multimodale“ Diskursanalyse, die Texte und Bilder in den Analysefokus nimmt (Meier 2005, 2007), scheint eine diskurstheoretische orientierte Auseinandersetzung mit visuellem Material noch in den Anfängen zu stehen. Abbildung 10: Karten werden vielfach als „indexikalische Zeichen“ gelesen – d. h. es wird unterstellt, dass sie die Wirklichkeit abbilden
Eigener Entwurf Andererseits legen die immer weiter fortschreitende Verbreitung von Bildern und nicht zuletzt der Evidenzeffekt von Bildern nahe, nicht auf eine Analyse visuellen Materials zu verzichten. In der vorliegenden Studie wird daher die sprachbasierte Diskursanalyse punktuell durch die Analyse von Bildern ergänzt.31 Das heißt, dass auf der Grundlage der Ergebnisse der sprachbasierten Diskursanalyse punktuell einige Bilder daraufhin untersucht wurden, inwiefern sich Regelmäßigkeiten der Verknüpfung von visuellen Elementen identifizieren lassen und auf diese Weise spezifische Bedeutungen hergestellt und fixiert werden – im Zusammenspiel von Text und Bild.
31 Die aus konzeptionellen Erwägungen sicherlich sinnvolle und letztlich notwendige Erstellung eines umfangreichen, diachronen Korpus mit Bildmaterial konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit mit ihrer Schwerpunktsetzung auf eine sprachbasierten Diskursanalyse nicht geleistet werden.
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OPERATIONALISIERUNG
Fazit: In Bildern wird eine Vielzahl äußerst heterogener Elemente simultan und räumlich miteinander verbunden. Diese Simultanität und Räumlichkeit von Bildern führt dazu, dass Bilder vielfach als „indexikalische Zeichen“ gelesen werden. Da sowohl Bezeichnendes als auch Bezeichnetes räumlich organisiert sind, wird dem Bild der Charakter einer Abbildung von Wirklichkeit zugestanden. Allerdings kann für eine diskurstheoretisch orientierte Analyse visuellen Materials kaum sinnvoll an die etablierten, vielfach hermeneutisch ausgerichteten Verfahren der Bildanalyse angeschlossen werden. In der vorliegenden Studie werden auf der Grundlage der Ergebnisse der sprachbasierten Diskursanalyse punktuell einige Bilder daraufhin untersucht, inwiefern sich Regelmäßigkeiten der Verknüpfung von visuellen Elementen identifizieren lassen und auf diese Weise spezifische Bedeutungen hergestellt werden.
4.2.2 Ansätze zur Untersuchung von Institutionen als sedimentierte Diskurse Der Diskurstheorie war zunächst von einigen Autoren vorgeworfen worden, dass die institutionelle Beständigkeit der sozialen Wirklichkeit nicht hinreichend konzeptionalisiert würde (s. insbesondere Mouzelis 1988). In den vergangenen Jahren haben Laclau und Mouffe aber mehrfach die Bedeutung der Sedimentierung von Diskursen und damit von institutionellen Fixierungen herausgestellt (s. Kapitel 3.2). Laclau und Mouffe lehnen allerdings den Dualismus von Handelnden und Strukturen ab, der zahlreiche gesellschaftstheoretische Ansätze prägt. In einem Interview formuliert Laclau (1990b: 223 f.): „In opposition to the postulation of two separate entities – agents and structures – we suggest the following: (a) that there are merely relative degrees of institutionalization of the social, which penetrate and define the subjectivity of the agents themselves; and (b) that the institutions do not constitute closed structural frameworks, but loosely integrated complexes requiring the constant intervention of articulatory practices [...] there is no institutional structure which is not ultimately vulnerable.“
Institutionen können dabei als regelmäßige Wiederholung ähnlicher Artikulationsmuster gefasst werden. Institutionen sind also letztlich permanente Institutionalisierungen (dazu auch Nonhoff 2006). Der Institutionenbegriff der Diskurstheorie weist damit eine große Übereinstimmung mit dem Institutionenbegriff einiger Ansätze des NeoInstitutionalismus auf. Erstens scheint der umfassende Institutionenbe121
POLITISCHE RÄUME
griff des Neo-Institutionalismus anschlussfähig, der neben Organisationen (als Institutionen mit einer formalisierten Mitgliedschaft) und formellen Institutionen (wie bspw. rechtlich kodifizierte politische Verfahren) auch weniger formalisierte Institutionen (wie Begrüßungspraktiken) umfasst (Sorensen und Torfing 2007). Zweitens heben auch einige Ansätzen des Neo-Institutionalismus auf die Produktion und Reproduktion von Institutionen ab (Dreyer Hansen und Sørensen 2005). Institutionen werden damit nicht einfach als gegebener Rahmen sozialer Interaktionen, sondern als Ergebnis und Verfestigung von Diskursen gefasst, welche die weitere artikulatorische Praxis beeinflussen. Und drittens konzeptionalisieren auch einige Ansätze des Neo-Institutionalismus Subjekte als konstituiert (Hasse und Krücken 2005). Obwohl Institutionen immer wieder der Artikulation ähnlicher Muster d. h. permanenter Institutionalisierungen bedürfen, stellen insbesondere formelle Institutionen und Organisationen eine strukturelle und fixierende Größe im Diskurs dar.32 Deren Stabilität wird erhöht, indem ihre Existenz sowie ihre Beziehung zu anderen Artikulationsmustern explizit artikuliert und mit anderen Institutionen verknüpft wird – beispielsweise werden Organisationen vielfach durch Verträge mit den Institutionen des Rechtsbereichs verbunden (s. dazu auch die Diskussion zu Institutionalisierung von Gemeinschaften in Organisationen in Kapitel 3.2.3). Diese Artikulationen schlagen sich vielfach in spezifischen Texten nieder (Gesetze, Beitrittsordnungen, Übereinkommen etc.), so dass sie letztlich zumindest teilweise einer sprachbasierten Analyse zugänglich sind. Ein empirisches Problem dabei ist allerdings, dass es ja nur die erfolgreichen, hegemonialen Diskurse sind, die sich in Form von Organisationen und formalisierten Institutionen sedimentieren. Gescheiterte Institutionalisierungsversuche sind daher vielfach nur eingeschränkt über Textkorpora erfassbar – hier können ggf. in Experteninterviews einige Hinweise gewonnen werden. Fazit: Institutionen werden in der Diskurstheorie als regelmäßige Wiederholung ähnlicher Artikulationsmuster und damit als sedimen32 Die Untersuchung weniger formalisierter Institutionen nicht-sprachlicher Artikulationen ist für die vorliegende Studie angesichts der Fokussierung auf eine internationale Ebene von untergeordnetem Interesse. Für andere Forschungsfragen kann dies aber durchaus sinnvoll sein. Dabei könnte an ethnographische Methoden angeknüpft werden, wobei allerdings nicht von Interaktionen zwischen Akteuren mit einer gegebenen Identität ausgegangen werden kann, sondern gerade die Konstitution von individueller und kollektiver Identitäten in Praktiken konzeptionalisiert werden müsste (dazu auch Nonhoff 2006: 387).
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OPERATIONALISIERUNG
tierte Diskurse gefasst. Institutionen sind also letztlich permanente Institutionalisierungen. Obwohl Institutionen immer wieder der Artikulation ähnlicher Muster, d. h. permanenter Institutionalisierungen bedürfen, stellen insbesondere formelle Institutionen und Organisationen eine strukturelle und fixierende Größe im Diskurs dar. Die Untersuchung der Sedimentierung und Desedimentierung von Diskursen in Institutionen erscheint daher wichtige, die sprach- und bildbasierte Analyse ergänzende Informationen über die Fixierung sozialer Wirklichkeit liefern zu können.
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5 Die diskursive Konstitution der Frankophonie 5.1
Die Frankophonie als internationale Gemeinschaft und geokultureller Raum: Au s g a n g s p u n k t u n d e m p i r i s c h e Fragestellung
Folgt man der Selbstdarstellung der Organisation Internationale de la Francophonie (OIF), so haben die gemeinsame Sprache, die damit geteilten Werte und eine lang zurückreichende Geschichte eine internationale Gemeinschaft (communauté internationale) und einen „geokulturellen Raum“ (espace géoculturel) geschaffen: die Frankophonie. Die Organisation Internationale de la Francophonie und weitere frankophone Organisationen sind danach nichts anderes als die Manifestation und Institutionalisierung dieser Gemeinschaft und ihres weltumspannenden Raumes. Ziel des fünften Kapitels ist es, die in Kapitel 3 entwickelte theoretische Perspektive der Diskurs- und Hegemonietheorie und die in Kapitel 4 entwickelte Operationalisierung dieser Perspektive für die Untersuchung der diskursiven Konstitution der Frankophonie in Wert zu setzen. Wie dargestellt, entstehen in der Perspektive der Diskurstheorie Gemeinschaften nicht auf der Basis gemeinsamer Wesensmerkmale. Vielmehr werden Gemeinschaften in einem doppelten Prozess gebildet, der zum einen eine Äquivalenzkette ausbildet, welche die Differenzen innerhalb der Gemeinschaft aufhebt, und zum anderen eine antagonistische Grenze gegenüber dem Außen definiert. Die Äquivalenzkette und die antagonistische Grenze werden von einem spezifischen Knotenpunkt repräsentiert: einem leeren Signifikanten. Ziel der Studie ist es, in einer 125
POLITISCHE RÄUME
diachronen Perspektive, die auf die Phase nach der Entkolonialisierung fokussiert, folgende Punkte herauszuarbeiten: • Um welche (tendenziell) leeren Signifikanten wurde und wird die Frankophonie konstituiert? • Welche Äquivalenzketten wurden und werden dabei artikuliert? Und wie wurde und wird die Frankophonie dabei gegenüber einem Außen abgegrenzt? • Welche Brüche und Verschiebungen lassen sich dabei im diachronen Vergleich identifizieren? Wie können diese erklärt werden, d. h. was führte zur Krise und damit Dislokation der überkommenen Diskurse? Wie wurden die Dislokationen überwunden d. h. mit welchen Mythen wurde eine erneute Fixierung erreicht? • Welche formellen Institutionen und Organisationen können dabei als „sedimentierter Frankophoniediskurs“ interpretiert werden? Wie gestaltet sich die Dynamik dieser Institutionen? • Welche Rolle spielen Bezüge auf einen espace francophone d. h. auf „Raum“ im Frankophoniediskurs? Dabei bietet Kapitel 5.2 zunächst einen kurzen und gerafften Überblick über den Stand der Forschungen zur Frankophonie. In Kapitel 5.3 wird das Forschungsdesign der Fallstudie vorgestellt. Das Kapitel 5.4 dient dann der Präsentation der Forschungsergebnisse.
5.2
Forschungsstand: Frankophonie als Thema l i t e r a t u r - u n d s o z i a lw i s s e n s c h a f t l i c h e r Forschung
Sucht man in den einschlägigen Literaturdatenbanken nach dem Schlagwort „Frankophonie“, dann stößt man auf eine nicht kleine Zahl von „Treffern“. Ein großer Teil dieser Studien ist allerdings im engeren Sinne literaturwissenschaftlich bzw. soziolinguistisch1 ausgerichtet. Letztere Arbeiten diskutieren die Verbreitung des Gebrauchs der französischen Sprache in unterschiedlichen Gesellschaften (bspw. Robillard, Beniamino und Bavoux 1993, Chaudenson und Rakotomalala 2004). Erstere Arbeiten beschäftigen sich mit der französischsprachigen Literatur, die von nichtfranzösischen Autoren verfasst wurde (bspw. Viatte 1980, Derive 1985, Joubert 1986, Moura 1999, Ndiaye 2004). Erst in jüngerer Zeit finden sich auch Studien, welche die Frankophonie als ein umfassenderes soziales bzw. diskursives Phänomen untersuchen. 1
126
Teilweise werden die Studien auch als „geolinguistisch“ bezeichnet.
DIE DISKURSIVE KONSTITUTION DER FRANKOPHONIE
Die Autoren dieser Arbeiten stammen überwiegend aus den Sprach- und Literaturwissenschaften und interessieren sich im Zuge des cultural turn in zunehmenden Maße für soziale bzw. diskursive Kontexte. Während allerdings in französischer Sprache bislang nach wie vor traditionelle literaturwissenschaftliche- und linguistische Studien sowie nicht zuletzt apologetische Schriften (s. die Monographien in Tabelle 2, S. 130) über die Notwendigkeit, das Wesen und die Berufung der Frankophonie – von eher wenigen Ausnahmen abgesehen (s. beispielsweise Malone 1971, Traisnel 1998, Zoberman 2001) – überwiegen, haben sich an einigen englischsprachigen Universitäten die francophone studies als kleines kultur- und sozialwissenschaftliches Forschungsfeld etabliert, das seine konzeptionellen Perspektiven aus den postcolonial studies bezieht (aus diesem Kontext stammt auch ein englischsprachiges Wörterbuch der Frankophoniestudien, Majumdar 2002, ein französischsprachiges Pendant bleibt hingegen in höherem Maße auf literatur- und sprachwissenschaftliche Einträge beschränkt: Beniamino und Gauvin 2005). Den bislang einzigen kritischen, von den postcolonial studies informierten Beitrag aus der französischen Geographie liefert Milhaud 2006. Im deutschsprachigen Raum haben insbesondere die Arbeiten von Riesz (1989, 2002, 2003, 2005, 2006) die Entwicklung einer kulturwissenschaftlichen Frankophonie-Forschung vorangetrieben. Janós Riesz hat dabei in einer von der Foucault’schen Diskursanalyse inspirierten Perspektive die Formung des Frankophoniediskurses in der Phase der Entkolonialisierung untersucht (aus diesem Kontext bspw. auch Lüsebrink 2000 sowie die weiteren Beiträge in Riesz und Porra 2000). Daneben sind einige Arbeiten zu nennen, die (zumindest teilweise) im Kontext des Frankreich-Zentrums der Universität Leipzig entstanden sind: Dabei diskutiert Middell 2003 aus der Perspektive einer konstruktivistisch informierten Geschichtswissenschaft, inwiefern die Idee der Frankophonie als Weltregion trotz der verstreuten Lage der Mitgliedsländer und damit der Unmöglichkeit, die eigene Existenz auf ein vermeintlich gegebenes gemeinsames Territorium aufzubauen (wie beispielsweise die Idee der politischen Einigung Europas), dennoch an gemeinsame „Erinnerungsorte“ (im Sinne von Nora 1997) anknüpfen und auf diese Weise eine gemeinsame Identität konstituieren kann. Der Soziolinguist Erfurt hat 2005 das erste deutschsprachige Lehrbuch zur Frankophonie publiziert, das einen Überblick bietet über die Soziolinguistik des Französischen im weltweiten Vergleich sowie die Entwicklung der Organisationen der Frankophonie und deren Politik. Darüber hinaus hat der Politikwissenschaftler Kolboom mehrere Publikationen vorgelegt, die den Um- und Ausbau der organisatorischen Strukturen der Frankophonie seit den 1990er Jahren beschreiben (1989, 2002b, a, c, 2003, 2004). 127
POLITISCHE RÄUME
Fazit: Unter dem Titel „Frankophonie“ wird zum einen in einer soziolinguistischen Perspektive die Verbreitung des Gebrauchs der französischen Sprache untersucht. Zum anderen wird die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit französischsprachiger Literatur, die von nicht-französischen Autoren verfasst wurde, als Frankophonie-Forschung bezeichnet. In den letzten Jahren sind allerdings – vielfach auf der Grundlage und in Auseinandersetzung mit diesen beiden Perspektiven – erste Arbeiten einer kulturwissenschaftlich orientierten Frankophonie-Forschung verfasst worden. Insbesondere an diese Arbeiten kann mit der vorliegenden Fallstudie angeknüpft werden.
5.3
Forschungsdesign der Fallstudie „ D i s k u r s i ve K o n s t i t u t i o n d e r Frankophonie“
Wie im Methodenkapitel 4 ausführlich dargestellt, fokussiert die vorliegende Arbeit auf die Analyse sprachlicher Artikulationen. Um die historische Dynamik des Frankophoniediskurses untersuchen zu können, wurden vier geschlossene, digitale Korpora erstellt, die jeweils von einer weitgehend homogenen Sprecherposition stammen und in hohem Maße einem homogenen Genre zuzurechnen sind (s. Tabelle 2): Die ersten beiden Korpora ermöglichen es zu untersuchen, wie die Frankophonie von den internationalen Organisationen, die sich selbst als Vertreter der Frankophonie bezeichnen, konstituiert wurde und wird. Dafür wurde ein Korpus mit den Verhandlungen auf den Konferenzen der ersten internationalen Organisation der Frankophonie erstellt, der Agence de Coopération Culturelle et Technique (ACCT) (1969-1996, 1995 reorganisiert und umbenannt in Agence Intergouvernementale de la Francophonie AIF) und ein Korpus mit den Eröffnungs- und Schlussreden der seit 1986 zweijährlich stattfindenden Gipfelkonferenzen der Staats- und Regierungschefs der Frankophonie. Um nicht ausschließlich den hegemonialen Frankophoniediskurs ins Blickfeld zu nehmen, habe ich drittens ein Korpus mit frankophoniekritischen Texten zusammengestellt. Eine grundlegende Schwierigkeit dabei war, dass es keine Organisation und damit auch keine Sprecherposition gibt, die sich über mehrere Jahre hinweg dezidiert der Frankophoniekritik verschrieben hat.2 Vielmehr
2
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Es ist davon auszugehen, dass sich hegemoniale Diskurse regelmäßig in Organisationen sedimentieren und auf diese Weise zumindest für eine gewisse Zeit auch weitgehend homogene Sprecherpositionen konstituiert
DIE DISKURSIVE KONSTITUTION DER FRANKOPHONIE
werden von unterschiedlichen Seiten kritische Stimmen laut. Ein geschlossener Korpus, der über mehrere Jahre reicht, kann also nicht etabliert werden. Genutzt wurde daher ein Themenheft der Zeitschrift Peuples noirs Peuples africaines mit dem Titel La Francophonie contre la Liberté des Peuples Africains, das 1988 erschienen ist und mehrere frankophoniekritische Texte französischer und afrikanischer Autoren zusammenführt. Zwei weitere Korpora wurden zusammengestellt, um zu analysieren, wie im Interdiskurs in Politik und Medien in Frankreich die Frankophonie hergestellt wurde und wird: ein Korpus aus dem Bereich der Printmedien (Berichterstattung Le Monde 1987 und 2003) und ein Korpus mit den öffentlichen Reden der französischen Präsidenten3 (1973-2005). Durchgeführt wurden die Analysen mit der französischen Software Lexico3. Die korpuslinguistisch-lexikometrischen Analysen zielen in erster Linie darauf ab, Spezifika von Teilkorpora und damit Brüche und Verschiebungen des Diskurses zu identifizieren. Auf dieser Basis soll dann mit der Analyse narrativer Muster untersucht werden, inwiefern die Wörter und Wortfolgen, die sich für bestimmte Epochen als charakteristisch erwiesen haben, als Knotenpunkte dienen, damit Gemeinschaft herstellen und gleichzeitig das Außen der Gemeinschaft definieren. Darüber hinaus sollen die Ergebnisse der lexikometrischen Analyse kontextualisiert werden: Zum einen soll herausgearbeitet werden, was jeweils zur Dislokation des Diskurses geführt hat, zum anderen soll gezeigt werden, mit welchen Mythen eine erneute Stabilisierung erreicht wurde. Für die Analyse narrativer Muster wurden die Korpora ACCT (1), Sommets OIF (2) und Frankophoniekritik (3) der lexikometrischen Analyse in ein Programm zur computergestützten qualitativen Inhaltsanalyse eingelesen.4
3 4
werden. Korpuslinguistische Studien scheinen daher in hohem Maße geeignet, hegemoniale Diskurse zu analysieren. Nicht-hegemoniale Gegendiskurse sind dagegen nur eingeschränkt einer korpuslinguistischen Analyse zugänglich. Dafür wurde eine Datenbank der Documentation Française genutzt (http://discours-publics.vie-publique.fr; 30.10.2006). Gearbeitet wurde mit dem Programm Atlas.ti – ein Programm zur computergestützten Datenanalyse (eine Diskussion zum Einsatz von Programmen zur qualitativen Datenanalyse in der Diskursforschung bieten DiazBone und Schneider 2003).
129
POLITISCHE RÄUME
Tabelle 1: Für die lexikometrischen Analysen erstellte Textkorpora
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7 Okkurenz bezeichnet das Vorkommen einer bestimmten sprachlichen Form (wie Wörter und
Satzzeichen).
Zusätzlich wurden folgende weitere Texte analysiert (s. Tabelle 2): • Die Reden der Generalsekretäre der Organisation Internationale de la Francophonie (1997-2005), da diese Position explizit 1997 als „Gesicht“ und Sprecher der Organisation geschaffen wurde und damit als eine Sprecherposition, von der aus im Namen und als Frankophonie gesprochen werden kann. • Die offiziellen Gründungstexte der wichtigsten FrankophonieOrganisationen wie die Konvention und Charta der 1970 gegründete Agence de Cooperation Culturelle et Technique sowie die veränderten Chartas aus den Jahren 1997 und 2005. Darüber hinaus wurde das letztlich gescheiterte Manifest der Organisation Commune Afri130
DIE DISKURSIVE KONSTITUTION DER FRANKOPHONIE
caine et Malgache zur Gründung einer internationalen Frankophonie-Organisation aus dem Jahr 1966 integriert. Tabelle 2: Zusätzliche für die Analyse narrativer Muster digital aufbereitete und in AtlasTI integrierte Texte 0RQRJUDSKLHQ]XU)UDQNRSKRQLH 6 89:34;5 %*& ) %&5 $ %' . ) ; ) $ 8(34;5 %*& ) *