Politische Bildung im Geographieunterricht 9783515113212, 3515113215

Tagtäglich sind wir mit geopolitischen Konflikten konfrontiert. Vor allem ihre Darstellung in den Medien macht sie in un

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German Pages 239 [242] Year 2016

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
POTENTIALE DER POLITISCHEN BILDUNG IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT
KAPITEL 1
„STAATSBÜRGERKUNDE“ UND GEOGRAPHIE: ZUR GESCHICHTE EINES SCHEITERNS (SCHWERPUNKT WEIMARER REPUBLIK)
DAS KONZEPT DER STAATSBÜRGERLICHEN VERANTWORTUNG IN DER GEOGRAPHISCHEN BILDUNG
DER SPRUNG INS DENKEN. GEOGRAPHIE ALS POLITISCHE BILDUNG.
BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG ‒ ZWISCHEN UTOPIE UND LEERFORMEL?
RAUM UND GESELLSCHAFT: SPATIAL CITIZENSHIP ALS INTEGRATION VON MEDIEN-, GEOGRAPHISCHER UND POLITISCHER BILDUNG
ZUR POLITISCHEN DIMENSION DER FRAGE NACH „GUTEM“ HANDELN IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT
ENTPOLITISIERTE ENTWICKLUNGSLÄNDER?
KAPITEL 2
POLITISCHE GEOGRAPHIE IM ERDKUNDEUNTERRICHT – MÖGLICHKEITEN UND PERSPEKTIVEN
GEWÄSSERRENATURIERUNG UND NATURSCHUTZ IM STADTRAUM
SICHERHEIT, KRIMINALITÄT UND RAUM
ZUR VERSCHRÄNKUNG GESELLSCHAFTLICHER RAUMKONSTRUKTIONEN UND TERRITORIALER KONFLIKTE AM BEISPIEL ZYPERN
KAPITEL 3
REALISIERUNGEN DER POLITISCHEN BILDUNG IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT
BEHANDLUNG VON KONFLIKTEN IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT: EIN BEITRAG ZUR POLITISCHEN BILDUNG?
MÜNDIGKEIT UND LEHRERINNENBILDUNG IN FÄCHER- UND PHASENÜBERGREIFENDER PERSPEKTIVE
POLITISCHE BILDUNG DURCH PLANUNGSAUFGABEN
KRITISCHE REFLEXION VON RAUMWAHRNEHMUNGEN ALS BEITRAG DER GEOGRAPHIE ZUR POLITISCHEN BILDUNG
PARTIZIPATION JUNGER ZIVILGESELLSCHAFTEN IN DEN SLUMS VON NAIROBI
KAPITEL 4
KOLLEKTIV BINDENDE ENTSCHEIDUNGEN IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT VORBEREITEN UND TREFFEN
DIE BEHANDLUNG VON KONTROVERSEN IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Politische Bildung im Geographieunterricht
 9783515113212, 3515113215

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Politische Bildung im Geographieunterricht

Geographie Franz Steiner Verlag

Herausgegeben von­ alexandra budke und miriam kuckuck

Politische Bildung im Geographieunterricht Herausgegeben von Alexandra Budke und Miriam Kuckuck

Politische Bildung im Geographieunterricht Herausgegeben von Alexandra Budke und Miriam Kuckuck

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: © underworld Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11321-2 (Print) ISBN 978-3-515-11325-0 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort von Miriam Kuckuck & Alexandra Budke ................................................ 9 Alexandra Budke Potentiale der Politischen Bildung im Geographieunterricht ................................ 11

KAPITEL 1 Didaktische Ansätze für die Politische Bildung im Geographieunterricht Hans-Dietrich Schultz „Staatsbürgerkunde“ und Geographie: Zur Geschichte eines Scheiterns (Schwerpunkt Weimarer Republik) ....................................................................... 27 Anke Uhlenwinkel Das Konzept der staatsbürgerlichen Verantwortung in der geographischen Bildung .............................................................................. 37 Mirka Dickel Der Sprung ins Denken. Geographie als Politische Bildung ................................. 47 Inga Gryl & Alexandra Budke Bildung für nachhaltige Entwicklung – zwischen Utopie und Leerformel? Potentiale für die Politische Bildung im Geographieunterricht ............................. 57 Jana Pokraka, Denise Könen, Inga Gryl & Thomas Jekel Raum und Gesellschaft: Spatial Citizenship als Integration von Medien-, geographischer und Politischer Bildung ......................................... 77 Ulrike Ohl, Claudia Resenberger & Thomas Schmitt Zur politischen Dimension der Frage nach „gutem“ Handeln im Geographieunterricht ........................................................................................ 89

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Inhaltsverzeichnis

Leif O. Mönter & Sabine Lippert Entpolitisierte Entwicklungsländer? Gedanken zur Behandlung von Armutsursachen im Geographieunterricht ...................................................... 97

KAPITEL 2 Fachwissenschaftliche Ansätze für die Politische Bildung im Geographieunterricht Paul Reuber Politische Geographie im Erdkundeunterricht – Möglichkeiten und Perspektiven ......................................................................... 109 Boris Braun & Alexander Follmann Gewässerrenaturierung und Naturschutz im Stadtraum. Eine Betrachtung aus Sicht der politischen Ökologie ......................................... 119 Manfred Rolfes Sicherheit, Kriminalität und Raum. Überlegungen zu politischen (bildenden) Potenzialen räumlicher Präventionspraktiken im Geographieunterricht ................................. 129 Anke Strüver Zur Verschränkung gesellschaftlicher Raumkonstruktionen und territorialer Konflikte am Beispiel Zypern ................................................... 141

KAPITEL 3 Empirische Forschungsarbeiten zur Politischen Bildung Alexandra Budke, Miriam Kuckuck & Maik Wienecke Realisierungen der Politischen Bildung im Geographieunterricht. Ergebnisse einer Interviewstudie mit Geographielehrkräften ............................. 155 Georg Stöber Behandlung von Konflikten im Geographieunterricht: Ein Beitrag zur Politischen Bildung?................................................................... 167

Inhaltsverzeichnis

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Christian Dorsch, Nina Grünberg, Detlef Kanwischer & Oliver Wolff Mündigkeit und LehrerInnenbildung in fächer- und phasenübergreifender Perspektive. Eine curriculare Fallanalyse der Fächer Erdkunde, Geschichte und Politik/Wirtschaft ................................... 177 Veit Maier & Alexandra Budke Politische Bildung durch Planungsaufgaben – Ein Vergleich deutscher und britischer Geographieschulbücher ................................................ 187 Sonja Schwarze, Gabriele Schrüfer & Gabriele Obermaier Kritische Reflexion von Raumwahrnehmungen als Beitrag der Geographie zur Politischen Bildung. Empirische Untersuchungen und Konsequenzen für den Unterricht am Beispiel „Afrika“ .............................. 199 Andreas Eberth Partizipation junger Zivilgesellschaften in den Slums von Nairobi – ein Beitrag zur Politischen Bildung im Geographieunterricht ............................. 211

KAPITEL 4 Unterrichtspraktische Vorschläge Günther Weiss Kollektiv bindende Entscheidungen im Geographieunterricht vorbereiten und treffen......................................................................................... 223 Marco Lupatini Die Behandlung von Kontroversen im Geographieunterricht ............................. 229

Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 235

VORWORT Miriam Kuckuck & Alexandra Budke Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zeigen sich an aktuellen Vorkommnissen und Berichterstattungen und werden auch zukünftig das Leben in einer globalisierten Welt prägen. Terroranschläge des sogenannten Islamischen Staates, die Auseinandersetzungen in der Ost-Ukraine oder im Gazastreifen belegen die Brisanz geopolitischer Konflikte. Auch die Auswirkungen der globalen Klimaveränderungen zählen zu den Herausforderungen unseres Jahrtausends. Ferner zeigen Armut, Hunger, Migration und der Ausbruch von Epidemien, dass die Welt eng miteinander verbunden ist und Ursachen und Folgen ebenso komplex sind wie die Bestimmung von beteiligten Akteuren. Die Lösung der genannten Probleme ist für die Gesellschaft von großer Bedeutung und durch die Schulbildung sollten die SchülerInnen Kompetenzen entwickeln, um zukünftig zur Lösung der Probleme im Kontext demokratischer Prozesse beitragen zu könnten. Dabei kann das Fach Geographie durch Politische Bildung einen Beitrag leisten, da viele der genannten Herausforderungen genuin geographische Themen und Inhalte sowie Lernfelder im Geographieunterricht darstellen. All diesen Problemfeldern ist gemein, dass sie einen räumlichen Bezug haben und auch komplexe Sachverhalte beinhalten. Ziel des Geographieunterrichts ist es unter anderem, diese für Schülerinnen und Schüler sichtbar, erfahrbar und bewertbar zu machen. Zudem sollten sie Handlungsoptionen kennenlernen und kreative Lösungsfindungen üben. Die Politische Bildung als Teil des (Fach-)Unterrichts findet sich nicht nur in den Vorgaben der Kultusministerkonferenz und den Kerncurricula der einzelnen Fächer wieder, sondern auch in den Nationalen Bildungsstandards für das Schulfach Geographie. In diesem Buch werden didaktische Ansätze, aktuelle Inhaltsfelder sowie historische und aktuelle Analysen zur Politischen Bildung im Fach Geographie vorgestellt. Das Buch richtet sich an ForscherInnen der Geographiedidaktik, LehrerInnen und Studierende. Es gliedert sich nach dem Einführungsartikel in vier Kapitel, die jeweils unterschiedliche Ansätze der Politischen Bildung vorstellen. Im ersten Kapitel werden theoretische Arbeiten zu didaktischen Ansätzen der Politischen Bildung im Geographieunterricht vorgestellt. Zunächst zeigt HansDietrich Schultz auf, welche Bedeutung die Politische Bildung in der Vergangenheit innehatte; als Schwerpunkt behandelt er die Staatsbürgerkunde im Geographieunterricht der Weimarer Republik. Anschließend diskutiert Anke Uhlenwinkel das Konzept der staatsbürgerlichen Verantwortung als Teil modernen Geographieunterrichts. Mirka Dickel thematisiert die Veränderung gesellschaftlicher Raumverhältnisse anhand eines nigerianischen Romans und bietet Beispiele für eine unterrichtspraktische Umsetzung dar. Inga Gryl und Alexandra Budke disku-

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Miriam Kuckuck & Alexandra Budke

tieren das Konzept der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung unter dem Fokus der Politischen Bildung. Jana Pokraka, Denise Könen, Inga Gryl und Thomas Jekel stellen den Ansatz der spatial citizenship vor und explizieren dadurch die Integration von Geomedien in die Politische Bildung. Ulrike Ohl, Claudia Resenberger und Thomas Schmitt gehen der Frage nach, inwiefern Politische Bildung im Geographieunterricht ein normatives Bildungskonzept sein sollte. Zum Abschluss des Kapitels gehen Leif Mönter und Sabine Lippert auf den Zusammenhang von Politischer Bildung und der didaktischen Aufarbeitung von Entwicklungsdisparitäten ein. Das zweite Kapitel behandelt aktuelle Ansätze der geographischen Fachwissenschaft für die Politische Bildung im Geographieunterricht. Paul Reuber stellt Möglichkeiten und Perspektiven der Politischen Geographie für den Geographieunterricht vor. Boris Braun und Alexander Follmann zeigen anhand zweier Raumbeispiele Potentiale der Politischen Ökologie für die Politische Bildung auf. Manfred Rolfes diskutiert anhand der Themen Sicherheit und Kriminalität die Bedeutung Politischer Bildung. Die Bedeutung der dekonstruktivistischen Perspektive wird von Anke Strüver am Beispiel des Zypern-Konfliktes dargestellt. Im dritten Kapitel werden empirische Forschungsarbeiten zur Politischen Bildung präsentiert. Alexandra Budke, Miriam Kuckuck und Maik Wienecke zeigen anhand einer Interviewstudie, welche Bedeutung die Politische Bildung für LehrerInnen hat und wie diese im Geographieunterricht umgesetzt wird. Georg Stöber legt dar, wie in Geographielehrplänen und -schulbüchern Konflikte dargestellt werden, und folgert daraus didaktische Umsetzungsvorschläge. Christian Dorsch, Nina Grünberg, Detlef Kanwischer und Oliver Wolff stellen anhand eines interdisziplinären Forschungsprojektes die Bedeutung der Mündigkeit bei der Umsetzung der Politischen Bildung im Kontext der LehrerInnenbildung an der Universität vor. Es schließt eine Schulbuchanalyse an, in der Veit Maier und Alexandra Budke vergleichen, wie Politische Bildung in deutschen und britischen Geographieschulbüchern mittels Planungsaufgaben realisiert wird. Sonja Schwarze, Gabriele Schrüfer und Gabriele Obermaier stellen die Bedeutung von Raumwahrnehmungen am Beispiel „Afrikas“ als Beitrag zur Politischen Bildung vor. Andreas Eberth thematisiert gesellschaftliche Partizipationsprozesse am Raumbeispiel Nairobi und deren Inwertsetzung im Geographieunterricht. Das vierte Kapitel beinhaltet zwei unterrichtspraktische Vorschläge. Günther Weiss beschreibt eine Unterrichtssequenz zu Windkraftanlagen, mit der die Entscheidungskompetenzen der SchülerInnen gefördert werden sollen. Marco Lupatini stellt die Einbindung von Kontroversen im Geographieunterricht vor, um die Politische Bildung zu fördern.

POTENTIALE DER POLITISCHEN BILDUNG IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT Alexandra Budke Migration, Braunkohleabbau, Wasserproblematik, internationale Konflikte – die Liste zukunftsrelevanter, aktueller und kontrovers diskutierter Themen, welche zentrale gesellschaftliche Herausforderungen darstellen und daher im Geographieunterricht behandelt werden, ließe sich noch sehr weit fortsetzen. Obwohl all diese Themen eine politische Dimension haben und Geographieunterricht selbst dann politisch bildend ist, wenn diese nicht explizit angesprochen wird (Vielhaber, 1993, S. 47)1, finden sich erstaunlich wenige fachdidaktische Ansätze, welche sich mit der Politischen Bildung im Geographieunterricht beschäftigen und eine Antwort darauf geben könnten, welche fachspezifischen Ziele verfolgt, welche Kompetenzen bei den SchülerInnen gefördert werden sollen, welche Themen und Unterrichtsprinzipien sich eignen. Tatsächlich nimmt das Fach seine eigenen politischen Fragestellungen sehr selten explizit wahr (Fassmann, 2006). Auch in den nationalen Bildungsstandards finden sich nach Sitte (2014) nur wenige Bezüge zur Politischen Bildung. Für die weitgehende Vernachlässigung dieser Fragestellungen könnten das Legitimations-, das Ziel- und das Umsetzungsproblem ausschlaggebend sein, welche im Folgenden kurz erläutert werden. 1. GRÜNDE FÜR DIE VERNACHLÄSSIGUNG DER POLITISCHEN BILDUNG 1.1 Das Legitimationsproblem Erdkunde war seit jeher ein Fach, das politisch-erzieherische Funktionen erfüllte, was sich u.a. in der „Kolonialgeographie“ des Kaiserreichs oder in der „vaterländischen Erdkunde“ der Jahre vor und nach dem Ersten Weltkrieg ausdrückte (Schramke, 1978; 1985). Auch in der jüngeren Geschichte hat es dazu beigetragen, staatliche Ideologien der Diktaturen im Nationalsozialismus und in der DDR zu verbreiten. Durch vorgegebene politische Weltsichten sollte die Loyalität und Unterstützung der Massen gewährleistet und die Macht der Regierenden gefestigt werden. Durch die Behandlung des „eigenen“ Landes sowie „fremder“ Länder, 1

Grundlage kann die Herkunft, Sozialisation und die Erfahrungen der Lehrenden sowie deren unterschiedliche Bedeutungszuweisungen des Politischen sein.

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sollten staatliche Identitäten sowie Freund- und Feindbilder anderer Staaten und Kulturen erzeugt werden. Selbst während der Weimarer Republik wurde durch den Geographieunterricht Nationalismus verbreitet und die völkische Lebensraumpolitik des „Dritten Reiches“ vorbereitet (siehe Schultz in diesem Band). Während des Nationalsozialismus versuchten viele SchulgeographInnen, das Fach durch eine Betonung der nationalsozialistischen Erziehung aufzuwerten, und integrierten rassistische und faschistische Elemente in den Unterricht. Es wurde auch durch die Überarbeitung von Richtlinien und Schulbüchern eine „völkische Lebensraumkunde“ etabliert (Heske, 2008, S. 359). Schultz, der eine historische Analyse der im Geographieunterricht vermittelten Länderkunde zwischen 1800 bis zum Ende des Paradigmas in der BRD Ende der 1960er Jahre vornimmt, kommt zu folgendem Schluss: So bleibt als Resumee nur, dass der Geographieunterricht kein Korrektiv des aggressiven Machtstaats war. Im Gegenteil: Mit seinem von der Gesellschaft abgekoppelten Staatsverständnis, seiner völkisch-nationalen Gemeinschaftsideologie und seinem geo-darwinistischen Welt- und Geschichtsbild hat er wesentlich mit dazu beigetragen, die realen Katastrophen mental auf den Weg zu bringen. (1999, S. 44)

Im Rahmen der ideologischen Erziehung in der DDR sollten die SchülerInnen im Sinne des Sozialismus/Marxismus erzogen werden. Im Kontext der Diktatur war keine freie und kritische Meinungsäußerung erwünscht, sondern sogenannte „parteiliche Wertungen“. Mittels Schwarzweiß-Darstellungen, durch die u.a. in Geographieschulbüchern die Erfolge der sozialistischen Staaten den Problemen der kapitalistischen Länder gegenübergestellt wurden, sollten einheitliche geopolitische Leitbilder vermittelt werden, um so normierte „sozialistische Überzeugungen“ bei den SchülerInnen hervorzurufen (Budke, 2007). Die vorgeschriebene Ideologievermittlung wurde nach Angaben befragter Lehrkräfte zwar in unterschiedlicher Intensität im Geographieunterricht durchgeführt, freie Unterrichtsgestaltung und die Thematisierung systemkritischer Aspekte konnten allerdings aufgrund der sehr detaillierten und verbindlichen Lehrplanvorgaben und den vorgeschriebenen Unterrichtsmaterialien (vor allem das Schulbuch) nicht verwirklicht werden (Budke, 2010). Da sich die Geographie wie auch die Geographiedidaktik ihrer Geschichte lange Zeit wenig bewusst war und die eigene Bedeutung bei der Ideologievermittlung negiert hat, wird sie von Gerhard Hard (2003) als eine „Disziplin der Weißwäscher“ bezeichnet, die, um als „Volkswissenschaft“ überleben zu können, sich durch einen „systemnotwendigen Opportunismus“ auszeichne. Dies bedeutet: eine Orientierung an kurzfristigen partikularen Vorteilen, eine Selbstauslieferung der Disziplin an die wechselnden politischen Umstände und Außensuggestionen, ein durch intellektuelle Skrupel fast ungetrübter Weltanschauungskonsum und eine fast animalische Witterung für die gerade herrschenden (oder heraufziehenden) politwirksamen Zeitgeist-Fraktionen. (Hard, 2003, S. 152)

Die Erfahrungen der politischen Instrumentalisierung führten sowohl in der Nachkriegs- (Schramke, 1978, Schultz, 1999) als auch in der Nachwendezeit dazu, dass der politische Gehalt des Faches negiert wurde und LehrerInnen versuch-

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ten, möglichst „unpolitischen“ Unterricht zu machen. So geben LehrerInnen aus der ehemaligen DDR vermehrt an, dass sie sich in der Wendezeit auf die Vermittlung physisch-geographischer Inhalte konzentriert hätten, da es ihnen möglich erschien, diese unpolitisch zu behandeln (Budke, 2010). Ein Grund für die aktuelle Vernachlässigung der Politischen Bildung im Geographieunterricht könnte demnach darin liegen, dass angenommen wird, das Fach habe vor dem geschichtlichen Hintergrund jede Legitimation verloren, politisch zu bilden. 1.2 Das Zielproblem Nach den Schulgesetzen der deutschen Bundesländer ist Politische Bildung als Querschnittsaufgabe aller Schulfächer zu sehen, hier das Beispiel Baden-Württemberg: §1 Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule […] (2) Die Schule hat den in der Landesverfassung verankerten Erziehungs- und Bildungsauftrag zu verwirklichen. Über die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus ist die Schule insbesondere gehalten, die Schüler […] zur Anerkennung der Wert- und Ordnungsvorstellungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu erziehen, die im einzelnen eine Auseinandersetzung mit ihnen nicht ausschließt, wobei jedoch die freiheitlichdemokratische Grundordnung, wie in Grundgesetz und Landesverfassung verankert, nicht in Frage gestellt werden darf, auf die Wahrnehmung ihrer verfassungsmäßigen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten vorzubereiten und die dazu notwendige Urteils- und Entscheidungsfähigkeit zu vermitteln […] (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg, 2015)

Generell hat die Schulbildung in Deutschland die Ziele, dass die SchülerInnen das demokratische System verstehen und wertschätzen lernen sowie Kompetenzen erwerben, welche sie dazu befähigen, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Als politisch mündige BürgerInnen sollen sie u.a. kritisches Bewusstsein, Urteils- und Argumentationsfähigkeiten erwerben und diese für Entscheidungen und Handlungen einsetzen können. Durch politische Bildung fördert die Schule bei jungen Menschen die Fähigkeit, sich in der modernen Wirtschaft und Gesellschaft angemessen zu orientieren, auf einer demokratischen Grundlage politische Fragen und Probleme kompetent zu beurteilen und sich in öffentlichen Angelegenheiten zu engagieren. (GPJE, 2004, S. 9)

Der Definition von Politischer Bildung als Querschnittsaufgabe aller Unterrichtsfächer (siehe Schulgesetz Baden-Württemberg, §1, Abs. 2; GPJE, 2004, S. 9) scheint zu widersprechen, dass es in vielen Bundesländern spezielle Unterrichtsfächer wie „Politik“, „Sozial-“ oder „Gemeinschaftskunde“ gibt, welche die Politische Bildung als Schwerpunkt vermitteln sollen. Es besteht Unklarheit darüber, wie der fachspezifische Anteil der Politischen Bildung im Fach Geographie/Erdkunde in Abgrenzung zur Politischen Bildung in

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anderen Fächern aussehen könnte, was ein weiterer Grund für die Vernachlässigung sein könnte. 1.3 Das Umsetzungsproblem Eng mit dem Zielproblem ist das der Umsetzung verbunden. Wenn die fachspezifischen Ziele nicht klar sind, können kaum geeignete Themen identifiziert und adäquate Methoden und Medien entwickelt werden, um Politische Bildung in den Geographieunterricht zu implementieren. Damit wurde bisher auch nicht ausreichend diskutiert, welche Kompetenzen genau durch Politische Bildung im Geographieunterricht vermittelt werden sollen. Aus diesem Grund gibt es kaum entsprechende Unterrichtsmaterialen, welche speziell für den Geographieunterricht entwickelt wurden. Zudem haben die fachwissenschaftlichen Themen und Ansätze der Politischen Geographie bisher nur einen untergeordneten Stellenwert in geographischen Curricula. Zudem verhindern ungünstige Rahmenbedingungen wie die Überfrachtung der Lehrpläne, die geringe Bedeutung des Faches in der Stundentafel oder das Doppelseitenprinzip der Schulbücher2 die intensive und komplexe Bearbeitung geographischer Themen. Dies kann dazu führen, dass multiperspektivische Betrachtungen, komplexe Argumentationen, vertiefte Bewertungen und Diskussionen von Handlungsoptionen, welche zur Ausbildung politischer Mündigkeit zentral sind, im Geographieunterricht nicht ausreichend stattfinden (siehe auch Budke, Kuckuck & Wienecke in diesem Band). Dies äußert sich u.a. darin, dass in Geographieschulbüchern kaum Aufgaben zu finden sind, welche Argumentations-, Bewertungs-, oder Planungskompetenzen der SchülerInnen fördern (Budke 2011, Maier & Budke in diesem Band). Germ (2009) bemängelt zudem die geringe fachliche Professionalisierung österreichischer Lehrkräfte zur Umsetzung der in den Curricular zu findenden Zielen der Politischen Bildung, was möglicherweise ebenso für deutsche Lehrkräfte zutreffend ist, wie Interviews mit Lehrkräften nahelegen (Budke, Kuckuck & Wienecke in diesem Band). Mönter und Schlitt (2013) sehen zusätzlich ein „Konfliktpotential“ zwischen der häufig geforderten Werteerziehung und dem Ziel politische Mündigkeit zu fördern.

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Deutsche Geographieschulbücher sind in der Regel so aufgebaut, dass jedes Thema auf einer Doppelseite präsentiert wird. Damit kann jeweils nur eine sehr begrenzte Anzahl von Informationen dargeboten wird, was dazu führen kann, dass die Themen nur oberflächlich behandelt werden.

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2. NEUE WEGE FÜR DIE POLITISCHE BILDUNG IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT Im Folgenden soll kurz andiskutiert werden, welche möglichen Lösungen es für die skizzierten Probleme geben könnte. Weitere Ansätze finden sich in den Beiträgen dieses Bandes. 2.1 Legitimierung ‒ Politische Bildung in der Demokratie Aus der Geschichte des Faches könnte man auch folgern, dass die Geographiedidaktik eine besondere Verpflichtung hat, sich mit Politischer Bildung auseinanderzusetzen und zu definieren, was diese im Kontext einer Demokratie ausmacht. In einer Demokratie gehen Macht und Herrschaft vom Volk aus, was bedeutet, dass die einzelnen BürgerInnen durch ihre Entscheidungen und Handlungen die Politik beeinflussen können. Eine Aufgabe der Schulbildung in demokratischen Staaten ist es daher, ein grundlegendes Verständnis von Demokratie zu vermitteln und die SchülerInnen im Sinne „politischer Mündigkeit“ (GPJE, 2004, S. 9) zu befähigen, eigene politische Urteile zu fällen, um an der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens partizipieren zu können. Die Bedeutung von staatsbürgerlicher Verantwortung in der geographischen Bildung wird im Beitrag von Uhlenwinkel in diesem Band weiter ausgeführt. Sander definiert das Ziel der Politischen Bildung wie folgt: Ihre Aufgabe in der Demokratie ist es vielmehr, die Politik, die in nicht demokratischen Gesellschaften alleinige Angelegenheit von Macht- und Herrschaftseliten ist, allen Bürgerinnen und Bürgern als Feld für eigenständiges und kompetentes Urteilen und Handeln, zu erschließen. (2007, S. 44)

Dürr, Ferreira Martins und Spajić-Vrkaš (2001, S. 11) betonen, dass Demokratien „gut informierte, verantwortungsbewusste, engagierte und kritische Bürgerinnen und Bürger braucht“, woraus sich die Bedeutung der Demokratieerziehung im Schulunterricht ergibt. Durch diese sollen die SchülerInnen lernen Verantwortung für gesellschaftliche Angelegenheiten zu übernehmen und damit die Demokratie „zu leben“. Um die Politische Bildung im Unterricht umzusetzen, wurden 1976 auf einer Tagung der PolitikdidaktikerInnen der „Beutelsbacher Konsens“ erarbeitet. Die formulierten Prinzipien gelten bis heute und werden von VertreterInnen der Politischen Bildung allgemein akzeptiert, auch wenn sie nicht formal beschlossen wurden: – Überwältigungsverbot: Es ist nicht erlaubt, SchülerInnen im Sinne erwünschter Meinungen zu überwältigen und damit an der selbstständigen Urteilsbildung zu hindern. – Kontroversitätsgebot: Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.

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Gebot der Förderung von Analyse- und Interessendurchsetzungskompetenz: Die/der SchülerIn muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und ihre/seine eigene Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne ihrer/seiner Interessen zu beeinflussen (Wehling 1977, S. 179f.). Gerade vor dem historischen Hintergrund, sollte sich das Fach Geographie/Erdkunde seiner Verantwortung für Politische Bildung im Sinne von Demokratieerziehung bewusst sein und dazu beitragen, dass die SchülerInnen die im Unterricht behandelten zentralen gesellschaftlichen Zukunftsprobleme verstehen und bewerten können. Zudem sollten demokratische Handlungsoptionen bekannt sein, Entscheidungen argumentativ begründet werden können und die Entwicklung kreativer Lösungen geübt werden. 2.2 Ziele Politischer Bildung im Geographieunterricht Bisher wurden allgemeine Ziele der Politischen Bildung vorgestellt, wie sie fachübergreifend gültig sind. Die Aufgabe der Geographie im Kontext der Politischen Bildung wird häufig auf der Grundlage des Verständnisses des Faches als Raumwissenschaft definiert. Dabei ist Sitte (2014, S. 30) zuzustimmen, der darauf hinweist, dass Politik im Raum stattfindet und der Raum ein wichtiges Objekt von Politik ist. Der politische Gehalt des Faches Geographie (und Wirtschaftskunde) liegt in der Auseinandersetzung des heranwachsenden Menschen mit der gesellschaftlichen Entwicklung und der damit verbundenen räumlichen Wirklichkeit, die sich in ungleich verteilten räumlichen Verfügbarkeiten, Nutzungen und Inwertsetzungen äußert. (Vielhaber, 1989, S. 26)

Daran anknüpfend kann die fachspezifische Aufgabe im Kontext der Politischen Bildung in der Offenlegung der Beziehungen zwischen Gesellschaft und Raum und in der Entwicklung von Mündigkeit zu ihrer Analyse und Bewertung sowie zur verantwortungsbewussten Gestaltung von Räumen definiert werden. Aus dieser generellen Zielsetzung kann abgeleitet werden, dass Politische Bildung einerseits einen Einfluss auf die inhaltliche Auswahl und thematische Schwerpunktsetzung im Geographieunterricht haben sollte und andererseits auch als Unterrichtsprinzip angesehen werden kann, welches die Unterrichtsgestaltung und damit die Entwicklung von Argumentations-, Bewertungs- und Handlungskompetenzen zentral betrifft (siehe Abbildung 1). Um die Verbindungen zwischen Gesellschaft und Politik offenzulegen, sollten die Unterrichtsinhalte so gewählt werden, dass politische Strukturen als Rahmenbedingungen für raumbezogenes Handeln und zur Erklärung für bestimmte Raumstrukturen offensichtlich werden. In diesem Zusammenhang können Fragestellungen behandelt werden, welche die unterschiedlichsten Politikbereiche wie u.a. Umwelt-, Bildungs-, Migrations-, Familien- oder Wirtschaftspolitik betreffen und bei denen verschiedene Institutionen und politische Verfahren wie z.B. die Bürgerbeteiligung bei der Stadtplanung eine Rolle spielen können. Dabei sollten

Potentiale der Politischen Bildung im Geographieunterricht

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auch Unterschiede zwischen demokratischen und undemokratischen Systemen offengelegt werden. Im geographischen Kontext sollten Politikbereiche („policy“)3 und politische Verfahren („polity“) wie Gesetze oder Institutionen jedoch nicht losgelöst von aktuellen raumbezogenen Fragestellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens behandelt werden. Diese weisen in der Regel einen hohen Grad an Komplexität auf, da neben politischen auch wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte in ihrer systemischen Verbindung zu betrachten sind. Es kann z.B. die Gestaltung von verschiedenen Räumen bei der Behandlung von Planungsthemen untersucht werden. Es kann u.a. thematisiert werden, wo eine Windkraftanlage errichtet werden soll (vgl. auch Weiss in diesem Band), wie räumliche Disparitäten abgebaut werden können oder welchen Einfluss bestimmte städtebauliche Leitbilder auf die Stadtentwicklung haben/hatten. Es sollte im Unterricht nicht nur auf politische Strukturen, sondern auch auf Prozesse der gesellschaftlichen Gestaltung von Räumen eingegangen werden. SchülerInnen erkennen dann, dass es in der Regel bestimmte Akteursgruppen gibt, welche in umkämpften Räumen unterschiedliche Nutzungsinteressen verfolgen und unterschiedlich große Machtressourcen zu ihrer Durchsetzung zur Verfügung haben. Häufig ergeben sich dadurch raumbezogene Konflikte. Durch die Thematisierung von typischen Aushandlungsprozessen können die SchülerInnen einen Einblick in den Prozess der politischen Gestaltung („politics“) und immanente Willensbildung- und Entscheidungsvorgänge bekommen. In diesem Kontext kann auch die Entstehung bestimmter (strategischer) Raumbilder thematisiert sowie untersucht werden, „wie Raum in unterschiedlichen Prozessen eingesetzt wird“ (Jekel & Gryl, 2013, S. 91). Es kann im Unterricht z.B. thematisiert werden, welche Bilder eines bestimmten Raums von verschiedenen Akteuren kommuniziert werden, wie sich ein raumbezogener Konflikt, z.B. um Stuttgart 21, entwickelt hat oder wie man einen schulnahen Raum unter Berücksichtigung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen anders gestalten könnte. Wenn auf die politische Dimension der geographischen Themen bewusst geachtet und diese sichtbar gemacht wird, können die SchülerInnen ihre Kompetenzen im Bereich des Fachwissens vertiefen und ein besseres Verständnis aktueller Problemstellungen erlangen. Zudem können sie erkennen, wie Räume in demokratischen Systemen gestaltet werden und welche eigenen Einflussmöglichkeiten sie haben. Sie erfahren zudem die Verwobenheit der dem Geographieunterricht zugrundeliegenden Raumdimensionen (Wardenga, 2002), wenn „Raum“ einerseits in seiner physisch-materiellen Dimension als endliche und teilweise umkämpfte Ressource, die unterschiedlich gesellschaftlich gestaltet und genutzt werden soll, und andererseits als Element individueller Wahrnehmung und sozialer Kommunikation behandelt wird. Jekel und Gryl (2013, S. 96) sehen es in diesem Sinne als Aufgabe des Geographieunterrichts an, eine differenzierte Sichtweise auf Raum in die Politische Bildung einzubringen. 3

„Politics“, „policy“ und „polity“ sind drei Begriffe der Politikwissenschaft für unterschiedliche Aspekte von Politik (Schubert & Klein 2016).

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Alexandra Budke

Um den allgemeinen Zielen der Politischen Bildung zu entsprechen, muss die Politische Bildung allerdings zudem als Unterrichtsprinzip aufgefasst werden, welches andere Prinzipien in sich integriert (siehe Abbildung 1). Um die gesellschaftliche Relevanz des Unterrichts zu gewährleisten, sollten gesellschaftliche Schlüsselprobleme (Schmidt-Wulffen, 1994; Klafki, 1993) behandelt werden. Vor allem der Klimawandel und die räumlichen Disparitäten werden als gesellschaftliche Probleme definiert, welche die SchülerInnen zentral betreffen (werden) und welche im Geographieunterricht aufgearbeitet werden sollten (Schultz, 2013, S. 60ff.). Die Behandlung „von zentralen und aktuellen Entwicklungsfragen der Menschheit“ erfordert es, dass die Themen in ihrer Komplexität und Multiperspektivität im Unterricht erschlossen werden (Bürgler & Reuschenbach, 2013, S. 27). Daher ist neben der Problemorientierung der Perspektivenwechsel (RhodeJüchtern, 1996) von Bedeutung. An gesellschaftlichen Aushandlungs- und Gestaltungsprozessen von Räumen sind in der Regel unterschiedliche Akteure beteiligt und verschiedene Sicht- und Handlungsweisen müssen im Unterricht erschlossen werden. Aus den konträren raumbezogenen Interessen resultieren häufig Konflikte, welche im Unterricht durch Konfliktorientierung sichtbar gemacht werden sollten. Es kann als ein Merkmal von Demokratien angesehen werden, dass sie Konflikte regeln und Streitkulturen ausbilden, wohingegen totalitäre Regime Konflikte eher unterdrücken (Reinhardt, 2012, S.77). Durch die Thematisierung von in pluralistischen Gesellschaften unvermeidlichen Konflikten um Räume und Ressourcen können SchülerInnen typische Konfliktmuster verstehen und demokratische Prozesse bei der Austragung von Konflikten kennenlernen. Dabei sollten die Handlungen der Akteure im Konflikt im Zentrum des Interesses stehen, die nach Reuber (2001, S. 80ff.) von ihrer Biographie, ihren Normen und Zielen, den räumlich gebundenen Strukturen und Ressourcen, deren subjektiven Konstruktionen sowie den soziopolitischen Institutionen beeinflusst werden. Eng verknüpft mit der Konfliktorientierung ist die Kontroversität, da durch die Behandlung von mindestens zwei unterschiedlichen raumbezogenen Sichtweisen mit deren entsprechenden Argumentationsmustern der jeweilige Konflikt offengelegt werden kann. Dabei sollten jeweils typische gesellschaftliche Akteure mit ihren unterschiedlichen Ansichten behandelt werden, um zentrale gesellschaftliche Kontroversen für die SchülerInnen verständlich werden zu lassen. Zudem sollte den SchülerInnen die Möglichkeit der eigenen Beurteilung, argumentativen Begründung und persönlichen Meinungsbildung gegeben werden, wobei SchülerInnen nicht im Sinne erwünschter Meinungen überwältigt werden sollen (GPJE, 2004, S. 12). Damit SchülerInnen der Gefahr entgehen, indoktriniert und manipuliert zu werden, sollten sie zudem Fähigkeiten zur kritischen Reflexion auf der Basis unterschiedlicher (Geo-)Medien im Geographieunterricht erwerben. Wird die Politische Bildung als Prinzip der Unterrichtsgestaltung zugrunde gelegt, können die SchülerInnen ihre Kompetenzen im Bereich der Kommunikation und Argumentation, der Methoden, der Bewertung und Handlung im Sinne der nationalen Bildungsstandards (DGfG, 2014) erweitern, welche ebenfalls für die Entwicklung von Mündigkeit zentral sind.

Potentiale der Politischen Bildung im Geographieunterricht

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Abbildung 1: Dimensionen und Ziele der Politischen Bildung im Geographieunterricht (eigene Darstellung)

2.3 Ansätze zur Umsetzung Politischer Bildung im Geographieunterricht Um die Relevanz von politischen Strukturen und Prozessen bei aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen offenzulegen, können bereits entwickelte humangeographische Ansätze für den Geographieunterricht fruchtbar gemacht werden. Zur inhaltlichen Ausschärfung wäre es möglich, eine ganze Reihe von Themen, welche von der aktuellen Politischen Geographie, die sich besonders der Analyse des Spannungsfeldes zwischen Raum und Macht widmet (Reuber, 2001, S. 78), für den Unterricht aufzuarbeiten. Räumliche Zusammenhänge politischer Konflikte, politische Auseinandersetzungen um räumliche Ressourcen oder neue politische Strukturen und raumbezogene Aushandlungsprozesse im Kontext der Globalisierung könnten verstärkt behandelt werden (Reuber, 2005; Reuber in diesem Band). Die Ansätze der critical geopolitics könnten genutzt werden, um mit den SchülerInnen geopolitische Leitbilder zu entschlüsseln und kritisch zu hinterfragen (Ó Tuathail, 1998). Ebenfalls könnten Themen der politischen Ökologie (siehe Braun & Follmann in diesem Band) oder der Kriminalgeographie (siehe Rolfes in diesem Band) eine stärkere Bedeutung im Unterricht bekommen. Bürgler und Reuschenbach (2013, S. 30ff.) definieren einige Leitfragen, anhand derer das Potential der (fachwissenschaftlichen) Themen für die Politische Bildung untersucht werden kann. Wichtig ist in jedem Falle, eine lebensweltliche Anbindung des Themas

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zu finden und auf die Interessen der SchülerInnen Rücksicht zu nehmen (Fassmann, 2006). Um den Zielen der Politischen Bildung im Kontext der Demokratie gerecht werden zu können, muss zudem gewährleistet werden, dass die Themen in ausreichender Komplexität behandelt werden können, sodass unterschiedliche Aspekte, räumliche Dimensionen und konträre Bewertungen der zentralen Akteure sichtbar werden können. In diesem Sinne müssten auch die Unterrichtsmedien überarbeitet werden, die einzelne Themen umfangreicher darstellen, Material aus verschiedenen Perspektiven und verstärkt anspruchsvolle Argumentations-, Bewertungs- und Planungsaufgaben anbieten müssten. Darüber hinaus sollte die Politische Geographie stärker als Unterrichtsprinzip berücksichtigt werden. Das darin häufig angewandte Verfahren der Dekonstruktion kann auch im Unterricht dazu genutzt werden, gesellschaftliche Diskurse, Raum- und Konfliktbeschreibungen aus der Sicht unterschiedlicher Akteure zu entschlüsseln (Strüver in diesem Band; Jekel & Gryl, 2013, S. 98). Dabei sollten auch methodische Fähigkeiten zur Analyse und kritischen Reflexion unterschiedlicher (Geo-)Medien genutzt werden, wie dies auch der Ansatz der spatial citizenship vorsieht (Pokraka, Könen, Gryl & Jekel in diesem Band). Bei der Thematisierung von raumbezogenen Konflikten müssen die Akteure identifiziert und auch deren sprachliche Konstruktionen der Konflikte und der betroffenen Räume im Unterricht behandelt werden (Kuckuck, 2014, S. 191). Dabei sollten verstärkt die Fähigkeiten der SchülerInnen zur Argumentationsrezeption gefördert werden. Die Argumentation ist nicht nur eine wichtige didaktische Methode für das Verständnis von fachlichen Zusammenhängen und Sichtweisen der zentralen AkteurInnen, sondern sie kann auch die Kompetenzen der SchülerInnen zur Meinungsbildung, Kompromissfindung und Wertereflexion fördern (Budke & Meyer, 2015, S. 14). Die Argumentation stellt eine wichtige Kulturtechnik dar, welche während der Schulbildung fächerübergreifend vermittelt werden sollte, damit sich die SchülerInnen an demokratischen Aushandlungsprozessen u.a. um die gesellschaftliche Gestaltung von Räumen beteiligen können. Die Argumentation kann auch dazu genutzt werden, im Unterricht die Vor- und Nachteile verschiedener raumbezogener Handlungsoptionen zu beurteilen und Lösungsmöglichkeiten zentraler gesellschaftlicher Probleme zu diskutieren. Dabei sollte auch auf zugrundeliegende Normen und Werte eingegangen werden. Im Sinne des Überwältigungsverbots sollten den SchülerInnen weder Werte, Meinungen noch konkrete Handlungen vorgegeben werden, solange diese mit dem Grundgesetz vereinbar sind (siehe auch Ohl, Resenberger & Schmitt in diesem Band). Auf diese Weise könnte der Geographieunterricht dazu beitragen, dass die SchülerInnen eigenständige Meinungen bilden, kommunizieren und begründen können, ihre Identität festigen und sich zukünftig an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen beteiligen können.

Potentiale der Politischen Bildung im Geographieunterricht

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FAZIT Die Relevanz der Politischen Bildung im Geographieunterricht anzuerkennen, bedeutet nicht nur der historischen Verantwortung, sondern vor allem dem Auftrag zur gesellschaftlichen und persönlichen Bildung der SchülerInnen gerecht zu werden. Dabei sollten die Potentiale des Faches stärker genutzt werden, welche in der Aktualität sowie dem SchülerInnen- und Alltagsbezug bei der Behandlung von raumbezogenen gesellschaftlichen Schlüsselfragen liegen. LITERATUR Budke, A. (2007). Unterrichtsinhalte im Geographieunterricht der DDR – Ergebnisse einer Schulbuchanalyse. In E. Matthes & C. Heinze (Hrsg.), Elementarisierung im Schulbuch (S. 155– 174). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Budke, A. (2010). „Und der Zukunft abgewandt…“ – Ideologische Erziehung im Geographieunterricht der DDR. Göttingen: V & R Unipress. Budke, A. (2011). Förderung von Argumentationskompetenzen in aktuellen Geographieschulbüchern. In E. Matthes & C. Heinze (Hrsg.), Aufgaben im Schulbuch (S. 253–264). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Budke, A. & Meyer, M. (2015). Fachlich argumentieren lernen – Die Bedeutung der Argumentation in den unterschiedlichen Schulfächern. In A. Budke, M. Kuckuck, M. Meyer, F. Schäbitz, K. Schlüter & G. Weiss (Hrsg.), Fachlich argumentieren lernen. Didaktische Forschungen zur Argumentation in den Unterrichtsfächern (S. 9–28). Münster: Waxmann. Bürgler, B. & Reuschenbach, M. (2013). Mit-WELT-Bestimmen. Politische Bildung im Geografieunterricht. Zürich: Pädagogische Hochschule. Deutsche Gesellschaft für Geographie (DGfG) (2014). Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss mit Aufgabenbeispielen. Bonn: Selbstverlag DGfG. Dürr, K., Ferreira Martins, I. & Spajić-Vrkaš, V. (2001). Demokratie-Lernen in Europa. Wien: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Fassmann, H. (2006). Wie politisch ist die Geographie? – Zum Verhältnis GW und PB. GWUnterricht, 101, 5‒10. Germ, A. (2009). Politische Bildung im Geographie- und Wirtschaftskundeunterricht. Alltagsverständnis, Disziplinverständnis, Bildungsauftrag und Ökonomisierung – Unterrichten im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. Saarbrücken: VDM. Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) (2004). Anforderungen an Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen ‒ Ein Entwurf. Verfügbar unter: http://www.gpje.de/Bildungsstandards .pdf [03.05.2016]. Hard, G. (2003). Die Disziplin der Weißwäscher. Über Genese und Funktionen des Opportunismus in der Geographie. In Ders. (Hrsg.), Dimensionen geographischen Denkens. Aufsätze zur Theorie der Geographie. Band 2 (S. 133–172). Göttingen: V & R Unipress (= Osnabrücker Studien zur Geographie. Band 23). Heske, H. (2008). „…und morgen die ganze Welt…“ Erdkundeunterricht im Nationalsozalismus. Norderstedt: Books on Demand. Jekel, T. & Gryl, I. (2013). Geographie, Geoinformation und Politische Bildung. In I. Juchler (Hrsg.), Kompetenzen in der Politischen Bildung (S. 91‒103). Schwalbach: WochenschauVerlag (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung. Band 9). Klafki, W. (1993). Allgemeinbildung heute. Pädagogische Welt, 47, 98‒103.

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Potentiale der Politischen Bildung im Geographieunterricht

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KAPITEL 1 Didaktische Ansätze für die Politische Bildung im Geographieunterricht

„STAATSBÜRGERKUNDE“ UND GEOGRAPHIE: ZUR GESCHICHTE EINES SCHEITERNS (SCHWERPUNKT WEIMARER REPUBLIK) Hans-Dietrich Schultz 1. EINLEITUNG Demokratien sind nicht überall gleich, sie können gelingen, sie können scheitern, kein einziger Zustand muss von Dauer sein. Zwei Demokratien hat Deutschland erlebt, beide sind als Ergebnis verlorener Kriege implementiert worden. Die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, ist gescheitert; sie war schwach, ihre Gegner stärker. Die zweite, die Bonner, später Berliner Demokratie hat sich bislang als widerstandsfähig und stabil erwiesen. Das muss nicht so bleiben. Auch starke Demokratien sind bedroht, unbemerkt, schleichend oder direkt, von innen wie von außen. Um wieviel mehr eine schwache! Zweifellos spielte für das Misslingen des Weimarer Demokratie-Experiments auch die Schule mit ihren vielen die Demokratie ablehnenden Lehrkräften eine wichtige Rolle. Speziell geht es um die „Staatsbürgerkunde“, die weniger zum Vertrauen in das neue System als vielmehr zu seiner Desavouierung beitrug. Auch unter den Geographen, Hochschullehrern wie Schulleuten, die an der staatsbürgerlichen Bildung beteiligt waren, gab es kaum Demokraten, im Gegenteil, ihr Staatsverständnis stand in klarem Gegensatz zu einem demokratischen Staatsverständnis. Um das zu zeigen, wird gefragt: Was wollte und sollte die Geographie zur staatsbürgerlichen Bildung der nachwachsenden Generationen beitragen und was ging bezogen auf eine Stärkung und Erhaltung der Demokratie dabei schief? Knappe Schlussfolgerungen für die Gegenwart und Zukunft runden den Beitrag ab, wenngleich umstritten ist, ob man etwas aus der Geschichte lernen kann, zumal die Zwischenkriegszeit lange zurückliegt. Zuvor aber werde ich auf den Denkstil der sogenannten klassischen Geographie eingehen, um deutlich zu machen, dass ihre konzeptionellen Beiträge zur Politischen Bildung nicht einfach eine weitere Perspektive auf den geographischen Stoff waren, sondern dem Kern des Faches, seinem Paradigma, entsprangen.

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2. DAS PARADIGMA1 Die im deutschsprachigen Raum um 1800 anlaufende klassische Geographie oder Länderkunde, die die ältere Staatenkunde allmählich verdrängte und in den 1960er Jahren auslief, gliederte die Erdoberfläche in klar voneinander unterscheidbare Naturräume. Die Völker verwandelten diese in Natur-KulturKomplexe und organisierten sie zu Staaten. Dreh- und Angelpunkt länderkundlichen Denkens war die normative Aufladung der Natur, die den Völkern signalisierte, bis zu welchen ‘natürlichen Grenzen’ ihr Staat gehen durfte. Die Naturgebiete waren somit potentielle Staaten, die durch Geschichte und Politik zu tatsächlichen Staaten wurden (vgl. Winkler, 1872, S. 17f.). Wo die Völker die vorgegebenen ‘natürlichen Grenzen’ ignorierten, griff die ‘mithelfende Kraft’ der Natur korrigierend ein, sodass aus Sollen Sein wurde. Kamen mehrere Völker in einem Land zusammen, sorgte die Landesnatur dafür, dass ein zu ihr passendes Gemeinschaftsbewusstsein entstand und die Völker zu einem Volk verschmolzen (vgl. Kirchhoff, 1905, S. 11). Je stärker das Zusammengehörigkeitsgefühl (das Nationalbewusstsein) wuchs, desto leistungsfähiger wurde das Volk und desto dauerhafter sein Staat, wie umgekehrt. Deckten sich Land, Volk und Staat, war der Idealzustand erreicht. Nun gab es freilich auch Länder mit nur gleitenden Übergängen. Für diesen Fall (etwa Deutschland im Osten), mussten die Völker ganz auf ihre eigene Kraft vertrauen und starke Kulturgrenzen setzen, um sich von den Nachbarn zu unterscheiden. Es ist sofort einsichtig, dass diesem Denken eine politische Stoßrichtung immanent war, denn solange die künstlichen politischen Grenzen noch nicht auf natürliche, z.B. Wasserscheiden, fielen, um zu ‘organischen’ zu werden, war es Aufgabe der Politik, darauf hinzuarbeiten. Die Länderkunde empfahl sich somit als Beglaubigungsinstanz für die Naturgemäßheit der Nationalstaatsentwicklung. Entsprechend fühlten Geographen sich noch vor dem Historiker zur Politikberatung berufen (vgl. Schultz, 2000). 3. GEOGRAPHIE ALS GESINNUNGSBILDUNG Intensiver über Politik in der Schule (Staatsbürgerkunde) wurde seit Ende des 19. Jh.s diskutiert, nachdem Wilhelm II. die Instrumentalisierung der Schule gegen innenpolitische Gegner verlangt hatte (vgl. Sander 2004, S. 37ff.). Viele Schulgeographen, allen voran Volksschulmethodiker, gingen sofort mit ‘Volldampf voraus’ auf staatsbürgerkundlichen Kurs und rüsteten die Geographie zu einem deutschbewussten Gesinnungsfach um, das vom Dorfteich aus und wieder zurück die Welt zu erobern begann, ohne sich dabei ängstlich um Fächergrenzen zu kümmern (vgl. Schultz, 1989, S. 352ff.; Brogiato, 1998, S. 438ff.). Andere Schulgeographen begrüßten zwar einen nationalbetonten Unterricht, warnten aber vor einer Aufweichung des intellektuellen Anspruchs des Geographieunterrichts 1

Auf die imperialistische Variante des Paradigmas und die „Volks- und Kulturboden-Theorie“ gehe ich aus Platzgründen nicht ein, ebenso nicht auf die Unterrichtspraxis.

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durch zuviel bürgerkundlichen Stoff und lehnten auch ein erneutes Hereinziehen von Dingen ab, die durch Abkoppelung des Faches von der Geschichte und seine naturwissenschaftliche Wende ausgeschieden waren. Lampe bestand darauf, dass nichtfachliche Ziele nur absichtslose „Nebenwirkung“ eines guten Geographieunterrichts sein dürften, welche dieser „ganz von selbst“ (1908, S. 109) ausübe. Statt direkt zu beeinflussen, setzte er auf eine „Klarheit der Begriffswelt“ und „die Fähigkeit zu verallgemeinern“, was eine „zielklare“ (S. 78) Willensbildung des Einzelnen wie des ganzen Volkes ermögliche. Politisch bildete der Geographieunterricht somit schon per se: Erdkundlicher Unterricht verfolgt das Lehrziel, Verständnis für die Erdoberfläche zu wecken, für die Kräfte, die an ihr gestalten, für die Wirkungen, die von ihr und von ihnen aus unbelebte und belebte Welt beeinflussen. Erdkundlicher Unterricht ist Gesinnungsunterricht durch die Eigenart des Lehrstoffes, nicht durch äußerlich mit ihm vorgenommene geistige Gymnastik seitens des Lehrers. (S. 109)

Der Weltkrieg befeuerte die Diskussion um die staatsbürgerliche Bildung weiter (vgl. Brogiato, 1998, S. 369ff.). Erfreut registrierten Geographen, dass u.a. Wirtschaftsleute, Politiker und Pädagogen in der Geographie neben Deutsch und Geschichte ein wichtiges Zukunftsfach erblickten. Mehr Politische Geographie und Wirtschaftsgeographie sollten in die Schule, wobei radikale Vertreter dieser Strömung sich von den physischen Grundlagen des Faches immer weiter entfernten. Damit verstärkte sich ein Vorkriegstrend, dem der Krieg neue Plausibilität gab. Die Hochschulgeographen widersetzten sich; sie befürchteten, dass das Fach auf das überwundene Stadium einer vorwiegend Nützlichkeitszwecken dienenden Disziplin zurückfallen könnte. Auch empfanden sie es als Zumutung, sich von den nachrangigen Schulgeographen diktieren zu lassen, was Geographie sei, konzedierten aber, den Menschen und die letztlich der schulischen Tradition entstammende Länderkunde (vgl. Schultz, 1989, S. 103ff.) verstärkt in der Lehrerausbildung zu berücksichtigen. Im Ergebnis des Streits blieb die Mehrheit der Hochschulgeographen dabei, die anthropogeographischen Teile des Faches von der Erdoberfläche her für die Politische Bildung zu erschließen. Hier, „in der Natur der Erdstellen“ (Hettner 1917, S. 571), lag der eigentliche Bildungswert des Faches gegenüber der Geschichte. Die Brücke, die der Geograph mehr oder weniger exklusiv zwischen den Natur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften schlagen wollte, war letztlich nur als Einbahnstraße befahrbar. So konnte der Politikbegriff der Geographen eine verhängnisvolle Wirkung in der Politischen Bildung entfalten, denn statt Politik im Kontext von Machtverhältnissen, Interessenkonstellationen und Handlungsoptionen zu analysieren, kettete der Geograph sie an die Landesnatur mit ihren determinierenden Potentialen und Zwängen, die er seinen Empfehlungen und Prognosen für die Politik zu Grunde legte. Der Mensch war danach kein gesellschaftliches Wesen, sondern Teil des Naturganzen, das sein Handeln bestimmte. Diese Naturalisierung der Politik machte den Geographen blind für die Ursachen des Krieges und die Niederlage, denn Naturprozesse kennen keine Verantwortlichkeiten, sie geschehen einfach. Handlungen, die als Ausdruck von Naturgesetzen gel-

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ten, sind keine mehr. Damit waren die Weichen für eine Fehlkonstruktion des geographischen Beitrags zur Politischen Bildung in der Weimarer Republik gestellt, die den Feinden der Demokratie zuarbeitete. Exemplarisch dafür steht Lampe, der nach 1918 die Fachdidaktik in einflussreicher Stellung mitprägte. Als die tiefsten Ursachen des Krieges erkannte er jenseits aller Interessengegensätze oder gar persönlicher Animositäten von Politikern Raumzwänge, die mit „biologischer Folgerichtigkeit“ (Lampe, 1915, S. 31) zur Kraftprobe der Staaten geführt hätten. Aus dem Versagen der Politik machte er ein Naturschauspiel, notwendig und unaufhaltbar wie ein Vulkanausbruch. Der unerbittliche Daseinskampf lasse keine andere Wahl: Wachsende Völker brauchten dringend mehr „Lebensraum“ (ebd., S. 31). Völker, die zu passiv, zu leistungsschwach, zu untüchtig waren, hatten demnach keinen Anspruch auf ihr Land, vielmehr umgekehrt das Land Anspruch auf ein tüchtigeres Volk, das die gebotenen Möglichkeiten der Natur auszuschöpfen verstand. Von Hochschullehrerseite bestätigte Wegener 1931, dass die Landesnatur auf die Handlungen der Völker einen schicksalhaften Einfluss ausübe. Kraftvolle Staaten könnten gar nicht anders, als es Organismen gleich zu tun und zu wachsen, die Natur selbst habe sie darauf festgelegt. Der Drang nach Raumerweiterung ist eine der elementarsten, absolutesten Eigenschaften jedes lebendigen Staates, ähnlich wie er einer Pflanzenvereinigung, einer Grasnarbe im Garten, einem Walde zu eigen ist, die genau so weit wachsen, wie die Natur oder eine Konkurrenz es zulassen. Immer wird jede Gelegenheit zur Erweiterung des Staatsraums gierig ergriffen, [...] nichts wird leidenschaftlicher abgelehnt als Raumverlust. (Wegener, 1931, S. 549)

4. STAATSBÜRGERKUNDE IN DER WEIMARER REPUBLIK In der Weimarer Republik besaß die Staatsbürgerkunde Verfassungsrang, zu einem selbständigen Fach kam es aber nicht. Artikel 148 der Reichsverfassung vom 11. August 1919 bestimmte: „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung anzustreben.“ Diese widersprüchliche Begrifflichkeit – „Volkstum“ versus „Völkerversöhnung“ – bot „nur wenig Anknüpfungspunkte für einen demokratischen Neubeginn in der Politische Bildung“ (Sander, 2004, S. 54), begünstigte aber völkisches Denken. Auch Geographen torpedierten die Völkerversöhnung. Der alte Groß- und Weltmachttraum wurde weitergeträumt und revisionistische Ambitionen, manchmal auch darüber hinaus, in Unterricht umgesetzt (vgl. Brogiato, 1989; Schultz, 2001). Kernpunkt des Politikverständnisses der Geographen war vor dem Krieg, im Krieg und nach dem Krieg, dass politisch-geographische Bildung nichts mit Parteipolitik zu tun habe, dass aber andererseits keine Politische Bildung ohne Kenntnis der geographischen Bedingungen der Politik auskomme und die geographische Belehrung um so dringender sei, als der Krieg diesbezüglich größte Defizite beim Führungspersonal des Deutschen Reiches offenbart habe. Die Politische Bildung durch die Geographie war somit nicht Politische Bildung im engeren

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Sinne, Teil einer Bürgerkunde, sondern die Unterrichtung über die Möglichkeiten einer geographisch fundierten Politik, wobei alles Weltbürgerliche, bloß Menschliche der Pflege des „Deutschtums“ und einer „deutschen Bildung“ (Hettner, 1923, S. 17f.) weichen sollte, zu der die Geographie „wissenschaftliche Stütze“ (ebd., S. 19) sein wollte. Das deutsche Volkstum, der deutsche Staat, die deutsche Kultur, lassen sich nur auf der Grundlage des deutschen Landes verstehen; die Deutschkunde muß darum mit geographischem Geiste getränkt sein. Ohne Geographie fehlt volles theoretisches Verständnis und geht die Praxis des Lebens leicht falsche Wege. (ebd., S. 21)

Wie absurd und brisant die damaligen Vorstellungen von Politischer Bildung aus heutiger Sicht waren, zeigen die Vorträge Vogels (Ordinarius für historische Geographie) und Scheers (Studienrat) auf einem Lehrgang des Berliner Zentralinstituts für Erziehung. Beide legten ihren Vorträgen ein bio-geographisches Staatsverständnis zugrunde, wonach Staaten wie Lebewesen wuchsen, reiften und abstarben. „Mit Vorliebe“ schlössen diese sich „an gewisse geographische Regionen oder Blöcke“ an, weil „eben die stabilen physikalischen Verhältnisse [...] der Strategie immer wieder ähnliche Wege vorschreiben“ (Vogel, 1924, S. 127) würden. Alles außenpolitische Handeln der Staaten sei auf die Ausübung von Macht ausgerichtet, die sich als „geordnete Macht“ (ebd., S. 120f.) in Recht verwandele. Das Handeln bleibe stets „naturhaft gebunden“ und sei „in hohem Grade triebhaft“ (ebd., S. 118). Daher bleibe den Staatsmännern außenpolitisch nur geringer Spielraum für „willkürliche, freie Entscheidungen“ (ebd., S. 117). Scheer hob als besonderen Vorteil der Geographie gegenüber der Geschichte hervor, dass ihre Erkenntnisse „etwas Zwingendes“ an sich hätten, dem sich „so leicht kein Einsichtiger entziehen“ (1924, S. 429) könne. Nicht von „zufällig wechselnden Stimmungen“, sondern „ganz realen, erdgebundenen Interessen“ (ebd., S. 430) würden die Völker in ihren Handlungen angetrieben. Durch aufmerksame Landschaftsbetrachtung ziehe die Geographie „den Blick ab von jeder Gruppeneinstellung“, lehre „Ehrfurcht empfinden vor dem Volksganzen“ und wirke „versöhnend zwischen den einzelnen Gesellschaftsklassen“ (ebd., S. 427). Der Geographieunterricht sollte helfen, aus „der Welt der Ideologien“ herauszutreten und keinen Illusionen mehr nachzujagen, sondern mit „größerer Nüchternheit“ (ebd., S. 430) die Dinge zu betrachten. Lautensach, zunächst Studienrat und bis 1927 Mitherausgeber der seit 1924 erscheinenden „Zeitschrift für Geopolitik“, später Hochschullehrer, schloss sich diesen Vorstellungen an. Die Natur eines Erdraumes entscheide per Auslese darüber, was aus der „unendlichen Anzahl der Möglichkeiten politischer Entwicklungsrichtungen“ (Lautensach, 1924, S. 470) am Ende realisiert werde. Parteipolitik verabscheute er als ideologische „‘Gefühlspolitik’“ oder „‘Interessenpolitik’“, die in einen Kampf „aller gegen alle“ münde und „die fürchterlichste, für den Einzelnen wie die Gesamtheit quälendste Disharmonie zwischen politischem Ideal und Wirklichkeit“ (ebd., S. 468, Herv.i.Orig.) zur Folge habe. Gegen den vorherrschenden Einfluss „ideologischer Theorien oder verbrecherischer Eigensucht“ bleibe nur der Appell an den „Verstand“ aller Willigen, „vorurteilslos“ und „un-

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befangen“ die „logischen Schlüsse“ (ebd., S. 469) aus den Zusammenhängen aller menschlichen Tatsachen zu ziehen, kurz: sich den Erkenntnissen der Geopolitik anzuvertrauen, die „staatsbürgerlichen Bildungsstoff“ jenseits der Parteien biete: Die Geopolitik [lenkt] den Blick über den eigenen Lebensraum hinaus in die Weltweite, sie lehrt, wie sich die politische Macht zur Zeit über den Erdball verteilt, und wie sie sich unter dem Einfluß erdgebundener Kräfte verschiebt. Eine solche geopolitische Schulung rückt die kleinen innerpolitischen Tagesfragen, um die Parteipolitiker sich heute die Köpfe heiß reden, in die richtige Perspektive. [...] Und so ist unser Ruf: Geopolitische Bildung ins deutsche Volk! gleichbedeutend mit der Forderung: Mehr Geographie in die Deutsche Schule! (ebd., S. 476, Herv.i.Orig.)

Die Preußischen Richtlinien von 1925 stellten Geographie und Geschichte bezüglich der staatsbürgerlichen Bildung gleich, beschränkten die Erwartungen an die Geographie allerdings nicht auf außenpolitische Fragen und solche der Umgestaltung der Natur, sondern dehnten sie auf weitere Bereiche aus. So verlangten sie, den „‘modernen Geist’ in seiner Erdgebundenheit“ zu behandeln oder „‘die natürlichen Gesetzmäßigkeiten auch [...] an Hand geopolitischer Probleme des Altertums und der antiken Wirtschaftsgeographie’“ (Lautensach, 1925, S. 163) zu beleuchten. Das aber, kritisierte Lautensach, sei noch weitgehend ungeklärt und werde zu „subjektivistischen, unbeweisbaren Hypothesen“ verleiten, wodurch der Primanern „von der Wissenschaftlichkeit geographischen Geistes ein gänzlich schiefes Bild“ (ebd., S. 163) bekomme. Mehr noch: Mit Betreten dieses „Neulands“ (ebd., S. 66) tue sich ein „unheilvoller innerer Widerspruch“ (ebd., S. 161f.) auf, da einer „oberflächlich-mechanistischen Weltanschauung geradezu Tür und Tor geöffnet“ werde, während die längst wissenschaftlich gesicherten Beziehungen der Geographie zu den Naturwissenschaften nur „sehr unvollständig“ betont würden. Die preußische Schulverwaltung habe wohl, aber zu „Unrecht“, befürchtet, dass eine „aus einer intensiven Betonung naturwissenschaftlich-kausaler Zusammenhänge [...] eine positivistisch gefärbte Lebensauffassung der Schüler“ (ebd., S. 162) folge. Immerhin war die Geographie im staatsbürgerkundlichen Unterricht von allen als „erheblich ungeographisch“ geltenden Fragen der „Verfassungs- und Verwaltungslehre“ unberührt geblieben, wie Lampe (1929, S. 115) aufatmend feststellte. Für ihn ergaben sich aus den Bestimmungen zwei staatsbürgerliche Aufgaben für die Geographie: erstens, „für Raumgrößen, Raumlagen, Raumerfülltheit, Raumbeherrschung Verständnis zu erwecken“, sodass im Lernenden der Wille aufkomme, „individuell im Staatsraum sich selbst und dann dem eigenen Staat in der Staatengemeinschaft den gebührenden Lebensraum zu schaffen“ (ebd., S. 115), und zweitens, „die Staatssubstanz“ erkennen zu helfen, die der Staat „durch Land und Volk“ besitze. Speziell für die zweite Aufgabe bedauerte er, dass noch „viel zu wenig von der unmittelbaren physischen und psychischen oder der durch die Berufsmöglichkeiten sich auswirkenden mittelbaren Beeinflussung“ des Menschen durch sein Land bekannt sei; denn diese Wirkungen seien „langrhythmisch“ und entzögen sich „der unmittelbaren Beobachtung“ (ebd., S. 115) oder würden vom Ergebnis her doch nur sehr allgemein formuliert werden können. Das hinderte Lampe jedoch nicht, „Wesen und Gehalt der deutschen Landschaft“ in solchen

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allgemeinen Charakterisierungen, wie „bunte Fülle“, „Verflochtenheit der Linien“, „Individualität“, „Phantasie und Gemüt“ zu suchen statt in „Einheitlichkeit“, „Geradlinigkeit“, „Typik“ und „Vernunft“ (ebd., S. 115). Die Erdkundeschulbücher richteten ihren Blick besonders nach Osten. So ließen die Autoren des Seydlitz die Lerner davon träumen, die „Ostgrenze“, die „in ihrem ganzen Verlauf [noch] unreif“ (Rohrmann, 1927, S. 3., Herv.i.O.) sei, ‘reif’ zu machen. An der Schwelle zum Dritten Reich legten Rüsewald und Schäfer den Lehrenden für die Oberstufe ans Herz, im Unterricht deutlich werden zu lassen, dass es „die Landschaft“ sei, die „die historische Aufgabe“ stelle, „einen bestimmten Raum zu erfüllen“, um daran anzuknüpfen, dass heute polnische Gebiete von Deutschen „der Kultur erschlossen“ worden seien, die „daher begründeten Anspruch auf dieses Land“ hätten. Wichtig war ihnen der Hinweis, dass politische Grenzen nur ein „Momentbild in einer langen Entwicklung“ darstellten, wobei besonders „die Unmöglichkeit der heutigen Grenzen im Osten [...] scharf hervorgehoben werden“ (Rüsewald & Schäfer, 1933, S. 126) müsse. Die großen „Leitlinien der Landschaft“ hätten bis heute „nichts von ihrer Bedeutung verloren“ (ebd., S. 127). 5. SCHLUSSBETRACHTUNGEN 1979 schrieb Flessau, der Geographieunterricht vor 1933 (wie nach 1945) habe sich „um sachliche Information“ bemüht und darauf „verzichtet [...], für eine ganz spezielle, partei- und zeitgebundene Politik zu werben” (Flessau, 1979, S. 114) – und ist damit den Selbstbeteuerungen der Geographen auf den Leim gegangen, weil er ihre Neutralitäts-, Rationalitäts- und Sachlichkeitsbeteuerungen beim Wort genommen hat. Noch einmal sei Lampe zitiert: Politik ist ein vom Willen getragenes Handeln. Durch politische Geographie wird Politik zur Geopolitik. Mit Recht jedenfalls heben die Geopolitiker hervor, daß die auf die Leistungen der Erde, auf die Bedingtheiten durch die irdische Natur sich stützende Politik um vieles klarer, meßbarer, objektiver, der Parteieinseitigkeit und Parteileidenschaft entrückter, dazu gegenwartsnäher sei als die Politik, die sich an der Geschichte zurecht zu finden suche und daß die der mechanischen Kausalität näher stehende, allgemeiner gültige Betrachtungsweise, die ein Kennzeichen auch der politischen Geographie ist, wie aller Sonderarten der Geographie des Menschen überhaupt, deshalb erzieherisch einen wertvollen Einschlag in die politische Bildung bedeute. Lebendige Anschauung von der Staatssubstanz ist in ihrer Sachlichkeit ein Heilmittel gegen den Rausch der Worte und Theoreme, die so leicht zu verkehrten, jedenfalls zu subjektiven Wertungen führen. (1929, S. 116)

Mit gleicher kühler „Sachlichkeit“ hatte Lampe (s.o.) im Weltkrieg für die Notwendigkeit des Krieges geworben. Der russische Soldat, schrieb er damals, sterbe für den Zaren, der deutsche „für das Wohl des Ganzen“ und damit auch „sein eigenes“. Den „deutschen Müttern“ bot der Geograph zum Trost für den Tod ihrer Söhne einen Einblick „in die Aufgaben“ an, „die unserm Staate auf seinem schmalen Raum in Europas eingeengter Mitte das erziehende Schicksal aufgebürdet“ habe, „damit ein im Wachstum nicht zurückbleibendes Volk von arbeitsamen

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Menschen, die von Kind auf an in Pflichterfüllung ihre schönste Freiheit zu empfinden gewöhnt“ seien, „die Leistungen der großen Gegenwart einer noch größeren Zukunft zu übermitteln imstande sei“ (Lampe, 1916, S. 369). Nichts davon nahm Lampe später zurück, er ließ sogar, noch im Krieg geschrieben, erst 1919 publiziert, unverändert stehen, dass „das Besitzanrecht eines Volkes auf ein Land“ sich „weniger“ aus nationalen, verfassungsrechtlichen oder konfessionellen Gründen ableiten lasse, als vielmehr aus der Überlegung heraus, welches Volk „in erst zu schaffender Zukunft […] aus Boden, Luft und Wasser wohl das Meiste und Nutzbringende zu gestalten wissen werde“ (ebd., S. 496). Das schloss den angeblich ethisch, ja selbst religiös abgesicherten Völkermord an den Hereros und Namas ein. Den Geographielehrenden aber gab Lampe 1929 (S. 72) mit auf den Weg, „daß Machtfreude für Lernende ein weiterer Zugang […] zum Interesse für Geographie“ sei, „ein Zuschuß aus der seelischen Struktur des Machtmenschen“. Das war keine Barriere gegen den NS-Imperialismus, sondern eine Einstimmung darauf, das Ergebnis des Weltkriegs bei nächster Gelegenheit zu korrigieren und Deutschland in einem zweiten Anlauf doch noch den Status einer Weltmacht zu erringen. Für den Weg dorthin heißt es allgemein: „Die geographische Wissenschaft stellt […] Erkenntnisse bereit, der Unterricht verbreitet sie. Die Anwendung auf die Politik aber muß vom Politiker erfolgen und für jede Stelle des Berufslebens von den Berufsträgern“ (ebd., S. 115). Solche emotionale Verführung der Jugend durch angebliche Sachlichkeit war üblich in der Schulgeographie. In ihre „Herzen“ sollte ein „Samen“ gelegt werden, „der aufgehen wird in einer tiefen, echten, gefühlten Vaterlandsliebe, die keine Parteien mehr, nur noch diese große deutsche Volksgemeinschaft kennt. (Overbeck, 1925, S. 5, Herv.i.Orig.)

So hat die (Schul-)Geographie zum Versagen der Weimarer Demokratie ihren Teil beigetragen und für die Trassen der völkischen Lebensraumpolitik des ‘Dritten Reiches’ im ‘Osten’ perspektivisch bereits vorgearbeitet. Was überparteilich sein sollte, war selbst schon verborgene Parteinahme, die bis 1933 als rein wissenschaftliche Erkenntnis präsentiert wurde. Begünstigt wurde dies durch die paradigmatische Denkfigur des Faches, wonach richtige politische Urteile nur auf der Basis der geographischen Bedingungen, der großen natürlichen Leitlinien und der geographischen Gesetze getroffen werden könnten. Flessaus Zäsur war keine. Nach 1933 legten Schulgeographen wie Hochschulgeographen ihre Scheu vor politischen Wertungen ab, so wie man eine Maske ablegt, und gaben sich aus Opportunismus oder Überzeugung dem neuen Regime mehr oder weniger enthemmt hin. Plötzlich hieß es, es gebe überhaupt keine unpolitische Wissenschaft, keine reine Objektivität, sondern nur den Dienst der Wissenschaft am deutschen Volk. Heute ist Politische Bildung angesichts einer gewaltig in Bewegung geratenen Welt nötiger denn je, und so könnte der Blick zurück auf das frühere Staats- und Politikverständnis von Geographen einen Fingerzeig geben, was anders laufen muss, um die Probleme und Konflikte der Gegenwart und Zukunft demokratisch anzugehen. Weder dürfen sich Wertungen als Sachaussagen tarnen noch eine politische Missionierung der Schüler für ein bestimmtes Handeln erfolgen. Statt den Einzelnen im Über-Ich von Volk und Staat auf- und untergehen zu lassen, gilt es

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seine politische Mündigkeit zu stärken. Zwar muss Politische Bildung auch auf die Kohärenz einer demokratisch verfassten Gesellschaft bedacht sein, wenn diese nicht auseinander fliegen soll, doch ist sie unvereinbar mit jeder „Art demokratischer Ideologievermittlung“ oder gar einer „Werbeveranstaltung für die jeweils Regierenden“ (Sander, 2004, S. 159). LITERATUR Brogiato, H. P. (1998). „Wissen ist Macht – geographisches Wissen ist Weltmacht“. Die schulgeographische Zeitschriften im deutschsprachigen Raum (1880-1945). 2 Bde. Trier: Selbstverlag der Geogr. Ges. Trier. Brogiato, H. P. (2014). Exkurs: Geographielehrer in der Zeit des Ersten Weltkriegs. In H. P. Brogiato & B. Schelhaas (Hrsg.), „Die Feder versagt ...“ Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg an den Leipziger Geographie-Professor Joseph Partsch (S. 415–420). Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. Flessau, K.-I. (1979). Schule der Diktatur. Lehrpläne und Schulbücher des Nationalsozialismus. Frankfurt a.M.: Fischer. Haushofer, K. (1925). Politische Erdkunde und Geopolitik. In E. von Drygalski (Hrsg.), Freie Wege vergleichender Erdkunde (S. 87–103). München/Berlin: Oldenbourg. Hettner, A. (1907). Grundzüge der Länderkunde 1: Europa. Leipzig: Spamer. Hettner, A. (1917). Die geographischen Grundlagen der Politik. Deutsche Politik. Wochenschrift für Welt- und Kulturpolitik, 2, 562–573. Hettner, A. (1923). Die Bedeutung der Geographie für die Deutschkunde. Deutsche Bildung, 4, 17–23. Kirchhoff, A. (1905). Zur Verständigung über die Begriffe Nation und Nationalität. Halle a.d.S.: Buchhandlung des Waisenhauses. Lampe, F. (1908). Zur Einführung in den erdkundlichen Unterricht an mittleren und höheren Schulen. Anregungen und Winke. Halle a.d.S.: Buchhandlung des Waisenhauses. Lampe, F. (1915). Kriegsbetroffene Lande. Halle a.d.S.: Buchhandlung des Waisenhauses. Lampe, F. (1916). Kriegswünsche für den erdkundlichen Unterricht. Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, o.Jg., 304–320 u. 361–391. Lampe, F. (1919). Der Krieg und die erdkundliche Wissenschaft. In B. Schmid (Hrsg.), Deutsche Naturwissenschaft, Technik und Erfindung im Weltkriege (S. 455–497). München/Leipzig: Nemnich. Lampe, F. (1929). Die Geographie als Lern- und Lehrgebiet. In V. Kraft & F. Lampe (Hrsg.), Methodenlehre der Geographie (S. 23–285). Leipzig/Wien: Deuticke. Lautensach, H. (1924). Geopolitik und staatsbürgerliche Bildung. Zeitschrift für Geopolitik, 1 (2), 467–476. Lautensach, H. (1925). Die Probleme des erdkundlichen Unterrichts und die preußische Schulreform. Geographischer Anzeiger, 26, 161–168. Overbeck, H. (1925). Geographisch-methodische Zeitfragen. Leipzig: Gloeckner. Rohrmann, A. (Hrsg.). (1927). Kulturgeographie (= E. von Seydlitzsche Geographie, H. 8). Breslau: Hirt. Rüsewald, K. & Schäfer, W. (1933). Der Oberstufenunterricht. In R. Fox (Hrsg.), Anschaulicher Erdkundeunterricht. Lehrerbuch (S. 96–131). Leipzig/Berlin: Teubner. Sander, W. (2004). Politik in der Schule. Kleine Geschichte der politischen Bildung in Deutschland. Marburg: Schüren. Schultz, H.-D. (1989). Die Geographie als Bildungsfach im Kaiserreich. Osnabrück: Selbstverlag des Fachgebietes Geographie der Universität Osnabrück.

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DAS KONZEPT DER STAATSBÜRGERLICHEN VERANTWORTUNG IN DER GEOGRAPHISCHEN BILDUNG Anke Uhlenwinkel 1. EINLEITUNG Der Kieler Geographentag von 1969 kann als Metapher für die Reorganisation der westdeutschen akademischen Geographie weg von der Länderkunde hin zu einer wissenschaftlichen Geographie verstanden werden. Mit dieser Hinwendung zur wissenschaftlichen Analyse ging, angestoßen durch Innovationen aus dem internationalen Raum (vgl. Haggett, 1983), eine weitgehende Fokussierung auf humangeographische Themen einher. Im schulischen Kontext blieb die physische Geographie als Begründungsinstanz zwar in unterschiedlicher Ausprägung erhalten, da sie es ermöglichte, auch im Rahmen des allgemeingeographischen Ansatzes einen scheinbar unpolitischen Unterricht zu betreiben (vgl. Uhlenwinkel, 2005, S. 28). Aber spätestens seit der Oberstufenreform in den frühen 1970er Jahren ist auch die Schulgeographie als gesellschaftswissenschaftliches Fach klassifiziert. Diese Zuordnung wurde am 20.11.2013 vom VG Trier bestätigt (5 K 643/13.TR). Sie liegt ebenfalls den oftmals recht unterschiedlich benannten Kombinationsfächern der Mittelstufe (Weltkunde, Gesellschaftslehre, Welt – Zeit ‒ Gesellschaft etc.) zugrunde, in denen die Geographie enthalten ist. Aus dieser Konstellation ergibt sich, dass die Geographie als Schulfach für die Erreichung gesellschaftlich definierter Bildungsziele verantwortlich ist. Diese Ziele werden regelmäßig als Bildungsaufträge in den föderalen Schulgesetzen benannt. Dort heißt es beispielsweise, dass Schülerinnen und Schüler befähigt werden sollen, „die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen, die sich daraus ergebende staatsbürgerliche Verantwortung zu verstehen und zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen“ (§ 2 Abs. 1 S. 3 NSchG). Dies ist ein anspruchsvoller Auftrag, denn er beinhaltet hinsichtlich der schulischen Bildung zum einen „die Erklärung der Freiheit“ (Möllers, 2009, S. 115) und verlangt zum anderen, Schüler und Schülerinnen zu befähigen, „auch anders zu können, als man vermeintlich muss“ (ebd.). Der erste Punkt umfasst ein Verständnis dafür, dass wir nicht in einer Demokratie leben, „um bestimmte Probleme zu lösen, sondern weil dies am besten zum Ausdruck bringt, wie wir uns selbst verstehen: als freie Personen unter wechselseitiger Anerkennung der Freiheit aller anderen“ (ebd., S. 13). Dieses Selbstverständnis impliziert die Vorstellung eines freien Willens. Es impliziert damit auch die Grundlage für den zweiten Punkt, der in der Einsicht besteht, dass Demokratie „für vieles notwendig und für wenig hinreichend ist“ (ebd., S. 9), denn darüber, was entschieden wird, sagt sie nichts aus.

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Und gerade weil die Demokratie den freien Willen solcherart voraussetzt, zielt sie weder auf Konsens (vgl. ebd., S. 31) noch auf die „unverfügbare[.] Wahrheit“ (ebd., S. 44) (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisse. Zwar braucht sie „Bereiche offener Wissensproduktion“ (ebd., S. 45) zur Orientierung ihrer Entscheidungen, aber aus den Ergebnissen der Wissenschaft selbst ergeben sich keine Entscheidungen, denn täten sie es, brauchte man die Entscheidung nicht mehr. Demokratische Entscheidungen setzen somit eine rationale Auseinandersetzung über den Gegenstand voraus, garantieren aber nicht, dass das über Abstimmungen entstandene Ergebnis vernünftig ist. Wissenschaftliches Wissen und die demokratische Gestaltung der Gesellschaft aufeinander zu beziehen ist eine der Kernaufgaben gesellschaftswissenschaftlicher Fächer – und damit auch der Geographie. Dabei hat auch der Geographieunterricht die Qualitätskriterien des Beutelsbacher Konsenses1 zu berücksichtigen, insbesondere die beiden unumstrittenen Forderungen des Indoktrinationsverbots und des Kontroversitätsgebots (Schneider, 1999, S. 173f). Will die Schule junge Menschen zu staatsbürgerlicher Verantwortung erziehen, so muss sie ihnen demnach auf der Seite der Wissenschaft ermöglichen, Tatbestände auch dann zu verstehen, wenn sie nicht gebilligt werden, und auf der Seite der politischen Entscheidungen Mehrheiten auch dann zu respektieren, wenn das Ergebnis unbegründet erscheint. Positiv gewendet, sollen sie lernen, ihre eigenen Standpunkte argumentativ darstellen und vertreten zu können, um so die politischen Entscheidungen in ihrem Sinne verantwortlich zu beeinflussen. Ob und inwieweit der Geographieunterricht den Anforderungen einer solchen Erziehung zu staatsbürgerlicher Verantwortung in einer demokratischen Gesellschaft gerecht wird und worüber nachgedacht werden sollte, um seinen Beitrag zu effektivieren, soll im Folgenden diskutiert werden. 2. GEOGRAPHIEUNTERRICHT UND ERZIEHUNG ZUR STAATSBÜRGERLICHEN VERANTWORTUNG – EIN SCHWIERIGES VERHÄLTNIS Für den Geographieunterricht ergibt sich aus dem oben dargelegten Demokratieverständnis tatsächlich eine ungeahnte Herausforderung, versteht er sich doch von jeher als eher unpolitisch und meint damit die Herleitung der sachlogischen Not-

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Nachdem zu Beginn der 1970er Jahre verschiedene Versuche unternommen wurden, parteipolitische Ansichten im gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht zu positionieren, was zu Ablehnung durch die Anhänger der jeweils anderen Partei führte, wurde von Seiten der Politikdidatik 1976 ein Minimalkonsens formuliert, an dem sich politischer Unterricht zu orientieren habe. Neben dem Indoktrinationsverbot und dem Kontroversitätsgebot enthält der Beutelsbacher Konsens die Fähigkeit zur Analyse der eigenen Interessenlage. Dieser Punkt ist aufgrund seiner Engführung auf rein subjektive Perspektiven allerdings nicht unumstritten (vgl. Schneider, 1999, S. 171ff.).

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wendigkeit politischer Entscheidungen aus der physischen Natur der Erde heraus (vgl. Schultz, 1993, S. 13 und in diesem Band). Auch wenn die Geographie mit diesem Paradigma in Zeiten des Imperialismus und des Dritten Reichs einige Erfolge als Gesinnungsfach erzielen konnte, so erweisen sich die auf diesen Traditionen beruhenden Ansätze heute als „bewusstlos[e] politische Bildung“ (Schramke, 1978, S. 10), die zwar vielleicht einer Erziehung zum politisch korrekten Konsumenten gerecht wird, nicht aber einer Erziehung zu staatsbürgerlicher Verantwortung. Dass es auch anders ginge, zeigt ein Blick in die reformfreudige Zeit kurz nach dem Kieler Geographentag. 2.1 Partizipation an Planungsprozessen Hinsichtlich ihrer politischen Akzeptanz ist die Blütezeit der westdeutschen Schulgeographie der Nachkriegszeit zweifellos in den 1970er Jahren zu suchen, als das Raumwissenschaftliche Curriculum-Forschungsprojekt (RCFP) mit 1,8 Millionen DM von Bund und Ländern gefördert wurde (vgl. Uhlenwinkel, 2006, S. 173). Eine ähnliche Wertschätzung ist sowohl der Entwicklung der Bildungsstandards (vgl. DGfG, 2007, S. 1) als auch dem Forschungsprojekt GEOKOM (vgl. Hemmer & Hemmer, 2013, S. 28) versagt geblieben. So stellt sich die Frage, was die Attraktivität des RCFP begründet hat. Zwei Punkte seien hier besonders hervorgehoben. Der erste Punkt betrifft die inhaltlichen Qualitäten des RCFP, die sich an den Entwicklungen in der Fachwissenschaft nach 1969 orientierten. Dementsprechend standen Themen der Entwicklungspolitik, des Infrastrukturausbaus und der Raumplanung im Mittelpunkt der erstellten Unterrichtseinheiten. Für die unterrichtliche Behandlung vieler dieser Themen wurden in Anlehnung an das amerikanische HSGP (High School Geography Project) aufwendig gestaltete Rollenoder Planspiele angeboten. Mit ihnen konnte die traditionell vermittelte Eindeutigkeit von Geofaktoren relativiert werden, indem jeder Spieler die gleichen Informationen, aber eine jeweils andere Rolle (z.B. in der Unterrichtseinheit zum Flughafenstreit die unterschiedlichen am Entwurf beteiligten Planer, der Lärmfachmann, der Landwirtschaftsexperte, die Anwohner, lokale Unternehmer, Vertreter der Kommunen) erhielt und aus dieser Perspektive heraus die Geofaktoren jeweils völlig unterschiedlich bewertete (vgl. Uhlenwinkel, 2006, S. 167). Damit wurde das RCFP auch den Anforderungen des Beutelsbacher Konsenses, insbesondere dem Überwältigungsverbot und dem Kontroversitätsgebot, gerecht. Der zweite Punkt, durch den sich das RCFP auszeichnete, war der Rückbezug auf Lernzielvorstellungen, die das Hauptziel des Geographieunterrichts hinsichtlich der alltagsorientierten Ebene darin sahen, „Schüler zu befähigen, sich in der täglich verworrener werdenden Welt rational zu orientieren, die Anforderungen des Lebens ohne unkritische Anpassung zu bewältigen und die demokratische Ordnung verantwortlich weiterzugestalten“ (Ernst, 1970, S. 186). Diesem Hauptziel lag das Prinzip der Emanzipation zugrunde, das auf der kognitiven Ebene forderte, dass Schüler befähigt werden sollten, „gesellschaftliche Zusammenhänge

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zu analysieren, Anpassungsvorgänge kritisch zu hinterfragen, Konflikten rational zu begegnen und das eigene Selbstverständnis richtig einzuordnen“ (ebd., S. 189). Zwar verortete sich Ernst mit dem Hinweis auf die Emanzipation als Zielvorstellung theoretisch im Lager der Frankfurter Schule, die durch den Beutelsbacher Konsens gerade in die Schranken gewiesen werden sollte (vgl. Schneider, 1999, S. 172), im Kontext der schulgeographischen Traditionen und angesichts der von ihm vorgenommenen Begriffsbestimmung bewegte er sich aber tatsächlich im Rahmen des Konsenses und entspräche insoweit ebenfalls dem oben dargestellten Demokratieverständnis. 2.2 Raumverhaltenskompetenz Diese demokratische Erneuerung der Schulgeographie wird von Köck in einer wenig überzeugenden Argumentation bereits 1980 grundlegend kritisiert. Wenig überzeugend ist die Argumentation zum einen, weil Köck den Begriff der Emanzipation changierend definiert, und zum anderen, weil er ihn gleichzeitig auf sehr unterschiedliche Subjekte bezieht. Hinsichtlich des ersten Punktes beschreibt er die von seinen argumentativen Gegnern geforderte Emanzipation „wegen ihres Totalitätscharakters“ (Köck, 1980, S. 35) als „irrational“ (ebd.) und „repressiv“ (ebd.), behauptet aber gleichzeitig, dass „Emanzipation kein Ziel mehr, sondern bereits gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit und damit für Gruppen wie Individuen bestehende/-s Möglichkeit / Angebot“ (ebd., S. 36) sei. Wären beide Aussagen korrekt, würden wir in einem totalitären Staat leben; wären sie beide fehlerhaft, wären die Forderungen der Gegner begründet. Jedenfalls aber lehnt Köck das benannte Erziehungsziel vornehmlich deswegen ab, weil Emanzipation „als gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit […] eine derjenigen Voraussetzungen [ist], ohne die weder das Ziel des Unterrichts noch das des Geographieunterrichts verwirklicht werden kann“ (ebd.). Damit allerdings verkennt er, dass eine freiheitliche Ordnung das Zutrauen des Individuums „in die Fähigkeit, seine Angelegenheiten selbst zu regeln und Experten und Verwaltungen, überhaupt anderen Personen, zu widersprechen“ (Möllers, 2009, S. 115), nicht schon mit sich bringt und dass eben dieses Zutrauen, „weil man unter Bedingungen demokratischer Gleichheit nur die erziehen kann, die man auch ansonsten erziehen darf“ (ebd., S. 115), vor allem in der Schule angeleitet gelernt werden kann. Widerspruch ist aber tatsächlich nicht das Ziel der Bemühungen Köcks. Das wird besonders zu Beginn der 1990er Jahre deutlich, als er in verschiedenen Beiträgen seine Vorstellung einer Erziehung zur Raumverhaltenskompetenz darlegt. Gemeint ist damit die Fähigkeit, „das persönliche ebenso wie das gemeinschaftliche Leben von den räumlichen Bedingungen her erfolgreich zu gestalten“ (Köck, 1992, S. 48). Sieht man einmal davon ab, dass räumliche Bedingungen nicht per se gegeben sind, sondern erst entstehen, wenn räumliche Maßstäbe von Beobachtern an die Gegenstände angelegt werden, fällt überdies auf, dass Köck sich nicht lange mit dem Begriff der Bedingung aufhält. Bereits in der Spezifikation der Raumverhaltenskompetenz in Einzelqualifikationen heißt es, dass man „das er-

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dräumliche richtige Einzelverhalten nur von den jeweils in Frage kommenden erdraumgesetzlichen Zusammenhängen und Strukturen her ableiten“ (ebd., Herv.i.Orig.) könne. Damit impliziert Köck, dass es unabhängig von jeder demokratischen Willensbildung ein zwingend richtiges Verhalten gebe, das sich aus dem Erdraum, und letztlich der Erdnatur, ableiten lasse. Eine solche Vorstellung ist weit davon entfernt, geeignet zu sein, staatsbürgerliche Verantwortung zu vermitteln, denn „wenn wir dazu kämen, alles, was wir tun, nur noch aus dem Umständen unserer Herkunft, unserem Umfeld, unserer Familiengeschichte, unserer Körperfunktionen zu verstehen, würden wir eben nicht nur Schuld und Strafe, sondern auch unsere demokratische Selbstbestimmung aufgeben“ (Möllers, 2009, S. 19). 2.3 Anti-intellektuelle Ansätze Im Gegensatz zum Ansatz der Raumverhaltenskompetenz, der sich auf die Existenz eindeutiger, rationaler Begründungen für richtiges Verhalten stützt, haben sich in den 1990er Jahren verschiedene andere Ansätze entwickelt, die auf eine subjektivistische Perspektive zurückgreifen. Dabei lassen sich eher traditionelle, tendenziell geodeterministische Ansätze von moderneren, individualistischen Ansätzen unterscheiden. An die in der Geschichte der Geographie immer wieder zu beobachtende Denkfigur, „die ‚Wahrheit der Natur‘ mit der Seele“ (Schultz, 1993, S. 7) zu suchen, schließt Haubrich an, wenn er einen Übergang von „einer Erd-Kunde zu einer Erd-Ethik“ (1994, S. 54) fordert. Dabei unterstreichen Haubrichs Beschreibungen der Erd-Ethik als einer Perspektive, in der „nicht nur Menschen, sondern alle Dinge des Kosmos […] von ethischer Relevanz“ (ebd., S. 58) seien, und seine Bewunderung von Pueblo-Indianern, ökologischen Christen und Gaia-Meditatoren als ethisch vorbildlich, seine Nähe zur vormodernen, anti-industriellen Strömung innerhalb des Gedankenguts der älteren Geographie (vgl. Schultz, 1993, S. 6). Für die heutige Schule ergeben sich aus dieser Sicht die Forderungen nach „Gleichgewicht der Natur, Erhaltung, Einheit, Stabilität, Verschiedenheit und Harmonie des Ökosystems Erde“ (Haubrich, 1994, S. 58) als Hauptziele geographischer Erziehung. Erreicht werden sollen diese Ziele, indem Lernende dazu animiert werden, die elf Gebote ökologischen Handelns zu befolgen (vgl. ebd., S. 61), deren fünftes Gebot beispielsweise lautet: „Ich will alles tun, um Tiere zu schützen“ (Haubrich, 1993, S. 8). Wäre ein Unterricht, der diesen Empfehlungen folgte, schon schwer mit dem Indoktrinationsverbot des Beutelsbacher Konsenses vereinbar, verstieße er aber auch insofern gegen das Kontroversitätsgebot, als dass der dem fünften Gebot entsprechende Artikel 20a des Grundgesetzes andernorts als „eine Selbstbindung demokratischer Entscheidungen, für die es keine Rechtfertigung gibt“ (Möllers, 2009, S. 113), beschrieben wurde. Derartige Versuche, spezifische, oftmals im philosophischen Sinne naturalistische Werte zu vermitteln, anstatt kontroverse Konzepte ebenso kontrovers zu diskutieren (vgl. Tväråna,

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2014, S. 135), stellen den Beitrag der Geographie zur schulgesetzlich gebotenen Erziehung zu staatsbürgerlicher Verantwortung deutlich in Frage. Obwohl sich moderne, individualistische Ansätze als kritisch gegenüber der gerade beschriebenen, eher traditionellen Geographie verstehen, teilen sie oftmals ihre anti-rationalen und anti-kognitivistischen Zugänge. So bezeichnet ein Vertreter dieser Perspektive Landkarten als eine Welt „der rationalistischen und amtlichen Punkte und Linien“ (Rhode-Jüchtern, 1995, S. 56), mittels derer die „Disziplinargesellschaft“ (ebd.) ihn daran hindere, eine kleine Straße zu finden, die „viel schöner und viel kürzer“ (ebd.) sei als jene, die auf „der Straßenkarte 1:1 Million notiert“ (ebd.) seien. Diese Straße wurde offenkundig erst in Ermangelung einer Karte „in der listigen Praxis des eigenen Handelns“ sichtbar (ebd.). Mit ähnlichen Argumentationen lehnen andere Autoren einen „Interpretationismus“ (Dickel & Hoffmann, 2012, S. 12, mit Bezug auf Wiesing 2009) ab, der sich darin ausdrücke, dass Bilder „mit rational-analytischen Kategorien und nach geographischen Ordnungsmustern“ (ebd.) erschlossen würden. Dieser konstruktivistischen Sichtweise, bei der die „Wahrnehmung vom Wahrnehmenden“ (ebd., S. 13) abhänge, setzen sie die durchaus traditionelle geographische Denkfigur entgegen, dass „der Wahrnehmende von seinen Wahrnehmungen abhänge“ (ebd.). Damit aber ist das Konzept des freien Willens negiert, mit dessen Hilfe wir uns gegenseitig unterstellen, „dass wir die Wahl zwischen Alternativen haben und über die Möglichkeit verfügen, eine Alternative aus Gründen zu wählen, nicht durch Ursachen zu ihr gezwungen zu sein“ (Möllers, 2009, S. 27). 3. ERZIEHUNG ZUR STAATSBÜRGERLICHEN VERANTWORTUNG UND INSTITUTIONELLE RAHMENBEDINGUNGEN Zeigt die geographiedidaktische Diskussion der letzten 20 bis 25 Jahre an sich schon wenig Neigung, sich ernsthaft den Anforderungen einer Erziehung zur staatsbürgerlichen Verantwortung zu stellen, so wird ihre Zurückhaltung durch die jüngsten Entwicklungen im Rahmen der kompetenzorientierten Neuorientierung der Bildung geradezu gefördert. Kernpunkt ist hier die relative Autonomie, die die nationalen Bildungsstandards auf inhaltlicher Ebene gegenüber und neben den Schulgesetzen entwickeln (vgl. Scholl, 2009, S. 171f.). 3.1 Erziehungsziele Hinsichtlich der Bildungs- und Erziehungsziele ergibt sich dabei das Problem, dass die allgemeinen, in den Schulgesetzen formulierten Ziele durch in den Bildungsstandards benannte fachliche Ziele ersetzt werden. Als Leitziele des Geographieunterrichts werden in diesem Kontext „die Einsicht in die Zusammenhänge zwischen natürlichen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Aktivitäten in verschiedenen Räumen der Erde und eine darauf aufbauende raumbezogene Handlungskompetenz“ (DGfG, 2007, S. 5) benannt. Angesichts der oben geführten

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Diskussion sowohl zur Raumverhaltenskompetenz als auch zur Natur als Begründungsinstanz ist zu bezweifeln, dass diese Leitziele zur Erreichung der in den föderalen Schulgesetzen formulierten Bildungs- und Erziehungsziele beitragen können, solange die auf ihnen beruhenden Aussagen nicht mindestens auch bezweifelt werden. Da mit letzterem aber gleichzeitig die fachlichen Ziele negiert wären, erscheint ein den allgemeinen Zielen entsprechender Unterricht eher unwahrscheinlich. Anders verhält es sich mit fachlichen Zielen, die im internationalen Rahmen unter dem Etikett GeoCapabilities entwickelt wurden. Hier sind die – vorläufigen – Leitziele des Geographieunterrichts, erstens die individuelle Eigenständigkeit und Freiheit zu stärken und die Fähigkeit zu fördern, die eigene Vorstellungskraft einzusetzen, zu denken und zu argumentieren, zweitens Wahlmöglichkeiten bezüglich des eigenen Lebens auf der Grundlage der Ideen des politisch verantwortlichen Bürgers und der Nachhaltigkeit zu identifizieren und zu nutzen sowie drittens das eigene Potential als kreativer und produktiver Bürger im Kontext der globalen Ökonomie und Kultur einschätzen zu können (vgl. Solem, Lambert & Tani, 2013, S. 221). Diese Ziele spiegeln nicht nur die allgemeineren Ziele der Schulgesetze, sondern sie stellen zugleich eine Auswahl dar, die vom Fach Geographie tatsächlich sinnvoll bedient werden kann. Der Aspekt des zweiten Zieles, der von Lernenden verlangt, Wahlmöglichkeiten auf Grundlage der Idee der Nachhaltigkeit zu identifizieren, wird in Frankreich regelmäßig mit Fragen der Raumplanung verknüpft (Gunnell & Mialhe, 2011, S. 131f.), einem Thema, das im Deutschland der Nach-RCFP-Zeit nur noch ein Schattendasein zu fristen scheint. 3.2 Argumentationskompetenz Ähnlich wie mit den Bildungs- und Erziehungszielen im Allgemeinen verhält es sich mit der Argumentationskompetenz im Besonderen: Sie ist in den Schulgesetzen in Formeln wie der Befähigung „zu selbständigem Urteil und eigenverantwortlichem Handeln“ (Art. 2 Abs. 1 BayEUG) berücksichtigt, dort aber als allgemeine Argumentationskompetenz gedacht. Mit der Überführung dieser Anforderung in den Bereich Kommunikationskompetenz der Bildungsstandards wandelt sie ihr Aussehen dahingehend, dass die Lernenden nun befähigt werden sollen, „im Rahmen geographischer Fragestellungen die logische, fachliche und argumentative Qualität eigener und fremder Mitteilung [zu] kennzeichnen und angemessen [zu] reagieren“ (DGfG, 2007, S. 23). Auch wenn diese Formulierung im Vergleich zu den Ausführungen in den Bildungsstandards anderer Fächer noch einen allgemeinen Begriff von Argumentation enthält, beschränkt sie sich doch auf fachliche Sachverhalte, womit notgedrungen zu klären wäre, ob sich daraus allein eine fachliche Argumentation ableiten ließe und was sie ausmachte (Uhlenwinkel, 2015). Folgt man Alexys Argumentation, dann zeichnet sich eine fachliche Argumentation nicht dadurch aus, dass sie sich auf bestimmte Sachverhalte bezieht, sondern dadurch, dass sie fachliche Strukturen und Konzepte integriert (vgl. Alexy, 2012, S. 33f.). Im Vergleich zu der allgemeinen Argumentation

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ist sie somit eingeschränkt. Diese Beschränkung ist nicht nur negativ zu bewerten, denn sie erlaubt in dem jeweiligen Teilbereich eine schnellere Entscheidungsfindung, als es eine allgemeine normative oder politische Diskussion zuließe (vgl. ebd. S. 37). Wenn der Geographieunterricht somit tatsächlich eine fach(wissenschaft)liche Argumentation anstrebte, trüge er insoweit zur Erziehung zu staatsbürgerlicher Verantwortung bei, als er zumindest auch die Voraussetzung der rationalen Auseinandersetzung ermöglichte. 4. FAZIT Aufgrund seiner Positionierung in den Bildungsplänen ist dem Geographieunterricht eindeutig die Rolle eines politisch bildenden Faches zugedacht. Der Aufgabe, junge Menschen zu staatsbürgerlicher Verantwortung zu erziehen, haben sich Schulgeographen und Geographiedidaktiker in der Nachkriegszeit, mit der Ausnahme einer kurzen reformfreudigen Periode von den späten 1960er bis frühen 1980er Jahren, nur sehr ungern und mit viel Zurückhaltung gestellt. Die überwiegende Zeit haben sie sich stattdessen auf traditionelle, oftmals deterministische Topoi der Geographie zurückgezogen und in jüngerer Zeit ist es gar modern geworden, einen rationalen Diskurs explizit zu verweigern oder zumindest als defizitär zu diskreditieren. Auch das ist politisch bildend, allerdings bewusstlos und zumeist affirmativ am Bestehenden festhaltend, also alternativlos. Einen Beitrag zur Förderung staatsbürgerlicher Verantwortung leistet es aber bestenfalls in der Form eines willkommenen Gegenstands der Kritik, also auf der im schulischen Kontext eher schwer zugänglichen Meta-Ebene. Dass bei einem Fach mit einer derartigen Verweigerungshaltung gerne der Rotstift angesetzt wird, verwundert nicht ‒ insbesondere deshalb nicht, weil es innerhalb wie außerhalb des Faches Alternativen gibt. LITERATUR Alexy, R. (2012). Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. DGfG (2007). Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss. 3. durchgesehene und um Aufgabenbeispiele ergänzte Auflage. Berlin: Selbstverlag. Dickel, M. & Hoffmann, K. W. (2012). Mit Bildern umgehen – Zwischen Spielraum und Festlegung. Geographie und Schule, 34 (199), 12‒19. Ernst, E. (1970). Lernziele in der Erdkunde. Geographische Rundschau, 22 (5), 186‒194 und 202‒ 204. Gunnell, Y. & Mialhe, F. (2011). Humanité et développement durable. In P. Sierra (Hrsg.), La géographie: concepts, savoirs et enseignements (S. 125‒144). Paris: Armand Colin. Haggett, P. (1983). Geographie. Eine moderne Synthese. New York: Harper & Row. Haubrich, H. (1993). Weltuntergang oder neue Weltordnung. geographie heute, 14 (107), 4‒9. Haubrich, H. (1994). Globale Aspekte der geographischen Erziehung. In M. Flath & G. Fuchs (Hrsg.), Die Erde bewahren – Fremdartigkeit verstehen und respektieren (S. 52‒63). Gotha: Klett.

Staatsbürgerliche Verantwortung in der geographischen Bildung

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DER SPRUNG INS DENKEN. GEOGRAPHIE ALS POLITISCHE BILDUNG. Mirka Dickel 1. DIE POLITIKFERNE DES GEOGRAPHIEUNTERRICHTS – EIN IRRTUM Im Zuge der Entnazifizierung der Lehrpläne nach 1945 wurde das Schulfach Erdkunde von seinem nationalistischen Gedankengut befreit und in der BRD als unpolitisches Fach konzipiert. Angesichts der Gräuel des Nationalsozialismus sollte verhindert werden, dass die Geographie in Zukunft einer wie auch immer gearteten Ideologie aufsitzen und ein politisches Programm verbreiten könnte. Schließlich war der Erdkundeunterricht maßgeblich daran beteiligt, der nationalsozialistischen Ideologie den Weg zu bereiten (vgl. Schultz, 1993). Die GeographInnen in der BRD beriefen sich also auf das Ideal der sachlichen, d.h. neutralen und wertfreien, Vermittlung geographischer Inhalte. Ein Erdkundeunterricht, der sich auf die Fachlichkeit konzentriert, sei wissensorientiert, also sachlich, unparteiisch, über Machtinteressen und Ideologien erhaben (vgl. Vielhaber, 1993). Schultz (1993) polemisiert gegen die vermeintliche Sachlichkeit der Schulgeographie: Schon im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und eben auch nach 1945 wurde das Fach als unpolitisches Gesinnungsfach gepriesen, sodass der Geograph dann „mit gutem Gewissen seine schulpolitische Agitation betreiben konnte“ (ebd., S. 12). Die weit verbreitete Annahme, dass Geographieunterricht politikfern sein kann, stellt auch Vielhaber (1993) als Irrtum heraus: Jeder Geographieunterricht, auch wenn er den Anschein erweckt, räumliche Bezüge neutral zu vermitteln, sei immer politisch. Auch geographisches Wissen liege niemals neutral vor, vielmehr werde es in sozialen Kontexten produziert und diese gesellschaftlichen Herstellungsprozesse seien interessen- und wertgebunden. Das Bewusstsein über die politische Dimension der Geographie ist auch heute kaum entwickelt (vgl. Schultz, 2004, S. 43). Das Politische liegt nicht unmittelbar auf der Hand. Es ist vielmehr unausgesprochen vorhanden. Es steckt in den Strukturen der Wissensaneignung selbst. Die politische Dimension vermittelt sich über Denkweisen, die im Unterricht kultiviert werden. Wir sprechen über räumliche Phänomene und dieser Rede ist eine gedankliche Struktur eingeschrieben, eine bestimmte Art, Geographie zu denken und die Welt und sich selbst zu verstehen. Wie alle Theorien sind auch geographische Theorien spezifischen Interessen verpflichtet […]. Es sind diese Interessen, die im Verlauf eines LehrLernprozesses ihre ihnen eigene prägende Kraft entfalten und letztlich dazu führen, dass im Unterricht unterschiedliche Menschen- und Weltbilder produziert werden. (Vielhaber, 1993, S. 47)

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Indem wir reflektieren, welcher Denkweisen wir uns bedienen, können wir das unseren Geographien immanente Welt- und Selbstverständnis offen legen. Verdeutlichen lassen sich unterschiedliche Denkweisen anhand zweier Schulbuchseiten zum Thema „Nigeria – ein Vielvölkerstaat“ (vgl. Rhode-Jüchtern, 2004, S. 82f., S. 92f.), in denen es darum geht, die Ursachen der kriegerischen Auseinandersetzungen vor Ort zu verstehen. In dem Schulbuch GEOS der Ausgabe Thüringen Klasse 7/8 aus dem Jahre 1999 wird Nigeria in der Top-Down-Perspektive behandelt: der Vielvölkerstaat, die naturräumlichen Unterschiede, die verschiedenen Glaubensrichtungen, die ethnischen Gruppierungen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen werden in dieser Erzählung als Folge der ethnischen und religiösen Vielfalt gesehen. Zur gleichen Thematik zeigt eine andere Schulbuchseite (vgl. RhodeJüchtern, 2004, S. 92f.) eine brennende Erdölpipeline. Sie bezieht Darstellungen von betroffenen Akteuren und deren Wert- und Normsystemen, den wirtschaftspolitischen Kontext (u.a. Erdölförderung, Konzerne, Korruption, Verteilungskämpfe) und die postkoloniale Situation (u.a. Territorialpolitik, Erreichbarkeit von Rohstofflagerstätten, Betroffenheit durch Umweltschäden) ein. Als Ursache für die kriegerischen Konflikte lässt sich ein komplexes Geflecht sozial-historischer, wirtschaftlicher und politischer Aspekte angeben. Beide Schulbuchseiten unterscheiden sich darin, was als Material ausgewählt wird und wie Texte, Bilder und Aufgaben uns zum Denken bringen. Und es ist die Weise unseres Nachdenkens, die darüber entscheidet, wie sich uns eine Sache darstellt. 2. POLITISCHE BILDUNG IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT – HERAUSFORDERUNGEN Durch die Ritualisierung bestimmter Formen des Denkens werden diese zur Gewohnheit und gehen den SchülerInnen in Fleisch und Blut über. Über diese Routinen macht Geographieunterricht Politik. Was gewinnen wir nun, wenn wir den blinden Fleck der geographischen Vermittlung erhellen und nicht länger verleugnen, dass Geographieunterricht immer politisch ist? Dann können wir uns auf die eigentlich interessante Frage konzentrieren: Wie können wir im Geographieunterricht, der sich in seiner politischen Dimension ernst nimmt und den Anspruch hat, politisch bildend zu sein, in ein Denken einführen, das sich nicht in der Indoktrination, sondern in Emanzipation und Demokratie verankert weiß? Zunächst ist zu klären, was wir genau meinen, wenn wir von Politischer Bildung sprechen. Mit Brenner (nach Dörpinghaus, Poenitsch & Wigger, 2009) ist jemand politisch gebildet, der ein ausgeprägtes Differenzierungsvermögen besitzt. Er hat eine besondere Art der Kritikfähigkeit hinsichtlich des zu erwerbenden Wissens (seiner Art, Entstehung und Veränderung) erlangt. Kritik wird hier in wörtlicher Übersetzung verstanden als Unterscheidung innerhalb der Ordnungen im Feld des Wissens. Jemand, der sich politisch bildet, übt sich in der Kritikfähigkeit, in der Kunst, in Unterscheidungen zu denken und durch Unterscheidungen denken zu lernen (Brenner, nach Dörpinghaus et al., 2009, S. 123). Davon ausge-

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hend hat Politische Bildung im Geographieunterricht das Ziel, das Denken als kritische Praxis zu vermitteln. So lässt sich die Einsicht gewinnen, dass der Unterrichtsgegenstand nicht als solcher existiert, sondern immer in Denkweisen, nämlich so, wie er in der konkreten Annäherung, im Denken und Sprechen über ihn, Form gewinnt. Weitere Facetten des Gegenstandes erscheinen, wenn man anders nach- und weiterdenkt und neue Fragen stellt. Das Denken, über das wir uns selbst und die Welt verstehen, wird zum einen als geschichtlich und sozial geworden verstanden. Zum anderen wird das eigene Denken als dynamisch und produktiv erfahrbar. Und schließlich lassen sich die Selbst- und Weltverhältnisse als veränderbar verstehen. Denn Kritik ist nichts anders als die Annahme, dass „gesellschaftliche Werte, Praktiken und Institutionen […] nicht so sein müssen, wie sie sind“ (Jaeggi & Wesche, 2009, S. 7, nach Vogelpohl, 2012, S. 19). An welchem theoretischen Rahmen kann sich eine Lehrperson aber nun orientieren, die ihren Geographieunterricht als Übung des Denkens begreift? In fachlicher Hinsicht wäre zu gewährleisten, dass der theoretische Rahmen nicht bloß eine Denkweise der Geographie stark macht, vielmehr muss er verschiedene Formate des Wissens berücksichtigen. Die Theorie darf selbst keine gesellschaftspolitischen Visionen oder moralischen Imperative enthalten. In didaktischer Hinsicht soll der Theorierahmen als Folie für die Metakognition dienen: Die Lehrperson sollte in der Planung und in der Durchführung des Unterrichts darauf reflektieren und verstehen, wie sie im Unterricht das Denken über Geographie ermöglicht oder verhindert. Auch für die Schülerinnen und Schüler soll er hilfreich sein, damit sie die eigenen Denkweisen durchschauen können. 3. „THEORIE DER PRODUKTION VON RAUM“ (HENRI LEFEBVRE) – EIN ORIENTIERUNGSRAHMEN Als Orientierungsrahmen für didaktisches Handeln bietet sich die „Theorie der Produktion von Raum“ von Henri Lefebvre an. Die umfangreiche Theorie kann hier allenfalls in ihren wesentlichen Aspekten ganz kurz skizziert werden (vgl. Lefebvre, 1991; Dickel & Scharvogel, 2010; 2013a; 2013b; insbesondere Dickel & Scharvogel, 2012, S. 37ff.; Scharvogel, 2007; Schmid, 2005; Vogelpohl, 2012). Lefebvre entwirft eine Metatheorie, mit deren Hilfe sich das Alltagsleben auf drei Dimensionen hin untersuchen lässt: das Wahrgenommene, das Konzipierte und das Erlebte. Der Einzelne produziert Raum innerhalb der drei Pole des Wahrnehmens, des Konzipierens und Erlebens. Das Wahrgenommene konstituiert sich über die Sinnlichkeit. Das Konzipierte konstituiert sich darüber, was wir über einen Ort ausgehend von dem medialen Wissen, unseren Erinnerungen und subjektiven Theorien denken. Das Erlebte bzw. Gelebte meint unsere Lebendigkeit als leibliche Erfahrung. Bedeutungen verbinden sich mit Empfindungen, Imaginationen und Wünschen. Diese drei dargestellten Dimensionen lassen sich auch in räumlichen Begriffen fassen: die räumliche Praxis, die Repräsentation des Raumes und die räumli-

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che Repräsentation. Die „räumliche Praxis“ produziert einen wahrgenommenen oder wahrnehmbaren Raum: Hierunter fällt z.B. alles, was vermessbar und kartierbar ist, wie materielle Artefakte, z.B. Gebäude, Straßen, Denkmäler oder das menschliche Handeln. Neben diesen beobachtbaren räumlichen Praktiken wird der Raum durch immaterielle Schichten überzogen, durch juristische Praktiken wie Gebote und Verbote, z.B. in Form von Schildern, Hausordnungen und Gesetzen. Die Repräsentation des Raumes stellt einen konzipierten Raum her. Gedankliche Repräsentationen sind an Sprache gebunden und entstehen auf der Ebene der Diskurse. Sie werden über Zeitungen, Zeitschriften, Filme, Reiseführer, Literatur oder Leitbilder vermittelt. Diese mentalen Ordnungen werden in Form von Karten, Plänen, Texten, Filmen und Musik transportiert. Die Räume der Repräsentationen umfassen den erlebten oder gelebten Raum. Die inneren Erlebnisse sind verbunden mit Hoffnungen, Träumen, Wünschen und Imaginationen. Sie entstehen in Wechselwirkung mit einem Außen. Durch das Erleben werden die Räume mit Bedeutung aufgeladen.

Abbildung 1: Modi der Produktion von Raum nach Lefebvre (Scharvogel, 2007, S. 35)

Lefebvre entwirft nun ein System, in dem diese drei Modi gleichwertig aufeinander bezogen sind. Die Modi der Raumproduktion verhalten sich immer dann brüchig und widersprüchlich zueinander, wenn ein Konzept, die räumliche Praxis und alltagspraktisches Erleben nicht in Einklang stehen, z.B. die Planungen eines Gebäudes, die materielle Realisierung und das konkrete Erleben der Menschen. Lefebvre möchte das wirkliche Leben in seiner Widersprüchlichkeit verstehen. Er setzt die Widersprüchlichkeit als konstitutives Moment der gesellschaftlichen Produktion von Raum und nimmt sie als den eigentlichen Motor der Raumproduktion an. Er markiert die relationale Beziehung zwischen den Modi der Raumproduktion als dialektisches Verhältnis.

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4. „OKONKWO ODER DAS ALTE STÜRZT“ (CHINUA ACHEBE) – VORSCHLÄGE ZUR DIDAKTISIERUNG Unterrichtsgegenstand ist der 1958 veröffentlichte und 1976 in deutscher Übersetzung erschienene Roman „Okonkwo oder Das Alte stürzt“ des weltweit anerkannten nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe. Der Autor erzählt die Geschichte des Zerfalls der Ibo-Dorfgemeinschaft infolge der Eroberung des Landes durch die britische Kolonialmacht sowie das eng mit dem Untergang der Dorfgemeinschaft verwobene Schicksal des Sippenältesten Okonkwo, ein Verfechter traditioneller Lebensvorstellungen. Der Text stellt die geronnene Erfahrung des Autors dar und repräsentiert die Veränderung der gesellschaftlichen Raumverhältnisse der Ibo auf spezifische Weise. Daneben gibt es weitere Romane über die Kolonialisierung, welche andere Erfahrungen vermitteln (z.B. „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad von 1899). Nun dient der gewählte Roman nicht dazu, die richtige oder bessere Vorstellung zu vermitteln. Vielmehr eignet sich der Roman deshalb als Unterrichtsgegenstand, weil er uns befremdet. Zum einen ist die Darstellung des bekannten Themas für uns fremd, zum anderen wird die innere Kohärenz der Handlung immer wieder unterlaufen, die Erzählung ist von Brüchen und Widersprüchen gekennzeichnet. Das, was die SchülerInnen antizipieren, wird immer wieder durchkreuzt. Dies führt zu einer Verunsicherung. Diese Irritation lässt sich didaktisch greifen. Ausgehend von diesem diffusen Gefühl, etwas sei ganz anders als erwartet, laden wir die SchülerInnen zum Nachdenken darüber ein, was die Irritation ausmacht. Im gemeinsamen Gespräch lässt sich das Komische sprachlich greifen und als Widerspruch zwischen der scheinbaren Gewissheit und der unvorhersehbaren Wendung markieren. These und Antithese lassen sich nun dialektisch zusammenführen und auf eine höhere Ebene heben. Der gedankliche Sprung, zu dem es beim dialektischen Denken anzusetzen gilt, mündet nun aber nicht in eine dritte Aussage als richtige Erkenntnis über die Sache, vielmehr liegt die Synthese in der Formulierung einer Frage. Die Frage (er-)finden wir nicht im logischen Weiterführen der Aussagen, sondern sie kommt zu uns wie ein Einfall. Sie weist in die Denkrichtung, von der aus eine Antwort gefunden werden kann. Die Sinnstiftungen von Menschen, die als Gruppe gemeinsam nachdenken, richten sich aneinander aus. So kommen die für den konkreten Lernprozess lohnenden Fragen zur Sprache (vgl. Gadamer, 1990, S. 368‒384). Die verschiedenen Denkweisen sind in einem Unterricht, der Politische Bildung im Sinn hat, nämlich nicht einfach beliebig zu wählen oder im Sinne eines postmodernen anything goes aneinander zu reihen. Es sind vielmehr die Fragen der Schülerinnen und Schüler, die ins Offene weisen. Es ist der Gang der Subjektivität, der die Auswahl der Denkweisen begründet (vgl. Heidegger, 1954; Whitehead, 2001). Die Schlüsselstelle des Unterrichts ist das Markieren des Widerspruchs und seine dialektische Überwindung in der Formulierung der Frage. Dieser Prozess soll an drei Beispielen vorgeführt werden: In Beispiel 1 zeigt sich ein Widerspruch zwischen dem Raum der Repräsentation und der sozialen Praxis, in Bei-

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spiel 2 zeigt sich ein Widerspruch zwischen der sozialen Praxis und der Repräsentation des Raumes, in Beispiel 3 zeigt sich ein Widerspruch zwischen dem Raum der Repräsentation und der Repräsentation des Raumes. Beispiel 1: Die Ibo planen einen Krieg gegen einen Nachbarstamm, der eine Tochter von Umuofia beim Besuch des Marktes in Mbaino umgebracht hat. Um den Krieg zu vermeiden, bringt der feindliche Stamm den Ibo den Jungen Ikefuma als Opfer dar. Die Ältesten der Ibo beschließen, Ikefuma eine Zeit lang unter Okonkwos Obhut zu geben, der ein angesehenes Stammesmitglied ist. In den folgenden drei Jahren entwickelt dieser eine väterliche Bindung zu dem Jungen. Als Umuofia auf Geheiß des Höhlenorakels beschließt, Ikefuma umzubringen, begeht Okonkwo diese Tat. Er belügt Ikefuma, indem er ihm sagt, dass er zurück nach Hause gebracht werde. Außerhalb des Ortes schneidet Okonkwo dem Jungen aus Angst, von den Stammesmitgliedern für feige gehalten zu werden, die Kehle durch. Hier zeigt sich ein Widerspruch zwischen der väterlichen Zuneigung Okonkwos (Raum der Repräsentation) und der Ermordung Ikefumas (soziale Praxis). Es lassen sich Fragen nach den Werten des eigenen Lebens formulieren: Welche Wertmaßstäbe lassen sich unterschieden? Wie werden sie im eigenen Leben relevant? In welchem Verhältnis stehen individuelle und kollektive Werte zueinander? Wodurch wird dieses Verhältnis bestimmt? Lässt es sich verändern und ‒ falls ja ‒ wie? Beispiel 2: Zum Begräbnis von Ezeudu, dem ältesten Krieger im Dorf, kommen u.a. Krieger verschiedener Altersgruppen. Schreie, Schießen, Trommeln, Kanonensalven, Staub und Pulverdampf und das Aneinanderklirren und Funkensprühen der hochgeschwungenen Sichelmesser erfüllen die Luft. In diesem Tumult explodiert Okonkwos Flinte unabsichtlich und ein Eisenstück durchbohrt das Herz des Sohnes des Toten. Dieses Ereignis wird als Verbrechen gegen die Erdgöttin bewertet. Okonkwo muss fliehen, geht außer Landes und darf erst nach sieben Jahren zurückkehren. Um das Land zu reinigen, das Okonkwo durch das Blut eines Stammesangehörigen befleckt hat, zünden Männer, darunter sein engster Freund Obierka, im Auftrag der Erdgöttin Okonkwos Gehöft an, töten das Vieh und zerstören die Scheune. Hier zeigt sich ein Widerspruch zwischen dem unbeabsichtigten Töten (soziale Praxis) und der kollektiven Bewertung als Verbrechen gegen die Erdgöttin (Repräsentation des Raumes). Es lassen sich Fragen nach Schuld und Gewissen formulieren: Wie lässt sich die Schuld eines Menschen eigentlich feststellen? Welche Praktiken hat eine Gesellschaft ausgebildet, um jemanden schuldig zu sprechen, ihn büßen und bereuen zu lassen? Wie wird das Ideal der Unschuld in-

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szeniert? Ist schuldloses Leben möglich? Was ist Gewissen und wie hängt es mit der individuellen und kollektiven Vorstellung vom Schuldigwerden zusammen? Beispiel 3: Nach sieben Jahren Verbannung kehrt Okonkwo zurück. Er leidet darunter, dass sich sein Stamm im Zuge der Missionarisierung durch die Briten sehr verändert hat. Viele haben den Mut und die Kraft zum Kämpfen verloren. Diese Situation ändert sich, als der zum Christentum übergelaufene Sohn des Schlangenpriesters Enoch bei der alljährlichen Zeremonie der Erdgöttin einem als Egwuwu zurückgekehrten Ahnen die Maske vom Leib reißt. Am Tag darauf zerstören die Egwuwu Enochs Gehöft sowie die Kirche, in der er Zuflucht sucht. Drei Tage später folgen sechs Männer einer Einladung des britischen Distriktverwalters zu einer Unterredung, geraten in einen Hinterhalt, werden eingesperrt und nach Zahlung eines Lösegeldes wieder frei gelassen. Zu einer weiteren Versammlung, in der Maßnahmen gegen die Briten beschlossen werden sollen, geht Okonkwo in Kriegsbekleidung. Als Gerichtsdiener sich nähern und fordern, die Versammlung aufzulösen, sticht Okonkwo einen von ihnen mit dem Messer nieder. Die Versammlung löst sich auf. Die Distriktverwalter suchen Okonkwo zu Hause auf und finden seine Leiche an einem Baum hängend vor. Obierka bittet den Distriktverwalter, die Leiche abzunehmen und zu begraben. Die Stammesgenossen dürfen die Leiche nicht berühren oder beerdigen, da dies die Erdgöttin beleidigen würde. Hier zeigt sich ein Widerspruch zwischen dem individuellem Erleben einer Situation (Raum der Repräsentation), den traditionellen und neuen Regeln und Gesetzen des Kollektivs (Repräsentation des Raumes) und den Maßnahmen, die ergriffen werden, um diese Werte durchzusetzen (soziale Praxis). Es lassen sich Fragen nach Macht und Ohnmacht formulieren: Was heißt es, mächtig oder ohnmächtig zu sein? Durch welche Praktiken wird Macht/Ohnmacht etabliert, legitimiert, anerkannt? Welche Praktiken sind überlegen/unterlegen? Wird Macht/Ohnmacht durch den Einzelnen oder die Gemeinschaft ins Spiel gebracht? Lässt sich die Verteilung von Macht/Ohnmacht verändern? Was bringt Veränderung in das Machtspiel? In welchem Verhältnis stehen Plan und Ereignis? 5. POLITISCHE BILDUNG – VIELFALT DER DENKWEISEN UND GANG DER SUBJEKTIVITÄT Die Raumproduktion des Alltagslebens konstituiert sich im 21. Jahrhundert nicht mehr bloß durch eine Form von Räumlichkeit, vielmehr sind verschiedene Formen des Räumlichen an der Herstellung des Alltags beteiligt. Im Unterschied zu anderen Raumtheorien hat die Theorie der gesellschaftlichen Produktion von Raum (Lefebvre) den Vorteil, dass sie verschiedene räumliche Wissensformate (Erleben, Konzipieren, Wahrnehmen) berücksichtigt. Darüber hinaus plausibilisiert sie eine Ordnung der unterschiedlichen Modi von Räumlichkeit in ihrer Wi-

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dersprüchlichkeit. Indem Lefebvre die Brüchigkeit in seiner Theorie berücksichtigt, versucht er, ein Alltagsleben zu beschreiben, das er als pulsierend, dynamisch und veränderlich begreift. Die Theorie stellt kein geschlossenes, beständiges und kalkulierbares Ganzes dar. Lefebvre hebt vielmehr auf die Fragmentierung, Offenheit und Potentialität des Alltagslebens ab und betont, dass der Alltag wechselhaft sei und immer auch weitere Möglichkeiten des räumlichen Zusammenspiels bereithalte. Dies impliziert auch, dass sich die gesellschaftlichen Raumverhältnisse nicht bloß wiederholen, sondern dass sie sich jederzeit ausgehend von den historisch gebildeten Bedingungen transformieren können, nicht zuletzt aufgrund zufälliger und nicht planbarer Ereignisse. Geographieunterricht vor dem Hintergrund der Theorie Lefebvres zu gestalten, bedeutet zu vermitteln, dass wir über geographische Gegenstände unterschiedlich nachdenken können. So können wir verstehen, auf welche Weise wir selbst in den Prozess der gesellschaftlichen Raumproduktion verstrickt sind. Der Unterricht zielt auf Entwicklung eines emanzipierten und lebendigen Denkens ab, indem wir „Diesseits von Ohnmacht und Allmacht“ (Meyer-Drawe, 2000) des Einzelnen Zwänge und Möglichkeiten im Prozess der gesellschaftlichen Raumproduktion ausloten. Das vielseitige Nachdenken eröffnet Spielräume, sodass der Einzelne immer besser in die Lage kommt, selbstbestimmt zu leben und die eigenen Entscheidungen zu verantworten. Freie Entscheidungen auch angesichts der Ungewissheit und Fragilität des Alltags sind nicht außerhalb des gesellschaftlichen Systems zu finden, sondern nur in kritischer Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Ordnung. So ein Unterricht ist ethisch fundiert, da er ermutigt, sich verantwortungsvoll den eigenen Fragen zu stellen, statt sich nach moralischen Instanzen oder Ideen zu richten. Während die Anpassung an ideale Vorstellungen, Zustände, Theorien, Modelle, Erklärungsmuster oder Führerpersönlichkeiten Kennzeichen der Entfremdung ist und blinden Gehorsam und das Festklammern an Autoritäten in Gang setzt, führt ein politischer Unterricht zur Wiedergewinnung des Eigenen. Das Eigene wird hier nicht als innerer Kern des Menschen verstanden, den es zu entdecken gilt, sondern als etwas, das sich in einer beständigen Suchbewegung, im Prozess des Fragens und Antwortens in Auseinandersetzung mit einem Mitmenschen oder einem Gegenstand formt und umformt (vgl. Gruen, 2015). Vom Eigenen aus lassen sich Begegnungen mit fremden Menschen oder einem fremden Stoff überhaupt erst respektvoll gestalten. Insofern stellt die Übung des Denkens als kritische Praxis eine Notwendigkeit hin zu der gesellschaftlichen Utopie einer menschlichen Gesellschaft dar. LITERATUR Achebe, C. (1976). Okonkwo oder Das Alte stürzt. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag. Dickel, M. & Scharvogel, M. (2010). Im Netz der Produktion des Raumes. Referenzen geographischer Bildung. In S. Lampe & J.N. Müller (Hrsg.), Architektur und Baukultur. Reflexionen aus Wissenschaft und Praxis. (S.182‒196). Berlin: DOM Publishers.

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BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG ‒ ZWISCHEN UTOPIE UND LEERFORMEL? Potentiale für die Politische Bildung im Geographieunterricht Inga Gryl & Alexandra Budke 1. EINLEITUNG Die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) hat als bildungspolitischer Leitbegriff in den letzten zwanzig Jahren eine exponentiell große Verbreitung erfahren. Direkter Vorgänger war die Umweltbildung, die Ende der 1960er Jahre aufkam und mit welcher auf steigende Umweltbelastungen und -verschmutzungen durch Industrialisierung und Technisierung in der Nachkriegszeit reagiert wurde. In verschiedenen bildungspolitischen Dokumenten aus der Bundesrepublik wurde festgelegt, dass in der Schule Wissen über Umweltprobleme vermittelt werden solle und dass die SchülerInnen zum Umweltschutz zu erziehen seien (Hauenschild & Bolscho, 2013, S. 23‒25). Seit der Konferenz „Umwelt und Entwicklung“ der Vereinten Nationen 1992 fand der Begriff „Nachhaltigkeit“, der ursprünglich aus der Forstwirtschaft stammte, Eingang in die internationale Bildungspolitik. In den Folgejahren wurde die Bedeutung von BNE in unzähligen internationalen und nationalen bildungspolitischen Dokumenten untermauert und in Schulgesetzen und Curricula verankert. Im Gegensatz zur Umweltbildung, welche auf die Analyse von Umweltproblemen und auf umweltschonendes Verhalten fokussiert, wird BNE als ein weitaus positiverer und umfassenderer Ansatz empfunden (ebd., 2013), da dieser die Bewahrung der natürlichen Ressourcen interdisziplinär, bedürfnis- und lösungsorientiert betrachtet. Ein zentrales Ziel ist, die Bedürfnisse heutiger Generationen zu befriedigen, ohne jene kommender Generationen zu gefährden. BNE setzt sowohl am eventuellen Unwissen der/des Einzelnen als auch an der möglicherweise mangelnden Bereitschaft an, nachhaltig zu agieren. Bildung für nachhaltige Entwicklung ist mehr als Umweltbildung. Sie unterscheidet sich von der Umweltbildung ebenso wie von der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit durch einen breiteren und umfassenderen Ansatz (…). Bildung für eine nachhaltige Entwicklung soll zur Realisierung des gesellschaftlichen Leitbildes einer nachhaltigen Entwicklung im Sinne der Agenda 21 beitragen und hat zum Ziel, die Menschen zur aktiven Gestaltung einer ökologisch verträglichen, wirtschaftlich leistungsfähigen und sozial gerechten Umwelt unter Berücksichtigung globaler Aspekte zu befähigen. (BMBF, 2002, S. 4, zit. nach Hauenschild & Bolscho, 2013, S. 43)

Hierbei wird ein durchaus komplexer Nachhaltigkeitsbegriff bemüht, der neben einer ökologischen Dimension auch eine soziale und eine ökonomische beinhaltet

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– und damit Nachhaltigkeit zu einer gesellschaftlichen Frage macht. Der explizite Gesellschaftsbezug lässt eine deutliche Nähe zum Politischen erkennbar werden, zumal das Handeln in allen genannten Dimensionen nicht nur ad-hoc sozial ausgehandelten Strukturen unterliegt, sondern auch verfestigten wie etwa der nationalen und supranationalen Gesetzgebung. Mit der in der Geographiedidaktik geäußerten Idee, Geographie als das Kernfach der Nachhaltigkeitsbildung zu verstehen (Reuschenbach & Schockemöhle, 2011; Hoppe & Junker, 2013), wird hier ein Ansatz deutlich, der Politische und geographische Bildung zusammenbringt. Doch gerade die Komplexität von Nachhaltigkeit lässt BNE als Vorhaben mit hoch gesteckten Zielen erscheinen. Zugleich ist das Streben nach Nachhaltigkeit für das (dabei möglichst friedvolle) Überleben (nicht nur) der Menschheit zentral. BNE kann demnach als ein globales bildungspolitisches Projekt verstanden werden. Vor diesem Hintergrund und Bildungsauftrag ist die Wirksamkeit, die BNE im Rahmen des Geographieunterrichts entfaltet, zentraler Gegenstand der Betrachtung dieses Aufsatzes. Hierbei wird auf die geographiedidaktische Rezeption von BNE im deutschsprachigen Raum ebenso wie auf die Grenzen des Ansatzes eingegangen, um daran anschließend die Möglichkeiten einer Verknüpfung von BNE und Politischer Bildung zu diskutieren. 2. BILDUNG FÜR EINE NACHHALTIGE ENTWICKLUNG Die Grundlage für BNE ist ein Nachhaltigkeitsbegriff, der ‒ in Abgrenzung von der ursprünglichen, stark ökosystemisch geprägten Idee (von Carlowitz, 1713, zit. in Bahr, 2007) ‒ drei Dimensionen globaler Probleme berücksichtigt: Ökologie, Ökonomie und Soziales. Zur Ausdifferenzierung werden teilweise zudem die Dimensionen Kultur, Technologie und Governance unterschieden (Scoullos, 2010). Die Berücksichtigung verschiedener Dimensionen bei der Lösung von „Nachhaltigkeitsproblemen“ ist als Kernbestandteil von BNE zu bezeichnen (Capelo, Santos & Pedrosa, 2012) und ihre Beziehung wird häufig im Sinne eines „Dreiecks der Nachhaltigkeit“ (Bahr, 2007, S. 11) als Ausgleich zwischen allen Polen gedacht, analog zu dem im englischen Sprachraum genutzten Pendant der sustainability. Damit greift der Begriff die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkommenden Erkenntnisse über „Die Grenzen des Wachstums“ (Meadows, Meadows, Zahn & Milling, 1972), die sich beschleunigende Globalisierung, globale Umweltveränderungen wie den Klimawandel und neuere Ansätze wie die des Anthropozäns (Crutzen, Mastrandrea, Schneider, Davis & Sloterdijk, 2011) auf. Bemerkenswert ist hierbei der Einbezug einer zeitlichen Dimension, wie durch die Brundtland-Kommission, die den Begriff 1987 maßgeblich auf die politische Agenda hob, formuliert: „Sustainable development seeks to meet the needs and aspirations of the present without compromising the ability to meet those of the future“ (Brundtland Report, 1987, Chapter 1, II, Abs. 49). Hinzu kommt eine räumliche Dimension, die in der Frage nach dem Ausgleich von Entwicklungsdifferenzen von Regionen enthalten ist.

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An die Brundtland-Kommission anschließend wurde Nachhaltigkeit auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro als politisches Programm unter dem Stichwort der „Agenda 21“ etabliert. In Deutschland etwa fand dies seinen Widerhall u.a. in der Einbringung des Gedankens in das Grundgesetz (Art. 20a) (de Haan, 2004). Doch gerade die Erkenntnis, dass globale Veränderungen lokale Ursachen haben (Glokalität; Robertson, 1998), lässt die Praktiken der/des Einzelnen zur Herstellung von Nachhaltigkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und legitimiert damit die Idee einer BNE. 2002 wurde auf dem Weltgipfel der UN die Dekade der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ausgerufen, die von 2005 bis 2014 andauerte, um im Zuge dieser das Leitbild der BNE weltweit in den Bildungssystemen zu verankern (de Haan, 2004). In Deutschland wurde diese Initiative beispielsweise mit der Deutschen UNESCOKommission, dem BLK-Programm Transfer-21 (Transfer-21, 2009) und der Plattform BNE-portal (BNE-portal, 2015) unterstützt. In den USA wiederum korrespondiert die Idee von BNE auch mit der Vermittlung von Environmental Literacy (NAAEE, 2012). Zentrales Ziel ist, dass die SchülerInnen dazu befähigt werden sollen „zukunftsrelevante Probleme zu lösen und über spezifische Handlungsfähigkeiten zu verfügen, um auch in uneindeutigen Situationen Handlungsfähigkeit zu ermöglichen“ (Adami, 2012, S. 20).

Abb. 1: Dimensionen einer Gestaltungskompetenz zur BNE (nach de Haan, 2007; nach Transfer-21.de)

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Neben programmatischen Schriften wurden auch generell zahlreiche Ideen hervorgebracht, wie BNE vermittelt werden könnte. Vielfache Rezeption fand das in Transfer-21 entwickelte Kompetenzmodell, das auf „Gestaltungskompetenz“ fokussiert: „Mit Gestaltungskompetenz wird eine spezifische Problemlösungs- und Handlungsfähigkeit bezeichnet“ (de Haan, 2004). Entsprechend dem Weinert‘schen Kompetenzbegriff (2002) werden hier kognitive, aber auch motivationale und volitionale Kompetenzen angesprochen (Abb. 1). Wissen, Befähigung und Wille zur Mitgestaltung der Gesellschaft vor dem Hintergrund von Empathie und Gerechtigkeitsempfinden sind hier zentral (Reuschenbach & Schockemöhle, 2011). 3. REZEPTION VON BNE IN DER GEOGRAPHIEDIDAKTIK Die Rezeption von BNE in der Geographiedidaktik erfolgte vielfach und mag als etabliert bezeichnet werden, auch wenn einige VertreterInnen anmerken, dass hierbei noch nicht genug getan wurde (Schrüfer & Schockemöhle, 2012; Hoppe & Junker, 2013). Der Geographieunterricht, der sich nach den Bildungsstandards mit naturgeographischen und humangeographischen Systemen in ihrem Zusammenwirken beschäftigt (DGfG, 2014, S. 10ff.), wird aufgrund dieser systemischen Basis als besonders geeignet angesehen, um BNE in ihrer Vernetzung zu vermitteln. Die Stärke das Faches zeichnet sich dadurch aus, dass gewissermaßen aus einer Hand geklärt werden kann, wann welche Fragestellung bei der Bearbeitung von Problemen oder Sachverhalten greift (naturwissenschaftlich oder gesellschaftswissenschaftlich). (Bahr, 2007, S. 11)

Dementsprechend heißt es in den Bildungsstandards: Bedingt durch seine Inhalte und Funktionen ist das Unterrichtsfach Geographie der Bildung für eine Nachhaltige Entwicklung (vgl. UN Dekade, 2005-2014) sowie dem Globalen Lernen besonders verpflichtet. (DGfG, 2014, S. 7)

Der Schulgeographenverband bezeichnet die Ziele des Fachs Geographie gar mit zwei gleichrangigen Aspekten: „Geographische Bildung sowie Nachhaltigkeitserziehung“ (Schulgeographenverband, zit. in Hoppe & Junker, 2013). Darüber hinaus werden der „hohe Stellenwert der medialen und realen Begegnung mit komplexen Sachverhalten gepaart mit einem weiten Methodenspektrum“ (Reuschenbach & Schockemöhle, 2011, S. 4) als unerlässliche Beiträge für ein „erfolgreiches und selbstbestimmtes Lernen im Sinne der BNE“ (ebd.) adressiert. Hierbei wird meist ein Bezug zu dem oben aufgezeigten Modell der Gestaltungskompetenz nach de Haan (2007) aus dem Projekt Transfer-21 hergestellt. Reuschenbach und Schockemöhle formulieren hierzu im Detail, dass etwa Gespräche über normative Setzungen […] spannend und wichtig [seien] und […] wesentlich dazu bei[tragen], dass die Schülerinnen und Schüler eine raumbezogene wertbesetzte Handlungskompetenz erwerben. (2011, S. 5)

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Diese Referenzen zielen vor allem darauf ab, die in der Umweltbildung beobachtete Diskrepanz zwischen Wissen und Tun im Sinne einer „Strategiekompetenz für Nachhaltigkeitshandeln“ (Hoppe & Junker, 2013, S. 6) zu beheben, welche die Kenntnis von Handlungsstrategien und die werte- und fachorientierte Befähigung zu Handlungsentscheidungen beinhaltet. Ein internationales Dokument zur Nachhaltigkeit in der geographischen Bildung ist die Luzerner Deklaration zur Nachhaltigkeit, die auf dem Symposium der International Geographical Union Commission on Geography Education im Jahr 2007 verabschiedet wurde. Hier werden neben überfachlichen Ausführungen zur Legitimation und Durchführung von BNE die (bedeutsame) Rolle der Geographie im Hinblick auf diese dargelegt, Hinweise formuliert, wie BNE in geographische Curricula und in den Unterricht – etwa hinsichtlich der Wahl geeigneter Themen – eingebracht werden kann und es wird aufgezeigt, welche Rolle aktuelle Informations- und Kommunikationstechnologien in der Vermittlung spielen können (Haubrich, Reinfried & Schleicher, 2007). Sogenannte „Nachhaltigkeitsthemen“ wie nachhaltige Ressourcennutzung, Energie oder Globalisierung wurden in der Folge definiert und durch die jeweiligen nationalen Bildungsministerien in die Curricula verschiedener Fächer implementiert. Eine internationale Studie, welche in Deutschland (Bayern), Rumänien und Mexiko von Bagoly-Simó (2013) durchgeführt wurde, ergibt, dass diese besonders häufig und intensiv in geographischen Curricula implementiert wurden. Dies sagt allerdings noch nichts hinsichtlich ihrer konkreten Behandlung im Unterricht aus. Zentrale „Nachhaltigkeitsthemen“ wurden schon im Kontext der Debatte um gesellschaftliche Schlüsselprobleme von Klafki (1993) und deren Bedeutung für den Geographieunterricht (Schmidt-Wulffen, 1994) diskutiert und teilweise in die Geographielehrpläne aufgenommen. Boehn & Hamann (2011) kommen in einer Analyse deutschsprachiger Unterrichtsvorschläge zur Nachhaltigkeit im Bereich des Geographieunterrichts zu dem Schluss, dass diese sich vor allem auf die Nachhaltigkeitsdimension der Ökologie, angereichert durch MenschUmwelt-Beziehungen, stützen, statt auf ökonomische und soziale Zusammenhänge. Analog zum übergeordneten Programm einer BNE zielt die geographiedidaktische Umsetzung auch auf die Bildung der/des Einzelnen ab: The individual is of special interest for educators because education of individuals is one of the most important ways of contributing to an understanding of sustainable development. (Haubrich et al., 2007, S. 157)

Dies macht insofern Sinn, als aus handlungstheoretischer Sicht nur die/der Einzelne die/der Handelnde sein kann (Werlen, 2000). Neben der Befähigung zur Partizipation – in ihren Grenzen – als erklärtes Ziel der BNE könnte damit auch die Bildung zukünftiger (machtvoller) EntscheidungsträgerInnen anvisiert werden, wobei von den Lernenden nur ein Teil jene Positionen erreichen wird. Vernachlässigt werden allerdings vor allem gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Strukturen, sodass die Erwartungshaltung von Kindern und Jugendlichen selbst hinsichtlich ihres Beitrages trotz BNE immer noch weniger auf ein

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eigenes Handeln als auf das Agieren auf Seiten der Unternehmen und der Politik abzielt (Zimmer & Draeger, 2009) – und somit in Teilen verständlich ist. Eine differenziert kritische Betrachtung der Grenzen der BNE ist vor diesem Ergebnis notwendig. 4. EINE KRITISCHE REFLEXION VON BNE De Haan (2007, S. 4) bezeichnet BNE als „Erfolgsgeschichte“ und bezieht sich dabei vor allem auf die Implementierung in politischen Beschlüssen. Betrachtet man jedoch die theoretischen Grundlagen und die in der Geographiedidaktik bestehenden Umsetzungen, sind einige problematische Aspekte zu erkennen. Kritik an BNE ist nicht neu. In der Geographiedidaktik ist insbesondere Hasse (2006) zu nennen, der Nachhaltigkeit bzw. BNE als konsensfähige Kommunikation entlarvt, die aber letztlich eine in ihrer vorgeblichen Harmonie kaum umsetzungsfähige, mythische Erzählung der Rettung der Welt sei. Bereits die Übersetzung des politischen Begriffs der Nachhaltigkeit in seiner symbolischen Funktion in einen erziehungswissenschaftlichen Kontext sei problematisch (Metzler, 2001, zit. in Hasse, 2006). Dieser Transfer kann nur über einen normativen Zugang erfolgen, der wie bereits die Umweltbildung der Diskrepanz aus Wissen und Handeln vor dem Hintergrund von Überzeugungen, Einstellungen und Vereinnahmung unterliegt. Ebenfalls wird eine kurze Kritik vor dem Hintergrund von Theorien der MenschUmwelt-Betrachtung für den Geographieunterricht durch Gryl, Schlottmann und Kanwischer (2015) vorgenommen. Basierend und in Weiterführung hierauf können folgende Kritikpunkte an einer BNE und Barrieren für diese in ihrer aktuellen Form systematisiert werden: 4.1 Mehrdeutigkeit des Konzepts BNE ist wie bereits dargestellt, ein Projekt globaler Bildungspolitik und damit ein Konsens. Die zugrunde liegenden Interessen und langwierigen Aushandlungsprozesse der politischen AkteurInnen sind, wie bei politischen Beschlüssen im Allgemeinen, in Abschlussdokumenten nicht sichtbar (Berryman & Sauvé, 2013). Es wurde z.B. auf der Klimakonferenz in Den Haag 2000 von den Delegierten über mehrere Tage darüber gestritten, was genau unter „Wald“ zu verstehen sei und nach Gough (2013, S. 38) finden sich auf der UN-Webseite zur Klimakonvention (UNFCCC) mehr als 1.400 Dokumente, die sich mit der Definition von „Wald“ beschäftigen. Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass der erzielte politische BNE-Konsens im Wesentlichen darauf beruht, dass man über die zentralen Begriffe des Konzepts „Entwicklung“, „Nachhaltigkeit“, „Bildung“ und „Gerechtigkeit“ sowie deren Wechselwirkung keinen Konsens finden konnte und sie daher jeweils unterschiedlich auslegte. So könnte man „Bildung“ z.B. als instrumentelle Bildung verstehen, mit der gesellschaftliche Probleme gelöst werden sollen, oder

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als Persönlichkeitsbildung bzw. als Allgemeinbildung.1 Ähnlich vieldeutig ist der Entwicklungsbegriff, der nicht nur als nachholende wirtschaftliche Entwicklung zu verstehen ist. Die Frage, welche Entwicklung anzustreben ist, lässt sich auf globaler Ebene schwer allgemeingültig beantworten, da dies von kulturellen und sozialgruppenspezifischen Werten und Normen sowie spezifischen Problemwahrnehmungen abhängig ist. Ressourcen, Machtkonstellationen und Systemzusammenhänge bestimmen, ob die erwünschten Entwicklungen auch tatsächlich umgesetzt werden. Vieldeutigkeit, welche das Gesamtkonzept begleitet, ist ebenso in Bezug auf die Nachhaltigkeitsdimensionen Ökonomie, Ökologie und Soziales feststellbar. Hinsichtlich der ökologischen Nachhaltigkeit etwa billigt die biozentrische Sichtweise der Natur ein eigenes Lebensrecht zu, während die anthropozentrische Orientierung sie in ihrer Funktion als Lebensgrundlage des Menschen beschreibt (Hauenschild & Bolscho, 2013, S. 35). Welche Bedeutung der Ökologie bei der Erreichung von Nachhaltigkeit zukommt, hängt damit ganz zentral von diesen grundlegenden, wertebezogenen Verständnissen der „Natur“ ab. Aufgrund der Vieldeutigkeit der zentralen Begriffe ist es nicht möglich, BNE verbindlich zu definieren, was die über 300 Definitionen zeigen, die schon 2010 verfügbar waren (Dobson, 2000, S. 63, zit. in Hauenschild & Bolscho, 2013, S. 33). Umgesetzt werden diese zudem kaum in Kompetenzmodellen. Die Diskussion wird vielmehr von „laundry lists“ dominiert, die unsystematisch und wenig nachvollziehbar Fähigkeiten auflisten, welche die SchülerInnen durch BNE erlangen sollen (Wiek, Withycombe & Redman, 2011, S. 205). Zudem zeigt eine Untersuchung der wesentlichen Literatur zum Thema „lack of empirical evidence“ (ebd., S. 212). Während die Mehrdeutigkeit des Konzepts dazu beiträgt, dass ein bildungspolitischer Konsens auf globalem Niveau überhaupt möglich ist, ergeben sich für die geographiedidaktische Forschung und Umsetzung im Geographieunterricht verschiedene Probleme. Es fehlen aufgrund der Unklarheit des Konzepts konkrete Ansatzpunkte, welche inhaltlichen Elemente und didaktischen Prinzipien im Geographieunterricht zu berücksichtigen sind, um BNE zu implementieren. Dies könnte auch erklären, warum BNE auf der „Ebene der Praxis“ nicht als hinreichend etabliert gilt (Hauenschild & Rode, 2013, S. 62). Ebenso fehlen Kriterien, mit deren Hilfe bestimmt werden kann, welche Kompetenzen tatsächlich gefördert werden, wie diese zu bewerten sind und wann demzufolge BNE als erfolgreich im Geographieunterricht umgesetzt gilt. Aufgrund der großen thematischen, methodischen und medialen Breite der Ansätze von BNE, kann der Eindruck der Beliebigkeit entstehen, was allerdings nicht bedeutet, dass alle Unterrichtsvorhaben im Geographieunterricht, welche sich rhetorisch auf BNE beziehen, nicht sinnvoll sind.

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Einen Überblick über verschiedene Bildungsbegriffe im Kontext von BNE geben Hauenschild und Bolscho (2013, S. 52ff.).

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4.2 Eurozentrismus Der Nachhaltigkeitsbegriff wird vorrangig aus der Perspektive des Entwicklungsstandes und der historischen Genese des globalen Nordens heraus gedacht. Konzepte wie das Bruttonationalglück (Bhutan) oder Buen Vivir (Ecuador) sind auf Grund der gewählten „Rückständigkeit“ gegenüber der europäischen Entwicklung nicht mit dem hiesigen und primär genutzten Nachhaltigkeitsbegriff kompatibel, der beispielsweise an einem Wirtschaftswachstum – das korreliert ist mit Entwicklung und Lebensstandard – festhält (vgl. Adami, 2012; Wullenweber, 2000). Auch wird häufig davon ausgegangen, dass es ein universelles Verständnis von „Natur“ gäbe, was auch von postkolonialen und feministischen Ansätzen kritisch gesehen wird. (Gough, 2013, S. 34ff.). BNE ist in seinen Zielen so offen definiert, dass der Ansatz geeignet ist „verschiedene ökonomische und politische Interessen jenseits scheinbar objektiver Kriterien von Gerechtigkeit zu bedienen“ (Gryl et al., 2015). Historische Pfadabhängigkeiten und gegenwärtige persistente Herrschaftsverhältnisse müssen deshalb im Nachhaltigkeitsdiskurs offen gelegt und durch diskursive Auseinandersetzung gelöst werden (Zinn, 2013, S. 293). Die Einschätzung der Realisierung und Realisierbarkeit des Ziels von BNE, zukünftige Entwicklungen gerecht zu gestalten und damit Gerechtigkeit zwischen sozialen Gruppen, Ländern des globalen Nordens und Südens und zwischen Generationen zu schaffen, hängt zentral vom Standpunkt der Betrachtung ab. Da keine absolute Gerechtigkeit erreicht werden kann, stellt sich die Frage, für wen die Zukunft gerecht oder gerechter sein soll, wer dazu beitragen muss und wie oder durch wen die neue Situation beurteilt werden soll. Das weiter unten aufgeführte Theoriedefizit intensiviert das Problem der möglichen Vereinnahmung durch vornehmlich mächtige und dabei wirtschaftlich starke Staaten, die Deutungsmacht über den Ansatz innehaben. 4.3 Verschleierung von Interessenkonflikten und Machtasymmetrien Problematisch erscheint am Dreieck der Nachhaltigkeit, das vielfach Eingang in die Geographieschulbücher gefunden hat (u.a. Westermann, 2009, S. 142f.), dass der Eindruck bei den SchülerInnen entstehen kann, dass ein harmonisches Gewicht und damit die Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme spielend leicht durch die Berücksichtigung der Dimensionen zu erreichen sei. Unter anderem der „Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung“ 2002 in Johannesburg, wo sich die Weltgemeinschaft auf keine konkreten Umsetzungsstrategien einigen konnte (Zinn, 2013, S. 293), zeigte aber, dass hinter den abstrakten Begriffen „Ökologie, Soziales, Ökonomie“ gesellschaftliche Gruppen stehen, welche völlig entgegengesetzte Problemwahrnehmungen und Interessen verfolgen und zudem in der Regel sehr unterschiedliche Machtmittel zur Umsetzung ihrer Interessen zur Verfügung haben. BNE weist zwar auf bestehende Ungerechtigkeiten wie etwa die ungleiche globale Aufteilung von Ressourcen und Produktionsmitteln oder den Profit durch

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soziale Ungleichheit hin; die Lösung jedoch soll im nachhaltigen Handeln und dem Herstellen von Gerechtigkeit liegen. Doch letztendlich sind nicht alle Konflikte in einer, wie der Ansatz suggeriert, Win-Win-Lösung beizulegen (Stevenson, 2013). Gerechtigkeit bedeutet Einschnitte für die aktuell Bessergestellten – und eine Lösung ist niemals für alle und aus allen Interessenlagen heraus gleichermaßen oder überhaupt positiv. Die in BNE angestrebte Konsensorientierung verbirgt daher unvermeidbare und weiterhin existente Interessenskonflikte. Unbemerkt können bestehende Machtverhältnisse vor dem Deckmantel einer normativen – und damit aus den gegebenen Verhältnissen sozial produzierten – Setzung reproduziert werden (Danielzik & Flechtker, 2012). Bei der Behandlung von Themen anhand der Nachhaltigkeitsdimensionen werden somit Interessenskonflikte, System- und Machtkonstellationen und Aushandlungsprozesse verschleiert, welche zum Verständnis der „Nachhaltigkeitsthemen“ notwendig wären und auf deren Grundlage erst sinnvoll Gestaltungsvorschläge für die Zukunft gemacht werden können. BNE läuft damit Gefahr, ein Instrument zu sein, das, statt Aufmerksamkeit und Verantwortung zu generieren, zugängliche wie einfache Lösungen globaler Probleme offeriert, die neben Beruhigung auch naive Vorstellungen bei den Lernenden generieren. 4.4 Utopisches Machbarkeitsideal Mit BNE scheinen simpel alle möglichen gesellschaftspolitischen Ziele gleichzeitig erreichbar zu sein: Wirtschaftliche Entwicklung, Armutsreduktion, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und die Lösung zentraler Probleme wie Klimawandel, Ernährungssicherung, und Bevölkerungswachstum. So schreibt z.B. de Haan (2006, S. 5) dass es bei BNE darum geht „etwas über kreative Lösungen zu lernen, die eine ökonomische Prosperität und den Schutz der Natur zugleich ermöglichen (…).“ BNE soll dabei „das private wie auch das gesellschaftliche Umfeld so […] modernisieren, dass ein Leben in sozialer und kultureller Gerechtigkeit sowie wirtschaftlichem Wohlstand für alle Menschen möglich ist“ (Reuschenbach & Schockemöhle, 2011, S. 3). Grundlegend stellt sich daher die Frage, wie realistisch das im Konzept enthaltende „Modernisierungsszenario“ (Adami, 2012, S. 18), welches die Bewahrung der natürlichen Umwelt und der pflegliche Umgang mit Ressourcen bei gleichzeitigem wirtschaftlichem Wachstum vorsieht, ist. Dieses hehre Ziel erscheint vielmehr als Utopie, entwickelt vor dem Hintergrund eines humanistischen Menschenbildes (vgl. Liessmann, 2011). Dies kann den Blick für die Grenzen der Umsetzbarkeit und die Konflikte trüben, die sich in der Umsetzung, den divergenten Interessen und den Mitteln, die Menschen zur Verfolgung ihrer Interessen nutzen, ergeben mögen. Schon einfache Fragen wie die Folgenden machen die Konflikthaftigkeit in Teilen existentiell deutlich: Wie viele Menschen kann die Erde (auch bei gewisser technologischer Entwicklung) tragen, und deutlicher gefragt: Wer darf auf der Erde leben? Weniger dramatisch, aber dennoch einschneidend: Wer muss etwas unter welchen Bedingungen zwecks Herstellung von Ge-

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rechtigkeit abgeben? BNE bleibt „abgesehen von dem punktuellen Hinweis auf Lernen mit Dilemmata, einem idealistischen Aktions-, Lösungs- und Machbarkeitsideal“ verpflichtet, „das Machtungleichgewichte und Interessen kaum erfasst, sondern quasi nur Sieger kennt“ (Gryl et al., 2015). 4.5 Theoriedefizit Prinzipiell ist die Vorgehensweise der BNE, auf einen nicht allein naturwissenschaftlichen Erklärungsmustern verpflichteten Nachhaltigkeitsbegriff zu referieren, als äußerst positiv hervorzuheben; auch wird eine Mensch-UmweltDichotomie (vgl. Ecological Literacy: Orr, 1992) durch das Dreieck der Nachhaltigkeit vermieden. Letztlich aber wird der angestrebte systemische Gedanke – außer möglicherweise in Teilprojekten – in BNE kaum theoretisch durchdacht. Das Wie des Zusammenhangs der Dinge sowie die Idee der Möglichkeiten und Grenzen der Modellierbarkeit werden allenfalls angedeutet (vgl. Syndromansatz als relativ mechanistisches Modell: Rhode-Jüchtern, 2009). Auch viele der übrigen aufgezeigten Defizite wie etwa das des Machbarkeitsideals sind durch mangelnde theoretische Durchdringung gekennzeichnet. 4.6 Top-Down-Ansatz BNE wird als notwendiges politisches Steuerungselement für die Bewältigung einer so umfassenden Aufgabe wie der Realisierung von Nachhaltigkeit legitimiert (vgl. de Haan, 2004), erscheint aber als politisches Erziehungsinstrument, das einen bestimmten Typus BürgerIn hervorbringen soll, und nicht primär als Bildungsidee im humanistischen Sinne (Liessmann, 2011; Berryman & Sauvé, 2013; Stevenson, 2013). Die Schule wird als ausführendes Organ gesehen, ohne die Interessen, didaktischen Ziele und Handlungslogiken der beteiligten AkteurInnen zu berücksichtigen (Stevenson, 2013). Dieses etwas paternalistische Verständnis von BildungNE reduziert den Rahmen, in dem die/der Einzelne mündig agieren kann. Zu begrüßen ist einerseits die Beteiligung, Verantwortung und auch Rechenschaft der/des Einzelnen. Jedoch ist diese nicht unbedingt im Hinblick auf Veränderung von Rahmungen zu verstehen, da klassische Partizipationswege (etwa service learning) dominieren, während der aktuell vermehrt praktizierte „activist“ und „formation“ Ansatz (vgl. Elwood & Mitchell, 2013) kaum kompatibel zum gegenwärtigen Programm einer gesteuerten Bildung/Erziehung zu Nachhaltigkeit erscheint. 4.7 Unzureichende Differenzierung des Lokalen vor dem Globalen Die erwartete Rolle und Verantwortung des Einzelnen innerhalb von BNE wird einmal mehr durch einen der einflussreichsten Slogans des Nachhaltigkeitsdiskur-

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ses angesprochen: „Global denken – lokal handeln“ (Gough, 2013). Durch diesen soll auf die Tatsache aufmerksam gemacht werden, dass aktuelle globale Probleme nur durch das aktive Handeln Einzelner im jeweiligen lokalen Raum zu lösen seien. Der Ansatz ist anschlussfähig an ein zentrales Ziel des Geographieunterrichts, das in einer Betrachtung von Problemstellungen auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen besteht (DGfG, 2014). Oftmals führt dies dazu, dass globale Probleme vorgestellt werden und am Ende der Einheit thematisiert wird, was die SchülerInnen konkret tun sollen, um eine Lösung der Probleme zu unterstützen. Häufiges Thema, welches in deutschen Geographieschulbüchern in diesem Kontext behandelt wird, ist die Abholzung des tropischen Regenwaldes. Nachdem der Regenwald in seiner Bedeutung für das Weltklima, den Artenreichtum und die Medikamentenherstellung etc. vorgestellt wurde, werden mögliche Handlungsoptionen für die SchülerInnen vorgestellt. Hier heißt es z.B. in Terra Erdkunde für die 7./8. Klasse: Doch was kann der Einzelne tun? Zunächst einmal heißt es „Augen auf beim Einkauf“. Durch den Einkauf von Produkten aus fairem Handel, bei denen der einzelne Bauer vor Ort angemessene Preise für seine Arbeit bekommt, ist ein Schritt in die richtige Richtung getan. Beim Kauf von Tropenholz sollte man auf das FSC-Gütesiegel achten, da dieses eine umwelt- und sozialverträgliche Herstellung garantiert. (Klett, 2008, S. 83)

Unberücksichtigt bleibt in diesem Zusammenhang, dass sich „globale Probleme“ auf lokaler Ebene völlig unterschiedlich darstellen, was von den jeweiligen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen vor Ort abhängt. Hierbei muss mit Blick auf die Vielzahl der AkteurInnen von einer Vielzahl von Orten ausgegangen werden. Aus einer eurozentristischen Perspektive wiederum bleiben vor Ort existentes Umweltwissen und Erfahrungen mit Umweltproblemen weitestgehend unberücksichtigt (Gough, 2013). Bloßes „Global denken“ kann verhindern, dass die jeweiligen Einflussfaktoren, welche eine „nicht-nachhaltige“ Situation bedingen, in ihrem lokalen Kontext eingebettet betrachtet werden, und damit ein Verständnis zentraler Wechselwirkungen ausbleibt. Wenn nur auf globale Probleme im Unterricht eingegangen wird, missachtet man die Verwobenheit von lokalen, regionalen und globalen Ursachen. Damit birgt BNE nach dem Ansatz „global denken –lokal handeln“ die Gefahr, nur oberflächliche Problemanalysen durchzuführen, welche die lokale und regionale Ebene übersehen sowie globale Lösungsstrategien vernachlässigen. 4.8 Mangelnde Reflexivität Verschiedene Schwachstellen von BNE werden jedoch nicht in einer inhärenten Diskussion reflektiert, weil BNE keine Metaebene zur Reflexion ihres Ansatzes selbst innewohnt. Diesen Kritikpunkt, den auch Danielzik & Flechtker (2012) formulieren, moniert allerdings Overwien mit der Unterstellung, dass

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Inga Gryl & Alexandra Budke die AutorInnen nicht einmal die einschlägigen Websites besucht haben. [Denn] dann hätten sie lesen können, dass Gestaltungskompetenz im Sinne der BNE genau darauf ab zielt: Auf einen kritischen Umgang mit Wissensbeständen, Vorgehen gegen ‚Vorurteile, Feindbilder und Diskriminierung‘ und Orientierung auf Menschenrechte, solidarisches Handeln und Diversity. (2013, S. 4)

Jedoch geht diese Verteidigung der BNE an der Kritik vorbei: Es geht eben nicht allein um eine Reflexion seitens der zu befähigenden Subjekte, sondern eben auch um eine Infragestellung und Gestaltung des Ansatzes in seiner notwendigen, aber wahrzunehmenden Unvollkommenheit. Ein Bewusstsein dieser Art macht erst eine Aufarbeitung des Theoriedefizits und die grundlegende Reflexion von Machtbeziehungen im Zusammenhang mit der Kommunikation und Handlung um BNE möglich (vgl. Gryl et al., 2015). Problematisch erscheint auch, dass die den BNE-Ansätzen zugrunde liegenden Normen und Werte nicht offensichtlich sind und wenig diskutiert werden (Zinn, 2013), was an der bereits erwähnten, problematischen Konsensfindung liegen mag. 4.9 Vernachlässigung gesellschaftlich-systemischer Strukturen Als Bildungsansatz zielt BNE auf die/den Einzelne/n ab und spricht dessen Verantwortung an (Reuschenbach & Schockemöhle, 2011). Dies ist, auch aus handlungstheoretischer Sicht, bis zu einer gewissen Grenze sinnvoll. Der aufgezeigte Slogan „lokal handeln“ wird aber häufig in dem Sinne interpretiert, dass die SchülerInnen so beeinflusst werden sollten, dass sie bestimmte, als nachhaltig angesehene Handlungen wie den Kauf von Bio- und Transferprodukten ausführen. Dies führt dazu, dass SchülerInnen durch diese gut gemeinten Handlungsempfehlungen entmündigt werden, denn entgegen den Zielen Politischer Bildung lernen sie nicht das Für- und Wieder bestimmter Handlungsoptionen kennen, was die Grundlage für begründete eigene Entscheidungen wäre, sondern werden in ihren Handlungen determiniert. Darüber hinaus wird die Betrachtung (und Wirksamkeit) systemischer Strukturen, welche einen großen Einfluss auf die globalen Probleme haben (Hasse, 2006), vernachlässigt. Die „Checkliste“ „Zukunft Erde nachhaltig gestalten lernen“ (Hoppe & Junker, 2013, S. 5) im entsprechenden Themenheft Nachhaltigkeit der Praxis Geographie zeigt genau diesen Fokus auf den Einzelnen bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Systems. Das In-die-Verantwortung-Ziehen der/des Einzelnen kann von systemimmanenten, nicht-nachhaltigen Strukturen ablenken. Allein sprachanalytisch betrachtet zeigen sich auf der Systemebene erste Probleme: Die Brisanz der Wortverbindung [Nachhaltige Entwicklung] zeigt sich darin, dass der statische Gehalt von ‚sustainable‘ schwer mit der Dynamik in ‚development‘ zu verbinden ist. (Wullenweber, 2000, S. 1)

Nachhaltiges Wirtschaftswachstum ist eine technologische und (insbesondere global betrachtet) soziale Herausforderung, deren Umsetzung aktuell als bloße

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Utopie zu werten ist. Tatsächlich basiert Wirtschaftswachstum momentan auf zahlreichen nicht-nachhaltigen Strukturen wie ungleiche Lebensbedingungen, Ressourcenverbrauch und nicht-nachhaltiger Konsum. Zudem muss nicht nur gefragt werden, ob eine solche neoliberale Welt überhaupt nachhaltig sein kann, sondern auch, wie Lernende mit der Divergenz der Anforderungen – aus der neoliberalen Sozialisation der Konsumorientierung und Gewinnmaximierung einerseits und der Forderungen einer BNE nach Gerechtigkeit und ggf. auch Verzicht andererseits – umgehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach überfordert BNE die Lernenden damit, indem ihnen ein Gutteil der Verantwortung für die Zukunft der Erde und Gesellschaft(en) zugeschoben wird, wobei sie nur über begrenzte Handlungsmittel verfügen und damit individuell nur einen Teil der Realisierung und damit der Verantwortung tragen können. Vielmehr sind grundlegende Diskussionen zu den in Deutschland üblichen konsumorientierten Lebensstilen oder den Vor- und Nachteilen von Öko-, Bio-, Transfer- und Regional-Produkten zu führen. Unterschätzt wird von VertreterInnen des Ansatzes „lokal handeln“ zudem die Notwendigkeit, globale Probleme auch auf globaler Ebene zu lösen (Gough, 2013). Auch diese Möglichkeiten sollten mit den SchülerInnen erörtert werden. 5. BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG UND POLITISCHE BILDUNG Wie bereits erläutert wurde, ist BNE ein Projekt globaler Bildungspolitik. BNE verfügt über ein umfassendes politisches Steuerungsprogramm dieser Erziehung zur Nachhaltigkeit und transportiert dabei eine spezifische Normativität (de Haan, 2007). Allerdings handelt es sich bei BNE um kein klar definiertes Konzept, da sich verschiedenste, teils konträre Ansätze unter diesem Oberbegriff vereinen. Daher lässt sich auch keine allgemeingültige Aussage darüber treffen, inwiefern BNE tatsächlich dazu geeignet ist, Ziele der Politischen Bildung im Sinne von Demokratieerziehung zu erreichen. Während einige BNE-Ansätze für diese ungeeignet erscheinen, da sie die Verhaltenssteuerung der SchülerInnen im Sinne politischer Ziele vorsehen (siehe Analyse von Stevenson, 2013), lassen sich bei anderen Konzeptionen Elemente identifizieren, welche im Sinne der Politischen Bildung genutzt werden könnten. Im Folgenden werden einige Bestandteile derjenigen BNE-Konzepte vorgestellt, die sich zur Politischen Bildung im Geographieunterricht eignen. 5.1 Verständnis zentraler gesellschaftlicher Probleme Möchte man die SchülerInnen zu mündigen BürgerInnen erziehen, welche sich aktiv an der Lösung gesellschaftlicher Probleme beteiligen, sollte in der Schule ein Grundverständnis für die Ursachen dieser Probleme vermittelt werden. Daran beteiligt sich auch der Geographieunterricht u.a. bei der Thematisierung von

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„Nachhaltigkeitsthemen“. Allerdings ist mit Blick auf die Tatsache, dass Geographieunterricht in der Unter- und Mittelstufe ein Ein-Stunden-Fach ist, davon abzusehen, eine Alleinzuständigkeit zu beanspruchen. Vielmehr bietet sich fächerverbindender Unterricht und/oder die Kooperation mit außerschulischen PartnerInnen an. Auch de Haan (2007) betont die Notwenigkeit interdisziplinärer Zugänge und die vernetzte Behandlung von lokalen, regionalen und globalen Problemursachen. Dabei ist sowohl der räumliche als auch der akteurs(gruppen)spezifische Perspektivenwechsel notwendig (Rhode-Jüchtern, 1995), womit auch dem „Kontroversitätsgebot“ im Sinne der Politischen Bildung Genüge getan ist. Wichtig für das Verständnis zentraler gesellschaftlicher Probleme ist zudem die Thematisierung der „Reibungsflächen“ zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Zielen. Um die unterschiedlichen Problemwahrnehmungen und Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen offensichtlich werden zu lassen, können verstärkt gesellschaftliche, raumbezogene Konflikte im Geographieunterricht thematisiert werden (Kuckuck, 2014). Der Einsatz aktueller Medien wiederum erleichtert Visualisierung, Austausch und Kollaboration (Gryl, Sanchez, Jekel, Juneau-Sion, Lyon & Höhnle, 2014; Michel, Sigmund, Ehlers, Jahn & Bittner, 2013). Als wesentliche Kompetenzen können so Problemlösefähigkeit und Systemkompetenz geübt werden (Wiek et al., 2011; Mehren, Rempfler, Ulrich-Riedhammer, Buchholz & Hartig, 2015). Komplexe Zusammenhänge lassen sich jedoch in der Regel nicht in einzelnen Geographiestunden auf der Grundlage der üblichen Doppelseiten der Schulbücher, welche vorrangig – scheinbar – neutrale Darstellungen präsentieren, behandeln. Möchte man durch den Geographieunterricht ein Verständnis für einige zentrale gesellschaftliche Probleme erzeugen, müssten ausgewählte Themen sehr viel umfangreicher und intensiver behandelt werden als dies bisher üblich ist. Dazu müssten Curricula und Bildungsmedien überarbeitet werden. 5.2 Argumentationskompetenz Ein wichtige didaktische Methode, welche dazu eingesetzt werden kann, um die fachlichen Zusammenhänge der „globalen Probleme“ und die Sichtweisen der zentralen AkteurInnen, ihre Kommunikationen und die entstehenden Konflikte zu verstehen, ist die Argumentation. Diese wurde bereits erfolgreich dazu eingesetzt, um im indischen Geographieunterricht BNE zu unterrichten (Leder, 2015). Argumentation kann als ein Problemlöseverfahren verstanden werden, bei dem eine strittige Behauptung durch Begründung widerlegt oder bestätigt werden soll (Kopperschmidt, 1995; Kienpointner, 1983). Sie ist nicht nur eine wichtige Kulturtechnik, sondern kann auch dazu dienen, verschiedene Positionen zu bewerten und auf dieser Grundlage eigene Meinungen auszubilden, was die Grundlage für kreative Problemlösungen und Zukunftsgestaltungspläne sein kann. Diese können mit Hilfe von Argumentationen ausgehandelt und gerechtfertigt werden. Im Sinne der Demokratieerziehung könnten die SchülerInnen lernen, dass die Argumentation ein Grundprinzip der Demokratie darstellt und genutzt werden kann, um Kon-

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flikte friedlich zu lösen und Konsens herzustellen, ohne jedoch folgende Feststellung außer Acht zu lassen: „Every decision regarding sustainable life practices is a compromise, not a solution“ (Klahr, 2012, S. 20). In diesem Zusammenhang könnten auch die für BNE zentralen Begriffe und zugrundeliegenden ethischen und normativen Vorstellungen (Applis, 2012) thematisiert werden: Was ist für wen ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung? Welche räumliche Entwicklung ist für wen gerecht? Auf welchen Normen und Werten beruhen die Argumentationen der zentralen AkteurInnen? Wie sind die unterschiedlichen Positionen zu bewerten? Wie könnte eine Lösung aussehen, welche die Interessen möglichst vieler Gruppen auf demokratische Art und Weise berücksichtigt? Wie ließe sich der erreichte Grad an Nachhaltigkeit beurteilen? Ebenso interessant wäre, mit den SchülerInnen zu untersuchen, in welcher Situation, von wem und aus welchen Motiven mit „Nachhaltigkeit“ argumentiert wird. Dabei könnte auch der mit BNE verknüpfte Machbarkeits- und „Rettungsdiskurs“ in seiner sozialen Funktion untersucht werden (Berryman & Sauvé, 2013). Zudem sollten die den BNE-Konzepten zugrunde liegenden normativen Werte offen und kritisch diskutiert werden (Zinn, 2013, S. 356ff.). Bisher werden SchülerInnen im Geographieunterricht allerdings wenig auf die Entschlüsselung vorgefundener Argumentationen, die Produktion eigener Argumente sowie die argumentative Aushandlung vorbereitet (Budke, 2011; 2012b). Voraussetzung für eine stärkere Berücksichtigung der Argumentation im Geographieunterricht wäre ein multiperspektivischer Zugang, der komplexe Zusammenhänge vermittelt und in dem sowohl methodisches Wissen zum strukturellen Aufbau von Argumentationen (Budke, 2012a) als auch die sprachlichen Mittel zu ihrer Formulierung (Budke & Weiss, 2014) vermittelt würden. 5.3 Planungs- und Gestaltungskompetenz SchülerInnen sollten im Geographieunterricht nicht nur verschiedene Probleme kennenlernen, sondern mögliche Lösungsstrategien erwerben, um die Zukunft entsprechend ihrer eigenen Vorstellungen und Ziele zu planen und kreativ zu gestalten. Die Gestaltungskompetenz wurde von de Haan ausformuliert (de Haan, 2004). Allerdings finden sich bei dem Konzept keine expliziten Bezüge zum fachlichen Unterricht (siehe Abb. 1). Tatsachlich sollte allerdings die komplexe fachliche Problemanalyse (siehe oben) Grundlage für die Entwicklung von Gestaltungsentwürfen sein. Wesentlich sollte hier die Planungskompetenz sein. Allerdings finden sich sowohl in deutschen als auch in britischen Schulbüchern kaum Aufgaben, anhand derer die SchülerInnen diese Kompetenz schulen könnten (Maier & Budke, in diesem Band). Planungs- und Gestaltungskompetenzen sollten demnach verstärkt im Geographieunterricht gefördert werden, was u.a. die Vermittlung von fachlichem, planungsmethodischem, kommunikativem und strategischem Wissen beinhaltet. Adami (2012, S. 20) schlägt in diesem Zusammenhang vor, den SchülerInnen „Partizipationsfelder“ zu eröffnen, was sich u.a. durch ihre Beteiligung an konkreten Stadtplanungsprozessen realisieren ließe. So kann

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„politische Urteilsbildung“ geübt und die Motivation für zukünftige gesellschaftspolitische Partizipation geschaffen werden. 5.4 Handlungskompetenz SchülerInnen sollten durch Unterricht die Gelegenheit bekommen, Handlungsmöglichkeiten und -strategien kennenzulernen, die sie auch außerhalb der Schule einsetzen können und die sie bei der Lösung alltäglicher wie gesellschaftlicher Probleme einsetzen können. Im Sinne des „Überwältigungverbots“, welches schon im Beutelsbacher Konsens formuliert wurde, sollte ihnen jedoch nicht eine bestimmte Verhaltensweise als die richtige vorgeschrieben werden. Sie sollten vielmehr auf der Grundlage von komplexer Problemanalyse, argumentativ begründeten Situationsbewertungen und durch Abwägung der unterschiedlichen Sichtweisen und Handlungsalternativen zu eigenen Bewertungen kommen. Diese könnten dann in anderen Kontexten handlungsleitend sein. Hauenschild und Rode (2013) weisen an dieser Stelle auf die große Bedeutung verstärkter Partizipation der SchülerInnen im Sinne des Wortes im Unterricht als Grundlage für eine wirkliche Handlungsorientierung hin. 6. SCHLUSSBETRACHTUNG Die Aussage, dass „mit dem Leitbild von Rio 1992 […] ein Rahmen gelegt [wurde], der kritisch diskutiert und gefüllt werden muss und kann“ (Overwien, 2013, S. 3), sollte beim Wort genommen werden. Nur damit kann der Gefahr entgegengetreten werden, dass BNE zum Synonym für unerreichbare Utopie oder aber durch inflationären Gebrauch zur Leerformel wird. Wie viel an dieser Stelle noch zu leisten ist, hat dieser Beitrag in einer kritischen Analyse der Lücken und Grenzen des Ansatzes aufgezeigt. Wie andererseits die Darstellung einiger ausgewählter Elemente von BNE zeigt, ist es zumindest möglich, BNE mit Zielen der Politischen Bildung im Sinne von Demokratieerziehung zu verknüpfen. Dabei sollten einerseits die aufgezeigten Grenzen berücksichtigt und, wo immer möglich, überschritten werden und andererseits möglichst alle im fünften Abschnitt dieses Beitrages genannten Punkte gleichzeitig verwirklicht werden. Grundsätzlich scheint es möglich, unter dem „Label“ BNE, einen inhaltlich anspruchsvollen Geographieunterricht zu gestalten, der sich auf aktuelle und komplexe gesellschaftliche Probleme bezieht und diese systemisch, multilokal und multiperspektivisch behandelt, zumal das Label selbst vage definiert und konsensfähig ist. Dies kann im Unterricht also durch Dekonstruktion, Metaebenen und Reflexivität hinsichtlich BNE sowie durch den verstärkten Einsatz von Argumentationsmethoden geschehen. Hiermit werden zudem Meinungsbildung sowie die Erarbeitung und Bewertung von Gestaltungs-, Planungs- und Handlungsalternativen gefördert.

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RAUM UND GESELLSCHAFT: SPATIAL CITIZENSHIP ALS INTEGRATION VON MEDIEN-, GEOGRAPHISCHER UND POLITISCHER BILDUNG Jana Pokraka, Denise Könen, Inga Gryl & Thomas Jekel 1. EINLEITUNG Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte sind im Jahr 2015 in Deutschland keine Seltenheit. In diesem Zusammenhang sorgte kürzlich eine digitale Karte, auch „braune Karte“ genannt, für Schlagzeilen. Diese in sozialen Netzwerken rege diskutierte Google My Maps-Karte „Kein Asylantenheim in meiner Nachbarschaft“ beinhaltete neben der Verortung von (geplanten) Asylunterkünften detaillierte Informationen über diese und einen Aufruf zum Mitwirken an der Vervollständigung der Karte. Kritiker*innen sahen in diesem Medium eine direkte Einladung für Übergriffe. Das Beispiel der „braunen Karte“ wird im Verlauf des Aufsatzes zeigen, wie sehr das Zusammenspiel von Geomedien und Politischer Bildung Einzug in den Alltag der Menschen genommen hat. Aus dem Blickwinkel der Fachdidaktik steht hier das Konzept Spatial Citizenship als Bildungsansatz im Raum, das den reflektierten und technisch versierten Umgang mit Geomedien, insbesondere im Sinne ihrer Produktion, mit dem Ziel der mündigen Raumaneignung fördert. Spatial Citizenship verbindet die räumliche Domäne mit dem Bereich der Politischen Bildung und bietet somit einen Zugang für das Einbringen Politischer Bildung in den Geographieunterricht. Der vorliegende Beitrag stellt zunächst die theoretischen Grundlagen von Spatial Citizenship sowie die Bedeutung des Ansatzes für die Politische Bildung dar. Basierend auf den theoretischen Überlegungen wird anschließend eine Lernumgebung für den Unterricht in der Sekundarstufe I schulformübergreifend erläutert, die kritisch an das oben genannte Beispiel anschließt, um die Theorie praxisnah zu ergänzen, zu veranschaulichen und zu untermauern. Die im Beispiel notwendigerweise aufkommenden Fragen hinsichtlich der normativen wie gesellschaftlichen Einbettung des Ansatzes werden im letzten Abschnitt vertieft. Hierbei wird die Notwendigkeit der Verbindung sozialgeographischer Inhalte mit zentralen Aspekten einer Politischen Bildung – unter anderem im Hinblick auf Mündigkeit und fundamentale Menschenrechte – einmal mehr verdeutlicht.

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Jana Pokraka, Denise Könen, Inga Gryl & Thomas Jekel

2. SPATIAL CITIZENSHIP UND POLITISCHE BILDUNG Das Ziel von Spatial Citizenship (Gryl & Jekel, 2012; Jekel, Gryl & Oberrauch, 2015) ist die geomedial gestützte mündige Raumaneignung aller Bürger*innen, die befähigt werden sollen, an gesellschaftlichen Partizipationsprozessen teilzuhaben. Hierbei spielt der gegenwärtige Bedeutungsgewinn des Web 2.0 eine entscheidende Rolle, bei dem nicht nur der Konsum bzw. die Nutzung, sondern auch die eigene Produktion von Inhalten, also die mediale Vermittlung der eigenen Position, im Vordergrund steht, was zum Kofferwort der „Produtzung“ führt (Bruns, 2008). Im Geographieunterricht sollen insbesondere Kinder und Jugendliche im Rahmen der Spatial Citizenship Education einen Umgang mit digitalen Geomedien erfahren, der dazu führt, dass sie räumliche Prozesse aktiv mitgestalten können (Schulze, Gryl & Kanwischer, 2015). Somit beruht Spatial Citizenship auf verschiedenen Beobachtungen und theoretischen Annahmen. Einer der Ausgangspunkte ist, dass sich die Formen der politischen Partizipation, vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, in den letzten Jahren grundlegend geändert haben, was eine Entfremdung dieser von offiziellen politischen und räumlichen Beteiligungsprozessen zur Folge hat (Bennett, Wells & Rank, 2009). Bei jungen Menschen ist dabei das Pflichtbewusstsein, sich an konventionellen Partizipationsprozessen (insbesondere Wahlen in der repräsentativen Demokratie) zu beteiligen, gesunken, sie suchen jedoch in alternativen Formen der Partizipation, unterstützt vor allem durch neue Formen der Aushandlung im Web 2.0, Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen Visionen, zum Beispiel durch unabhängiges Engagement in Umwelt- oder moralischen Fragen (ebd.). Die Möglichkeiten zur Partizipation an räumlichen Prozessen und die Aneignung von Raum ergeben sich hierbei aus einem an die Sozialgeographie und die Sozialtheorie angelehnten Verständnis von Raum bzw. dessen (Re-)Produktion. So betrachtet Lefebvre (1993) den Stadtraum aus einer marxistischen Perspektive des gesellschaftlichen Raumes, der, geleitet durch die Interessen verschiedener individueller und institutioneller Akteur*innen, konstruiert und mit Bedeutungen versehen und somit für die Kontrolle und Machtausübung dieser genutzt wird. Auch Werlen (1993) sieht die räumliche Konstruktion von Objekten als Ergebnis menschlichen Handelns, nicht als deren Ursache. Die hier postulierte (Re-)Konstruktion von Raum wird schließlich über (digitale) Geomedien, die in unserer heutigen Gesellschaft omnipräsente und leicht nutzbare Instrumente der Verbreitung geographischer Informationen darstellen, (re-)produziert und kommuniziert (Fischer, 2014). Im Rahmen der Spatial Citizenship Education sollen Schüler*innen dazu befähigt werden, mit Hilfe von Geomedien an Raumaneignungs- bzw. Gestaltungsprozessen (beispielsweise an der Entwicklung eigener Raumplanungen) teilzuhaben. Die hierfür nötigen Kompetenzen werden von Schulze et al. (2015, übersetzt d. V.) in den Dimensionen Technik & Methoden, geomediale Reflexion, geomediale Kommunikation sowie Räumliche Domäne und Domäne der Politischen Bildung (Citizenship Education) zusammengefasst. Technik & Methoden beinhaltet hierbei die technologiebezogenen Voraussetzungen, die zur Nutzung Web 2.0

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basierter Geomedien zum Zweck des Konsums, der Produktion und der Kommunikation vorhanden sein müssen. Geomediale Reflexion meint zum einen, geomediale Darstellungen als sozial eingebettete Konstruktionen von Wirklichkeit zu erkennen, aber auch, die eigene Mediennutzung zu hinterfragen. Der Bereich geomediale Kommunikation bildet diejenigen Kompetenzen ab, die nötig sind, um eigene Konstruktionen von Raum geomedial zu produzieren und zu kommunizieren und somit an räumlichen Aushandlungsprozessen teilzuhaben, während die Räumliche Domäne das Bewusstsein für verschiedene Raumkonzepte und die generelle Konstruiertheit von Räumlichkeit beinhaltet (ebd.). Neben der räumlichen Domäne ist die Politische Bildung ein wesentlicher Bestandteil der Spatial Citizenship Education. Aus der Vielfalt der möglichen Konzepte wird hierbei ein emanzipatorisches Verständnis von Citizenship gewählt (angelehnt an das oben zitierte Konzept nach Bennett et al., 2009), das sich auf partizipative Kompetenzmodelle der Politischen Bildung stützt (z.B. Weißeno, Detjen, Juchler, Massing & Richter, 2009) und welches zudem Beteiligung und Aushandlung (vgl. Abbildung 1) und damit Citizenship nicht an feste Kategorien wie Nationalstaaten bindet, sondern (demokratischen Regeln folgend) Aushandlungsgemeinschaften stets als fluide Entitäten begreift, wie sie auch das Web 2.0 hervorbringt (Jekel, Gryl & Schulze, 2015b).

Abbildung 1: Grunddimensionen einer Education for Spatial Citizenship nach Gryl & Jekel, 2012 (Jekel et al. 2015b, S. 7)

3. DIE „BRAUNE KARTE“: LAIENKARTOGRAPHIE UND BETEILIGUNG? Vor dem Hintergrund der zunehmenden Menge an verorteter Information, die über mobile Endgeräte zugänglich wird und das Alltagshandeln prägt, scheint die Verbindung von geographischer und Politischer Bildung fundamental. Gerade vielfältige gesellschaftliche Probleme, beispielsweise die gestiegene Zahl rechtsextremer Gewalttaten (BMI, 2014) und die damit einhergehenden konkurrierenden (medialen) (Raum-)Repräsentationen und -konstruktionen in klassischen Medien wie in sozialen Netzwerken, machen es notwendig, den Geographieunterricht um weitere Aspekte der Politischen Bildung zu ergänzen. Im Folgenden soll dies anhand der „braunen Karte“ bearbeitet werden.

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3.1 Die „braune Karte“ als Beispiel tagesaktueller Verwendung von Geomedien Die Zahl der rechtsextrem motivierten Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte lag im Jahr 2014 bei 175, bis Ende August 2015 waren rechtsmotivierte Täter demgegenüber bereits für 340 Angriffe verantwortlich (BMI, 2015)1, sodass die Straftaten gegen Asyleinrichtungen bereits nahezu das doppelte Niveau des gesamten Vorjahres erreichten. Die mit diesem Phänomen korrespondierende gestiegene mediale Präsenz von rechtsmotivierten Delikten und Alltagsrassismus, beispielsweise von Mecheril auf den unterschiedlichen Ebenen der „Normalität des Rassismus“ (2007, S. 4) diskutiert, generiert neue gesellschaftliche Herausforderungen. Diesen sollte im Zuge der Ausbildung eines politisch-demokratischen Bewusstseins von Schüler*innen begegnet werden, wobei Spatial Citizenship einen kritisch-reflexiven Anknüpfungspunkt bieten kann. Die sogenannte „braune Karte“ – mithilfe der frei zugänglichen Plattform Google My Maps im Jahr 2015 erstellt und veröffentlicht – wurde über eine Einbindung auf der Homepage einer rechtsextremen Partei prominent, beinhaltet u.a. Informationen über die Anzahl der in einer Unterkunft untergebrachten Flüchtlinge und stellt über die Verbreitung dieser Informationen eine potentielle Gefährdung für Bewohner*innen der Einrichtungen dar. Nach massiven Protesten sperrte Google schließlich den Zugriff auf diese Karte. Eine Neuauflage mit annähernd identischem Inhalt wurde daraufhin unter dem abgewandelten Tenor „Helft mit! Helft Menschen in Not!“ auf Google Maps online gestellt (Abbildung 2). Hierbei zeigt ein Blick sowohl in die Kartenbeschreibung („Wir werden uns erlauben, Aktualisierungen der Karte ‚Kein Asylantenheim in meiner Nachbarschaft‘ in diese Karte zu übernehmen“), als auch auf die Detailinformationen zu einzelnen Standorten („Asylkaschemme“), dass sich die Intention der Kartenverbreitung nicht verändert hat (ebd.). Durch Zusenden ortsbezogener Daten per E-Mail an die Verfasser*innen ist die Möglichkeit einer Erweiterung der Karteninhalte durch eine gewillte Community weiterhin gegeben. Zusätzlich besteht die Option, die Karte mittels diverser social media Dienste zu teilen. In der Ergänzung zur kontextsensiblen Ausrichtung der Karteninterpretation von Budke und Kuckuck (o. J.) wird in diesem Fall eine Dekonstruktion des Inhalts der „braunen Karte“ mit der Absicht, die Verschleierungstaktik der Ersteller*innen aufzudecken, angestrebt. Spätestens die Neu-Kontextualisierung der Veröffentlichung von Informationen über Flüchtlingsunterkünfte und damit ein Überleben der Karte in der Web 2.0-Kommunikation und die zumindest versuchte 1

Uns ist bewusst, dass die Zahlen des Bundesministeriums des Innern (BMI), die ebenfalls auf Veröffentlichungen des Verfassungsschutzes beruhen, durch unterschiedliche Variablen beeinflusst oder verfälscht sein können. So zeigte sich u.a. in den Untersuchungen und dem Gerichtsverfahren zum sog. „Nationalsozialistischen Untergrund“ die Einflussnahme des Verfassungsschutzes auf rechte Organisationsstrukturen und die damit einhergehende (Nicht-) Verfolgung rechter und rechtsextremer Straftaten bzw. die grundlegende Einordnung von Straftaten als rechts(-extremistisch) (siehe hierzu einen Bericht der FAZ zum Schutz von VLeuten vor Strafverfolgung durch den Verfassungsschutz. FAZ, 2012).

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Instrumentalisierung gutgläubiger Hilfsbereitschaft, die aus dem neuen Titel hervorgeht, verlangt ein reflexives Kartenverständnis. Daher bietet dieses Beispiel einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt für kritische Kartenarbeit mit Bezug zur Politischen Bildung im Rahmen von Spatial Citizenship im Geographieunterricht. Das didaktische Ziel ist es hier auf der einen Seite die Fähigkeit zur Dekonstruktion der „braunen Karte“ im Sinne des Kompetenzbereichs der Räumlichen Orientierung der Bildungsstandards für Geographie (DGfG, 2014) zu fördern. Auf der anderen Seite soll die daraus resultierende Möglichkeit eröffnet werden, Gegenentwürfe über das Web 2.0 zu unterstützen, selbst zu erstellen und/oder zu verbreiten (s. hierzu den Kompetenzbereich H2: „Bereitschaft zu konkretem Handeln in geographisch Relevanten Situationen“, ebd., S. 27).

Abbildung 2: Die „braune Karte“ mit dem Titel „Helft mit! Helft Menschen in Not!“ der Kampagne „Kein Asylantenheim in meiner Nachbarschaft“(Google Maps Screenshot https://www.google.com/maps/d/u/0/viewer?mid=z0RwXmZ9W1FI.k5Q5YrMM3Bf8, 17.08.2015)2

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Wir möchten festhalten, dass eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit den Inhalten der Karte im Unterricht bedeutet, deren Konstruktionsmechanismen in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Sie bedeutet explizit nicht, die Argumentationsstruktur der „braunen Karte“ zu unterstützen oder ihren Inhalt zu verbreiten.

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3.2 Durchführung im Unterricht Als methodischer Anknüpfungspunkt zur Einbettung der „braunen Karte“ im Unterricht bietet sich die geomediale Dekonstruktion nach Harley (1989) an. Zentral ist hierbei die Dekonstruktion des vermeintlichen Aufrufs zur Hilfe in der Karte, der von den Schüler*innen als bestehender Schutz vor einer erneuten Löschung der Karte und somit zur andauernden Verbreitung ortsbezogener Daten von Flüchtlingsunterkünften und als implizierter Gewaltaufruf entlarvt werden soll. Zentrale Intention ist also, das Geomedium unter Einsatz der adäquaten Technik und Methode kritisch zu analysieren und somit die dahinterliegenden Handlungsinteressen und Wirkungsabsichten zu rekonstruieren. Mögliche Aufgabenstellungen zur Dekonstruktion können hierbei lauten: 1. Beschreibe die Karte. Was wird dargestellt? Welchen ersten Eindruck gewinnt der/die Betrachter*in über den Karteninhalt? 2. Analysiere die beabsichtigte Wirkung der Karte. Welche Intention verfolgen die Verfasser*innen mit der Verbreitung der Karte? 3. Beurteile mögliche Auswirkungen einer Verbreitung der Karte. Inwiefern kann sie Denkweisen und Handlungen einzelner Personen und Gruppen beeinflussen? Eine Methode, die der schrittweisen und kooperativen Dekonstruktion der Karte dienen kann, ist die Think-Pair-Share Methode. Zu Beginn der Unterrichtseinheit stellen Schüler*innen eigene Hypothesen zu den einzelnen Aufgabenstellungen auf, die im Anschluss in Partnerarbeit und final im Plenum ausgetauscht und diskutiert werden. In diesem Zusammenhang können neben der Dekonstruktion der Karte und der Reflexivität „über die eigene Konstruktion von Wirklichkeit“ (Jekel et al., 2015a) auch die „mögliche[n] Wirkungen und Konsequenzen des eigenen Einsatzes von Geomedien“ (ebd.) geschult werden. Im Bereich der geomedialen Kommunikation ist es notwendig, die in den vorangegangenen Aufgaben beobachteten Einstellungen der Schüler*innen zu beachten bzw. im Voraus eine Analyse der Lerngruppe vorzunehmen. Je nach ideologischer Vorprägung kann es in einer Gruppe möglich sein, Schüler*Innen eine eigene Karte erstellen zu lassen, die explizit eine entgegengesetzte Intention zur dekonstruierten Karte darstellt, beispielsweise im Themenfeld Flüchtlingshilfe, die lokale Initiativen, beispielsweise gegliedert nach verschiedenen Kategorien der Unterstützung, visualisiert, oder bereits bestehende Counter-Maps (vgl. Abbildung 3) zu erweitern. In anderen Fällen kann es hilfreich sein, über die intensivere Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und den Lebenserfahrungen von Geflüchteten Reflexionsprozesse anzustoßen (s. hierzu bspw. die Ausführungen von Maaßen (1996) zum Subjekt des biographischen Lernens).

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Abbildung 3: Counter Map von Pro Asyl unter dem Titel „Ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge“ (Screenshot Google Maps https://www.google.com/maps/d/viewer?mid= zc6TdvfelKuY.kUvriXoSREXw, 26.08.2015)

Die im Beispiel notwendigerweise auftauchenden Fragen hinsichtlich der normativen wie gesellschaftlichen Einbettung des Ansatzes werden im folgenden Abschnitt vertieft. 4. DISKUSSION Das Beispiel macht deutlich, dass der im Bereich der geographischen Bildung entwickelte Ansatz Spatial Citizenship nicht nur bezüglich des bereits im Namen offensichtlichen Theoriehintergrunds mit dem Citizenship- und dem damit impliziten Beteiligungsbegriff hochgradig politisch ist, sondern auch im Hinblick auf mögliche Anwendungsfelder. Auf den ersten Blick mutet das oben aufgezeigte Beispiel ambivalent an (was für die unterrichtliche Auseinandersetzung definitiv ein Mehrwert ist): Oberflächlich betrachtet kommunizieren die in diesem Kontext genannten Produtzer*innen eigenständig und interessenbewusst mit Geomedien mit dem Ziel der Teilhabe an räumlichen Entscheidungsprozessen, wenden also die technischen sowie kommunikativen Komponenten des Spatial CitizenshipAnsatzes an. Dieser scheinbare Widerspruch kann auch als Metaebene auf den

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Ansatz und Denkaufgabe an die Schüler*innen weitergegeben werden. Bei näherer Betrachtungsweise kann das Label Spatial Citizen im Sinne des Ansatzes jedoch nicht an die Urheber*innen der „braunen Karte“ vergeben werden, was im normativen Hintergrund von Spatial Citizenship beabsichtigt und begründet liegt: Auch wenn die Ausführungen hierzu in der Theorie des Ansatzes bisher eher vage bleiben, lässt sich festhalten, dass trotz aller Offenheit Spatial Citizenship auf der Idee der demokratischen Aushandlung von Interessen bei Anerkennung fundamentaler Menschenrechte basiert (Schulze et al., 2015). Dies bedeutet auch, dass letztere (im Gegensatz zur Sichtweise der Urheber*innen der „braunen Karte“) nicht verhandelbar, sondern das grundlegende Kriterium sind, in dessen unverrückbarem Rahmen die Aushandlung stattfindet. Spatial Citizenship ist demnach bereits explizit als ein Ansatz Politischer Bildung angelegt, was auch der Passus Spatial Citizenship Education (ebd.) mehr als nur andeutet: Normative Setzungen sind der Politischen Bildung notwendigerweise eigen, da diese Bildung eine Sozialisationsinstanz einer spezifischen Gesellschaft ist bzw. auf eine spezifische Gesellschaft abzielt, was mit einem jeweiligen Bildungsbegriff verbunden ist. Zugleich handelt es sich um einen Balanceakt zwischen dem Kontroversitätsprinzip Politischer Bildung, das auch Spatial Citizenship mit der Notwendigkeit der Aushandlung (negotiation) erfasst, und grundlegenden Normen (vgl. Reinhardt, 2014). Die Ausführungen zum normativen Hintergrund fallen allerdings in allen bisherigen Veröffentlichungen zu Spatial Citizenship eher implizit aus. Es ist sinnvoll, Spatial Citizenship im Hinblick auf den Menschenrechtsbezug auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR, 1948) der Vereinten Nationen (UN) als relativ weitreichenden gemeinsamen Nenner zu beziehen; so haben etwa 75% der Staaten dieses, wenn auch nicht rechtswirksame, Dokument ratifiziert (Riedel, 2004). Spezifiziert wird die AEMR in weiteren Deklarationen der UN, etwa im Internationalen Anti-Rassismusabkommen (CERD) (Cremer, 2015), gegen das die Urheber*innen der „braunen Karte“ ebenso höchst offensichtlich verstoßen wie gegen das Diskriminierungsverbot der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR, 1948, Art. 2). Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Universalität der Menschenrechte freilich immer wieder zur Debatte steht, wie etwa die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte“ zeigt, die etwa die Gleichberechtigung von Mann und Frau exkludiert und Menschenrechte unter die Prinzipien der Scharia stellt (OIC, 1990). Letztlich ist Spatial Citizenship damit ein politisches Programm auf der Basis definierter ethisch-moralischer Ideen, in Abgrenzung etwa von Ansätzen wie der Kairoer Erklärung und in Übereinstimmung mit der AEMR. Diese werden noch einmal stärker fokussiert, wenn die Begrifflichkeit der demokratischen Aushandlung herangezogen wird. Vor einem umfangreichen Theoriehintergrund (u.a. Frevel, 2009; Vorländer, 2003) kann Demokratie als Herrschafts- und Lebensform, abgesehen von einer Instrumentalisierung der Begrifflichkeit jenseits aller Charakteristika von Demokratie in totalitären Staaten, durchaus sehr verschieden und mit unterschiedlichen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger*innen ausgestaltet werden, obgleich sie der Kernaspekt Politischer Bildung in vielen Ländern, so auch im deutschsprachigen Raum, ist. Angesichts

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der erwünschten Pluralität demokratischer Politischer Bildung wiederum dürften hier auch mehrere Auffassungen von Demokratie in unterschiedlichen Kontexten (vgl. Politische Bildung im Unterricht, in Parteien, in Gewerkschaften, in Bürger*inneninitiativen etc.) vermittelt werden. Hinzu kommt, dass Spatial Citizenship als Kommunikations- und Beteiligungsszenario auf Web- und damit globaler Ebene nicht einfach bzw. allein an nationale Entscheidungsstrukturen angebunden werden kann, selbst, wenn die Beteiligung auch auf lokale, regionale und nationale Kontexte abzielen sollte. Spatial Citizenship bezieht sich auf eine emanzipatorische Deutung von Beteiligung, in der nicht nur innerhalb gegebener Regelsetzungen agiert wird, sondern diese Regeln auch als gesellschaftlich konstruiert erkannt und hinterfragt werden können (Jekel et al., 2015a). Dies lehnt sich an das emanzipatorische Vermittlungsinteresse nach Vielhaber (2000; vgl. Jekel, 2008) an, der dieses wiederum aus Habermas‘ Ideen zum Erkenntnisinteresse ableitet (1970). Spatial Citizenship sieht in diesem Zusammenhang die Grenze der Aushandelbarkeit wiederum in den allgemeinen Menschenrechten. Dieser emanzipatorische Gedanke wird in dem adressierten Citizenship-Begriff weiterentwickelt: Explizit findet ein Bezug auf Bennett et al. (2009) statt, die mit dem actualized citizen eine Dimension von Citizenship aufgreifen, die in der Befähigung besteht, mündig mit Multiperspektivität umzugehen und eigene Beiträge wirksam in Web-Diskurse einzubringen, entsprechend den Möglichkeiten des Web 2.0. Dieser Begriff einer Citizenship der immerwährenden Offenheit für Aushandlung wird in Spatial Citizenship auch schlüssig durch den sozialgeographischen Hintergrund des Ansatzes bedient: Relationale Raumkonzepte bestehen in der Intentionalität und Verhandelbarkeit von Bedeutungszuweisungen an das Physisch-Materielle, einem Geographie-Machen (Werlen, 1993). Vor diesem Hintergrund sind auch handlungsleitende Regeln im Raum zu verstehen. Damit ist Geographie-Machen politisch, zumal Sozialgeographie folglich und notwendigerweise auf eine politische konstituierte Gesellschaft verweist (Werlen, 2000). Die Gegenstände der Sozialgeographie in der Bildung sind somit immer auch Politische Bildung. Übergreifend ist Politische Bildung und damit Spatial Citizenship immer Bildungszielen verpflichtet, da jede Bildung Mittel von Gesellschaftskonstitution sowie Reproduktion und Neuerung gesellschaftlicher Bedingungen ist. Zugleich ist sie Produkt der Aushandlung gesellschaftlicher wie ökonomischer Interessen (Czejkowska, 2010; Gille, 2013). Auch wenn diese aktuell häufig neoliberalistischen Zielen verpflichtet sind (vgl. Naumann & Gryl, forthcoming) – etwa im Sinne einer education for workforce requirements – ist Spatial Citizenship unter Zitierung von Begriffen wie Mündigkeit und Emanzipation (Jekel et al., 2015a) einem auf die aktuellen technologischen wie gesellschaftlichen Möglichkeiten zugeschnittenen Variante des humanistischen Bildungsbegriffs zuzurechnen (vgl. Liessmann, 2011). Spatial Citizenship kann schlussendlich einen Beitrag liefern, wenn es darum geht, tagesaktuelles Geschehen vor dem Hintergrund der Politischen Bildung verknüpft mit der Dekonstruktion von und Kommunikation mit/über alltäglich präsente geomediale (Re-)Produktionen im Geographieunterricht mit einzubeziehen

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und dabei eine Zielsetzung humanistischer Bildung, d.h. der Ausbildung von mündigen und emanzipierten Bürger*innen, zu verfolgen. LITERATUR AEMR (1948). Resolution der Generalversammlung 217 A (III). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Vereinte Nationen. Verfügbar unter: http://www.un.org/depts/german/ menschenrechte/aemr.pdf [07.01.2016]. Bennett, W.L., Wells, C. & Rank, A. (2009). Young citizens and civic learning: Two paradigms of citizenship in the digital age. Citizenship Studies, 13 (2), 105‒120. Bundesministerium des Innern (BMI) (2014). Verfassungsschutzbericht 2014. Berlin. Bundesministerium des Innern (BMI) (2015). Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte. Drucksache 18/5997: Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Katrin Kunert, Petra Pau, Harald Petzold, Martina Renner, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Frank Tempel, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE. Deutscher Bundestag. Bruns, A. (2008). Blogs, Wikipedia, Second Life, and Beyond: From Production to Produsage. New York: Peter Lang. Budke, A. & Kuckuck, M. (o. J.). Argumentieren mit Karten. In H. Jahnke, A. Schlottmann & M. Dickel (Hrsg.), Räume visualisieren. Geographiedidaktische Forschungen. Münster: Monsenstein und Vannerdat. Cremer, H. (2015). Migration und Menschenrechte in Deutschland - Verpflichtungen, Verletzungen und aktuelle Entwicklungen in Europa. Verfügbar unter: https://heimatkunde.boell.de/ 2008/10/18/migration-und-menschenrechte-deutschland-verpflichtungen-verletzungen-undaktuelle [07.01.2016]. Czejkowska, A. (2010). „Wenn ich groß bin werde ich Humankapital!“. Die Crux von Kompetenz, Performanz & Agency. Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 86 (4), 451–465. Deutsche Geselleschaft für Geographie (DGfG) (2014). Bildungsstandards Geographie für den mittleren Schulabschluss mit Aufgabenbeispielen. Bonn: Selbstverlag DGfG. Frankfurt Allgemeine Zeitung (FAZ) (2012). Verfassungsschutz soll straffällige V-Leute in der rechten Szene geschützt haben. Verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ bka-bericht-verfassungsschutz-soll-straffaellige-v-leute-in-der-rechten-szene-geschuetzthaben-11949418.html [07.01.2016]. Fischer, F. (2014). Everyday Geomedia Use and the Appropriation of Space. In T. Jekel, E. Sanchez, I. Gryl, C. Juneau-Sion & J. Lyon (Hrsg.), Learning and teaching with geomedia (S. 10‒28). Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing. Frevel, B. (2009). Demokratie: Entwicklung, Gestaltung, Problematisierung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Gille, A.S. (2013). Die Ökonomisierung von Bildung und Bildungsprozessen aus dispositivanalytischer Sicht. In J. Carbon Wengler, B. Hoffarth & L. Kumiega (Hrsg.), Verortungen des Dispositiv-Begriffs. Analytische Einsätze zu Raum, Bildung, Politik (S. 73‒89). Wiesbaden: Springer Fachmedien. Gryl, I. & Jekel, T. (2012). Re-centering geoinformation in secondary education: Toward a spatial citizenship approach. Cartographica (The International Journal for Geographic Information and Geovisualization, University of Toronto Press), 47 (1), 18‒28. Habermas, J. (1970). Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Harley, J.B. (1989). Deconstructing the map. Cartographica (The International Journal for Geographic Information and Geovisualization), 24 (2), 1‒20.

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ZUR POLITISCHEN DIMENSION DER FRAGE NACH „GUTEM“ HANDELN IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT Ulrike Ohl, Claudia Resenberger & Thomas Schmitt 1. EINLEITUNG „Jetzt flippen meine Kinder schon aus, wenn sie in unserem Vorratsschrank Lebensmittel finden, die kein Fairtrade-Siegel haben. Das kommt alles aus der Schule, die werden dort regelrecht indoktriniert!“ So die Klagen eines befreundeten Familienvaters. Gerne würden wir den Vorwurf der Indoktrination sofort zurückweisen. Dass Indoktrination und Manipulation in der Schule und damit auch im Geographieunterricht explizit ausgeschlossen werden sollen, formulieren auch die Bildungsstandards im Fach Geographie: „Schüler dürfen im Unterricht nicht manipuliert oder zum Handeln genötigt werden“ (DGfG, 2014, S. 26). Vielmehr sollen die Lernenden zu mündigen Bürgern erzogen werden, die in der Lage sind, sich eigene Meinungen zu bilden und eigene Handlungsentscheidungen (z.B. hinsichtlich ihres Konsumverhaltens) zu treffen. Und wenn, in Anknüpfung an das Beispiel, die im Unterricht gewonnenen Überzeugungen von Kindern und Jugendlichen so ausfallen, dass sie FairtradeProdukte bevorzugen? Ist das dann nicht sogar erfreulich? Denn gerade der Geographieunterricht, so formulieren es die Bildungsstandards hinsichtlich des Kompetenzbereichs „Handlung“, möchte doch die „Fähigkeit und Bereitschaft, auf verschiedenen Handlungsfeldern natur- und sozialraumgerecht handeln zu können“ (ebd., S. 9), fördern. Aber das Fairtrade-Siegel ist wissenschaftlich nicht gänzlich unumstritten, weshalb es auch in den Medien diskutiert wird (vgl. z.B. Hansen, 2014). Kritiker bemängeln etwa, das Siegel werde durch unzureichende Kontrollen und Vorgaben den eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Auch die bürokratische Verwaltung, die hohen Zertifizierungskosten oder die starke Orientierung an westlichen Maßstäben werden teils kritisiert. Bei allen positiven Effekten dürfe nicht übersehen werden, dass gleichzeitig die eigentlichen Ursachen ungerechter Handelsbeziehungen (z.B. Agrarsubventionen, Einfuhrzölle) zugunsten der eigenen (westlichen) Landwirtschaft nicht beseitigt würden. So ist es erstaunlich, dass die Bildungsstandards diesbezüglich sehr eindeutige Handlungsziele formulieren, die auf die Bereitschaft von SchülerInnen abzielen, sich z.B. durch den „Kauf von Fair-Trade- und/oder Ökoprodukten“ (DGfG, 2014, S. 28) für eine nachhaltige Entwicklung einzusetzen. Könnte es also vielleicht doch sein, dass die Anpassung individueller Konsumgewohnheiten und der Kauf von FairtradeProdukten den Kindern des oben zitierten Vaters im Unterricht etwas einseitig als die „richtige“ Lösung vermittelt wurden? Vielleicht auch deshalb, weil die Lehr-

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kraft selbst sehr von Fairtrade-Produkten überzeugt ist? Und, sollte dies der Fall sein, wäre dann doch von einer Art „Manipulation“ oder „Indoktrination“ zu sprechen? Die mit dem Fairtrade-Beispiel im Zusammenhang stehenden Fragen nach einer nachhaltigen Landwirtschaft, gerechten globalen Wirtschaftsbeziehungen und nachhaltigem Konsum, aber auch Themen wie Gentrifizierung, Zuwanderung, Energieversorgung oder Meeresbelastung durch Plastikmüll – all das sind Gegenstände, die aktuell in Politik, Medien und Zivilgesellschaft verhandelt werden und bei denen teilweise unterschiedliche Sichtweisen und erst recht unterschiedliche Problemlösungsansätze existieren. Es sind aber zugleich Themen des Geographieunterrichts. Lehrkräfte und ihre SchülerInnen beschäftigen sich also mit Fragen, die eine politische Dimension haben und zugleich die Frage nach Lösungsansätzen, d.h. nach „gutem“ politischem, gesellschaftlichem und individuellem Handeln, aufwerfen. Wie aber kann ein angemessener Umgang mit der Frage nach „gutem“ Handeln aussehen, ohne SchülerInnen dabei politisch zu manipulieren? Der Beitrag charakterisiert im Folgenden die damit verbundenen Herausforderungen und rückt die Potenziale emanzipatorischer Ansätze in den Blick, welche SchülerInnen auf Basis fachlicher und wertebezogener Abwägungen eigene Handlungsentscheidungen ermöglichen sollen. 2. HERAUSFORDERUNGEN IM UMGANG MIT DER FRAGE NACH „GUTEM“ HANDELN 2.1 Zielklarheit im Umgang mit politisch relevanten Unterrichtsthemen Die Frage nach angemessenem Handeln ist aufgrund der faktischen und ethischen Komplexität zahlreicher politisch relevanter Themen in den meisten Fällen nicht eindeutig und allgemeingültig zu beantworten (vgl. Ohl, 2013a; Mehren, Mehren, Ohl & Resenberger, 2015). Die Vielfalt und Vernetzung relevanter Einflussgrößen, unsicheres Wissen und kontroverse wissenschaftliche Debatten bis hin zu Nicht-Wissen, aber auch widersprüchliche moralische Auffassungen über die angemessene Gewichtung unterschiedlicher Handlungsziele lassen es unmöglich erscheinen, im Unterricht ganz konkrete und eindeutige Handlungsempfehlungen als „richtig“ zu vermitteln. Folgt man dieser Argumentation, kann es nicht Ziel von Unterricht sein, die SchülerInnen zu einem bestimmten Handeln zu erziehen. Vielmehr kommt es darauf an, sie im Sinne einer „ethischen Urteilskompetenz“ (vgl. Meyer & Felzmann, 2011; Ulrich-Riedhammer, 2014) zu eigenen, auf fachlichen und wertebezogenen Abwägungen basierenden Handlungsentscheidungen zu befähigen. Ein solcher emanzipatorischer Ansatz macht ein Unterrichten im Sinne des fast schon historischen Beutelsbacher Konsenses und des dort formulierten Kontroversitätsgebots Politischer Bildung notwendig. Dieses zielt auf die Vermeidung von Manipulation ab und besagt im Kern, dass all das, was in Wissenschaft und Gesellschaft kontrovers diskutiert wird, auch in seiner Kontroversität in den Unterricht zu tragen ist (vgl. Grammes, 2005; Ohl, 2013a; 2013b; zum

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Bildungswert von Kontroversen vgl. Nehrdich, 2011; zu Schritten zur Erschließung kontroverser Problemlagen vgl. Rhode-Jüchtern, 2010, S. 32f.). 2.2 Politische Bildung im Kontext normativer Bildungskonzepte So eindeutig die im vorangegangenen Abschnitt formulierten Zielvorstellungen auch erscheinen mögen – ihre Umsetzung im alltäglichen Unterricht ist eine große Herausforderung. Dies liegt u.a. daran, dass Unterricht sehr wohl auch normative Ziele verfolgt, die z.B. in offiziellen Bildungsdokumenten fixiert sind. Ein Beispiel hierfür sind die bereits erwähnten Bildungsstandards, in denen bestimmte Werte „gesetzt“ werden. Hinsichtlich der Handlungskompetenz von SchülerInnen wird dabei etwa natur- und sozialraumgerechtes oder auch nachhaltiges Handeln angestrebt (s.o.). Als angemessene Handlungsentscheidungen dürften vor diesem Hintergrund dann im engeren Sinne nur solche gelten, die diesen Werten entsprechen. Bedeutet das in der Konsequenz, dass Handlungsentscheidungen von SchülerInnen, die beispielsweise ökonomische Motive in den Vordergrund stellen, weniger akzeptabel sind? Letzteres, die Priorisierung ökonomischer Argumente, können die SchülerInnen im außerschulischen Leben häufig beobachten, wenn nämlich politische Entscheidungen aufgrund vornehmlich wirtschaftlicher Beweggründe getroffen und legitimiert werden. Die für den schulischen Unterricht formulierten und dort priorisierten Werte können also positiv betrachtet eine Art „Korrektiv“ darstellen – denn immerhin leben wir in einer Welt drängender globaler Probleme, die ein, insbesondere auch in ihrer ökologischen und sozialen Dimension, auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Handeln unabdingbar machen. Entsprechende Wertsetzungen im und für den Geographieunterricht können aber auch als einseitig wahrgenommen und wie im eingangs erwähnten Beispiel als eine Form von Manipulation empfunden werden. Der Geographieunterricht weist damit einige Charakteristika der sog. „Educations for…“ (Simonneaux, Tutiaux-Guillon & Legardez, 2012) auf. Gemeint sind normative Bildungsansätze wie z.B. die Friedens- und Gesundheitserziehung oder die für das Fach Geographie bedeutsame Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) (vgl. Budke & Gryl, in diesem Band). Diese sind fächerübergreifend angelegt, wurden zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen eingeführt, geben bestimmten Werten zentrale Bedeutung und zielen explizit auf konkrete Haltungs- und Verhaltensänderungen ab („because the objective is to understand in order to act and to act in order to change oneself, change society, and even to change the world“, Simonneaux et al., 2012, S. 18). Derartige normativ ausgerichtete Bildungsansätze laufen in besonderer Weise Gefahr, SchülerInnen – wenn auch mit besten Absichten – einseitige Sichtweisen zu vermitteln und ihnen zu wenig die Wahl eigener Handlungsentscheidungen zu überlassen. Aber eben nur dann, wenn sie rein „instrumentell“ ausgelegt und angewendet werden. Vare und Scott (2007) nehmen, bezogen auf die BNE, eine in diesem Zusammenhang auch für den Geographieunterricht sehr hilfreiche Unterscheidung vor: Als „ESD 1“ (Education for sustainable development 1) bezeichnen sie Herangehensweisen, bei

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denen in Fällen, in denen unumstritten ist, worin nachhaltiges Handeln besteht (z.B. Müllvermeidung oder Energiesparen), Unterricht durchaus darauf abzielen kann, diese konkreten Verhaltensweisen zu fördern (vgl. ebd., S. 192‒193). Da eine eindeutige Klarheit über gutes Handeln aber nur in seltenen Fällen besteht, kann die „ESD 1“ nur punktuell bedeutsam werden und sollte – so unsere Auffassung – auch in offiziellen Bildungsdokumenten nicht prägend sein. Sie ist lediglich komplementär zur „ESD 2“. Diese wiederum ist emanzipatorisch ausgerichtet und zielt auf die Fähigkeiten ab, kritisch über Expertenmeinungen nachzudenken, Ideen nachhaltiger Entwicklung zu prüfen und Widersprüche nachhaltigen Lebens zu sondieren (vgl. ebd., S. 194). Eine ausschließliche Ausrichtung auf die „ESD 1“ mit einer Fokussierung auf vorab definierte Verhaltensänderungen verhindert elementare Lernerfahrungen im Umgang mit faktisch und ethisch komplexen Themen: […] because our long-term future will depend less on our compliance in being trained to do the ‚right‘ thing now, and more on our capability to analyse, to question alternatives and negotiate our decisions. ESD 2 involves the development of learners‘ abilities to make sound choices in the face of the inherent complexity and uncertainty of the future. (Vare & Scott, 2007, S. 194)

Ein dem emanzipatorischen Ansatz der „ESD 2“ folgendes Arbeiten ist auch im Geographieunterricht bei der Behandlung faktisch und ethisch komplexer Themen zielführend. Es ermöglicht SchülerInnen, im Sinne der ethischen Urteilskompetenz (s.o.) zu individuellen Handlungsentscheidungen zu gelangen, und kann politische Manipulation vermeiden. 2.3 Die Rolle der Lehrkraft im Umgang mit kontroversen Themen Welche Rolle soll die Lehrkraft bei der Behandlung kontroverser Themen einnehmen? Wie kann sie beispielsweise mit ihren persönlichen lebensanschaulichen und politischen Überzeugungen umgehen, wenn sich die Frage nach „gutem“ Handeln stellt? Bereits zwischen den 1910er und frühen 1970er Jahren wurde in der deutschsprachigen Soziologie eine Abfolge von Auseinandersetzungen geführt, die teils als Werturteils-, teils als Positivismusstreit in die Disziplingeschichte eingegangen sind. In diesen Debatten wurde nicht zuletzt die Rolle, welche ethischen Werten und auch politischen Positionen in der Forschung wie in der Hochschullehre zufallen soll, grundlegend und kontrovers diskutiert. Max Weber formulierte sein berühmtes Wertfreiheitspostulat, demzufolge sich die Sozialwissenschaften wertender Stellungnahmen gegenüber ihren Forschungsgegenständen zu enthalten hätten (vgl. Mittelstraß, 1966, S. 666), auch vor dem Hintergrund der Negativfolie der sogenannten Kathedersozialisten, welche nach seinem Verständnis im Hörsaal politische Agitation betrieben (Weber, 1988b, orig.1917, S. 494; Müller, 2007, S. 193‒195). Wertfreiheit als Postulat bedeutet auch für Weber nicht, dass Wissenschaft als soziale Institution frei von Werten sein könne oder solle, denn „was Gegenstand der [wissenschaftlichen] Untersuchung wird […],

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das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen“ (Weber, 1988a, orig. 1904/1922, S. 184). Weber wandte sich im Übrigen keineswegs gegen jegliche, auch fachlich unterlegte politische Stellungnahmen von (Hochschul-)LehrerInnen – solange diese als deutlich getrennt von ihrer Tätigkeit als HochschullehrerInnen erkennbar bleiben (vgl. Müller, 2007, S. 71). Die Kritische Theorie der 1960er und 1970er Jahre wiederum zeigte gegen die Apologeten des Wertfreiheitspostulats, dass eine wertfreie wissenschaftliche Erklärung und Analyse sozialer Sachverhalte nicht möglich ist, sondern in diese – auch und gerade in scheinbar neutral daherkommenden Analysen – immer schon Wertentscheidungen mit eingehen (Beck, 1973, S. 11; vgl. bereits Weber, 1988b, orig. 1917, S. 498). Eine kritische Sozialwissenschaft will Adorno zufolge zwischen den Forderungen nach Wertorientierung und Wertfreiheit dialektisch vermitteln (vgl. Adorno, 1972, S. 75). Explizit auf den schulischen Unterricht bezogen und für das Anliegen dieses Beitrags äußerst gewinnbringend diskutiert Kelly bereits 1986 auf Basis intellektueller, pragmatischer und moralischer Abwägungen sehr ausführlich vier unterschiedliche Perspektiven auf die Lehrerrolle bei der Behandlung kontroverser Themen. Eine als „exclusive neutrality“ bezeichnete Haltung zielt darauf ab, kontrovers diskutierte Themen gänzlich aus dem Unterricht auszuklammern, etwa mit der Begründung, diese in unparteiischer Weise zu behandeln sei sowieso unmöglich; die Schule müsse vielmehr einen neutralen Status wahren. U.a. mit Bezug auf den o.g. Positivismusstreit und mit Blick auf die SchülerInnen, denen hierdurch die Chance entgeht, sich vertiefend mit gesellschaftlich relevanten Fragestellungen zu beschäftigen („to make informed, independent judgments after due consideration of alternatives“, Kelly, 1986, S. 121), verwirft Kelly diese Alternative als nicht zielführend. Als „exclusive partiality“ charakterisiert er eine Rolle, in der die Lehrkraft – bewusst oder unbewusst – eine bestimmte Sichtweise im Unterricht als korrekt und bevorzugend vermittelt (ebd., S. 116). Dies kann geschehen, um die Lernenden vor Verunsicherung zu schützen; weitere Motive können ein Nicht-Erkennen der Kontroversität eines Themas, aber auch die starke Orientierung an eigenen Werteüberzeugungen oder eine Loyalität gegenüber den vermeintlich dominanten und teils als bedroht empfundenen religiösen, sozialen oder politischen Werten der eigenen schulischen Einrichtung bzw. der Gesellschaft sein (genauer ebd., S. 117). Kelly spricht sich auch gegen diese bereits problematisierte Position (s.o.) aus, u.a. weil sie SchülerInnen entmündige: „they cannot act freely as the directive guardians of their own lifes“ (ebd., S. 121). Sowohl “neutral impartiality” als auch „committed impartiality“ zielen als Formen der Unparteilichkeit explizit darauf ab, mit SchülerInnen wichtige Argumente kontroverser Debatten zu diskutieren, um sie zu mündigen Entscheidungen zu befähigen (ebd., S. 121). Bei einer „neutral impartiality“ gibt die Lehrkraft hierbei nicht (oder höchstens widerstrebend auf Rückfrage der SchülerInnen) zu erkennen, welche persönliche Sichtweise sie selbst vertritt, z.B. aufgrund ihres Anspruchs, SchülerInnen nicht zu manipulieren, oder um sich selbst nicht angreifbar zu machen. Kelly spricht dieser Haltung zahlreiche Vorzüge zu, geht aber davon aus, dass hier die Rolle der Lehrerin oder des Lehrers überschätzt wird (er

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ist nur eine Einflussgröße im Lebenskontext Heranwachsender) und dass – u.a. aufgrund unbewusster und nonverbaler Zeichen – die Möglichkeit einer strikten Neutralität ein Mythos und eher eine Quelle von Missverständnissen ist. Zudem ist es ungünstig, von den SchülerInnen begründete Positionierungen zu verlangen, sie ihnen aber selbst zu verweigern (ebd., S. 127). Weiterhin verhindert eine absolute Neutralität der Lehrkraft die Entwicklungschance der SchülerInnen, ihre eigenen Perspektiven mit denen eines verantwortungsvollen Erwachsenen zu vergleichen (ebd., S. 127). Kelly spricht sich deshalb für eine Haltung „paradoxically termed committed impartiality“ (ebd., S. 130) aus, bei der ebenfalls die Auseinandersetzung mit Kontroversen prägend ist („impartiality“), die Lehrkraft aber als Rollenmodell durch die Demonstration eines offenen Umgangs mit eigenen (moralisch vertretbaren) Positionierungen („committed“) die Entwicklung der Lernenden fördern kann: At the level of classroom verbal behavior, students need to observe and experience teachers who engage in critical discourse and respond with openness and conviction to dissent and needed refinement of their positions. (ebd., S. 128)

LehrerInnen mit einer solchen Haltung sehen die eigene Authentizität als Chance zur Politischen Bildung an: „[…] giving voice to themselves and permitting fair hearing to youth, these teachers, in theory, both embody and help empower democratic authorities” (ebd. S. 133). Die Verantwortung über die Art der Initialisierung eigener Positionierungen (z.B. angestoßen durch die SchülerInnen oder die Lehrkraft selbst), deren Zeitpunkt im Unterrichtsverlauf und die Art des Ausdrucks (eher zurückhaltend oder eher passioniert) überlässt Kelly der verantwortungsvoll handelnden Lehrkraft (vgl. ebd., S. 130). Das Kontroversitätsgebot muss dabei stets aufrechterhalten werden. Wir schließen uns Kellys Argumentation grundsätzlich an und sind uns bewusst darüber, wie anspruchsvoll dieser Ansatz für die Lehrkraft ist. Verantwortungsvolles Handeln bedeutet hier nämlich auch zu verhindern, dass die Argumente der Lehrkraft in den Abwägungen der Lernenden von vornherein einen zu stark herausgehobenen impliziten oder expliziten Bezugspunkt bilden. Die gemeinsame Reflexion der im Unterricht kontrovers geführten Debatten auf der Metaebene sollte deshalb integraler Bestandteil des Ansatzes sein. Weiterhin kommt es darauf an, den SchülerInnen glaubhaft zu verdeutlichen, dass die Lehrkraft bei der Einschätzung von Unterrichtsbeiträgen nicht die Meinung der SchülerInnen bewertet, sondern die Qualität ihrer Argumentation. Letztere wiederum kann dabei selbstverständlich auch deutlich von der der Lehrkraft abweichen. 2.4 Verantwortungszuschreibungen Ein angemessener Umgang mit der Frage nach „gutem“ Handeln bedeutet immer auch die Klärung von Verantwortlichkeiten. Diese beinhaltet das Bewusstmachen der Chancen, aber auch der Grenzen eigener Einflussnahme (z.B. durch ein bestimmtes Konsumverhalten). Denn Unterricht muss die Gefahr einer „Instrumen-

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talisierung der Bildung als Ersatzhandeln für eigentlich politisch zu lösende Probleme“ (Herget, 2008, S. 9) ausschließen. Zwar zeugen normative Ansätze wie die BNE (s.o.) davon, dass eine gesamtgesellschaftliche Bewusstseinsveränderung im Sinne des „alltäglichen Geographiemachens“ mittlerweile als bedeutsam erkannt wurde. Doch eine teils in der öffentlichen Diskussion zu beobachtende einseitige „Verschiebung der Erwartungen, weg von der politischen Ebene hin zum privaten Handeln“ (Grunwald, 2010, S. 178) ist problematisch. Im Unterricht gilt es, einer reinen „Privatisierung der Nachhaltigkeit“ (ebd.) entgegenzuwirken, denn die Verlagerung der Verantwortung auf den Einzelnen ist eine Überforderung und kann für die SchülerInnen eine Quelle von Ohnmachtserfahrungen sein. 3. FAZIT Es bleibt zu hoffen, dass die Kinder des eingangs erwähnten Vaters nicht indoktriniert wurden, dass Sie im Unterricht vielmehr die Chance hatten, sich mit fairem Handel konstruktiv-kritisch auseinanderzusetzen. Dies wäre der Fall, wenn die um das Fairtrade-Siegel bestehende Kontroverse sichtbar gemacht wurde, wenn die unterrichtliche Diskussion auf einer sehr guten fachlichen Grundlage durchgeführt wurde (z.B. Wissen über Anbaubedingungen in der Landwirtschaft, globale Handelsbeziehungen, Rahmenbedingungen zur Vergabe des Siegels) und auch wertebezogene Abwägungen integrierte, sodass die SchülerInnen zu eigenen begründeten Urteilen und Handlungsentscheidungen gelangen konnten. Die Lehrkraft hätte dann keinerlei Ambitionen verfolgt, die Klasse zu einem bestimmten Handeln zu erziehen. Stattdessen hätte sie den SchülerInnen als offener und unterstützender Diskutant zur Verfügung gestanden und ihnen dabei auch die Gelegenheit gegeben, sich an den Auffassungen der Lehrerin oder des Lehrers „zu reiben“. Die Debatte hätte sie mit den SchülerInnen auf der Metaebene reflektiert und unterschiedliche Wertmaßstäbe sichtbar gemacht. Im besten Falle hätte der Unterricht durch diesen emanzipatorischen Zugang die SchülerInnen darin gestärkt, eigene Sichtweisen, aber auch Unsicherheiten, zu formulieren, und kontroverse Diskussionen konstruktiv zu führen. Dies wäre ein äußerst gewinnbringender Beitrag zu einer geographischen und Politischen Bildung, die aktiv auf die Befähigung zu gesellschaftlicher Partizipation abzielt. LITERATUR Adorno, T. W. (1972, orig.1969). Einleitung. In T. W. Adorno, R. Dahrendorf, H. Pilot, H. Albert, J. Habermas & K. R. Popper (Hrsg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (S. 7‒79). Neuwied: Luchterhand. Beck, U. (1973). Objektivität und Normativität. Die Theorie-Praxis-Debatte in der modernen deutschen und amerikanischen Soziologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. DGfG – Deutsche Gesellschaft für Geographie (2014). Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss. Bonn: Selbstverlag DGfG.

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Grammes, T. (2005). Kontroversität. In W. Sander (Hrsg.), Handbuch politische Bildung (S. 126‒ 145). Schwalbach/Taunus: Wochenschau Verlag. Grunwald, A. (2010). Wider die Privatisierung der Nachhaltigkeit. Warum ökologisch korrekter Konsum die Umwelt nicht retten kann. GAIA, 19 (3), 178‒182. Hansen, A. (2014). Wenn Kaffee bitter schmeckt. Verfügbar unter: http://www.zeit.de/wirtschaft/ 2014-08/fairetrade-kaffee [20.11.2015]. Herget, M. (2008). Zukunftsfähiger Unterricht zwischen Komplexität und klaren Strukturen. Untersuchungen von drei Unterrichtsreihen des BLK-Modellprogramms „21“. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller. Kelly, T. E. (1986). Discussing Controversial Issues: Four Perspectives on the Teacher's Role. Theory & Research in Social Education, 14 (2), 113‒138. Mehren, M., Mehren, R., Ohl, U. & Resenberger, C. (2015). Die doppelte Komplexität geographischer Themen – eine lohnenswerte Herausforderung für Schüler und Lehrer. Geographie aktuell und Schule, 37 (216), 4‒11. Meyer, C. & Felzmann, D. (2011). Was zeichnet ein gelungenes ethisches Urteil aus? Ethische Urteilskompetenz im Geographieunterricht unter der Lupe. In C. Meyer, R. Henrÿ & G. Stöber (Hrsg.), Geographische Bildung. Kompetenzen in didaktischer Forschung und Schulpraxis (S. 130‒146). Braunschweig: Westermann. Mittelstraß, J. (Hrsg.). (1996). Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band 4: Sp-Z. Stuttgart, Weimar: Metzler. Müller, H.-P. (2007). Max Weber. Eine Einführung in sein Werk. Köln: Böhlau. Nehrdich, T. (2011). Kontroversität. Neue Herausforderungen für eine aktuelle Geographiedidaktik. GW-Unterricht 124, 15‒25. Ohl, U. (2013a). Komplexität und Kontroversität. Herausforderungen des Geographieunterrichts mit hohem Bildungswert. Praxis Geographie, 43 (3), 4‒8. Ohl, U. (2013b). Kontroversitätsprinzip. In D. Böhn & G. Obermaier (Hrsg.), Wörterbuch der Geographiedidaktik (S. 163‒164). Braunschweig: Westermann.Rhode-Jüchtern, T. (2010). Wissen – Nichtwissen – Nicht-weiter-Wissen? Sieben Versuche zu einem angestrengten Begriff. Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, 1 (1), 11–41. Simonneaux, J., Tutiaux-Guillon, N. & Legardez, A. (2012). Educations For … and Social Sciences, Research and Perspectives in the French-Speaking World. Journal of Social Science Education, 11 (4), 16‒29. Ulrich-Riedhammer, E. M. (2014). Ethisches Urteilen in einer globalisierten Welt – Theoretische Klärung und didaktische Anregungen. Geographie und Schule, 36 (208), 8–14. Vare, P. & Scott, W. (2007). Learning for a Change: exploring the relationship between education and sustainable development. Journal of Education for Sustainable Development, 1 (2), 191‒ 198. Weber, M. (1988a, orig. 1904/1922). Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (S. 146‒214). Tübingen: J. C. B. Mohr. Weber, M. (1988b, orig. 1917/1922). Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (S. 489‒ 540). Tübingen: J. C. B. Mohr.

ENTPOLITISIERTE ENTWICKLUNGSLÄNDER? Gedanken zur Behandlung von Armutsursachen im Geographieunterricht Leif O. Mönter & Sabine Lippert Etwa eine Milliarde Menschen weltweit lebt in Armut, die meisten davon in Entwicklungsländern (vgl. The World Bank, 2013, S. 6). Parallel dazu wächst der Reichtum auf der Welt. Nach Oxfam International (2016, S. 2) besitzen die 62 reichsten Menschen der Erde genauso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen (ca. 3,6 Milliarden Menschen). Laut Weltagrarbericht reicht die globale Lebensmittelproduktion aus, um 12 Milliarden Menschen zu ernähren (vgl. Zukunftsstiftung Landwirtschaft, 2013, S. 4). Technisch stünde dem Transport von Lebensmitteln nichts im Wege. Zugleich sterben jährlich 18 Millionen Menschen durch Hunger und Unterernährung (Ziegler, 2013, S. 28). Dass es weltweit „Hunger im Überfluss“ gibt, ist insofern weder naturgegeben noch Schicksal, sondern politisch bzw. ökonomisch zu erklären. Wenn sich der geographische Unterricht mit Entwicklungsländern und Entwicklungsdisparitäten beschäftigt, bewegt er sich notwendig auf dem Terrain der Politischen Bildung. Es stellt sich die Frage, wie Disparitäten erklärt werden – und inwiefern politische Gesichtspunkte eine Berücksichtigung erfahren. Im Folgenden soll anhand einiger Lernmaterialien auf ausgewählte Aspekte eingegangen werden, die sich als problematisch darstellen können. Dabei handelt es sich um 1. Implikationen des Begriffs „Entwicklungsland“ sowie 2. (latent) geodeterministische, 3. demografische oder 4. schicksalhafte Erklärungsansätze für Entwicklungsdisparitäten. 1. IMPLIKATIONEN DES BEGRIFFS „ENTWICKLUNGSLAND“ Einen ersten Problembereich stellt der Begriff „Entwicklungsland“ dar, der (nach wie vor) in geographischen Unterrichtsmaterialien dominiert (vgl. etwa Scholz, 2012; Englert, Meier, Morgeneyer & Waldeck, 2012). In mehrfacher Hinsicht erweist sich diese Annahme als problematisch bis tendenziös: Erstens handelt es sich um einen Euphemismus. Die meisten als „Entwicklungsland“ gekennzeichneten Staaten verharren trotz Marktöffnung, Freihandel, strategischer Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe seit Jahrzehnten in diesem Status. Eine Entwicklung hin zu Wohlstand und wirtschaftlicher Stärke hat nur bedingt stattgefunden. Insofern weist der Begriff eine schönfärberische Prägung auf.

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Eines der wenigen Länder, die de facto den Übergang von einem Entwicklungsland in ein Industrieland vollzogen haben, stellt der Sonderfall China dar. Und an diesem Sonderfall lässt sich zweitens auch festhalten, dass ein solcher Statuswechsel nur sehr bedingt von den bereits etablierten Industrieländern bzw. globalen politischen Akteuren begrüßt wird. Die gewachsene ökonomische Bedeutung Chinas auf dem Weltmarkt, der globale finanzpolitische Einfluss, die politisch-ökonomischen Betätigungen etwa in Afrika (z.T. unter dem Titel der Entwicklungshilfe) oder der Ausbau militärischer Strukturen im Pazifikraum werden überwiegend kritisch, zumindest ambivalent betrachtet (vgl. etwa Richter & Gebauer, 2010). Dem Umstand, dass es sich weitgehend um Maßnahmen handelt, wie sie bei etablierten, politisch-ökonomisch erfolgreichen Nationen seit jeher auf der Agenda stehen, im Falle China die Beurteilung jedoch gänzlich anders ausfällt, ist zu entnehmen, dass ein „Aufstieg“ von Entwicklungs- und Schwellenländern gar nicht unbedingt erwünscht erscheint. Drittens suggeriert der Begriff Entwicklungsländer, dass alle diese Länder zu Industrieländern aufsteigen könnten, ihre Situation also insofern nicht in einem Zusammenhang mit den „Erfolgen“ anderer Staaten stehen würde. Diese Vorstellung erscheint angesichts eines Weltmarktes, auf dem (fast) alle Staaten als Standorte um die Anlage von Kapital konkurrieren, äußerst fragwürdig. Jedwede Konkurrenz produziert aber ihrem Begriff nach Gewinner und Verlierer. Im Gegensatz etwa zu Konkurrenz in Sport oder Spiel, bei der nach jeder Runde die Chancen wieder gleich verteilt sind, entscheiden in der Standortkonkurrenz die Resultate wesentlich über die zukünftigen Chancen. Sofern es gelingt, Kapital am eigenen Standort zu attrahieren (und eben nicht bei Konkurrenten), partizipiert der Staat an den Erträgen, insbesondere in Form von Steuern. Diese Mittel lassen sich wiederum zur Verbesserung der Standortbedingungen nutzen, die für Investoren profitabel sind, etwa zum Ausbau der Infrastruktur oder der Bereitstellung gebildeter Arbeitskräfte. Insofern sind die Erfolge auf der einen und die Misserfolge auf der anderen Seite nicht getrennt voneinander zu betrachten.1 2. LATENT GEODETERMINISTISCHE URSACHENDARSTELLUNGEN Werden in geographischen Unterrichtsmaterialien „natürliche Gegebenheiten“ als Ursache von Entwicklungsdefiziten genannt, liegt darin die Gefahr einer geodeterministischen Betrachtung. Bei einer solchen Betrachtung wird ein politischökonomisches Phänomen wie die Existenz von Entwicklungsländern aus den naturgegebenen Grundlagen erklärt. Formen eines strikten Geodeterminismus, wie

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Dies ist nicht als Plädoyer zu verstehen, den Begriff bloß durch einen anderen zu ersetzen. Denn zum einen sind auch bei anderen Begriffen (wie „Dritte Welt“ oder „Globaler Süden“) ebenso gewisse Implikationen enthalten, zum anderen sollte eher auf eine kritische Reflexion der gängigen Begriffe und ihrer Bedeutungszuschreibungen abgezielt werden, anstatt ihnen aus dem Weg zu gehen.

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er in den ersten Zitaten enthalten ist und mit dem zum Ausdruck gebracht wird, dass das menschliche Verhalten durch physische, naturgegebene Bedingungen kausal vorbestimmt sei bzw. Kulturen und Gesellschaften Ausdrucksformen natürlicher Bedingungen seien (vgl. Werlen, 2008, S. 95), finden sich in aktuellen Materialien für den Unterricht nicht. Dennoch besteht die Gefahr von Ansätzen eines „diffusen“ oder „latenten“ Geodeterminismus, welche nicht explizit eine (teleologische) Kausalität zwischen physischen Bedingungen und menschlichem Verhalten behaupten, implizit aber derlei Vorstellungen befördern oder perpetuieren, indem ein zumeist unterstellter und nicht konkretisierter Wirkungszusammenhang immanent transportiert wird (vgl. Hard, 1982, S. 104ff.). In letzter Instanz können so bestehende Unterschiede, Benachteiligungen oder Antagonismen mit Verweis auf deren natürlich bedingten Ursprung legitimiert werden. Im Kontext Entwicklungsländer können sich solche Ansätze etwa in Bezug auf Rohstoffe oder klimatische Bedingungen finden. Bei der „Ursachendiskussion“ von Entwicklungsdefiziten findet sich z.B. in den „Informationen zur politischen Bildung“, einer schulrelevanten Veröffentlichung der Bundeszentrale für politische Bildung, unter „natürliche Gegebenheiten“ folgendes Zitat: Auch das Klima ist ein entwicklungspolitischer Einflussfaktor, indem es zum Beispiel die landwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten mitbestimmt. […] Es kann sich entwicklungsfördernd ‒ zum Beispiel in gemäßigten Breiten ‒ oder entwicklungshemmend ‒ zum Beispiel in den Tropen ‒ auswirken. Dennoch zeigt sich im systematischen Vergleich, dass ähnliche klimatische Bedingungen keineswegs automatisch den gleichen Entwicklungsstand zur Folge haben. (Andersen, 2005, S. 18)

Wohlgemerkt wird nicht behauptet, das Klima sei für Entwicklungsdifferenzen verantwortlich. Der zweite Satz jedoch wäre bei einer Umstellung inhaltlich ebenso zutreffend: dass sich das Klima in den Tropen entwicklungsfördernd und in den gemäßigten Breiten (z.B. im Winter) entwicklungshemmend auswirken kann. Ein treffender Beleg dafür, dass die klimatischen Verhältnisse nicht etwa für Hunger verantwortlich erklärt werden können, liefert etwa die Produktion von cash crops, die unmittelbar neben dem Hunger stattfindet: Zuckerschoten aus Kenia, Kaffee aus Madagaskar oder Mangos aus Haiti. Insofern kann die Abwesenheit von verfügbaren (weil bezahlbaren) Nahrungsmitteln nicht mit dem Klima erklärt werden, was zumindest immanent geschieht, wenn „ähnliche klimatische Bedingungen keineswegs automatisch den gleichen Entwicklungsstand zur Folge haben.“ Ein ähnliches Vorgehen findet sich auch in Materialien für den Geographieunterricht, indem etwa Materialien zu Entwicklungsländern mit dem „Naturräumliche Potenzial der Tropen und Subtropen“ in das Thema einsteigen (vgl. dazu Mönter, 2013, S. 282f.). Häufig werden darüber hinaus Naturereignisse bzw. -risiken in Verbindung mit Armut und Hunger genannt. Ein beliebig ausgewähltes Beispiel: Burkina Faso ist eines der ärmsten Länder der Welt. […] Zwei Drittel des Volkes leben in Armut. Wegen stark schwankender Niederschläge traten schon häufig Dürren und Hungersnöte im Land auf. (Bünstorf, 2007, S. 165)

Eine Folge lässt sich durchaus konstatieren, jedoch ist eine Dürre keine Ursache für eine Hungersnot. Denn zum einen ist durch Technisierung die unmittelbare

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Abhängigkeit von Naturereignissen deutlich relativiert worden – etwa durch moderne Bewässerungssysteme oder Treibhauskulturen. Dass die kleinbäuerlichen Erzeuger von dem Zugriff auf die dafür nötigen Mittel getrennt sind und mit Problemen zu kämpfen haben, die in anderen Regionen der Welt oder bei den benachbarten cash crop-Produzenten kaum mehr eine Rolle spielen, verdankt sich ihrem Geldmangel. Zum anderen kommt es aber auch in anderen Regionen, z.B. den USA, nach Niederschlagsschwankungen zu Ernteeinbußen oder -ausfällen. Von Hungersnöten dort hört man jedoch nichts. Sofern es zu Ausfällen kommt, werden Lebensmittel aus anderen Weltgegenden importiert. Dies wäre technisch auch in Burkina Faso möglich; Transportkapazitäten und Nahrungsmittel stehen global jedenfalls in ausreichendem Maße zur Verfügung. Eine Versorgung findet jedoch trotz dringender Nachfrage und vorhandenem Angebot nicht statt: Entgegen landläufiger Vorstellungen kommt nur diejenige Nachfrage zum Zuge, die das Adjektiv „zahlungsfähig“ mit sich trägt. 3. DEMOGRAFISCHE URSACHENDARSTELLUNGEN Des Weiteren finden sich oft demographische Erklärungsansätze für Armutsursachen, die einen Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Verarmung herstellen. In Schulbüchern werden z.B. naturräumliche und demographische Kategorien miteinander kombiniert (vgl. Geiger, Klein & Paul, 2009, S. 37), wonach Dürrekatastrophen in Verbund mit hohem Bevölkerungswachstum unweigerlich Hunger und Elend hervorbringen würden. An Beispielen wie Äthiopien (vgl. Geiger & Paul, 2009, S. 84f.) oder Mali (vgl. Braun, Busching, Dieffenbacher, Dietz, Platten & Werner, 2010, S. 142) wird dargelegt, hohes Bevölkerungswachstum führe dazu, dass nicht mehr alle Menschen dort ernährt werden könnten und somit eine Ursache für das Entstehen von Hungersnöten sei. Etwas resigniert wird dazu festgestellt: „So sieht das Leben in vielen Ländern Afrikas aus“ (ebd., S. 162). Hier könnte ein einfacher Schluss gezogen werden: Für zu viele Menschen gibt es in einem Gebiet schlicht zu wenig Nahrung – manchmal aufgrund von Ernteausfällen, manchmal weil die Tragfähigkeit eines Gebiets erschöpft sei. In Malthus’scher Manier werden so Hungersnöte und Nahrungsmittelknappheit auf zu hohe Bevölkerungszahlen zurückgeführt. Diese Rechnung geht jedoch nicht auf, wo doch weltweit mehr als genug Nahrungsmittel produziert werden, um alle Menschen zu ernähren (s.o.). Doch warum wird dann der Begriff der „Überbevölkerung“ häufig in einem Atemzug mit dem Bevölkerungswachstum von Entwicklungsländern erwähnt? Die vermeintliche Überbevölkerung in Entwicklungs- und Schwellenländern relativiert sich, wenn man Länder und Kontinente im direkten Flächenvergleich betrachtet. Die Bevölkerungsdichte der Niederlande ist höher als die Indiens, die Deutschlands ist höher als die Chinas – und die Bevölkerungsdichte Europas ist fast genau doppelt so hoch wie die des afrikanischen Kontinents (vgl. DSW, 2015, S. 6ff.). Warum also sollen China, Indien und Afrika überbevölkert sein, wo doch in vielen Industrieländern, relativ zur Fläche, weitaus mehr Menschen leben?

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Geht man dieser Frage nach, greifen Erklärungen, die sich auf Raum- oder Naturpotenziale stützen, zu kurz. Das „zu viel“ bezieht sich maßgeblich auf das existente oder eben nicht vorhandene Benutzungsinteresse „der Wirtschaft“. Arme Menschen in China, Indien und Afrika verfügen meist nicht über die Produktionsmittel, ihre eigene Existenz zu sichern – und sind auf Gelderwerb angewiesen. Wenn jedoch die Wirtschaft in ihrem Streben nach Gewinn keine Verwendung für sie hat, fehlt es ihnen an einer Lebensgrundlage. Insofern sind sie auch nicht staatsnützlich (z.B. als Steuerzahler), weshalb es auf politischer Ebene keinen positiven Bezug auf solche Menschen gibt: Oftmals werden sie eher als Betreuungsobjekte oder als Gefährdung des sozialen Friedens wahrgenommen; oder, sofern sie beispielsweise nach Europa emigrieren, als Bedrohung des Wohlstands Anderer (wie man aktuell in der Debatte um sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ verfolgen kann). Insofern werden Menschen tatsächlich zu Überbevölkerung „gemacht“, da sie unter ökonomischen Maßstäben und damit auch unter politischen Gesichtspunkten „zu viel“ sind. Sie werden als wirtschaftlich unbrauchbare und daher „überschüssige“ Menschen deklariert. Als gesellschaftlich konstruierter Begriff veranschaulicht er zudem das politische Desinteresse, an dieser sozialen Problematik etwas zu ändern. Zugleich wird umgekehrt nahegelegt, dass die Menschen selbst für diesen Missstand verantwortlich sind. Hohe Kinderzahlen sind jedoch keine Ursache, sondern ein Symptom der Armut. 4. SCHICKSALHAFTE URSACHENDARSTELLUNGEN Armut und deren Folgen werden oftmals anhand verschiedener Individuen veranschaulicht, deren Einzelschicksale empathisch beschrieben werden. Dies hat meist das Ziel, die gesellschaftliche Wirklichkeit ärmerer Länder möglichst alltagsnah Schülerinnen und Schülern nahe zu bringen und sie mit der eigenen Lebenswirklichkeit zu vergleichen. Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte von Eden und Julia, die beide den typischen Lebensweg einer jungen Frau aus Äthiopien bzw. Deutschland verkörpern – wobei ihre Ausbildung, ihr Familienleben oder auch ihre sexuelle Aufklärung beschrieben werden (vgl. Wilhelmi, 2010, S. 114). Solche Geschichten mit Identifikationsfiguren können als Einführung in das Themenfeld im Geographieunterricht verwendet werden. Zum einen erscheint es jedoch als problematisch, wenn das Individuum nicht als handelnde Person vorgestellt wird. Zum anderen wird häufig nicht gefragt, warum Unterschiede im Entwicklungsstand bestehen und worin die Ursachen von Armut, Krankheit und Hunger liegen. Stattdessen wird im vorliegenden Beispiel im Anschluss lediglich gefragt, was man selbst gegen solche Missstände tun könne. Ohne kritische Reflexion können Schulbücher so gegebenenfalls dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler einfach davon ausgehen, dass Entwicklungsprobleme nun einmal zu bestimmten Regionen dazugehören. Diese „Schicksalhaftigkeit“ ist somit dadurch geprägt, dass die prekäre Wirklichkeit mancher Länder als normal empfunden und deren Ursache nicht hinterfragt wird.

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Wenn es um die Ursachen dieser Zustände geht, findet sich in unterrichtsrelevanten Materialien (vgl. Andersen, 2005, S. 18) und in geographischen Schulbüchern (z.B. Braun et al., 2010, S. 169; Englert et al., 2012, S. 32) oft der sogenannte „Teufelskreis der Armut“ (vgl. Abbildung 1). Anhand verschiedener Kreisläufe – etwa zu Gesundheit, Bildung, Investitionen etc. – wird bebildert, dass sich Armut aus sich selbst heraus reproduziert. Im Gegensatz zu Industrieländern, wo diese Kreisläufe für die Vermehrung von Reichtum und Wohlstand sorgen sollen, versagen sie hier deren Funktion, weshalb es so schwierig sei, dass aus einem armen Entwicklungsland etwas anderes werden könne als ein armes Entwicklungsland.

Abbildung 1: Teufelskreise der Armut (Andersen, 2005, S. 18)2

Fraglich dabei erscheinen die skizzierten Zusammenhänge erstens in dem entworfenen Gegenbild einer „funktionierenden“ politischen Ökonomie: Den meisten besorgten Gedanken um den Standort Deutschland etwa ist zu entnehmen, dass gerade Lohnverzicht das probate Mittel zur Steigerung der Rentabilität ist. Zudem erleben genügend Absolventen mit „sehr guter Ausbildung“ und „hoher Leistungsfähigkeit“, dass sich damit nur Geld verdienen lässt, wenn von dritter Seite ein Benutzungsinteresse an diesen Qualifikationen besteht. Und auch ein „hohes Einkommen“ auf Seiten von Unternehmern führt nur dann zu „hohen Investitionen“, wenn diese erträgliche Profite versprechen. 2

Die Abbildung wurde ohne Änderung des Inhalts aus technischen Gründen neu erstellt, daher optische Unterschiede zum Original.

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Erweisen sich die dargestellten Zusammenhänge also bereits für „erfolgreiche Staaten“ als zweifelhaft, bleibt zweitens in Bezug auf Entwicklungsländer maßgeblich festzustellen, dass sie arm sind, weil sie nicht reich sind. Es wird eine Zwangsläufigkeit dieses Zustands vermeintlich kausal, ex negativo durch die Abwesenheit von Elementen und Funktionsweisen „erklärt“. Fragen danach, welche Interessen und Kalkulationen in diesen Staaten existieren und wie sie verfolgt werden, kommen so erst gar nicht auf. Denn stellt man drittens die Frage nach der Verantwortlichkeit für den Zustand von Entwicklungsländern, so ist zunächst festzuhalten, dass auf äußere politische und ökonomische Faktoren verzichtet wird. Aber auch immanent in diesem zirkulären System taucht nur das Subjekt „Teufel“ auf, also der Verweis auf einen subjektlosen Automatismus. Als Resultat lässt sich festhalten, dass – gewissermaßen schicksalhaft – ein Entwicklungsland eine einzige schlechte Bedingung für seine Entwicklung ist. 5. FAZIT Auf der ganzen Welt sind Menschen von verfügbarem Wohlstand ausgeschlossen, auch in Industrieländern. Wenn nach den Ursachen von Armut gefragt wird, sind jedoch zumeist die Ursachen extremer Armut (wie sie hauptsächlich in Entwicklungsländern zu finden sind) gemeint. Hier erscheint nur das Übermaß an Armut als kritikwürdiger, seit Jahrzehnten bestehender „Skandal“ – als eine unterstellte Abweichung des „Normalen“. Die Vorstellung eines normalen, sprich akzeptablen Grads an Elend und Unterdrückung lässt sich jedoch nicht rechtfertigen. Wer nur den Grad des Notleidens hinterfragt, misst aktuelle wirtschaftliche und politische Verhältnisse mit zweierlei Maß – und unterscheidet zwischen einem „funktionierenden“ Kapitalismus in Industrieländern und einem „defizitären“ in Entwicklungsländern. Dass Armut und Reichtum zwischen Nord und Süd ebenso wie innerhalb der jeweiligen Gesellschaft durchaus in einem funktionellen Zusammenhang stehen, bleibt häufig unberücksichtigt. Im Sinne einer kritisch-emanzipatorischen Bildung gilt es gerade deshalb, verstärkt die bestehenden Zusammenhänge und Konflikte aufzugreifen und Widersprüche und Irrationalitäten gängiger Ursachenzuschreibungen kritisch zu hinterfragen (vgl. Schmiederer, 1977, S. 27ff.). Es bedarf einer kritischen Analyse von herrschenden Strukturen, Interessen und Konflikten – den „Mut zur Brutalität des Realismus“ (Geiger, 1930, S. 335) –, um den Blick von den Symptomen auf die Ursachen von Disparitäten zu richten. Obwohl sich in der schulgeographischen Auseinandersetzung mit den Ursachen von Entwicklungsdifferenzen durchaus auch positive Erklärungsansätze finden lassen, wurde hier bewusst der Schwerpunkt auf fragwürdige Ursachenzuschreibungen gelegt, welche – illustriert anhand exemplarisch ausgewählter und hermeneutisch interpretierter Unterrichtsmaterialien – die Tendenzen der Entpolitisierung belegen. Zugunsten naturräumlicher, demographischer, subjektloser oder schicksalhafter Darstellungen geraten die politischen Akteure und Strukturen bei

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Leif O. Mönter & Sabine Lippert

der Ursachensuche aus dem Blick. Armut und Hunger aber sind kein Schicksal. Hunger ist, auch wenn er teilweise den geographischen Bedingungen angelastet werden kann, in erster Linie ein politisches Phänomen […]. Für die Fortdauer seiner Existenz ist nicht die Bodenbeschaffenheit verantwortlich, sondern ganz allein das Handeln der Menschen. (Ziegler, 2013, S. 109)

Bleibt also die Frage nach dem Handeln. Wenn eine „raumbezogene Handlungskompetenz“ (DGfG, 2014, S. 5f.) der Schülerinnen und Schüler gefragt ist, müssen sie nicht nur politisch-ökonomische Strukturen, sondern auch die eigenen Möglichkeiten und Grenzen des Handelns einschätzen können. Armut lässt sich ursächlich nicht allein durch „ethischen Konsum“ andernorts bekämpfen. Angesicht der Problematik und der als unveränderbar empfundenen Grenzen im eigenen Wirkungsraum zeigen sich häufig Resignation und Ohnmacht. Ein Bewusstmachen dieser Grenzen kann jedoch auch etwas anderes bewirken: Man kann sie „zur Diskussion stellen – und damit die Möglichkeit ihrer Überwindung ins Auge fassen“ (Schmiederer, 1977, S. 50). Häufig zielt die Handlungsorientierung heute auf das Konsumentenhandeln. Neben diese Rolle des Konsumenten als Anhängsel einer mehr oder minder fertigen Geschäftswelt, deren politische Regelung unangetastet bleiben, muss verstärkt die Option des politischen Handelns im Sinne einer Erziehung zur Mündigkeit treten – die nach Adorno immer auch eine „Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand“ (1970, S. 153) sein muss. LITERATUR Adorno, Theodor W. (1970). Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Andersen, U. (2005). Entwicklungsdefizite und mögliche Ursachen. Informationen zur politischen Bildung, 286. Verfügbar unter: http://www.bpb.de/izpb/9049/entwicklungsdefizite-undmoegliche-ursachen?p=all [04.03.2016]. Deutsche Gesellschaft für Geographie (DGfG) (2014). Bildungsstandards im Fach Geographie für den mittleren Schulabschluss – mit Aufgabenbeispielen. 8. Aufl., Bonn: Selbstverlag DGfG. Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW) (2015). Datenreport der Stiftung Weltbevölkerung 2015. Soziale und demographische Daten weltweit. Hannover. Geiger, T. (1930). Klassenlage, Klassenbewusstsein und öffentliche Schule (Teil II). Die Arbeit, Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde, 6 (4/5), S. 331‒340. Hard, G. (1982). Geodeterminismus/Umweltdeterminismus. In L. Jander, W. Schramke & H.-J. Wenzel (Hrsg.), Metzler Handbuch für den Geographieunterricht. Ein Leitfaden für Praxis und Ausbildung (S. 104‒110). Stuttgart: Metzler. Mönter, L. (2013). Geodeterminismus. In M. Rolfes & A. Uhlenwinkel (Hrsg.), Metzler Handbuch 2.0. Geographieunterricht. Ein Leitfaden für Praxis und Ausbildung (S. 276‒283). Braunschweig: Westermann. Oxfam International (Hrsg.). (2016). An economy for the 1%. How privilege and power in the economy drive extreme inequality and how this can be stopped. Verfügbar unter: https://www.oxfam.de/system/files/bp210-economy-one-percent-tax-havens-180116-en.pdf [20.01.2016]. Richter, C. & Gebauer, S. (2010). Die China-Berichterstattung in den deutschen Medien. Eine Studie mit Beiträgen von Thomas Heberer. Schriften zu Bildung und Kultur, Band 5. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung.

Gedanken zur Behandlung von Armutsursachen im Geographieunterricht

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KAPITEL 2 Fachwissenschaftliche Ansätze für die Politische Bildung im Geographieunterricht

POLITISCHE GEOGRAPHIE IM ERDKUNDEUNTERRICHT – MÖGLICHKEITEN UND PERSPEKTIVEN Paul Reuber 1. POLITIK, MACHT UND RAUM ALS THEMA DER SCHULERDKUNDE?! Wir leben in spannenden Zeiten und die Welt ist alles andere als ein Ort des Friedens. Man muss nur die Zeitungen aufschlagen oder die Nachrichtensender anschalten und wird täglich Zeuge weltweiter Krisen, Konflikte und Kriege, die auch vor der eigenen Haustür nicht haltmachen. So sieht die Lebenswirklichkeit aus, in die auch Schülerinnen und Schüler hineinwachsen, und deren Konsequenzen sie häufig genug in ihrem eigenen Leben zu spüren bekommen. Die internationale Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016 ist dafür ein ebenso eindrückliches Beispiel wie die jüngsten Terroranschläge islamistischer Gruppierungen, deren Gewalttaten auch vor den befestigten Grenzen der westlichen Wohlstandsgesellschaften nicht haltmachen. Hinzu kommen viele weitere internationale Krisen- und Risikoszenarien der letzten Jahrzehnte, die direkt oder indirekt auch in „unsere“ Gesellschaft in vielfältiger Weise hineinwirken, wie z.B. die Europäische Finanzkrise, die neuen Konfliktlinien zwischen Russland und dessen osteuropäischen Nachbarn oder die sich verschiebende globale geopolitische Sicherheitsarchitektur des 21. Jahrhunderts. Viele dieser Themen sind von solcher Tragweite, dass sie noch über Jahrzehnte hinweg politische und soziale Entwicklungen auch in Deutschland beeinflussen werden. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, ja entscheidend, dass bereits Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, diese aktuellen Krisenereignisse in der Schule zu thematisieren und sich mit ihnen möglichst früh auf reflektierte Weise als politisch mündige Bürgerinnen und Bürger eines demokratischen Staates auseinanderzusetzen. Wenn die Schule solche Konflikte im Unterricht bearbeitet, wirkt sie an dieser Stelle präventiv, indem sie jungen Menschen über die zum Teil recht polar und einfach dargestellten Stereotypen in Politik oder Medien hinaus die Entwicklung einer differenzierteren und damit auch sozial und politisch sensibleren Sichtweise ermöglicht. Damit schafft sie eine wichtige Grundlage für zivilgesellschaftliche Handlungskompetenzen bei den sich entwickelnden Persönlichkeiten. All die genannten politischen Risikoszenarien und Konflikte haben eines gemeinsam, das ausdrücklich für ihre Behandlung im Erdkunde-Unterricht spricht: Die auftretenden Muster von Feind und Freund haben immer auch ein „räumliches“ Gesicht. So ist bereits das System der internationalen Geo- und Sicherheitspolitik in seiner Entwicklung über die Jahrhunderte nach einem territorialen

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Grundmuster organisiert (Staaten, Staatenverbünde, geopolitische „Blöcke“, Grenzen), in dessen Logik auch internationale Migrations- und Fluchtbewegungen sowie zahlreiche weitere Praktiken der politischen In- und Exklusion eingewoben sind (z.B. Grenzregime, politische und/oder militärische Bündnisse). Auch die vielfältigen Ressourcen- und Umweltkonflikte, die das 21. Jahrhundert in zunehmendem Maße charakterisieren, zeichnen sich maßgeblich durch eine räumlichmaterielle Komponente aus, die zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um deren Bewertung und Nutzung führt. Bereits diese wenigen beispielhaften Befunde legen nahe, dass sich für die Behandlung entsprechender Themen im Schulunterricht die Erdkunde/Geographie, welche als Fach im Schnittfeld von Gesellschaft und Raum (Umwelt) lokalisiert ist, besonders gut eignet. Sie besitzt im Kanon der Fächer einen privilegierten Blickwinkel für die Aufarbeitung entsprechender Auseinandersetzungen. An den Eingangsbeispielen wird deutlich, wie sehr Raumfragen immer auch Machtfragen sind und wie sehr Fragen der räumlichen Organisation und Ordnung in vielfältiger Verbindung mit gesellschaftlichen Ungleichheitsprozessen, mit Formen der In- und Exklusion verbunden sind (Reuber, 2012; Korf & Schetter, 2015). Einem auf genau solche Themen gerichteten gesellschaftlichen Bildungsauftrag kann die Schulerdkunde vor allem dann nachkommen, wenn sie ihre bisherigen Inhalte um eine politisch-geographische Betrachtungsweise erweitert. Gerade eine solche Perspektive macht es möglich, geographisch relevante gesellschaftliche Probleme oder Konflikte nicht einfach im Sinne eines „aktualistischen Betroffenheitsunterrichtes“ zu behandeln, sondern den Schülerinnen und Schülern an solchen Beispielen im Sinne eines transferorientierten Lernens tieferliegende Einblicke in die Machtwirkungen gesellschaftlicher Raumkonstruktionen zu geben. Dies lässt sich vor allem dann erreichen, wenn man entsprechende Fallbeispiele im Unterricht durch die Brille politisch-geographischer Konzepte hindurch betrachtet. Nachfolgend sollen Möglichkeiten diskutiert werden, – wie ein solches Generalziel mit Hilfe eines (didaktisch vereinfacht dargestellten) konstruktivistischen Raumbegriffes umgesetzt werden kann (Kap. 2) und – wie sich von dort aus unter Einbeziehung politisch-geographischer Ansätze konkrete Beispiele in den Unterricht einbringen lassen (Kap. 3). Dazu sollen exemplarisch zwei aktuelle Themen genauer angesprochen werden: die internationale Geopolitik und ihre Leitbilder (Kap. 3.1) sowie Konflikte um räumlich lokalisierte Ressourcen (Kap. 3.2). 2. DIE SCHÄRFUNG DES VERSTÄNDNISSES DER SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER FÜR DIE GESELLSCHAFTLICH-POLITISCHE ROLLE DES RAUMES ALS LEITZIEL IM POLITISCH-GEOGRAPHISCHEN ERDKUNDEUNTERRICHT Wer die politische Dimension räumlicher Strukturen, Repräsentationen und Diskurse sowie deren machtvolle Einbindung in Prozesse gesellschaftlicher Un-

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gleichheit verstehen will, kann dies in sinnvoller Weise nur auf der Grundlage eines konstruktivistischen Raumbegriffs tun. Das gilt unvermeidlich auch für Schülerinnen und Schüler im Erdkundeunterricht. Allerdings muss es hier darum gehen, den auf den ersten Blick erkenntnistheoretisch durchaus komplexen Aspekt didaktisch so zu reduzieren, dass er auf den jeweiligen kognitiven Anspruchsniveaus der Mittel- und Oberstufe in verständlicher Weise für die Analyse von Fallbeispielen fruchtbar gemacht werden kann. In dieser Hinsicht lassen sich gerade an politisch-geographischen Fallbeispielen „fast intuitiv“ zwei grundsätzliche, gleichzeitig durchaus alltagsverständliche Basisprinzipien einer konstruktivistischen Sichtweise ableiten: – dass Menschen aufgrund ihrer eingeschränkten Wahrnehmung und Bewertung keine unmittelbare und „objektive“ Information über die sie umgebende Welt haben, sondern dass ihre Alltagswahrnehmung durch kollektive und subjektive Vorstellungsbilder angeleitet wird, und – dass sie somit gesellschaftliche Raumstrukturen auf teilweise sehr unterschiedliche Arten und Weisen wahrnehmen und selbst konstruieren. Mit einer solchen Herangehensweise verändert sich der Blickwinkel im Erdkunde-Schulunterricht in politisch-geographisch ausgerichteten Sequenzen oder Einzelstunden: Primär von Interesse ist in diesem Falle nicht, welche räumlichen Strukturen und Situationen „wirklich“ vorliegen, „sondern die spezifische Rolle, die Räumlichkeit in sozialen Prozessen […] spielt“ (Belina & Michel, 2007, S. 8). Ein solcher Blick macht die besondere Bedeutung von Räumlichkeit im Kontext gesellschaftlicher Konflikte auch für Schülerinnen und Schüler nachvollziehbar, denn es ist der besondere Vorteil einer konstruktivistischen Betrachtungsweise, zu zeigen, dass gerade das Aufeinandertreffen unterschiedlicher raumbezogener Sichtweisen und Interessen (von Individuen, Gruppen oder Gesellschaften) zur Grundlage von politischen Meinungsverschiedenheiten, Auseinandersetzungen und Kriegen werden kann. Von dieser Grundlage aus können die Schülerinnen und Schüler analysieren, in welcher konkreten Weise gesellschaftliche Raumkonstruktionen in raum- bzw. ressourcenbezogene politische Praktiken und Konflikte eingebunden sind. Erneut lassen sich dazu Systematiken aus der aktuellen Humangeographie und Politischen Geographie heranziehen. Mit deren Hilfe kann man Schülerinnen und Schülern vor Augen führen, dass räumliche Aspekte in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nicht „eindimensional“ und auf die immer gleiche Art und Weise zum Tragen kommen, sondern in drei unterschiedlichen Dimensionen wirksam werden können, die je nach untersuchtem Konfliktbeispiel in unterschiedlicher Weise relevant und kombiniert sein können. Es handelt sich um die Identitätsdimension, die territoriale Dimension und die materielle Dimension gesellschaftlicher Räumlichkeit (ausführlicher: Reuber, 2012; Miggelbrink, 2002). a) Identitätsdimension gesellschaftlicher Räumlichkeit: In vielen Fällen sind es gerade räumlich symbolisierte Formen kollektiver Identitätsmuster, die besonders markante politische Unterschiede schaffen und daher als Grundlage raumbezogener Auseinandersetzungen dienen können. Prominentestes Beispiel dafür sind nationale Identitäten, die zu vielfältigen Konflikten führen

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können. Sie finden sich aber auch auf anderen Maßstabsebenen (substaatlich z.B. „Ossis“ vs. „Wessis“, international z.B. unterschiedliche „Kulturerdteile“ und ihre geopolitische Wirksamkeit, etc., vgl. Kap. 3.1). b) Territoriale Dimension gesellschaftlicher Räumlichkeit: Seit dem Anbruch der Moderne sind territoriale Formen von In- und Exklusion, von Macht und Herrschaft, zu einem zentralen Element gesellschaftlicher und politischer Differenzierungsprozesse geworden. Beispielhaft für diesen Punkt steht das internationale Staatensystem, das die Basiseinheit der internationalen Ordnung bildet und ein mehr oder weniger lückenloses System von Herrschaftsgebieten und klar festgelegten Grenzen über den gesamten Globus spannt. Sie werden bis heute immer wieder zur Grundlage von territorialen Konflikten (z.B. Tibetkonflikt, Kurdenkonflikt, separatistische Bewegungen in Europa). c) Materielle Dimension gesellschaftlicher Räumlichkeit: Räumliche Ressourcen können auch auf lokaler Ebene sehr direkt zur Ursache gesellschaftlicher Konflikte werden, wenn sich auf ihre Inanspruchnahme, Nutzung und Verteilung unterschiedliche Interessen machtvoller Akteure richten. Auch hier spielt deren selektive Wahrnehmung und Bewertung eine wichtige Voraussetzung für den Verlauf und die Dynamik entsprechender Auseinandersetzungen (vgl. z.B. Ressourcenkonflikte, Konflikte um die Standorte von AtomenergieKraftwerken oder Windenergie-Anlagen). Um diese Aspekte nachfolgend bezogen auf den Schulunterricht zu konkretisieren, sollen zwei Beispiele ausführlicher vorgestellt werden. Diese bieten gleichzeitig die Möglichkeit, den Anspruch eines zeitgemäßen Erdkundeunterrichtes auszuloten, bei der Analyse der Fallbeispiele nicht allein empiristisch und aktualistisch vorzugehen (tagespolitische Relevanz), sondern gleichzeitig theoriebezogenes transferorientiertes Wissen zu generieren, das auch für ein generelles Verständnis der gesellschaftlichen Rolle des Raumes bei Schülerinnen und Schülern und für einen Ausbau entsprechender politischer Sensibilitäten und Kompetenzen genutzt werden kann. 3. UNTERRICHTSBEISPIELE AUS DEM FELD DER POLITISCHEN GEOGRAPHIE 3.1 Die Geopolitische Macht globaler räumlicher Ordnungsvorstellungen – Eine Analyse aus Sicht der Kritischen Geopolitik Schülerinnen und Schüler sind immer wieder Zeitzeugen und/oder Betroffene internationaler Konflikte und Kriege. Als Mitglieder ihrer Gesellschaft müssen sie sich dazu nicht nur eine Meinung bilden, sondern durchaus auch bereits in jungen Jahren aktiv an gesellschaftlichen Diskussionen über entsprechende Auseinandersetzungen teilnehmen. Die dabei zu Tage tretenden Argumentationen basieren häufig auf globalen räumlichen Konstruktionen des Eigenen und des Fremden, die sich über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte entwickelt haben und als kollektive

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Freund-Feind-Bilder in aktuellen Auseinandersetzungen machtvoll handlungsleitend werden. Eine der derzeit dominantesten geopolitischen Ordnungsvorstellungen ist das Leitbild der Kulturerdteile, das nach dem Ende des Kalten Krieges vom inzwischen verstorbenen amerikanischen Politikwissenschaftler Samuel Huntington als Grundlage für den „Kampf der Kulturen“ (im Original: Clash of Civilizations) genutzt worden ist. Dieses in den öffentlichen Diskussionen sehr prominente und in verschiedenen Krisensituationen, wie zum Beispiel nach terroristischen Anschlägen, während des Karikaturenstreits oder im Zuge der Auseinandersetzungen mit dem so genannten „Islamischen Staat“, immer wieder machtvoll die Diskussionen bestimmende Leitbild kann in einem politisch-geographisch orientierten Erdkundeunterricht aus einer kritischen Perspektive behandelt werden. Gerade bei diesem Thema kommt der Erdkunde eine besondere Verantwortung zu, war es doch maßgeblich auch die Geographie, die das Leitbild der Kulturerdteile immer wieder prominent in universitären Lehrinhalten und gesellschaftlichen Debatten verankert hat. Dort, wo es in manchen Richtlinien des Erdkundeunterrichts sogar das Organisationsprinzip einer großregionalen Gliederung der Welt bildet, ist es bereits in der Schule zu einer machtvollen Leitlinie der Ordnung des geographischen Wissens geworden. Dabei birgt die Nutzung und Reaktualisierung einer solchen „geopolitical imagination“ die erhebliche Gefahr einer sehr pauschalen Verräumlichung gesellschaftlicher Unterschiede. Damit gibt sie Schülerinnen und Schülern zwar eine – sehr schubladenartige – Orientierung, nimmt ihnen aber gleichzeitig entscheidende Freiheitsgrade für eine differenziertere Betrachtung und politische Meinungsbildung, die in Zeiten globaler Unübersichtlichkeiten notwendiger scheint denn je. Vor diesem Hintergrund kann eine politisch-geographische Bearbeitung im Unterricht bei einem solchen Thema eine wichtige, kritische und emanzipative Diskussionsebene einbringen. Dazu eignet sich als (theoretische) Leitlinie das Konzept der „Kritischen Geopolitik“ (Ó Tuathail, 1996; Dodds, Kuus & Sharp, 2013; im Lehrbuch-Überblick: Reuber, 2012). Diese legt ihren Betrachtungsschwerpunkt auf die Analyse geopolitisch relevanter Raumkonstruktionen. Sie zeigt ganz generell, dass solche globalen Ordnungsvorstellungen nicht objektiv gegeben sind, sondern von Politikern und Beratern, aber auch von Wissenschaft, Schule und Medien produziert werden und sich zu kollektiv akzeptierten Vorstellungsbildern verdichten können. Das Konzept der Kulturerdteile und seine prominente Platzierung im Erdkundeunterricht ist dafür ein sehr gutes Beispiel und es zeigt, wie sich entsprechende Denkvorstellungen über lange Zeiträume zu hegemonialen Wissensordnungen verfestigen können. Die kritische Geopolitik versucht, solche hegemonialen räumlichen Vorstellungsbilder vom Eigenen und vom Fremden wieder in Fluss zubringen und auf diese Weise gerade ihren konstruierten und „politischen“ Charakter herauszuarbeiten (Reuber & Wolkersdorfer, 2002). Entsprechend fragt die Analyse: Mit welchen sprachlichen und kartographischen Mitteln werden entsprechende geopolitische Leitbilder konstruiert? Derartige Fragen lassen sich auch im Unterricht stellen. Sie können zum Beispiel an den

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sehr sprachgewaltigen und rhetorisch geschickten Texten von Huntington über den Kampf der Kulturen erörtert werden, sie können aber auch an aktuellen Zeitungsartikeln analysiert werden, die immer wieder – zum Beispiel im Umfeld terroristischer Anschläge oder im Kontext aktueller Fragen der Integration von Zuwanderern/Flüchtlingen – in den Tageszeitungen als Berichte oder Kommentare erscheinen. An der Analyse von Huntingtons Kampf der Kulturen können Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage eines geleiteten text- und karteninterpretativen Zugriffs lernen, wie ein geopolitisches Leitbild aufgebaut ist und wie dessen innere sprachliche und kartographisch-symbolische Logik „funktioniert“. – Sie können erkennen, wie Huntington komplexe Konfliktstrukturen und sehr differenzierte gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse auf einen simplen Kultur-/Raum-Determinismus reduziert. – Sie können erkennen, wie er dabei Religion und Fundamentalismus jenseits aller vorhandenen Differenzierungen ganz pauschal als potentiell gefährlich und expansionsorientiert darstellt. Indem er seine Beispiele häufig aus dem Bereich „anderer“ Kulturen (insbesondere der „islamischen“ Kultur) nimmt, schürt er damit die Ängste der Menschen „im Westen“ vor den „Anderen“, entsprechend werden hier die Grundlagen für die Vorurteile geschaffen, die z.B. zu skeptischen, teilweise fremdenfeindlichen Reaktionen im politischen Feld von Zuwanderung und Integration führen können. – Auf diese Weise lässt sich Schülerinnen und Schülern vermitteln, wie unhaltbar simpel und gleichzeitig für manche Menschen verführerisch klingend eine entsprechende geopolitische „Ein-Teilung“ der Welt in der Huntington’schen Pauschalrhetorik daherkommt: Die Welt ist nicht geeint. Kulturen haben die Menschen geeint und gespalten. … Es sind Rasse und Glaube, womit sich Menschen identifizieren, wofür sie zu kämpfen und zu sterben bereit sind. (Huntington, 1996, S. 122)

3.2 Beispiel 2: Konflikte um räumliche Ressourcen als Gegenstand eines politisch-geographisch informierten Erdkundeunterrichts In einem Zeitalter, in dem die Begrenztheit natürlicher Ressourcen und Rohstoffe zunehmend stärker in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion rückt (z.B. Öl und Gas, seltene Erden), sind auch Schülerinnen und Schüler über die Medien und öffentliche Debatten immer stärker mit Situationen konfrontiert, in denen der Zugriff auf materielle Ressourcen zur Ursache von Konflikten wird. In vielen Erdkunde-Lehrplänen sind solche Beispiele ebenfalls bereits verankert (RegenwaldVernichtung, Beispiele zur Rohstoff-Knappheit). Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass entsprechende gesellschaftliche Problemlagen in Zukunft eher zunehmen werden, kann es sinnvoll sein, entsprechende Beispiele noch stärker und prominenter aus der konfliktanalytischen Perspektive der Politischen Geographie heraus zu behandeln. Dabei sollen die Schüler verstehen lernen,

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wie Nutzungskonflikte um raumbezogene Ressourcen generell ablaufen, welche Akteure unter den Bedingungen einer globalisierenden Netzwerkgesellschaft involviert sind, – welche unterschiedlichen Interessen und Problemwahrnehmungen diese haben und – mit welchen Machtpotentialen, Handlungsstrategien und strategischen Raumkonstruktionen sie ihre Ziele durchzusetzen versuchen. Ein solches Wissen sollte jedoch nicht nur für die einzelnen Fallbeispiele erarbeitet werden, sondern gleichzeitig auf einen Transfereffekt abzielen, der es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, eigenständig als mündige Mitglieder der Gesellschaft ihre am Beispiel gewonnenen Erkenntnisse über den Ablauf von ressourcenbezogenen Konflikten auf neue Fälle zu übertragen. Dazu kann es hilfreich sein, die Analyse mit einem theoriegeleiteten Raster zu versehen, das genau diesen Transfer später einfacher macht. Zu diesem Zweck lassen sich die drei Grundfragen der geographischen Konfliktforschung heranziehen, mit denen die systematische Erarbeitung am Beispiel gelenkt werden kann (Reuber, 2012): 1. Nach welchen Zielen und mit welchen Strategien handelt der einzelne Akteur und einzelne Gruppen bei raumbezogenen Konflikten? 2. Wie beeinflussen die gesellschaftlichen Strukturen, Regeln und Verfahrensabläufe den raumbezogenen Konflikt (z.B. im Spannungsfeld von nationalstaatlichen Kompetenzen und globalisierenden Netzwerkeinflüssen)? 3. In welcher Weise lassen sich räumliche Bezüge konzeptionell angemessen in eine geographische Konfliktforschung integrieren? Eine solcherart strukturierte Herangehensweise kann eine fundierte Ergänzung zum Auftrag des Faches Geographie in der Schule sein. Viele der aus dieser Perspektive geographisch relevanten Phänomene und die ihnen inhärenten Konflikte zum Beispiel in Feldern wie Globalisierung, Klimawandel, Bewältigung von Naturkatastrophen, Ausbeutung natürlicher Ressourcen etc. sind gekennzeichnet von markanten Herausforderungen, Spannungsfeldern und Auseinandersetzungen. In dieser Hinsicht fordern die Bildungsstandards des Faches Geographie „Sachwissen, Urteilsfähigkeit sowie Problemlösungskompetenz“ (DGfG, 2014, S. 5). Gerade weil davon auszugehen ist, dass sich unter den Bedingungen vernetzter und globalisierter Gesellschaften die Anforderungen an junge Menschen erhöhen, die komplexen und konflikthaltigen Verknüpfungen von Gesellschaft, Raum und Macht zu verstehen und sich dazu als mündige Bürgerinnen und Bürger eine Meinung zu bilden, ergibt sich ein zukünftig noch stärkerer Auftrag an die Schulerdkunde, entsprechende Aushandlungsprozesse an aktuellen Beispielen in einem kritischen Unterricht zu thematisieren. Eine kritische Analyse solcher geopolitischen Leitbilder kann Schülerinnen und Schülern deutlich machen, dass hier ein Diskurs reaktiviert und gestärkt wird, der alles andere als eine harmlose kulturelle Einteilung der Welt ist, sondern ein geopolitisches Strickmuster anbietet, dem sich auch die Demagogen von „Pegida“ und islamistischen Terrorgruppen problemlos anschließen würden. Dies belegen entsprechende Repräsentationen in einschlägigen Medien immer wieder. Mit Blick auf ein solches Gefahrenpotenzial ist es frappierend zu sehen, wie sehr sich

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vom Zuschnitt her die großräumigen Vorstellungen vom Orient in einschlägigen Schulwandkarten und in den geopolitischen Propaganda-Visionen des sogenannten „Islamischen Staates“ ähneln. 4. FAZIT: POLITISCHE GEOGRAPHIE ALS ERGÄNZUNG EINER ZEITGEMÄßEN SCHULERDKUNDE – EINIGE THESEN Die vorliegenden Ausführungen haben bereits deutlich gemacht, dass es nicht darum gehen kann und sollte, politisch-geographische Inhalte in Form eines weiteren „thematischen Blocks“ in den Erdkundeunterricht zu integrieren. Viel hilfreicher wäre es, diese im Sinne einer „Querschnittsperspektive“ an jeweils relevanten sachlichen Inhalten des Curriculums durch eine entsprechende Verbreiterung der Perspektive einzubinden. Auf diese Weise könnte die bewährte Erarbeitung fundierter inhaltlicher Sachkenntnisse bei geeigneten Fallbeispielen kombiniert werden mit einer kritischen, sich auf entsprechende Konfliktlagen beziehenden politisch-geographischen Analyse. Eine zusätzliche und wichtige Möglichkeit im Sinne der oben bereits genannten Querschnittsaufgabe wäre es, bei national und international bedeutenden gesellschaftlichen Krisen und Konflikten, die die Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler berühren, „aktuelle Stunden“ einzurichten. Diese könnten etwa an der Analyse ausgewählter Materialien (z. B. aus Tageszeitungen, Nachrichtensendungen, Internetblogs etc.) eine reflektierte, konzeptionell und inhaltlich fundierte Thematisierung ermöglichen. An solchen Beispielen können Schülerinnen und Schüler immer wieder lernen, – wie (geo)politische Raumkonstruktionen unsere alltäglichen Vorstellungen und politischen (Vor)Urteile prägen können, – wie mit raumbezogenen Identitäten und Territorien Verfügungsräume gesellschaftlicher Macht geschaffen werden und wie diese zum Gegenstand politischer Konflikte werden können und – wie raumbezogene Ressourcen auf allen Maßstabsebenen zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen werden können. Bezogen auf die Durchführbarkeit solcher Unterrichtsbeispiele stehen aber nicht nur Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen in der Verantwortung, sondern auch die Hochschulgeographie. Dabei lassen sich drei konkrete Aufgabenfelder benennen. Zum einen kann und muss es ihre Aufgabe sein, mehr als bisher die grundlegende Betrachtungsperspektive der Politischen Geographie sowie schülernahe Beispiele in einer didaktisch rekonstruierten Weise in fachdidaktischen Zeitschriften zu publizieren (z.B. Reuber, 2000; 2005; Schrüfer & Reuber, 2013). Zum zweiten kann ihre Unterstützung darin bestehen, Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer zu politisch-geographischen Themen anzubieten. Erste Projekte in dieser Hinsicht haben gezeigt, dass es möglich ist, in einem solchen Dialog nicht nur produktiv über Chancen und Möglichkeiten politisch-geographischer Unterrichtsinhalte zu diskutieren, sondern auch gemeinsam Unterrichtsbeispiele und

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Materialien zu erarbeiten. Eine dritte Möglichkeit der Politischen Geographie an Hochschulen besteht in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern selbst. Gerade in der Zeit des Studiums sind diese offen für neue Inhalte, die ihnen an ihren Universitäten angeboten werden. Hier kann die Hochschule mit der Einbindung politisch-geographischer Analyseperspektiven ein Fundament legen, mit dem die Lehrerinnen und Lehrer, die später an den Schulen nicht nur die mündigen Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger von morgen unterrichten, ihren auf Toleranz und Kritik angelegten Schulunterricht in einer demokratischen Gesellschaft weiter ausbauen, profilieren und verbessern können. LITERATUR Belina, B. & Michel, B. (Hrsg.). (2007). Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz. Münster: Westfälisches Dampfboot. Dodds, K., Kuus, M. & Sharp, J.P. (Eds). (2013). The Ashgate Research Companion to Critical Geopolitics. Farnham: Ashgate. Deutsche Gesellschaft für Geographie (DGfG) (Hrsg.). (2014). Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss mit Aufgabenbeispielen. Bonn: Selbstverlag DGfG. Huntington, S.P. (1996). Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Europaverlag. Korf, B. & Schetter, C. (2015). Geographien der Gewalt. Studienbücher Geographie. Stuttgart: Borntraeger. Miggelbrink, J. (2002). Der gezähmte Blick. Zum Wandel des Diskurses über „Raum“ und „Region“ in humangeographischen Forschungsansätzen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Beiträge zur regionalen Geographie, Band 55. Leipzig: Institut für Länderkunde. Ó Tuathail, G. (1996). Critical Geopolitics: The Politics of Writing Global Space. London: Routledge. Reuber, P. (2000). Kritische Geopolitik. Eine Forschungsrichtung der Politischen Geographie nach dem Ende des Kalten Krieges. Praxis Geographie, 30 (1), 42‒43. Reuber, P. (2005). Konflikte um Ressourcen. Ein Thema der Politischen Geographie und der Politischen Ökologie. Praxis Geographie, 35 (9), 4‒9. Reuber, P. (2012). Politische Geographie. Paderborn: Schöningh. Reuber, P. & Wolkersdorfer, G. (2002). Clash of Civilizations aus der Sicht der Kritischen Geopolitik. Geographische Rundschau, 54 (7/8), 24–29. Schrüfer, G. & Reuber, P. (2013). „Entwicklungs-Länder“?! Perspektiven und Möglichkeiten für die kritische Bewertung eines solchen Konzeptes im Erdkundeunterricht. Geographie heute, 34 (309), 19‒25.

GEWÄSSERRENATURIERUNG UND NATURSCHUTZ IM STADTRAUM Eine Betrachtung aus Sicht der Politischen Ökologie Boris Braun & Alexander Follmann 1. EINLEITUNG Der Erhalt von naturnahen Räumen und die Renaturierung von Gewässern sind heute wichtige Themen der Kommunalpolitik. „Unzerstörte Natur“ und „Wildnis“ werden von der deutschen Öffentlichkeit zwar hoch bewertet (Mues, 2015), dennoch stoßen auf der konkreten Projektebene oft unterschiedliche, nicht immer leicht miteinander zu vereinende Positionen aufeinander. In einem wohlhabenden, dicht besiedelten und engmaschig regulierten Land wie Deutschland stellt sich die Frage, welche Rolle Natur in einer Konsumgesellschaft überhaupt spielen kann und was vom wem darunter verstanden wird. Auch zur Rolle von Gewässerrenaturierung und Naturschutz im Verhältnis zu anderen Politikfeldern und Nutzungsansprüchen gibt es unterschiedliche Einstellungen. Natur- und Gewässerschutz sind gerade deshalb immanent (raum-)politische Themen, weil der Zustand der „Natur“ immer ein Resultat gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse ist. Inwieweit, unter welchen Bedingungen und in welchen Grenzen soll eine weitgehend ungestörte Naturentwicklung bzw. „Wildnis“ im stadtnahen Raum zugelassen oder gar politisch-planerisch gefördert werden? Wie lassen sich verschiedene Nutzungsansprüche miteinander verbinden? In den Städten des Globalen Südens stellen sich viele Fragen ganz ähnlich. Die Konfliktfelder treten hier aber oft noch schärfer hervor, weil bei wachsender Bevölkerung vielfältige Nutzungsansprüche einen erheblichen Entwicklungsdruck auf die Flächen ausüben. Die Unterschutzstellung von Natur geht oft mit der Exklusion ärmerer Bevölkerungsschichten einher und bedroht grundlegend deren Überlebensstrategien. Dies wirft grundsätzliche Fragen der Umweltgerechtigkeit auf. In den Megastädten des Globalen Südens finden sich naturnahe Räume zudem häufig nur noch auf Brach- und Freiflächen, die als Landreserven und Bauerwartungsland angesehen werden, sowie in teilweise aufwändig gestalteten Parks (Kraas & Butsch, 2014). Vor dem Hintergrund des Analysekonzepts der Politischen Ökologie betrachtet dieser Beitrag die politischen Dimensionen der Renaturierung von Fließgewässern und ihren Auen im Stadtraum anhand von zwei Fallbeispielen aus Deutschland und Indien.

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2. DER ANALYSERAHMEN DER POLITISCHEN ÖKOLOGIE Ziel der Politischen Ökologie ist es, „Umweltveränderungen unter Einbeziehung von politischen, gesellschaftlichen und historischen Faktoren zu untersuchen“ (Krings, 2008, S. 4). So entstand die Politische Ökologie explizit aus einer Kritik an unpolitischer Umweltforschung und eindimensionalen Erklärungsansätzen. Sie ist jedoch weder ein geschlossenes Theoriegerüst noch eine klar strukturierte Methode. Sie dient viel mehr als offenes Analysekonzept zur Erklärung von Umweltveränderungen und deren Auswirkungen (Robbins, 2012). Umweltveränderungen werden dabei als Resultat politischer bzw. gesellschaftlicher Entscheidungen verstanden, bei denen unterschiedliche Akteure ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen versuchen. Umweltwandel, -krisen und -konflikte haben aus Sicht der Politischen Ökologie also nicht nur natürliche, sondern immer auch gesellschaftlich-politische Ursachen sowie eine historische Dimension. Konzentrierte sich die Politische Ökologie räumlich lange auf Ressourcenkonflikte im ländlichen Raum von Entwicklungsländern (Bryant & Bailey, 1997), widmet sie sich heute Umweltveränderungen sowohl im Globalen Süden als auch im Globalen Norden, sowohl auf dem Land als auch in der Stadt. Die Politische Ökologie der Stadt versteht dabei Natur als hochgradig vom Menschen beeinflusst, aber weiterhin natürlichen Stoffkreisläufen unterworfen. Stadtnatur wird insofern als ein „Hybrid“ oder „Cyborg“ gesehen – teils vom Menschen geschaffen, teils natürlich (vgl. Zimmer, 2010). Die Dichotomie von Natur und Kultur löst sich damit auf. Natur und Kultur sind vielmehr untrennbar miteinander verflochten. Fließgewässer werden zum Beispiel seit jeher durch den Menschen beeinflusst (z.B. Begradigung, Eindeichung, Verschmutzung, Aufstauung), dennoch wird ihr Abflussverhalten weiterhin von natürlichen Faktoren (mit)bestimmt. Die Politische Ökologie (der Stadt) geht davon aus, dass der Umweltwandel immer im Wechselspiel mit gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen steht. Aufgrund dieses sozio-ökologischen Wechselspiels verändert sich die Natur in der Stadt kontinuierlich. Dies führt dazu, dass bestimmte Interessen- und Bevölkerungsgruppen profitieren, andere aus unterschiedlichen Gründen benachteiligt werden. Die Frage nach Nutzungs- und Zugangsrechten zu urbaner Natur ist dadurch häufig ein zentrales Element in Planungs- und Flächennutzungskonflikten. Während es in den Städten des Globalen Südens in diesem Zusammenhang häufig um Fragen der Überlebenssicherung für marginalisierte Bevölkerungsschichten geht (z.B. Zugang zu Wasser, Wohnraum), liegen im Globalen Norden die Konfliktlinien eher zwischen verschiedenen Erholungs-, Freizeit- und Konsumbedürfnissen. Prägend ist auch die Konfliktlinie zwischen dem ökonomischen Wert durch alternative Nutzungsmöglichkeiten der Flächen auf der einen (z.B. Landwirtschaft, Bauland) und den mit Naturschutzauflagen verbunden Nutzungs- und Zugangsbeschränkungen auf der anderen Seite. Einige der genannten Aspekte sollen im Folgenden anhand von zwei Fallbeispielen aufgegriffen werden. Dabei geht es nicht um die Darstellung möglichst tiefgreifender Konflikte oder um offensichtliche Beispiele von Umweltzerstörung,

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sondern vielmehr um gesellschaftliche Bewertungsfragen und Diskurse bei der Sicherung und Entwicklung von naturnahen Räumen in der Stadt. 3. PROZESSSCHUTZ UND NEUE WILDNIS – DER ALTE RHEIN IN DÜSSELDORF Der Alte Rhein im Süden von Düsseldorf ist Teil der Urdenbacher Kämpe, einem der größten bis heute unbebauten Auengebiete am Niederrhein. Allerdings wurde der insgesamt etwa zehn Kilometer lange Bachlauf nahe der Mündung in den Rhein in den 1950er Jahren in ein weitgehend begradigtes Bachbett verlegt. Zudem wurde ein mehrere Meter hoher Sommerdeich aufgeschüttet, der die natürliche Gewässerdynamik für mehr als ein halbes Jahrhundert stark einschränkte und verhinderte, dass sich das Gewässer nach Starkniederschlägen in die Aue ausbreiten konnte. So konnte zwar die Ernte auf den angrenzenden Wiesen und Feldern vor sommerlichen Hochwässern geschützt werden, aber Flora und Fauna sowie das vormals attraktive Landschaftsbild verarmten. Der Sommerdeich wurde im April 2014 an zwei Stellen geöffnet, sodass der Alte Rhein sein Bachbett auf gut 2,5 km Länge wieder selbst finden kann. Auf eine Modellierung eines neuen Bachbetts wurde verzichtet. Über den Prozessschutz wird aber die eigendynamische Entwicklung des Gewässers ohne direkte menschliche Eingriffe gesichert. An den beiden Deichöffnungen wurden Brücken errichtet, sodass der ca. zwei Meter breite Weg auf dem Deich weiterhin von FußgängerInnen und FahrradfahrerInnen genutzt werden kann. Die städtische Bebauung reicht im Norden bis unmittelbar an das Renaturierungs- und Naturschutzgebiet heran. Für 50.000 bis 70.000 Menschen stellt die Fläche somit ein fußläufig erreichbares Naherholungsgebiet dar. Mit der Deichöffnung sollten Vorgaben der europäischen Politikebene (Wasserrahmenrichtlinie, Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie) umgesetzt werden, vor allem aber die Durchgängigkeit vom Rhein in die Aue verbessert und die Erlebbarkeit einer stadtnahen Wildnis bei gleichzeitiger Besucherlenkung erreicht werden. Voraussetzung für die Umsetzung des ambitionierten Projekts war die Verfügbarkeit der notwendigen Flächen. Bereits 1989 kaufte deshalb die NRW-Stiftung 100 Hektar Grünland von privaten Grundbesitzern, die Stadt Düsseldorf erwarb zudem 34 Hektar Ackerflächen, die durch das Projekt zumindest indirekt über potenzielle Ertragseinbußen betroffen sind (Beckers, Boomers, Bunzel-Drüke, Krüger, Mause & Pieren, 2014). Durch den Landaufkauf aus öffentlichen Mitteln konnte ein potenzieller Konflikt mit der Landwirtschaft frühzeitig entschärft werden. Um genauere Einblicke in die Bewertung der Renaturierungsmaßnahmen sowie potenzielle Nutzungskonflikte zwischen verschiedenen Besuchergruppen innerhalb des Gebiets zu erhalten, wurde im Rahmen eines Studienprojekts an der Universität zu Köln eine Befragung von über 600 Menschen durchgeführt, die das Naturschutzgebiet zwischen Juni und September 2015 besuchten (vgl. Braun, 2015). Aus automatisierten Messungen und Passantenzählungen lässt sich abschätzen, dass der Kern des Naturschutzgebiets im Durchschnitt täglich von rund

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340 Menschen sowie 65 Hunden betreten wird. Knapp 40% der Hunde sind nicht angeleint. Diese Zahlen zeigen einerseits aus ökologischer Sicht eine hohe Belastung mit potenziellen ökologischen „Störfaktoren“, anderseits sind sie aber auch ein Beleg für die hohe Attraktivität und gesellschaftliche Akzeptanz der durchgeführten Maßnahmen. Bei Kriterien wie Natur- und Artenschutz, Freizeitwert oder Aufenthaltsqualität erfährt das Gebiet bei den Befragten durchweg sehr hohe Zustimmungswerte mit zwischen 85% (Aufenthaltsqualität) und 97% (Natur- und Artenschutz) positiven Beurteilungen. Eine klare Mehrheit ist dafür, für die Renaturierung in umfänglichem Maße Steuermittel einzusetzen. Für zwei Drittel der Befragten entspricht das Gebiet am Alten Rhein ihrer Vorstellung von „Wildnis“. Dieses „Wildnisempfinden“ nimmt mit dem Alter der BesucherInnen signifikant zu. Die Gründe hierfür können nur vermutet werden. Zum einen ist das konkrete Interesse an Naturschutzgebieten und Renaturierungen bei älteren Menschen in der Regel größer als bei jüngeren – dies bestätigen auch andere Untersuchungen (vgl. Braun & Shoeb, 2011). Zum anderen erscheint die Annahme plausibel, dass eine aufgrund der Erfolge der Umweltpolitik wieder relativ intakte lokale Umwelt mit geringer sichtbarer Verschmutzung für jüngere Menschen fast schon wieder eine Selbstverständlichkeit geworden ist, während viele Ältere die stark belasteten Fließgewässer mit z.T. extrem verminderter Artenvielfalt der 1960er und 1970er Jahre noch gut in Erinnerung haben. Freilaufende Hunde sind neben (rücksichtslosen) RadfahrerInnen einer der wichtigsten Konfliktanlässe zwischen verschiedenen NutzerInnen des Gebiets. Diese Konflikte zeigen, dass Umweltschutz vor allem im dichtbesiedelten, stadtnahen Bereich den ständigen Ausgleich von verschiedenen Ansprüchen verlangt. Dies gilt auch für eine ganz zentrale Grundfrage des Naturschutzes, die sich in stadtnahen Wildnis- und Prozessschutzgebieten in besonderer Weise stellt. Wieviel Schutz muss sein, wieviel Zugang soll erlaubt werden? Mit Blick auf die BesucherInnen des Naturschutzgebiets am Alten Rhein zeigt sich hier ein klares Bild. Insgesamt ist bei den Menschen ein erstaunliches Verständnis für den Prozessschutz vorhanden. Gefragt nach Aussagen wie „Mir gefällt, dass der Mensch hier in den Lauf der Natur nicht oder nur sehr wenig eingreift“ gibt es ausgesprochen hohe Zustimmungswerte von 98% und mehr. Auch sehen nur sehr wenige Befragte ein Problem darin, dass Bäume umfallen und/oder absterben. Es wird aber ebenfalls deutlich, dass ein noch weitergehender Schutz des Gebiets für die meisten Menschen keine Option ist. Der Aussage, dass die Zugänglichkeit komplett unterbunden werden sollte, damit sich die Natur noch ungestörter entwickeln kann, stimmen lediglich 4% der Befragten zu. Natur ist eben auch und vor allem ein Konsumgut, das individuell genutzt werden können muss. Wildnis ja, aber unmittelbar erfahrbar und zugänglich muss sie sein. Diese Befunde decken sich weitgehend mit Ergebnissen aus bundesweiten Studien (Mues, 2015, S. 418). Das Beispiel der Renaturierung in Düsseldorf zeigt, dass Wildnis auch in unmittelbarer Stadtnähe wieder entstehen kann. Es wird aber auch deutlich, dass das Maß der „Wiederwildniswerdung“ sowie die konkreten Nutzungsansprüche in hohem Maße gesellschaftlichen und damit letztlich politischen Aushandlungspro-

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zessen unterliegen. Das Gebiet um den Alten Rhein weist eben keine über lange Zeiträume vom Menschen ungestörte Entwicklung auf. Vielmehr wurde es trotz seines als naturnah wirkenden Charakters von tiefgreifenden Strukturbrüchen und jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Leitbildern geprägt, die sich in der technischen Verbauung der 1950er Jahre und der Deichöffnung 2014 besonders deutlich zeigen. Aber nicht nur diese Brüche machen das Gebiet zu einer Wildnis „aus zweiter Hand“. Auch die Artenzusammensetzung in und über dem Wasser ist heute in weiten Teilen eine andere als noch vor 100 oder 200 Jahren. Neobionten wie Nutrias oder nordamerikanische Krebse besetzen heute ökologische Nischen, die früher von einheimischen Arten ausgefüllt wurden. Obwohl es sich dabei aus ökologischer Sicht um eine „Faunenverfälschung“ handelt, werden diese Tiere von der Mehrzahl der Menschen heute gerne beobachtet und (im Grunde konsequent) als weitgehend selbstverständliche Bestandteile der (neuen) Wildnis akzeptiert. Letztlich entsteht so auch in deutschen Stadträumen genau die Natur wieder, die unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen von Akteuren mit bestimmten Interessen ausgehandelt wird. Dies weist auch darauf hin, dass was zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen unter „Natur“ oder „Wildnis“ verstanden wird, in hohem Maße kulturell, sozial und politisch konstruiert ist (vgl. Spanier, 2015). Heute sind die Wildnis für die meisten Deutschen eher Sehnsuchtsraum, Konsumobjekt oder Gegenstand der Romantisierung. Dagegen wird Wildnis heute kaum mehr – wie früher sehr häufig – vor allem mit Gefahren verbunden. 4. NATURSCHUTZ ALS INSTRUMENT DER STADTVERSCHÖNERUNG – DAS BEISPIEL DER YAMUNA-AUE IN DELHI Die historische Entwicklung Delhis war immer eng verknüpft mit der Yamuna, dem wichtigsten Zufluss des Ganges. Die Yamuna durchfließt Delhi auf einer Länge von knapp 50 Kilometern. Abhängig von den monsunalen Niederschlägen entfallen rund 80% der jährlichen Abflussmenge auf die Monate Juli bis September. In dieser Zeit kommt es fast alljährlich zu Hochwasserereignissen. In den Monaten November bis Juni liegen dagegen weite Teile der bis zu drei Kilometer breiten und insgesamt fast 100 km2 umfassenden Flussaue trocken und werden überwiegend landwirtschaftlich genutzt. Dichtes Schilfgras entlang der Uferbereiche und auf den Flussinseln bietet zudem Lebens- und Rückzugsräume für eine Vielzahl von Vogelarten, Schlangen, aber auch größeren Landsäugetieren (u.a. Nilgauantilopen). Die ökologisch sensible Flussaue ist einer der letzten naturnahen Räume in der Megastadt. Das dynamische Wachstum Delhis hatte jedoch auch hier Auswirkungen. Die Einleitung von weitgehend ungeklärten Haushalts- und Industrieabwässern, das Abkippen von Bauschutt und Haushaltsabfällen sowie die jahrzehntelange Aufspülung großer Mengen schwermetall- und arsenhaltiger Flugaschen aus den Kohlekraftwerken entlang der Yamuna haben eine erhebliche Umweltdegradation zur Folge. Hinzu kommen wasserbauliche Eingriffe zur Ableitung des

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Frischwassers für die Bewässerungslandwirtschaft und die Trinkwasserversorgung. Über weite Zeiten des Jahres zeigt sich die Yamuna als tiefschwarzer, stinkender Abwasserkanal. Aufgrund des Überschwemmungsrisikos und der zunehmenden Verschmutzung stellte die Flussaue einen von der formellen Stadtentwicklungsplanung weitgehend unbeachteten Raum dar, in dem sich vor allem Marginalsiedlungen bzw. Slums entwickelten. In der Wahrnehmung der Stadtbevölkerung spielt der Fluss trotz seiner religiösen Bedeutung heute nur eine geringe Rolle (Baviskar, 2011). Das öffentliche Interesse an einer ökologischen Aufwertung ist gering. Die sumpfigen Auenbereiche gelten zudem als Brutstätten für Moskitos, die Krankheiten (u.a. Malaria, Dengue-Fieber, Chikungunya) übertragen. Die Natur der Flussaue wird dementsprechend vordergründig als Gefahr wahrgenommen. Die Debatte um weitere Hochwasserschutzmaßnahmen konzentriert sich deshalb weitestgehend auf baulich-technische Eingriffe in Form von Deichen und Staudämmen. Die Bedeutung der Aue als Retentionsraum und Bereitsteller von Ökosystemdienstleistungen wird zwar von UmweltschützerInnen betont, insgesamt dominiert aber ein modernes Verständnis der Beherrschbarkeit von Natur. Bereits seit den 1970er Jahren wurde eine Kanalisierung der Yamuna und die städtebauliche Entwicklung der riverfront nach westlichem Vorbild diskutiert. Im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung in Indien seit Anfang der 1990er Jahre rückte die Flussaue – insbesondere die dortigen Marginalsiedlungen – dann in den Fokus der Stadtentwicklungspolitik, die zunehmend darauf abzielt, die wirtschaftliche Attraktivität und das Image Delhis zu verbessern, um (ausländische) Investitionen anzulocken (Dupont, 2011). Zum einen betrachten die verantwortlichen Stadtplaner sowie auch private Investoren die Flussaue als verschwendetes Land, zum anderen werden die Marginalsiedlungen von diesen Gruppen als störend wahrgenommen und deren Bewohner als Ursache von Umweltverschmutzung, Kriminalität und Amoralität angesehen (Follmann & Trumpp, 2013). Mehr als 300.000 Menschen lebten nach Schätzungen in Marginalsiedlungen unmittelbar entlang der Yamuna. Mitte der 2000er Jahre kam es dann zum Abriss der Siedlungen und zur Vertreibung bzw. Umsiedlung der Menschen aus der Flussaue, ohne dass es einen verbindlichen Entwicklungsplan für die Uferbereiche gab. Auslöser hierfür waren eine Reihe von Gerichtsurteilen, die den Abriss der Siedlungen mit dem Schutz der Yamuna begründeten. Obwohl bis heute ein Großteil der Abwässer der Megastadt ungeklärt in den Fluss geleitet wird, wurde in den Gerichtsverfahren die Verschmutzung der Aue durch die Bewohner der Marginalsiedlungen (Einleitung von Abwasser, offene Defäkation) als hauptsächliche Begründung angeführt. Eine Unterschutzstellung der Auenbereiche (z.B. als Naturschutzgebiet) erfolgte jedoch nicht. Vielmehr wurde ein Großteil der geräumten Flächen neu bebaut. Heute finden sich dort städtebauliche Großprojekte (z.B. das ehemalige Athletendorf der Commonwealth Games 2010) und Verkehrsinfrastruktur (Stadtautobahn, Rangierbahnhöfe für Delhis U-Bahn). Ausnahmslos wurden diese prestigeträchtigen Projekte entweder gänzlich ohne Umweltverträglichkeitsprüfung oder zumindest im klaren Widerspruch zu bestehenden Umweltgesetzen und Vereinbarungen zum Hochwasserschutz realisiert. Insofern zeigt sich

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im Fall der Räumungen eine Instrumentalisierung des Umwelt- und Naturschutzes mit dem Ziel der Bereitstellung der Flächen für städtebauliche Vorhaben. Staatliche Behörden und Projektentwickler bedienen sich dabei der Rhetorik einer nachhaltigen Stadtentwicklung, um die Realisierung der Großprojekte in der Flussaue als ökologisch unbedenklich zu deklarieren. Die weltstädtischen Pläne für die Uferbereiche sind eng mit Stadtverschönerungsmaßnahmen verknüpft, insbesondere mit der Schaffung und Aufwertung städtischer Grün- und Freiflächen im Sinne der Naherholungsbedürfnisse der Mittel- und Oberschichten. So soll entlang der Yamuna eine durchgehende Uferpromenade entstehen. Es ist geplant, Eintrittsgelder für den Besuch von angelegten Parks zu erheben, was ärmere Bevölkerungsschichten ausschließen würde. Mit aufwendig zu pflegenden Rasenflächen und Blumenbeeten wird „Natur“ landschaftsarchitektonisch „in Wert gesetzt“. Ökologische Aspekte im Sinne einer wirklichen Renaturierung der Auenlandschaft spielen nur eine untergeordnete Rolle. Ausgelöst durch den Protest lokaler UmweltschützerInnen sowie die medial kontrovers diskutierten Großprojekte gilt zwar seit 2007 ein offizielles Bauverbot in der Flussaue, dies ist jedoch auf Grund zahlreicher Ausnahmeregelungen wenig effektiv. Auch ein Flächennutzungsplan, der 2010 verabschiedet wurde, gewährleistet keine langfristige Renaturierung, weil es der zuständigen Stadtentwicklungsbehörde sowohl an personalen Ressourcen als auch an ökologischem Verständnis mangelt. Hinzu kommt eine fehlende Koordination zwischen den Behörden, bedingt durch Macht- und Interessenkonflikte. Aussagen von Architekten und Stadtplanern sowie die Formulierungen in Planungsdokumenten zeugen zudem von einem strikt dichotomen Verständnis von Natur und Kultur (Follmann, 2016). Dies schlägt sich auch in dem Versuch der Planung nieder, Fluss und Stadt räumlich klar voneinander zu trennen. Dem hybriden Charakter der Flussaue, geprägt von dem Zusammenspiel von Mensch und Natur sowie Wasser und Land, kann dies nicht gerecht werden. Wie gezeigt werden sollte, geht die Vision einer sauberen, grünen Weltstadt in Delhi nicht mit einer sozial und ökologisch nachhaltigen Neugestaltung der Uferbereiche der Yamuna einher. Vielmehr sind die jüngeren Veränderungen Ausdruck der politischen Dominanz der neuen Mittelschichten sowie eines zunehmenden wirtschaftlichen Entwicklungsdrucks auf naturnahe „Restflächen“, deren ökologisches Potenzial nur unzureichend Beachtung findet. 5. POTENTIALE FÜR DIE POLITISCHE BILDUNG IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT Die beiden Fallbeispiele zeigen, dass Renaturierung und Naturschutz nicht nur naturwissenschaftlich relevante, sondern auch immanent politische Fragen aufwerfen, die im Kern Aspekte von sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Meinungsbildung betreffen. Ob, wie, in welchem Ausmaß und zu welchen Kosten Natur und Wildnis geschützt und/oder in urbanen Räumen wieder etabliert werden sollen, lässt sich letztlich nur politisch entscheiden. Indem sie Fragen der Um-

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weltbelastung, Umweltzerstörung und der Umweltgerechtigkeit sozialwissenschaftlich konzeptualisiert, liefert die Politische Ökologie einen auch für die Schule geeigneten Analyserahmen für Fragen um Mensch und Natur. Für die Politische Bildung im Geographieunterricht ergeben sich aus der Politischen Ökologie vielfältige Anknüpfungspunkte. Zum einen kann damit der vordergründige Dualismus von Natur und Kultur kritisch reflektiert werden, zum anderen können SchülerInnen für die politische Dimension sowohl negativer (z.B. Verschmutzung) als auch positiver (z.B. Renaturierung) urbaner Umweltveränderungen und ihrer sozialen Folgen sensibilisiert werden. Der Vergleich der beiden recht unterschiedlichen Beispiele aus Deutschland und Indien zeigt, dass die jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse einen wesentlichen Einfluss auf Naturzustände, politische Verhandlungsergebnisse und Nutzungskonflikte haben. Eine politische Instrumentalisierung des Naturschutzes – wie am Beispiel der Yamuna-Aue gezeigt – kann mit dem Instrumentarium der Politischen Ökologie aufgedeckt werden. Dies gilt auch für die immanenten Widersprüche, die Fragen des Naturschutzes (auch in seiner aktuellen Form als Prozessschutz) begleiten. Wird Natur als „Natur ohne Menschen“ gesehen und geschützt oder wird der „Mensch als Teil der Natur“ betrachtet? Wie das Beispiel der Renaturierung am Alten Rhein zeigt, wird Wildnis einerseits als etwas vom Menschen Unberührtes gesehen, andererseits befürworten die Menschen mehr Wildnis aber vor allem dann, wenn sie für alle zugänglich und zumindest für Erholungszwecke nutzbar ist. Die Vorstellung eines hybriden Charakters von Natur in der Stadt schärft auch den Blick dafür, wo, wie und in welcher Vielfalt Natur und Wildnis in dicht besiedelten Räumen heute vorkommen (vgl. Kowarik, 2015). Im Schulunterricht lassen sich renaturierungs- und naturschutzbezogene Fragestellungen im Globalen Süden mit geeigneten Materialien bearbeiten (Fotos, Karten, Presseartikel usw.). Im Nahraum sind auch eigene systematische Beobachtungen und kleine Projektarbeiten möglich. Größere und kleinere Renaturierungsprojekte finden sich überall in Deutschland. Umfangreiche empirische Untersuchungen sind im Rahmen des Schulunterrichts sicher nicht möglich, aber Zählungen, systematisierte Beobachtungen, kleinere (qualitative) Befragungen oder eine Analyse der lokalen Presseberichterstattung lassen sich relativ einfach verwirklichen. Hierbei lässt sich nicht nur das Argumentieren im Kontext raumbezogener Fragestellungen einüben, sondern es können zugleich auch Ziele der Umweltbildung bzw. der Bildung für nachhaltige Entwicklung erreicht werden. Wünschenswert ist in diesem Zusammenhang auch eine Kombination mit eher naturwissenschaftlichen Kenntnissen und Methoden, entweder im Rahmen der Physischen Geographie oder auch anderer Fächer wie Biologie oder Chemie. Um entsprechende integrative Unterrichtskonzepte zu fördern, wurde beispielsweise von der Universität zu Köln in Zusammenarbeit mit dem zuständigen Kommunalen Zweckverband und den umliegenden Schulen ein Lernlabor am renaturierten Pulheimer Bach aufgebaut (http://lernstandort-puba.uni-koeln.de). Hier wird, eingebettet in ein Konzept des „Grünen Klassenzimmers“, in Zusammenarbeit der Schulfächer Geographie, Biologie, Chemie und Physik sowie in Kooperation zwi-

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schen Universität und Schulen forschend-entdeckendes Lernen mit natur- und sozialwissenschaftlichen Methoden eingeübt und weiterentwickelt. 6. FAZIT Die Diskussion der gesellschaftlichen Rolle von Natur und Umwelt in städtischen Räumen erscheint als ertragreiches „Untersuchungsobjekt“ für Schülerinnen und Schüler, weil damit zukunftsrelevante Themen differenziert angesprochen werden können. Die Erkenntnisse und Heuristiken der Politischen Ökologie können dabei helfen, gesellschaftliche Aushandlungsprozesse um Umwelt und Natur besser zu erkennen und zu verstehen. Die Erkenntnis, dass Natur auch in der Stadt in vielfältigen Formen auftreten kann und diese in Bezug auf Nutzungs- und Zugangsrechte oftmals stark umkämpft ist, kann dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler ein verstärktes Interesse an demokratischen Prozessen der Entscheidungsfindung auf lokaler Ebene entwickeln. Das Politische im Rahmen des Geographieunterrichts zeigt sich eben nicht nur in den großen und von den Medien vielbeachteten geopolitischen und militärischen Konflikten, sondern vor allem auch in lokalen und damit unmittelbarer erfahrbaren Aushandlungsprozessen. Urbane Umweltveränderungen sowie deren Ursachen und Folgen sind gerade deshalb ein geeignetes Themenfeld der Politischen Bildung in der Schule, weil sie in der Regel direkt vor der Haus- bzw. Schultür beobachtbar sind. LITERATUR Baviskar, A. (2011). What the Eye Does Not See: The Yamuna in the Imagination of Delhi. Economic and Political Weekly, 46 (50), 45‒53. Beckers, B., Boomers, J., Bunzel-Drüke, M., Krüger, T., Mause, R. & Pieren, H. (2014). Prozessschutz in der Arbeit der Biologischen Stationen in NRW. Natur in NRW, 2014 (1), 15‒19. Braun, B. (2015). Natur in der Großstadt. Die Bewertung der Deichöffnung am Urdenbacher Altrhein durch die Bevölkerung. www.biostation-d-me.de/fileadmin/media/dokumente/ Vortrag_Naturkundemuseum_gekuerzt.pdf [08.01.2016]. Braun, B. & Shoeb, A.Z.M. (2011). Ecological rehabilitation and public participation: general considerations and empirical evidence from a creek rehabilitation scheme near Cologne, Germany. Journal of Life and Earth Science, 6, 1‒11. Bryant, R.L. & Bailey, S. (1997). Third World Political Ecology. London: Routledge. Dupont, V.D.N. (2011). The Dream of Delhi as a Global City. International Journal of Urban and Regional Research, 35 (3), 533‒554. Follmann, A. (2016). Governing Riverscapes. Urban Environmental Change along the River Yamuna in Delhi, India. Stuttgart: Steiner. Follmann, A. & Trumpp, T. (2013). Armutsbekämpfung oder Bekämpfung der Armen. Weltstadtvisionen und Slum-Räumungen in Delhi. Geographische Rundschau, 65 (10), 4‒11. Kowarik, I. (2015). Wildnis im urbanen Raum. Erscheinungsformen, Chancen und Herausforderungen. Natur und Landschaft, 90 (9/10), 470‒474. Kraas, F. & Butsch, C. (2014). Naturverlust in den Megastädten Asiens. In H. Leitschuh, G. Michelsen, U.E. Simonis, J. Sommer & E.U. Weizsäcker (Hrsg.), Jahrbuch Ökologie. ReNaturierung (S. 180‒187). Stuttgart: Hirzel.

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SICHERHEIT, KRIMINALITÄT UND RAUM Überlegungen zu politischen (bildenden) Potenzialen räumlicher Präventionspraktiken im Geographieunterricht1 Manfred Rolfes 1. GEOGRAPHIE ALS POLITISCH BILDENDES FACH Dieser Beitrag beleuchtet ausgewählte Themenfelder der humangeographischen Sicherheits- und Kriminalitätsforschung in Bezug auf deren politisch bildende Potenziale für den Geographieunterricht. Ich konzentriere mich hier auf raumbezogene Präventionspraktiken: Sie sind alltagsweltlich leicht zugänglich, und gleichzeitig kann daran sehr gut das Ineinandergreifen räumlicher und sozialer Praxen verdeutlich werden. Zuvor sind jedoch noch einige systematisierende Überlegungen zu den Begriffen ‚Politik‘ und ‚Politische Bildung‘ nötig: Zum ersten ist zu präzisieren, was eigentlich unter Politik, politischem Handeln oder politischer Kommunikation verstanden werden kann. Zur Bestimmung des ‚Politischen‘ thematisieren die Vertreter(innen) der Fachdidaktik Geographie unterschiedliche Ansatzpunkte; die Politische Geographie u.a. liefert ihnen dabei hilfreiche Orientierungen (vgl. Vielhaber, 2006, S. 342, 345; Sitte, 2014, S. 30ff.). Die in der fachdidaktischen Debatte diskutieren Zugänge erweisen sich allerdings für den hier vorliegenden Themenzusammenhang nur partiell als geeignet. Ich nähere mich deshalb dem Politikbegriff aus einer beobachtungs- und systemtheoretisch inspirierten Perspektive. Danach ließe sich zunächst recht simpel formulieren, dass als ‚Politik‘ oder ‚das Politische‘ jenes Handeln, Steuern oder Kommunizieren bezeichnet werden kann, welches als politisch beobachtet und vom Unpolitischen unterschieden wird (vgl. Berghaus, 2004, S. 29f.). Darüber hinaus wird in der Theorie sozialer Systeme ‚Politik‘ als ein selbstreferentielles Funktionssystem konzipiert, welches entlang der Leitdifferenz Machtüberlegenheit/Machtunterlegenheit oder Regierung/Opposition operiert (vgl. Luhmann, 2000, S. 86ff.). Demzufolge ist das Vorhandensein von (Definitions-) Macht und hegemonialem Regierungs-/Steuerungsvermögen für politisches Handeln oder Kommunizieren konstitutiv. Aus diskurstheoretischer Perspektive ist jede Form der Machtausübung eng mit der Durchsetzung von Wissen und Wahrheit verknüpft (vgl. Rolfes, 2015a, S. 45f.). Transferiert man diese nur skizzenhaften Überlegungen auf Gegenstände und Themen der humangeographischen Sicher1

Ich bedanke mich bei Bastian Schulz und Henry Keller für die ideologiekritischen und ideenreichen Rückmeldungen zu diesem Beitrag.

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heits- und Kriminalitätsforschung, so lassen sich diese leicht dem Politischen zuordnen. Schließlich befasst sich diese Forschungsrichtung u.a. mit staatlichen und/oder privatwirtschaftlichen Sicherheits- und Kriminalpolitiken auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen, u.a. mit raumbezogenen Präventionspraktiken (z.B. von der kommunalen Kriminalprävention bis zu den Grenzsicherungspolitiken der Europäischen Union). Bereits die Selbst- und Fremdbeschreibung als Sicherheits- und Kriminalpolitik legt eine Zuordnung zum Politischen nahe. Darüber hinaus verfügen die Akteure staatlicher und auch privatwirtschaftlicher Sicherheitsproduktion über machtvolle Regulierungsweisen (z.B. Gesetze, Strafverfahren, Zwangsmaßnahmen, Gewalt) und Organisationsformen (z.B. Polizei, Gerichtsbarkeit, private Sicherheitsdienste), um politische Entscheidungen um- und durchzusetzen. Das notwendige Wissen, um die politischen Entscheidungen zu legitimieren und zu stützen, liefern u.a. Beobachtungen und Analysen der Phänomene Kriminalität und (Un-)Sicherheit (z.B. Auswertungen der polizeilichen Kriminalstatistik, räumliche Visualisierungen von Kriminalität und Unsicherheit, Evaluationen oder Wirkungskontrollen). Zum Zweiten ist zu klären, was unter einem politisch bildenden Geographieunterricht zu verstehen ist und insbesondere, nach welchen Systematiken die Auswahl politisch bildender Inhalte erfolgen kann. Eine solche Präzisierung ist wichtig, denn schließlich attestiert der fachdidaktische Diskurs dem Unterrichtsfach Geographie per se eine politisch bildende Funktion (vgl. Schramke, 1978, S. 9), die allerdings dem Lehrpersonal häufig nicht bewusst ist (vgl. Vielhaber, 1993, S. 47). Für eine bewusste Auswahl und Aufbereitung politisch bildender Inhalte scheinen mir nach einer kursorischen Rezeption der fachdidaktischen Debatte drei Kriterien von besonderer Bedeutung zu sein. Erstens lässt sich die Forderung ableiten, dass die Unterrichtsgegenstände die konkrete Erfahrungs- und Lebenswelt der Schüler(innen) betreffen sollten (vgl. Schramke, 1978, S. 35f.; Vielhaber, 2006, S. 336ff.). Zweitens müssen die auszuwählenden Inhalte vertiefte Einblicke in die Komplexität gesellschaftlicher und politischer Handlungskontexte ermöglichen (vgl. Vielhaber, 2006, S. 338; Schramke, 1978, S. 33f.); dabei steht weniger das Vermitteln umfassender Fachkenntnisse im Vordergrund als vielmehr ein emphatisches Verstehen, analytisches Erkennen, kritisches Abwägen und letztlich – und damit drittens – ein mehrperspektivisches Dekonstruieren von Konflikt- und Kompromisslinien, Macht- und Herrschaftsbeziehungen und Interessenlagen (vgl. Vielhaber, 1993, S. 49; Schramke, 1999, S. 92ff.). Es geht bei der Dekonstruktion von Unterrichtsgegenständen darum, durch Perspektivenwechsel, durch Enttarnen subjektiver Wirklichkeiten die Komplexität hinter scheinbaren Eindeutigkeiten herauszuarbeiten. Dekonstruktion beinhaltet […] das Verstören scheinbarer Sicherheiten, die Frage nach den Motiven für Konstruktionen, das Sichtbarmachen von Verborgenem, Relativierung inhaltlicher Ordnungen, Vermeidung von linearem Denken, Multiperspektivität in Zeit, Raum und Rollen. (Sitte 2014: 29)

Pointiert ausgedrückt: Es soll ein (gesellschafts-)kritischer Blick etabliert werden. Nach diesen Ausführungen liegen nun hinreichend Ansatzpunkte vor, um ausgewählte Untersuchungsfelder einer humangeographischen Sicherheits- und Krimi-

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nalitätsforschung ‒ vornehmlich die räumlichen Präventionspraktiken ‒ im Politischen zu verorten und ihren Politikcharakter zu präzisieren (vgl. Abschn. 2). Darauf basierend werden dann Hinweise für die Auswahl politisch bildender Inhalte für den Geographieunterricht diskutiert (vgl. Abschn. 3).

2. SICHERHEIT, KRIMINALITÄT UND RAUM – WISSENSCHAFTLICHE UND POLITISCHE STANDORTBESTIMMUNGEN Das Themenfeld, welches hier bezüglich seines politisch bildenden Charakters abgeklopft werden soll, ist nicht ganz einfach zu umreißen. Geläufige Bezeichnungen wie z.B. Kriminalgeographie, Kritische Kriminalgeographie, Geographien der Gewalt oder Geographien der (Un-)Sicherheit repräsentieren die jeweiligen Untersuchungs- und Handlungsfelder immer nur unscharf. Die Bezeichnung Kriminalgeographie wurde in den 1970er und 1980er Jahren vornehmlich von Vertreter(inne)n der Polizei, der angewandten Kriminologie und der Kriminalistik geprägt und mit Inhalten gefüllt. Die Variable Raum diente hier als nützliche Beschreibungs- und Analysekategorie für Kriminalität und Prävention. Damit verbunden war ein alltagsweltlicher, essentialistischer Raumbegriff (vgl. Rolfes, 2015a, S. 33ff.). Deshalb wird die Bezeichnung Kriminalgeographie hier gemieden. In Abgrenzung zu dieser klassischen Version konzipierten Glasze, Pütz und Rolfes eine Kritische Kriminalgeographie: „Sie beschäftigt sich aus einer konstruktivistischen Perspektive mit der räumlichen Organisation von (Un-)Sicherheit und Kriminalität“ (2005, S. 48). Konkreter setzt sie sich mit der Frage auseinander, „auf welche Weise und mit welchen Wirkungen soziale Phänomene und Problemlagen (wie abweichendes Verhalten, Unsicherheit und Kriminalität) hergestellt und verräumlicht werden“ (Röpcke & Rolfes, 2013, S. 368). Diese Gegenstandsbeschreibung führt das in der Neuen Kulturgeographie etablierte konstruktivistische Paradigma mit, und zwar sowohl im Hinblick auf den Raumbegriff als auch den Kriminalitätsbegriff. Explizit wird mit der Kritischen Kriminalgeographie auch (Un-) Sicherheit und deren Konstruktion als Untersuchungsfeld markiert. Unabhängig davon versuchen Korf und Ossenbrügge (2010), Geographien der (Un-)Sicherheit zu etablieren. Im Fokus stehen dabei Verunsicherungsmechanismen und Sicherungsstrategien (Securization) ‒ häufig auf globaler Ebene ‒, die in der Regel in geopolitische Diskurse eingebunden sind. Die Nähe zu den Critical Geopolitics und der Politischen Geographie wird explizit betont (vgl. Korf & Ossenbrügge, 2010, S. 168ff.; Hagmann, 2010, S. 177f.). Damit zeigt sich im Untersuchungsfeld um Kriminalität, Sicherheit und Raum eine Schwerpunktverlagerung: Das Phänomen (Un-)Sicherheit scheint als Beobachtungsgegenstand zu Lasten des Feldes Kriminalität an konzeptioneller Bedeutung zu verlieren (vgl. Füller & Glasze, 2014, S. 6f.). Denn neben Kriminalität existieren zahlreiche weitere Auslöser von Unsicherheit, beispielsweise Bedrohungen durch den Klimawandel, Flüchtlings- und Migrationsbewegungen und damit korrespondierende Überfremdungsängste, der weltweite Terrorismus, Gent-

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rifizierung, die Finanzkrise, Umwelt- und Naturrisiken, Hungersnöte u.v.a.m. (vgl. Röpcke & Rolfes, 2013, S. 366). Das Handlungs- und Untersuchungsfeld für Forschungsaktivitäten expandiert damit erheblich. Deshalb bevorzuge ich in diesem Beitrag die Bezeichnung humangeographische Sicherheits- und Kriminalitätsforschung (vgl. auch Rolfes, 2015a, S. 174ff.). Während Kriminalität und Kriminalisierung demnach auf vergleichsweise gut identifizier- und abgrenzbare gesellschaftliche Praxen verweisen (z. B. das Ausüben strafbarer Handlungen, das Betroffensein von Straftaten, das Agieren von Polizei, Sicherheitsunternehmen und Gerichten, Kriminal- und Präventionspolitiken), erscheinen die Begriffe Unsicherheit bzw. Versicherheitlichung deutlich unschärfer. (Un-)Sicherheiten treten nämlich nicht nur im Umfeld von Kriminalität und Kriminalisierungen auf, sondern kommen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen vor. Damit stellt sich für eine humangeographische Sicherheitsund Kriminalitätsforschung die Aufgabe, theoretisch-konzeptionelle Überlegungen zum (Un-)Sicherheitsbegriff anzustellen. Diese werden hier nur in Grundzügen skizziert. Hilfreiche Ansätze zur Präzisierung des Nexus Sicherheit/Unsicherheit lassen sich finden, wenn Anleihen bei einem systemtheoretischen (Un-)Sicherheits- und Risikobegriff gemacht werden (vgl. Egner & Pott, 2010, S. 9ff.; Rolfes, 2015a, S. 21ff.). Dieser geht von der Maxime aus, dass jede Entscheidung mit Unsicherheiten und Risiken behaftet ist: Es gibt kein risiko-freies Verhalten. […] Man mag kalkulieren, wie man will, und mag in vielen Fällen zu eindeutigen Ergebnissen kommen. Aber das sind nur Entscheidungshilfen. Sie bedeuten nicht, dass man, wenn man überhaupt entscheidet, Risiken vermeiden kann. (Luhmann, 2003, S. 30)

Der Begriff der Unsicherheit wird durch den Begriff des Risikos ersetzt, und Risiken sind bei allen Entscheidungen einzukalkulieren. Ein potenzieller Schaden oder das Entgehen eines Vorteils kann auch bei noch so ausgeklügelter Entscheidungsvorbereitung nicht ausgeschlossen werden. Folgerichtig können auch politische Entscheidungen niemals risikofrei sein, selbst wenn seitens der Politik (oder der Sicherheitsbehörden) mitunter dieser Eindruck erweckt wird. Nun ist evident, dass das Lösen von Problemen zu den zentralen Funktionen von Politik gehört. Die Öffentlichkeit und die Medien beobachten Politik in der Regel unter der Prämisse, wie gut ihr dieses Problemlösen gelingt. Im Handlungsfeld Kriminalität und Unsicherheit hat Politik zahlreiche (Un-)Sicherheitsprobleme zu lösen, z.B. eine steigende oder zu hohe Kriminalität, ein überdurchschnittliches Unsicherheitsempfinden der Bevölkerung, den Schutz vor gewaltbereiten Rechtsextremist(inn)en, Zunahme des Drogenhandels in einem Stadtviertel, wachsende Bedarfe an sicherem oder exklusivem Wohnraum, nonkonformistische Raumaneignungen durch Jugendliche oder Randgruppen. Aus Logik der Politik müssen somit Entscheidungen zur Produktion von Sicherheit getroffen werden, um Risiken und die daraus resultierenden potenziellen Schäden zu minimieren oder zu vermeiden.

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Diese Sicherheitsproduktion kann z.B. in Form von räumlichen Präventionspraktiken geschehen. Sie stehen in diesem Beitrag im Fokus. Darunter sind repressive Maßnahmen und Präventionsentscheidungen zu verstehen, die über räumliche Zugänge umgesetzt werden oder mit räumlichen Zuschreibungen operieren, wie z.B. das Aufstellen von Videokameras an stark frequentierten Orten, verschärfte Personenkontrollen in Parks, Betretungs- oder Hausverbote für spezifische Personengruppen, städtebauliche Maßnahmen zur Erhöhung der sozialen Kontrolle oder Investitionen in die kommunale Kriminalprävention. Kriminalund Sicherheitspolitik versucht mit solchen räumlichen Praktiken, Risiken in Sicherheit zu transformieren. Sie bedient sich dabei der staatlichen Administration und Organe (z.B. Polizei, Staatsanwaltschaft, Kommunalverwaltungen, Justizvollzugsanstalten), mitunter aber auch privater Sicherheitsunternehmen (z.B. bei Personenkontrollen oder Ordnungsdiensten). Vor diesem Hintergrund bezeichnet beispielsweise Schreiber die Kommunale Kriminalprävention als ein kommunales Risikomanagement (2011a, S. 57): Die politisch Verantwortlichen installieren auf der Gemeinde- oder Stadtteilebene ein kommunales Präventionskonzept, in dessen Rahmen zielgenaue Interventionen geplant und umgesetzt werden (z.B. Einrichtung von Videoüberwachungen, Aktionsgruppen gegen die offene Drogenszene, Selbstbehauptungskurse für Mädchen, innerstädtischer Streifen- oder Ordnungsdienst, Einstellung eines kommunalen Präventionsbeauftragen, Einrichtung einer kommunalen Lenkungsgruppe Prävention). Die Phänomene Kriminalität und Unsicherheit und damit verbundenen Risiken werden durch diese politischen Entscheidungen als vermeintlich beherrschbar(er) wahrgenommen. 3. RÄUMLICHE PRÄVENTION ALS POLITISCHE PRAXIS UND IHRE POLITISCH BILDENDE DEKONSTRUKTION Nun wäre eine im Geographieunterricht vermittelte Erkenntnis, dass Politik durch repressive oder präventive Entscheidungen versucht, Risiken in Sicherheit zu transformieren, hinsichtlich ihres politisch bildenden und gesellschaftskritischen Charakters wenig spektakulär. Die sicherheits- oder präventionspolitischen Entscheidungen erscheinen auf den ersten Blick logisch und plausibel: Eine Videoüberwachung gefährlicher Orte wird veranlasst, um die Zahl der Straftaten zu reduzieren. Die Polizei fährt in sogenannten Drogenvierteln häufiger Streife, um Drogendelikte zu verhindern. Die Präventionsarbeit wird dezentralisiert, weil die Akteur(inn)e(n) vor Ort besser Bescheid wissen, was gegen die Unsicherheit zu tun ist usw. Ein politisch bildender Unterricht soll aber gerade einen kritischen Blick etablieren, der hinter die Kulissen dieser plausibel erscheinenden Kausalitäten schaut. Es soll hinterfragt werden, was auf den ersten Blick, was aus der Perspektive eines Beobachters erster Ordnung (vgl. Rolfes, 2015b, S. 149f.) logisch erscheint. Folgt man den fachdidaktischen Überlegungen (vgl. Abschn. 1), so sollte ein politisch bildender Geographieunterricht, in dem Kritikfähigkeit geschult wird, erstens die Erfahrungswelt der Schüler(innen) betreffen, zweitens Einblicke in die

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Komplexität (sicherheits- und kriminal-)politischer Handlungsfelder ermöglichen und drittens diese politischen Entscheidungen (und ihre Macht- und Herrschaftskonstellationen) dekonstruieren. Ein politisch bildendes Beobachten von räumlicher Präventionspolitik bzw. -praxis muss also in Bezug auf diese drei Aspekte präzisiert und ausdifferenziert werden. 3.1 Räumliche Präventionspraktiken als Gegenstände der Erfahrungswelt von Schüler(inne)n Im Feld der räumlichen Präventionspraktiken geeignete Situationen zu finden, die Bestandteil der Erfahrungs- oder Lebenswelt von Schüler(inne)n oder von Jugendlichen sind, bereitet keine Schwierigkeiten. Einerseits sind die jugendlichen Schüler(innen) oft selbst Beobachtete und Zielgruppe räumlicher Präventionspraktiken. Beispielsweise gibt es Nutzungseinschränkungen für Jugendliche auf öffentlichen Plätzen (z.B. im Hinblick auf Alkoholkonsum, sportliche Aktivitäten, Musikhören); es erfolgt eine Videoüberwachung von Orten, an denen sich Jugendliche häufig aufhalten (z.B. Verkehrsmittel, möglicherweise der eigene Schulhof); es existieren Orte, deren Betreten für Jugendliche bis zu einem bestimmten Alter ohne Aufsicht verboten ist (z.B. Spielbanken, Clubs, Bordelle); beim Betreten von Großveranstaltungen (z.B. Sportereignisse), dem Besuch von Konzerten oder in ausgewiesenen Sicherheitszonen (z.B. Flughäfen, Regierungsgebäude) werden Personen- und Taschenkontrollen durchgeführt. Andererseits können die Schüler(innen) aber auch innerhalb ihres alltäglichen und sozialen Umfelds mit Präventionspraxen oder sogenannten Sicherheitsrisiken konfrontiert sein oder diese beobachten: beispielsweise Diskussionen im Freundes- oder Familienkreis oder den Medien über geeignete politische Maßnahmen gegen „kriminelle Ausländer(innen)“ oder „gefährliche Rechtsextremist(inn)en“; öffentliche Diskurse über den Umgang mit stigmatisierten oder sozial benachteiligten Stadtteilen. Es dürfte also keine Mühe bereiten, dem ersten Kriterium – die Erfahrungs/Lebenswelt der Schüler(innen) im Unterricht zu berücksichtigen – gerecht zu werden. 3.2 Zur Komplexität räumlicher Präventionspolitiken Wie kann man sich nun der zweiten Anforderung an einen politisch bildenden Geographieunterricht nähern, die Komplexität von politischen Präventionsentscheidungen herauszustellen? Wir greifen dazu auf die bereits oben geäußerte Annahme zurück, dass jede Entscheidung mit Risiken verbunden ist; das gilt somit auch für die repressiven und präventiven Entscheidungen der Politik, Sicherheit zu produzieren. Es wurde bereits argumentiert, dass die Annahme, durch ‚korrekte‘ Entscheidungen ließen sich Risiken in Sicherheit überführen, eine Leerformel ist (vgl. Luhmann, 2003, S. 28f.; Zehetmair, 2012, S. 83ff.). Alle Entscheidungen, auch die, die nach einer Risiko- oder Schadensminimierung oder gar -

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vermeidung streben, haben wiederum Folgen, die nicht restlos abschätzbar sind. So kann der Abbau von Risiken für die eine Gruppe die Erhöhung von Risiken für andere Gruppen nach sich ziehen. Dies gilt ohne Ausnahme auch für politische Entscheidungen. Entscheidungen, die Risiken in Sicherheit zu transformieren hoffen, schaffen keine absolute Sicherheit, sondern immer auch neue Unsicherheiten und mitunter auch neue Betroffenengruppen. Für die politischen Entscheider(innen) sowie die sie beobachtende Bevölkerung oder Medienöffentlichkeit ist der Leerformelcharakter der Differenz Risiko/Sicherheit mitunter aber nicht präsent. Sie unterliegen dann einer „Illusion of Control“, also der Vermutung, die Sache „im Griff zu haben“. Dies wiederum mag dann sogar zu einer erhöhten Risikobereitschaft führen. Um diese Gedankengänge an einem Fallbeispiel zu verdeutlichen: So kann ein stark repressives und präventives Vorgehen gegen Rechtsextremist(inn)en und deren Aktivitäten (z.B. Empowerment der lokalen Zivilgesellschaft, Aufklärungskampagnen, häufige Hausdurchsuchungen bei Rechtsextremist(inn)en, Aussprechen von Platzverweisen, Verbot von Konzerten, Razzien der Polizei) zweifellos dazu führen, dass deren öffentliches Auftreten und die messbaren gesetzwidrigen Aktivitäten signifikant zurückgehen. Das Risiko scheint gebannt, die Sicherheit vor Rechtsextremismus deutlich erhöht. Im Nachgang zeigt sich aber nun, dass die rechtsextremen Akteur(inn)e(n) ihre Strategien ändern und ihre politischen Ziele sehr viel subtiler und gesetzestreuer durchzusetzen versuchen, z. B. durch Nutzung sozialer Medien, Unterwanderung von (Sport-)Vereinen, durch gezielte Ansprache von und Hilfsangebote für Personen oder Familien in prekären Lebensverhältnissen (vgl. Staud, 2007, S. 132ff.). Der Versuch, die Risiken des Auftretens rechtsextremer Umtriebe zu verringern, kann neue Betroffenengruppen erzeugen und neue Risiken schaffen. Mit dem Sichtbarmachen der risikoproduzierenden Wirkungen von vermeintlich risikoreduzierenden Entscheidungen kann die Komplexität politischen Handelns sehr gut herausgearbeitet werden. Bereits die Frage danach, wer von einer politischen Entscheidung profitiert und wer danach größere Risiken oder gar Nachteile zu tragen hat, bietet Potenzial für eine Fülle von Hypothesen. Eine diesbezügliche systematische und mehrperspektivische Analyse wird zweifellos die Vielschichtigkeit politischer Prozesse offenlegen. Sie kann auch bereits Teil des Dekonstruierens sein. 3.3 Dekonstruktion raumbezogener Präventions- und Sicherheitspolitiken Die dritte, sehr anspruchsvolle Anforderung an einen politisch bildenden Geographieunterricht beinhaltet die Dekonstruktion eines politischen Entscheidungs- und Handlungskontextes und der damit verwobenen Herrschafts- und Machtstrukturen. Die Perspektive einer Beobachtung erster Ordnung gilt es zu verlassen und die einer Beobachtung zweiter Ordnung einzunehmen (vgl. Rolfes, 2015b, S. 149f.). Gerade solchen Dekonstruktionen haben sich die Vertreter(innen) der Kritischen Kriminalgeographie sowie viele Arbeiten der humangeographischen Si-

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cherheits- und Kriminalitätsforschung intensiv gewidmet. Hintergrund war, „dass viele der neuen Sicherheitspolitiken, die von der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft etabliert werden, einen territorialen Ansatz verfolgen, um ‚sichere Räume‘ zu schaffen“ (Glasze et al., 2005, S. 13). Zu diesen raumbezogenen Sicherheits- und Präventionspolitiken zählen insbesondere eine Kommunalisierung und Dezentralisierung der Präventionsarbeit, die mit einer starken Orientierung auf die Stadtteilebene einhergeht. Hinzu kommt der verstärkte Einsatz räumlicher Überwachungsstrategien, die auf eine Erhöhung sozialer Kontrolle abzielen, sowie urbane Sicherheitsproduktionen durch raumbezogene Betretungsverbote/Platzverweise für bestimmte Personengruppen und Nutzungen, räumliche Ausgrenzungen unerwünschter Personen in der Folge von Privatisierungen (z.B. durch Hausordnungen in Shoppings Malls) oder Einhegungen durch die Entstehung von physisch und symbolisch geschlossenen Wohnkomplexen (z.B. Gated Communities) (vgl. Glasze et al., 2005, S. 15; Rolfes, 2015a, S. 85ff.; 122ff.). In der humangeographischen und (kriminal-)soziologischen Sicherheits- und Kriminalitätsforschung werden diese räumlichen Präventions- und Kontrollpolitiken in übergeordnete Machtdiskurse und Politik-/Organisationslogiken eingeordnet und aus dieser Perspektive dekonstruiert (vgl. nachfolgend auch Röpcke & Rolfes, 2013, S. 368f.). So wird argumentiert, dass die raumbezogenen Präventionspraktiken nicht mehr in erster Linie das Ziel verfolgen, Menschen mit abweichendem Verhalten in die Gesellschaft sozial und ökonomisch zu (re-)integrieren. Vielmehr dienen ‒ einer neoliberalen und marktorientierten Politik folgend ‒ die räumlichen Präventionspraktiken und Kontrollmechanismen dazu, von der Norm abweichende Personen oder Gruppen über räumlich operierende Selektionsprinzipien zu identifizieren und deren Verhaltensweisen zu sanktionieren oder zumindest zu verdrängen. Vor allem in repräsentativen und städtetouristisch wertvollen Stadträumen (z.B. Innenstädte, Einkaufspassagen, Kulturstandorte, Bahnhöfe) kommen staatlich und privatwirtschaftlich organisierte Kontrollmechanismen zum Einsatz. Sozioökonomische oder politische Ausgrenzungen sind die Folge (vgl. Schreiber, 2011a, S. 42; Eick, Sambale & Töpfer, 2007, 9ff.; Belina, 2005, S. 161f.), soziale Benachteiligungen, Armut und Irritationen (z.B. durch Obdachlose) werden tendenziell verdeckt. Die im Dienste räumlicher Präventionspraktiken etablierten Kontrollen, Ge- und Verbote schränken dabei nicht nur die bürgerlichen Freiheitsrechte immer stärker ein, sondern spielen auch eine wesentliche Rolle bei der neoliberalen Neuordnung und Versicherheitlichung des öffentlichen wie privaten Raumes (vgl. Mullis, 2011, S. 14ff.; Kolbe 2005, S. 16; Trojanow & Zeh, 2009). Sie lassen sich daher auch als Indikatoren für einen Rückbau des Wohlfahrtsstaates und dessen sozialer Sicherungssysteme lesen und dekonstruieren; dies geht einher mit einer Individualisierung von Risiken, z.B. einer steigenden Eigenverantwortung in persönlichen sozioökonomischen Krisenlagen (vgl. Schreiber, 2011b, S. 38f.). Bereits das räumliche Beobachten von Kriminalität und Unsicherheit in Form von Crime Mapping und Kriminalitätskartierungen legt dafür ein Grundstein und kann entsprechend dekonstruiert werden. Denn die Visualisierung in Form von Karten basiert auf Abstraktionen von Kriminalität, die diese Kriminalität schein-

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bar objektiviert. Durch Statistiken und Karten wird die abstrahierte Kriminalität „wahr“ gemacht (vgl. Belina, 2009, S. 192) und zur Orientierung und Legitimation für räumliche Präventionspraktiken genutzt (zu weiteren Risiken des räumlichen Blicks vgl. Mohring, Pott & Rolfes, 2010, S. 163ff.). 4. HERAUSFORDERUNGEN Das Dekonstruieren stellt eine große Herausforderung für einen politisch bildenden Geographieunterricht dar. Zunächst müssen die Geographielehrer(innen) selbst bereit sein, sich auf diese komplexe und anspruchsvolle Thematik einzulassen. Dies beinhaltet zum einen die grundsätzliche Bereitschaft und den Mut, einen gesellschafts- und ideologiekritischen Unterricht durchzuführen und dekonstruierende Reflexionen anzuleiten. Zum Zweiten bedarf es eines guten fachlichen Sachverstandes und einer hohen Sensibilität für raum- und sozialkonstruktivistische Ansätze und Erkenntnisse (vgl. dazu Rolfes & Uhlenwinkel, 2013, S. 358ff.). Fachwissenschaft und Fachdidaktik Geographie sind hier in der Pflicht, entsprechende Beiträge auszuarbeiten und in niedrigschwelliger Form bereitzustellen (vgl. Vielhaber, 2006, S. 339). Ein politisch bildender Geographieunterricht, der beispielsweise räumliche Präventionspolitiken in Bezug auf ihre neoliberalen Hintergründe zu dekonstruieren sucht, muss sehr gut vorbereitet werden. Die Erfahrungen der Schüler(innen) können zweifellos zu einem gelingenden Unterricht beitragen, beispielsweise wenn sie bereits ‚Opfer‘ räumlicher Ausgrenzungen und Kontrollen geworden sind. Erste aufschließende Fragen können dabei u.a. sein: Für wen stellen wir eigentlich ein potenzielles Sicherheitsrisiko dar? Wer hat warum welche Interessen, uns räumlich auszugrenzen oder zu kontrollieren? Wer hat einen Gewinn, wenn wir uns an den Orten nicht oder diszipliniert aufhalten? Welche Gruppen werden durch die räumlichen Präventionsstrategien ebenfalls ausgegrenzt? Der Schritt, hinter den räumlichen Präventionspraktiken und Ausgrenzungen eine neoliberale Stadtpolitik oder eine neoliberal-marktwirtschaftliche Logik zu identifizieren, ist zweifelsohne nicht leicht. Schnell können ideologische Simplifizierungen und anti-kapitalistische Verschwörungstheorien im Unterricht auftauchen, die dann wieder bearbeitet, eingeordnet und relativiert werden müssen. Auch bedarf es eines besonderen Geschicks, den Transfer von der lokalen Ebene auf die globalen Diskurse und geopolitischen Mechanismen zu bewerkstelligen und beispielsweise europäische Grenz- und Kontrollregime zu dekonstruieren. Es ist ebenfalls eine Herausforderung, die Schüler(innen) in einem politisch bildenden Geographieunterricht mit Inhalten zu konfrontieren, die sie zunächst vor allem irritieren oder nicht eindeutig sind. So werden Aussagen und Sichtweisen staatlicher Autoritäten (wie Polizei, Ordnungsamt, Politiker(innen)) in Frage gestellt. Statt in Geographieunterricht und Schule ‚Wahrheiten‘ zu vermitteln, werden die Schüler(innen) mit dekonstruierenden Relativierungen konfrontiert, die bisher Logisches und Unhinterfragtes in Zweifel ziehen. Und schließlich kommt hinzu, dass Hinterfragen und Dekonstruieren nicht bei allen geographi-

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schen Inhalten als opportun gilt: beispielsweise in Bezug auf die Ursachen und Folgen des Klimawandels oder einer Bildung für nachhaltigen Entwicklung. Führen wir diesen Gedanken konsequent zu Ende, stellt sich letztendlich die Frage, ob ein dekonstruierender, politisch bildender Geographieunterricht im derzeitigen Schulsystem nicht ein Paradoxon darstellt. Denn zweifellos lassen sich Bildungssystem und Schule als Einrichtungen verstehen, die selbst einer neoliberalen Logik unterliegen und diese reproduzieren (vgl. Dammer, 2015, S. 107ff.). Auch Schulen werden eingebunden „in einen strategischen Komplex, der darauf zielt, Herrschaftsverhältnisse auf der Grundlage einer neuen, neoliberalen Topographie des Sozialen zu recodieren“ (Pongratz, 2004, S. 250). Denn im Zuge der Bildungsreform haben konkurrenz- und wettbewerbsorientierte Prinzipien, die u.a. über die zunehmende Nutzung von Vermessungs- und Kontrollinstrumenten (wie PISA, Schulvergleiche, Evaluationen) oder die wachsende Dominanz leistungsbelohnender Instrumente (wie Schulpreise, leistungsabhängige Förderungen für Schulen) gesteuert und befeuert werden, in den Schulen längst Einzug gehalten. Damit ist verbunden, dass Schüler(innen) zu Selbstmanager(inne)n ihrer (Berufs)Kompetenzen werden. Schulen vermitteln statt Bildung kunden- und subjektorientierte Qualifizierungs- und Anpassungsstrategien; und Bildung, Wissen und Kompetenzen mutieren zu individuellen, marktfähigen Ressourcen im Wettbewerb um Studien- und Arbeitsplätze (vgl. Pongratz, 2008, S. 29ff.). Wenn aber im Schulsystem Prinzipien im Vordergrund stehen, bei denen es um die (Re-)Produktion marktfähiger Individuen geht, dann muss die Frage gestellt werden, inwieweit dies mit einem politisch bildenden Geographieunterricht vereinbar ist, der die Vermittlung von Solidarität und Toleranz anstrebt oder gar eine ideologiekritische Dekonstruktion neoliberaler Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Denn der Transfer von einer ideologiekritischen Dekonstruktion räumlicher Präventionspraktiken zu einer gesellschaftskritischen Reflexion und Dekonstruktion von Zielsetzungen der jüngsten Bildungs- und Studienreform könnte recht klein sein; insbesondere wenn der politisch bildende Geographieunterricht gut gemacht wird. LITERATUR Belina, B. (2005). Räumliche Strategien kommunaler Kriminalpolitik in Ideologie und Praxis. In G. Glasze, R. Pütz, & M. Rolfes (Hrsg.), Diskurs – Stadt – Kriminalität. Städtische (Un-) Sicherheiten aus der Perspektive von Stadtforschung und Kritischer Kriminalgeographie (S. 137‒166). Bielefeld: Transcript. Belina, B. (2009). Kriminalitätskartierung – Produkt und Mittel neoliberalen Regierens, oder: Wenn falsche Abstraktionen durch die Macht der Karte praktisch wahr gemacht werden. Geographische Zeitschrift, 97 (4), 192–212. Berghaus, M. (2004). Luhmann leicht gemacht. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. Dammer, K.-H. (2015). Vermessene Bildungsforschung: Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Egner, H. & Pott, A. (2010). Risiko und Raum. Das Angebot der Beobachtungstheorie. In H. Egner, & A. Pott (Hrsg.), Geographische Risikoforschung. Zur Konstruktion verräumlichter Risiken und Sicherheiten (S. 9‒31). Stuttgart: Franz Steiner.

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ZUR VERSCHRÄNKUNG GESELLSCHAFTLICHER RAUMKONSTRUKTIONEN UND TERRITORIALER KONFLIKTE AM BEISPIEL ZYPERN Anke Strüver Es gibt verschiedene Gründe, die Insel Zypern im Erdkundeunterricht zu berücksichtigen: Lehrpläne sehen die Behandlung von Staaten in exponierter Lage, von Konflikträumen, z.B. Räumen mit ethnischen Problemen, von Räumen längerwährender Aktualität, von EUBeitrittsstaaten und von Tourismuszentren vor. Bei keinem der angesprochenen Themenbereiche entzieht sich Zypern einer Zuordnung, wobei auch nicht übersehen werden sollte, dass Inseln dank klarer Begrenzung und Überschaubarkeit als besonders behandlungsfreundlich gelten können. Die exponierte Lage besteht gegenüber drei Erdteilen, der griechisch-türkische Konflikt schwelt seit Jahrzehnten, die Teilung der Insel sichert anhaltende Aktualität, der angestrebte EU-Beitritt fördert zusätzliches Interesse, die wachsende Rolle im Tourismus wird immer deutlicher. (Börsch, 2002, S. 22)

1. EINLEITUNG Dieses Eingangszitat lenkt die Aufmerksamkeit auf den Stellenwert, den der Konfliktraum Zypern als Bestandteil von Politischer Bildung und in der (politisch-)geographischen Schulbildung einnehmen kann. Während Politische Bildung in Deutschland im Allgemeinen und in der Schule im Besonderen über die Publikationen der Bundeszentrale für Politische Bildung (bspw. „Aus Politik und Zeitgeschichte“, „Informationen zur Politischen Bildung“) kontinuierlich angeboten wird, hatte die Politische Geographie als fachwissenschaftliche Teildisziplin seit Ende des Zweiten Weltkrieges einen marginalen Stellenwert, der sich erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu ändern begann (vgl. Reuber, 2012, S. 87ff.). In den DGfG-Bildungsstandards wird im Bereich des Fachwissens mittlerweile die Fähigkeit betont, „die realen Folgen sozialer und politischer Raumkonstruktionen“ erläutern zu können (DGfG, 2014, S. 15; beide Hervorh. A.S.). An dieser Formulierung setzt dieses Kapitel an, um das Verhältnis von „Realität“ und gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen aus der Perspektive einer poststrukturalistisch-informierten Politischen Geographie zu erörtern und ihre Potentiale für die Politische Bildung im Geographieunterricht zu reflektieren. Illustriert wird es am Beispiel der Grenze auf Zypern und der geteilten Hautstadt Nikosia/Lefkoşa.

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2. POLITISCHE BILDUNG UND POSTSTRUKTURALISTISCHE POLITISCHE GEOGRAPHIE Sitte (2012) betont in seinen Überlegungen zum Verhältnis von Politischer Bildung und Geographieunterricht, dass vermeintlich objektive Raumbeschreibungen niemals unpolitisch sind, sondern durch länderabhängige Lehrpläne und Regierungen normiert, aber auch von den inhaltlichen wie didaktischen Präferenzen der Lehrenden abhängig sind. (De-)Konstruktivistische Methoden im Geographieunterricht (vgl. bspw. Coen, Hoffmann, Rohwer, Schuler & Vankan, 2013) erleichtern daher ein Verständnis von Gesellschaft und Raum, indem machtgeladene Interessens- und Raumkonflikte aus unterschiedlichen Perspektiven erörtert werden können. Dekonstruktion beinhaltet […] das Verstören scheinbarer Sicherheiten, die Frage nach den Motiven für Konstruktionen, das Sichtbarmachen von Verborgenem, Relativierung inhaltlicher Ordnungen, Vermeidung von linearem Denken, Multiperspektivität in Zeit, Raum und Rollen. (Sitte, 2012, S. 1)

Eine (de-)konstruktivistische Perspektive als konzeptionelle Grundlage der aktuellen Politischen Geographie, aber auch der Politischen Bildung im Geographieunterricht, umfasst zum einen, Räume als in (inter-)subjektiven Wahrnehmungsprozessen konstruiert zu verstehen. Zum anderen werden Räume (und damit auch Grenzen) als in diskursiven Gesellschaftsprozessen konstituiert erfasst, sodass auch die Frage nach der räumlichen Organisation von Gesellschaftlichem eine bedeutende Rolle spielt. Erweitert wird mit Letzterem das Vorgehen, das auf die Offenlegung subjektiv wahrgenommener Wirklichkeiten abzielt (z.B. in der Tradition des Radikalkonstruktivismus) oder die in der gesellschaftlichen (Inter)Aktion konstruierten Wirklichkeiten untersucht (v.a. in der Tradition des handlungstheoretischen Sozialkonstruktivismus; zusammenfassend für Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf die Geographiedidaktik, siehe Rolfes & Uhlenwinkel, 2013; Sitte, 2012). Eine poststrukturalistische Politische Geographie verschiebt den Fokus stärker auf gesellschaftliche Diskurse und Repräsentationen und konzentriert sich auf die diskursive, z.T. symbolische Konstitution von Räumen und territorialen Grenzen. Räume und Grenzen als gesellschaftskonstituierende Repräsentationen wiederum (re)produzieren raumbezogene Identitäten und Machtverhältnisse. Die aktuelle Politische Geographie konzentriert sich daher auf das Beziehungsgefüge zwischen gesellschaftlicher Raum- und Machtkonstitution (vgl. Reuber, 2012). Neben territorialen und ethnisch-nationalen Konflikten um Grenzziehungen gehören dazu auch gesellschaftliche Raumproduktionen im Allgemeinen und raumbezogene Identitäten und (Alltags-)Praktiken im Besonderen – und beides verweist auf durch gesellschaftliche Machtverhältnisse normierte und diskursiv konstituierte Identitäts- und Differenzbeziehungen. Poststrukturalistische Ansätze reformulieren das Verhältnis zwischen Realität und Konstruktion bzw. Repräsentation dahingehend, dass Repräsentationen weniger als (Ab-)Bilder, denn als kommunikative Prozesse der Wirklichkeits-Konstitution

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verstanden werden, die auf sprachlichen wie visuellen Diskursen basieren. Zentral sind daher die Fragen, (1) wie machtgeladene gesellschaftliche Diskurse und Repräsentationssysteme symbolische wie faktische Identitätszuschreibungen konstituieren und (2) inwiefern Identitäten als diskursive (Macht-) Effekte auch generatives Muster gesellschaftlicher und räumlicher Ordnungen darstellen. In Anlehnung an Foucaults Verständnis von Diskursen als Wirklichkeitproduzierende, historisch-spezifische Macht-Wissen-Komplexe konstituieren gesellschaftliche Diskurse auch Subjekte, deren Identitäten und Praktiken (Foucault, 1977). Diesen Ansatz weiterentwickelnd begreift Butler (2006) Identität als Effekt von normativer Diskursivität, die sich über Zuschreibungs- und Anrufungsprozesse materialisiert. Dabei nimmt sie Bezug auf Austins Sprechakttheorie (1972), nach der eine Anrufung aus performativen Äußerungen besteht, mit denen Handlungen vollzogen und soziale Tatsachen geschaffen werden. Eine theoretische Dekonstruktion von diskursiv-konstituierten Identitätskategorien löst diese in der Alltagspraxis also nicht auf. Sie eignet sich dennoch, um weder essentialistisch noch relativistisch, sondern relational und prozessual zu argumentieren: Identität als performativer Effekt von diskursiven Anrufungen umfasst somit auch deren Praktizierung und verweist auf die Produktion gesellschaftlicher Wirklichkeit im Vollzug. Auf Räume bezogene Identitätskonstruktionen (wie bspw. nationale Identitäten) wiederum spielen in der Entstehung und Analyse von Grenzziehungen und Raumkonflikten eine bedeutsame Rolle. Neben der gesellschaftlichen Identitätskonstitution – durch sprachliche und visuelle Diskurse als performative Äußerungen bzw. Anrufungen – müssen nicht nur Identitäten, sondern auch Räume und Grenzen praktiziert werden, um „real“ zu sein. D.h. Performativität ist eine wirk(lichkeits)mächtige Praxis, die gesellschaftliche Diskurse nicht nur symbolisch repräsentiert, sondern diese in routinisierten wie institutionalisierten Praktiken realisiert (Strüver & Wucherpfennig, 2009; Strüver, 2015). Eine Grenze stellt daher nicht nur eine politische Konflikt- und räumliche Trennlinie zwischen Nachbarn dar, sondern hat für die beiderseitig angrenzenden Regionen und die dort lebenden Menschen auch als „Grenze im Kopf“ Bedeutung (vgl. Strüver, 2005). Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich im Anschluss an die sich verändernde geopolitische Situation in Europa einerseits und an die methodologische Wende hin zu poststrukturalistischen Ansätzen andererseits gezeigt, dass Grenzen nicht länger nur als empirische Tatsachen, als Markierungen national(staatlich)er Territorien verstanden werden. Vielmehr gelten sie als „fuzzy frontiers in human minds and practices” (Paasi, 2001, S. 8) sowie als soziokulturelle und symbolisch-materielle Phänomene, deren Bedeutungen und Bewertungen in gesellschaftlichen Praktiken und Diskursen sowie in den Massenmedien (re-)produziert werden. Wenn also Räume gesellschaftlich – und Gesellschaften räumlich – konstituiert sind, dann spielen für Grenzziehungen (verstanden als konstituiert durch die Wechselbeziehungen zwischen Identität und Raum) dominante gesellschaftliche Diskurse und Repräsentationen eine wesentliche Rolle. Dazu gehören ganz grundlegende, die „das Andere“ vom Eigenen abgrenzen, aber auch banale Alltagsnati-

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legende, die „das Andere“ vom Eigenen abgrenzen, aber auch banale Alltagsnationalismen und geopolitische Weltbilder, die bspw. entlang des Dualismus Okzident und Orient funktionieren. Wichtige Fragestellungen für eine poststrukturalistische Politische Geographie sind daher u.a. die nach (1) raumbezogenen Diskursen und Alltagspraktiken als Teil gesellschaftlicher Ordnungen, (2) ethnisch-nationalen und/oder geopolitischen Identitäts- und Grenzkonstruktionen und (3) den Wirkungen gesellschaftlicher Diskurse und deren materialisiert-institutionalisierten Manifestationen (z.B. in Form räumlicher Artefakte) auf Identitäten und Alltagspraktiken. Diese werden nachfolgend am Beispiel Zypern diskutiert. 3. DAS GETEILTE ZYPERN: DER KONFLIKT ZWISCHEN ZYPERNTÜRKEN UND ZYPERNGRIECHEN1 Die Insel Zypern stand bereits seit den Anfängen ihrer Besiedlung (im 6. Jh. vor Christus) immer – und immer wechselnd – unter östlichen wie westlichen Einflüssen. Im Laufe der Geschichte war sie zunächst Teil des Oströmischen Reichs und anschließend Teil des Osmanischen Reichs. Während des Ersten Weltkriegs wurde Zypern von Großbritannien annektiert und war von 1925 bis 1960 britische Kolonie. Im Zuge der Unabhängigkeit, die zwischen Großbritannien, der Türkei und Griechenland ausgehandelt wurde, erhielten die beiden dort lebenden Bevölkerungsgruppen (Zyperngriechen [ZG] und Zyperntürken [ZT]) einen gleichberechtigten souveränen Status. Viele ZG hatten allerdings in Verbindung mit den Unabhängigkeitsvorbereitungen Enosis gefordert, den Anschluss an Griechenland; viele ZT hingegen hatten für eine Teilung der Insel (Taksim) plädiert. Bereits drei Jahre nach der Unabhängigkeit kam es durch die Einschränkung von Verfassungsrechten für die zyperntürkische Minderheit zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Bevölkerungsgruppen, die in einem Bürgerkrieg mit mehreren hundert Toten mündeten. Dieser wurde durch einen von der UNO ausgehandelten Waffenstillstand 1964 vorübergehend beendet und resultierte in der Errichtung einer entmilitarisierten UN-Pufferzone sowie der Stationierung von UN-Friedenstruppen auf der Insel (United Nations Peacekeeping Force in Cyprus, UNFICYP). In Folge des Regierungssturzes am 15. Juli 1974 durch einen Putsch zyperngriechischer Nationalisten, unterstützt durch die griechische Militärjunta, fürchteten viele ZT um ihr Leben. Ab 20. Juli begann die Türkei militärisch einzugreifen und entsandte Truppen in den Nordteil der Insel, die 37% des Territoriums besetzten. Daraufhin floh die dort ansässige ZG Bevölkerung in den Süden, während die ZT gen Norden flohen. Seitdem ist Zypern – und auch die Hautstadt Niko1

Aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven auf den Konflikt beziehen sich die historischpolitischen Ausführungen dieses Unterkapitels auf eine ganze Reihe von Quellen, v.a. auf Borowitz, 2006; Bryant, 2012; Demetriou, 2007; Oktay, 2007; zur wirtschaftlichen Situation in Nordzypern, siehe Hahn & Rauh, 2007.

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sia/Lefkoşa – durch die Green Line bzw. eine UN-kontrollierte Pufferzone als Grenze geteilt.2 Diese Grenze war zwischen 1974 und 2003 für Zypriot*innen geschlossen, so dass sich beide Inselteile unabhängig voneinander entwickelten. Im Zuge der Beitrittsverhandlungen zur EU (ab 1998) galt die Wiedervereinigung beider Inselteile ursprünglich als Voraussetzung für die EU-Mitgliedschaft (und auch als Maßgabe für die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei), sodass der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan eine Volksabstimmung über die Wiedervereinigung zur föderal regierten „Vereinigten Republik Zypern“ für April 2004 initiierte. Während die ZT mit 65% einer Wiedervereinigung zustimmten, lehnten die ZG diese allerdings mit über 75% der Stimmen ab. Eine Woche später, zum 1. Mai 2004, wurde die Insel Zypern dennoch Vollmitglied der EU: D.h. das Inselterritorium Zypern wurde de jure Teil der Europäischen Union, de facto gehört bislang hingegen nur die Republic of Cyprus (RoC) im Süden zur EU; die 1983 proklamierte – und international nur von der Türkei anerkannte – Turkish Republic of Northern Cyprus (TRNC) gilt als ‘besonderes EU-Gebiet, auf dem EURecht zur Zeit nicht umgesetzt werden kann‘ (Boedeltje, Kramsch & van Houtum 2007).

Abb. 1: Grenzübergang Ledra Palace, Lefkoşa (2015, Foto: Anke Strüver)

Im April 2003 war die Grenze aufgrund anhaltender Proteste der Bevölkerung gegen die schlechten Lebensbedingungen in der TRNC von der damaligen Regierung des Nordens geöffnet worden. Seit dem Beitritt der RoC zur EU 2004 ist die Green Line somit gleichzeitig eine EU-Außen-, wie eine EU-Binnengrenze, d.h.

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Die umgangssprachliche Bezeichnung Green Line geht – ähnlich wie im Konflikt zwischen Israel und Palästinensern – auf die grüne Farbe des Stifts zurück, mit der die Waffenstillstandslinie auf einer Karte der Insel festgelegt worden ist.

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dass theoretisch freier Güter- und Personenverkehr möglich sind, praktisch aber sowohl Personen als auch Waren kontrolliert werden.3 In der Zeit unmittelbar vor der Inselteilung war der Norden derjenige Teil gewesen, der mehr als 70% aller Wirtschaftsleistungen erbracht hatte (v.a. in Tourismus und Landwirtschaft, aber auch durch den größten Umschlaghafen in Famagusta/Gazimağusa). All diese Wirtschaftsstrukturen zerbrachen allerdings nach 1974 aufgrund der Nichtanerkennung der TRNC als (Teil-)Staat und des damit einhergehenden Wirtschaftsembargos. Im Südteil hingegen kam es nach 1974 zu einem schnellen Aufbau neuer Wirtschaftszweige und Infrastrukturen, v.a. durch den Ausbau des Pauschalbadetourismus, den neuen internationalen Flughafen (Larnaca) sowie die Errichtung neuer Seehäfen an der Südostküste.

Abb. 2: Flaggen in der UN-Pufferzone in Nikosia/Lefkoşa, Blick von Nord nach Süd (2015, Foto: Anke Strüver)

Da die Volkswirtschaft des Südens seit den 1990er Jahren zu den gesündesten Europas gehörte, war der EU-Beitritt über die territoriale Zugehörigkeit im Hinblick auf die Lockerung der internationalen Wirtschaftsblockaden und die EUFinanzhilfen und Infrastruktur-Förderprograme vor allem für den Nordteil interessant und relevant. Seit der Öffnung 2003/2004 und der damit verbunden internationalen medialen Aufmerksamkeit ist u.a. der Ausbau des Natur-, Kultur- und Kasino-Tourismus in der TNRC sowie ein allgemeiner wirtschaftlicher Aufschwung beobachtbar. Zugleich wurden nach der gescheiterten Wiedervereinigung 2004 in der TRNC auffällig viele neue Flaggen gut sichtbar an prominenten Stellen in und um Lefkoşa positioniert (an touristischen Sehenswürdigkeiten wie Moscheen, 3

De jure haben ZT, die bereits vor der Teilung auf der Insel lebten, sogar Anspruch auf die EU-Staatsbürgerschaft (als Mitglieder der Republik Zypern); dies gilt wiederum nicht für die nach 1974 im Norden angesiedelten so genannten Festlandtürken.

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entlang der UN-Pufferzone etc.), was Bryant als „a very local nationalism, a dedication to the unrecognized state“ (2012, S. 356) bezeichnet. Darüber hinaus betont sie: „[W]hile the border as that which contains the ‘other‘ has been shaken, the border as frame of suffering remains peculiarly intact” (ebd., S. 357).4 Der Zypernkonflikt entstand als ein von der Kolonialmacht Großbritannien provozierter Konflikt. Der Kalte Krieg und seine Hauptakteure, Sowjets und Amerikaner [sic!], verschärften ihn. Die irredentistischen Bestrebungen nationalistischer Politiker Athens heizten ihn an, und die expansionistischen Bestrebungen der Türkei und der griechischen Junta führten ihn zum negativen Höhepunkt. Extremistische Zyprioten in beiden Volksgruppen beteiligten sich und stürzten ihr Land in die Katastrophe. Internationale Organisationen erwiesen sich als zu schwach, um den Konflikt zu stoppen. Einseitige Schuldzuweisungen sind fehl am Platz. (Richter, 2009, S. 8)

4. REFLEXION: DEKONSTRUKTION ALS METHODE DER POLITISCHEN BILDUNG In Weiterentwicklung des klassischen konstruktivistischen Raumverständnisses wird am Beispiel Zyperns schnell deutlich, dass es sich weder um eine „natürliche“ Aufteilung des (physisch-materiellen) Inselterritoriums handelt, noch um eine individuell wahrgenommene oder vollzogene Teilung der Insel. Vielmehr geht es hier um einen machtgeladenen Interessensund Raumkonflikt sowie um einen ethnisch-nationalen Konflikt, in dem raumbezogene Identitäten und Praktiken eine zentrale Rolle spielen. Es handelt sich um einen „ethno-national conflict where groups posit competing claims for state sovereignty or secession. (Oktay, 5 2007, S. 236).

Die Grenze auf Zypern ist somit eine diskursiv verfestigte Repräsentation und artefaktische Manifestation der politischen und soziokulturellen Konflikte zwischen ZT und ZG, anhand derer deutlich wird, dass die Teilung des Inselterritoriums in der postkolonialen Ära auf geopolitischen Raumbildern und Interessenskonstellationen, wie auch auf alltagsbezogenen gesellschaftlichen Identitäts- und Differenzbeziehungen beruht. Wie bereits angedeutet sind „einseitige Schuldzuweisungen [wie auch die einseitige Berücksichtigung von Quellen] fehl am Platz“.

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Als visueller Diskurs lassen sich auch die seit mehr als 40 Jahren verfallenden Gebäude sowie die Grenzmarkierungen und UN-Wachtürme in und entlang der UN-Pufferzone in der Hautstadt verstehen; zudem ist durch die Grenze in der ursprünglichen Stadtmitte beiderseitig eine periphere Lage entstanden („Niemandsland“). Wie Papadakis (2009) herausstellt, ist die Betonung der Differenz zwischen ZT und ZG im Wesentlichen ein Erbe der britischen Kolonialzeit, das nach der Teilung 1974 vor allem von den regierenden (rechtsstehenden) Parteien auf beiden Seiten aufrechterhalten wurde. Als der Norden 1983 eine linke Regierung bekam, wurden dort z.B. die Geschichtsbücher umgeschrieben und anstelle einer Türkei-orientierten Identität trat eine Zypern-orientierte, die auf den Wechselwirkungen zwischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen ZG und ZT basierte. Dazu gehörten auch Karten, die nicht länger nur den Nordteil, sondern die gesamte Insel, z.T. sogar ohne Green Line, zeigten. Dies war/ist anders im Südteil, wo die Schulbücher und Karten den Norden als leere Fläche abbilden und als „occupied area“ bezeichnen (vgl. Bryant, 2012).

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Dies verweist auf die Unmöglichkeit wertneutraler Konflikt- und Raumbeschreibungen und die hohe Relevanz von Kontextualität und Multiperspektivität: Aus Sicht der TZ war die türkische Militäroperation eine legitime Intervention gegen den Pro-Enosis-Putsch vom 15.Juli 1974. […] Alle TZ konnten in eine Sicherheitszone im Norden ziehen und dort unabhängig und frei von griechischer Vorherrschaft leben. Aus dieser Sicht, die das traumatische Erleben der GZ außer Acht lässt, brachte die türkische Intervention 1974 der Insel „Frieden“. In der Wahrnehmung der GZ hat das Zypernproblem hingegen erst im Juli 1974 begonnen. Sie neigen dazu, den zuvor vorhandenen Volksgruppenkonflikt […] zu übersehen – ebenso wie den auf Enosis zielenden Putsch, der die türkische Militäroperation auslöste. (Gürel, 2009, S. 15)

Wie oben angedeutet ist auf Grundlage eines relationalen Raumkonzepts, das gesellschaftliche Machtverhältnisse als Power-Geometries of Space fokussiert (vgl. Massey, 2007), Raum nicht nur gesellschaftlich konstruiert, sondern auch konstitutiv für das Gesellschaftliche. Die räumliche Organisation von Gesellschaft ist relevant für deren Funktionieren, sodass die Wechselwirkungen zwischen räumlichen Ordnungsmustern, (nationalen) Gesellschaftsstrukturen und Identitätskonstruktionen im Fokus stehen sollten. Wenn wiederum Räume relational und prozessual – als (unabgeschlossene) Ergebnisse gesellschaftlicher Verhältnisse und Konflikte verstanden werden, dann können auch Grenzen, die Betonung von Unterschieden und raumbezogenen personalen Identitäten nicht länger als „naturgegeben“ verstanden werden. Grenzen sind „das logische Janusgesicht sowohl raumbezogener Identitätskonstruktionen als auch der Entstehung territorialer Ordnungen“ (Reuber, 2012, S. 43). Da sich räumliche und gesellschaftliche Phänomene einander bedingen und bestätigen und räumliche Strukturen als Medium sozialer Beziehungen verstanden werden, kann dieses Janusgesicht auch als die zwei Seiten derselben Medaille beschrieben werden: Die Konstruktion von Raum ist bestimmt durch die Wechselbeziehungen mit dem Gesellschaftlichen – und diese Wechselbeziehung beinhaltet auch die „andere Seite der Medaille, dass auch das Soziale räumlich konstruiert ist“ (Massey, 2007, S. 116). Für die Politische Bildung im Geographieunterricht stellen sich vor dem Hintergrund einer poststrukturalistischen Politischen Geographie sowie anhand des Zypern-Beispiels folgende – übertragbare – Leitfragen: – Welche Interessenskonstellationen auf verschiedenen Maßstabsebenen sind Anlass und/oder Effekt eines räumlichen Konflikts? – Inwiefern sind Grenzen Ausdruck räumlicher Identitäten oder Ergebnisse territorialer Konflikte? – Zu welchen gesellschaftlichen (Alltags-)Praktiken führen territoriale Konflikte und raumbezogene Identitäten? Eine poststrukturalistische Methodologie nähert sich Grenzen als Repräsentation und diskursiv produzierte Imagination, als „Grenze in den Köpfen“, die die Raumwahrnehmung und -nutzung maßgeblich beeinflussen. Diese Perspektive legt die performativen Zuschreibungs- und Anrufungspraktiken offen, die eine materiell-geographische Räumlichkeit wie eine Grenze – aber auch Identitäts- und Differenzbeziehungen – an gesellschaftliche Konzepte (z.B. Nation, Kultur, Reli-

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gion), Symbole (z.B. Flaggen) und Artefakte (z.B. Stacheldrahtzaun) binden. Eine Grenze kann demnach keine ihr vermeintlich inhärenten, vordiskursiven Bedeutungen und Wirkungen generieren, sondern es bedarf soziokultureller Differenzdiskurse und performativer Praktiken, die als wirklichkeitskonstituierende kollektive Deutungsmuster funktionieren. 5. FAZIT: ER(D)KUNDEN Da er [der Zypernkonflikt] seit 1974 kaum Stoff für Schlagzeilen lieferte, wurde er zu einem jener etablierten Konflikte, deren Ursachen und Existenz weitgehend in Vergessenheit gerieten. (Richter, 2009, S. 3)

Dieses Zitat aus dem Zypernheft der Reihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ steht im Widerspruch zum Eingangszitat dieses Beitrags aus „Geographie und Schule“ – und dieser Widerspruch ist im Hinblick auf das Raumbeispiel als auch auf den theoretischen Ansatz produktiv: 1. Der poststrukturalistische Ansatz entkräftet die Gefahr einer Naturalisierung oder Essentialisierung von Grenzen und territorialen Konflikten durch ein Verständnis von Diskursen als historisch-spezifische Macht-WissenKomplexe, die sowohl Räume als auch personale Identitäten konstituieren. 2. Das Beispiel Zypern verdeutlicht, dass es sich um einen machtgeladenen sozialen wie territorialen Konflikt aus der Vergangenheit handelt, der die Gegenwart bestimmt, der zudem – historisch wie aktuell – auf geopolitischen Raumbildern („zwischen Orient und Okzident“, Börsch, 2002, S. 22) sowie auf ethnisch-nationalen und teilweise banal-nationalen Zuschreibungs- und Anrufungsprozessen basiert. 3. Die ‘realen Folgen sozialer und politischer Raumkonstruktionen‘ werden anhand der Wirk(lichkeits)mächtigkeit sprachlicher wie visueller Diskurse offensichtlich: So macht es bspw. einen großen Unterschied, ob in Bezug auf die Teilung Zyperns 1974 von „türkischer Invasion“ (z.B. Börsch, 2002; Struck, 2007) oder von „Intervention“ (Gürel, 2009; Bryant, 2012) gesprochen wird. Schüler*innen können z.B. anhand verschiedener Textformen solche Verbindungen zwischen Wort und Ort – auch für ganz andere Raumbeispiele – offenlegen. Im Bereich visueller Diskurse kann online wie offline nach „banal-nationalen“ Artefakten im Stadtraum gesucht werden, bspw. nach visuellen Repräsentationen der Grenze und des Grenzschutzes sowie Symbolen der Abgrenzung (nationale wie religiöser Identitäten, z.B. Flaggen, Kirchen, Moscheen etc.). Und es können nicht zuletzt Karten Zyperns sowie der Hauptstadt aus unterschiedlichen Zeiten und Quellen analysiert und die Ergebnisse an die Prinzipien gesellschaftlicher Raumkonstruktionen zurückgebunden werden. Räumliche Konflikte, Grenzen und raumbezogene Identitätszuschreibungen sind also niemals wertfrei und unpolitisch, sondern stellen gesellschaftliche – und je nach Maßstab auch geopolitische – Ordnungsmuster dar, die v.a. über sprachliche und visuelle Diskurse wahrgenommen, erkundet und manifestiert werden. Das

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Beispiel der Teilung und der Grenze auf Zypern ermöglicht es Schüler*innen dies nachzuvollziehen und sowohl auf aktuelle politische und räumliche Konflikte (z.B. EU-Ukraine-Russland) als auch auf banal-nationale Grenzen (wie z.B. zwischen Deutschland und den Niederlanden – aber auch zwischen Stadtteilen) zu übertragen und entlang vermeintlicher Sichtbarkeiten und Sicherheiten im Hinblick auf die dahinterstehenden Interessens- und Machtkonstellationen zu dekonstruieren. LITERATUR Austin, J.L. (1972). Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam. Boedeltje, F. Kramsch, O. & van Houtum, H. (2007). The fallacious imperial geopolitics of EU enlargement: The case of Cyprus. Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie, 98 (1), 130-135. Borowitz, P. (2006). Vertiefung oder Überwindung der Gräben auf Zypern? In J. Scheffer (Hrsg.), Europa und die Erweiterung der EU. Passauer Kontaktstudium Erdkunde 8 (S. 119‒132). Passau: Selbstverlag Fach GEOGRAPHIE der Universität Passau. Börsch, D. (2002). Zypern – zwischen Orient und Okzident. Geographie und Schule, 24 (138), 22‒ 38. Bryant, R. (2012). Partitions of Memory: Wounds and Witnessing in Cyprus. Comparative Studies in Society and History, 54 (2), 332‒360. Butler, J. (2006). Haß spricht. Zur Politik des Performativen. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Coen, A., Hoffmann, K.W., Rohwer, G., Schuler, S. & Vankan, L. (2013). Diercke Methoden 1: Denken lernen mit Geographie. Braunschweig: Westermann. Demetriou, O. (2007). To cross or not to cross? Subjectivization and the absent state in Cyprus. Journal of the Royal Anthropological Institute, 13 (4), 987‒1006. Deutsche Gesellschaft für Geographie (DGfG) (2014). Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss. Verfügbar unter: http://dgfg.geography-in-germany.de/wpcontent/uploads/geographie_bildungsstandards.pdf [04.01.2015]. Foucault, M. (1977). Der Wille zum Wissen. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gürel, A. (2009). Eigentums- und Bevölkerungsfragen im geteilten Zypern. Aus Politik und Zeitgeschichte, 12, 14‒18. Hahn, B. & Rauh, J. (2007). Nordzypern. Zwischen politischem Abseits und wirtschaftlichem Aufschwung. Europa Regional, 15 (1), 14‒22. Massey, D. (2007). Politik und Raum/Zeit. In B. Belina & B. Michel (Hrsg.), Raumproduktionen (S. 111‒132). Münster: Westfälisches Dampfboot. Oktay, D. (2007). An Analysis of the Divided City of Nicosia, Cyprus and New Perspectives. Geography, 92 (3), 231‒247. Paasi, A. (2001). Europe as a Process and Social Discourse: Considerations of Place, Boundaries and Identity. European Urban and Regional Studies, 8 (1), S. 7‒28. Papadakis, Y. (2009). Griechischer, türkischer oder „zypriotischer“ Kaffee. Aus Politik und Zeitgeschichte, 12, 18‒23. Reuber, P. (2012). Politische Geographie. 1. Aufl. Paderborn: Schöningh. Richter, H. (2009). Historische Hintergründe des Zypernkonflikts. Aus Politik und Zeitgeschichte, 12, 3‒8. Rolfes, M. & Uhlenwinkel, A. (2013). Konstruktivismus und Geographie. In Dies. (Hrsg.), Metzler Handbuch 2.0 Geographieunterricht (S. 358‒365). Braunschweig: Westermann.

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KAPITEL 3 Empirische Forschungsarbeiten zur Politischen Bildung

REALISIERUNGEN DER POLITISCHEN BILDUNG IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT Ergebnisse einer Interviewstudie mit Geographielehrkräften Alexandra Budke, Miriam Kuckuck & Maik Wienecke Die Politische Bildung ist als fachübergreifendes Unterrichtsprinzip in deutschen Schulgesetzen und in Curricula des Faches Geographie/Erdkunde fest verankert. Bisher liegen allerdings nur wenige empirische, geographiedidaktische Studien zum Thema vor. In welchem Umfang, wie und mit welchem Erfolg die Politische Bildung tatsächlich im Geographieunterricht umgesetzt wird, wurde in keiner aktuellen geographiedidaktischen Veröffentlichung untersucht. Aus diesem Grund beschäftigt sich der vorliegende Artikel mit Handlungsmustern von Geographielehrkräften im Kontext der Politischen Bildung. Nach einer kurzen theoretischen Einleitung werden Ergebnisse von qualitativen Interviews mit Lehrkräften aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachen und Brandenburg/Berlin vorgestellt. Die Ergebnisse fokussieren auf die Themen, die Unterrichtsmethoden und -medien, welche die Lehrkräfte zur Realisierung der Politischen Bildung im geographischen Kontext als besonders relevant einschätzen. Zudem werden wahrgenommene Schwierigkeiten bei der konkreten Umsetzung des Bildungsziels thematisiert. 1. THEORETISCHE ANSÄTZE DER POLITISCHEN BILDUNG IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT Politische Bildung ist als ein Unterrichtsprinzip zu verstehen, welches in nahezu allen Schulfächern relevant ist (Nonnenmacher, 1996). Die Grundprinzipien des Beutelsbacher Konsenses, das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot und das Gebot der Förderung von Analyse- und Interessendurchsetzungskompetenz gelten für alle Fächer. Dadurch soll gewährleistet werden, dass die Schulbildung insgesamt dazu beiträgt, dass SchülerInnen zu „mündigen BürgerInnen“ heranwachsen, die sich aktiv an der Ausgestaltung einer demokratischen Gesellschaft beteiligen können. Damit schließt sich die Instrumentalisierung des Faches zur Vermittlung von Ideologien aus, wie sie bspw. in der DDR oder im Nationalsozialismus erfolgt ist. Es sind aber möglicherweise genau diese Erfahrungen, die noch heute den distanzierten Umgang gerade bei ostdeutschen LehrerInnen mit Politischer Bildung begründen (vgl. Budke, 2010; Sander, 2005) und für die Platzierung politischer Diskurse auf das namensgebende Fach zu verweisen. Auch methodische Prinzipien haben Bedeutung für die Politische Bildung im Fach: Ad-

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ressatenorientierung, exemplarisches Lernen, Problemorientierung sowie Handlungs- und Wissenschaftsorientierung (Sander, 2009). Die Entwicklung von Argumentationen und die Rezeption von Diskursen (Kuckuck, 2014; Budke, 2012) sind dabei wichtige methodische Ansätze zur Umsetzung der Politischen Bildung. Als ein didaktisches Prinzip der Politischen Bildung gilt zudem das exemplarische Lernen (Grammes, 2005). Hierbei handelt es sich um einen „Beitrag zur Allgemeinbildung, indem am Besonderen etwas Allgemeines erschlossen wird.“ (ebd., S. 93) Eine Form des exemplarischen Lernens ist das Fall-Prinzip, welches als ein Lernweg anhand eines anschaulichen Beispiels induktiv zum Konkreten führt (ebd.). Politische Bildung zielt darauf ab, „Einsichten in politische und gesellschaftliche Strukturen zu vermitteln sowie die Schüler[Innen] in die Lage zu versetzen, politische und soziale Sachverhalte und Konflikte eigenständig zu analysieren und zu beurteilen, um letztlich selbst politisch aktiv werden zu können“ (Mönter, 2013, S. 220). Die raumbezogene Handlungskompetenz kann ein mögliches Ziel des Geographieunterrichts sein. Diese kann gefördert werden, indem raumbezogene, gesellschaftliche Bedeutungszuweisungs-, Aushandlungs- und Gestaltungsprozesse betrachtet werden. Dies kann geschult werden, indem sich SchülerInnen mit den Auswirkungen politischer Entscheidungen auf Räume auseinandersetzen müssen, um die Machtpositionen der beteiligten Akteure verstehen zu können. Insbesondere Themen wie die Folgen der Globalisierung, Migration oder die Verteilung von Ressourcen sind wichtige Inhalte eines politischen Geographieunterrichts. Diese kritische Auseinandersetzung ist ein Grundbaustein, um ein entsprechendes gesellschaftliches Weltbild entwickeln und Räume als Elemente von Kommunikation und Handlung (Wardenga, 2002) untersuchen zu können. […] Es heißt, daß sich der Lehrende der Verantwortung zur politischen Bildung entzieht, wenn er es nicht als seine Aufgabe ansieht, den Schüler über das Zustandekommen von Raumstrukturen aufzuklären. Diese sind doch nun wirklich kein Produkt von Zufälligkeiten, sondern Ergebnis handfester Interessen, grundgelegter Produktionsweisen und machtvoller Durchsetzung. (Vielhaber, 1991, zit. in Schulz, 2016, S. 31)

Das Zitat macht deutlich, dass eine Vielzahl von InteressenvertreterInnen für den Zustand und das Aussehen geographischer Räume verantwortlich sein können. Die Kompetenzen des Faches Geographie (DGfG, 2014), Kompetenzen der GPJE sowie Schlüsselkompetenzen der OECD sind für die Auseinandersetzung mit politischen Themen für das Fach Geographie von Bedeutung (GPJE, 2004). Ebenso beeinflussen aktuelle Konzepte des Faches die Thematisierung im Unterricht. Für den Geographieunterricht können hier Unterrichtskonzepte wie globales und interkulturelles Lernen, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Vielperspektivität oder Umweltbildung genannt werden. Man muss in der Geographie nicht die politischen Dimensionen polity, policy und politics, wie sie für den Politikunterricht gelten (Mickel, 2003), heranziehen oder explizit staatliche, politische Strukturen aufzeigen, denn die Auswirkungen und Konsequenzen politischer Entscheidungen auf Räume, die einer genauen Betrachtung unterzogen werden, können nicht ausgeblendet werden, wenn es gilt,

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dem Anspruch des Faches „[…] die Zusammenhänge zwischen natürlichen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Aktivitäten in verschiedenen Räumen der Erde und eine darauf aufbauende raumbezogene Handlungskompetenz“ (DGfG 2014, S. 5) sichtbar zu machen bzw. zu vermitteln. 2. METHODIK GeographielehrerInnen aus den Bundesländern Niedersachsen, NordrheinWestfalen, Brandenburg und Berlin stehen im Fokus der Untersuchung. Die gewählten Bundesländer haben unterschiedliche Lehrpläne und die historischen Entwicklungen der Politischen Bildung sind unterschiedlich, was möglicherweise die Umsetzung der Politischen Bildung im Geographieunterricht durch die Lehrkräfte beeinflusst. Zur Datenerhebung wurden Leitfadeninterviews entwickelt. Durch die Interviews soll die Umsetzung von Politischer Bildung im Geographieunterricht zugänglich gemacht werden. Daher wurde nach Themen, Unterrichtsmethoden und -medien gefragt, welche sich nach Ansicht der Interviewten für die Realisierung der Politischen Bildung eignen. Zudem standen die von ihnen wahrgenommenen Schwierigkeiten im Fokus der Interviews. Durch qualitative Interviews können im Allgemeinen individuelle und persönliche Einstellungen erhoben und so Einblicke in subjektive Perspektiven erhalten werden (Hopf, 2013, S. 350). Sie eignen sich gut, um die Erfahrungen der LehrerInnen mit Politischer Bildung zu erheben. Die Befragten hatten auf diese Weise die Möglichkeit, ihre persönlichen Schwerpunktsetzungen und Motive bei der Themen-, Methoden- und Medienwahl umfangreich zu begründen. Die Leitfragen geben eine vernünftige Reihenfolge der Fragen vor und stellen Formulierungshilfen dar (Mattisek, Pfaffenbach & Reuber, 2013, S. 168). Dies ist besonders bedeutsam, da die Erhebung durch unterschiedliche Studierende durchgeführt wurde. Zudem ermöglichen sie aber auch eine gute Vergleichbarkeit der Daten. Die Methodik des Leitfadeninterviews ermöglicht es der/m InterviewerIn, spontan und individuell auf die Antworten des Interviewten zu reagieren, sodass weitere Nachfragen, Einschiebungen und Veränderungen in der Reihenfolge möglich waren. Insgesamt wurden in Niedersachsen 22, in NRW 32 und in Brandenburg/Berlin 57 LehrerInnen interviewt. Das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 45 Jahren. Die jüngste Interviewpartnerin war zum Zeitpunkt des Interviews 26, der älteste 64 Jahre alt. Von den insgesamt 111 Interviewten waren 53 männlichen und 58 weiblichen Geschlechts. Die meisten Interviewten (73%) unterrichten an einem Gymnasium, die restlichen unterrichten an verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I und II. Alle Befragten haben Geographie als Fach studiert und unterrichten es auch. Die Interviews wurden im Anschluss transkribiert und mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) analysiert. Diese Methode ermöglicht „eine regelgeleitete Auswertung von Interviewdaten mit Ziel, individuelle Vorstellung […] zu rekonstruieren“ (Krüger & Riemeier, 2014, S. 133). Aus der Theorie heraus konnten deduktiv die folgenden Kategorien gebildet werden: Themen,

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Medien, Methoden der Vermittlung, Bedeutung im eigenen Unterricht, Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Die Aufbereitung des Datenmaterials und die Kategorisierung erfolgten mit der Software MAXQDA. 3. ERGEBNISSE Der Großteil der Befragten weist der Politischen Bildung im Geographieunterricht generell eine hohe Bedeutung zu. Sie verstehen die Politische Bildung im Geographieunterricht vorrangig in der komplexen Behandlung aktueller gesellschaftlich relevanter Themen, die einen Raumbezug aufweisen. In Bezug auf den eigenen Unterricht der Lehrkräfte, lässt sich festhalten, dass etwa die Hälfte der Befragten angibt, die Politische Bildung habe in ihrem eigenen Unterricht nur eine untergeordnete Bedeutung. Die andere Hälfte der Befragten schätzt sowohl die generelle Bedeutung als auch die Bedeutung im eigenen Unterricht als hoch ein. Es stellt sich jetzt die Frage, wie die Befragten die Politische Bildung in ihrem eigenen Unterricht konkret umsetzen. 3.1 Umsetzung der Politischen Bildung: Themen Alle Befragten sind sich einig, dass die Politische Bildung vor allem bei humangeographischen Themen relevant ist. Die befragten GymnasiallehrerInnen meinen, dass sie in der Oberstufe häufiger als in der Unter- und Mittelstufe thematisiert werde. Zunächst werden von den Befragten aktuelle Themen identifiziert, welche großes Potential für die Politische Bildung haben. Diese haben große Brisanz und werden auch in der Politik und Gesellschaft diskutiert. Aufgrund des Flüchtlingsstroms zum Zeitpunkt der Interviews, wird in diesem Zusammenhang sehr häufig das Thema Migration genannt. NRW_m_40_Gym: „Migration als Stichwort und die politischen Entscheidungen dazu, das sind ja Themen, die aktuell auch reingezogen werden müssen und da muss man eben auch klären, was, was bedeutet das, dass hier irgendwelche Quoten eingeführt werden zum Beispiel für Zuwanderung.“

Die SchülerInnen sollen durch die Thematisierung aktueller gesellschaftlicher Themen Hintergrundwissen erhalten und ein tieferes Verständnis entwickeln. Politische Entscheidungen und Rahmenbedingungen werden in diesem Zusammenhang neben anderen Aspekten thematisiert. Einigen Befragten sind auch die Förderung der Beurteilungskompetenz und die Meinungsbildung der SchülerInnen, die über „Stammtischparolen“ hinausgeht, sehr wichtig. Ein ebenfalls aktueller und häufig genannter Themenbereich der Politischen Bildung sind Konflikte. Die LehrerInnen sprechen hier sowohl internationale und innerstaatliche Konflikte als auch Konflikte um Ressourcen wie Öl oder Wasser sowie Flächennutzungskonflikte an. Bei diesen Themen sollen die SchülerInnen

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verstehen, worin der Konflikt entsteht, wer beteiligt ist und welche Interessen verfolgt werden. BB_m_34_ISS: „Im achten Schuljahr geht es dann auch um den Nahen Osten und das Konfliktpotential in dieser Region. Einmal zwischen Israel und den arabischen Staaten und einmal natürlich auch die ganze Problematik mit den Rohstoffen, die dort vorkommen.“

Wie im letzten Zitat schon angesprochen, thematisieren die LehrerInnen nicht nur politische Aspekte zur Erklärung der Ursachen von Konflikten, sondern auch die Rolle der Politik bei deren Lösung. Auch bei dem Thema Stadt- und Regionalplanung, das ebenfalls häufig erwähnt wird, beschäftigen sich die LehrerInnen in ihrem Unterricht explizit mit politischen Gestaltungsprozessen von Räumen. Es werden u.a. städteplanerische Leitbilder, die immer Ergebnis von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und politischen Zielsetzungen sind, Standortentscheidungen und Lösungen der Umweltproblematik, angesprochen. NRW_m_40_Gym: „Energiefragen in der EF [Einführungsphase = 10. Klasse] und das sind ja vor allem auch politische Entscheidungen, die getroffen werden müssen, allein Raumplanungsentscheidungen. Wo werden die Stromtrassen angelegt?“

Politische Rahmenbedingungen als Auslöser und Ursache von Problemen werden vorrangig bei dem Themenkomplex zu Entwicklungsländern erwähnt. BB_w_47_Gym: „In der Klasse 12 ‒ Entwicklungsländer ‒ da spielt‘s in der Richtung doch eine relativ große Rolle, dass die afrikanischen Länder politisch doch auch oft sehr instabil sind und dass man das da sehr stark thematisiert, weil´s auch eine Ursache dafür ist, dass die aus ihrer Unterentwicklung schwer rauskommen.“

Bei der Thematisierung von Problemlösungen für drängende gesellschaftliche Probleme, bei denen auch politische Aspekte relevant sind, wird häufig auch das Thema des demographischen Wandels in Deutschland genannt. NRW_w_35_RS: „Also, konkretes Unterrichtsvorhaben in Klasse 9, in der es um Politische Bildung geht, ist jetzt gerade die Diskussion zum Thema: Ist Deutschland ein kinderunfreundliches Land?“

Wenige Aussagen beziehen sich darauf, dass sich die SchülerInnen selbst als politische Akteure wahrnehmen sollen, die einen Einfluss auf Raumgestaltungsprozesse und Problemlösungen haben können. NRW_w_35_RS: „[…] dass wir bei nem Thema wie Globalisierung, dass es sie persönlich auch angeht oder dass ich mit Kaufentscheidungen letztendlich auch Dinge beeinflussen kann, das ist ihnen glaube ich noch nicht so klar. Das muss man ihnen sagen.“

Letztlich werden in einer Reihe von Interviews auch Länder oder Regionen anstatt inhaltlicher Themen genannt, bei denen politische Aspekte, die das jeweilige politische System betreffen, behandelt würden. Am häufigsten erwähnt wird hier die EU.

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3.2 Umsetzung der Politischen Bildung: Methoden und Medien Die Interviewten nennen verschiedene Methoden, welche sich aus ihrer Sicht zur Vermittlung der Politischen Bildung im Geographieunterricht eignen. An erster Stelle stehen argumentative Methoden welche sich nach Meinung vieler Befragter dazu eignen, die Sichtweisen und Interessen unterschiedlicher Akteure im Unterricht zu beleuchten. Die LehrerInnen nennen hier unterschiedliche Diskussionsformen wie Podiumsdiskussion, Pro- und Contra-Diskussion, Kleingruppendiskussion, Fish-Bowl, Rollenspiele und Planspiele. NRW_m_44_Gym: „Wenn man da in so ‘ner Argumentationsrunde mit verschiedenen Interessengruppen argumentiert […], das würde ich als Politische Bildung ansehen.“

In diesem Kontext wird häufig genannt, dass eine Rolle im Rollen- oder Planspiel oder ein Akteur in Diskussionen mit der Rolle von Politikern besetzt wird, um die politische Perspektive zu integrieren. Allerdings ist diese nach den Befragten nur eine unter anderen relevanten Perspektiven wie Wirtschaft, Ökologie, Stadtplanung etc. Durch die Gegenüberstellung der Sichtweisen und Beurteilungen unterschiedlicher Akteure soll das zu behandelnde Problem/der zentrale Konflikt für die SchülerInnen offensichtlich werden. NRW_m_32_Gym: „Also, wenn man akteurszentriert argumentiert, wäre ein Rollenspiel eine klassische Methode, um z.B. aus dem Akteur des Politikers bestimmte Sachverhalte zu bewerten und zu beurteilen und dann in der Auseinandersetzung mit anderen Akteuren zu schauen, welche Konflikte gibt es, welche Lösungsmöglichkeiten.“

Einige LehrerInnen sehen auch die Bewertungskompetenz und die persönliche Meinungsbildung durch argumentative Methoden gefördert, was sie als Ziel der Politischen Bildung ansehen. Die Erzeugung von Betroffenheit, das Kennenlernen unterschiedlicher Sichtweisen, die Förderung von Argumentationskompetenzen und die spielerische Übernahme anderer Perspektiven finden einige Lehrer in diesem Zusammenhang relevant. NRW_w_26_GS: „Dass man den Schülern versucht, dadurch, dass sie Akteure und deren Perspektiven vergleichen, dass sie dann im Endeffekt sich selbst eine Meinung bilden und am Ende ein Urteil fällen, durch das sie dann auch handlungsfähig, oder handlungsfähiger werden.“

Einige Lehrer lassen die Perspektiven der (politischen) Akteure auch durch Experteninterviews von den SchülerInnen erheben oder laden ExpertInnen in den Unterricht ein. Besonders die Befragten aus Berlin/Brandenburg nennen häufig auch die Möglichkeiten, eine Exkursion durchzuführen und auf dieser direkten Kontakt zu politischen EntscheidungsträgerInnen herzustellen. Die häufige Nennung erklärt sich vermutlich aufgrund der räumlichen Nähe zu wichtigen staatlichen Institutionen in der Hauptstadt. BB_w_61_Gym: Ich meine hier in Berlin haben wir ja auch immer die Möglichkeit, Exkursionen vorzuschlagen zu Botschaften oder eben auch zu allgemeinen Organisationen, die sich mit Politik usw. beschäftigen.“

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Einige Befragte nutzen Medien wie Karikaturen, Filme oder Schlagzeilen im Unterricht, welche unterschiedliche Perspektiven auf die behandelte Thematik beinhalten. Anhand dieser Medien können die SchülerInnen dann ihre Rolle vorbereiten oder sie laden zur kritischen Auseinandersetzung ein. Wichtige Kriterien, nach denen einige LehrerInnen Unterrichtsmaterial zusammenstellen, welches im Besonderen der Politischen Bildung dient, sind neben der Perspektivenvielfalt, die Kontroversität und die Aktualität. BB_m_35_Gym: „Ich kann natürlich ein kontroverses Material in die Hand nehmen.“ NRW_w_44_Gym: „Dann kommt eine Erarbeitungsphase, wo sie sich eben mit aktuellem Material beschäftigen.“

Das Unterrichtsgespräch sehen vor allem viele Befragte aus Berlin und Brandenburg als gute Methode an, um Politische Bildung im Geographieunterricht umzusetzen. Dieses wird u.a. besonders geschätzt, um in der Stunde auf aktuelle politische Themen einzugehen. BB_w_52_Gym: „Also, ich habe häufig, vor allem bei den Großen, am Anfang der Stunde ein Ritual, dass ich brennende Fragen unter der Rubrik der Stunde beginne. […] Dort sprechen wir eigentlich über aktuelle Themen, die also wirklich gerade Relevanz haben […], also jetzt aktuell die Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsbewegung.“

Letztlich werden auch verschiedene Methoden genannt, welche sich zur Erarbeitung von Informationen aus verschiedenen Medien (Karten, Texte, Tabellen, Filme, Internet) und zur Informationspräsentation eignen. Hier werden u.a. Referate, Frontalunterricht oder Stationsarbeit genannt. NRW_m_42_Gym: „[…] müssen die [SchülerInnen] halt Präsentationen erstellen, wie es tatsächlich zur europäischen Einigung oder zum Fall der Mauer oder zur Auflösung des Sozialismus tatsächlich gekommen ist. Das ist für mich […] politisches Faktenwissen.“

Neben Personen, die ein großes Spektrum an Unterrichtsmethoden und -medien nennen, die sich zur Realisierung der Politischen Bildung eignen, gibt es auch Personen, die –solche nicht nennen können. Typische Aussagen sind in diesem Zusammenhang: NRW_m_42_Gym: „Also, da bin ich tatsächlich eher schwach. Da gibt es bestimmt ganz viele Kollegen, die das viel, viel besser können, da irgendwie methodisch zu unterstützen. Also ich mach das halt meistens im Gespräch.“ BB_m_47_Gym: „Bei Methoden und Medien könnte ich jetzt nichts festmachen.“

Diese Befragten können dann in der Regel auch keine Beispiele aus ihrem Unterricht nennen, aus denen ersichtlich wird, wie sie die Politische Bildung tatsächlich umsetzen.

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3.3 Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Politischen Bildung im Geographieunterricht Die Interviewten sehen vielfältige Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Politischen Bildung im Geographieunterricht. Diese beziehen sich auf eigene fehlende Fähigkeiten, das fehlende Wissen und Interesse der SchülerInnen sowie ungünstige Rahmenbedingungen des Unterrichts. Die Befragten sehen die Notwendigkeit, vielfache interdisziplinäre Bezüge der von ihnen behandelten Themen im Geographieunterricht zu thematisieren. Neben geschichtlichen und wirtschaftlichen Aspekten werden hier auch politische genannt. Allerdings schätzen sie ihre eigenen politischen Kenntnisse zum Teil gering ein. Besonders Personen, welche nicht Politik studiert haben, erwähnen, dass die politischen Hintergründe und die Umsetzung der Politischen Bildung im Geographieunterricht kein Teil ihrer Ausbildung gewesen seien. Die Aneignung des entsprechenden interdisziplinären Wissens wird teilweise als große Herausforderung und Anstrengung beschrieben. Ebenso verursache die immer wieder neue Einarbeitung in aktuelle Themen und die ständige Suche nach neuem Unterrichtsmaterial viel Arbeit. In diesem Zusammenhang werden Schulbücher teilweise kritisch gesehen, da diese nicht immer die aktuellsten Informationen bereithalten. Einigen Personen fällt zudem die didaktische Reduktion bei sehr komplexen Themen schwer. NRW_ m_61_Gym: „[…] angefangen von Naturgeographie und Klima und bis hin zur Politik, dann letztlich alles machen kann, wird das inhaltlich natürlich ausgesprochen schwierig zu gliedern, man weiß oftmals gar nicht, wo man anfangen soll.“

Problematisch erscheint manchen LehrerInnen zudem die als notwendig erachtete Zusammenarbeit mit ihren Kollegen. Ni_ m_31_Gym: „Problem ist immer, dass man sich mit Kollegen absprechen muss, weil klar sein muss, was ist schon in Politik gelaufen, was ist schon in Geschichte gelaufen, was ist in Deutsch gelaufen, all die Fächer, die Politische Bildung auch im weiteren Sinne mit beinhalten, dass man nicht, keine Dopplung hat.“

Ein weiterer Problembereich ist der Umgang mit der eigenen Meinung der Lehrkräfte im Unterricht. Sie möchten einerseits authentisch und ehrlich sein. Auf der anderen Seite fürchten sie, dass ihre eigenen Meinungsäußerungen zu einer ungewollten Beeinflussung der SchülerInnen, die sich in einer unterlegenen Machtposition befinden, führen könnten. Ni_m_41_Gym: „Ich finde es schwierig, die eigene politische Meinung komplett hauszuhalten. […] mein Ziel als Lehrer muss es ja sein, den Schülern die Möglichkeit zu geben, sich eine eigene Meinung zu bilden. Und da Schüler dazu tendieren, Dinge manchmal auch unkritisch anzunehmen, muss ich mit meiner eigenen Meinung natürlich hinterm Berg halten […].“

Mit der Unsicherheit, wie die eigene Meinung in den Unterricht einzubringen sei, gehen die Befragten in unterschiedlicher Art und Weise um. Während einige Personen wie im Zitat, keinerlei eigene Meinung im Unterricht sagen, äußern andere

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diese, um kritische Auseinandersetzungen und eigene Meinungsbildungen bei den SchülerInnen zu ermöglichen. Ni_w_35_Gym: „Ich finde schon, dass Schüler wissen sollten, wo der Lehrer selbst politisch steht. […] Ich finde aber, dass die Schüler etwas haben müssen, woran sie sich abarbeiten können. Mit dem sie sich auseinandersetzen können. Und das darf auch die Lehrkraft sein. Sofern es der Lehrkraft gelingt, zu ermöglichen, dass die Schüler das Gefühl haben, sie dürfen eine andere Meinung äußern.“

Eng damit verbunden ist das Problem der Materialauswahl. Einige LehrerInnen finden es schwierig, das Unterrichtsmaterial so auszuwählen, dass eine freie Meinungsbildung der Schülerinnen gewährleistet werden kann. Weitere Probleme sehen viele Befragte auf der Seite der SchülerInnen. Besonders häufig genannt wird deren fehlendes politisches Grundlagenwissen. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Staats-, Regierungs- und Herrschaftsformen (u.a. Republik, Monarchie, Demokratie, Diktatur), Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen (u.a. Kapitalismus, Sozialismus) seien den Schülern häufig nicht bekannt und könnten daher nicht als Grundlage des Unterrichts dienen. Gleichzeitig sehen die LehrerInnen keine Möglichkeiten, im Geographieunterricht diese Grundlagen zu vermitteln, und verweisen auf Defizite des Faches Politik. Zudem haben sie teilweise keine Informationen über den Kenntnisstand der SchülerInnen im Bereich der Politischen Bildung. Auch über aktuelle gesellschaftliche Themen, die geographische Bezüge aufweisen, würden viele SchülerInnen wenig wissen, da kaum Nachrichten gesehen würden. Das Wissen wird bei SchülerInnen in der Oberstufe höher eingeschätzt als bei denjenigen in der Unter- und Mittelstufe. Teilweise beklagen die LehrerInnen auch, dass das Interesse an politischen Aspekten gering sei. Ni_m_54_Gym: „Zunächst einmal würde ich sagen, die Mehrheit ist desinteressiert oder nicht gut vorinformiert. Wenn man also mal fragt, habt ihr in den letzten Wochen mal die Zeitungsberichte zu dem und dem Thema mitverfolgt, dann stößt man auf wenig Wissen und wenig Dinge, auf die man zurückgreifen kann.“

Letztendlich werden auch einige Rahmenbedingungen des Unterrichts beklagt, welche die Umsetzung der Politischen Bildung im Geographieunterricht behindern würden. An erster Stelle steht hier die fehlende Unterrichtszeit. Da Geographie in der Unter- und Mittelstufe in der Regel nur einstündig unterrichtet wird, bemängeln viele Befragte, dass sich der Anspruch auf die Vermittlung komplexer Inhalte, welche auch politische Aspekte beinhalten, in der wenigen verfügbaren Zeit nur schwierig verwirklichen lasse. NRW_31_m_Gym: „Ja, also Zeit ist grundsätzlich ein Problem, wenn man so komplexe Themen anspricht.“

Problematisch sehen viele Befragte die „Stofffülle“, die dazu führe, dass die Themen teilweise nur oberflächlich behandelt würden und dass gerade für die politischen Aspekte keine Zeit sei.

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4. ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT Es fällt auf, dass die Befragten eine ganze Reihe von Themen nennen, bei denen die Politische Bildung für Sie einen wichtigen Stellenwert ausmacht. Dies sind vor allem humangeographische Themen mit aktuellen Bezügen. Durchgehend werden allerdings keine Themen genannt, welche ausschließlich der Politischen Bildung zugeordnet werden. Bei der Behandlung bestimmter geographischer Fragestellungen werden vielmehr relevante politische Aspekte angesprochen. Alle Befragten sind sich darin einig, dass politische Aspekte in integrativer Art und Weise mit anderen für das jeweilige Thema/Problem relevanten Gesichtspunkten, wie wirtschaftliche, historische, räumliche etc., gemeinsam behandelt werden müssen. Daher werden auch „Institutionen- oder Parteienkunde“ in der Regel abgelehnt. Problematisch erscheint allerdings, dass vielen Befragten nur vage bewusst ist, welche der von ihnen behandelten inhaltlichen Aspekte die politische Dimension des Themas repräsentieren. Implizit lässt sich herauslesen, dass je nach thematischer Schwerpunktsetzung der Einfluss der Politik auf die Erklärung von Ursachen für verschiedene raumbezogene Problembereiche und/oder als ein Faktor, welcher die positive Gestaltung von Räumen beeinflusst und zur Problemlösung eingesetzt wird, thematisiert wird. Viele Befragten nennen ein großes Spektrum an Unterrichtsmethoden und medien, welche sie in ihrem Unterricht zur Politischen Bildung einsetzen. Besonders bewusst scheinen Kollegen methodische Entscheidungen zu treffen, wenn sie die Förderung von Argumentationsfähigkeiten, die Perspektivenvielfalt und die Kontroversität als Ziele der Politischen Bildung definieren. Daneben finden sich auch LehrerInnen, welche zwar Methoden und Medien nennen, aber ihre Relevanz für die Politische Bildung nicht begründen können. Es wurden auch LehrerInnen befragt, welche keinerlei Unterrichtsmethoden oder -medien nennen konnten, welche sich zur Umsetzung der Politischen Bildung eignen. Möglicherweise fehlt diesen Befragten der Wunsch, die curricularen Ziele zur Politischen Bildung auch tatsächlich umzusetzen, oder es mangelt an didaktischen Fähigkeiten. Tatsächlich haben einige LehrerInnen den Eindruck, dass sie den Anforderungen der Politischen Bildung im Geographieunterricht nicht gerecht werden können. Sie sehen die Gründe in ihren eigenen mangelhaften Fähigkeiten, der fehlenden Unterrichtszeit, um komplexe Probleme zu behandeln, und in den unzureichenden Kenntnissen der SchülerInnen. Insgesamt lassen sich die Befragten drei Gruppen zuordnen. Die erste Gruppe bilden Personen, welche der Politischen Bildung im Geographieunterricht eine hohe Bedeutung zuweisen und auf dieser Grundlage professionelle thematische und methodische Entscheidungen treffen können. Zur zweiten Gruppe zählen Personen, welche die Politische Bildung ebenfalls als wichtiges Ziel ansehen, denen es aber nicht zufriedenstellend gelingt, dieses in ihrem Unterricht zu realisieren. Teilweise ist das Verständnis der Politischen Bildung diesen Personen zu vage, als dass sie dieses auf den Geographieunterricht beziehen könnten. Teilweise scheinen auch Fähigkeiten zum Einsatz geeigneter Methoden und Medien zu fehlen oder die Rahmenbedingungen des Unterrichts sind ungünstig. Die dritte Gruppe

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bilden Personen, welche sich der Bedeutung der Politischen Bildung nicht bewusst sind und die daher auch wenig Interesse an einer Umsetzung im Unterricht haben. Aus den Ergebnissen lassen sich sowohl Konsequenzen für die fachdidaktische Forschung als auch für die Entwicklungsarbeit ableiten. Für die geographiedidaktische Forschung wäre es ergänzend zu den Interviewaussagen interessant, die tatsächliche Umsetzung der Politischen Bildung im Geographieunterricht zu untersuchen. Zudem sollten verstärkt Materialen und Methoden entwickelt werden, welche sich zur Politischen Bildung im geographischen Kontext eignen. Die Interviewten der Gruppen 1 und 2 wären hier sicherlich aufgeschlossen und würden didaktische Anregungen gerne aufgreifen. LITERATUR Budke, A. (2010). Und der Zukunft abgewandt – Ideologische Erziehung im Geographieunterricht der DDR. Eckert. Die Schriftenreihe, Band 127. Göttingen: V&R unipress. Budke, A. (2012). „Ich argumentiere, also verstehe ich.“ Über die Bedeutung von Kommunikation und Argumentation im Geographieunterricht. In Dies. (Hrsg.), Diercke Kommunikation und Argumentation (S. 5‒18). Braunschweig: Westermann. Deutsche Gesellschaft für Geographie (DGfG) (2014). Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss – mit Aufgabenbeispielen. Bonn: Selbstverlag DGfG. Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) (Hrsg.) (2004). Anforderungen an Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen. Ein Entwurf. Schwalbach: Wochenschau-Verlag. Grammes, T. (2005). Exemplarisches Lernen. In W. Sander (Hrsg.), Handbuch politische Bildung (S. 93‒107). Schwalbach: Wochenschau-Verlag. Hopf, C. (2013). Qualitative Interviews ‒ Ein Überblick. In U. Flick, E. von Kardorff & I. Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S. 349‒360). Hamburg: Rowohlt. Krüger, D. & Riemeier, T. (2014). Die qualitative Inhaltsanalyse ‒ eine Methode zur Auswertung von Interviews. In D. Krüger, I. Parchmann & H. Schecker (Hrsg.), Methoden in der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung (S. 133‒145). Heidelberg, Berlin: Springer. Kuckuck, M. (2014). Konflikte im Raum ‒ Verständnis von gesellschaftlichen Diskursen durch Argumentation im Geographieunterricht. Geographiedidaktische Forschungen, Band 54. Münster: Monsenstein und Vannerdat. Mattisek, A., Pfaffenbach, C. & Reuber, P. (2013). Methoden der empirischen Humangeographie. Braunschweig: Westermann. Mayring, P. (2010). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Technik. Weinheim: Beltz. Mickel, W.W. (2003). Praxis und Methode. Eine Einführung in die Methodenlehre der politischen Bildung. Berlin: Cornelsen. Mönter, L.O. (2013). Politische Bildung im Geographieunterricht. In D. Böhn & G. Obermaier (Hrsg.), Wörterbuch der Geographiedidaktik. Begriffe von A-Z (S. 218‒220). Braunschweig: Westermann. Nonnenmacher, F. (Hrsg.). (1996). Das Ganze sehen. Schule als Ort politischen und sozialen Lernens. Schwalbach: Wochenschau-Verlag. Sander, W. (2005). Politische Bildung als fächerübergreifende Aufgabe der Schule. In Ders. (Hrsg.), Handbuch politische Bildung (S. 254‒264). Schwalbach: Wochenschau-Verlag. Sander, W. (2009). Was ist politische Bildung? Verfügbar unter: http://www.bpb.de/gesellschaft/ kultur/kulturelle-bildung/59935/politische-bildung?p=all [14.01.2016]. Schulz, B. (2016). Neoliberalisierung des Urbanen. Potsdam. (im Druck) Wardenga, U. (2002). Alte und neue Raumkonzepte für den Geographieunterricht. Geographie Heute, 22 (200), 8–10.

BEHANDLUNG VON KONFLIKTEN IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT: EIN BEITRAG ZUR POLITISCHEN BILDUNG? Georg Stöber 1. EINLEITUNG Täglich erfahren wir auf unterschiedlichen Ebenen in persönlicher Interaktion oder medial vermittelt die Konflikthaftigkeit menschlichen Zusammenlebens. Auch geographisch relevante Fragestellungen sind davon nicht unberührt. Die Behandlung von Konflikten macht deutlich, wie der erdkundliche Fachunterricht mit gesellschaftlichen Fragen umgeht, und kann als Indikator dafür dienen, wie anschlussfähig er an eine Politische Bildung ist. Der folgende Artikel umreißt daher „Konflikte“ als gesellschaftliche Tatbestände und skizziert anschließend, wie sie in den derzeit gültigen bundesdeutschen Lehrplänen und in Geographieschulbüchern der letzten Jahre behandelt werden. Die Frage, wie der Geographieunterricht mit seiner Konfliktbehandlung zu einer Politischen Bildung beitragen könnte, wird schließlich zusammenfassend angesprochen. 2. „KONFLIKT“ UND KONFLIKTE Im umgangssprachlichen, aber auch wissenschaftlichen Gebrauch wird der Konfliktbegriff in verschiedenen Bedeutungen und mit unterschiedlichen Konnotationen verwendet. Zum einen findet er sich bezogen auf gewaltsame, bewaffnete Auseinandersetzungen. Dies betrifft Kriege und Bürgerkriege, „Konflikt“ schließt aber auch gewaltsame Auseinandersetzungen ein, die nicht die Schwelle von Kriegen (z.B. gemessen an der Zahl der Toten, der Stetigkeit der Auseinandersetzung) erreichen. Als Antonym eines solchen auf Gewalt fokussierten Konfliktbegriffs wird häufig „Friede“ angeführt. Wir müssen aber konstatieren, dass auch in gewaltfreien Situationen Konflikte ausgetragen werden. Gesellschaftswissenschaftlich trägt das gewaltbezogene Konfliktverständnis also nicht sehr weit. Als Antonyme finden wir daher andere Termini wie Kooperation (als gesellschaftliches Mit-, nicht Gegeneinander) oder aber auch „Harmonie“. Die Konnotationen, die mit dem Begriffspaar „Harmonie“ und „Konflikt“ verbunden werden, weisen schon auf die Zugehörigkeit zu einem spezifischen Modell von Gesellschaft hin (vgl. zum Folgenden z.B. Bonacker, 2005):

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Wenn Gesellschaft als ein quasi organischer Zusammenhalt von Menschen unterschiedlicher Positionen verstanden wird, ist alles, was diesen stört ‒ also auch Konflikte ‒ mit einer negativen Konnotation verbunden. Auseinandersetzungen müssen vermieden werden. „Harmonie“ ist das Leitbild einer funktionierenden Gesellschaft, der (angestrebte) Normalzustand, „Konflikt“ die Abweichung, die über Steuermechanismen in einen stabilen Normalzustand zurückgebracht werden muss. „Sozialer Wandel“ ist in einem solchen stabilitätsorientierten Modell kaum vorgesehen. Andere Gesellschaftsmodelle sind dynamischer. Solche, in denen Konflikte nicht so negativ konnotiert und als gesellschaftsschädlich gebrandmarkt werden, sind beispielsweise das marxistische, in dem der Konflikt als Klassenkampf in dialektischer Auseinandersetzung zur Höherentwicklung der Gesellschaft führt, andererseits aber auch pluralistisch-liberale Auffassungen, in denen in einer demokratisch verfassten Gesellschaft die in allen Gesellschaften aufgrund unterschiedlicher Interessen auftretenden Konflikte gewaltfrei ausgetragen und Problemlösungen ausgehandelt werden. Hier ist der Konfliktbegriff neutral, Konflikte entstehen im normalen gesellschaftlichen und politischen Prozess und sind gleichzeitig Ergebnis wie Ursache gesellschaftlichen Wandels. In einem „realistischen“ Konfliktverständnis werden Konflikte als aus realen Bedingungen erwachsende Gegensätze verstanden. Dem steht ein konstruktivistischer Konfliktbegriff gegenüber. In diesem Verständnis bezeichnen Konflikte unterschiedliche Positionierungen von Akteuren. Diese werden sozial konstruiert. Damit Konflikte ausbrechen, müssen die Differenzen zudem aber auch kommuniziert werden und der Gegensatz vom Gegenüber angenommen und zurückgespiegelt werden (vgl. Messmer, 2003). „Konfliktursachen“ sind also nicht objektiv gegeben, sondern ergeben sich aus den (im gesellschaftlichen Rahmen erfolgenden) Konstruktionen der Akteure bzw. Beobachter. Dies macht sich u.a. im Prozess der Konfliktaustragung bemerkbar, in dem „Ursachen“ von den Beteiligten unterschiedlich gesehen werden und diese Sichtweisen sich im Konfliktverlauf verändern können. Diese „Ursachen“ sind, soweit sie diskursiv fassbar werden, oftmals als Legitimierungen zu verstehen, mit denen das Konflikthandeln begründet und ggf. die Mobilisierung einer Anhängerschaft betrieben wird, die nach einem „Wir-Die-Schema“ entlang von Konfliktlinien zwischen „Freund“ und „Feind“ unterscheiden können muss. Wichtig ist, dass die jeweiligen Konstruktionen das Handeln der Akteure bestimmt und sie – u.a. politisch – real werden. Die Perzeption der Jugoslawien-Kriege in den 1990er Jahren als „ethnisch“ auch durch die internationalen Akteure führte zu politischen Lösungen wie dem Dayton-Abkommen, mit dem „ethnische“ Grenzziehungen verfestigt und bestimmend für die Funktionsweise des Staates Bosnien-Herzegowina wurden (zur Entwicklung in Bosnien-Herzegowina vgl. z.B. Gromes, 2008). Im Rahmen von „rational-choice“-Ansätzen wird davon ausgegangen, dass Akteure im Rahmen eines Konflikts rational interessenorientiert agieren. Auch wenn man dies in Frage stellen mag, besitzen Akteure jeweils eigene Motive und Intentionen. Dabei handelt es sich freilich um Zuschreibungen. Andere Konfliktbeteiligte, Dritte und wohl auch die Akteure selbst können Motive usw. nur als

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(nachträgliche) Rationalisierungen (Legitimierungen) erfahren oder im Rahmen ihres Konfliktverständnisses (re-)konstruieren. Erfassbar sind die jeweiligen Konflikt-Diskurse, über die die soziale Konfliktkonstitution erfolgt. Insofern sind diskursanalytische Ansätze, die im Diskurs das eigentliche Agens sehen, nicht unbegründet. Aus dieser Sicht werden die Akteure erst durch den Diskurs konstituiert – nicht der Diskurs als Handlung unabhängiger Akteure (vgl. Glasze & Mattissek, 2009, S. 28f.). Jedes praktische politische Handeln, jede Konfliktbearbeitung setzt allerdings Akteure voraus, die einen Einfluss auf das Geschehen besitzen. Und auch wenn Akteurspositionen diskursiv bestimmt werden, bedeutet dies nicht eine Negation jeder Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeit (vgl. ebd., S. 44). (Konstruktivistische) Akteurs- und diskurszentrierte Ansätze basieren auf unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Grundannahmen. Sie erlauben jedoch Antworten auf verschiedene Fragestellungen und sind so eher komplementär, als dass ihnen Ausschließlichkeit zugebilligt werden sollte. Konflikte besitzen eine zeitliche Dimension. Als Prozesse durchlaufen sie diverse Stadien, was verschiedene Phasenmodelle zum Ausdruck bringen (z.B. Giegel, 1998). Ausgehend von einer Konfliktkommunikation, u.U. auf Basis eines latenten Konflikts, wird ein Konflikt generiert. Hierbei wird er diskursiv gerahmt und eingeordnet. Dann erreicht er ein manifestes Stadium und wird schließlich beigelegt, oder aber er eskaliert (vgl. ebd., S. 16‒23). Kann der Konflikt nicht beigelegt werden, schaukelt er sich meist auf. Während zu Beginn noch eine Winwin-Situation gegeben ist und alle Seiten für sie positive Ergebnisse erzielen können, verliert später einer der Gegner, bis schließlich alle Beteiligten nur noch verlieren und schlechter dastehen als zuvor. Im Zuge der Eskalation verändert sich die Wahrnehmung. Schon früh kommt es zu einem Schwarz-Weiß-Denken, dann wird der Gegner zum Feind, Freund-Feind-Schemata strukturieren die sozialen Beziehungen. Schließlich fokussiert alles auf den Konflikt und wird auf ihn bezogen (vgl. Glasl, 2013, S. 100‒311; Messmer, 2003, S. 272‒274). Spätestens nach der Verfeindlichung, die bis zur Postulierung von „Erbfeindschaften“ reichen kann, wird jede Handlung des Anderen negativ interpretiert, die eigenen Handlungen als Reaktion auf das feindselige Handeln des Gegners aufgefasst. Bei Konflikten, in denen Staaten involviert sind, transportieren – das sei hier angefügt – dann auch die Schulen – und Schulbücher – Feindbilder und beteiligen sich an der Konfliktkonstruktion und -eskalation (für Beispiele vgl. Stöber, 2009; Budke, 2006, S. 148). Auch über die Unterscheidung nach Eskalationsstufen hinaus gibt es zahlreiche Differenzierungen oder Typisierungen von Konflikten. Als Kriterien werden beispielsweise herangezogen: – die antagonistischen oder kompromissfähigen Positionen der Konfliktparteien, – die symmetrischen oder asymmetrischen Machtverhältnisse, – die informellen oder institutionalisierten Formen der Konfliktaustragung, – der innerstaatliche, transnationale oder zwischenstaatliche Konfliktzusammenhang.

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Nach Art des Gegensatzes werden z. B. Sachkonflikte, Interessenkonflikte, Beziehungskonflikte oder Wertekonflikte unterschieden, die auch unterschiedliche Lösungspotentiale besitzen (vgl. z.B. Glasl, 2013, S. 53‒90). Wie schon angedeutet unterscheiden gängige Differenzierungen nach Konfliktursachen, sprechen z.B. von „religiösen“ oder „ethnischen“ Konflikten. Auf dieser Ebene liegen auch die Unterscheidungen, die die aus geographischer Sicht besonders relevanten Konflikte bezeichnen. Bei ihnen geht es um Ressourcen, „Raum“, „Flächen“ oder deren Nutzung. Oßenbrügge (2002, S. 253) sieht geographisch relevante Konflikte zum einen im intrapersonalen Bereich1, beispielsweise bei Wanderungs- oder Standortentscheidungen, zum anderen als interpersonelle Konflikte auf den diversen Maßstabsebenen bei Flächennutzungskonkurrenzen, Raumordnungsfragen, Regionalismen, Territorial- und Grenzstreitigkeiten und geopolitischen Auseinandersetzungen. Dass „Raum“ etc. aber nicht nur als „Gegenstand“ konfliktrelevant wird, macht Reuber (2012, S. 128f., 134‒141) deutlich: Er macht darauf aufmerksam, dass verortbare „allokative Ressourcen“ im Kontext der Konfliktaustragung eine Rolle spielen, dass die symbolische, identitätsstiftende Bedeutung von Orten Konflikten zusätzliche Ebenen hinzufügen und Konfliktlinien eröffnen kann, dass regional definierte Identitäten in überregionalem Konfliktrahmen entscheidend zur Mobilisierung beitragen mögen, dass schließlich räumlich differenzierte soziale Praktiken und institutionelle Ordnungen Konflikte in unterschiedliche Richtungen lenken können. So sind „räumliche“ Aspekte in diversen Konfliktkontexten präsent, nicht nur dort, wo es um Ressourcen und Flächennutzung geht. Macht man Konflikte zum Gegenstand des Geographieunterrichts, verlangt dies einerseits eine Orientierung an der fachwissenschaftlichen Debatte. Bildungsziele und -fragestellungen sind aber nicht nur an der Fachwissenschaft orientiert. So spielen andererseits die gesellschaftliche Relevanz wie auch der Gewinn für die Lernenden eine entscheidende Rolle. Beispielsweise hebt Schrüfer (2013, S. 353‒357) neben inhaltlichen, an der Politischen Geographie orientierten Aspekten wie der Dekonstruktion geopolitischer Weltbilder die Bedeutung einer Behandlung von Konflikten für die Förderung von Systemkompetenz hervor, von Bewertungskompetenz wie von Argumentationskompetenz. Komplexität, Ambivalenzen, Multiperspektivität, die sich an Konfliktsituationen erfahren lassen, begründen die Bedeutung dieser Thematik. Kuckuck (2014) untersucht – und differenziert – vor allem den Aspekt der Argumentationskompetenz bei der unterrichtlichen Behandlung von Konflikten. Sie verweist auf die Bedeutung der (bislang in den Bildungsmedien eher vernachlässigten) Ebene der Rezeption. Sie muss eine mangelnde Berücksichtigung des „Räumlichen“ (und somit eine unterentwickelte

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Die breitere Konfliktdefinition Oßenbrügges (2002, S. 253) schließt solche Konflikte ein, allerdings bewegt sie sich eher auf begriffsrealistischer Grundlage und verzichtet auf den Aspekt der Konfliktkommunikation, der aus unserer Sicht im sozialen Konflikt eine konstituierende Rolle spielt. Es ist jedoch festzuhalten, dass auch solche intrapersonellen Konflikte aus konstruktivistischer Perspektive sozial konstruiert sind und eine diskursive Basis besitzen.

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geographische Perspektive) bei der Rezeption von Argumenten durch die Lernenden konstatieren und macht zudem deutlich, welche Bedeutung dem Verständnis der sprachlichen Konstruktion von Konflikten in diesem Zusammenhang zukommt. Die Bedeutung des Räumlichen in geographischen Kontexten darf, soll der Geographieunterricht einen Beitrag zur Politischen Bildung leisten, aber nicht zum Hauptfokus werden. Will man Konflikte verstehen und dem (gesellschaftlichen) Gegenstandsbereich gerecht werden, sind sie auch als gesellschaftliche Tatbestände zu behandeln. Hier steht der Geographieunterricht durchaus vor dem Dilemma, die diversen Aspekte zu gewichten. 3. „KONFLIKT“ IN LEHRPLÄNEN UND SCHULBÜCHERN Wie Konflikte derzeit Thema des Geographieunterrichts werden, macht ein Blick auf Lehrpläne und Schulbücher deutlich. Der folgenden Zusammenfassung liegen Lehrplan- und Schulbuchanalysen (Stöber 2011; 2012) zugrunde, die für diesen Beitrag in Bezug auf Neuerscheinungen aktualisiert wurden. Hierfür wurden die aktuellen Gymnasiallehrpläne der Bundesländer und 13 in den letzten Jahren neu erschienene (Gymnasial-)Bände (Sekundarstufe I und II) der Verlage Cornelsen, Klett und Bildungshaus Schulbuchverlage herangezogen, die für die Länder Berlin-Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bestimmt sind. Aus Platzgründen kann hierauf aber nur sehr summarisch Bezug genommen werden (vgl. ansonsten Kuckuck, 2014, S. 72‒86). Die aktuellen Geographielehrpläne der deutschen Bundesländer (für das Gymnasium) beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf Konflikte. Die Spannweite reicht von einer Nichterwähnung bis zu durchaus relevanten Bezügen. Die Erwähnungen von „Konflikt“ in den Lehrplänen lassen sich drei Gruppen zuordnen. – In der Mehrzahl der Bundesländer werden Konflikte der heutigen Welt zur Legitimierung des Geographieunterrichts angeführt. Die Spannweite reicht dabei von einer bloßen Erwähnung der Konflikthaftigkeit der Welt bis zur Erwartung, der Unterricht könne die Lernenden befähigen, zur Problemlösung beizutragen. Auch der spezifische Nutzen einer Befassung mit Konflikten für den Erwerb von Kompetenzen wird, ähnlich wie in Kap. 2 aufgeführt, z.T. in den Lehrplänen herausgestellt (z.B. ISB, 2009). – Der Umgang mit Konflikten in Bezug auf ihr eigenes Verhalten wird vereinzelt als Kompetenz genannt, die die Lernenden erwerben sollen. So erwähnt Mecklenburg-Vorpommern als allgemeines Unterrichtsziel den Erwerb von Sozialkompetenz: […] „mit Konflikten angemessen umgehen“ (Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern, 2002, S. 5). Aber auch ein Fachbeitrag wird hier durchaus gesehen (z.B. Thüringen, 2012, S. 8). – Konflikte bilden in fast allen Bundesländern Unterrichtsstoff. Ressourcenkonflikte, u.a. um Wasser, werden genannt, Interessenkonflikte bei der Raumnut-

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zung, z.T. im Kontext von Raumordnung, aber auch politische, „ethnische“ und „religiöse“ Konflikte werden aufgegriffen. In Bayern wird zudem noch auf den „Nord-Süd-Konflikt“ verwiesen, der sonst in dieser Begrifflichkeit keine Rolle mehr spielt (ISB, 2009). So kommen Konflikte auf allen Maßstabsebenen zum Tragen, aber in den einzelnen Bundesländern nicht immer das gesamte Spektrum. Zudem findet nur z.T. eine regionale Zuordnung statt. In vielen Fällen bleibt die Erwähnung global, auch wenn im Unterricht Spezifizierungen vorgenommen werden (sollen). Die häufigste räumliche Spezifizierung (sieben Nennungen) betrifft den „Orient“, „Nahen und Mittleren Osten“, „Westasien“, bzw. den „arabischen Raum“, der beispielhaft für Ressourcen- (Wasser, Öl) wie politische Konflikte steht. Es folgt Deutschland (sechs Nennungen), wo Interessen- und Planungskonflikte abgehandelt werden. Auch die GUS wird noch mehrmals genannt (drei Nennungen), alle anderen räumlichen Spezifikationen (und Konfliktfälle) sind Singularitäten. Auch wenn ein Konfliktbezug in den meisten Lehrplänen aufscheint, ist der Umfang unterschiedlich. Vereinzelt beschränkt sich der Bezug auf den generellen Teil und kommt bei der stofflichen Konkretisierung nicht mehr zum Tragen. Es ist dabei festzuhalten, dass den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern unterschiedliche Fragestellungen zugewiesen werden: Beispielsweise wird in Rheinland-Pfalz das Thema „Konflikte“ recht umfassend im Fach Sozialkunde abgehandelt, spielt in der Sekundarstufe I in Erdkunde aber keine Rolle. Auch in der Oberstufe greifen Geschichte und Politik Konfliktthemen deutlich auf; nun erscheinen die üblichen Themen aber auch im Geographieunterricht (vgl. MBWWK RheinlandPfalz, 1998a; 1998b; 2011). Diese Lehrpläne bilden Vorgaben für die Schulbuchentwicklung, wenn auch keine Blaupausen. Die Schulbücher erwähnen oder behandeln Konflikte in verschiedenen Zusammenhängen. Zum einen sind es Umweltfragen – oft im Kontext von „Nachhaltigkeit“. Dann spielen Raumordnung und Planung und die damit verbundenen Interessen sowie Konkurrenz um Ressourcen eine Rolle. Neben diesen Konflikten, die direkt mit „Raum“ bzw. dem „Lebensraum Erde“ (John, Meinert & Schambach, 2013, S. 118) zu tun haben, werden Konflikte angesprochen, die als „ethnische“, „religiöse“, allgemeiner politische Konflikte – oftmals Kriege und Bürgerkriege – gekennzeichnet werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten: – Konflikte spielen eine unterschiedliche, meist aber eher begrenzte Rolle. Ganze Reihen kommen auch bei relevanten Themen ohne eine Bezugnahme aus. Bücher der Sekundarstufe II gehen tendenziell eher auf Konflikte ein als solche der Sekundarstufe I (vgl. Kuckuck, 2014, S. 77). – Auch wo sie thematisiert werden, werden nur z.T. Akteure genannt. Oft bleiben diese durch Passivkonstruktionen oder – verbreitet – durch Abstraktion („Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie“) im Dunkeln. – Thematisiert werden Konflikte um Ressourcen, oftmals Wasser, (meist auf zwischenstaatlicher Ebene), sowie Interessenkonflikte bei der Nutzung von Räumen im Kontext nachhaltiger Raumnutzung oder – mit Deutschlandbezug – bei Fragen der Raumordnung und -planung.

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Politische (z.T. „ethnische“, „religiöse“) Konflikte werden bei einzelnen länderspezifischen Fallstudien (GUS, Israel, afrikanischen Beispiele) genannt und oft mit räumlichen Disparitäten in Verbindung gebracht. – Die Vielschichtigkeit von Konfliktkonstellationen wird selten deutlich; die Rahmung (als Ressourcen-, Interessen-, „ethnischer“ Konflikt etc.) reduziert oftmals die Wahrnehmung der Komplexität. „Ressourcenkonflikte“ beispielsweise werden nur gelegentlich im arabisch-israelischen Kontext als Teil übergeordneter politischer Konfliktkonstellationen thematisiert. – Oft werden Konflikte anscheinend als „Realkonfigurationen“, die sich von räumlichen Disparitäten ableiten lassen, verstanden, obwohl die wenigen Begriffsbestimmungen in Text oder Glossar (z.B. John, Meinert & Schambach, 2014, S. 175) durchaus auch ein an Positionsgegensätzen orientiertes sozialwissenschaftliches Verständnis vermitteln. Diese Konflikte sind negativ konnotiert. Aber nicht in jedem Fall ist das friedliche Miteinander eine Option. Konflikte, auch die oben genannten, brechen z.T. als Widerstand gegen ungerechte Verteilungssysteme und Machtverhältnisse aus (vgl. Koch & Neumann, 2014, S. 110) und mögen letztlich zu einer Überwindung und „positiven“ Entwicklung beitragen. Diese Perspektive auf gesellschaftliche Konflikte ist in den Schulbüchern allerdings eher selten. 4. KONFLIKTE IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT ‒ FOLGERUNGEN Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich GeographInnen mit sozialen Prozessen befassen, die „geographische Perspektive“ lenkt aber nicht unbedingt den Blick hierauf. Wie ein Schulbuch deutlich macht: „Geographen sehen die Erde mit ‚besonderen‘ Augen und wollen verstehen, wie sich der Lebensraum Erde verändert“ (John et al., 2013, S. 119). Ein Beitrag zur Politischen Bildung ist aber nur möglich, wo die sozialen Prozesse auch als solche zum Thema gemacht werden. Ein Teil der Lehrpläne beansprucht dies durchaus. So sollen die Lernenden laut Thüringer Lehrplan in der 9. und 10. Klasse gesellschaftliche Entscheidungen, Probleme oder Konflikte eigenständig sach- und wertorientiert beurteilen, […] ausgewählte soziale, ethnische und politische Konflikte analysieren und beurteilen, […] der Schüler kann eine Konfliktanalyse angeleitet durchführen. (TMBWK, 2012, S. 8, S. 19, S. 20)

Schließlich sollen die Lernenden befähigt werden, beispielsweise im Rahmen von Planungsprozessen an demokratischen Willensbildungsprozessen teilzunehmen. Um hier erfolgreich zu sein, müssten jedoch verschiedene Bedingungen erfüllt sein: – Wo soziale Prozesse konflikthaft ablaufen, muss dieses auch benannt werden. Die Konflikte dürften nicht durch Euphemismen oder Abstraktionen verschleiert werden.

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Die Rückführung von Konflikten auf eindimensionale Ursachen, die in vielen Bezeichnungen aufscheint, verdeckt häufig deren Komplexität. Solche Zuordnungen verbauen eher ein Verständnis. – Die Akteure in den Konflikten, die Kontrahenten wie auch beteiligte Dritte, müssen benannt werden. Sie dürfen nicht durch Passivkonstruktionen etc. im Dunkel bleiben. – Dort, wo der Konflikt selbst zum Thema wird, muss seine Prozesshaftigkeit deutlich werden. Das setzt bei der Formulierung der konträren Positionen und der Konfliktgenerierung an und sollte auch Eskalationsspiralen mit deren Auswirkungen einbeziehen. – Auf der Ebene der Akteure wie der Beobachter finden wir diverse, auch wechselnde Perspektiven auf den Konflikt und auf die eigene Positionierung. In diesem Kontext sind weniger (bipolare) Pro-und-Kontra-Diskussionen gefragt, die meist auch eine eindeutige Positionierung der Lernenden zur Fragestellung zulassen und erfordern (vgl. Kuckuck, 2014, S. 103). Vielmehr geht es um ein Begreifen der Multiperspektivität von Akteurs- und Beobachterstandpunkten und von Ambivalenzen, die eine eindeutige Entscheidung in Frage stellen und – begründet – Raum für Uneindeutigkeit lassen. Ein „Sowohl als auch“ ist bei Offenlegung der Gründe des Zweifels in der Regel mit einem höheren Maß von Verständnis verbunden als ein „Hier stehe ich ‒ ich kann nicht anders“. – Zudem geht es um die Erkenntnis, dass diskursive Positionen nicht einfach mit Motiven und Intentionen der Akteure gleichgesetzt werden dürfen. Wo beispielsweise Sachkonflikte in größere Konfliktkonstellationen eingebunden sind, wird darauf nicht unbedingt Bezug genommen; dies hat aber weitreichende Auswirkungen für den Konfliktverlauf. (Insofern können Konfliktdiskurse blinde Flecken haben. Auch das Unausgesprochene wird aber mitgedacht). – Soweit einzelne Konflikte näher analysiert werden sollen, ist eine Beschäftigung mit Texten notwendig. Textanalytisches Rüstzeug ist daher Bedingung. – Werden Konfliktdiskurse (als Texte) analysiert, so darf dabei die Umsetzung in Handlung (die Diskursanalytiker mitdenken) nicht aus dem Blick geraten. Schließlich ist es die physische Manifestation, darunter die Auswirkung von Gewalt, die Konflikten im geographischen Kontext einen Großteil ihrer Relevanz verleiht. Es stellt sich die Frage, welcher Konfliktbezug dem Geographieunterricht zugemutet werden kann. Die Antworten mögen hier unterschiedlich ausfallen. Eine Konfliktabstinenz ist allerdings keine Lösung. Eine Aufgabenteilung der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer, bei der Sozialkunde/Politik sich intensiver mit den Konfliktprozessen befasst, der Geographieunterricht aber auf Auswirkungen und Teilbereiche beschränkt und auf den Sozialkundeunterricht verweist, bliebe eine Möglichkeit, ebenso wie eine eigenständige, aber sozialwissenschaftlich fundierte Behandlung spezifischer Konstellationen. Die Voraussetzungen hierfür sind z.Zt. nicht optimal, wie der Blick in die Schulbücher deutlich machte. Das betrifft nicht nur das zugrunde liegende Konfliktverständnis. Es stellt sich dabei die Fra-

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ge, ob Schulbücher als Grundlage für eine fundierte Konfliktanalyse das geeignete Medium darstellen können. Konflikte aus dem Umfeld der Lernenden sind ideal (vgl. Kuckuck, 2014), setzen aber die Erarbeitung durch die Lehrkraft voraus. Ein breiteres Materialangebot als es das Schulbuch bieten kann ist aber Voraussetzung und ein Angebot, das nicht nur zwei gegensätzliche Positionen knapp darstellt, sondern das Nachzeichnen der Diskurse auch über den Konfliktverlauf ermöglicht. Dies alles ist sehr voraussetzungsvoll. Ohne Grundlagen und ohne ein genügendes Zeitbudget lassen sich komplexe Konstellationen und Entwicklungen nicht erarbeiten. Wenn aber Geographie (auch) als Gesellschaftswissenschaft verstanden und/oder die besondere Bedeutung gesellschaftlicher Bildungsziele auch für den Fachunterricht akzeptiert wird, führt kein Weg daran vorbei, sich dieser Herausforderung zu stellen. LITERATUR Bonacker, T. (Hrsg.). (2005). Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Budke, A. (2006). Nationale Stereotypen als soziale Konstruktion im Erdkundeunterricht. In: M. Dickel & D. Kanwischer (Hrsg.), TatOrte. Neue Raumkonzepte didaktisch inszeniert, (S. 139‒153). Berlin: Lit Verlag. Giegel, H.-J. (1998). Gesellschaftstheorie und Konfliktsoziologie. In: Ders. (Hrsg.), Konflikt in modernen Gesellschaften (S. 9‒28). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Glasl, F. (2013). Konfliktmanagement. 13. Aufl. Bern u.a.: Haupt. Glasze, G. & Mattissek, A. (2009). Diskursforschung in der Humangeographie: Konzeptionelle Grundlagen und empirische Operationalisierungen. In G. Glasze & A. Mattissek (Hrsg.), Handbuch Diskurs und Raum (S. 11‒59). Bielefeld: transcript. Gromes, T. (2008). Gemeinsame Demokratie, geteilte Gesellschaft. Die Unmöglichkeit einer Friedensstrategie in Bosnien und Herzegowina. HSFK Report 9/2008. Frankfurt am Main: Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung. John, A., Meinert, C. & Schambach, K.-H. (2013). TERRA Geographie 7/8 Gymnasium Thüringen. Stuttgart, Leipzig: Klett. John, A., Meinert, C. & Schambach, K.-H. (2014). TERRA Geographie 9/10 Gymnasium Thüringen. Stuttgart, Leipzig: Klett. Koch, R. & Neumann, J. (Hrsg.). (2014). Mensch und Raum Geographie Oberstufe. Berlin: Cornelsen. Kuckuck, M. (2014). Konflikte im Raum. Verständnis von gesellschaftlichen Diskursen durch Argumentation im Geographieunterricht. Münster: Monsenstein & Vannerdat (Geographiedidaktische Forschungen 54). Messmer, H. (2003). Der soziale Konflikt. Kommunikative Emergenz und systemische Reproduktion. Stuttgart: Lucius & Lucius. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.). (2002). Rahmenplan Gymnasium, Integrierte Gesamtschule Jahrgangsstufen 7-10 Geographie. Erprobungsfassung 2002. Rostock. Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur (MBWWK) Rheinland-Pfalz (1998a). Lehrpläne Gesellschaftswissenschaften. Erdkunde, Geschichte, Sozialkunde. Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Regionale Schule (Klassen 7-9/10). Mainz. Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur (MBWWK) Rheinland-Pfalz (1998b). Lehrplan Gemeinschaftskunde. Grundfach und Leistungsfach mit Schwerpunkt Ge-

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schichte, mit Schwerpunkt Sozialkunde, mit Schwerpunkt Erdkunde in den Jahrgangsstufen 11 bis 13 der gymnasialen Oberstufe. Mainz. Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur (MBWWK) Rheinland-Pfalz (2011). Lehrplananpassung Gesellschaftswissenschaftliches Aufgabenfeld […] in den Jahrgangsstufen 11 bis 13 der gymnasialen Oberstufe (Mainzer Studienstufe). Mainz. Oßenbrügge, J. (2002). Konflikt. In E. Brunotte, H. Gebhardt, M. Meurer, P. Meusberger & J. Nipper (Hrsg.), Lexikon der Geographie in vier Bänden. Band 2 (S. 235). Heidelberg, Berlin: Spektrum. Reuber, P. (2012). Politische Geographie. Paderborn: Schöningh UTB. Schrüfer, G. (2013). Konflikte im Geographieunterricht. In M. Rolfes & A. Uhlenwinkel (Hrsg.), Metzler Handbuch 2.0 Geographieunterricht. Ein Leitfaden für Praxis und Ausbildung (S. 350‒357). Braunschweig: Bildungshaus Schulbuchverlage. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) (2009). Lehrplan für das Gymnasium in Bayern. Geographie. 2004/Fassung 2009. Verfügbar unter: http://www.isb.bayern.de/ schulartspezifisches/lehrplan/gymnasium/fachprofil-ebene-2/erdkunde-geographie/313/ [10.09.2015]. Stöber, G. (2009). Schulbuch, Karten und Konflikte. Verfügbar unter: http://www.voss-stiftung.de/ publikationen/wissenschaftliche-publikationen/die-macht-der-karten/georg-stober-schulbuchkarten-und-konflikte/ [29.02.2016]. Stöber, G. (2011). Zwischen Wissen, Urteilen und Handeln ‒ 'Konflikt' als Thema im Geographieschulbuch. In C. Meyer, R. Henrÿ & G. Stöber (Hrsg.), Geographische Bildung. Kompetenzen in didaktischer Forschung und Schulpraxis (S. 68‒81). Braunschweig: Westermann. Stöber, G. (2012). Zwischen 'Ökologie und Ökonomie'? Flächennutzungskonflikte im Spiegel neuerer deutscher Erdkunde-Schulbücher. In G. Stöber (Hrsg.), Zwischen Ökonomie und Ökologie? Raumstruktureller Wandel, Raumplanung und Nutzungskonflikte in Deutschland und Polen (S. 173‒195). Göttingen: V&R unipress. Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (TMBWK) (2012). Lehrplan für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife. Geografie. Erfurt: TMBWK.

MÜNDIGKEIT UND LEHRERINNENBILDUNG IN FÄCHERUND PHASENÜBERGREIFENDER PERSPEKTIVE Eine curriculare Fallanalyse der Fächer Erdkunde, Geschichte und Politik/Wirtschaft Christian Dorsch, Nina Grünberg, Detlef Kanwischer & Oliver Wolff 1. MÜNDIGKEIT IN DER LEHRERINNENBILDUNG – EINE LEERFORMEL? Sachverhalte politisch, wirtschaftlich, geographisch und historisch einordnen, analysieren, bewerten und diskutieren zu können, wird als conditio sine qua non für die Herausbildung mündiger BürgerInnen begriffen und ein solchermaßen gebildeter Mensch ist das Ideal Politischer Bildung in Deutschland. Dies spiegelt sich auch in den Leitvorstellungen der LehrerInnenbildung in Hessen wider: Lehrerinnen und Lehrer sollen Kinder und Jugendliche im Bildungsprozess als entwicklungsfähige und förderungsbedürftige Individuen ansehen, die Zeit, Impulse und Geduld zur Entfaltung ihrer Begabungen und ihrer Mündigkeit brauchen. (Ministerium für Wissenschaft und Kunst, 2002, S. 1, 26)

Hiermit wird deutlich, dass Mündigkeit eine Querschnittsaufgabe in der LehrerInnenbildung ist. Diese ist in der Schule in Form von Verbundfächern und fächerverbindenden curricularen Verweisen realisiert sowie in den neuen hessischen Kerncurricula festgeschrieben: So soll beispielsweise der Politik/WirtschaftUnterricht die Lernenden dazu befähigen, als mündige Person an der demokratischen Öffentlichkeit teilzunehmen (vgl. Hessisches Kultusministerium, 2011) Eine ähnliche Formulierung findet sich im Kerncurriculum für das Fach Geschichte und implizit auch für das Fach Erdkunde. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie die Lehrkräfte diesbezüglich in der ersten und zweiten Phase der LehrerInnenbildung ausgebildet werden. Die gegenwärtige Situation der LehrerInnenbildung bezüglich einer fächerund phasenübergreifenden Politischen Bildung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Lehramtsstudierenden in ihrer Ausbildung an der Universität in ihren Fächern berufsbiographisch und fachspezifisch sozialisiert werden. In der zweiten Phase der LehrerInnenbildung an den Studienseminaren ist die Situation ähnlich. Diese wird zudem hochgradig getrennt von der ersten Phase durchgeführt. Auf diese Problematik gehen wir an der Goethe-Universität Frankfurt im Rahmen des Projektes „LEVEL ‒ Lehrerbildung vernetzt entwickeln“ ein, das vom Programm „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ des Bundesministeriums für

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Bildung und Forschung gefördert wird. Im sozialwissenschaftlich-historischen Fachverbund entwickeln wir Lernmodule für die Fächer Erdkunde, Geschichte und Politik/Wirtschaft. Diese fachdidaktischen Lernmodule werden fächer- und phasenübergreifend eingesetzt und adressieren die Identifikation, Analyse und Interpretation zentraler Charakteristika von Mündigkeit als Leitziel sozialwissenschaftlich-historischer Bildung. Um dieses Projektziel zu realisieren, müssen in einem ersten Schritt die curricularen Rahmenbedingungen untersucht werden. Hiermit wäre der Ausgangspunkt unseres Beitrages markiert. Wir werden eingangs den Begriff der Mündigkeit im Rahmen der Politischen Bildung diskutieren, um Kategorien abzuleiten, die bei der Analyse der bestehenden curricularen Dokumente für die Fächer Erdkunde, Geschichte und Politik/Wirtschaft in der ersten (Studienordnungen und Modulbeschreibungen) und zweiten Phase (Ausbildungsrichtlinien und Modulbeschreibungen) der LehrerInnenbildung berücksichtigt werden müssen. Die Analyse wird den Fokus darauf richten, inwieweit Mündigkeit als Inhalt, Prinzip und Bildungsziel in den drei Fächern in den verschiedenen Ausbildungsphasen berücksichtigt wird. Abschließend werden vor dem Hintergrund der curricularen Analyse mit Blick auf Mündigkeit Fragen zur Aneignung und Verknüpfung von Professionswissen in fächer- und phasenübergreifender Perspektive diskutiert. 2. MÜNDIGKEIT IN DER BILDUNGSTHEORETISCHEN DISKUSSION Seine Bedeutung über einen rein rechtlichen Status hinaus erlangt der Mündigkeitsbegriff erst unter den Aufklärern des 18. Jahrhunderts. Kant wandelt den Zustand zum Prozess, indem er Mündigkeit mit innerer Reife gleichsetzt, der sich der Mensch im Lauf seines Lebens annähern solle. Es sei seine Entscheidung, ob er sich seines Verstandes bediene oder ob er im Dämmerzustand der Unmündigkeit verbleibe (vgl. Kant, 1784, in: Sommer, 2007, S. 227). Die Schule habe hierbei die schwierige Aufgabe, Zwang in der Erziehung ausüben zu müssen, dabei aber das innere Streben der SchülerInnen nach Mündigkeit nicht einzuschränken (Kant, 1803, S. 12). Dieses Paradoxon steht auch in der jüngeren Diskussion des Begriffs im Mittelpunkt. Nachdem die Deutschen trotz ihrer humanistischen Bildung dem Nationalsozialismus nicht widerstehen konnten, sollte die Schule nach dem Zweiten Weltkrieg vorrangig der Demokratieerziehung dienen. Als mündig Partizipierende sollten die SchülerInnen fortan für diese Staatsform eintreten. Heydorn (1980) bezeichnet die Erziehung bei der Aneignung von Mündigkeit dagegen als Hemmnis: Der Mensch müsse sich Bildungsprozessen von sich aus unterziehen, um ‒ entsprechend des Humboldt‘schen Ideals ‒ seinen Charakter ganzheitlich mündig auszubilden. Eine Erziehung zur Mündigkeit könne es aufgrund des damit verbundenen Zwangs nicht geben (vgl. ebd., S. 162‒163). Adorno (1979) dagegen sieht die Gesellschaft selbst als Hindernis für eine wahre Mündigkeit. Ein verkürzter Rationalitätsbegriff lasse den Menschen sich einer Funktion unterordnen, ohne Rücksicht darauf, „was ihm als seine eigene menschliche Bestimmung vor

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Augen steht.“ Eine freie Selbstbestimmung sei in dieser „integralen Gesellschaft“, an die das Individuum gebunden werde, nicht möglich (ebd., S. 10). Auch Gruschka (1994) betont den Widerspruch zwischen den individuellen Bildungsbemühungen, die autonome und kritisch denkende Individuen hervorbringen sollen, und der Institution Schule, die den SchülerInnen ihre Lerngegenstände lehrplangestützt als indiskutabel vorsetze. Er unterscheidet dabei zwischen einer pädagogisch normativen, d.h. im Sinne der Aufklärung definierten, und einer funktionalen Mündigkeit. Letztere eigneten sich die SchülerInnen an, um die Erwartungen der Schule an sie zu erfüllen und letztlich in der Gesellschaft eine gesicherte Existenz zu erhalten. Neben der Diskussion, ob Mündigkeit und Erziehung harmonisieren können, werden einzelne Aspekte von Mündigkeit unterschiedlich akzentuiert. So betont Roth (1971, S. 220) die Rolle des Selbst: Das Ich, dessen der mündige Mensch sich bewusst sei und das ihn vom Säugling unterscheide, sei die zentrale Instanz. Kößler beschreibt den identitätsstiftenden Charakter der Bildung, indem der Mensch „wertend und stellungnehmend“ seinen Standort definiere sowie „Lebens- und Handlungsorientierung“ gewinne (1989, S. 56). Klafki begreift die Selbstbestimmung über eigene persönliche Lebensbeziehungen neben der Mitbestimmungsfähigkeit in Gesellschaft und Politik als zentrale Aufgaben von Bildung (vgl. 2007, S. 52). Voraussetzung für die Entwicklung einer mündigen Handlungsfähigkeit ist für Roth die kritische Reflexion, die dem Individuum gestatte, sein Selbst bewusst wahrzunehmen (vgl. 1971, S. 382‒383). Sie bleibt in der Gegenwart auch für Jörissen und Marotzki (2009) das einzig sinnstiftende Moment: In der durch Krisen geprägten Moderne, in der tradierte Sinnbezüge erodiert würden, könnten Orientierungssysteme nur zeitlich begrenzt wirken ‒ die eine „richtige Weltsicht“ existiere nicht mehr. Vielmehr müsse das Individuum die verschiedenen Perspektiven seiner Umwelt wahrnehmen und dadurch seinen eigenen Standpunkt relativieren (vgl. ebd., S. 16‒18). Der Begriff Mündigkeit bewegt sich in seiner Deutungsgeschichte folglich zwischen drei Ebenen: Autonomie, Selbst und Reflexivität. Hiermit sind drei Hauptkategorien für die Analyse der curricularen Dokumente indiziert. 3. METHODISCHES VORGEHEN Vor dem Hintergrund, dass das Projekt an der Goethe-Universität Frankfurt in Hessen umgesetzt wird, wurden nur die für das Projektziel relevanten Dokumente in der jeweils aktuellen Fassung analysiert. Auf universitärer Ebene wurden die fachspezifischen Anhänge der Studienordnung Lehramt für die Fächer Erdkunde, Geschichte und Politik/Wirtschaft für das Lehramt an Haupt-, Real- und Förderschule und das Lehramt Gymnasium untersucht. Für die zweite Phase der LehrerInnenbildung wurden die Modulbeschreibungen der Studienseminare für die Fächer Geographie, Geschichte und Politik/Wirtschaft des Landes Hessen für das Lehramt an Haupt-, Real- und Förderschule und das Lehramt Gymnasium untersucht. Zudem wurden weitere Dokumente, auf die in den untersuchten curricula-

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ren Dokumenten verwiesen wurde, bei der Analyse berücksichtigt. Eine komplette Auflistung der untersuchten Dokumente findet sich im Literaturverzeichnis. Die qualitative Inhaltsanalyse der Dokumente orientierte sich am inhaltlich strukturierenden Verfahren (vgl. Kuckartz, 2014). Die Kategorien und Subkategorien wurden in einem komplementären Verfahren entwickelt. Den Ausgangspunkt bildeten die aus der theoretischen Diskussion abgeleiteten Kategorien Autonomie, Selbst und Reflexivität. Um die Reliabilität der Ergebnisse zu erhöhen, wurden alle Dokumente in einem ersten Schritt separat von zwei Personen codiert und die Ergebnisse in einem zweiten Schritt zusammengefasst. Dabei konnten verschiedenste Textstellen den drei Hauptkategorien Autonomie, Selbst und Reflexivität zugeordnet werden. Aufgrund des hohen Abstraktionsniveaus dieser Kategorien, wurden die sechs Subkategorien a) Kritik, b) Reflexion, c) Begründung, Bewertung, Beurteilung, d) Selbstbestimmung, Eigenständigkeit, Eigenverantwortung, e) Perspektive und f) Handlung induktiv entwickelt. Im Rahmen der Textanalyse konnten die sechs entwickelten Subkategorien nicht immer eindeutig nur einer Hauptkategorie zugeordnet werden, so dass ein ausdifferenziertes Kategoriengerüst entstanden ist (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1: Kategoriengerüst zum Begriff Mündigkeit (Quelle: eigene Darstellung)

Während des Codierprozesses zeigte sich zudem die Notwendigkeit, Regeln bezüglich der Erfassung der Bedeutung von Textstellen festzulegen. So wurde z.B. der Textstelle „Politische Handlungskompetenz“ aufgrund ihres konkreten Bezugs zum Begriff Mündigkeit mehr Bedeutung zugewiesen als der unspezifischen Textstelle „Handlungsorientierter Unterricht“. Eine weitere Regel bezog sich auf

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den Adressatenbezug, da nicht immer explizit deutlich wurde, auf welche Personengruppe (Lehrkraft, SchülerInnen, Studierende oder ReferendarInnen) die Formulierungen abzielen. 4. ERGEBNISSE UND DISKUSSION Das wohl erstaunlichste Ergebnis ist, dass der Begriff Mündigkeit in den untersuchten Dokumenten nicht verwendet wird, obwohl er generell im deutschen Bildungssystem und insbesondere in den drei untersuchten sozialwissenschaftlichen Fächern eine zentrale Stellung hat. Eine Ursache für die Vermeidung des Begriffs Mündigkeit könnte in den unterschiedlichen Akzentuierungen der Definitionen liegen (vgl. Punkt 2). So sollen womöglich Unklarheiten darüber, was nun eigentlich im Zentrum der Lehrtätigkeit liegt, vermieden werden. Auch die Abstraktheit des Begriffs, die in der jüngeren Diskussion, insbesondere in der Politischen Bildung, ebenfalls thematisiert wird, könnte eine Ursache für die Vermeidung des Begriffs sein. Detjen, Massing, Richter und Weißeno (2012, S. 8) sprechen sich beispielsweise für die Abschaffung des normativen Bildungsziels Mündigkeit aus. Der „Outcome“ eines Unterrichts, der Mündigkeit fördern soll, sei nicht quantifizierbar, da kein Zuwachs an Können im Sinne einer Kompetenz stattfinde. Diese rein an messbaren Ergebnissen orientierte Sichtweise wird als unaufgeklärt, einseitig funktionalistisch und nicht am Postulat des guten Unterrichts ausgerichtet kritisiert (Sander, Reinhardt, Petrik, Lange, Henkenborg, Hedtke, Grammes & Besand, 2016, S. 18). Im Gegensatz zur konkreten Verwendung des Begriffes Mündigkeit existieren in den Dokumenten jedoch die aus der theoretischen Diskussion extrahierten Teilaspekte von Mündigkeit. So wurden in allen Dokumenten der ersten und zweiten Phase Begriffe verwendet, die den Subkategorien Eigenständigkeit/Selbstbestimmung/Eigenverantwortung zugeordnet werden können. Wenn von selbstständigem wissenschaftlichen Arbeiten oder dem eigenverantwortlichen Unterrichten die Rede ist, wird jedoch die übergeordnete Hauptkategorie Autonomie immer nur auf einen bestimmten Aufgabenbereich reduziert, wie z.B. Wissenschaft oder Unterricht, und nicht ganzheitlich als „Beschaffenheit des Willens“ (Kant, 1989, S. 11) gesehen. Ziel ist es also nicht, die Studierenden oder die ReferendarInnen zu befähigen, als mündige Individuen in allen Lebensbereichen autonom zu handeln. Diesen Textblöcken, die Selbständigkeit fördern sollen, steht die Lehrform der Vorlesung, die in zahlreichen Modulen der ersten Phase eingesetzt wird, konträr entgegen. Sie ist eine einseitige Kommunikationssituation, die überwiegend träges Wissen produziert und als Entmündigung der Studierenden kritisiert wird (vgl. Kerres & Pressler, 2013, S. 2). Die Hauptkategorie Reflexivität ist in der ersten Phase der Ausbildung vorrangig in Form von Kritik und Beurteilen auf äußere Gegenstände wie z.B. Ideologien, Quellen, Meinungen und Theorien bezogen und weniger auf das Selbst. Hiermit werden die Studierenden dazu angehalten, kritisch zu hinterfragen, was

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ihnen zum Lernen vorgesetzt wird (vgl. Gruschka, 1994). Gleichsam sollen sie ‒ im Sinne Roths (1971) ‒ ihren eigenen Standort im Diskurs definieren. In der zweiten Phase der Ausbildung wird die Subkategorie Reflexion stärker auf das Selbst gelenkt: Insbesondere das eigene unterrichtliche Handeln wird kritisch in den Blick genommen, mit dem Ziel, die angehende Lehrkraft zum „reflektierenden Praktiker“ auszubilden. Angelehnt ist dieses Zitat an Schön (1983), der in seinem Buch „The Reflective Practitioner“ das Reflektieren ausschließlich auf das handelnde Subjekt bezieht: Durch ständige Reflexion und Evaluation soll das unterrichtliche Handeln professionalisiert werden. Bezogen auf die Hauptkategorie Selbst, kann der so Ausgebildete dabei seine Identität als Lehrperson festigen, wie es beispielsweise auch Kößler (1989) beschreibt. Im Hinblick auf die Vermittlung von Mündigkeit fällt auf, dass die fachspezifischen Anhänge der ersten Phase ausnahmslos die Studierenden adressieren. Im Mittelpunkt steht das Individuum, das seine Mündigkeit weiter ausbilden soll. Nur in den Schulpraktischen Studien werden Vermittlungsaspekte implizit angesprochen, der Verweis auf Mündigkeit oder dessen Teilaspekte fehlt jedoch. In der zweiten Phase rückt der Fokus vom Individuum auf eine Vermittlerebene. Dieser Fokuswechsel wird an mehreren Textstellen der Modulbeschreibungen in verschiedenen Subkategorien deutlich. Die Universität impliziert damit, dass die Studierenden während ihrer Schulzeit in ihrer Mündigkeit noch nicht ausreichend vorangeschritten sind und hier sozusagen noch Nachholbedarf besteht (vgl. Abb. 2).

Abbildung 2: Mündigkeit im Bildungsverlauf von Lehrkräften auf Grundlage der curricularen Analyse (Quelle: eigene Darstellung)

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Durch den Fokuswechsel der ersten und zweiten Phase, d.h. von der Entwicklung der eigenen Mündigkeit hin zu einer Fähigkeit der Vermittlung von Mündigkeit, der in allen Fächern zu beobachten ist, wird postuliert, dass die angehenden Lehrkräfte durch das Studium bereits in ihrer Mündigkeit so weit vorangeschritten sein sollten, dass sie nun auch SchülerInnen dahingehend unterrichten können. Dies bedeutet auch, dass implizit von unterschiedlichen Niveaustufen von Mündigkeit ausgegangen wird. Angesichts der geringen Berücksichtigung des Begriffs Mündigkeit in den Dokumenten, erstaunt es nicht, dass keinerlei Veranstaltungen existieren, die fächer- oder gar phasenübergreifend die Thematik aufgreifen. Begründen lässt sich dies einerseits mit den oben genannten generellen Schwierigkeiten, die der Begriff und seine didaktische Vermittlung bereiten. Andererseits gibt es auch bezüglich anderer Fachinhalte kaum fächer- oder phasenübergreifende Ansätze in der Ausbildung von LehrerInnen, was in der Hochschuldidaktik bzw. von Studierenden und ReferendarInnen auch oftmals bemängelt wird. 5. FAZIT ODER OFFENE BAUSTELLEN Curriculare Dokumente werden i.d.R. von organisationsbezogenen Expertengruppen verfasst und verfügen somit neben einem fachlichen auch über ein soziales und institutionelles Substrat. Vor diesem Hintergrund laden die gewonnenen Ergebnisse zu Vergleichen mit anderen Universitäten und Bundesländern ein. Erst hierdurch kann die relative Bedeutung von Mündigkeit in den curricularen Dokumenten der ersten und zweiten Phase der LehrerInnenbildung im Hinblick auf organisatorische und institutionelle Aspekte analysiert und die gegenwärtigen Konstruktionen und Deutungen von Mündigkeit in der ersten und zweiten Phase der LehrerInnenbildung sichtbar werden. Die Ergebnisse unserer Fallstudie sind insofern erstaunlich, dass trotz der zentralen Stellung von Mündigkeit im deutschen Bildungssystem im Allgemeinen und in der LehrerInnenbildung sowie in den sozialwissenschaftlich-historischen Fächern im Besonderen, ein Ausschluss des Begriffs Mündigkeit in den untersuchten curricularen Dokumenten der ersten und zweiten Phase stattfindet. Mündigkeit wird nur indirekt über die Teilaspekte Autonomie, Selbst und Reflexivität in jeweils unterschiedlichen Zielvorstellungen und Adressierungen thematisiert. Wohlwollend könnte an dieser Stelle argumentiert werden, dass der Begriff Mündigkeit und seine Teilaspekte eine Lehrformel sind, die eine den Begriffen angemessene definitorische Offenheit haben muss. Wenn die Ergebnisse jedoch mit der Frage konfrontiert werden, wer sagt was zu wem und wie in den curricularen Dokumenten, dann lautet die Antwort, dass Mündigkeit in den untersuchten Dokumenten keine Lehrformel, sondern eine Leerstelle ist. Darüber hinaus gehen die VerfasserInnen der Dokumente davon aus, dass die Lehramtsstudierenden während ihres Studiums an ihrer eigenen Mündigkeit arbeiten müssen. Auch wenn die unterrichtliche Vermittlung nur ein Teilaspekt der universitären Ausbildung darstellt, fällt doch auf, dass die Vermittlung von Mündigkeit in der ersten Phase

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nicht thematisiert wird. Dies ist jedoch insofern nur konsequent, da nur wer selbst mündig ist, seinen Unterricht dementsprechend ausrichten kann. In der zweiten Phase der Ausbildung wird dann Mündigkeit vorausgesetzt und die ReferendarInnen müssen vom ersten Tag an Mündigkeit im Unterricht vermitteln, ohne vorher in der ersten Phase ihrer Ausbildung diesbezügliche Vermittlungsaspekte kennen gelernt zu haben. Solch eine Feststellung mag viele engagierte fachdidaktische DozentInnen an den Universitäten ärgern, da auch an der Universität die Vermittlung von Mündigkeit und deren Teilaspekten an SchülerInnen gewiss eine Rolle spielt. Auch wenn diesbezüglich – angelehnt an Hartmut von Hentig – formuliert werden kann, dass die Lehrkraft das Curriculum ist, so sollte für Außenstehende, die nicht an der universitären Unterrichtspraxis teilnehmen, die curricularen Dokumente so (re)formuliert werden, dass die Vermittlung von Mündigkeit auch dort den Stellenwert erhält, den es in der allgemeinen Diskussion zur LehrerInnenbildung hat. Bezugnehmend auf unsere weitere Arbeit, in deren Mittelpunkt die Entwicklung von fächer- und phasenübergreifenden Lernmodulen steht, müssen vor dem Hintergrund der Ergebnisse verschiedene Aspekte in den Blick genommen werden, die innerhalb der Fächer und zwischen den Phasen abgestimmt werden sollten. Als besonders wichtig erscheint hierbei, dass die gesetzlich vorgeschriebene Abstimmung zwischen den Phasen auch auf institutioneller Ebene in den curricularen Dokumenten vermerkt wird. Zudem muss es in einem ersten Schritt darum gehen, die curricularen Dokumente hinsichtlich des Begriffs der Mündigkeit und der Adressierung von Mündigkeit in Einklang zu bringen. Darauf aufbauend sollten fächerübergreifende Ansätze eruiert werden, die eine Zusammenarbeit ermöglichen. Gleichzeitig müssen auch fächer- und phasenübergreifende didaktische Ansätze (z.B. Perspektivenwechsel), Methoden (z.B. Portfolioarbeit) und Aufgaben abgestimmt werden. Zudem müssen die bekannten und in der Praxis der Vermittlung von Mündigkeit identifizierten Themenbereiche gezielt gefördert werden. Hierzu zählen beispielsweise die mündige Raumaneignung in Erdkunde, der mündige Umgang mit Quellen in Geschichte oder die Partizipation in der Demokratie in Politik/Wirtschaft. Dies alles muss auch seinen Niederschlag in den fachspezifischen Anhängen bzw. in den Modulbeschreibungen finden, um die inhaltliche Kohärenz von Ausbildungsinhalten in den verschiedenen Fächern und Phasen zu stärken. Eine solchermaßen harmonisierte – nicht standardisierte – Ausbildung der Lehrkräfte in den sozialwissenschaftlich-historischen Fächern wäre gerade in Bezug auf Mündigkeit wünschenswert, damit Mündigkeit nicht als naive Idee über den Curricula schwebt, die jeder Lehrende in der ersten und zweiten Phase auf eigene Faust und nach Gutdünken umsetzt oder eben auch nicht. LITERATUR Adorno, T.W. (1979). Soziologische Schriften 1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Detjen, J., Massing, P., Richter, D. & Weißeno, G. (2012). Politikkompetenz. Ein Modell. Wiesbaden: Springer VS. Gruschka, A. (1994). Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Gesellschaft und Erziehung. Wetzlar: Büchse der Pandora (Schriftenreihe des Instituts für Pädagogik und Gesellschaft, Münster, 4). Hessisches Kultusministerium (2011). Bildungsstandards und Inhaltsfelder - Das neue Kerncurriculum für Hessen Sekundarstufe I - Gymnasium: Politik und Wirtschaft. Heydorn, H.-J. (1980). Ungleichheit für alle. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs. Frankfurt am Main: Syndikat Autoren- u. Verl.-Ges. (Bildungstheoretische Schriften, Bd. 3). Jörissen, B. & Marotzki, W. (2009). Medienbildung - eine Einführung. Theorie - Methoden - Analysen. 1. Aufl. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Verfügbar unter http://www.utb-studi-ebook.de/9783838531892 [22.02.2016]. Kant, I. (1803). Über Pädagogik. Herausgegeben und mit einer Vorrede versehen von D. Friedrich Theodor Rink. 1.Aufl. Königsberg: Friedrich Nicolovius. Kant, I. (1989). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In W. Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant: Werkausgabe. In 12 Bänden, Bd. 8. Die Metaphysik der Sitten. 10. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kerres, M. & Pressler, A. (2013). Zum didaktischen Potenzial der Vorlesung: Auslaufmodell oder Zukunftsformat? In G. Reimann, M. Ebner & S. Schön (Hrsg.), Hochschuldidaktik im Zeichen von Heterogenität und Vielfalt. Doppelfestschrift für Peter Baumgartner und Rolf Schulmeister (S. 79‒97). Bad Reichenhall: BIMS e.V. Klafki, W. (2007). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. 6., neu ausgestattete Aufl. Weinheim: Beltz. Kößler, H. (1989). Bildung und Identität. In H. Kößler & Konrad Jacobs (Hrsg.), Identität. Fünf Vorträge (S. 51–65). Erlangen: Univ.-Bibliothek Erlangen-Nürnberg (Erlanger Forschungen Reihe B, Naturwissenschaften und Medizin). Kuckartz, U. (2014). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 2., durchges. Aufl. Weinheim: Beltz Juventa. Ministerium für Wissenschaft und Kunst (Hrsg.). (2002). Empfehlungen zur Aktualisierung der Lehrerbildung in Hessen. Wiesbaden. Roth, H. (1971). Pädagogische Anthropologie. Band 2: Entwicklung und Erziehung. 3. Aufl. Hannover: Schroedel. Sander, W., Reinhardt, S., Petrik, A., Lange, D., Henkenborg, P. Hedtke, R., Grammes, T. & A. Besand (2016). Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. Schwalbach/Ts.: Wochenschau. Schön, D.A. (1983). The reflective practitioner. How professionals think in action. New York: Basic Books. Sommer, M. (2007). Mündigkeit. In J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bände; 1971-2007, Bd. 6 (S. 225–235). Basel: Schwabe.

ANHANG: UNTERSUCHTE DOKUMENTE Amt für Lehrerbildung Hessen (2012). Module für den pädagogischen Vorbereitungsdienst. Goethe-Universität Frankfurt am Main (2005). Studien- und Prüfungsordnung für die Lehramtsstudiengänge an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main und der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Frankfurt am Main, vom 21.12.2005. UniReport aktuell. Goethe-Universität Frankfurt am Main (2008a). Fachspezifischer Anhang zur SPoL (Teil III): Studienfach Erdkunde im Studiengang L 2 und L 5, vom 31.03.2008. UniReport aktuell. Goethe-Universität Frankfurt am Main (2008b). Fachspezifischer Anhang zur SPoL (Teil III): Studienfach Erdkunde im Studiengang L 3, vom 31.03.2008. UniReport aktuell.

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Goethe-Universität Frankfurt am Main (2008c). Fachspezifischer Anhang zur SPoL (Teil III): Studienfach Geschichte im Studiengang L 2 und L 5, vom 31.03.2008. UniReport aktuell. Goethe-Universität Frankfurt am Main (2008d). Fachspezifischer Anhang zur SPoL (Teil III): Studienfach Geschichte im Studiengang L 3, vom 31.03.2008. UniReport aktuell. Goethe-Universität Frankfurt am Main (2008e). Fachspezifischer Anhang zur SPoL (Teil III): Studienfach Politik und Wirtschaft im Studiengang L 2 und L 5, vom 31.03.2008. UniReport aktuell. Goethe-Universität Frankfurt am Main (2008f). Fachspezifischer Anhang zur SPoL (Teil III): Studienfach Politik und Wirtschaft im Studiengang L 3, vom 31.03.2008. UniReport aktuell. Land Hessen (2005). Hessisches Schulgesetz, vom 14.06.2005. Fundstelle: GVBl. I 2005 S. 441 vom 27.06.2005. Land Hessen (2009). Hessisches Hochschulgesetz, vom 14.12.2009. Fundstelle: GVBl. I 2009 S. 666 vom 23.12.2009. Land Hessen (2011a). Hessisches Lehrerbildungsgesetz, vom 28.09.2011. Fundstelle: GVBl. I 2011 S. 590 vom 24.10.2011. Land Hessen (2011b). Verordnung zur Durchführung des Hessischen Lehrerbildungsgesetzes, vom 28.09.2011. Fundstelle: GVBl. I 2011 S. 615 vom 24.10.2011.

Das Projekt „Lehrerbildung vernetzt entwickeln (LEVEL)“ der GoetheUniversität Frankfurt am Main wird im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.

POLITISCHE BILDUNG DURCH PLANUNGSAUFGABEN Ein Vergleich deutscher und britischer Geographieschulbücher Veit Maier & Alexandra Budke 1. EINLEITUNG Im Geographieunterricht werden zentrale gesellschaftliche Probleme wie z.B. der demographische Wandel, Konflikte um Ressourcen wie Öl und Wasser oder der Klimawandel thematisiert. Die Analyse der Problemursachen unter Berücksichtigung der räumlichen, gesellschaftlichen und politischen Perspektiven hat hierbei einen hohen Stellenwert. Damit die SchülerInnen allerdings Handlungskompetenzen als „mündige BürgerInnen“ in demokratischen Gesellschaften erwerben, sollten auch Lösungsansätze erarbeitet werden. In diesem Zusammenhang spielen Planungsaufgaben im Geographieunterricht eine zentrale Rolle, da diese die SchülerInnen anleiten, Lösungsoptionen zu entwickeln. In diesem Artikel wird der Frage nachgegangen, inwiefern Planungsaufgaben in deutschen und britischen Geographieschulbüchern tatsächlich von Bedeutung sind. Die beiden Untersuchungsländer wurden aufgrund ihrer ähnlichen sozialen und ökologischen Probleme und ihrer Ressourcen diese zu lösen ausgewählt. Der internationale Vergleich bietet die Möglichkeit, die Umsetzung der nationalen Konzepte von Politischer Bildung auf der Ebene von Planungsaufgaben in den Schulbüchern gegenüberzustellen und Ansätze zur Weiterentwicklung der Planungsaufgaben zur Unterstützung der Politischen Bildung zu entwickeln. Nach einer kurzen theoretischen Einleitung, in der u.a. das deutsche Konzept der Politischen Bildung und der britische Ansatz citizenship education vorgestellt werden, werden Ergebnisse einer Analyse von deutschen und britischen Geographieschulbüchern präsentiert. 2. POLITISCHE BILDUNG UND CITIZENSHIP EDUCATION Bei der Politischen Bildung handelt es sich um einen fächerübergreifenden Auftrag, der in deutschen Schulgesetzen und fachspezifischen Curricula verankert ist. Im Kernlehrplan Geographie für die Sekundarstufe II in Nordrhein-Westfalen (2014, S. 57) heißt es z.B., dass SchülerInnen politische Faktoren und von diesen beeinflusste Entwicklungsprozesse beschreiben, erklären und analysieren sollen. Ähnliche Formulierungen finden sich auch in anderen Lehrplänen und ebenso in den Rahmenvorgaben zur Politischen Bildung des Landes Nordrhein-Westfahlen,

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Veit Maier & Alexandra Budke

welche zusammenfassend die Erziehung der SchülerInnen zu „mündigen BürgerInnen“ in den Vordergrund stellen (vgl. MSW NRW, 2014). Diese sollen über Kompetenzen und die Bereitschaft verfügen, sich an raumbezogenen Entscheidungsprozessen im Kontext der Demokratie zu beteiligen. In diesem Zusammenhang ist auch die Thematisierung von Planungsprozessen im Unterricht relevant, da die SchülerInnen auf diese Weise erkennen können, dass unterschiedliche Akteure verschiedene Interessen und teilweise konträre raumbezogene Nutzungsansprüche haben. Diese müssen diskursiv ausgehandelt und in konkrete Raumgestaltungen umgesetzt werden. Die SchülerInnen können ihre fachbezogenen Handlungs-, Kommunikations-, Methoden- und Fachkompetenzen erweitern und erleben sich selbst als Personen, welche die Raumplanung und -gestaltung beurteilen und selbst beeinflussen können. Der politische Bildungsauftrag bezieht sich einerseits auf die inhaltliche Dimension des Geographieunterrichts und andererseits auf die Politische Bildung als Unterrichtsprinzip. In Bezug auf die Inhalte sollen diejenigen politischen Strukturen behandelt werden, welche zentrale Rahmenbedingungen für raumbezogene Handlungen darstellen und Raumstrukturen erklären können. Zudem steht die Behandlung von raumbezogenen, gesellschaftlichen Bedeutungszuweisungs-, Aushandlungs-, und Gestaltungsprozessen im Vordergrund. Auf diese Weise können die SchülerInnen ein Verständnis von raumwirksamen Entscheidungsprozessen, raumrelevanten Entwicklungen und Konflikten erlangen und den Einfluss von Machtbeziehungen erkennen. Grundlage ist ein Verständnis von Raum als Ergebnis von Handlung und Kommunikation. Zudem kann die Politische Bildung im Geographieunterricht auch als Unterrichtsprinzip gelten. Grundlage ist der Beutelsbacher Konsens, der die folgenden drei Grundprinzipien der Politischen Bildung formuliert: das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot und das Gebot der Förderung von Analyse- und Interessendurchsetzungskompetenz (Wehling, 1977, S. 179f.). Geographiedidaktische Ansätze beziehen sich daher auf die Förderung von Argumentations-, Problemlöse-, Bewertungs- und Handlungskompetenzen, von Multiperspektivität und kritischer Reflexion in geographischen Kontexten. Diese Prinzipien und didaktischen Ansätze lassen sich bei der Behandlung von raumbezogenen Planungen im Geographieunterricht gut verwirklichen, wenn unterschiedliche Akteure mit ihren jeweiligen Interessen und Nutzungsansprüchen gegenübergestellt werden, die SchülerInnen diese selbstständig argumentativ abwägen, beurteilen und auf dieser Grundlage eigene Planungsentscheidungen treffen. Diese können dann in konkreten Plänen umgesetzt werden und sollten innerhalb der Klasse und wenn möglich der Öffentlichkeit (z.B. mit VertreterInnen der Stadtplanung) diskutiert und reflektiert werden. Die Kompetenzbereiche der politischen Mündigkeit sind nach Detjen, Kuhn, Massing, Richter, Sander und Weißeno (2004): Politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit und methodische Fähigkeiten. Alle drei Kompetenzbereiche sind Voraussetzung für erfolgreiches Planen im Geographieunterricht und stehen in wechselseitigem Zusammenhang. – Zur politischen Urteilsfähigkeit zählt das Fällen von Sachurteilen und Werturteilen. Verschieden Perspektiven sind hierbei zu berücksichtigen.

Politische Bildung durch Planungsaufgaben

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Unter Politischer Handlungsfähigkeit werden Konfliktfähigkeit und Kompromissbereitschaft, aber auch das Vertreten der eigenen Meinung mit überzeugenden Argumenten verstanden. – Methodische Fähigkeiten sollen die SchülerInnen befähigen, sich selbstständig zu politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Fragestellungen orientieren und sich mit unterschiedlichen Methoden politisch weiterbilden zu können (vgl. ebd., S. 18). Eine direkte Übersetzung von Politischer Bildung ins Englische ist political education. Dieser Begriff scheint allerdings vielen AutorInnen zu kurzsichtig, greift er doch die gesellschaftliche Tragweite von citizenship education, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht auf. Andere AutorInnen kritisieren die fehlende Abgrenzung zur ideologischen Erziehung im Rahmen von Diktaturen (vgl. Himmelmann, 2010). In England wurden die Ergebnisse des 1998 erstellten Crick-Reports bei der Erstellung des aktuellen Nationalen Curriculums implementiert (vgl. Department for Education, 2014, S. 214). Crick (1998, S. 13) führt drei zentrale Aspekte von citizenship education in Großbritannien aus: social and moral responsibility, community involvement und political literacy. – Unter social and moral responsibility wird die Vermittlung von Selbstvertrauen sowie soziales und moralisch verantwortliches Verhalten sowohl in der Schule als auch in der Freizeit gegenüber Autoritäten und unter SchülerInnen verstanden. – Community involvement beinhaltet das Lernen, wie man an der Gemeinschaft teilnimmt, einschließlich des Lernens durch soziales Engagement. – Zur political literacy wird das Lernen über das öffentliche Leben verstanden und wie man sich durch Wissen, Fähigkeiten und Werte in dieses wirksam mit einbringen kann. Political literacy zeichnet sich durch eine breitere Auffassung als politisches Wissen aus (vgl. ebd., S. 11–13). Bemerkenswert ist der Fokus des deutschen Konzepts der Politischen Bildung auf das Individuum, das politische Mündigkeit und entsprechende Kompetenzen erlangen soll. Im britischen Konzept hingegen steht die Bürgerschaft (citizenship) im Mittelpunkt. Es stellt sich die Frage, inwiefern diese unterschiedlichen Akzentuierungen einen Einfluss auf die Ausgestaltung von Planungsaufgaben in deutschen und britischen Schulbüchern haben. 3. MATERIAL UND METHODEN Es wurden insgesamt zehn aktuelle Geographieschulbücher untersucht, die in England und Wales zum Einsatz kommen, und neun Geographieschulbücher, die in Deutschland (NRW) im Gymnasium und in Gesamtschulen benutzt werden. Jeweils zwei Bücher1 verschiedener Verlage richten sich an SchülerInnen eines Jahrgangs zwischen 11 und 18 Jahren. Die untersuchten Schulbücher stammen von vier Verlagen Großbritanniens und von zwei deutschen Verlagen. 1

Die Angaben zu den verwendeten Schulbüchern finden sich im Literaturverzeichnis.

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Zunächst wurden alle 6058 Aufgaben in den Schulbüchern identifiziert und bestimmt, wie viele davon Planungsaufgaben sind, um deren quantitative Bedeutung abschätzen zu können. Zur Identifikation von Planungsaufgaben wurde folgende Definition verwendet: Planung ist „raumbetreffende und werteorientierte Gestaltung von Zukunft. Durch systematisches Vorbereiten von Entscheidungen ist Planung Teil eines kreativen Problemlöseprozesses“ (Maier, 2015, S. 313). Alle sechs Einzelaspekte der Definition mussten zur Bestimmung einer Aufgabe als Planungsaufgabe zutreffen; andernfalls wurde sie nicht berücksichtigt. Zur Gewährleistung der Reliabilität der Aufgabenidentifikation wurde in diesem Schritt Mitarbeiter der Arbeitsgruppe der Professur für Humangeographie und Didaktik der Universität zu Köln mit einbezogen. Diese arbeiteten mit etwa 1/3 des Materials und konnten mit Hilfe eines Rasters, in dem die Aspekte raumbetreffend, werteorientiert, zukunftsorientiert, kreative Gestaltung, Vorbereitung von Entscheidungen sowie Problemlöseprozess abgefragt wurden, die Kennzeichnung von Aufgaben als Planaufgaben bestätigen. Es schloss sich die qualitative Datenanalyse an, die dazu diente herauszufinden, zu welchen Themengebieten/Problemen die SchülerInnen durch die Aufgabenstellungen zu planen angewiesen werden und wie diese dabei vorgehen sollten. Die Analyse der Planungsgegenstände kann darüber Auskunft geben, in welchen Bereichen die jeweiligen Schulbücher geographische Gestaltungsmöglichkeiten durch Planung verorten und in welchen Bereichen die SchülerInnen Gestaltungskompetenzen entwickeln sollen. Besonders wirksam im Kontext der Politischen Bildung sind Aufgaben zu aktuellen, gesellschaftlich diskutierten Problembereichen und abgeleiteten Gestaltungfragen. Zudem wird vorgestellt, inwiefern in den Aufgaben eingefordert wird, die Perspektiven unterschiedlicher Akteure und verschiedene fachliche Dimensionen zu berücksichtigen. Dies ist im Kontext der Politischen Bildung insofern relevant, da Fragen der Raumgestaltung und -nutzung in der Regel gesellschaftlich kontrovers diskutiert werden. Dies kann den SchülerInnen nur deutlich gemacht werden, wenn unterschiedliche Perspektiven berücksichtigt werden. Die Ergebnisse der deutschen und britischen Schulbücher werden zu jedem Analyseaspekt gegenübergesellt, um Ähnlichkeiten und Unterschiede deutlich zu machen. Es wurde die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) mit Unterstützung der qualitativen Datenanalysesoftware MAXQDA genutzt. Die Bildung der Kategorien erfolgte teilweise auf deduktive und teilweise auf induktive Art und Weise. Induktiv wurden z.B. die Planungsthemen extrahiert, deduktiv wurden z.B. die Unterkategorien der Perspektivität gebildet.

191

Politische Bildung durch Planungsaufgaben

4. ERGEBNISSE 4.1 Die Bedeutung von Planungsaufgaben in deutschen und britischen Schulbüchern Die Frage nach der quantitativen Bedeutung der Planungsaufgaben in den untersuchten Schulbüchern kann durch Auszählung dieser beantwortet werden (Abb. 1). 3173

Aufgaben insg. 2885

126

Planungsaufgaben

288 0

500

1000

NRW

1500

2000

2500

3000

3500

England & Wales

Abbildung 1: Die Häufigkeit von Planungsaufgaben in britischen und deutschen Geographieschulbüchern, Gesamtzahl n= 6058 (eigene Darstellung)

In den analysierten deutschen Geographieschulbüchern sind lediglich 126 (4%) aller Aufgaben Planungsaufgaben. In den britischen Schulbüchern gibt es 288 (10%) Planungsaufgaben. Beide Ergebnisse weisen auf eine geringe quantitative Bedeutung der Förderung von Planungskompetenzen der SchülerInnen durch Planungsaufgaben hin. Die offenbar geringe Bedeutung der Planungsaufgaben in den untersuchten Schulbüchern ist möglicherweise in einer Präferenz der AutorInnen für eindeutige bzw. einfach zu lösende Aufgaben begründet. Planungsaufgaben sind hingegen häufig offene Aufgaben, die Kreativität erfordern und damit auch unvorhergesehene Ergebnisse liefern können. Offene Aufgaben sind für LehrerInnen zudem komplizierter zu benoten. Damit SchülerInnen eigene Planungen entwickeln können, benötigen sie zudem eine Vielzahl an raumbezogenen Informationen und Materialien. Da sowohl die deutschen als auch die britischen Schulbücher das Doppelseitenprinzip2 realisieren, können den SchülerInnen häufig nicht genügend Quellen zur Verfügung gestellt werden. Dies könnte ebenfalls die geringe Anzahl an Planungsaufgaben erklären. Die Anzahl der Planungsaufgaben bewegt sich in den analysierten deutschen Schulbüchern zwischen 3,0% und 5,1%. Bei den britischen Schulbüchern liegen die Werte zwischen 3,1% und 18,3%. Die höhere Variabilität der Häufigkeit von Planungsaufgaben in britischen Schulbüchern ist vermutlich Ergebnis der höheren Anzahl an Verlagen der Stichprobe und damit auch der höheren Anzahl an Schulbuchkonzepten.

2

Jedes Thema wird lediglich auf einer Doppelseite vorgestellt.

192

Veit Maier & Alexandra Budke

4.2 Planungsthemen Im Folgenden werden die häufigsten Themen vorgestellt zu denen in den analysierten Büchern Planungsaufgaben gestellt werden. Es wird hier vor allem auf die Unterschiede zwischen britischen und deutschen Büchern eingegangen. 5,4

Naturkatastrophen und Klimawandel

21,4 10,8

Stadt- und Raumplanung 6,9

Standortfaktoren und Ansiedlung

13,4

12,8

4,6

Entwicklung

6,9 6,2 5,2

Rohstoffabbau und Enegriewirtschaft Land- und Viehwirtschaft

11,5

4,5

Tourismus und Reiseplanung

27,7

14,1

Konsum und Lebensstil

10,8

5,9

16,1 15,9

Sonstige 0

NRW

5

10

15

20

25

30

England & Wales

Abbildung 2: Planungsthemen in Prozent bezogen auf die Grundgesamtheit der Planungsaufgaben in deutschen und britischen Schulbüchern (eigene Darstellung)

In den analysierten britischen Schulbüchern sind Naturkatastrophen und Klimawandel die am häufigsten angesprochenen Planungsthemen. 21,4% der Planungsaufgaben in britischen Schulbüchern widmen sich diesen Themen (siehe Abb. 2). In diesem Zusammenhang finden sich Aufgaben zum Umgang mit den Konsequenzen des Klimawandels wie Fluten, Trockenheit, aber auch die Folgen von Vulkanausbrüchen oder Tsunamis. Es handelt sich hierbei um gesellschaftliche Herausforderungen. Im folgenden Beispiel sollen SchülerInnen Katastrophenvorsorgemaßnahmen planen: How can the tsunami danger be reduced? (Waugh & Bushell, 2010b, S. 99)

Schulbücher aus Nordrhein-Westfalen beinhalten dagegen nur selten Planungsaufgaben zum Themenfeld Naturkatastrophen und Klimawandel (5,4%). Dies lässt sich u.a. durch die geringe Bedeutung von physisch-geographischen Themen im landesspezifischen Lehrplan erklären. In den untersuchten deutschen Schulbüchern sind Planungsaufgaben aus dem Bereich Tourismus und Reiseplanung am häufigsten (27,7%). Britische AutorInnen stellen zu diesem Themenbereich weitaus seltener Planungsaufgaben (14,1%). Dieses Themenfeld beinhaltet Fragen zur Entwicklung von Tourismus in verschiedenen Räumen, z.B. einem Bergdorf: Entwerfen Sie Szenarien für die touristische Entwicklung der Gemeinde Sölden. (Westermann, 2011b, S. 77)

Politische Bildung durch Planungsaufgaben

193

Außerdem sind auch Aufgaben zur Planung von Individualreisen zu mannigfaltigen Orten zu finden. Planungsaufgaben zu den Themenbereichen Land- und Viehwirtschaft und Konsum und Lebensstil sind häufiger in deutschen Geographieschulbüchern zu finden (11,5% bzw. 10,8%) als in britischen (4,5% bzw. 5,9%). Konsum und Lebensstil subsummiert Probleme eines nachhaltigen und individuellen Lebensstils. Diskutieren Sie mit Ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, wie Sie selbst im Sinne eines nachhaltigen Konsumverhaltens aktiv werden können. (Klett, 2011, S. 335)

Land- und Viehwirtschaft beinhaltet Aufgaben, welche auf die Herkunft unserer Nahrungsmittel und die Produktionsmethoden fokussieren. Der Problemgegenstand Siedlungs- und Standortfaktor enthält Aufgaben zur Standortsuche für Industrie- und Dienstleistungsunternehmen. Es ist bemerkenswert, dass die britischen Lehrbücher Siedlungs- und Standortfaktoren häufiger verwenden (12,8%) als die deutschen Lehrbücher (6,9%). Alle identifizierten Themen, zu denen in den Schulbüchern Planungsaufgaben gestellt werden, können als Themen angesehen werden, bei denen potentiell Politische Bildung stattfinden kann, wenn in diesem Kontext die kontroversen Gestaltungsinteressen unterschiedlicher Akteure berücksichtigt werden, die SchülerInnen diese abwägen und eigene Planungen formulieren müssen, die anschließend im Unterricht reflektiert und diskutiert werden. Ob dieses Potential tatsächlich realisiert wird und die SchülerInnen ihre Kompetenzen im Bereich der Politischen Bildung erweitern, kann hier natürlich nicht beantwortet werden. Die Ergebnisse der Schulbuchanalyse geben lediglich Rückschlüsse darauf, in welchen inhaltlichen Kontexten die SchulbuchautorInnen primär die Förderung von Gestaltungsund Planungskompetenzen verorten. 4.3 Perspektivität im Planungsprozess Zur Entwicklung von tragfähigen Lösungen zu gesellschaftlichen Problemen und zur Erarbeitung konsensfähiger Raumgestaltungen sollten die Sichtweisen unterschiedlicher Akteure berücksichtigt werden. Dabei ist es im Sinne der Politischen Bildung besonders wichtig, dass die in der Gesellschaft kontrovers diskutieren Raum- und Ressourcennutzungen auch im Unterricht kontrovers erörtert werden (Kontroversitätsgebot). Dafür sind notwendigerweise unterschiedliche Perspektiven im Unterricht zu berücksichtigen. Perspektivität besteht zum einen aus multiplen Standpunkten oder Betrachtungsweisen und zum anderen aus der Auswahl multipler Eigenschaften einer Sache (vgl. Rhode-Jüchtern, 2013, S. 214). Eine Analyse der in den Aufgaben explizit angelegten Perspektivität kann herausstellen, welche Bedeutung der Perspektivenwechsel als Grundbedingung für Kontroversität und Politische Bildung in den untersuchen Schulbüchern hat. Unter multiperspektivischen Aufgaben werden jene Planungsaufgaben gefasst, welche die SchülerInnen explizit dazu auffordern, mehr als eine einzelne Perspektive oder einen einzelnen inhaltlichen Aspekt zu betrachten. Werden dagegen in der Aufga-

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Veit Maier & Alexandra Budke

be keine Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven oder inhaltlichen Dimensionen verlangt, wurde diese als „nicht explizit multiperspektivisch“ eingeordnet.

NRW

England & Wales nicht explizit multiperspektivisch

nicht explizit multiperspektivisch

explizit multiperspektivisch

explizit multiperspektivisch

24%

48% 52%

76%

Abbildung 3: Geforderte Perspektivität in den Planungsaufgaben (eigene Darstellung)

Abbildung 3 zeigt, dass die untersuchten britischen Schulbuchaufgaben die SchülerInnen häufiger explizit dazu auffordern, Probleme oder Planungsgegenstände multiperspektivisch zu betrachten (52%) als deutsche Schulbuchaufgaben (24%). Im Gegensatz werden in deutschen Schulbüchern häufiger Aufgaben gestellt, in denen die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven nicht explizit gefordert wird. Die folgende Planungsaufgabe ist dafür charakteristisch, da nur die Perspektive der Pendler relevant ist: Wie könnte die Verkehrssituation für Pendler verbessert werden? Mache Vorschläge. (Klett, 2008a, S. 53).

Das folgende Beispiel fordert dagegen zur multiperspektivischen Betrachtung auf, da unterschiedliche Gruppen kontroverse Einstellungen haben, die bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden sollen. Should the quarry in the Dun valley be allowed to remain open? Present the arguments for two groups that think the quarry should continue and for two groups that think it should be closed. Then present a conclusion taking the arguments of both sides into consideration. (Waugh, 2009, S. 205)

Aus der Analyse der Schulbuchaufgaben kann nicht geschlossen werden, wie die Aufgaben im deutschen und britischen Unterricht bearbeitet werden. Allerdings wird die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven, was als Voraussetzung

Politische Bildung durch Planungsaufgaben

195

für eine Behandlung kontroverser Sichtweisen und Interessen in Bezug auf Räume gelten kann, erleichtert, wenn diese schon in der Aufgabenstellung genannt werden, wie es bei britischen Schulbuchaufgaben häufiger als bei deutschen der Fall ist. 5. ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT Es zeigt sich, dass sowohl in deutschen als auch in britischen Geographieschulbüchern Planungsaufgaben vorhanden sind, welche potentiell zur Politischen Bildung eingesetzt werden können. Die herausgearbeiteten internationalen Unterschiede können dabei helfen, die Aufgaben im Sinne der Politischen Bildung weiterzuentwickeln. Letztlich hängt es aber von ihrer Bearbeitung im Unterricht ab, ob ihr Bildungspotential tatsächlich genutzt werden kann. Die Ergebnisse zeigen, dass SchülerInnen, die mit den ausgewählten britischen Geographiebüchern arbeiten, in den Bereichen Naturkatastrophen und Klimawandel und Standortfaktoren und Ansiedlung zu planen lernen. Dabei überwiegen Aufgaben, welche explizit zu multiperspektivischen Planungen auffordern. Dies erleichtert es den SchülerInnen, die behandelten Probleme von verschieden Blickwinkeln zu betrachten, die Kontroversität zu erkennen, die unterschiedlichen Positionen und Interessen zu bewerten und tragfähige Lösungen zu erarbeiten. Die dabei nötige Aushandlung unterschiedlicher Interessen durch Argumentationen und das Schließen von Kompromissen können dann zur Förderung der politischen Handlungs- und Urteilsfähigkeit beitragen. Multiperspektivische Planungsaufgaben können ein Weg sein, verschiedene Kriterien und Werte, die einer komplizierten Entscheidung zugrunde liegen, offenzulegen und zu reflektieren. Dies könnte auch soziales Engagement (communy involvement) und soziale Verantwortung (social and moral responibility) im Sinne der britischen citizenship education fördern. Während britische AutorInnen Planung als Lösung der drängenden gesellschaftlichen Schlüsselprobleme wie die sozialen Folgen des Klimawandels und die Prävention von Naturkatastrophen oder der Entwicklung von Regionen verstehen, nutzen deutschen AutorInnen diese vorrangig als Vorbereitung der SchülerInnen auf die Wahl individueller Lebensstile und zur Förderung der Selbstverwirklichung. Daher finden sich vorrangig Aufgaben zum Themenfeld Tourismus, welche selten multiperspektivische Planungen anregen. Im Sinne der politischen Handlungsfähigkeit ist das Ausdrücken der eigenen Perspektive zweckdienlich, auch wenn damit nicht zwingend eine Reflexion einhergeht. Eine Reduktion eines Problems auf eine bestimmte Perspektive, führt nur zu einem einseitigen Planungsergebnis. Die dargestellten Unterschiede lassen sich womöglich auf Unterschiede in den deutschen und britischen Konzeptionen der Politischen Bildung bzw. der citizenship education zurückführen. Es lassen sich die folgenden Schlussfolgerungen ziehen:

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1. Mehr: Sowohl in deutschen als auch in britischen Geographieschulbüchern ist die Bedeutung von Planungsaufgaben gering. Aufgrund ihrer Wirksamkeit für die Politische Bildung sollte ihre Anzahl erhöht werden. 2. Gesellschaftsrelevant: Die Schulbücher sollten verstärkt Planungsaufgaben im gesellschaftsrelevanten Kontext, zu aktuellen kontrovers diskutierten Themen der Raumnutzung und -gestaltung einsetzen. Besonders das Verständnis zentraler gesellschaftlicher Probleme und die individuelle Handlungsfähigkeit könnten auf diese Weise gefördert werden. 3. Multiperspektivisch: Planungsaufgaben sollten die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven einfordern, da dies als Voraussetzung dafür gesehen werden kann, dass die Themen kontrovers behandelt werden können und Politische Bildung stattfinden kann. LITERATUR Crick, B. (1998). Education for citizenship and the teaching of democracy in schools. Final report of the Advisory Group on Citizenship. London: QCA. Verfügbar unter: http://dera.ioe.ac.uk/ 4385/1/ crickreport1998.pdf [11.11.2015]. Department for Education (2014). The national curriculum in England. Verfügbar unter: https://www.gov.uk/government/collections/national-curriculum [11.11.2015]. Detjen, J., Kuhn, H.-W., Massing, P., Richter, D., Sander, W. & Weißeno, G. (2004). Anforderungen an Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen. 2. Auflage. Schwalbach: Wochenschau Verlag. Himmelmann, G. (2010). Brückenschlag zwischen Demokratiepädagogik, Demokratie-Lernen und Politischer Bildung. In D. Lange & G. Himmelmann (Hrsg.), Demokratiedidaktik. Impulse für die politische Bildung (S. 19–30). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Maier, V. (2015). Planungsaufgaben in deutschen Geographieschulbüchern. In A. Budke, M. Kuckuck, M. Meyer, F. Schäbitz, K. Schlüter & G. Weiss (Hrsg.), Fachlich argumentieren lernen (S. 313–315). Münster: Waxmann. Mayring, P. (2010). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Technik. 11. Auflage. Weinheim: Beltz. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (MSW NRW) (Hrsg.). (2008). Rahmenvorgabe Politische Bildung. Frechen: Ritterbach. Verfügbar unter: http://www. schulentwicklung.nrw.de/materialdatenbank/nutzersicht/materialeintrag.php? matId=2894 [11.11.2015]. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (MSW NRW) (Hrsg.). (2014). Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/ Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen Geographie. Frechen: Ritterbach. Rhode-Jüchtern, T. (2013). Perspektivenwechsel. In D. Böhn & G. Obermaier (Hrsg.), Wörterbuch der Geographiedidatik (S. 214‒215). Braunschweig: Westermann.

ANALYSIERTE GEOGRAPHIESCHULBÜCHER Klett (2008a). TERRA Erdkunde für Nordrhein-Westfalen ‒ Ausgabe für Gymnasien Schülerbuch 1. Stuttgart: Klett. Klett (2008b). TERRA Erdkunde für Nordrhein-Westfalen ‒ Ausgabe für Gymnasien Schülerbuch 2. 6. Auflage. Stuttgart: Klett.

Politische Bildung durch Planungsaufgaben

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Klett (2009). TERRA Erdkunde für Nordrhein-Westfalen ‒ Ausgabe für Gymnasien Schülerbuch 3. 5. Auflage. Stuttgart: Klett. Klett (2011). TERRA Geographie für Nordrhein-Westfalen Oberstufe. Stuttgart, Leipzig: Klett. Milner, S. & Witherick, M. (2010). Edexcel International GCSE Geography. 2 Rev ed. Harlow, Essex: Pearson Education Limited. Nagle, G. & Cooke, B. (2011). Geography Course Companion: Ib Diploma Programme. Oxford: Oxford Univ Pr. Waugh, D. (2009). Geography an Integrated Approach. 4. Auflage. Cheltenham: Nelson Thornes. Waugh, D. & Bushell, T. (2010a). New key Geography. Connection. Cheltenham: Nelson Thornes. Waugh, D. & Bushell, T. (2010b). New key Geography. Foundation. Cheltenham: Nelson Thornes. Waugh, D. & Bushell, T. (2011a). New key Geography for GCSE. Cheltenham: Nelson Thornes. Waugh, D. & Bushell, T. (2011b). New key Geography. Interaction. Cheltenham: Nelson Thornes. Westermann (2008). Praxis Geographie ‒ Ausgabe für die SII in Nordrhein-Westfalen: Schülerband Einführungsphase. Braunschweig: Westermann Schulbuch. Westermann (2009). Praxis Geographie ‒ Ausgabe für die SI in Nordrhein-Westfalen: Schülerband 2. Braunschweig: Westermann Schulbuch. Westermann (2010). Praxis Geographie ‒ Ausgabe für die SI in Nordrhein-Westfalen: Schülerband 3. Braunschweig: Westermann Schulbuch. Westermann (2011a). Praxis Geographie ‒ Ausgabe für die SI in Nordrhein-Westfalen: Schülerband 1. Braunschweig: Westermann Schulbuch. Westermann (2011b). Praxis Geographie ‒ Ausgabe für die SII in Nordrhein-Westfalen: Schülerband Qualifikationsphase. Braunschweig: Westermann Schulbuch. Widdowson, J. (2006). This Is Geography 1. Student. London: Hodder Education. Widdowson, J. (2008). This Is Geography 2. Student. London: Hodder Education. Widdowson, J. (2009). This Is Geography 3. Student. London: Hodder Education.

KRITISCHE REFLEXION VON RAUMWAHRNEHMUNGEN ALS BEITRAG DER GEOGRAPHIE ZUR POLITISCHEN BILDUNG Empirische Untersuchungen und Konsequenzen für den Unterricht am Beispiel „Afrika“ Sonja Schwarze, Gabriele Schrüfer & Gabriele Obermaier 1. EINLEITUNG Themen der Politischen Geographie leisten im Geographieunterricht einen fachspezifischen Beitrag zur Politischen Bildung. Ein wesentlicher Bestandteil wird dabei in der Bewusstmachung der eigenen Raumwahrnehmung der SchülerInnen und in der Sensibilisierung für die Konstruktion von Räumen gesehen. Für SchülerInnen ist die Erkenntnis, dass Raum „nicht ‚objektiv‘ gegeben ist, sondern ein Produkt von subjektiven Wahrnehmungen und Konstruktionsprozessen [ist], die in ihrer Unterschiedlichkeit gleichberechtigt nebeneinander stehen“ (Schrüfer & Obermaier, 2014, S. 171) meist neu. Im Geographieunterricht sollen sie explizit für dieses konstruktivistische Raumverständnis sensibilisiert werden, da es die Grundlage darstellt, viele gesellschaftspolitische sowie raumbezogene Vorgänge in ihrer Multiperspektivität zu verstehen. Damit wird im Sinne von RhodeJüchtern (2015) „ein Schritt zurück“ möglich, um einen relativierten, weniger emotionalen, „zweiten Blick“ auf einen betreffenden Sachverhalt zu werfen (vgl. ebd., S. 13). Gerade die Fokussierung von Vielschichtigkeit und Multiperspektivität sowie die Fähigkeit, einen Perspektivwechsel durchführen zu können, konstatiert Rhode-Jüchtern (2004) als vornehmliche Aufgabe des modernen Geographieunterrichts. Im querschnittsorientierten Ansatz der Politischen Bildung kann die fachspezifische Ausprägung insbesondere an dieser Stelle anknüpfen. Unser Projekt leistet einen Beitrag zur Darstellung unterschiedlicher Raumwahrnehmungen, die es SchülerInnen ermöglicht, ihre eigene Konstruktion von Raum zu hinterfragen. Insbesondere wird untersucht, wie Fotos aus dem afrikanischen Raum von Personen aus Tansania und Deutschland wahrgenommen, interpretiert und bewertet werden. Anschließend wird aus den Erkenntnissen Unterrichtsmaterial entwickelt und evaluiert. Dieses Unterrichtsmaterial soll SchülerInnen anleiten, Bilder und Räume als wahrnehmungsbedingte Konstruktionen zu erkennen, und es ihnen ermöglichen, eine Ambiguitätstoleranz zu entwickeln.

200

Sonja Schwarze, Gabriele Schrüfer & Gabriele Obermaier

2. RAUMWAHRNEHMUNG ALS TEIL DER POLITISCHEN BILDUNG 2.1 Themen der Politischen Geographie als Teil der Politischen Bildung Die Wahrnehmung und Konstruktion von Räumen spielt oftmals für gesellschaftliche Prozesse eine gravierende Rolle (vgl. Reuber, 2007, S. 758f.) und steht der naiven Vorstellung entgegen, dass ein Raum einen „objektiven, neutralen“ Gegenstand oder Sachverhalt darstellt. Ein konstruktivistisches Raumverständnis ist unabdingbar, um Zusammenhänge zwischen Gesellschaft, Macht und Raum (vgl. Reuber, 2012, S. 22) und die Wechselbeziehungen zwischen (natur-)räumlichen Begebenheiten und politischem Handeln von Akteuren nachvollziehen zu können. Raum wird dabei sowohl als natürliche als auch ideologische Ressource im gesellschaftlichen Kontext auf verschiedenen Maßstabsebenen ausgehandelt. Dabei ist entscheidend, wie er kontextspezifisch wahrgenommen wird (vgl. ebd., S. 23). Die jeweiligen Raumwahrnehmungen sind dabei gesellschafts-, kulturell- und kontextabhängig divergent. Gerade auf dieses konstruktivistische Raumverständnis rekurriert die moderne Politische Geographie zur Beantwortung raumbezogener Fragestellungen, welche oftmals politische Dimensionen aufweisen. Anders als in der Fachdisziplin gilt es im Unterricht, den Wahrnehmungsraum und den Raum als Konstrukt im Sinne der vier Raumbegriffe nach Wardenga (2002) deutlicher als bisher zu fokussieren und zu akzentuieren. Die Politische Geographie bietet uns dafür thematische Ankerpunkte und Zugangsweisen für den Unterricht. Geopolitische Themen der Forschungsrichtungen Geographische Konfliktforschung und Kritische Geopolitik können für den Geographieunterricht fruchtbar gemacht werden, um SchülerInnen für die Konzepte der Raumwahrnehmung und des Raums als Konstrukt zu sensibilisieren (vgl. Schrüfer, 2013, S. 352). Für die Durchdringung komplexer raumbezogener sowie politischer Themen ist eine konstruktivistische Grundhaltung essentiell, die im Geographieunterricht gezielt schrittweise angebahnt werden muss. 2.2 Die Rolle der Raumwahrnehmung in der Politischen Bildung Die unterschiedlichen Wahrnehmungen ein und desselben Raumes prägen unser alltägliches Leben entscheidend. Sie haben Einfluss darauf, wie Menschen einen Raum interpretieren und bewerten, um darauf aufbauend raumbezogene Handlungsoptionen bewusst oder unbewusst abzuleiten (vgl. Reuber, 2007, S. 761; vgl. Schrüfer, 2013, S. 350). Unsere subjektive Raumwahrnehmung wird durch Werte und ihre Konkretisierung in Form von (Handlungs-)Normen erheblich beeinflusst und unbewusst handlungsanleitend vorstrukturiert. Denn Werte und ihre Hierarchisierung, die insbesondere im Sozialisationsprozess meist unreflektiert erworben werden, bilden unsere unbewusste Ordnungs- und Orientierungsmatrix, vor deren Hintergrund Bewertungen und Handlungen vorgenommen werden (vgl. Schrüfer & Macamo, 2013, S. 2ff.). Werte und Normen sind dabei nicht als universal zu verstehen, sondern unterliegen den Mechanismen der jeweiligen gesell-

Kritische Reflexion von Raumwahrnehmungen

201

schaftlichen Bezugssysteme (vgl. Reuber & Schrüfer, 2013, S. 19). Politische, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Kontexte prägen als Filterfaktoren unsere Wahrnehmung entscheidend (vgl. da Costa, Pedro & Stoleriu, 2011). SchülerInnen müssen das Wissen um Werte, Wahrnehmung und Interessen als Grundlage für politisches Handeln und Entscheidungsfindung (vgl. Reuber, 2007, S. 752) erwerben und für die Wirkungs- und Steuerungsmacht von Werten sensibilisiert werden. Ohne das Verständnis über die Rolle der menschlichen (Raum-)Wahrnehmung wird SchülerInnen der Zugang versperrt, genuine Zusammenhänge im politischen Geschehen zu erkennen, Toleranz und Kritikfähigkeit zu entwickeln, demokratisches Grundverständnis zu verankern, um letztlich zu einer mündigen, aktiven und partizipierende Bürgerschaft heranzuwachsen (vgl. Sander, 2009). 2.3 Die Rolle von Bildern (Raum-)Bilder sind ein wesentlicher Bestandteil des Geographieunterrichts. Sie prägen unser Verständnis unterschiedlicher Räume. Ein und dasselbe materielle Bild kann jedoch von verschiedenen Menschen völlig unterschiedlich wahrgenommen werden (vgl. Höpel, 2008, S. 62; Nöthen & Schlottmann, 2015). Unterschiedliche Wahrnehmungen eines Bildes entstehen genauso wie unterschiedliche Raumwahrnehmungen unter anderem aufgrund von Erfahrungen, Interessen divergierender Werte bzw. Gewichtungen von Werten. Aufbauend auf der jeweiligen Wahrnehmung werden Bilder interpretiert, bewertet und entsprechende Handlungen abgeleitet. Diesem Aspekt müssen sich SchülerInnen im Kontext von Raumdarstellungen bewusst werden. Ferner müssen SchülerInnen dafür sensibilisiert werden, dass materielle Bilder stets nur einen spezifisch ausgewählten Ausschnitt unserer räumlichen Umwelt visualisieren. Im Alltag werden sie oftmals fälschlicher Weise als „objektive Abbilder der Realität“ verstanden. Es handelt sich jedoch um Konstruktionen, da sie bestimmte Aspekte aus spezifischen Perspektiven mit jeweils ausgewählten Intentionen in Szene rücken und andere Aspekte somit im Verborgenen bleiben (vgl. Schlottmann & Miggelbrink, 2009, S. 13ff.). Dieser Aspekte müssen sich SchülerInnen bewusst werden, um mit Bildern im kritisch-reflektierten Denken und somit in Medienkompetenz geschult zu werden. Nöthen und Schlottmann postulieren daher, dass auch Bildern ein konstruktivistisch-kritisches Grundverständnis entgegen gebracht werden muss, welches im Unterricht anzubahnen ist: Materielle wie mentale Bilder bestimmen die Begegnung mit der Welt und sind für die Konstitution und die Durchdringung geographischer Sachverhalte von entscheidender Bedeutung. Ihnen visuell kompetent zu begegnen, stellt einen zentralen Bildungsauftrag des Geographieunterrichts dar. (Nöthen & Schlottmann, 2015, S. 32)

Unsere Studie fokussiert insbesondere den Wahrnehmungsraum. Im Unterricht können Bilder bzw. Fotos gezielt genutzt werden, um mit SchülerInnen unterschiedliche Wahrnehmungsmuster eines Raums zu erarbeiten. Dabei eignen sich

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Sonja Schwarze, Gabriele Schrüfer & Gabriele Obermaier

insbesondere Gegenüberstellungen eigener und anderer Wahrnehmungsmuster. Da insbesondere Werte die Wahrnehmung beeinflussen, gilt es, diese sichtbar zu machen. 3. FORSCHUNGSPROJEKT ZUR RAUMWAHRNEHMUNG 3.1 Forschungsfrage und Ziel der Studie Ausgangsinteresse der Studie sind die vorhandenen dominanten Bilder über Afrika in den Köpfen von SchülerInnen. Fast unvermeidlich sind viele unserer AfrikaBilder und Assoziationen von den massenmedial vermittelten Kriegen, Krisen, Katastrophen und Krankheiten sowie Armut geprägt. Diese werden teilweise von romantisierenden Vorstellungen begleitet, die vor allem Romanen, Kino- und Fernsehfilmen entstammen. Bemerkenswert ist, dass sich das Bild von Afrika bei SchülerInnen in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hat. Afrikabilder spiegeln nach wie vor gängige Stereotype und Vorurteile gegenüber Afrika wider (Schmidt-Wulffen, 1996; 1997; Reichart-Burikukiye, 2001; Lemcke, 2009; von Handorf, 2012). Kersting (2011) stellt fest, dass Afrika durch einen besonderen Filter wahrgenommen wird, der durch Essentialisierung, Ahistorisierung, Kulturalisierung, Naturalisierung und dem Prozess des „othering“ gekennzeichnet ist. Es sind damit gerade auch die eigenen kulturellen sozialisationsbedingten Vorerfahrungen, die unsere Wahrnehmung entscheidend prägen. Da SchülerInnen sich dieser Tatsache oft nicht bewusst sind, wird oftmals eine universale Interpretation von Räumen und deren BewohnerInnen angenommen. Ziel der Studie ist es auch, diese Wahrnehmungen im Sinne von Lernvoraussetzungen zu erheben. Die Studie nimmt sich daher der Frage an, wie Fotos aus dem afrikanischen Raum in Tansania und in Deutschland wahrgenommen, interpretiert und bewertet werden. Die sensible Offenlegung von divergenten Wahrnehmungen räumlicher Situationen aus deutscher und tansanischer Perspektive bildet die Grundlage zur anschließenden Erstellung von Unterrichtsmaterialien. Intention ist, die SchülerInnen anzuleiten, Bilder sowie Räume als wahrnehmungsbedingte Konstruktionen zu erkennen und eine Ambiguitätstoleranz zu entwickeln. Diese Fähigkeiten sollen sie bei Bewertungen von raumbezogenen Situationen und Handlungen anwenden und die verschiedenen Sichtweisen artikulieren. Denn somit werden sie überhaupt erst in die Lage versetzt, einen Perspektivwechsel zu vollziehen. Gleichzeitig sollen sie zum kritisch-reflektierten Denken und somit im Bereich der Medienkompetenz geschult werden. 3.2 Forschungsdesign Zur Gegenüberstellung von Raumwahrnehmungsmustern aus unterschiedlichen Sichtweisen eignet sich eine Vielzahl von Beispielräumen. Die Fotos zeigen Raumsituationen, die Daseinsgrundfunktionen abbilden und für die Länder ge-

Kritische Reflexion von Raumwahrnehmungen

203

wöhnliche und alltägliche Situationen darstellen, z.B. Wohnen (Häuser), Einkaufen (Supermarkt, Einkaufszentrum) oder Verkehr (Straßenkreuzung, Fußgängerzone). Den SchülerInnen sollten die ausgewählten Situationen sehr gut bekannt sein. Damit ist es für sie einfacher, ihre und andere Perspektiven zu re- und dekonstruieren. In leitfadengestützten Interviews wurden tansanischen Erwachsenen und deutschen SchülerInnen der siebenten Klasse Fotos dieser ausgewählten Raumsituationen aus beiden Ländern vorgelegt, welche sie beschreiben und bewerten sollten. Dabei wurde auf eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Geschlechter geachtet. Für die Erfassung der Raumwahrnehmung aus afrikanischer Perspektive wurden tansanische Erwachsene ausgewählt. Der Grund dafür ist, dass für die Begründung der Beurteilung und Bewertung der Fotos ein gewisses Maß an Erfahrung und Metareflexion vorausgesetzt werden muss und dies im Normalfall bei Erwachsenen eher gegeben ist. Im Gegensatz dazu wurden in Deutschland SchülerInnen der siebten Jahrgangsstufe ausgewählt. Dies geschah aufgrund mehrerer Punkte: Erstens werden ab dieser Jahrgangsstufe im Geographieunterricht sehr oft afrikanische Räume thematisiert und zweitens ist in der Phase der Adoleszenz eine der Entwicklungsaufgaben, ein eigenes System von Moral- und Wertvorstellungen aufzubauen (vgl. Havighurst, 1972). Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven und Wahrnehmungen von Räumen kann hierfür hilfreich sein. Außerdem ist es auch ein Ziel des Forschungsvorhabens, Unterrichtsmaterialien zu entwickeln. Die reine Gegenüberstellung der Raumwahrnehmungen ist hingegen kein Ziel der Arbeit. In der ersten Projektphase wurden im Sommer 2013 von uns insgesamt 25 tansanische Erwachsene interviewt. Ihnen wurde jeweils eine Auswahl aus 19 verschiedenen Bildern aus Deutschland und Tansania vorgelegt. Somit konnte herausgefunden werden, wie die räumlichen Situationen durch die tansanischen Repräsentanten interpretiert und bewertet wurden. In einer zweiten Phase wurde im Frühling 2015 zwölf SchülerInnen eine Auswahl von sechs Fotos aus Tansania vorgelegt. In der zweiten Erhebungsphase war das Ziel zu untersuchen, wie deutsche SchülerInnen die Raumbilder wahrnehmen sowie bewerten, und in einem weiteren Schritt dem gegenüberzustellen, wie der entsprechende Raum in Tansania selbst beurteilt wird. Die Datenerhebung wurde jeweils erst abgeschlossen, als eine Sättigung eintrat. Die Auswertung der Interviewtranskripte erfolgte mittels zusammenfassender Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring (2010). Strukturiert wurden die Interviews anhand der unterschiedlichen Bilder. Die jeweiligen Aussagen zu den einzelnen Bildern stellten dabei die Analyseeinheiten dar. Alle inhaltstragenden Textpassagen, die die gezeigten räumlichen Situationen beschreiben, bewerten und interpretieren, wurden zunächst paraphrasiert, inhaltsgleiche sowie nichtssagende Paraphrasen gestrichen und anschließend auf ein gleiches Abstraktionsniveau generalisiert. Darauf folgte die Reduzierung, wodurch das große Datenvolumen auf ein überschaubares Maß mit wesentlichen Inhalten gekürzt wurde. Für jedes Bild konnten auf diese Weise die zentralen Aussagen aus beiden Perspektiven extrahiert werden. Ein Vergleich der Interpretationen und Bewertungen der Raumsituationen wird somit möglich.

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4. ERGEBNISSE Exemplarisch werden im Folgenden unsere Ergebnisse anhand eines Bildes vorgestellt. Zunächst werden die zentralen Aussagen (ZA) zu dem Bild aus deutscher, danach aus tansanischer Perspektive aufgeführt und ein Vergleich sowie Interpretationen angeschlossen. Sie zeigen deutlich unterschiedliche Raumwahrnehmungsmuster auf, die durch divergierende, sozialisationsbedingte Werte(hierarchien) generiert werden. Weitere Ergebnisse wurden in dem Beitrag „Wahrnehmung von Räumen - Konstruktion und Bewertung aus unterschiedlichen Perspektiven“ (Schrüfer & Obermaier, 2014) veröffentlicht. Situation 1: Supermarkt in Tansania

Abb. 1: Supermarkt in Tansania (Foto: G. Schrüfer)

Perspektive deutscher SchülerInnen – – –

ZA 1: Das Foto zeigt einen Einkaufsladen/-center bzw. Discounter. Als Identifikationsmerkmale dienen die Preisschilder, der asphaltierte Parkplatz, die Autos und die Einkaufswagen. ZA 2: Das Vorhandensein des Einkaufsladens zeigt im Vergleich mit den anderen Bildern, dass nicht nur Armut in Tansania anzutreffen ist, sondern soziale Disparitäten herrschen. ZA 3: Die räumliche Situation wird variabel bewertet: 1. Positiv: Der Laden ähnelt einem deutschen. Das Vorhandensein der Einkaufsmöglichkeit zum Konsum und Geldausgeben mit einem großen An-

Kritische Reflexion von Raumwahrnehmungen

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gebotssortiment mit günstigen Preisen sowie infrastrukturelle Einrichtungen wie Stromversorgung, Parkplätze und Klimaanlage gefallen. Ferner macht der Laden einen gepflegten, systematischen und geordneten Eindruck, der deutschen Vorstellungen entspricht. Deutschen sind bei einem Einkaufsladen die Größe, Sauberkeit sowie günstiges, frisches Essen wichtig. Des Weiteren wird Wert auf die Ästhetik als Animation zum Eintreten und Kaufen gelegt. 2. Neutral bzw. „nicht schlimm“: Der Laden stellt ein „normales, gewöhnliches, mit der BRD vergleichbares“ Einkaufscenter dar, das „gebaut wurde, wie eins gebaut werden soll“. 3. Negativ: Der Laden wird als dunkel und billig wahrgenommen. Es wird vermutet, dass die Produkte über eine schlechte Qualität verfügen. Er erscheint karg, farblos und somit nicht einladend, weshalb Deutsche hier nicht einkaufen würden. Ferner sieht man nur wenig Kundschaft. Der Laden wird als Discounter bezeichnet, die zwar in der BRD oft und gerne genutzt werden, aber „billig“ sind und viel Plastikmüll produzieren. Die Außenfassade sollte schöner, einladender mit Hilfe einer anderen Farbwahl, mehr Helligkeit, bebilderten Werbetafeln, Bepflanzung, ordentlicher gestellten Einkaufswagen sowie größerem Parkplatz gestaltet werden. Perspektive tansanischer Erwachsener –

ZA 1: Es handelt sich um einen sehr großen Supermarkt. Es ist ein Statussymbol, dort einkaufen zu können. Man gilt als besonders kultiviert, wenn man dort einkauft. Um dies zu zeigen, benutzt man auch gerne die Plastiktüten der Supermarktkette. Auch heute noch können es sich nur reiche und meist gebildete Menschen leisten, dort einzukaufen. – ZA 2: Normalerweise kauft man auf kleinen lokalen Märkten ein. Manchmal ist es aber bequemer und schneller, am Supermarkt zu halten, da man dort nicht handeln muss. – ZA 3: Dieser Supermarkt kommt aus Südafrika. Er bringt südafrikanische, westliche Kultur ins Land und verdrängt die einheimische Lebensweise und lokale Produkte. Vor allem werden die kleinen lokalen Märkte verdrängt, was die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschlimmert. – ZA 4: Für den Staat ist dies allerdings positiv, da durch die Supermärkte Steuereinnahmen fließen, die durch die Märkte im informellen Sektor nicht bezahlt werden. Die Gegenüberstellung der Raumwahrnehmung des Supermarkts aus deutscher und tansanischer Perspektive zeigt deutliche Divergenzen. Dabei überrascht die ambivalente Bewertung des Supermarktes aus Sicht der SchülerInnen trotz struktureller Ähnlichkeit zu einem deutschen Äquivalent. Sein Vorhandensein verwundert einige, da es vermuten lässt, dass nicht nur Armut in der tansanischen Gesellschaft vorherrscht. Statt allumfassender Armut deutet er auf wohlhabendere bzw. den SchülerInnen gewohnte Standards hin, wodurch soziale Disparitäten im Land

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zu beobachten sind, was von den deutschen SchülerInnen nicht erkannt wird. Die deutschen Standards eines Einkaufsladens/Supermarkts werden als „normal“ wahrgenommen und liefern den Referenzpunkt für die Bewertung des tansanischen Einkaufsladens. Wiederholt wird eine neutrale Bewertung mit der Formulierung „nicht schlimm“ abgegeben und als Begründung aufgeführt, dass der Laden wie ein deutsches Pendant wirke. Statt sich jedoch positiv zu diesem Laden zu positionieren, wird die Wertung durch Aussagen wie „gebaut, wie es soll“ relativiert. Negative Wertungen werden dem gegenüber direkt geäußert. Besonderen Wert legen die SchülerInnen bei ihrer Beurteilung der räumlichen Situation auf die äußere Gestaltung und Außenwirkung des Ladens und weniger auf die Funktion eines Supermarktes. Manche SchülerInnen, denen die äußere Gestaltung missfiel, vermuteten daher eine schlechte Qualität, obwohl persönlich empfundene Gebäudeästhetik keine direkten Rückschlüsse auf die Qualität zulässt. Die tansanischen Interviewpartner machen darauf aufmerksam, dass in der Stadt die Wahl zwischen lokalen Märkten mit kleinen Ständen und einem großen Supermarkt gegeben sei. Das Einkaufen im Supermarkt sei mit Prestige und Modernität verbunden. Die hohen Preise können sich jedoch nur reiche Personen leisten; der Rest der Bevölkerung kaufe auf den Märkten ein. Der Supermarkt stellt also nicht die Normalität für die Befragten dar. Bevölkerungsschichten mit höherem Bildungsniveau bzw. besser bezahlten Jobs empfinden das Einkaufen im Supermarkt aufgrund fester Preise und ausbleibender Handelsgespräche als Zeitersparnis, weil nach dem Arbeitstag oft nur wenig Zeit bleibt bzw. man sich keine Zeit nehmen möchte. Gleichzeitig wird Kritik geäußert, wenn gerade ausländische Supermarktketten die lokale Kultur und Lebensweise verdrängen. Einerseits werden dadurch zwar Steuereinnahmen generiert, andererseits werden aber die kleinen Märkte verdrängt, was wiederum zu Arbeitslosigkeit und Armut führt. Die zentralen Aussagen weisen auf unterschiedliche gesellschaftliche und sozio-ökonomische Rahmenbedingungen hin. In Deutschland ist ein Supermarkt ein „gewöhnlicher“ Ort zur Versorgung, in dem größtenteils unabhängig von sozioökonomischen Verhältnissen eingekauft wird, während er in Tansania einen Ausdruck des sozio-ökonomischen Status darstellt. Die Modalitäten der festen Preise ohne traditionelles Handelsgespräch wird dabei nach westlichem Vorbild übernommen, was jedoch aus der Perspektive der interviewten tansanischen Erwachsenen durch Überprägung eigener lokaler Arbeits- und Lebensweisen nicht kritiklos bleibt. 5. DISKUSSION: WELCHE BEDEUTUNG HABEN DIE ERGEBNISSE FÜR DIE POLITISCHE BILDUNG IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT? Die Aussagen bezüglich der vorgelegten Bilder zeigen, dass die Räume in Abhängigkeit von dem zugrundliegenden kulturell-gesellschaftlichen Bezugssystem unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt werden. Auffällig ist dabei, dass die zentralen Aussagen zum Teil nicht nur sehr gegensätzlich ausgefielen, sondern dass die der SchülerInnen die eingangs erwähnten empirischen Studien zum nega-

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tiven Afrikabild widerspiegeln. Die Vorstellung von allumfassender Armut wird dabei immer wieder deutlich und als Erklärung für viele wahrgenommene Aspekte der Fotos herangezogen. Dies wird anhand der Überraschung der SchülerInnen über den Supermarkt deutlich, welcher einem deutschen Pendant ähnelt und welchen sie nicht im tansanischen Raum erwartet hätten. Auch ihr Ressentiment, sich positiv zum Supermarkt zu positionieren, obwohl er doch die erwähnte Ähnlichkeit zu einem deutschen aufweist, lässt eine eher negativ geprägte Einstellung zu Afrika vermuten. In manchen Aussagen der SchülerInnen wurde deutlich, dass sie sich nicht eingestehen konnten, den Supermarkt positiv zu bewerten. Sie suchten explizit nach Erklärungen, warum der Supermarkt nicht gut sein kann. Die Vermutung, dass die Qualität der Ware schlecht sei, weil die Außenfassade nicht gefällt, kann hier als ein Beispiel aufgeführt werden. Aufbauend auf den Ergebnissen können nun gezielt Unterrichtskonzepte und materialien entwickelt werden, die SchülerInnen anleiten sollen, induktiv die zugrundeliegende Raumwahrnehmung und Werte aus deutscher sowie tansanischer Sicht zu entdecken und miteinander in Bezug zu setzen. Dabei leisten die Fotos von im ersten Moment trivial wirkenden Alltagsbeispielen als Zugänge zum Raum einen Beitrag. SchülerInnen können durch die Offenlegung der eigenen und anderer Raumwahrnehmung explizit sensibilisiert werden. Insbesondere das persistent negative Afrikabild kann gezielt ins Wanken gebracht werden. Damit wird ein entscheidender Grundstein für ein kritisches und reflektiertes Bewusstsein eigener und fremdproduzierter Raumwahrnehmungen gelegt. Im Verlauf des Unterrichts kann an dieses Grundverständnis von divergenter Raumwahrnehmung mit komplexeren Beispielen und größeren Konfliktszenarien insbesondere mit Bezug auf politische Themen angedockt werden, die zur Durchdringung eine ethnorelative Sichtweise und Perspektivwechsel beanspruchen. Die Sensibilisierung soll die Anbahnung von Bewertungs- und Beurteilungskompetenz fördern. Schließlich sollen SchülerInnen mit Blick auf die Bildungsstandards befähigt werden, einen Sachverhalt unter Einbezug relevanter Werte und Normen durch den Wechsel von Sichtweisen, Ansprüchen und Positionen zu beurteilen (vgl. DGfG, 2012, S. 24f.). Somit werden sie dazu befähigt, Unsicherheiten und das Fehlen von eindeutigen, einfachen Wahrheiten auszuhalten und geographisches Denken anzubahnen. Denn „thinking geographically means to think and finally also to act from different perspectives” (Geographical Association zit. n. Rhode-Jüchtern, 2015, S. 10). Gerade raumbezogene, politische Fragestellungen, die eine größere gesellschaftliche Sensibilität bezüglich Raumwahrnehmung und konstruierter Raumbilder erfordern, können die Politische Bildung mit einem genuin geographischen Blick vorantreiben. LITERATUR da Costa, E.M., Pedro, A.R. & Stoleriu, O.M. (2011). Perception of Europe in the world by Portuguese and Romanian graduate students – does mental barriers exists? Regional and Studies Association Annual International conference 2011. Verfügbar unter: http://www.regionalstudi

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PARTIZIPATION JUNGER ZIVILGESELLSCHAFTEN IN DEN SLUMS VON NAIROBI Ein Beitrag zur Politischen Bildung im Geographieunterricht Andreas Eberth 1. EINLEITUNG Der demokratische Verfassungsstaat erzwingt keine öffentlichen Aktivitäten seiner Bürger. Gleichwohl ist es ein Zeichen lebendiger Demokratie, wenn die Bürger an der politischen Öffentlichkeit [...] teilnehmen [...]. Der Bürger muss erstens ein Wissen über Teilnahmerechte und Mitwirkungsmöglichkeiten besitzen. Und er muss zweitens über ein gewisses Handlungsrepertoire verfügen. (Detjen, 2013, S. 238)

Ob Wissen über Möglichkeiten der Partizipation auch in den Slums von Nairobi lebenden Jugendlichen zugänglich ist und inwiefern diese über ein Handlungsrepertoire verfügen, offenbart sich vor dem Hintergrund des besonderen räumlichen Kontextes – einem so oft als Marginalviertel bezeichneten Ort – als interessante Frage. Werden die Alltagspraktiken der in Korogocho lebenden Menschen in den Blick genommen, eröffnen sich neue Perspektiven auf das Leben im Slum, denn „Initiativen und Einzelpersonen aus Slums können sich wirksamer und präziser artikulieren als noch vor zehn Jahren“ (Wehrhahn, 2014, S. 11). Am Beispiel des Slums Korogocho, im Nordosten von Kenias Hauptstadt Nairobi gelegen, wird dies im Folgenden untersucht. Dazu folgt auf eine Skizze des Raumdiskurses die Vorstellung einer empirischen Erhebung, bevor diese Ergebnisse auf das Potenzial für einen Beitrag zur Politischen Bildung im Geographieunterricht reflektiert werden. 2. RÄUME ERFORSCHEN: SPACE UND PLACE Um herauszufinden, ob und inwiefern die Bewohnerinnen und Bewohner Korogochos als marginalisiert bezeichnet werden können, bedarf es der Analyse ihrer Interessen als alltäglich handelnde Akteure. Die Handlungen der Menschen rücken in den Fokus, der physisch-materielle Gegebenheiten nur als Orientierungsrahmen versteht, nicht aber als wirkmächtig für subjektive und sozial-kulturelle Tätigkeiten (vgl. Werlen, 2008, S. 279). Grundlage ist dabei das Verständnis, dass die Basis des Handelns, die von einem Akteur wahrgenommene ‚Realität’, immer eine Konstruktion darstellt, die sich aus den gesellschaftlich vorhandenen raumbezogenen Repräsentationen, Symboliken und Deutungsmustern speist, welche selbst als konstruierte Ordnungen angesehen werden müssen. (Reuber, 2011, S. 795)

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Insofern sind drei Einflussfaktoren zu berücksichtigen: der Akteur als Individuum mit seiner Biographie und seinen eigenen Zielen, das Zusammenwirken der Akteure im unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld, gleichermaßen mit den eigene Vorstellungen determinierenden Zwängen, aber insbesondere auch aus der Zusammenarbeit resultierende Potenziale, sowie die Strukturen des räumlichen Umfeldes als space (vgl. ebd., S. 794). Daraus ergibt sich die Frage, inwiefern die Bewohnerinnen und Bewohner Korogochos im Kontext dieser Einflüsse ihren Lebensraum als place konstruieren. Erst wenn der Raum als place wahrgenommen wird, kann daraus die Motivation zur aktiven Partizipation resultieren: In both our communal and our personal experience of places there is often a close attachment, a familiarity that is part of knowing and being known here, in this particular place. It is this attachment that constitutes our roots in places; and the familiarity that this involves is not just a detailed knowledge, but a sense of deep care and concern for that place. (Relph, 1976, S. 37)

Um in diesem Sinne raummachende Handlungen abzubilden, bedarf es einer Hinwendung zum Subjekt (vgl. Hoffmann, 2011, S. 13). 3. FORSCHUNGSDESIGN Im August 2014 wurde eine Studie in Nairobis Slum Korogocho mit 92 Jugendlichen durchgeführt. Diese sind alle in Korogocho geboren und waren zum Zeitpunkt der Studie zwischen 15 und 24 Jahren alt; eine Altersgruppe, die vom United Nations Population Fund als Jugendliche definiert wird (vgl. UNFPA, 2003). Gerade diese junge Generation ist insofern von Interesse, da rund 50% der Slumbevölkerung Nairobis jünger als 24 Jahre sind (vgl. UN-Habitat, 2014, S. 176). 33 Probandinnen sind weiblich, 59 Probanden männlich; ein charakteristisches Bild, da der Anteil der männlichen Bevölkerung in den Slumgebieten generell höher ist als der der weiblichen, da ursprünglich häufig die Männer im erwerbsfähigen Alter vom Dorf in die Stadt gezogen sind und sich heute junge Mütter wieder längere Zeit bei der erweiterten Familie im ländlichen Raum aufhalten, um dort ihre Kinder großzuziehen (vgl. Archambault, de Laat & Zulu, 2012, S. 1860). Alle beteiligten Jugendlichen sind in insgesamt 19 Jugendgruppen, sogenannten community based organizations, organisiert, was den Zugang vereinfachte, was aber auch mit Blick auf die Ergebnisse entscheidend ist. Nach einem ersten Treffen zum Kennenlernen wurde den Jugendlichen eine Digitalkamera ausgehändigt mit der Bitte, selbstständig, ohne Begleitung des Forschenden, Fotos aufzunehmen, die Motive von Orten, Situationen oder Menschen abbildeten, die in ihrem persönlichen Alltag bedeutsam sind. Ganz bewusst wurde eine derart offene Fragestellung gewählt, um einen hinreichenden Freiraum zu gewährleisten und den Einfluss des Forschers, der zwangsläufig durch eine ‚europäische Brille’ schaut, möglichst gering zu halten. Nach einer Stunde sollten die Probandinnen und Probanden zu einem vereinbarten Treffpunkt kommen. Dort schloss sich ein narratives Interview an. Jeder wählte drei Aufnahmen aus, die er

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besprechen wollte. Das Vorgehen erwies sich als so motivierend, dass die Teilnehmenden detailreich erläuterten, warum sie bestimmte Motive ausgewählt hatten und inwiefern diese als bedeutungstragend zu erachten sind. Dieses hohe Maß an Motivation ist ein Vorteil der Methode der reflexiven Fotografie, welche das Potenzial bietet, Akteurinnen und Akteure in den Mittelpunkt der Erhebung zu rücken. Somit wirkt der Proband oder die Probandin nicht als „Beforschte/r“, sondern wird aktiv in die empirischen Erhebungen involviert, gestaltet diese mit und kann seinen/ihren Raum als place darstellen (vgl. Dirksmeier, 2013; Eberth, 2016b). Im Folgenden werden Auszüge eines Interviews vorgestellt, das in der Grundaussage exemplarisch für auch andere Ergebnisse erscheint. 4. ERGEBNISSE Empowerment, Responsibility und Change sind drei Schlagworte, die sich in allen Interviews als mit Bedeutung versehene Begriffe analysieren lassen. Dabei wird deutlich, dass es den Jugendlichen wichtig ist, ein Empowerment von Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, damit gute Zukunftschancen möglich sind. Responsibility bezieht sich auf den Slum als Lebensumfeld im räumlichen, aber auch im sozialen Sinne. Es wird stets betont, dass die Verantwortung für eine (räumliche) Veränderung bei den Bewohnerinnen und Bewohnern Korogochos selbst liege. Damit dies gelinge, müssten Jugendliche als Vorbild für andere dienen und somit ihrer sozialen Verantwortung für die ganze Gemeinschaft nachkommen. Dies sei der Weg, der zu Change führe, einer Transformation des Lebensraumes. Dass dieser Wandel nicht ein Zukunftswunsch ist, sondern bereits stattfindet, zeigt das folgende Beispiel. 4.1 Induktive Auswertung eines Beispielinterviews Einer der Probanden hat einen Freund fotografiert, der als Radiomoderator in einem kleinen Studio sitzt und gerade auf Sendung ist (Abb. 1). Es ist der Radiosender KochFM, der von einigen Bewohnern Korogochos für die Gemeinschaft gegründet wurde. Insofern kommt dem Radiosender ein sozialer Auftrag zu. Der Radiosender wird beschrieben als „a platform for people of the informal settlements of Nairobi, to be discussing and coming up with practical solutions for issues of everyday life affecting them in the informal settlements“ (4.10ff.). Dabei offenbart sich das Selbstverständnis des Radiosenders nicht nur als Anbieter von Unterhaltung und Musik, sondern insbesondere auch als Medium der Information und des Austausches für die Bewohnerinnen und Bewohner des Slums. Warum ausgerechnet ein Radiosender das geeignete „tool“ (4.57) ist, um die Bevölkerung zu erreichen, wird damit begründet, dass nahezu jeder Haushalt ein kleines Kofferradio besitze, da es einfacher zu finanzieren sei als etwa ein Fernseher. Die relevanten Themen des Senders sind vielfältig: „We are talking about different issues, like issues of governance, health issues, (-) issues of youth empowerment“

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(4.20ff.). Interessant ist, dass das Thema „governance“ an erster Stelle steht. Es sind gerade die jungen Generationen in Kenia, die erkennen, dass einige Verantwortliche in Politik und öffentlicher Verwaltung fragwürdige Schwerpunkte setzen. Aufgrund ihrer demographischen Struktur offenbart sich dieser Eindruck insbesondere in den Slumgebieten Nairobis und wird zunehmend artikuliert. Diese Artikulation findet Ausdruck in verschiedenen Formen des Protests, in Street Art, Musik (vgl. Nyairo, 2006) oder in Radiosendungen, welche über Vorfälle von bad governance und dem Wunsch nach good governance berichten.

Abb. 1 Aufnahme eines Interviewpartners

Dass gesundheitsbezogene Themen an zweiter Stelle genannt werden, ist nachvollziehbar und unterstreicht die Bedeutung dieser Sachverhalte unter den Jugendlichen. In vielen Gesprächen, aber auch im Straßenbild in Form von Plakaten und Gemälden omnipräsent, wurden Äußerungen zu HIV/Aids-Aufklärung, zur Vermeidung früher Schwangerschaften, zu Mutter-Kind-Gesundheit usw. getroffen. An dritter Stelle wird „youth empowerment“ (4.21f.) als Thema genannt, über das KochFM häufig berichtet. Dabei handelt es sich um ein übergreifendes Themenfeld, da die zuvor genannten Schwerpunkte auch Teil eines empowerment of the youth sind bzw. sein können. Der Gedanke, der Bevölkerung einen Dienst zu erweisen, wird auch hier deutlich, denn es sind Jugendliche, welche einen Beitrag zum Empowerment anderer Jugendlicher leisten wollen und insofern die Rolle von Vorbildern übernehmen. Koch FM gibt Jugendlichen „an opportunity to broadcast“ (4.29) und damit die Möglichkeit, ihre eigenen Vorstellungen, Bedürfnisse und Visionen zu artikulieren. Neben dieser Partizipation der Bevölkerung wird ferner die Bedeutung herausgestellt, als politisch unabhängiger Nachrichtensender eine Informationsquelle für die Bewohnerinnen und Bewohner Korogochos darzustellen. Es sei besonders wichtig, die politischen Entscheidungen auf nationaler Ebene, die durchaus auch Einfluss auf Korogocho haben, den Menschen

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vor Ort auch zugänglich zu machen. In diesem Bereich kann der Sender auch als Machtinstrument gesehen werden, da derartige Berichterstattungen – abhängig vom Grad ihrer Neutralität – weitreichende Folgen haben können. Insofern kann einerseits die Frage von Macht und Raum gestellt werden: Trägt der Sender etwa dazu bei, gesellschaftliche Machtstrukturen und Hierarchien zu bilden bzw. zu manifestieren? Oder leistet er andererseits einen Beitrag, Politik und deren Akteure reflexiv zu hinterfragen? Beide Varianten machen die Tragweite deutlich, die diesem Engagement der Jugendlichen zukommt. Es ist allerdings nicht nur die nationale Politik, die als Themengeber für KochFM relevant ist, denn der Sender sieht sich auch als Sprachrohr einer Zivilgesellschaft, die mittels des Senders eine Öffentlichkeit für ihre Belange herstellen könne: „KochFM basically still represents a tool for the common member of Korogocho where they can voice their, (-) voice their needs“ (4.65f.). Insofern ist der Sender als Beispiel einer neuen, jungen Generation zu sehen, die im Unterschied zur Generation ihrer Eltern ein anderes Verständnis von Politik, bürgerschaftlichem Engagement und Partizipation pflegt. Diese Entwicklung bzw. das Engagement der jüngeren Generationen findet folgende Bestätigung: „There are so many young people who are working towards making Korogocho better. A lot of good things are happening“ (4.68f.). Darin wird deutlich, dass die Jugendlichen stolz auf ihr Engagement und das Erreichte sind. Stolz, der zugleich auch eine Quelle der Motivation und für eine Fortsetzung des Engagements ist. Mit Bedauern führt 4.I5 aus, dass die „mainstream media“ (4.72) über Korogocho kaum berichteten; und wenn überhaupt nur über negative Vorkommnisse wie Vorfälle von Kriminalität. Ein Sachverhalt, der in dieser Art bisweilen auch für Berichterstattungen über Afrika in deutschen Medien zutrifft. Um seine Ausführung zu unterstützen, gibt 4.I5 weitere Beispiele: But if you look at Korogocho again, there are so many good things that are happening. There are good musicians who are making it good in Korogocho. Very young people are doing something positive for their community. […] So, KochFM was founded to portrait the good side of Korogocho. Believe, we are not that bad. (L) The things in Korogocho are really, really improving. If you compare it to the last years, especially in terms of security it is improving. [...] As inhabitants of Korogocho we are working on it. […] Young people are also coming up and start to do very constructive things. […] Almost everybody [...] is trying to make (-) a good and a better life. So, right now it is encouraging for young people who are growing up. Because they see ‘oh’! Instead of growing up in Korogocho, I can make it positively and live a good life (-). (4.73-4.89)

Die negative Wahrnehmung des Slums von außen wird in diesen Worten deutlich, etwa im Satz „Believe, we are not that bad (L)“ (4.77f.). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Bewusstsein, dass Heranwachsende Vorbilder benötigten, die ihnen positive und auf das Wohl der Gesellschaft ausgerichtete Verhaltensweisen vorlebten (vgl. 4.83ff.). Auf die Frage, ob nicht auch den Verantwortlichen in Politik und Regierung eine Verantwortung für die Schaffung von Zukunftschancen für Jugendliche zukomme, wird entschieden mit „nein“ geantwortet. Vielmehr wird darauf verwiesen, dass es die Jugendlichen selbst seien, die im Rahmen gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Engagements für ihre persönliche

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Entwicklung und die Entwicklung ihres räumlichen und gesellschaftlich-sozialen Umfeldes verantwortlich seien (vgl. 4.92ff.): „They are responsible [...] to build up a strong generation“ (4.94). Dieses Verantwortungsbewusstsein resultiert aus der Verbundenheit mit dem Slum als place, als Zuhause, mit dem man sich identifiziert. Anders als der bisweilen geführte Diskurs über einen „Teufelskreis der Armut“ entwirft 4.I5 die Vision einer sich gegenseitigen positiven Beeinflussung: The youth who are already empowered can use energy to empower other people who have gone astray. [...] Organizations like youth groups can at least involve young people who are still in the bad and empower them and show them to bring more energy as moving power to transform Korogocho. (4.96ff.)

Die Transformation Korogochos versteht er dabei nicht als „Slum Upgrading“ im Sinne einer Veränderung des baulich-materiellen Umfelds. Vielmehr geht es ihm um die Wahrnehmung des sozialen Raumes: „So, those empowered young people identify with Korogocho as their home – yes, as a home that is no longer a slum” (4.102f.). 4.2 Fazit Bezugnehmend auf die eingangs dargelegten Reflexionen zu ihren Partizipationsmöglichkeiten, können die Jugendlichen Korogochos kaum als marginalisierte Bevölkerungsgruppe bezeichnet werden. Vielmehr erweisen sie sich als erstarkende Zivilgesellschaft, die unterschiedliche Maßnahmen zur gesellschaftspolitischen Partizipation ergreift. So werden Sport- und Kulturveranstaltungen organisiert, damit Kinder und Jugendliche ihre Talente entdecken. Bildungsmöglichkeiten werden geschaffen, damit diese entfaltet werden können. Projekte wie KochFM und weitere Aktivitäten wie SlumTV oder Blog-Projekte sind konkrete Maßnahmen, um die eigene Meinung zu artikulieren. Instrumente zur Partizipation werden selbst geschaffen, sodass hier erste Demokratisierungsprozesse als Bottom-up-Initiative zu beobachten sind. Um langfristig adäquate Strukturen zur Bürgerbeteiligung zu etablieren, bedarf es daher einer harmonischen Integration von Bottom-up- und Top-down-Aktivitäten. Derzeit gibt es im Sinne von Bottomup hinreichend Potenzial. Akteure der Bereiche Politik, Stadtverwaltung und planung müssen darauf reagieren und die Transformationsprozesse vor Ort angemessen Top-down unterstützen. Denn wenn es zu stärkerer Unzufriedenheit mit der Politik kommt, kann das Engagement zukünftig auch in Protest münden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich eher um unkonventionelle Partizipationsformen handelt, die durchaus auch in Spannung zur repräsentativen Demokratie treten können (vgl. Detjen, 2013, S. 239). Damit eine konstruktive Entwicklung gelingt, muss engagierten Jugendlichen künftig in stärkerem Maße die Möglichkeit zur Übernahme politischer Ämter gegeben werden, um eine tragfähige Brücke zwischen konventionellen und unkonventionellen Partizipationsformen zu ermöglichen. Nicht zuletzt aus demographischen Gründen erscheint es ferner notwendig, dass diese Bevölkerungsgruppe angemessen repräsentiert wird.

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Gitau sieht darin nicht nur den Schlüssel zur Friedenssicherung, sondern auch eine Maßnahme „to remove young people from the list of marginalized groups“ (2012, S. 83). Dies gelingt im Kontext partizipativer Erfahrungen nur, wenn diese keinen Pseudocharakter haben und langfristig positive Effekte auf die soziale und politische Identitätsentwicklung ausüben (vgl. Biedermann, 2007, S. 25). 5. REFLEXIONEN ZUR BEDEUTUNG DER ERGEBNISSE FÜR DIE POLITISCHE BILDUNG IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT Für den Geographieunterricht bietet die Betrachtung der vorgestellten Thematik insbesondere ein Potenzial zur Selbstreflexion des eigenen „alltäglichen Geographie-Machens“ (Werlen, 2008, S. 136). Werden die von kenianischen Jugendlichen aufgenommenen Fotos im Unterricht eingesetzt und wird der Ursprung ihrer Entstehung transparent gemacht, können die Lernenden durch ein Hinterfragen der Motive erkennen, dass Raum stets individuell wahrgenommen wird und als soziales Konstrukt zu verstehen ist (siehe dazu Eberth, Hallermann & von der Koelen, 2015, S. 138f.). So können die Jugendlichen in Korogocho für die Schülerinnen und Schüler in Deutschland gleichsam als Vorbild dienen, da die Reflexionen der eigenen Raumwahrnehmung und die konkreten Handlungen als aktive Zivilgesellschaft überraschen. Lernende werden insofern mit einer Wahrnehmung konfrontiert, die sich in vielen Teilen von ihrer Vorstellung des Lebens in einem Slum unterscheiden mag. Daher kann ein Beitrag zur Dekonstruktion stereotyper Afrikabilder und zur Vermittlung differenzierterer Afrikabilder geleistet werden (siehe Kersting, 2011; Eberth, 2016a). Die Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler, die beim Betrachten von Fotos, die den Raum als space abbilden – etwa die typischen Dachlandschaften – unweigerlich entstehen, können so dekonstruiert werden, da die von Jugendlichen aufgenommenen Motive und korrespondierende Interviewauszüge den Raum als place zeigen und als „Artefakt geographischer Wissensproduktion“ (Schlottmann & Miggelbrink, 2009, S. 14) erkannt werden. Dies gerade vor dem Hintergrund, dass nicht die bestehenden Probleme als Motive gewählt werden, sondern insbesondere handelnde Akteure und deren Art, sich der bestehenden Herausforderungen konstruktiv anzunehmen, gezeigt werden. Diese Perspektiven können die Lernenden anregen, sich ihrer eigenen Raumwahrnehmungen und -konstruktionen bewusst zu werden. Das Beispiel eines fernen, für die meisten Schülerinnen und Schüler fremden Raumes trägt also dazu bei, das eigene Raumverhalten – auch im Heimatraum – zu untersuchen. Als selbstreflexive Geographien verstanden, kann den Lernenden die Aufgabe übertragen werden, im räumlichen Umfeld ihres Alltags drei Fotos von bedeutungstragenden Orten, Situationen oder Personen aufzunehmen. In dieser Tätigkeit als solcher, aber insbesondere in einer anschließenden Präsentation und Diskussion im Klassenverband kann deutlich werden, dass soziale Räume stets Produkte individueller Konstruktionen sind und sich die Wahrnehmungen deutlich unterscheiden. Die Ergebnisse einer derartigen Übung können wiederum mit den Beispielen aus Korogocho kontrastiert werden. Darin wird das hohe Maß an Verbun-

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denheit mit dem Lebensraum deutlich, welches Grundlage für das soziale und politische Engagement der Jugendlichen ist. Dies wiederum mag zur Reflexion des gesellschaftlichen und politischen Engagements der Jugendlichen in Deutschland anregen und wird die Erkenntnis befördern, wie essenziell Bottom-upProjekte der Bevölkerung als Zivilgesellschaft sind, um das gemeinsame Zusammenleben zu gestalten und demokratische Entwicklungen zu leben. Dieses Bewusstsein zu schulen, ist in jeder Gesellschaft bedeutsam, da derartige Partizipationsmöglichkeiten fragile politische Existenzweisen [sind], die immer wieder neuer Fürsprache und Unterstützung bedürfen und somit von jeder Generation aufs Neue geschaffen bzw. zumindest bestätigt werden müssen. (Biedermann, 2007, S. 21)

Während der Generation der Schülerinnen und Schüler in Deutschland die Aufgabe des Bestätigens zukommt, obliegt es den Jugendlichen in Kenia, derlei Strukturen neu aufzubauen und zu etablieren. Ansätze dieser „Partizipationskompetenz“ (de Haan, 2004, S. 42) der jungen Zivilgesellschaften in Korogocho hat der Beitrag aufzuzeigen versucht. LITERATUR Archambault, C.S., de Laat, J. & Zulu, E.M. (2012). Urban Services and Child Migration to the Slums of Nairobi. World Development, 40 (9), 1854‒1869. Biedermann, H. (2007). Demokratisches Lernen. In V. Reinhardt (Hrsg.), Inhaltsfelder der Politischen Bildung (S. 20‒31). Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren (= Basiswissen Politische Bildung 3). de Haan, G. (2004). Politische Bildung für Nachhaltigkeit. Aus Politik und Zeitgeschichte, B (7-8), 39‒46. Detjen, J. (2013). Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland. München: Oldenbourg. Dirksmeier, P. (2013). Zur Methodologie und Performativität qualitativer visueller Methoden – Die Beispiele der Autofotografie und reflexiven Fotografie. In E. Rothfuß & T. Dörfler (Hrsg.), Raumbezogene qualitative Sozialforschung (S. 83‒101). Wiesbaden: Springer VS. Eberth, A. (2016a). Entwicklungszusammenarbeit im Perspektivwechsel – Zur Dekonstruktion stereotyper Afrikabilder. In C. Meyer (Hrsg.), Diercke Geographie und Musik. Zugänge zu Kultur, Mensch und Raum (S. 149‒156). Braunschweig: Westermann. Eberth, A. (2016b, im Druck). Der Einsatz reflexiver Fotografie zur Darstellung von Lebenswelten Jugendlicher in der informellen Siedlung Korogocho in Nairobi. In H. Jahnke, A. Schlottmann & M. Dickel. (Hrsg.), Räume visualisieren. Münster: Hochschulverband für Geographiedidaktik (= Geographiedidaktische Forschungen). Eberth, A., Hallermann, S. & von der Koelen, A. (2015). Seydlitz Erdkunde 3 Rheinland-Pfalz. Braunschweig: Schroedel. Gitau, A. (2012). Promote Peace – Because Peace begins with us! A Voice of the Youth. In J.M. Nebe (Ed.), Peace Building and Conflict Management in Kenya. (S. 77‒84). Trier: Universität Trier. Hoffmann, K.W. (2011). „Lost in space!?“ oder die „Mitte der Geographie!?“: Zur Bedeutung und Neuverortung des Geographieunterrichts. In P. Kersting & K.W. Hoffmann (Hrsg.), AfrikaSpiegelBilder. Reflexionen europäischer Afrikabilder in Wissenschaft, Schule und Alltag

Partizipation junger Zivilgesellschaften in den Slums von Nairobi

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KAPITEL 4 Unterrichtspraktische Vorschläge

KOLLEKTIV BINDENDE ENTSCHEIDUNGEN IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT VORBEREITEN UND TREFFEN Günther Weiss 1. URTEILS- UND ENTSCHEIDUNGSKOMPETENZ ALS TEIL POLITISCHER BILDUNG Politik ist der Bereich, in dem „grundlegende Fragen und Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens“ (GPJE, 2004, S. 10) geregelt werden, sofern gesellschaftlich Gruppen einen politischen Regelungsbedarf sehen. In einem gesellschaftswissenschaftlichen Verständnis soll auch das Schulfach Geographie die SchülerInnen dazu befähigen, sich an der Aushandlung dieses gesellschaftlichen Miteinanders zu beteiligen. So soll das Fach beispielsweise gemäß den Vorgaben des Schulministeriums NRW „die Mitwirkung in demokratisch verfassten Gemeinwesen unterstützen [...]“ und „[…] die Fähigkeit zur selbständigen Urteilsbildung [fördern]“ (MSW NRW, 2011, S. 9). Geographie soll in diesem Sinne dazu beitragen, dass SchülerInnen „auf der Grundlage der verwobenen Sach- und Methodenkompetenz raumbezogene Strukturen und Prozesse hinsichtlich der Bedeutung für die Gestaltung der aktuellen und zukünftigen Lebenswirklichkeit kriteriengestützt beurteilen können.“ Wiederum „auf der Basis von Sach-, Methoden-, und Urteilskompetenz erproben die Lernenden unterschiedliche Handlungsmuster durch produktives Gestalten sowie simulatives und reales Handeln“ (ebd., S. 14). Geographieunterricht als politische Bildungsarbeit befähigt SchülerInnen also, auf Basis gültiger Informationen (Sach-/Methodenkompetenz) ein fundiertes Urteil zu fällen (Kommunikations-/Urteilskompetenz), welches wiederum die Grundlage für Entscheidungen und Handeln in Fragen des alltäglichen gesellschaftlichen Zusammenlebens in ihrem Bezug auf das Gemeinschaftsgut Raum bildet. Die Urteilsbildung ist damit besonders relevant, denn sie ist Grundlage der Entscheidung und kann ohne eine hinreichende sachbezogene Informationsgrundlage nicht sinnvoll erfolgen. Mit der Implementierung der kompetenzorientierten Lehrpläne haben Unterrichtsmethoden, welche die Urteilskompetenz der SchülerInnen zu stärken trachten, an Bedeutung gewonnen. Verwiesen sei hier vor allem auf die Methodensammlung „Denken Lernen mit Geographie“ (Vankan, Rohwer & Schuler, 2007; Schuler, Rohwer & Vankan, 2013; Laske & Schuler, 2012). Im Hinblick auf die vorherrschenden Konzepte zur Förderung von Urteilskompetenz ist zweierlei festzuhalten: Zum einen fördern die Methoden in der Regel einzelne Teilkomponenten der Urteilskompetenz (vgl. Tabelle 1). Zum zweiten liegt der Schwerpunkt tendenziell auf einem Identifizieren und Nachvollziehen verschiedener UrteilsPerspektiven in Bezug auf einen Sachverhalt. Auch komplexere Methoden des

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Urteils- und Entscheidungstrainings wie Rollen-, Planspiel oder Dilemmadiskussion intendieren eher das Erkennen, Übernehmen und Artikulieren multipler Perspektiven, als dass sie eine objektiv beste Entscheidung anstreben. Tabelle 1: Bausteine zur Kompetenzschulung im Prozess der Urteilsbildung (eigene Darstellung)

Schritt im Prozess der Urteilsbildung Informationsprüfung (a) empirischer Gehalt

(b) Belastbarkeit/Repräsentativität (c) Einbettung in den regionalen Kontext Informationsgewichtung/-bewertung (a) Offenlegen von Wertmaßstäben

(b) Perspektive wechseln

(c) Perspektiven vertreten/argumentieren

Methode zur Kompetenzschulung (Auswahl) Unterscheiden von Tatsachen und Meinungen (Schuler et al., 2013, S. 138ff.), Identifikation korrekter Belege für Behauptungen (Weiss, 2012, S. 101ff.) Was ist wo möglich? (Vankan et al., 2007, S. 79ff.) Dilemmadiskussion (Lind, 2012), Planen und entscheiden, Wertequadrat (Vankan et al., 2007, S. 121ff., S. 138ff.) Planspiel/Rollenspiel (Frech, Kuhn & Massing, 2004); Alternativenvergleich (Uhlenwinkel, 2012, S. 92ff.) Diskussion, Argumentation (Budke, 2012, S. 5ff.)

Ein solcher Focus legt nahe, dass Urteile zwangsläufig von Perspektiven abhängen und dass Urteile nur perspektivenbezogen gefällt werden können (z.B. muss der Naturschützer immer für die Belange der Natur sprechen, aber nicht für die der Wirtschaft, denn das ist Sache des Unternehmers). Dabei wird ausgeblendet, dass es perspektivenunabhängig empirisch prüfbare Aussagen über die Effekte eines Sachverhalts gibt, die erst im Nachhinein je nach Perspektive unterschiedlich gewichtet werden können. Damit gemeint ist die Logik von Gutachten, wie sie in Umwelt- oder Raumverträglichkeitsprüfungen Verwendung finden: Ein/e Experte/in stellt die Tatschen fest und zieht daraus ein begründetes, nachvollziehbares Urteil, seine/ihre Empfehlung. Im vorliegenden Beitrag geht es genau darum, SchülerInnen als „GutachterInnen“ einzusetzen und sich einem Problem als Sachverständige annähern zu lassen. Im Alltag gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse müssen auch BürgerInnen und PolitikerInnen bei neu auftretenden Problemen erst den Weg eines/r Sachverständigen gehen und sich kundig machen, bevor sie ein Urteil fällen. Das Erstellen eines Gutachtens bedeutet, ausgehend von einem Problem über Informationssuche und -bewertung eine Entscheidung zu empfehlen (vgl. Abbildung 1); es sind also mehrere Aspekte zu integrieren, wie es auch Roberts (2015) in ihrem Konzept problemlösenden Lernens über Projektstudien vorschlägt.

Kollektiv bindende Entscheidungen im Geographieunterricht vorbereiten und treffen

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Abbildung 1: Schritte der Entscheidungsfindung (eigene Darstellung)

2. PRAXISBEISPIEL: STANDORTENTSCHEIDUNGEN VON WINDKRAFTANLAGEN Das folgende Beispiel ist für höhere Jahrgangsstufen (ab Klasse 9) geeignet und umfasst etwa sechs Stunden. Die Ausgangslange stammt aus dem Bereich der geographischen Energieforschung, da sich die aktuellen Kontroversen um Standorte für Windenergieanlagen (WEA) sehr gut dazu eigenen, alle Aspekte des Entscheidungsprozesses in verschiedenen Ausprägungen abbilden zu können. Es sei darauf hingewiesen, dass jeweils besonders zu fördernde Aspekte intensiver behandelt und andere stärker vorstrukturiert werden könnten. In reduzierter Form finden sich Ideen zur Bewertung von WEA auch bei Heinicke (2013) sowie bei Conrad, Koch und Laske (2012). Zu Beginn der Unterrichtsreihe sollte eine Problemdefinition erfolgen (siehe Abbildung 1). Aktuelle Planungen sind motivational am besten für den Unterricht geeignet, aber selten nach Belieben greifbar. Möglicherweise kann ein altes WEA-Projekt auf dem Gebiet der Schulgemeinde aufgegriffen und „wiederbelebt“ werden (damals gescheitert - zurecht?). Nicht zuletzt ist es möglich, dass die Lehrkraft das Ausgangsproblem selbst vorschlägt: Beispielsweise soll an einer bestimmten Stelle der Schulgemeinde eine Windenergieanlage mit vorgegebenen Parametern (2 MW, 100m Nabenhöhe, 0,2 ha Grundfläche) errichtet werden. Zu entscheiden ist, ob die Genehmigung dafür erteilt werden soll. Es empfiehlt sich, relativ einfache Sachverhalte und standorträumliche Kontextbedingungen (geplanter Standort liegt nicht imNaturschutzgebiet, nicht unmittelbar neben Wohnhäusern, etc. ) zu wählen, um das Spektrum der zu beachtenden Effekte zu begrenzen. Aus Vorwissen, Leserbriefen oder Homepages von Bürgerinitiativen kann zunächst ein Überblick zu den Vor- und Nachteilen verschafft werden, welche mit Windenergieanlagen verknüpft sind. Dabei ist darauf zu achten, dass diese zunächst den Status von Behauptungen (Meinungen) erhalten und (noch) nicht als Fakten gelten. Alternativ kann von vornherein in themenverschiedenen Klein-

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gruppen per Internetrecherche nach Auswirkungen eines Windrads auf die klassischen Schutzgüter einer Umweltverträglichkeitsstudie gesucht werden (Mensch, Tiere/Pflanzen, Boden, Grund-/Oberflächenwasser, Luft/Klima, Landschaft, Kulturgüter; vgl. LVerwA SA, o.J.). Die genannten Behauptungen werden im Anschluss stichwortartig aufgelistet. Im nächsten Schritt erfolgt eine Internetrecherche zu empirisch belegbaren Fakten. Diese Recherche sollte aus Zeitgründen themenverschieden in Kleingruppen erfolgen, um die Informationsfülle bearbeiten zu können. In einer Tabelle wird erfasst, welche Behauptungen kursieren (d.h. welcher Schaden/Nutzen konkret entsteht), ob diese empirisch belegbar sind (d.h. wissenschaftliche Messungen, Gesetze), ob es Hinweise auf spezifische Rahmenbedingungen gibt, von wann die Information stammen und ob diese Erkenntnisse einer Genehmigung der Windenergieanlage positiv oder negativ gegenüberstehen. So wäre z.B. bei Aussagen, die auf Lärmemission durch WEA abheben, zu eruieren, welche Schäden entstehen (z.B. auf Dauer Herz-/Kreislauferkrankungen), welche Bedingungen gegeben sein müssen (bestimmter Abstand ohne Schallabschirmung, bestimmte Windrichtung, Technik/Hersteller), wo, durch wen und wann diese Messungen/Studien durchgeführt wurden, und die negative Relation dieses Sachverhalts zur Genehmigung. Gerade bei Effekten von Windenergieanlagen treten Behauptungen verschiedener Art auf, von kaum belegbaren Belastungen durch Infraschall über technisch überholte Bedrohungen durch Eisschlag oder Brände und von Gesetzen abhängige Gewinne aus der Einspeisevergütung bis zu schwer bewertbaren Beeinträchtigungen der Landschaft. Werden in einer bestimmten Recherchezeit keine empirisch belastbaren Daten gefunden, kann überlegt werden, mit welchem Forschungsdesign man den entsprechenden Sachverhalt lösen könnte (z.B. Lärmmessungen an WEA verschiedener Technik in verschiedenen Abständen, draußen und innerhalb der Wohnung etc.); allerdings kann dieser Sachverhalt nicht in die Entscheidung einfließen. Die abstrakte Liste der positiven und negativen Effekte wird nun den Rahmenbedingungen am geplanten Standort gegenüber gestellt. Die Liste sollte mit Blick auf den Standort (Analyse topographischer und thematischer Karten; vgl. Brühne, 2008) um die Aspekte bereinigt werden, welche am Standort wahrscheinlich keine Rolle spielen. Der negative Effekt „Lärm“ ist beispielsweise bedeutungslos, wenn in einem Abstand von 1000 Metern kein Mensch wohnt. Für die verbleibenden Auswirkungen von Windkraftanlagen steht nun die Gewichtung an. Diese ist nur aufgrund allgemeiner Grundätze möglich, die über den konkreten Effekten stehen. Dazu sollte wiederum zu jedem Effekt überlegt werden, wie gravierend er bewertet wird und vor allem warum. Ähnlich wie in der Dilemmadiskussion geht es nun um Erkennen und Offenlegen von Werten. Wer Lärmemissionen hoch gewichtet, hat wahrscheinlich als Grundsatz, dass die Gesundheit bzw. das Wohlbefinden von Menschen ein hohes Gut darstellen. Die Benennung von Grundsätzen sollte individuell durch mehrere oder alle SchülerInnen für einen Sachverhalt erfolgen und anschließend verglichen und ggf. erläutert werden. Damit werden heterogene Grundsätze deutlich, welche einen Effekt unterschiedlich gewichten können. Selbst die Bewertung durch Studierende hat ge-

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zeigt, dass wenig Erfahrung im Erläutern von Normen und Werten vorliegt. Bei unerfahrenen SchülerInnen sollten Bewertungsgrundsätze zur Auswahl vorgelegt werden (vgl. Felzmann, 2012). Im nächsten Schritt ist eine Überblickstabelle (vgl. Tabelle 2) anzufertigen, welche für alle verbleibenden, im konkreten Fall relevanten positiven und negativen Effekte die Bewertungsgrundsätze offen legt. Da nun die Sachlage weitgehend transparent gemacht wurde, steht die Entscheidung bevor. Hier können im einfachsten Fall Abstimmungen mit Mehrheitsbeschlüssen wie in der parlamentarischen Demokratie vorgenommen werden. Reizvoll ist jedoch die Überlegung, ob es Grundsätze gibt, die dem entgegenstehen, z.B. ob Menschen, die nicht betroffen sind, überhaupt über den Sachverhalt abstimmen dürfen. Ähnlich wie in einem Gutachten sollte eine begründete Empfehlung (Genehmigung oder nicht) formuliert werden. Tabelle 2: Überblickstabelle zur Entscheidungsfindung über die Genehmigung einer Windenergieanlage (mit Beispielen) (eigene Darstellung)

Aspekt

zentrale Aussage

empirisch belastbar?

Relation zur Genehmigung? Negative, neutrale oder positive Auswirkungen

Vertreibung, Schädigung, Tod von Tieren

zwei tote Vögel pro Jahr pro Anlage lt. Vogelschutzwarte Brandenburg

ja

negativ

Tiere haben Recht auf Leben und Schutz im eigenen Lebensraum

Brandgefahr

fehlende Statistik/Meldepflicht; Berichte über Einzelfälle

nein

neutral

Brände überall möglich; lediglich Schaden für WEA

herangezogene Schlussregel/Grundlage der Begründung

In der abschließenden Reflexionsphase kann besprochen werden, wie die SchülerInnen das Verfahren bewerten, wo sie Schwachstellen und Stärken sehen, wie sie die Objektivität des Urteils und der Entscheidung bewerten. An dieser Stelle kann auch eine Brücke zur planerischen Realität gebaut werden, indem Einblick in ein echtes Standortgutachten genommen oder ein/e professionelle/r GutachterIn (Planungsbüro) eingeladen wird. Das Beispiel vermittelt einen Zugang zur Logik politischer Entscheidungen in Bezug auf Raumnutzungen in Deutschland. Kommunalpolitische Entscheidungen über Anlagen der Stromerzeugung, Verkehrsinfrastruktur, Freizeitreinrichtungen oder allgemeine Flächennutzungsbeschlüsse können auf diese Art behandelt und nachvollzogen werden. Vorteilhaft ist eine Lerngruppe, die einzelne Elemente des Verfahrens bereits in anderen Zusammenhängen geübt hat, wie die Internetrecherche, die Einschätzung der Qualität von Daten, die Identifikation von Werten etc.

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DIE BEHANDLUNG VON KONTROVERSEN IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT Marco Lupatini 1. EINLEITUNG Im Politischen treffen unterschiedliche Gesichtspunkte, Gedankensysteme und Ideologien über das gemeinsame Leben in der polis aufeinander (vgl. Bedorf, 2010; Mouffe, 2005). Arendt definiert das Politische als „Faktum der Pluralität“ (1960, S. 14). Mouffe sagt, dass diese Pluralität zum Antagonismus führe und dass man diesen Antagonismus in Agonismus verwandeln solle (vgl. Mouffe, 2005, S. 63). Die Absicht dieses Textes ist erstens, zu zeigen, wie ein auf Kontroversen basierender Unterricht diese Verwandlung erlaubt und damit die Gestaltung des „agonalen Charakters des Politischen“ (Bedorf, 2010, S. 18) beeinflusst, und zweitens stellt dieser Text dar, wie ein auf Kontroversen basierender Unterricht zur Bildung einer dynamischen Citizenship führt, die als eine bewusste Entscheidung und eine verantwortliche und gewählte Zugehörigkeit bezeichnet wird (vgl. Audigier, 2002; Mouffe, 2005; Staeheli, 2011). Deswegen konzentriere ich mich zuerst auf das Konzept der Kontroverse. Danach beschreibe ich ein Unterrichtsbeispiel aus meiner beruflichen Erfahrung. 2. KONTROVERSE UND POLITISCHE BILDUNG Unter dem Begriff Kontroverse versteht man hier ein Thema, das im gesellschaftlichen, fachwissenschaftlichen und/oder schulischen Kontext zu Debatten führt (vgl. Albe, 2009; Tutiaux-Guillon, 2006; Simonneaux & Legardez, 2006). Das Vorhandensein verschiedener Erklärungen, Hypothesen, Analysen und Konzeptionen macht das Thema zu einer Kontroverse und produziert antithetische Meinungen. Der erste Schritt einer auf Kontroversen basierten Lehre ist die Definition dieser Meinungen und die Identifikation der beteiligten AkteurInnen, ihrer Interessen und folglich ihrer unterschiedlichen Positionen (vgl. Albe, 2009, S. 134). Mit einem auf Kontroversen basierenden Unterricht werden verschiedene Lernziele verfolgt. Erstens geht es um die Konsolidierung des Wissens. Zweitens fördert sie die Einführung kooperativer Unterrichtsmethoden (vgl. Floro, 2011, S. 166) und bietet somit die Gelegenheit, den Standpunkt der/des Anderen zu respektieren (vgl. Kelly, 1986, S. 115). Drittens unterstützt sie die Bildung einer informierten Meinung und einer begründeten Stellungnahme (vgl. Albe, 2009, S. 73).

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Zusätzlich weckt sie auch das Interesse für gesellschaftliche Entscheidungen. Damit entwickelt sie die Autonomie und die Verantwortlichkeit des Individuums (vgl. Simonneaux & Legardez, 2011, S. 23) und die „Fähigkeiten zur Orientierung des Subjekts in pluralistisch verfassten Gesellschaften“ (Nehrdich, 2011, S. 18). Schließlich verstärkt sie die Urteils- und Handlungsfähigkeit der Lernenden, bildet ihre politische Einstellung und Motivation aus und trägt somit zum Erwerb der vier Dimensionen der Politikkompetenz: „Fachwissen, politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit, sowie politische Einstellung und Motivation“ bei (Detjen, Massing, Richter & Weißeno, 2012, S. 11). Ein auf Kontroversen basierender Unterricht fördert auch den Erwerb des kritischen Denkens (vgl. Albe, 2009, S. 25; Tutiaux-Guillon, 2006, S. 119). Kritisches Denken ist die Kompetenz, eine Situation unter verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten und die unterschiedlichen implizierten Folgen eines Beschlusses zu evaluieren. Es trägt zur Bildung einer persönlichen Meinung bei und führt zu einem kritischen Urteil, das für ein verantwortliches Handeln erforderlich ist (vgl. Gagnon, 2011, S. 124). Die im Geographieunterricht zu behandelnden Kontroversen, z. B. zu den Bereichen: Asylpolitik, Raumplanung oder Klimawandel enthalten meistens politisch sensible und intellektuell komplexe Themen, die Werte und Interessen mit einschließen und manchmal voller Emotionen sind (vgl. Tutiaux-Guillon, 2006, S. 119). Oft haben die Lernenden eine eigene Sichtweise, einige Vorkenntnisse oder auch bereits eine eigene klare Meinung zum umstritten Thema. Um eine antagonistische Positionierung der Standpunkte zu vermeiden und eine agonale Einstellung zu fördern, ist es wesentlich, dass die Lehrperson die Aktivierung des kritischen Denkens unterstützt. Sie muss zudem ihre didaktische Aktivität auf das Fachwissen ausrichten und gleichzeitig die Kenntnisse und Sichtweisen der Lernenden berücksichtigen (vgl. Albe, 2009, S. 113). Besonders wichtig ist es, dass die Behandlung von Kontroversen nicht zu einer gemeinsamen Lösung führt, sondern Platz für Unsicherheit lässt (vgl. Heimberg, 2011, S. 235). Simonneaux und Legardez beschreiben diese Unsicherheit mit dem Begriff „risque d’apprendre“ (Lernrisiko). Damit bezeichnen sie einen Wissenserwerb, der keine Bestimmtheiten vermittelt, sondern Unsicherheiten erweitert (vgl. Simonneaux & Legardez, 2006, S. 226). Wichtig ist auch die Haltung der Lehrperson. Kelly definiert vier unterschiedliche Haltungen der Lehrperson gegenüber Kontroversen: – eine exklusive Neutralität, d. h. keine Behandlung von Kontroversen; – eine exklusive Partialität, d. h. eine klare Stellungnahme der Lehrperson, die eine bestimmte Meinung fördert; – eine neutrale Parteilosigkeit, d. h. die Kontroverse wird behandelt, aber die Lehrperson zeigt ihre Stellungnahme nicht; – eine engagierte Parteilosigkeit, d. h. die Lehrperson zeigt ihre Stellungnahme, hat aber während der Behandlung des Themas eine unparteiische Haltung (vgl. Kelly, 1986, S. 114‒132). Gemäß Kelly ist die letztgenannte Haltung die geeignetste Haltung. Eine klare Stellungnahme der Lehrperson bewirkt eine Stellungnahme der Lernenden und

Die Behandlung von Kontroversen im Geographieunterricht

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aktiviert ihr kritisches Denken (vgl. ebd., S. 134). Die Lehrperson sollte gemäß Kelly ihren Einfluss auf die Lernenden nicht unterschätzen, ihre eigene Stellungnahme nur einmal erklären, sie nicht stetig wiederholen und unterstreichen, sodass ihre Meinung eine von mehreren möglichen ist. Andernfalls wird das Risiko, dass die Lernenden die Meinung der Lehrperson übernehmen, um ihr gefällig zu sein, zu groß (ebd., S. 132‒134). Im Mittelpunkt des folgenden Teils steht die Beschreibung eines vom Verfasser durchgeführten Lernmoduls und der Evaluation des kritischen Denkens der Lernenden. Gagnon (2011) beschreibt neun Typen von Interventionen: unbegründete, begründete, kriterienbasierte, ethische, kontextuelle, bewertende, epistemologische, metakognitive und selbstregulierende. Der erste Typ betrifft demnach kein kritisches Denken, die zwei folgenden Typen betreffen den ersten Schritt im kritischen Denken und die weiteren Typen dessen Verfestigung (vgl. Gagnon, 2011, S. 134f.). Mingers fügt vier Aspekte einer kritischen Stellungnahme hinzu. Er unterscheidet zwischen einer Kritik der Tradition, der Autorität, der Objektivität oder der Rhetorik. Letzteres ist eine nötige, aber ungenügende Bedingung des kritischen Denkens. Des Weiteren bezeichnet er die drei anderen Aspekte als eine Verstärkung des kritischen Denkens (vgl. Mingers, 2000, S. 226f.). 3. UNTERRICHTSBEISPIEL Im Schuljahr 2014/2015 habe ich in einer Abiturklasse im Gymnasium Locarno (Schweiz) vier didaktische Module durch Kontroversen behandelt: Kulturelle Aspekte der Globalisierung, die Bildung supranationaler Gemeinschaften, Migration und Integration sowie Globalisierung und Entwicklung. Jedes Modul begann mit der Einführung der Kontroverse durch ein Zitat und schloss mit einer Debatte ab. Die Struktur der Debatte ist mit klar bestimmten Rollen, Zeiten, Phasen und Reflexionspausen definiert. Sie wurde auf der Basis anderer Modelle (z. B. Lincoln-Douglas; Jugend debattiert) erstellt. Die Klasse wurde in drei Gruppen eingeteilt: Die Anhänger, die Gegner und das Publikum. Die zwei ersten Gruppen bestanden je aus einem Viertel der Klasse, die restliche Hälfte bildete das Publikum. Vor der Debatte wurden den Schülerinnen und Schülern deren Rollen mitgeteilt. Nach der Debatte, die eine Unterrichtsstunde dauerte, schrieb jeder Lernende einen Text, in dem sie/er ihre/seine Stellungnahme verständlich darstellte und begründete. Im Folgenden fokussiere ich mich auf das Modul Globalisierung und Entwicklung, danach stelle ich die Resultate der Analyse der Texte der Lernenden am Ende dieses Moduls dar. Der Einstieg ins Modul erfolgte mit dem folgenden Zitat: There can be little doubt that the extraordinary changes in global finance on balance have been beneficial in facilitating significant improvements in economic structures and living standards throughout the world. (Alan Greenspan, in Steger, 2003, S. 104)

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Das Zitat hat eine Diskussion über das umstrittene Thema Die Folgen der Globalisierung auf die Entwicklung der Welt ausgelöst. In den folgenden zwei Wochen wurden durch Lehrvorträge, Text-, Karikatur- und Fallanalysen die folgenden Themen behandelt: – der Begriff Entwicklung und seine Evolution seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, – die nachhaltige Entwicklung und die Décroissance sowie die – Entwicklung und Zusammenarbeit mit Praxisbeispielen der DEZA (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten). Trotz der Empfehlung Kellys (1986) habe ich versucht, als Lehrperson während des Moduls eine neutrale Parteilosigkeit einzunehmen. Ich habe meine Stellungnahme nicht gezeigt, denn ich hielt es für ein zu großes Risiko, die Schülerinnen und die Schüler damit zu beeinflussen. In der vierten Woche fanden die Debatte und die Abfassung der Texte statt. Ich habe eine qualitative beziehungsweise interpretative Analyse dieser Texte durchgeführt (vgl. Karsenti & Savoie-Zajc, 2011, S. 124f.). Dabei habe ich mich auf sechs Arbeiten beschränkt, denn nach der Evaluation war eine sogenannte data saturation erreicht. (vgl. ebd., S. 129). Die Resultate der Textanalyse werden in der Abbildung 1 synthetisiert. Auf der linken Seite sind die Argumentationen dargestellt, die die Behauptung von Greenspan (2003, zit. In Steger, 2003) bestätigen, auf der rechten Seite diejenigen, die sie widerlegen. Die Nummern zeigen, wie viele Lernende die entsprechende Argumentation verwendet haben.

Abbildung 1: Schematisierung der Stellungnahmen der Lernenden in ihren Texten (eigene Darstellung)

Die Behandlung von Kontroversen im Geographieunterricht

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Die durch die Analyse der Texte realisierte Evaluation des kritischen Denkens der Lernenden führte zu folgenden Ergebnissen: Die Argumentationen, die Greenspan zugeordnet werden können, basieren auf Kriterien, das heißt auf entscheidenden und objektiven Gründen (vgl. Gagnon, 2011, S. 134). Diejenigen, die nicht Greenspan zugeordnet werden können, sind direkter, weniger entwickelt und fußen auf bestimmten Auswirkungen der Globalisierung. In beiden Fällen haben wir bewertende und ethische Interventionen, die ein verantwortliches Denken enthalten (vgl. ebd., S. 135). Niemand hat sich einseitig zugeordnet, alle Lernenden haben positive und negative Aspekte der Globalisierung genannt und konnten vielfache Einflüsse der Globalisierung auf die Entwicklung nennen. Damit gehören die Argumentationen der Lernenden zur Kategorie Kritik der Autorität (vgl. Mingers, 2000, S. 226), denn sie ziehen unterschiedliche Sichtweisen in Betracht. 4. SCHLUSSBETRACHTUNG Auch die Analyse der anderen drei Module zeigt, dass die Lernenden durch einen auf Kontroversen basierenden Unterricht fähig sind, unterschiedliche Stellungnahmen und die daraus resultierenden Konsequenzen auszuwerten. Dies beweist, dass diese Unterrichtsmethode den Erwerb von Kompetenzen des kritischen Denkens, ein unerlässliches Instrument einer dynamischen Citizenship und einer agonalen Stellung des Politischen, fördert. LITERATUR Albe, V. (2009). Enseigner des controverses. Rennes: Presses universitaires de Rennes. Arendt, H. (1960). Vita Activa oder vom tätigen Leben. Stuttgart: Kohlhammer. Audigier, F. (2002). L’éducation civique dans l’école française. Journal of Social Science Education, 1 (2), 8‒28. Bedorf, T. (2010). Das Politische und die Politik: Konturen einer Differenz. In T. Bedorf & K. Röttgers (Hrsg.), Das Politische und die Politik (S. 13‒37). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Detjen, J., Massing, P., Richter, D. & Weißeno, G. (2012). Politikkompetenz ‒ ein Modell. Wiesbaden: Springer VS. Floro, M. (2011). Développement durable et questions socialement vives ‒ Une approche territorialisée du discours enseignant. In A. Legardez & L. Simonneaux (Hrsg.), Développement durable et autres questions d’actualité: questions socialement vives dans l’enseignement et la formation (S. 163‒179). Dijon: Éducagri éditions. Gagnon, M. (2011). Proposition d’une grille d’analyse des pratiques critiques d’élèves en situation de résolution de problèmes dits complexes. Recherches Qualitatives, 30 (2), 122‒147. Heimberg, C. (2011). Vers une pédagogie des mémoires ‒ Histoires, mémoires et intelligibilité des sociétés. In A. Legardez & L. Simonneaux (Hrsg.), Développement durable et autres questions d’actualité: questions socialement vives dans l’enseignement et la formation (S. 233‒ 247). Dijon: Éducagri éditions. Karsenti, T. & Savoie-Zajc, L. (Hrsg.). (2011). La recherche en éducation : étapes et approches. 3. Aufl. Sherbrooke: Ed. du Renouveau Pédagogique Inc. Kelly, T.E. (1986). Discussing Controversial Issues: Four Perspectives on the Teacher’s Role. Theory & Research in Social Education, 14 (2), 113‒138.

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AUTORINNEN UND AUTOREN Braun, Boris, Prof. Dr. Geographisches Institut, Universität zu Köln Albertus-Magnus-Platz 50923 Köln [email protected] Budke, Alexandra, Prof. Dr. Institut für Geographiedidaktik, Universität zu Köln Gronewaldstraße 2 50931 Köln [email protected] Dickel, Mirka, Prof. Dr. Institut für Geographie, Friedrich-Schiller-Universität Jena Löbdergraben 32 07743 Jena [email protected] Dorsch, Christian Institut für Humangeographie, Goethe-Universität Frankfurt Theodor-W.-Adorno-Platz 6 60629 Frankfurt am Main [email protected] Eberth, Andreas Institut für Didaktik der Naturwissenschaft, Leibniz-Universität Hannover Am Kleinen Felde 30 30167 Hannover [email protected] Follmann, Alexander, Dipl.-Geogr. Geographisches Institut, Universität zu Köln Albertus-Magnus-Platz 50923 Köln [email protected] Grünberg, Nina Institut für Humangeographie, Goethe-Universität Frankfurt Theodor-W.-Adorno-Platz 6 60629 Frankfurt am Main [email protected]

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Autorinnen und Autoren

Gryl, Inga, Prof. Dr. Institut für Sachunterricht, Universität Duisburg-Essen Schützenbahn 70 45127 Essen [email protected] Jekel, Thomas, Dr. Ass.-Prof. FB Geographie und Geologie, Universität Salzburg Hellbrunner Straße 34 A-5020 Salzburg [email protected] Kanwischer, Detlef, Prof. Dr. Institut für Humangeographie, Goethe-Universität Frankfurt Theodor-W.-Adorno-Platz 6 60629 Frankfurt am Main [email protected] Könen, Denise Institut für Sachunterricht, Universität Duisburg-Essen Schützenbahn 70 45127 Essen [email protected] Kuckuck, Miriam, Prof. Dr. Institut für Geographie, Universität Osnabrück Seminarstraße 19a/b 49074 Osnabrück [email protected] Lippert, Sabine Geographie und ihre Didaktik, Universität Trier Behringstraße 21 54286 Trier [email protected] Lupatini, Marco, PhD. a) Department of Geosciences, Université de Fribourg Chemin du Musée 4 CH-1700 Fribourg b) Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana Piazza San Francesco 19 CH-6600 Locarno [email protected]

Autorinnen und Autoren

Maier, Veit Institut für Geographiedidaktik, Universität zu Köln Gronewaldstraße 2 50931 Köln [email protected] Mönter, Leif O., Prof. Dr. Geographie und ihre Didaktik, Universität Trier Behringstraße 21 54286 Trier [email protected] Obermaier, Gabriele, Prof. Dr. Didaktik der Geographie, Universität Bayreuth Universitätsstraße 30 95440 Bayreuth [email protected] Ohl, Ulrike, Prof. Dr. Institut für Geographie, Universität Augsburg Universität Augsburg 86135 Augsburg [email protected] Pokraka, Jana Institut für Humangeographie, Goethe-Universität Frankfurt Theodor-W.-Adorno-Platz 6 60629 Frankfurt am Main [email protected] Resenberger, Claudia Institut für Geographie, Universität Augsburg Universität Augsburg 86135 Augsburg [email protected] Reuber, Paul, Prof. Dr. Institut für Geographie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Heisenbergstraße 2 48149 Münster [email protected]

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Autorinnen und Autoren

Rolfes, Manfred, Prof. Dr. Institut für Geographie, Universität Potsdam Karl-Liebknecht-Straße 24/25 14476 Potsdam-Golm [email protected] Schmitt, Thomas, PD Dr. Institut für Geographie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Wetterkreuz 15 91058 Erlangen [email protected] Schrüfer, Gabriele, Prof. Dr. Institut für Didaktik der Geographie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Heisenbergstraße 2 48149 Münster [email protected] Schultz, Hans-Dietrich, Prof. Dr. Dr. Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin Unter den Linden 6 10099 Berlin [email protected] Schwarze, Sonja, M.ED/M.SC. Institut für Didaktik der Geographie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Heisenbergstraße 2 48149 Münster [email protected] Stöber, Georg, Dr. rer. nat. [email protected] Strüver, Anke, Prof. Dr. Institut für Geographie, Universität Hamburg Bundesstraße 55 20146 Hamburg [email protected] Uhlenwinkel, Anke, Prof. Dr. Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin Unter den Linden 6 10099 Berlin [email protected]

Autorinnen und Autoren

Weiss, Günther, PD Dr. Institut für Geographiedidaktik, Universität zu Köln Gronewaldstraße 2 50931 Köln [email protected] Wienecke, Maik Institut für Geographie, Universität Potsdam Karl-Liebknecht-Straße 24/25 14476 Potsdam-Golm [email protected] Wolff, Oliver Institut für Humangeographie, Goethe-Universität Frankfurt Theodor-W.-Adorno-Platz 6 60629 Frankfurt am Main [email protected]

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Anton Escher / Sandra Petermann (Hg.)

Raum und Ort

mit texte von Gerhard Hard / Dietrich Bartels, Benno Werlen, Peter Weichhart, Andreas Pott, Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Yi-Fu Tuan, David Harvey, Doreen Massey

Seit Beginn der wissenschaftlichen Geographie gelten „Raum und Ort“ als die zentralen Schlüsselbegriffe und Basiskategorien geographischer Forschung. Ende des 20. Jahrhunderts vollzieht sich in nahezu allen Geistes-, Sozial- und Gesellschaftswissenschaften eine Hinwendung (spatial turn) zur Thematisierung von „Raum und Ort“. Inzwischen liegen nicht nur in der Geographie, sondern auch außerhalb der Fachdisziplin zahlreiche Publikationen mit einer Fülle von unterschiedlichen Definitionen und vielfältigen Konzepten dazu vor. Der in der Reihe Basistexte Geographie erscheinende Band umfasst eine Auswahl der für die Entwicklung der Geographie wegweisenden und Impulse gebenden Texte, welche die Vielfalt der unterschiedlichen Raumverständnisse und Vorstellungen für Orte widerspiegelt. Ein besonderes Augenmerk wird hierbei auf aktuelle sozialgeographische Ansätze und die kulturalistische Geographie gelegt, die davon ausgehen, dass Räume soziale Konstrukte sind.

2016 214 Seiten mit 16 Abbildungen und 2 Tabellen 978-3-515-09121-3 kart.

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agtäglich sind wir mit geopolitischen Konflikten konfrontiert. Vor allem ihre Darstellung in den Medien macht sie in unserem Leben omnipräsent. Oftmals sind die Auseinandersetzungen äußerst komplex, viele Akteure mit verschiedenen Intentionen sind beteiligt, die Ursachen reichen weit in die Vergangenheit zurück und verweigern sich schnellen Lösungen. Es trägt daher zum Verständnis solcher Ereignisse bei, sie nicht als rein politisch zu betrachten: Denn Konflikte haben eine geographische Dimension, sie finden in bestimmten physischen Räumen statt, durch sie werden geopolitische Raumbilder geschaffen und kommuniziert. Deshalb ist es auch Aufgabe des Schulfachs Geographie, den Schülerinnen und Schülern Kompetenzen für das Verständnis und die Bewertung zentraler gesellschaftlicher Probleme zu vermitteln. Politische Lösungsansätze und eigene Handlungsoptionen müssen hierfür diskutiert werden. Alexandra Budke und Miriam Kuckuck bereiten in diesem Band die Ansätze der politischen Geographie für den Geographieunterricht auf: Sie stellen didaktische Konzeptionen der politischen Bildung im Kontext der Geographie vor und präsentieren aktuelle Forschungsergebnisse zum Thema.

ISBN 978-3-515-11321-2

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