Politik - Wesen, Wiederkehr, Entlastung [1 ed.] 9783428515004, 9783428115006

Während der bei Nietzsche kulminierenden Entwicklung sickerte langsam die Politik in dessen anfänglich politikfreie Wied

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German Pages 359 Year 2005

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Politik - Wesen, Wiederkehr, Entlastung [1 ed.]
 9783428515004, 9783428115006

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 138

Politik – Wesen, Wiederkehr, Entlastung Von

Miguel Skirl

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

MIGUEL SKIRL

Politik – Wesen, Wiederkehr, Entlastung

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 138

Politik – Wesen, Wiederkehr, Entlastung

Von

Miguel Skirl

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Philosophisch-Historische Fakultät der Universität Basel hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-11500-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Mit kirchlicher IMPRIMATUR gegeben Basel / Solothurn zu Epiphanias, Fest der Erscheinung des Herrn, den 6. Januar 2004. Der Generalvikar P. Dr. Roland-B. Trauffer OP

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Prolegomenon zur Politikencadrierung – Der Begriff der Politik . . . . . . . . . . . . . .

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II. Steigende Nachfrage nach einer politikfreien Superlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Bayle – Leibniz und die Genese des Meinungsstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Hobbes, das Naturrecht und die Genese des modernen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Moderne Öffentlichkeit und moderner Staat: Rousseaus Contrat social . . . . . . . .

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4. Die Genese der Parteiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Das Eigentümliche der Eigentümer: Locke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 b) Ein Politiker redet: Burke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 5. Die Geschichte des 18. Jahrhunderts: Meinungsstreit und Staat und Öffentlichkeit und Parteiungen – der Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6. Politikgefühl und Historismus, Historismus und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 III. Nietzsches Wiederkunftslehre als Kulminationspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Die Wiederkunftspolitik im Bogen der Wiederkunftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Der Hierarchiengedanke beim jungen und alten Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3. Die Entwicklungsstufen der Wiederkunftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 IV. Politik und Nihilismus – von Anfang an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 V. Politikentlastungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1. Moderne Politikentlastung – ein Geschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 2. Die vier Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 3. Politik und Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 VI. Epilog: Hegung der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Einleitung Es hat nicht an Versuchen gefehlt, dem Politischen zu entgehen. Davor ist nichts und niemand gefeit, am wenigsten eine Arbeit über das Wesen der Politik. Die Frage muss daher lauten, wie dem Politischen entgangen werden kann. Die Antwort lautet kurz gesagt: gar nicht. Dem Politischen ist nicht zu entgehen. Es wäre nun töricht, eine Arbeit über das Wesen der Politik Kritik der reinen Politik zu nennen, nur weil sie sich anheischig macht, die Grenzen von Politik selbst zu bestimmen. Es gelangt jedoch eine seit alters her gebräuchliche Methode zur Anwendung, die den Gegenstand erst einmal durch seine Negierung definiert: omnis determinatio est negatio. Die Negation von Politik überhaupt hilft, Politik zu bestimmen. Durch die Negation von Politik ist aber nicht gesagt, dass dem Politischen zu entgehen ist. Es könnte ja, Heine singt uns die Klage1, prinzipiell jeder Gedanken verwertet werden, es könnte auch, sogar wahrscheinlich, sein, „dass, wer mit der Politik, das heisst: mit Macht und Gewaltsamkeit als Mitteln, sich einlässt, mit diabolischen Mächten einen Pakt schliesst“2, auch, davon weiss das 20. Jahrhundert ein Lied zu singen, aus jeder ,reinen‘ Theorie am Ende eine ,reine‘ Praxis werden, aus aller unpolitischen Kunst am Ende die politische Bewusstseinsindustrie3 und aus jeder Kritik am Ende der Primat des Praktischen (und Politischen). Das Damoklesschwert des Politischen schwebt schon lange über jeder theoretischen Bestimmung, nicht erst seit den theoretischen Schwierigkeiten der Transzendentalphilosophie, nicht erst seit der wirklich-vernünftigen, vernünftigwirklichen, je und je politisch zu verstehenden Geschichtsphilosophie (von der auch diese Arbeit zehrt), nicht erst seit der Möglichkeit der existentialistischen Nichtbarkeit durch den immer wieder auftauchenden politischen Feind und auch nicht erst seit der Überwindung des monistischen Gnostizismus des Totalitarismus durch einen aristotelistischen, wahrhaft-politischen Kommunitarismus, – die Gefahr von Politisierung ist vermeintlich älter und entspringt aus anderen Quellen, als man annehmen möchte. 1 Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen (1844, 1994) – Caput VI: „Ich bin dein Liktor, und ich geh / Beständig mit dem blanken / Richtbeile hinter dir – ich bin / Die Tat von deinem Gedanken‘“. In: Heine, Werke, Bd. I. S. 438. 2 Weber, Max: Politik als Beruf (1918 / 19, 1988), S. 554. Das wussten nach Weber „die alten Christen sehr genau“, von welchem Wissen aber bei Weber nicht mehr viel übrig zu sein scheint, sieht man einmal von seiner Suada gegen die Gesinnungsethiker, die dämonisierten ,Tschandala-Politiker‘, wollte man es nietzscheanisch formulieren, ab. 3 Enzensberger, Hans-Magnus: Einzelheiten I. Bewusstseinsindustrie (1969).

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Einleitung

Am Anfang des Textes stand die Wiederkunft, genauer: die ewige Wiederkunft des Gleichen, die schlechthinnig antipolitische, ausserpolitische Theorie sans phrase; aus der Arbeit an ihr ergab sich die Sicht auf die Dialektik moderner Theorie, eine Dialektik, die darin besteht, das Politische als Supplement theoretischer Unzulänglichkeit und Belanglosigkeit nötig zu haben und zwar merkwürdigerweise genau in dem Moment, in dem Gott totgemacht werden soll und angesichts der von Nietzsche prognostizierten Heraufkunft des Nihilismus. Der Gang der Analyse entschälte ein Wesen der Politik, das immer hässlicher wurde und zwar exakt dann, als Nietzsche den Nihilismus mit dem Politischen bekämpfen will, den Teufel also, wie sich herausstellt, mit dem Beelzebub auszutreiben bestrebt ist. Im Verlaufe der bei Nietzsche kulminierenden Entwicklung zeigte sich, dass sich langsam der Schatten des Nihilismus auf die anfänglich politikfreie Wiederkunftslehre legt und der Nihilismusverdacht die kosmologische und moralische Ausrichtung des amor fati immer mehr zum Versiegen bringt, bis dass nur noch eine eigentliche Wiederkunftspolitik zur Erzeugung der Neuen Rangordnung übrigbleibt (Kap. III.). Die Politik der Wiederkunft ist – systematisch (III. 1.) und genetisch (III. 2.) – Reminiszenz an den Wiederkunftsglauben, ist das, was nach dem Ende aller Metaphysiken und allen Glaubens noch möglich ist. Auch hier obsiegen die Politik und die Politisierung sogar noch über deren vermeintliche Überwindung, aber das geschieht offenbar synchron mit dem und im Prozess der schleichenden Nihilisierung der Lehre (III. 3.). Dies führte zu dem Verdacht, dass über das Wesen der Politik hier etwas offenbar wird, das nur an dieser Stelle sichtbar werden kann und sonst Arkanum ist: Neuzeitliche und moderne Politik ist ihrem Wesen nach unmetaphysisch, ungläubig und nihilistisch, oder in der Verschärfung: Politik heute ist Nihilismus und zielte insgeheim – quod erit demonstrandum – wohl von Anfang auf dieses Ergebnis ab (IV.). Politik begann als selbstermächtigte Steuerungskunst angesichts vermeintlicher Inkompetenz der Götter – ohne Götter und gegen die Götter – und endet dank der Entfesselung intersubjektiver Prozesse als globales Bewusstsein reiner Parteilichkeit bei Jedermann – das Nichts des Nihilismus ist dann überall. Nach dem Aufweis des nihilistischen Wesens der Politik kann die im Kapitel II erarbeitete Entwicklung des Begriffs der Politik rekapituliert werden, diesesmal unter den Auspizien der politischen Theologie. Dabei wird der Begriff des Nihilismus, mit dem operiert wird, interessieren, schon allein, weil die Literatur viele Antworten gibt, wann der Nihilismus ent- und woraus er bestünde. Das Heideggersche Konzept der Seinsvergessenheit der abendländischen Rationalität als unter der Botmässigkeit der platonischen ,Idee‘ stehend, ist dabei die kühnste Behauptung zum Thema Nihilismus4, geeignet aller4 Heidegger, Martin: Holzwege (1950), vor allem S. 238 f., ebenso Nietzsche, 2 Bde (entstanden 1930 – 1950, 1961), insbesondere Bd. 2, S. 334 – 342, oder auch: Was ist Metaphysik (1929), Nachwort, in: Wegmarken (1967, 31996), S. 304 ff., sowie Zur Seinsfrage, in: Wegmarken, ibid., S. 407, 414 f., ebenso in: Überwindung der Metaphysik (1936 – 46): „Die Zei-

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dings dazu, sich in der „Frühe zu verlieren“5 aber auch der Nährboden philosophisch fruchtbarer Mythos-Logos-Diskurse6. Weniger umgreifend sind die Analysen Nietzsches, der den Nihilismus in der Zweiweltenlehre und damit, ähnlich wie Heidegger, bei Platon beginnen lässt, die eigentliche Verschärfung aber dem Christentum und der Abwertung der Welt anlastet7. Andere, spätere, Erwägungen zur Genese des Nihilismus beginnen, wie Herrmann Rauschning, früher, bei Hiob und sogar dem Gilgamesch-Epos8, andere bei den Sophisten. Möglicherweise liebäugelt ja der Dreischritt des Gorgias mit der experimentellen Weltvernichtung, wenn gesetzt wird: 1. Es gibt nichts. 2. Wenn es etwas gäbe, gäbe es davon keine Erkenntnis. 3. Wenn es eine Erkenntnis von etwas gäbe, das es gibt, so könnte diese Erkenntnis nicht an andere weitergegeben werden.9 Wieder andere untersuchen, chen der letzten Seinsverlassenheit sind die Ausrufungen der ,Ideen‘ und ,Werte‘, das wahllose Hin und Her der Proklamation der ,Tat‘ und der Unentbehrlichkeit des ,Geistes‘.“ (S. 87) Interessant auch die Wendung: „Das seinsgeschichtliche Wesen des Nihilismus ist die Seinsverlassenheit, sofern in ihr sich ereignet, dass das Sein sich in die Machenschaft auflöst.“ (ibid.) Leider und bezeichnenderweise gibt es bei Heidegger keine Überblendung von der Geschichte der abendländischen Metaphysik als einer Geschichte des Nihilismus und – später – der Technisierung zu der Problematik von Politik überhaupt. Pöggeler, Otto: Philosophie und Politik bei Heidegger (1972), stellt schon anfangs (S. 15 f.) fest: „Schon der erste Blick auf Heideggers Werk zeigt, daß Heidegger keine Politische Philosophie ausgearbeitet hat, daß er jedoch innerhalb der einzelnen Stadien seines Denkens in verschiedenster Weise ein politisch engagierter Philosoph gewesen ist.“ Wahrheit ist ja beim frühen Heidegger das Unverborgene und durch das Gerede des Man Verstellte, das zu Erschweigende; wie hätte da eine Politische Philosophie wachsen sollen? In der Zeit nach der Kehre, beim mittleren Heidegger, wird eine mögliche Kritik an Politik dadurch verunmöglicht, dass nun das Dasein vom Begriff des ,Volkes‘ getragen wird; die griechische Polis sei das „Da“ gewesen, „worin und als welches das Da-sein als geschichtliches“ (gemäss Pöggeler, S. 23) sei. Pöggeler: „Politisch‘ im weiteren Sinne ist jede Ausgestaltung der Polis oder der Wahrheit des Seins, die die Wahrheit eines Volkes ist.“ (S. 27) Und die Nihilismus-Reflexionen im Anschluss an den Jüngerschen ,Arbeiter‘ bedauern, beim späten Heidegger, die Rüstungen des technischen Ordnungswahns aufs Grosse und Ganze gesehen und verspielen ein drittes Mal die Analyse der Politik als Nihilismus, die doch einer Heidegger-Philosophie angestanden hätte. Eine entfaltete politische Theorie, steht zu vermuten, hätte Heideggers eigene Politik womöglich konterkariert. 5 Theunissen, Michael: Negative Theologie der Zeit (1991), S. 21. 6 Theunissen, ibid., Angehrn, Emil: Die Überwindung des Chaos: zur Philosophie des Mythos (1996). 7 „Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes ,ich, Plato, bin die Wahrheit‘ . . . Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher, – sie wird Weib, sie wird christlich . . .“ Nietzsche, Wie die ,wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde, in: Götzendämmerung (1889), Nr. 3, 6., KSA 6, 80, allerdings zusammenzulesen mit der schäumenden Kritik am Christentum, wie sie Der Antichrist bietet. 8 Rauschning, Herrmann: Masken und Metamorphosen des Nihilismus (1954), S. 101. 9 Nach der bei Buchheim, Thomas: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens (1986), S. 40, aufgeführten Fassung: „. . . dass gar nichts sei; wenn doch etwas ist, ist es nicht erkennbar; wenn aber doch sowohl ist, als auch erkennbar ist, sei es jedoch anderen nicht zu verdeutlichen.“ Läge das Zentrum des Dreischritts auf dem ersten Argument, welches die beiden anderen nur verstärken, könnte man, wie Gomperz, Sophistik und Rhetorik (1912), S. 30, getan hat, Gorgias und der Schrift Über das Nicht-Seiende einen „ethischen Nihilismus“ unterstellen, liegt es jedoch auf der vermeintlichen Conclusio mit den ersten beiden

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jenseits des von Nietzsche den Christen in die Schuhe geschobenen RessentimentVorwurfs, den Gehalt des Christentums auf inhärenten Nihilismus, wenn in der Reserve gegenüber dem Tand der Welt etwa die Möglichkeit der Weltverneinung, sogar der Annihilation beschlossen läge (Ockham und der nominalistische Schöpfergott, die potentia absoluta non ordinata, sind hier zu nennen10), ebenso könnte auch das gnostische Potential des Christentums, vom Johannesevangelium bis zu Marcion, von den Manichäern bis zu den Montanisten, Nacht und Nichts auf gleiche Stufe gestellt mit Licht und Sein11, Sein und Nichtsein ontologisch konvertibel Argumenten als Prämissen, könnte es sich auch um eine antieleatische (Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens, Bd. I / 1. Von Homer bis Sokrates, (2001), S. 222 f.) Sentenz handeln, die, wie Graeser, Andreas: Die Philosophie der Antike, Bd. 2. Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles (1983, 21993), S. 32 meint, mit „nihilistischen Experimenten“ hantiere. Siehe auch: Baumhauer, Otto: Die sophistische Rhetorik. Eine Theorie sprachlicher Kommunikation (1986); und allgemein Classen (Hg.), Sophistik (1976). 10 Thom, Hans: Wie alt ist der Nihilismus (1964), S. 217, fragt zurecht, ob in der Ockhamschen Behauptung, der Schöpfergott hätte ebensogut das Werk der Erlösung statt durch Seinen Sohn auch durch einen Esel ausführen lassen: „Enthält nicht schon dieser Widerruf der Menschlichkeit Gottes den ganzen ,Schrecken und Nihilismus der sinngeberischen Beliebigkeit‘?“ Blumenberg, Hans: Legitimität der Neuzeit (1966, 21988, 1996), sieht die Setzungsautonomie der neuzeitlichen Subjekts vorgebildet in der Ockhamschen Creatio ex nihilo („Schöpfung soll nun bedeuten, jedes Seiende entstehe so aus dem Nichts, daß es auch hinsichtlich seiner begrifflichen Bestimmtheit noch nicht da war“, S. 169) und dem Nominalismus als „System der Systemdurchbrechungen“, der Wunder, als „paradigmatische Reduktion der Verbindlichkeit der Natur“ (S. 215) nötig hat, wobei die Legitimität dieses nicht offen ausgesprochenen Nihilismus in der erneuten Überwindung des gnostischen Deus malignus liege. „So wird [von Descartes, M.S.] auch das Argument vom allmächtigen Gott, von dem nicht ausgeschlossen werden kann, daß er die Nichtexistenz des dem Menschen als existent Erscheinenden bewirkt, nicht als geschichtliche Hypothek, sondern als konstruierter Unsicherheitsfaktor eingeführt.“ (S. 211) Miethke, Jürgen: Ockhams Weg zur Sozialphilosophie (1969) findet den strengen Begriff der creatio in Röm 4,17 („wie geschrieben steht (1. Mose 17,5): ,Ich habe dich gesetzt zum Vater vieler Völker‘ – vor Gott, dem er geglaubt hat, der die Toten lebendig macht und ruft das, was nicht ist, daß es sei“) und macht zurecht auf den scotistischen Begriff der Haecceitas aufmerksam: „Schöpfung ist nur noch denkbar als ein Universum kontingenter Individuen, die alle unmittelbar zu Gott sind.“ (S. 161) Ob die intuitive Vorstellung des Nichts, die Ockham auch inauguriert, ebenfalls in den Zusammenhang der Psychologie des Nihilismus, den Nietzsche (KSA 13, 46 (Fragmente November 1887-März 1888)) ausmacht, gehört, sei dahingestellt. Dazu: Muralt, André de: La connaissance intuitive du néant et l’évidence du je pense. Le rôle de l‘argument de potentia absoluta dei dans la théorie occamienne de la connaissance (1976, 1991); Putallaz, François-Xaver: Autour de la connaissance intuitive des non-existants chez Ockham (1983), Prezioso, Faustino: L‘intuizione del non-existente in P. Aureolo e in G. Ockham e i prodromi del fenomenismo moderno (1968), Vossenkuhl, Wilhelm: Ockham on the Cognition of Non-existents (1985). 11 Jonas, Hans: Gnosis, Existentialismus und Nihilismus (1952, 1963), S. 3 – 25. Dass die ,nihilisti‘ als Falsch-Gläubige bereits bei Augustinus vorkämen, konnte dagegen nicht verifiziert werden (das behauptet Fetscher im Artikel Nihilismus der RGG (Religion in Geschichte und Gegenwart) ohne Angabe und wird seitdem immer wieder, auch bei Arendt, Dieter: Der Nihilismus als Phänomen der Geistesgeschichte in der wissenschaftlichen Diskussion unseres Jahrhunderts (1974), S. 11, kolportiert: Nach Durchsicht aller Hauptwerke und der elektronischen Suche vier Fünftel der restlichen Sermones, Questiones etc. konnte die Stelle nicht lokalisiert werden), ebenso fehlt der Begriff in der Etymologia des Isidor.

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machen. Doch gilt dies nicht minder auch für die nichtchristliche Gnosis, die immer nihilismusverdächtig ist12. Wieder andere bringen die neuzeitliche Subjektivität mit ihrem Setzungsanspruch in Nihilismuszusammenhang, beginnend mit Descartes Vernichtung der Aussenwelt oder der Hobbesschen Spekulation in De Corpore, was noch übrigbleibe, wenn nach und nach der Körper auf seinen Rumpf und immer weiter bis auf sein Minimum, möglicherweise sein Nichts, reduziert sei13. Auch die idealistische Philosophie mit der Ich-Nicht-Ich-Dichotomie kommt auf die Anklagebank, als Frucht der Spinoza-Diskussion, den Einwänden, die Jacobi an Fichte richtet, dem daraus folgenden Atheismus-Streit von 179914 und der auf Fichte und Kant folgenden Romantik15. Zu erinnern ist ausserdem an die ,Lebensphilosophie‘ Schopenhauers, bei der unklar bleibt, wie buddhistisch die Verneinung der Welt gedacht ist und wie beschaffen das Nichts denn nun ist, das übrig bleibt, wenn Vorstellung und Wille der Welt, damit aber die Welt selber erloschen ist. Und so endet die Welt als Wille und Vorstellung mit dem letzten Satz im Nichts. „Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.“16 Dieses Nichts riecht nach Nichts oder besser gesagt: es riecht nach nichts. 12 Die Arbeiten Eric Voegelins zur Gnosis sind eminent Beiträge zum Nihilismusproblem. Die gnosisbedingte Immanentisierung der Welt führe zwar durch den wirtschaftlichen Erfolg der Puritaner, der Beiträge von Liberalen und ,Progressiver‘ und gnostischen, innerweltlichen Revolutionen zu Zivilisation, aber: „The death of the spirit is the price of progress. Nietzsche revealed this mystery of the Western apocalypse when he announced that God was dead and that He had been murdered. This Gnostic murder is constantly committed by the men who sacrifice God to civilization. [ . . . ] And since the life of the spirit is the source of order in man and society, the very success of a Gnostic civilization is the cause of its decline.“ (Voegelin, Eric: The New Science of Politics (1957), S. 131). 13 Hobbes, Thomas: De Corpore (1655, 21967), II, Kap. 7 und insbesondere 8. Vgl. auch den zentralen Satz seiner „Ersten Philosophie“: „Die Philosophie der Natur werden wir am besten mit der Privation beginnen, d. h. also mit der Idee einer allgemeinen Weltvernichtung.“ (ibid., II, 7, S. 77). 14 Die Konjunktur des Begriffs ,Nihilismus‘ wird im Deutschen Idealismus ausgelöst durch Jacobis Brief an Fichte (1799), wo der Vorwurf des Nihilismus, den Jacobi an Fichte richtet, in einen breiten Diskurs kommt. Vgl.: Süß, Theobald: Der Nihilismus bei F. H. Jacobi (1951, 1974), S. 69, und auch Arendt, Dieter: Nihilismus. Die Anfänge von Jacobi bis Nietzsche (1970, 1974). 15 Neben Kleist ist hier auch Georg Büchner, Lenz, zu nennen, der als einsamer Wanderer, im Gebirg, das Nichts erlebt: „Es fasste ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren, er riss sich auf und flog den Abhang herunter.“ Das Nihilismusmotiv ist in der Romantik durchdekliniert worden, Jean Paul, Tieck, Bonaventura, Franz von Baader und Max Stirner sind zu nennen (Arendt, Dieter: Nihilismus. Die Anfänge von Jacobi bis Nietzsche, passim), wobei die Anfälligkeit hierfür sich vielleicht auch dem „subjektiven Occassionalismus“ verdankt, auf den Carl Schmitt, Politische Romantik (1919, 61998), S. 18, hinweist. 16 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 526 f. Es ist kein Zufall, dass sich dieses Nichts in der Kritischen Theorie eines Horkheimer wiederfindet und den

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Andere lassen die Hochzeit des Nihilismus mit der Auslieferung der Philosophie an die Geschichte beginnen17, mit dem Historizismus, der die Faktizität des geschichtlich humorlos Durchgesetzten als Vorsehung begreift. Das Resultat aller dieser Überlegungen zielt in der Regel auf die russischen Nihilisten und Anarchisten, die nicht nur die nihilistische Welt diagnostizieren, sondern auch aktiv im Handeln an der Zerstörung der Welt mitarbeiten wollen18, das Resultat zielt aber ebenso auf die Bejahung des sinnlosen Streit, wie sie Nietzsche in der Feier des Agonalen, trotz aller sophistischer Unterscheidung von hesiodscher guter und böser Eris19, uns anpreist, oder auch, was fast dasselbe ist, auf die Vorwurf hat entstehen lassen müssen, dass es sich der bürgerliche Irrationalismus im Hotel Abgrund gemütlich gemacht habe. Das Wort, von Lukács geprägt, war aber auch in Hinblick auf Musils Roman ,Der Mann ohne Eigenschaften‘ gemünzt; vgl. dazu und zum Phänomen des „lächelnden Nihilismus“ in der ungarischen Literatur der Jahrhundertwende Kiraly, Istvan: Dezso Kosztolanyi und die Österreichisch-Ungarische Monarchie.– In: Thurnher, Eugen (Hrsg.): ,Kakanien‘. Aufsätze zur österreichischen und ungarischen Literatur, Kunst und Kultur um die Jahrhundertwende (1991) – S. 297 – 311, hier S. 306 ff. 17 Meistens am Beispiel Hegels andemonstriert, verbunden mit Ideologiekritik etwa: Kuhn, Helmut: Veritas Filia Temporis. Über die Glaubwürdigkeit der Geschichtsphilosophie (1977, 1985), S. 239 oder auch Kuhn, Helmut: Der Ursprung der Ideologie aus dem Geist der Philosophie Hegels (1971), S. 201 ff. Sodann Kuhn, Helmut: Begegnung mit dem Nichts. Ein Versuch über die Existentialphilosophie (1950), S. 66: „Mit der Subjektivierung und Verzeitlichung der Wahrheit verwandelt sich Philosophie in eine Geschichtsschreibung des menschlichen Geistes.“ Über den Zusammenhang zwischen der Nihilismus-Diskussion um 1800 und der Geschichtsphilosophie Hegels einige kluge Bemerkungen von Pöggeler, Hegel und die Anfänge der Nihilismus-Diskussion (1970, 1974), S. 347 ff., auf den Seiten vorher ein richtiger Hinweis auf den – auch – nihilistischen Gehalt der praktischen Philosophie Kants, insbesondere des Kategorischen Imperativs und der daraus folgenden Kant- (und Nihilismus-) Krise Kleists. 18 Getreu dem Wahlspruch des Grafen Bakunin: „Das Zerstören ist eine aufbauende Lust“, vgl. Schaeder, Hildegard: Der getarnte Tod. Russland und der Nihilismus (1946 / 47, 1974), S. 42. Eine einwandfreie Einschätzung bei Ottmann: „Nihilist ist [ . . . ], wer an nichts mehr glaubt und sich mit nichts mehr trösten lässt. [ . . . ] Und es trat, ebenfalls schon im 19. Jahrhundert eine politisch-soziologische Bedeutung hinzu, derzufolge ein Nihilist auch derjenige ist, der, weil er in der Gesellschaft nichts ist, diese vernichten will.“ (Ottmann, Henning: Philosophie und Politik bei Nietzsche (1987, 21999), S. 330 f.). Dieser ,reine‘ (Nietzsche nennt ihn ,aktive‘) Nihilismus hebt sich allerdings von den Theoremata eines reformatorischen Alexander Herzen, eines kritischen Turgenjeff und eines existentialistischen Dostojewski wesentlich ab. 19 Nietzsche, Friedrich: Socrates und die Tragödie (Vortrag 1870), KSA 1, 545 und Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern (1872), KSA 1, 785, sowie Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), KSA, 1, 825 und Menschliches, Allzumenschliches I (1878), 170., KSA 2, 158; Menschliches, Allzumenschliches II (1879), 29., KSA 2,562; Morgenröthe (1881) 38., KSA 3, 45; danach rückt der Wettkampfgedanke in den Hintergrund, wird aber, unter Einbezug der Ressentimentproblematik und der Nihilismusüberwindung im Willen zur Macht wiedergeboren. Wie bekannt, verschärft sich die Nihilismusproblematik bei Nietzsche durch die Frage des tollen Menschen nach dem Gottesmord: „Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?“ (Nietzsche, Friedrich: Fröhliche Wissenschaft (1882) 3, 125., KSA 3, 481), wobei die intendierte Überwindung des Nihilismus, etwa durch den Gedanken der ewigen Wiederkunft, zumindest bei Nietzsche selber unter Nihilismusver-

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offen gelassene Widersprüchlichkeit, wieviel Aktion, wieviel Sprengstoff der Mensch bei der Überwindung des Nihilismus noch beisteuern könne, oder, deutsch, mit Nietzsche und Kant, gesprochen, noch beisteuern solle, wie sich die Überwindung des Nihilismus zum Sittengesetz erheben lasse und das Bombenlegen, in einer ungewollten Synthese von Expressionismus und Neukantianismus, ein kategorischer Imperativ könne genannt werden. Im Gegensatz dazu möchte ich mit meiner Nihilismusdefinition weit zurückgehen, aber nur einen sehr engen Ausschnitt zulassen20. Die Nihilismusproblematik ergibt sich als Folge des spezifisch Götterfeindlichen, der Götterdämmerung, des zunächst Atheistischen, des Prometheischen, als die Folge der Selbstermächtigung des Menschen und seiner menschlichen Sphäre angesichts menschlicher Probleme, bei der die Götter nicht mehr weiterzuwissen scheinen. Damit ist aber menschliches Handeln ohne Götter als solches mit eigenen Problemen befrachtet und das Problem der Politik ist das Problem der Herrschaft des Menschen über den Menschen und ein Problem vor allem, wie der Mensch dem Menschen mitspielen kann. Das Problem des Nihilismus beginnt in der Antike und in Gesellschaften, die ihre eigene Organisation21 nach dem Atheismus selbst in die Hand nehmen, ohne noch Götter überhaupt zuzulassen. Damit ist noch nicht gesagt, dass Nihilismus damit schon da wäre. Aber Nihilismus ist strukturell angelegt und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er offenbar wird. Nihilismus begreife sich also prima facie als die moderne, hässliche Schwester der antiken Hybris. Systematisch gedacht ist Nihilismus auf der Ebene der Praxis angesiedelt, jedenfalls zu 80%. Ob jemand wertneutral ist oder nicht an Gott glaubt oder ob einem alles egal oder alles erlaubt ist, mag eine Begleiterscheinung sein – und damit behalten die gängigen Nihilismustheorien ihr Recht –, aber im Gegensatz zum Atheismus und zum radikalen Skeptizismus ist dem Nihilismus ein aktivischer Zug inhärent: Nicht das Nihil glauben, das Nihil machen ist das Programm des Nihilismus. Dass mit ihm immer Zerstörung einhergehen muss, scheint mir aber nicht notwendig. Lange vor der Zerstörung ist Nihilismus da, und die sinnlose Zerstörung kann nur die letzte Verwirklichung des Nihilismus sein, ohne dass die Zerstörung allein indiziere, welche Momente der Zerstörung nihilistisch sind. Das ,Werk ohne Glaube‘ aber, das ist das, was mir schon idealtypisch für den Nihilismus zu sein scheint, das Machen ohne Unterlass, der Aktivismus ohne Sinn dacht gerät (Fragment Lenzer Heide (1887), KSA 12, 211: „Der europäische Nihilismus“). Siehe dazu auch Kap. III. 20 Es geht also nicht darum, mit dem Begriff des Nihilismus Schindluder zu treiben und ihn als Totschlagargument, als „Universal-Schimpfwort“ zu missbrauchen, wie dies auch Benz, Ernst: Westlicher und östlicher Nihilismus in christlicher Sicht (1947), S. 4, moniert, sondern ihn so einzuengen, dass man mit ihm Erkenntnisse erzielen kann. 21 Meier, Christian: Die politische Kunst der griechischen Tragödie (1988), S. 46, spricht zu Recht davon, dass die attische Bürgerschaft des sechsten und fünften Jahrhunderts „in ganz ungewöhnlichem Ausmass für sich selbst verantwortlich [war], schon in der Isonomie, zumal in der Demokratie“.

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und Verstand, die rastlose Arbeit ohne Befriedigung, die ,reine Tätigkeit‘ im Sinne der Praxis, nicht im Sinne des fichtischen – nur theoretischen – Setzungsfetischismus; idealtypisch für den Nihilismus scheint mir das Rechnen um des Rechnen willens, die Herrschaft der Siliziumeinheiten über die Kohlenstoffeinheiten, die Verdrängung des Menschenparks durch den Maschinenpark, die Durchdringung der Welt mit Steuer- und Regeltechnik um der Steuer- und Regeltechnik willen, die Anhäufung von Daten, von Information und Intelligenz als Selbstzweck, das Sammeln, das losgelassene Sammeln um der ,reinen‘ Sammlung willen. Nihilismus ist totales Tun, totalitäres Machen. Nihilismus ist die rein innerweltlich gedachte Imitatio Christi, die zum Mega-Projekt der Abschaffung des Menschen anstiftet. Und erst sekundär stellt sich die Frage nach der bisherigen Hegung des Nihilismus, erst sekundär die nach den theoretischen Bedingungen und der theoretischen Hegung des Nihilismus – und die Vermutung liegt nahe, dass die Reihe der Bedingungen und die berühmte Kette Homers den Nihilismus bislang angekettet hatte; ob es die intermediären Gewalten der höchsten Instanz tun: ob Glaube, Liebe, Hoffnung, ob individuelles Ethos oder Einstellungswerte, ob kategorischer oder hypothetischer Imperativ, ob Kunst oder Dichtung, ob der Sinn von Geschichte, ob intensives Schlafen, ob ewige Herkunft oder Einbettung in Institutionen, ob ,Aufhebung‘ im Staat, ob Herrschaft der Gesetze, des Über-Ich, des Archetypischen, des Anarchen, des Waldgängers, des Kat-echon, – immer sind es Unterklassen des Höchsten Absoluten, die sich, mal anstelle Gottes setzend, mal Seiner untertan, darum verdient gemacht haben, den Nihilismus der reinen Praxis, der reinen Tat zu binden und in Bahnen zu lenken, um so etwas Merkwürdiges wie einen Sonntag, den Tag der Ruhe, denkmöglich und wirklich machen. Auf das Individuum übertragen, ist der Tatbestand des Nihilismus erfüllt, wenn jeder macht, was er will und dann, als Polyptoton, immer mehr mehr machen will, und immer mehr mehr will, und mehr mehr machen muss, oder, übertragen auf unsere soziologisch verfasste Welt, wenn alle machen, was sie wollen und alle immer mehr mehr machen wollen, mehr mehr wollen und mehr mehr machen, mehr mehr machen müssen, alles in einer unendlich aufsteigenden Reihe, einem unendlichen ,ProgressProzess‘22, einem Pleonexieautomatismus, der alles je Dagewesene sprengt, der alle Hegung erledigt, der einen Typ Mensch hervorbringt, Biker und Snowboarder, der das durch Machen produzierte Körpergefühl als existentielle Sensation rücksichtslos an die Stelle von Ethos und Nomos setzt23. Wie es der Dichter sagt, leben Schmitt, Carl: Politische Theologie II (1970), S. 97 f. Körper und Gefühl, ins Politische übertragen und zur Herrschaft gekommen, machen so etwas möglich wie die jetzt vielfach diskutierte Pornokratie. In der Tat – das zu besichtigende Zeitalter, unser Zeitalter, wäre reif für eine ,Päpstin Johanna‘, oder zumindest für die Herrschaft der Hurerei, und so ist die Pornokratie etwas, was in der Luft liegt. Baronius hat den Begriff im 17. Jahrhundert geprägt, um die Frauenherrschaft der Theodora und ihrer Töchter Theodora II. und Marozia I. (Fürstin von Rom, Senatrix und Mätresse von Papst Sergius III. (904 – 911), Mutter Papst Johannes XI.) zu charakterisieren; heute, nachmetaphysisch, ist damit mehr gemeint als Zügellosigkeit oder Sittenverfall – heute ist Pornokratie die Herrschaft der Körper, die alternativlose Herrschaft der Körper, natürlich unter dem Monismus von Markt- und Medienbedingungen. 22 23

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wir in der Welt und der Zeit des Arbeiters und der entfesselten Werkstätten-Landschaften, in einer Welt der sinnlosen Emsigkeit, der Drohnen ohne Königin, ohne dass wir noch die Illusion hegten, den Nihilismus als Anknüpfungspunkt, als normsetzende Einpferchung der Arbeiter gebrauchen zu können und sich etwas von einem heroischen Nihilismus als Nomos zu versprechen. Dass es einen Zusammenhang des Wollens mit dem Machen gibt, ebnet im übrigen die systematische Einführung des Wertnihilismus und der bisherigen Nihilismusvorstellung in das Wesen des meines Erachtens hauptsächlich aus Praxis bestehenden Nihilismus – aber diese Praxis ist auf alle Fälle dominant, ein Denken jedoch, wenn es um das Nichts kreist, ist nicht eo ipso schon nihilistisch und schon ausgeliefert an den Primat des Praktischen – das Gegenteil könnte der Fall sein. Der Rest, zum Beispiel die Zerstörung, folgt daraus, aus dem Machenmachen und zwar automatisch als Folgekosten, ohne dass man noch einen Täter dieses Mehrmehrhabenwollenmachens anzeigen könnte; nicht, jedenfalls nicht unmittelbar, aus dem Denken. Die Anonymisierung der Zerstörung ist Teil des nihilistischen Geschehens, der Wirkung des Nihilismus, nicht seines Wesens. Mein Nihilismusbegriff orientiert sich also nicht an den russischen Nihilisten, die, nach einer romantischen Figur, geschworen haben, zu zerstören oder zu sterben, sondern am anonymisierten Nihilismus, der Machen mit Zerstörung ohne Täter bringt. Nun können wir auch systematisch zurückblenden auf die Antike, denn die Möglichkeit der reinen Praxis stellt sich schon früh, auch wenn ein Bacon oder ein Fichte bei den Griechen undenkbar ist. Das menschliche Handeln in der göttergedämmerten Welt ist ein erstmals in der griechischen Antike sich auftürmender Problemberg, doch wird die hesiodsche Welt noch gehegt durch die Ketten, die den Prometheus an den Felsen schmieden24 und durch das Bewusstsein, dass Rastlosigkeit, rastloses Machen, siehe Sisyphus, eine Strafe ist. Dann aber geschieht etwas Merkwürdiges. Der griechische Mensch beginnt, nicht nur sein Handeln zu durchdringen, sondern auch das Handeln der Menschen, der Menschen im Plural, zu durchdringen, und es als prinzipiell organisierbar zu dechiffrieren – Politik entsteht. Die Ablösung von den Göttern geschieht graduell, aber noch gehegt durch ein Nachsinnen über Politik, das mit den Göttern und dem Nomos, mit der Dike, rechnet. Nach und nach entsteht eine politisierte Kultur und diese politisierte Kultur ist die Kultur der griechischen und römischen Antike, schleichend verwandelt vom Exzellenzbewusstsein zu „kooperativen‘ Tugenden“: „Man braucht bald diesen, bald jenen“25, verwandelt vom ehrsüchtig-zornigen timokratos26 Achill zur solo24 Ob Prometheus der erste Politiker unserer Kultur ist, kann hier nicht entschieden werden, wiewohl zu bedenken ist, dass er den Fortschritt für alle, das erste common good bringt und mit List und Tücke agiert. Vor diesem ,Politiker‘ ist aber das Erschrecken auf seiten der Menschen wie der der Götter etwa gleich gross und die Strafe der eines Politikers offensichtlich würdig. 25 Meier, Christian: Die politische Kunst der griechischen Tragödie (1988), S. 203 f., in bezug auf die ,demokratischste‘ Tragödie Aias, siehe dazu auch Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens, Bd. I / 1, Von Homer bis Sokrates, (2001), S. 199.

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nisch censusverfassten Timokratie27, als Vermögensherrschaft. Die römische Republik unterliegt bei ihrem Versuch, sich ausschliesslich auf das mos maiorum zu stützen und kassiert im geistigen Ringen mit den überlegenen Griechen Niederlage um Niederlage, bis Philosophie und Sophistik und das Politische bei ihnen Einzug halten, dieses aber, als imperiale Republik, bis in den letzten Winkel des Erdkreises tragend. Dagegen, gegen die Anmassung des Politischen ins Universale, gegen das Ubiquitäre des Politischen hat sich das Christentum formiert, Jesus Christus an seiner Spitze und als Antithese gegen das Politische heisst es: ,Mein Reich ist nicht von dieser Welt‘. Die Christen machen einen Zusammenhang aus zwischen der Diabolie der Macht – wenn sich der Augustus an göttliche Stelle setzt – und der Heraufkunft der losgelassenen Politik im gesamten Orbis Terrarum, wenn, historisch gesehen, die Ausrichtung und der Unterhalt einer Flotte, wie geschehen in Athen, wie geschehen in Rom, den Imperialismus und die Demokratie, beide in unheiliger Allianz, notwendig macht, wenn, mythisch gesagt, der Drache, id est: der römische Staat, „an den Strand des Meeres“ (Offb 12,18) tritt und vielköpfige ,Tiere‘ erzeugt, die „aus dem Meer steigen“ (Offb 13,1): die Entfesselung der Politik in der imperialen Demokratie ist apokalyptischen Zuschnitts und es könnte hier auch vom Politischen, vom hässlichen, vielköpfigen, durcheinanderregierenden, hybriden, lästerlichen Politischen die Rede sein: „Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen.“ (Offb 13,1) Natürlich wird im Laufe der Zeit dem Römischen Reich eine positive eschatologische (also ambivalente) Rolle zugewiesen, weil doch die christliche Desinvoltura gegenüber dem Politischen einen mehr oder minder neutralen Staat, jedenfalls keinen die Christen verfolgenden und damit ins Politische drängenden Staat, voraussetzt, aber das ändert nichts Grundsätzliches an der Separation vom Politischen, die im bekannten augustinischen Dualismus der Civitas Dei, von weltlichem und göttlichem Reich, oder in der historischen Weiterentwicklung, in den Dualismen von Imperium und Sacerdotium, von Kaiser und Papst, ihren Ausdruck gefunden haben. Nach dieser Antithese zum Politischen meine ich in der Neuzeit eine Synthese aus Antike und Mittelalter ausmachen zu können, eine Synthese aus Politik und Ausserpolitik, die sich im Wechselspiel aufschaukelt zu einer neuen Form der Politisierung. Die von Machiavelli eingeläutete Technik des Machbaren vergrössert das Bewusstsein für das Politische in der Neuzeit; vergrössert aber gleichzeitig den Wunsch nach einer im christlichen Äon nachvollziehbaren Ausserpolitik, nach etwas, was der ehemaligen Hegung der Politik durch die ,Gleichschaltung‘ der Politik in der himmlischen Parallelwelt korrespondiert. Der Versuch hat dann an Verve in dem Moment gewonnen, als das Politische seiner Einbindung verlustig gegangen ist und man begann, der Politik nicht etwas umzugürten, sondern ihr entgegen26 27

Platon, Politeia, 549b. Aristoteles, NE 1160 b 18 – 22.

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zustellen. Dies wurde insbesondere dann nötig, als sich politisierte Gesellschaften, wie sie englische, amerikanische und französische Revolutionen hervorbrachten, nicht mehr entpolitisieren liessen. Alles Strampeln und Zappeln half nichts: Man hatte Politik gerufen (um in England konfessionelle Gegensätze auszugleichen, in den Vereinigten Staaten Kolonialismus abzuschütteln, in Frankreich einen bürgerlichen Staatsstreich zu kaschieren) und ward sie nicht mehr los – was immer man nunmehr tat: Es wurde nur immer mehr Politik. In der Neuzeit sehe ich wie gesagt das Politische – das Nihilistische wachsen, stetig wachsen und dabei sage ich nicht, dass etwa Locke, weil er Politisierung betreibt, ein Nihilist sei – weit gefehlt. Ich sage lediglich, dass mit ihm und durch ihn etwas wächst, ein Alien sozusagen, das wächst und wächst und zufolge der modernen Theoretiker auch wachsen soll. Das Politische wächst aber nicht nur, weil die Ansprüche von Thron und Altar untergraben werden sollen und bürgerliche Machtansprüche auf der Pirsch sind, sondern gleichsam hinter dem Rücken der Autoren und Theoretiker das Politische gerade dann und dort wächst, wo vermeintlich nichtpolitische, ausserpolitische Theoremata im Spiel sind. Wer sich ins vielgesichtige 18. Jahrhundert wagt, wird fündig, wenn es um die Figur der Intrusion des Ausserpolitischen ins Politische geht und nicht zufällig kann man fündig werden und den Begriff des Ausserpolitischen bei Koselleck wiederfinden28, nicht zufällig in Kritik und Krise, dem epochemachenden Werk über die Dialektik von Moral und Politik im 18. Jahrhundert, von Aufklärung und Geheimnis, von Policey und Freimaurertum, von privat und öffentlich. Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag leisten zu dem von Koselleck angemahnten Desiderat: „Eine Geschichte des Begriffs der Politik wäre noch zu schreiben. In jedem Fall kann gesagt werden, daß das Wort ,politique‘, ,Politik‘ usw. im achtzehnten Jahrhundert oft in einem scheinbar neutralen, sachbezogenen Sinn gebraucht wird. So zum Beispiel, wenn Diderot in der Enzyklopädie sagt: ,La philosophie politique est belle qui enseigne aux hommes à se conduire avec prudence.‘ Diese Politik sei seit Aristoteles vielen Wandlungen unterworfen worden, daß man feststellen müsse: ,de toutes les parties de la philosophie la politique est celle qui a le plus éprouvé de changements . . .‘ Was aber unter Politik verstanden wurde, d. h. der Begriff der Politik, kann im achtzehnten Jahrhundert nur aus der jeweiligen – meist universalen – Moralphilosophie erschlossen werden.“29

Die Geschichte des 18. Jahrhunderts liest sich mit Koselleck wie eine Geschichte der potestas indirecta, die sich vor allem auf dem Gebiet der Moral austobt und permanent in den politischen Bereich zurückstrahlen kann: „Die Moral ist der präsumtive Souverän. Direkt unpolitisch, ist der Maurer indirekt doch politisch. Die Moral bleibt zwar gewaltlos und friedlich, aber gerade als solche stellt sie – durch ihre Polarisierung zur Politik – den bestehenden Staat in Frage.“30 Die Krise des 18. Jahrhunderts werde gerade dann virulent, wenn aus dem Schattenreich des Ausserpolitischen heraus politisiert wird, „das moralische Gericht wird 28 29 30

Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise (1959), S. 122, S. 155, S. 221 (Anm. 97). Koselleck, ibid., Anm. 93a, S. 170. Koselleck, ibid., S. 68.

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zur politischen Kritik, nicht nur indem es die Politik seinem strengen Urteil unterwirft, sondern gerade auch umgekehrt, indem es sich als Urteilsinstanz aus dem Bereich des Politischen ausspart.“31 Im Moment der strategischen Überlegenheit im Bereich des Ausserpolitischen kündige sich der Sieg der Bürger an: „Die Gewißheit des Sieges [der Bürger über den Absolutismus, M.S.] lag gerade in dem außer- und überpolitischen Bewußtsein, das sich – zunächst eine situationsbedingte Antwort auf den Absolutismus – zur utopischen Selbstgarantie gesteigert hatte. Der Bürger, der zu einer unpolitischen Rolle verurteilt war, findet seine Zuflucht in der Utopie. Sie lieferte ihm seine Sicherheit und seine Macht.“32

Damit werden auch der Souverän und das Politische hineingezogen in die Sphäre des Ausserpolitischen, die dann wieder potenziert ins Politische reflektiert: „Die absolutistische Quelle des Rechts, der Sitz der Souveränität, wird als solcher schon zum Bereich purer Gewalt. Handelt diese Gewalt im Sinne der Moral, dann richtet sie sich nach außer- und überpolitischen ewiggültigen Kriterien, und ihre Rechtmäßigkeit ist dann nicht mehr politisch – im Sinne der souveränen Entscheidungsgewalt –, sondern gerade moralisch.“33

Doch wäre es verfehlt, im 18. Jahrhundert nur eine Dialektik von Macht und Moral, von Politik und Utopie ausmachen zu wollen. An verstreuter Stelle und systematisch nicht eingeordnet, erscheinen bei Koselleck weitere ausserpolitische Instanzen, die das Jahrhundert prägen, der „Begriff der Revolution“34 etwa, „die Geschichtsphilosophie“ vor allem, jene „indirekt politische Macht schlechthin“35, aber auch „Vernunft, . . . Moral, . . . Natur usw.“36, denen alle eins gemeinsam ist: „Unpolitisch zu sein ist ihr Politicum“37, und es ist dieses „usw.“, dem ich mich widmen möchte. Streng genommen operieren alle gängigen Säkularisierungstheorien post Schmitt mit der Figur der politischen Theologie, der Umgruppierung von Theologoumena ins Politische und des möglichen Einbruchs des ehemals Unverfügbaren ins Verfügbare, sprich in den Gestaltungswahn des Menschen, sprich ins Politische 31 Koselleck, ibid., S. 85. Anders variiert: „Die Krise des achtzehnten Jahrhunderts liegt so sehr in den dualistischen Kategorien beschlossen, die das Politische scheinbar eliminierten, daß man sagen kann: die Krise entspringt der Dialektik von Moral und Politik und ist diese zugleich, das heißt die Krise war nur deshalb eine solche, weil sie als politische Krise im Grunde verdeckt blieb.“ (S. 146). 32 Koselleck, ibid., S. 155. 33 Koselleck, ibid., S. 122. 34 „Der Begriff der Revolution ist im 18. Jh. ein außer- und überpolitischer Begriff, und d. h. wie die meisten Begriffe der Aufklärung indirekt politisch. Aber auch auf das Politische angewandt, verdrängt er den Ausdruck des guerre civile, zu dem man nur noch ein Verhältnis hatte.“ Koselleck, ibid., S. 221, Anm. 97. 35 Koselleck, ibid., S. 113. 36 „In der politischen Anonymität der Vernunft, der Moral, der Natur usw. lag ihre politische Eigenart und Wirksamkeit.“ Koselleck, ibid., S. 123. 37 Koselleck, ibid., S. 123.

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als Macherwahn. In der Erweiterung und Verschärfung und Überwindung dieses Ansatzes gehe ich jedoch davon aus, dass es nicht nur Theologoumena sind, die ins Politische diffundieren, nicht nur das Unverfügbare, sondern auch Mitleid ist es, sondern auch der Skeptizismus ist es, sondern auch die Öffentlichkeit ist es, die ins Politische driften, – und warum: Weil es keine Parallelität von weltlichem und geistlichem Reich mehr gibt, das geistliche Reich ersatzlos gestrichen wird und die dort angeschlossenen Entitäten frei treiben, mit dem Ergebnis, dass Intrusion von Entitäten ins Politische stattfindet, man nicht mehr angeben kann, woher diese Intrusion stattfindet und die Politisierbarkeit von Ideen unumkehrbar zunimmt. Wie einleitend gesagt, entsteht der Begriff der Ausserpolitik, weil es für die ausserhalb des Politischen angesiedelten Entitäten keine Heimat mehr gibt und nur noch das systemische Ausserhalb des Ausserpolitischen konstatiert, der Ort des im ausserpolitisch Angesiedelten aber nicht mehr angegeben werden kann. Das Ausserpolitische grenzt sich vom Apolitischen dadurch ab, dass es hier nicht um charakterliche Indifferenz gegenüber dem Politischen geht, nicht mehr um Bekenntnisse von Unpolitischen, nicht mehr um Interesselosigkeit und parteipolitische Neutralität, sondern vielmehr um eine systemische Interaktion mit der Sphäre der Politik, um Interaktion mit dem Politischen vor allem; es geht um eine potentielle Tauglichkeit der Ausserpolitik zur Dialektik mit dem Politischen jenseits und losgelöst von allen subjektiven Befindlichkeiten, jenseits der Extreme von apolis und hypsopolis. Der Begriff der Ausserpolitik ist ein operativer und arbeitshypothetischer Begriff. Das Ausserpolitische ist tatsächlich in vielen Bereichen und kann von daher ins Politische, ins Treffen kommen: Frontstellungen von ,unpolitischer‘, unverderbter Natur gegen Zivilisation (mit der politischen Folge des Rousseauismus), ,ausserpolitischem‘ Gefühl gegen Vernunft (mit der politischen Folge der ,Politischen Romantik‘), reine praktische, ,unpolitische‘ Philosophie gegen empirische Ethik (mit der politischen Wirkung ,verspäteter‘ Nationen), ,ausserpolitischem‘ Naturrecht gegen ,politische‘ Geschichte (und der ,politischsten‘ aller Folgen, der Genese des vertragstheoretisch begründeten, neuzeitlichen Staates), und weiter, mit immer derselben Dialektik: Privat gegen Öffentlich, Liebe gegen Konvention, Ironie gegen Sprachlichkeit, Leben gegen Bildung, invisible hand und Gesellschaft gegen Staat, schopenhauerische Objektivationen des Willens gegen Hegels objektiven Geist, radikal-antiaristotelische Utopie und Kommunismus gegen aristotelische Reform, extremer Utilitarismus und Positivismus gegen das dialektische Prinzip der Sittlichkeit – bis hin zur ausserpolitischen Theorie sans phrase: Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, die die Politik gänzlich überwinden und ,Grosse Politik‘ begründen sollte, – bis zur vollständigen Entkernung der Politik auf den Nukleus – das Politische, das Götterlose. In der Nach-Erzählung der Neuzeit können ausserpolitische Diskurse vorkommen, die mehr über das Politische aussagen, als es eine Aneinanderreihung der Theoretiker der Politik vermöchte. Es ist möglich, über Neoskeptizismus, über Neostoizismus, über Bayle und seinen Widerpart Leibniz Betrachtungen anzustel-

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len und doch die Landschaft des Politischen raster- und katastermässig besser zu vermessen, als dies eine reine Darstellung der harten Politiktheoretiker könnte. So wird auch in der Beschäftigung und Nachzeichnung der politischen Theoretiker, Hobbes, Locke, Rousseau, Burke jeweils ein überraschender, ausserpolitischer Aspekt beleuchtet, der über die Dialektik der modernen Politik Entscheidendes offenbart. Mein Thema ist das des Nihilismus im Wesen der Politik, und dieses Thema setze ich nicht, sondern entwickele es erst. Um beim heute akuten Begriff der Politik anzulangen, kommt es im ersten Teil zu einer Nachzeichnung der Definition bei den politischen Klassikern und um diese herum. Der Meinungsstreit öffentlicher Parteiungen im Staatsverband ist eine heuristisch hinreichende Bestimmung der modernen Politik. Jedem Moment dieser Bestimmung wird ein repräsentativer Denker beigesellt, so dass sich eine Auseinandersetzung mit Bayle und Leibniz (Kap. II. 1.), Hobbes (II. 2.), Rousseau (II. 3.), Locke (II. 4. a)) und Burke (II. 4. b)) ergeben kann – immer eng am primären Text. Die Durchsetzung der Politisierung als ein Wesensmerkmal der modernen Politik vollzieht sich darüber hinaus über den ,Eingang ins Gefühl‘, so dass Kant, Fichte, Hegel und der Historismus (II. 6.) dieser Bestimmung nachgeordnet werden können. Ausserdem interessiert mich die zweite Garnitur oder epochemachende Gestalten wie Daniel Defoe oder Benjamin Franklin, weil sie Gestalten einer Entwicklung sind, wo Geistesentwicklung und Geschichte zusammenkommen, wo Geschichte ,wirkt‘ und sich ,entwickelt‘. Eine Geschichte des 18. Jahrhunderts kann insofern nacherzählt werden, als dass Prozesse der Politisierung und der anonymisierten Öffentlichkeit ablaufen, in denen der Parallelschwung von Geschichte zu politischer Theorie für beide Seiten, für Politik und für Geschichte, interessant wird (II. 5.). Es geht mir immer um die Folgekosten konkreter Theoremata, um das notwendige Entstehen von Antithesen, sobald Thesen gesetzt sind, nicht um den Aufweis von Synthesen und es damit sein Bewenden haben lassen. Die systemische Verzahnung der aufgewiesenen Momente der modernen Politik hin zu einem eigentlichen politischen System führt zu Einschluss- und Ausschlussprozeduren, die die Lebenswelt zu durchdringen beginnen und Verklumpungen von politischer Ideengeschichte mit soziologischen und psychoästhetischen Prozessen zeitigen; als Exemplum dient dabei das Phänomen des Nationalismus, der gedacht, gelebt und gefühlt werden kann. Politik wird eine Sache des Gefühls und ausserpolitische Bereiche werden im 19. Jahrhundert nach und nach in das politische Gefühl gebracht – dazu gehört auch das eigene Körpergefühl, das via Sport historistisch zu werden vermag. Zur Zeit Nietzsches ist der Begriff des Politischen bereits entwickelt und der ,europäische Mischmensch‘ bereits Wirklichkeit, die Herrschaft des Journalisten, des „Sclaven der drei M: des Moments, der Meinungen und der Moden“38 schon allumfassend – und: „Die nihilistischen Consequenzen der politischen und volkswirthschaftlichen Denkweise wo alle ,Principien‘ nachgerade zur Schauspielerei gehören: der Hauch von Mittelmäßigkeit, Erbärmlichkeit, Unaufrichtigkeit 38

Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, Sommer 1872 – Ende 1874, KSA 7, 817.

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usw.“39 ,Politische Denkweise‘ und Mittelmäßigkeit sind die Folie, auf der sich Nietzsches Diagnose von Kultur und Nihilismus scharf abzeichnet. Dies gilt es bei der Behandlung des möglicherweise ganz anderen politischen Gedankens der ewigen Wiederkunft mit zu bedenken. Eine Überblendung auf die Situation post Nietzsche versucht, die Perspektive der Binnensicht der Politik selber einzunehmen. Auf die Nihilisierung qua Politisierung reagiert die Politik mit Politikentlastung (V.): dort, wo ihr ungehegtes Machertum ratlos geworden ist, schleicht sie sich selber aus der Verantwortung, indem sie Steuerungskompetenzen an willige politikferne Instanzen auslagert (V. 1.). Dies geschieht jedoch mit der der Politik eigenen Regelungskunst, was sich bei den vier Gewalten andemonstrieren lässt (V. 2.). Aus Politikentlastung wird immer nur Politikentlastungspolitik, wovon auch die politisierte Lebenswelt belastet wird (V. 3.). Es folgt daraus, dass Politik sich nicht selber heilen kann, auch nicht, wenn und indem sie sich aus der Affäre zieht; ihre Versehrungen, die sie hinterlässt, würden am liebsten von ihr gleich mitkuriert werden, ohne dass sie es aber vermöchte. Politik, als Remedur dieses Sichverhalts, sei, so das gute Ende dieser Ausführungen, unter Kuratel zu stellen (VI.). Dabei vertraue ich der klassischen Wahrheitskonzeption, dass sich etwas so und so verhält und nicht anders. Diese Wahrheit ist analog verfasst, insofern sie sich der Sprache bedient und damit den Gesetzen der Sprache unterworfen ist – Sprache als notwendiges Übel, etwas über einen Sachverhalt aussagen zu müssen. Die Nichtperfektion der Sprache führt zu mehreren Anläufen, um das auszusagen, was Sache ist – die Methode ist allerdings die der Acutezza. Die Arbeit ist historisch und systematisch aufgebaut, wobei es in beiden Bereichen nicht stringent zugeht; die historische Analyse ist nicht chronologisch, sondern arbeitet, auch auf die Gefahr des Coenismus hin, mit special effects, Metaplasmen, Hyperbeln und mit Nacherzählungen, mit Mikro- und Makrogeschichte; die Systematik weist verschiedene Versatzstücke von Hegelianismen, der Systemtheorie, hauptsächlich aber der Phänomenologie auf. Das Thema wird entwickelt, indem es reif gemacht wird durch einen Gang von Neuzeit zur Moderne, von Machiavelli zu Nietzsche, um dann überhaupt erst die Lizenz für eine Rückblendung und Nacherzählung und Neuerzählung unter dem eigentlichen Thema, das des Zusammenhangs zwischen Politik und Nihilismus, zu erhalten und erst dann die Sicht frei zu bekommen auf Antike und das Jahr Null. Die verwendete Methode orientiert sich am hermeneutischen Zirkel, durch das Lesen der Texte eine relative Unbestimmtheit zu bewahren, aber im Wiederwiederlesen „eine selektive, aber nicht reduktive Lektüre“40 zu gewähren, die hinreichende Beweggründe für die anzustrebende Beantwortung der Frage: Ist Politik in ihrem Wesen nihilistisch? zu erreichen. Das ist die Frage, worauf hin die politischen Klassiker interpretiert werden, was an ihnen Gegenstand der Auslegung sein soll, worin Differenzen und Verwandtschaften zwischen Politik 39 40

Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885 – Herbst 1887, KSA 12, 127. Angehrn, Emil: Die Überwindung des Chaos: zur Philosophie des Mythos (1996), S. 17.

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und Nihilismus festzumachen sind.41 Im Hintergrund ist der Kommunitarismus und MacIntyre ebenso präsent, wie ein schwaches Denken, ebenso die Drei Wurzeln der Politik (Sternberger) wie der Neoaristotelismus der Ritter-Schule, aber auch Klassiker wie Leo Strauss und Eric Voegelin. Aus der Beschäftigung mit Nietzsche und Carl Schmitt ergibt sich automatisch die Frage nach dem nihilistischen Wesen der Politik. Eine an der Lebenswelt orientierte kritische Theorie wird von einem augustinistischem Parallelismus des Weltlich-Geistlichem umschlossen, der bewusst volitive Momente miteinbezieht und versöhnlich endet. Ein Dank an dieser Stelle mag nicht unangebracht sein. Ohne die dem lieben Gott zu verdankende Existenz meiner und einer wundersamen Gesundheit wäre diese Arbeit wahrscheinlich nicht zustande gekommen. Tägliche Unterstützung habe ich in der Hilfe meiner wunderbaren Frau, Gerda, erfahren, und ohne meine Tochter Chiara wäre diese Welt sowieso wüst und leer. Entbehrungsreiche und unschätzbare Hilfe hat mir Dr. Nikolai Pchelin zuteil werden lassen, wertvolle Anregungen habe ich durch meine Doktorväter Prof. Emil Angehrn und Prof. Henning Ottmann, sowie durch Dr. Andreas Sommer, Dr. Martin Schütz und Dr. Bernhard Sterchi erfahren, anregenden Input durch Roberto Sykora. Die Liste aller weiteren Personen, denen ich zu Dank verpflichtet bin, würde zu weit führen, hier detailliert zu werden, was jedoch nicht davon dispensiert, Dank diesen Personen auch zu schulden.

41 In Analogie zu Angehrn, ibid., S. 31. Die Texte werden befragt unter der Prämisse der Endlichkeit (siehe dazu Marquard, Odo: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist (1981), S. 119 f.); der Endlichkeit der Texte und der Endlichkeit der menschlichen Vita, die brevis ist, ganz im Gegensatz zur Kunst, die, gemäss des Skeptikers Hippokrates, longa ist und unendliche Texte produzieren kann. So wie nach einer bekannten Sentenz gegen Frauen nur Frauen helfen, helfen gegen Skeptiker eben nur Skeptiker.

I. Prolegomenon zur Politikencadrierung – Der Begriff der Politik Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Politik zu definieren. Eine phänomenologische Betrachtung dessen, was Politik ist, wird als kleinsten gemeinsamen Nenner ausmachen können, dass Politik etwas mit Handeln zu tun hat. Im Wesen der Politik ist das Aktivische bereits enthalten, so dass das Adjektiv, insbesondere das substantivierte Adjektiv – das Politische – der Politik meines Erachtens nachgeordnet ist. Christian Meier hat jedoch den etymologischen Befund wie folgt verdeutlicht: „Mit Politik übersetzen wir [ . . . ] zwei griechische Worte: ôá ðïëéôéká und Bç ðïëéôékBç. Beides sind Substantivierungen des Adjektivs ðïëéôékïò, welches von ðïëéôBçò abgeleitet ist, also wo¨rtlich ,bu¨rgerlich‘ heisst. (Ein von Polis direkt gebildetes Adjektiv gibt es nicht [ . . . ]) ôá ðïëéôéká sind also die bu¨rgerlichen Angelegenheiten [ . . . ]. Ç ðïëéôékBç heisst die Wissenschaft davon. Sekunda¨r wird freilich der Sinn des Politischen als auf die Polis Bezu¨glichen stets mitgedacht.“1

Die lässt sich schematisch so darstellen:

Man wird in alter philosophischer Tradition darauf hinweisen müssen, dass die Umschreibung eines Sachverhalts durch zwei Adjektivsubstantivierungen kein zureichender Grund für die Existenz einer begrifflichen und begriffenen Vorstellung ist. Es mag historisch zulässig sein, ein geschichtliches Phänomen wie die Entdekkung der Politik durch das Vorkommen zweier Wörter zu beschreiben, philosophisch zulässig ist das nicht, und im Sinne dittographischer Lesart muss auch die ,Entstehung des Politischen‘ bei den Griechen von einem einzigen Begriff, der bewusst begriffen wird, ausgehen müssen. Und das kann nur das Insgesamt von 1

Meier, Christian: Politik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7, S. 1038.

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I. Prolegomenon zur Politikencadrierung – Der Begriff der Politik

ôá ðïëéôéká und Ç ðïëéôékBç, also von Politik selber sein. Entgegen dem wenig u¨berzeugendem etymologischen Befund geht die Politik dem Politischen vorher – denn die Politik musste, als sie zuerst auftrat und bei allen Bu¨rgern war, mit zwei Substantivierungen eines Adjektivs umschrieben werden, mit „ôá ðïëéôéká bu¨rgerliche Angelegenheiten“, mit „Ç ðïëéôékBç die Wissenschaft davon“ – der Begriff der Politik umschliesst aber diese beiden Attribute. Lange vor der Politik, im Sinne des Nachdenkens über sie, im Sinne der Theorie gab es das Politische im Sinne der reinen Praxis und politischer Institutionen, aber dadurch fehlte dem Politischen das spezifische Politik-hafte, nämlich das Spannungsfeld von Praxis und Theorie, das Insgesamt von Phänomen und Disziplin und dadurch war das Politische, als einer halben Sache, der die andere Hälfte fehlt, vor der bewussten Entdeckung der Politik im eigentlichen Sinne nicht existent. Der Politik nachgeordnet ist ebenso – die andere Hälfte – eine rein intellektuelle Theorie der Politik, die Wissenschaft der Politik. Dadurch ergibt sich ein neues Diagramm, welches den einen Begriff der Politik darstellt:

Dies ist schon etwas besser. Aber: An dieser Darstellung ist auszusetzen, dass schon die erste Ableitung des Grundwortes ðïëéôBçò, Bu¨rger, nicht vom Bu¨rger im Sinne der Einwohner einer deutschen Burg oder gar im Sinne des franzo¨sischen Bourgeois gebildet ist, daher auch das Adjektiv ðïëéôékïò auch nicht „bu¨rgerlich“ im Sinne des Fauteuille bu¨rgerlicher Errungenschaften und Annehmlichkeiten ist. Wa¨re der Bu¨rger tatsa¨chlich Ausgangspunkt der Definition von Politik, wu¨rde das ¨ bersetzung abgeben. Dann wa¨re die ,Bu¨rgerhafte‘ eine weniger implikationo¨se U Substantivierung ,das Bu¨rgerhafte‘ oder die ,Bu¨rgerhaftigkeit‘ und die Wissenschaft davon die ,Bu¨rgerhaftigkeitslehre‘. Es bleibt aber dabei, dass erst die Bu¨rgerhaftigkeit und die Bu¨rgerhaftigkeitslehre zusammengenommen die Politik zusammensetzen – was den Verdacht nahelegt, dass in dieser Formel etwas nicht stimmt, denn wie soll aus Bu¨rgerhaftigkeit und Bu¨rgerhaftigkeitslehre plo¨tzlich Politik entstehen ko¨nnen?

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Wollte man den Zusammenhang mit der Polis, der, wie Meier bemerkt, in den Bestimmungen der Politik „stets mitgedacht“ war, klarer herausstellen, wäre der ðïëéôBçò wohl eher, so meine Definition, der Polisbewohner, der Poliseinwohner, auch der Polisberechtigte, so dass das entsprechende Adjektiv ðïëéôékïò ,polisberechtigt‘ genannt werden du¨rfte. Davon das Hauptwort gebildet, wa¨re Tá ðïëéôéká die ,Polisberechtigung‘ und das Nachdenken daru¨ber, Ç ðïëéôékBç, die ,Polisberechtigungslehre‘. Beides zusammengenommen ergibt schon eher den Odeur dessen, was Politik dann ist. Damit ist auch dem Umstand Rechnung getragen, dass die Berechtigung in der Polis als auch die Berechtigung der Polis selber, als Ganzes, als Kollektiv, zusammengedacht ist – eine Berechtigung, etwas zu tun, eine Berechtigung der Polis, eine Berechtigung in der Polis, aus der stets ein Tun resultiert. In dieser Polisberechtigung ist das urgriechische Thema der Hybris mitgedacht, also das Thema der Polishybris. Dies fu¨hrt zu einem neuen Schema, das dem Wesen der Politik gema¨ss ist:

Auch der zweite Versuch von Meier, das Politische zu bestimmen und es, durch politische Lesart der Tragödiendichter, zu verexistentialisieren – die Harmlosigkeit der ersten Definition wird mit ein wenig Gefährlichkeit aufgeschäumt –, ist wenig besser. Die Bemühungen, das politische Wesen im Menschen oder das Politische als existentiellen Fragegrund der eigenen Nichtung auszumachen, sind Ableitungen der Politik, moderne Ableitungen. Was ist gewonnen, wenn man den Begriff der Politik streicht und statt begrifflicher Arbeit nur noch, wie Meier, das Politische – „das ,Politische‘, das heisst das Leben unter den Bürgern“2 ausmachen will, – ein Politisches, das nicht mehr begrifflich zu sein scheint und auch nicht mehr begriffen werden kann. Denn was heisst das: „das Leben unter Bürgern“? Ist das Politische eine Kategorie des Lebens?, an das Vorhandensein von ,Bürgern‘ gebunden und eine Verbindung von Leben und Bürger? Im Begriff des ,Bürgers‘ ist doch von Meier eine politische Existenz automatisch mitgedacht, so dass es sich hier um einen Pleonasmus handeln könnte, in der das Politische das Leben der Politischen wäre (um die Bürger aus der Formel zu streichen), und weiter, weil das Politische ja lebt, das Poli2

Meier, Christian: Die politische Kunst der griechischen Tragödie (1988), S. 22.

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tische letztlich das Politische wäre (um auch ,das Leben‘ aus der Formel zu verbannen)? So kommt man jedenfalls nicht weiter und weiter kommt man erst recht nicht, wenn man Politik und das Politische mit demokratischen Zuständen verwechselt – Politik ist etwas, das auch ohne Demokratie existiert. Politik hat an sich nichts mit Geselligkeit zu tun und schon gar nichts mit ausserpolitischem Sein – dem Dasein des Menschen. Jedenfalls ursprünglich. Politische Sprache ist auch nicht zu verwechseln mit menschlicher Sprache und umgekehrt. Politik ist etwas, das erst ab einer gewissen Anzahl Personen auftritt und mit zunehmender Anzahl zunimmt. Politik bei Hunderttausend ist ,grösser‘ als bei Tausend, auch qualitativ. Davon hat noch jede Staatsrechtslehre und nicht zuletzt die Demokratie profitiert. Es ist kein Wunder, dass man beim grössten Verbund die Politik gesucht hat und den neuzeitlich territorial mediatisierten Staat als Voraussetzung der Politik und des Politischen empfunden hat. Die Quantität der Bürger oder ihre staatliche Verfasstheit ist aber gar kein Kriterium an sich – trotzdem die politische Staatskunst, dadurch die politische Kunst, dadurch die Politik mit zunehmender Zahl der Bürger zunimmt, ja zunehmen muss. Ein Gebilde von Hunderttausenden zu navigieren ist schwieriger, als eines von Tausend – aber die notwendig höhere Regierungskunst sagt nichts über eine Verquickung von Staat und Politik, sondern nur über den intersubjektiven Wesenskern der Politik, über ihre prinzipielle Vermaschung und Vermaschbarkeit. Und je grösser der Verbund der Menschen, desto grössere Staatsklugheit mag erforderlich sein, desto grösser mag die Ablösung des Politischen, als des Handlungserforderlichen, von der Politik, als des mit (ethosgeleiteter, zielvorgestellter, mithin transzendenter) Theorie Vereinbaren. Stattdessen ist es schon eher möglich, Politik von den Politikern her zu definieren. Das Politische und mittelbar auch die Politik ist nie losgelöst von ,Politikern‘, den ,Agenten‘ von Politik; ohne ,Politiker‘ keine Politik und keine Politik ohne ,Politiker‘-Handlung, wie professionell oder stümperhaft diese auch immer seien. Wenn es allzu intersubjektiv wird, neigt die Politik dazu, sich vom Handelnden, vom ,Politiker‘ zu emanzipieren und Prozess oder System zu werden; dann wird die Politik zuweilen das Politische und abstrahiert vom Ziel der Politiker – das Politische wird autonom. Die Disziplin der Politik kann diese Loslösung in der Theorie wieder einfangen; der Politiker aber nicht notwendigerweise. Dies ist die Sollbruchstelle, in der auch das politische Handeln abstrakt werden kann, losgelöst von den ehemaligen Zielen und irgendeiner Staatsklugheit gehorchend. Das kann zu Dilemmata in der Praxis, zu Zwickmühlen zwischen Strategie und Taktik, zwischen Politik und dem Politischen führen. Gibt der Politiker die Ziele zu spät preis, lange nachdem der Wind sich gedreht hat, droht ihm, dass er nicht mehr Politiker bleibt, weil er die Zeichen der Macht nicht mehr zu lesen weiss. Oder es droht, dass er seine Ziele zu früh preisgibt, wodurch seine Wetterwendischkeit sich offenbart und er die Ziele seiner Klientel auf die lange Sicht korrumpiert. Die Schizophrenie des Politikers, der nie weiss, wie früh oder spät er seine Ziele dem Politischen opfern muss, zeigt etwas über das Wesen der Politik. Dass Politik die Kunst des Machbaren sei, mag sein, das Machbare aber ist heute das Machbare, das ganz

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von den Machern bestimmt wird, und so ist heute das Machbare nicht mehr der Kompromiss, sondern der Realisierungsprimat, die Aufgabe um der Aufgabe willen. Nicht mehr die Kunst der Machenschaften, sondern die der Macherschaften, nicht mehr die Kunst des Machbaren, sondern die Kunst der Macher. Weil Politik mit einem Gefälle ins Aktivische oszilliert, lässt sie sich prinzipiell verschärfen – die Verschärfung ist schon das Politische zum Unterschied von der Politik; das Politische ist Machertum per se, während die Politik noch in der Schwebe ist zwischen Theorie und Mache. Natürlich strebt die Politik zum Politischen – das ist ihr Wesen – aber sie lässt sich noch hegen, was vom Politischen sich nur noch schwerlich behaupten lässt. Politik ist primär eine Kunst, aber keine Kunst des Machbaren oder des Möglichen, sondern eine Kunst, bei der das Machbare resultiert. Das Aktivum von Politik, also das Politische, changiert merkwürdig zwischen einer Kunsttechnik, der es um ein Ziel geht und einer Kunstfertigkeit, deren Zweck im Vollzug liegt. Das wissen Politiker. Die homerischen Helden sind allerdings, dies zeigt Ottmann luzid und konzis3, die Vorläufer der politischen Theoretiker, weil bei ihnen Selbstbewusstsein und Entscheidungsfähigkeit selbstreflektierte Gedanken in Gang setzen, die der Geburt der Politik vorhergehen müssen, Politik verstanden als ein Zugleich von Theorie und Praxis mit einem Primat, einen Übergang von Praxis, allerdings noch ohne den Nexus zur Theorie zu verlieren, ein Nexus, dessen Unverbrüchlichkeit die Anbindung an Oben, an den Gott garantiert. Zur Zeit Homers ist Politik noch nicht da. Aber schon in Aussicht. Mag es in Ilias und Odyssee eine Protopolitik geben, bleibt doch festzuhalten, dass es bis zur ,Entbindung‘ der Politik noch weit ist4. Politik mit dem Handeln-Können dasein zu lassen, würde bedeuten, zu Homer zurückkehren zu müssen und den Dichtern ausgeliefert zu sein, dem Tradierten und Unvordenklichen. Wenn mit Homer Politik schon da wäre, muss zu vermuten stehen, dass die Geburt der Politik in den ,dunklen Jahrhunderten‘ (11. – 9. Jh. v. Chr.) oder vorher stattgefunden haben könnte – eine für die Definition des Wesens 3 Ottmann, ibid., S. 13: „Dass in unserem heutigen Sinne von Politik die Rede sein kann, das setzt die griechische Entdeckung des Handelns-Könnens voraus, das heisst des HandelnsKönnens im Sinne der Wahl und Entscheidung“. 4 Auf der einen Seite wird das Bestehen der ,Politik‘ zur Zeit Homers von Ottmann negiert: „Wenn die Polis aus ihren Bürgern besteht, dann kann bei Homer noch nicht von einer Polis die Rede sein. Bürger, die ein urbanes Leben führen oder gar ihre Politik selber machen, gibt es in der homerischen Welt noch nicht.“ (Ottmann, ibid., S. 32) Andererseits gibt es aber bereits vollumfängliche ,politische‘ Institutionen: „Gleichwohl ist die Ordnung eine schon politische oder doch zumindest vor-politische. Für Homer ist es ganz selbstverständlich, dass es eine Volksversammlung (agora) gibt.“ (ibid.) Wenn das Vorhandensein einer Volksversammlung Kennzeichen des Bestehens von Politik sein soll, hat es Politik also schon in grauer Urzeit gegeben und kann dann auch keine spezifisch griechische Erfindung oder Erscheinung sein. Obwohl Ottmann zurecht die Entstehung nicht ,der Politik‘ sondern ,des Politischen‘, die Meier sehen will, bei den Griechen zurückweist und diesen Begriff des 20. Jahrhunderts – zurecht – nicht an die Griechen angelegt lassen sein will, scheint mir diese Zurückweisung nicht konsequent genug, da die homerische Volksversammlung eine bereits „politische“ sei.

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der Politik unbefriedigende Annahme. Es drohte, dass bei jedem Handeln-Können (sprich: jeder Handlung) damaliger Potentaten Politik sich gezeigt hätte und noch die Jungsteinzeit unter Politikverdacht käme – das Handeln-Können im Sinne der Entscheidung hätten wir dann in den Verwaltungsinschriften von Linear B sogar in einer entwickelten Spätform vor uns. Man kann die Politik, den griechischen Begriff, die griechische Entdeckung, nicht bei den frühen Sippen beginnen lassen, auch wenn diese miteinander Umgang pflegten, sich berieten und Entscheidungen für die Sippe herbeiführten. Und wenn Politik durch das Handeln-Können bestimmt wäre, wäre das Wesen der Politik doch wieder das Politische. Und das Politische wäre dann wohl beheimatet und gebürtig in einer Zeit der existentiellen Nichtung – also in der Jungsteinzeit und dem Holozän. Das Politische käme also aus Neandertal, im weiteren Sinne also aus Düsseldorf. Man darf sich nicht täuschen lassen und glauben, nur weil es Zeugnisse über Taten und Kommentare gibt, daß Politik schon „da“ wäre – politische Handlungen hätte es dann beim ersten handwerklichen Kalkül des Homo faber gegeben, nein – Politik entsteht dort, wo man über Politik und politische Handlungen nachzusinnen beginnt und das Spannungsfeld von Politik und politischer Handlung, von Theorie und Praxis als zentral für politische Theorie und für politische Praxis begreifen lernt. Dass die Politik insgesamt auf ihr Fundament, welches es auch sei, rekurrieren muss, war die liebgewonnene Meinung der Politikwissenschaft. Diese Schlussfolgerung ist aber nicht zwingend. Es ist sehr wohl denkbar, dass sich das Politische von der Politik ablöst oder dass das Politische die Politik sogar übermannt. Und es ist sogar prinzipiell nicht unmöglich, dass aus dieser Ablösung nicht Auflösung folge, Disgregation und Nihilismus. Warum? Es gehört unserer Auffassung nach zum Wesen der Politik, dass sie sich gerne von ihrer eigenen Theorie ablöst, von ihrer eigenen Fundierung nur allzu gern emanzipiert, dass sie, die Politik, sich in das Politische auflöst. Die 80% des Wesens der Politik, die Handlungen und Taten, sind das Politische, das Politische der Politik. Diese 80% versuchen sich über die anderen 20% aufzuschwingen und oben auf zu kommen; das Politische versucht, sich der Politik zu bemächtigen. Dass die letzten 20% die Theorie sind, ist nicht selbstverständlich: und ohne Anbindung an Transzendenz verliert die Theorie ihre Abwehr, ohne Gott ihren Schutz. Transzendenzlose Politiktheorie wird sofort weggespült von der Dynamik des Politischen, auch hier, nemo contra Schmitt, nisi Schmitt ipse, bedarf es vielleicht des Kat-echon, um dem Politischen eine Wehr entgegenzusetzen. Am besten natürlich mit Hilfe der fixen Anbindung der Politik an den sichtbaren Repräsentanten der Transzendenz. Aber das ist eine Lösung, die die Analyse des Wesens der Politik voraussetzt und hier nicht vorweggenommen werden soll. Wichtig ist nur zu sagen, dass im Innern der Politik selbst eine Paretoregel west, die das Einfallstor des Nihilismus beschreibt, wie die letzten 20% an die Wand gedrückt werden können. Die 80 / 20%-Verteilung im Kern der Politik erklärt auch, warum Politik etwas mit Richtlinie, mit policy, mit Richtlinienkompetenz zu tun hat. Die Policies richten sich nach Zielen, die selber nicht Bestandteil der Politik sind, sondern diese transzendieren. Die Paretoregel des Wesens der Politik neigt dazu, in sich instabil zu sein, die 80% zu dynamisieren und das Verhältnis

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von 80 zu 20 zugunsten des Rechts des Stärkeren zu verschieben – darin besteht die ,Stetigkeit‘ des Politischen, darin bestünde die ,Perfektion‘ des Politischen. Umgekehrt gesagt, ist Politik erst dort und dann ,da‘, wenn die 20% sichtbar sind, nicht vorher. Um diese 20% möchte ich mich kümmern und nicht nur die 80% und ihren Imperialismus brandmarken, ich möchte die 20% näher beleuchten, heisse dies nun Nachsinnen, Nachdenken, Politisches Denken oder Politische Theorie5 selbst. Dabei bleibt aber das Verhältnis zur Majorität, zum Politischen, den 80%, immer mitreflektiert. Ich sehe in der Politik oder in ihrem Wesen hauptsächlich das Schändliche und das Schlechte, schon immer das Hybride und Masslose, lange vor dem neuzeitlichen Politiker und seinen machiavellistischen Ränken. Das führt zurück zu den Griechen und der Frage, wann Politik den göttergehegten Bereich verlässt und autonom wird – bei Homer noch nicht. Den Mut, Politik insgesamt als sehr positiv zu bewerten, als nur positiv, abgeleitet vom Miteinanderreden, kann ich nicht aufbringen. Es scheint mir so offensichtlich, dass das Wesen der Politik nicht positiv ist und wenn schon positiv, dann, als Oxymoron, nihilismuspositiv. Dies soll aber kein Präjudiz sein, sondern nur eine Vermutung darstellen, die veri- oder falsifiziert zu werden verdient. Die beiden politischen Epochen, Neuzeit und Antike, ersinnen auf alle Fälle jeweils eigene Antworten auf den Vorwurf der Hybris und der Masslosigkeit des menschlichen Anspruchs, auf den Macherwahn. Man hat versucht, das Problem der Politik dadurch zu lösen, dass man sagt, es sei eben tragisch (antike Lösung) oder eigentlich kein Problem (moderne Lösung). Tragödie und Säkularisierung sind so gesehen unterschiedliche aber ähnliche Antworten6. Das Problem der Frömmigkeit ist aber durch die Tragiker nicht erledigt, oder anders gesagt: Man löst das Problem ja nicht dadurch, dass man es als unlösbar deklariert, als tragisch, und man löst es erst recht nicht durch die gute Miene zum bösen Spiel, durch die Aufpflanzung des guten Gewissens und den Gesprächsabbruch der Säkularisierung. Das Problem der Politik als Problem des Politischen meldet sich immer wieder zurück. Diese Dynamik zeigt sich schon in nuce dort, wo, durch Machiavelli, der grosse Verbund – lo stato – und der moderne Politiker ins Spiel kommt. 5 Dazu Ottmann, Henning: In eigener Sache: Politisches Denken. Oder: Warum der Begriff „Politisches Denken“ konkurrierenden Begriffen vorzuziehen ist (1988). Über den Unterschied von ,Nachsinnen‘, ,Nachdenken‘, ,Politischer Theorie‘ und ,Politischem Denken‘ lohnt es sich nachzusinnen. Grundsätzlich pflichte ich bei, dass die griechische Kultur als eine eminent politische Kultur viele nachsinnende, über Politik nachsinnende Bürger voraussetzt und nicht unbedingt ,Politische Theorie‘, schon gar nicht die szientifisch verkürzte, missverständliche usw. Aber erstens würde ich die Dichter, Vorsokratiker, Theologen etc. auch unter ,(Vor-)Politische Theoretiker‘ rubrifizieren und den Unterschied zwischen Nachsinnen etc. und Politischer Theorie nicht allzu gross machen, zweitens ist es immer schwierig, schon aufgrund der Quellenlage, zu entscheiden, wer wann wo wieviel nachgedacht hat und ob die Neandertaler nicht viel mehr über ihren Sippenverband nachgedacht haben als sagen wir mal Cicero. 6 Die Gemeinsamkeit zeigt aber auch den Unterschied der Kultur. Die griechische ist eben nicht säkular, unsere Kultur dafür alles andere als tragisch.

II. Steigende Nachfrage nach einer politikfreien Superlehre Was in dieser Darstellung interessiert, ist die Genese der modernen Politik, wie sie sich in den Jahrhunderten des ius publicum europaeum herausschält, moderne Politik verstanden als Meinungsstreit öffentlicher Parteiungen im Staatsverband. Dabei kann unterschieden werden zwischen einer Genese des Meinungsstreits, der Genese der Öffentlichkeit, der Genese der Parteiungen und der Genese des Staatsverbandes, wobei zu sagen sich lohnt, dass Interdependenz der jeweiligen Genese zur jeweils anderen vorliegt. Die Genese der modernen Politik ist integral begleitet von der allmählichen Internalisierung ihrer Form und Inhalte.

1. Bayle – Leibniz und die Genese des Meinungsstreits Es ist nicht einfach zu sagen, wann der Streit entsteht, der grosse Streit, der dann als Politik den Staatskörper durchdringen sollte – es ist eine alte Geschichte, deren Anfang verwittert ist und niemand mehr kennt. Dass der Streit mit der Reformation jedenfalls dauerhaft möglich wurde, ist wohl unbestritten, sich dann im Streit einzurichten und mit ihm zu leben, das ist das entstehende Bewusstsein des Bewusstseins, oder auch die Bewusstwerdung der Bewusstwerdung – bis am Ende dann der Streit und gar die Feindschaft in einer berühmten Definition das Wesen der Politischen ausmachen sollte. Dass Reformation auf Renaissance folgt, ist merkwürdig und ruft nach Klärung. Eben noch wollte der Renaissance-Mensch mit seiner politischen Klugheit das rechte Handeln im rechten Mass verwirklichen, da trat, das scheint der stetige Fortsatz zu sein, der Reformator-Mensch auf ihn zu und wollte besser handeln im besseren Mass – und im Diskurs von rechtem und besserem Mass liess sich trefflich rechten und noch trefflicher bessern – mit dem hübschen Ergebnis dreissigjähriger Kriege, welches die europäische Psyche so nachhaltig mit der Vanitasvorstellung imprägnieren sollte. Die ,Wiedergeburt‘ der Antike war eine Wiedergeburt der Antike im christlichen Kontext und so gesehen ist die Reformation keine Antithese zur Renaissance, sondern von der gleichen Liebe zur Perfektion durchdrungen, die auch die Renaissance leitet. Christliche Perfektionsphantasien, wie sie etwa in Vorstellungen der Imitatio Christi anzutreffen waren, legten sich über die antikisierte, massvolle Perfektion der Renaissance, so dass es zu der modernen Idee der nicht massvollen, sondern noch besseren Perfektion, als einer schizophrenen contradictio in adiecto, kommen konnte. Machiavelli steht in dieser Tradition, insofern mit

1. Bayle – Leibniz und die Genese des Meinungsstreits

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ihm die Professionalisierung aufkommt, vor allem die Professionalisierung der Politik hin zum ,Politik als Beruf‘ – und was ist die Professionalisierung anderes als die noch bessere Perfektion, als die Christianisierung des antiken Politikerideals? Ansonsten aber steht Machiavelli ganz singulär in der Renaissance und muss als einer der unverstandenen Wendepunkte gelten, auf die immer wieder reagiert werden musste. Die Theodizee Leibnizens ist beispielsweise diese Antwort auf die politische Krise – eine Krise, die die Kategorien machiavellischer Ratschläge und Ränke offenbar zu transzendieren scheint, bedenkt man, was Leibniz in der Theodizee nicht sagt. Was sagt Leibniz nicht?: Dass es nur richtiger Politiktechnik, dass es nur befähigter Spezialisten bedürfe, um die politischen Probleme seiner Zeit zu lösen, dass der Fürst, der König, der Souverän sich nur so und so zu verhalten habe, damit die konfessionelle Spaltung überwunden werden könne. Das sagt er nicht. Die Theodizee ist ein politisches Buch ohne jede Politik. Dabei ist es zunächst lediglich als Antwort auf den Dictionnaire historique et critique des Pierre Bayle konzipiert und konstruiert. Dieser läutet die Aufklärungsepoche ein. „In 500 untersuchten französischen Privatbibliotheken des späteren 18. Jahrhunderts war der Dictionnaire 288 vorhanden, weitaus häufiger als jedes andere Buch“1, ein Werk, das „für einen Gutteil des nächsten [sc. 18.] Jahrhunderts zur Lieblingslektüre so ziemlich jedes des Lesens mächtigen Europäers“2 wurde. Es handelt sich hier zwar um ein lemmatisiertes, alphabetisiertes Nachschlagewerk, jedoch sind die Artikel nicht enzyklopädisch3, sondern reflektieren in Fussnoten die behandelte Sache. Der Dictionnaire ist kein Lexikon, kein Nachschlagewerk, keine Enzyklopädie und behält einen Zusammenhang mit der ,Diction‘. Das dem 18. Jahrhundert zugehörige „Bayle-Trauma‘, das in der Disgregation des bisher Gewussten und Wissbaren begründet“4 liege, werde unter anderem durch die Methode erreicht, „kommentarlos Autoritätszitate aufzuführen, die sich widersprechen. Dies führt notgedrungen zur Isosthenie, zur Unentscheidbarkeit zwischen alternativen Beschreibungen historischer Sachverhalte, aber auch zwischen gegensätzlichen metaphysischen Positionen.“5 1 Mornet, Daniel: Les enseignements des bibliothèques privées (1750 – 1780). (1910), S. 449 – 492, S. 463 f.; zitiert nach Sommer, Andreas Urs: Triumph der Episode über die Universalhistorie? Pierre Bayles Geschichtsverflüssigungen (2001), S. 3. 2 Grafton, Anthony: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fussnote (1995), S. 196. 3 Sommer, ibid., S. 7 ff. 4 Sommer, ibid., S. 8. 5 Sommer, ibid., S. 31. „Zunächst bestimmt, dass das koordinierte, aber nicht mehr unter Allgemeinbegriffe subordinierte Wissen keine Sicherheiten religiöser oder metaphysischer Art mehr bietet.“ (S. 14) Will man Bayles Strategie einmal live besichtigen, genügt ein Beispiel aus der Theodizee Leibniz’: „Herr Nicole entschuldigt sie [die Ansicht der Verdammnis ungetaufter Kinder, M.S.] in seinem gegen Herrn Jorieu gerichteten Buch ,De l’Unité de l’Eglis‘ ziemlich schlecht, obgleich Herr Bayle seine Partei ergreift (Réponse aux questions du provincial, 3.Teil, Kap. 178)“ (Leibniz, Gottfried Wilhelm Friedrich: Die Theodizee von

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II. Steigende Nachfrage nach einer politikfreien Superlehre

Dem analog wird Geschichte nicht mehr übergeschichtlich, etwa heilsgeschichtlich eingebettet, sondern nebeneinandergestellt und pro „Episode“6 – nicht verallgemeinerbar, nicht übertragbar – erzählt: Aus der (christlichen) Geschichte werden die Geschichten und Geschichtchen.7 „Und auch aus den metaphysischen und religiösen Debatten entlässt Bayle seine Leser in die Ratlosigkeit – oder in die Selbstbestimmung. [ . . . ] Skepsis als Passion ist das, was Bayle nolens volens dem siècle de lumières als schwere Erbschaft hinterlassen hat. Bayles Strategie des konsequenten Sinnentzugs hat das Feld der Histoire gesäubert und verheert, aber auch für neue Sinn-Implantate anfällig gemacht.“8 Vor den Zeiten, als die Exempla in Universalgeschichte implantiert wurden, hatte es das schon einmal gegeben, etwa in der Form mittelalterlicher Heiligen-Viten, die idealtypisch episodal konzipiert sind und über ihre demonstratio sich unterirdisch immer mit dem Skeptizismus auseinandersetzen – aber sich eben immer in der Balance mit dem Glauben und der Inbrunst befinden und durch das Institut der Kirche immer gehegt sind: SinnImplantate und fauler Zauber können hier nicht eindringen, weil die Dogmen, insbesondere das Dogma der Trinität, gelten und rational verwaltet werden müssen. Bei Bayle dagegen erscheint die pyrrhonische Skepsis im Hintergrund; im Vordergrund jedoch der Journalismus – das ist die Mischung des ,Polypen‘ Bayle. Seine Grosstheorie, die einzige, die sich durch all die Fussnotenskeptizismen im gesamten Dictionnaire zieht und vom Skeptizismus merkwürdig frei zu sein scheint, ist die der Veröffentlichung von Wissen; sein Glaube ist, dass Wissen veröffentlicht werden soll und das, hier kommt sein ,Je‘ ins Spiel, nach bestem Wissen und Gewissen. Bayle ist vielleicht der Erste, der zugibt, an der News-Krankheit zu leiden: „Je vois bien que mon insatiabilité de Nouvelles est une de ces maladies der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels (franz. 1710, 1996), I., § 93, S. 347). Das ist auch Bayles Methode: unsinnige Meinungen verteidigen, aber schlecht verteidigen; Leibniz entgeht, dies als Masche zu dechiffrieren. Programmatisch heissen Bayles Reflexionen ,Pensées diverses‘, etwa bei Gelegenheit: Pensées diverses à l’occasion de la comète qui parut au mois de Décembre 1680 (darüber Sommer, S. 13 f.). Der implizite Vorwurf, aus der Isosthenie folge die „faule Vernunft“ bzw. der Türkenfatalismus (Leibniz, Theodizee, ibid., Vorwort, S. 17 f.) gilt zumindest für Bayle selber nicht – da sind sich Bayle und Leibniz schon einig, dass es um vita activa geht, vita activa jedoch verstanden als Aktionismus, als literarische Produktion und vor allem literarische Publikation. 6 Sommer, ibid., S. 36. Man ist versucht, beim Bayleschen DHC von einem Schlagwortkatalog oder von Albumblättern zu reden. Aufgrund des Faibles, das Bayle für die Episode hat, für das geschichtlich nicht übertragbare exemplum, könnte man von Kolportage sprechen, wobei Bayle mitunter der Egon Erwin Kisch des 17. Jahrhunderts und sozusagen der Erfinder der Zeitungsglossenkompilation, der Tageskommentator zu jedem Lemma, des Journalisten mit der eigenen Kolumne usw. wäre. Auch hat er etwas von Frauenzeitschriften an sich – ohne ,Letztgewissheiten’, episodal, unendlich gescheit in praktischen Tips, dogmatisch nur bei Fragen der Selbstbestimmung, auch Styling genannt, gesprächig im Mitteilen, überaus genau wenn es um Bebilderung geht und garantiert jede Woche neu. Dazu passt Bayles Zeitschrift Nouvelles de la République des Lettres. 7 auch wenn Bayle konsequent den Kollektivsingular histoire verwende, siehe Sommer, ibid., S. 39. 8 Sommer, ibid., S. 38 f.

1. Bayle – Leibniz und die Genese des Meinungsstreits

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opiniâtres, contre lesquelles tous les remedes blanchissent. Cest une Hydropisie. Plus on lui fournit et plus elle demande.“9 Bayles ,uneigentliches‘ Sprechen ist eine Art Kolumne und befindet sich auf der Ebene ,Vermischter Meinungen und Sprüche‘. „Unter Bayles kritischer Hand rückt Geschichte in die Gestaltungsmacht des Menschen – was freilich den illusionslos pessimistischen Blick auf die Moralität des Menschen mitnichten trübt. [ . . . ] Diese Tradition der ,superstition‘ ist es, deren Vernichtung sich Bayles kritische Historie auf die Fahnen geschrieben hat.“10 Es geht also gegen das ,Geheimnis des Glaubens‘, gegen die Superstition – dies ist der Feind; der Freund, das ist die Curiosité11. „Jedenfalls kündigt die Detailversessenheit eine neue Organisation des Wissens an, nämlich von der Peripherie her, von der aus Bayle schreibt und denkt. ,Marginally reappears here as a central notion.‘12 Da wird dann das Unmethodische zur Methode, ,Kompositionslosigkeit‘ zum ,Kompositionsprinzip‘13, Geschichte zur Subversion.“14 Der „esprit fort“, als den Feuerbach Bayle in seiner bahnbrechender Darstellung tituliert, „ist kein dogmatischer Skeptiker – er ist auch Skeptiker gegen den Skeptizismus“: Bayle „war in sich selbst im Widerspruch mit sich. Er heuchelte nicht den Glauben; er glaubte wirklich, aber er glaubte im Widerspruch mit sich, mit seiner Natur, seinem Geiste.“ „Seine Bedeutung ist, dass er der Philosophie Probleme aufzulösen gibt, ohne selbst die Rätsel zu lösen. Er erregt nur den Appetit zur Philosophie, aber er stillt ihn nicht.“ „Seine [Bayles, M.S.] Kunst besteht im Zertrennen; seine Arbeit ist die feinste, mühseligste Fingerarbeit“15. Bayle sei der Prototyp des wissenschaftlichen Menschen, „er ist glücklich in seiner Wissenschaft“ und der „wissenschaftliche Mensch ist ein von sich selbst freier Mensch“, einer der objektiv und „gleichgültig gegen die Schätze der Außenwelt“16 ist. Damit ist der Unter9 [„Ich sehe gut, dass meine Unersättlichkeit in bezug auf Neuigkeiten zu den Schulmeisterkrankheiten gehören, bei denen alle Heilmittel verblassen. Das ist die reine Wassersucht. Je mehr man ihr gibt, desto mehr verlangt sie.“] Bayle, Lettre 7, à Minutol, 1673, zitiert nach Feuerbach, Ludwig: Pierre Bayle. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie der Menschheit (1839, 1967), S. 357. Oder auch Lettre 88: „De toutes les occupations que je saurais prendre, c’est celle (nämlich die eines Journalisten) qui revient le mieux à mon humeur.“ [„Von allen Tätigkeiten, denen ich nachgehen könnte, ist sie es (nämlich die eines Journalisten), die meiner Natur am meisten entsprechen würde.“]. 10 Sommer, ibid., S. 29 f. 11 „La curiosité est à la fois l’une des manifestations les plus précoces et l’une des tendances maîtresses du tempérament intellectuel de Bayle“ lautet der im zweiten Band aufgeführte erste Satz der epochemachenden Darstellung von Leben und Werk Pierre Bayle, den Labrousse, Pierre Bayle, 1964 vorgelegt hat. Neuere Aufsätze zur Biographie Bayles sind zusammengetragen in Bost, Hubert (Hrsg.): Pierre Bayle, citoyen du monde. De l’enfant du Carla à l’auteur du Dictionnaire (1999), dem Primat des Biographischen jedoch zurecht ablehnend gegenüberstehend Sommer, ibid., passim. 12 Gossman, Lionel: Marginal Writing (1989), S. 381. 13 Klemperer, Victor: Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert (1954), S. 126. 14 Sommer, ibid., S. 31. 15 Feuerbach, ibid., S. 163; S. 228; S. 164; S. 242; S. 206.

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II. Steigende Nachfrage nach einer politikfreien Superlehre

schied zwischen Bayle und Feuerbach eingeebnet und die Artikel des Dictionnaire, die Feuerbach zitiert oder auf sie hinweist17, sind der Bildungsvorrat, mit dem der Junghegelianer inskünftig Theologie und Religion kritisch traktiert. Mag es Zufall sein oder nur eine günstige Gelegenheit: Auf alle Fälle interpretiert Feuerbach die Philosophie Bayles 1839 als eine subjektive und eine okkasionalistische: „Seine Philosophie ist eine Philosophie der occasion. Die wahre Darstellung ist stets der Ausdruck ihres Gegenstandes. Eine Darstellung seiner philosophischen Gedanken kann daher auch nur eine okkasionelle sein. Exempla docent.“18 Man kann es auch anders sagen: Es geht nicht mehr um Inhalte des Wissens, sondern nur noch um deren Veröffentlichung. Das ist vielleicht der Unterschied zur pyrrhonischen Skepsis19. Hatte Sextus Empiricus noch geschrieben, dass nichts 16 Feuerbach, ibid., S. 246 ff. Gegen Ende wird es bei Feuerbach, wie bei allen Skeptikern und Atheisten, emphatisch: Nach der Wissenschaftsskepsis werde es am Ende Gewinn für alle geben, auch wenn der Wissenschaftler selbst nicht profitiert. Feuerbach bemüht einen alten Topos: Post nubila Phoebus (Feuerbach, S. 251), um das stille Vergnügen des Wissenschaftlers, der am Ende doch Recht behält, mitzuteilen. Die Herkunft des Mottos ist unklar, möglicherweise handelt es sich um eine christliche Applizierung einer antiken Sentenz, zu finden etwa bei Statius in den Thebaiden, I, 105: „sedet intus abactis ferrea lux oculis, qualis per nubila Phoebes Atracia rubet arte labor“, als Zitat auch bei Boccaccio zu finden, wobei dem antiken Denken das ,post‘ nubila fremd ist und nur ein ,per‘ nubila im Bereich des Denkmöglichen liegt. Wahrscheinlich geht das Motto eine Verbindung ein zwischen antiker Sentenz und reformatorischem Geist, der durch das ,post tenebras lux‘ formuliert ist. Der erste Buchtitel in der frühen Neuzeit, der das Motto bringt, stammt übrigens von Heinrich Meibom, Post Reuter: post nubila phoebus, gedruckt zu Wolffenbüttel, durch Julium Adolphum von Söhne, 1607. 17 Eclaircissement sur les athées (Feuerbach, ibid., S. 62); Hermias (S. 68); Stilpon Rem. F.; Xenocrate Rem. F (S. 69); Navarre R. N. (S. 78); David; Sara Rem. K (Abimelech R. A., Acindynus R. B.) (S. 88); Pauliciens Rem. M (S. 131); Manichéenes Rem. D (S. 162); Pyrrhon R. C. (S. 162, S. 167); Eclaircissement sur les Pyrrhoniens (S. 170, S. 349); Selemnus Rem. A (S. 241); Hadrian VI. Rem. D (S. 263); Saint-Cyran Rem. A (S. 275); François de Assise Rem. N (S. 277); Papesse Rem R. G. und L. (S. 278); Launoi Rem. F und Q (S. 279); Ramus Rem. G (S. 281); Paraclet Rem. B (S. 282); Loyola Rem. R 5; Leon Rem. I. R. A. (S. 301); Ruggierei (S. 311); Gregor de Rimini (S. 331); Jupiter Rem. H und I; Perikles Rem. K (S. 338); Hobbes R. N. (S. 348); (Fauste) Socin Rem. N (S. 352); Macon R. C. (S. 354); Spinoza Rem. N Nr. 3 (S. 359); Averroes Rem. E (S. 360); Adamites (S. 364); Zenon (S. 371). 18 Feuerbach, ibid., S. 213. Leider hat Schmitt, der die politische Romantik untersucht und feststellt: „Die romantische Haltung wird am klarsten durch einen eigenartigen Begriff bezeichnet, den der occasio.“ (Schmitt, Carl: Politische Romantik (1919, 61998), S. 18), weder Feuerbach noch Bayle im Fokus. Natürlich darf der Occasionalismus, der sich im Dictionnaire Bahn bricht, nicht auf den Namen Malebranche verkürzt werden, wie es Mori, Gianluca: Bayle philosophe, S. 38, unter Zitation der Réponse aux question d’un provincial, „je ne suis point malebranchiste“ unterläuft. Inspiration von und Auseinandersetzung mit Malebranche und dem Malebranchismus im allgemeinen ist bei Mori, mit dem wichtigen Hinweis auf Straton, jedoch insgesamt gut aufbereitet im Kapitel 3, S. 89 – 154. 19 Was mag der Unterschied sein zwischen einem antiken Pyrrhoniker und einem modernen, sprich christianisierten? Der antike Pyrrhoniker spricht als Herr, von Sklavenhalter zu Sklavenhalter, mit Sicherheit im Bewusstsein des pater familias und seine ironische Skepsis changiert mit Macht zwischen Ironie und Skepsis. Der moderne Pyrrhoniker ist Pyrrhonist geworden, ein Nachklang des antiken Vorbildes, ein typischer Neupyrrhoniker / Neustoiker

1. Bayle – Leibniz und die Genese des Meinungsstreits

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gelehrt werden kann20 und die Ataraxie, die Seelenruhe an die Epoché, die universelle Zurückhaltung, geknüpft, so ist es um die Zurückhaltung bei Bayle, den Neoskeptizisten und den Publizierenden geschehen. Folgt man den Bayleschen Insinuationen Gott bezüglich, bleibt kein Glaube an Ihn mehr übrig, dafür um so mehr: Politik. Das Machbare ohne Prämissen. Mori spricht zurecht von der spezifisch Bayleschen Toleranz: „Bayle aboutit à une vision de la tolérance qui nest plus ni protestante ni catholique, mais strictement politique.“21 Man zieht die Güte und Weisheit und Gnade Gottes in Zweifel und öffnet das Tor für den Skeptizismus. Nun ist es nicht so, als ob durch die Herrschaft des Skeptizismus die Politiker skeptisch und Macher würden: Das sind sie ohnehin. Es ist vielmehr so, dass ihr Sosein Oberwasser bekommt; ihr schlechtes Gewissen wird nicht mehr belastet: Ihre Taten gehen der Hegung verlustig. Das Skandalon, das der Politiker sich der Politiktechnik bedient, wie sie Machiavelli empfiehlt, wird abgemildert, wenn durch das Säurebad des Skeptizismus bedingt nichts mehr als diese Politiktechnik übrigbleibt. Das ist zugleich der Zusammenhang zwischen moderner Politik und der Lizenz, den modernen Skeptizismus hier, bei der Nachzeichnung dessen, was Politik überhaupt ist, mitzubehandeln. Moderne Politik, modernes politisches Denken begreift sich durch die Sicht auf die Skepsis, auf die Verheerungen der neuzeitlich-modernen Skepsis, welche deshalb in keiner Darstellung der politischen Ideengeschichte fehlen darf. Sozialpsychologisch gesehen befand sich, von Machiavelli bis Bayle, eine Funktionsgruppe, die Principés, die Staatsmänner, die Politiker unter Rechtfertigungszwang, der wegfällt und die Frage aufs Tapet bringt – was dann? Dies ist die Quintessenz oder auch die Wirkung aus Bayles sieben theologischen und neunzehn philosophischen Sätzen, die Leibniz eine nach der anderen zu widerlegen sich anschickt.22 Es gibt einen unterirdischen Zusammenhang zwischen dem Bayleschen Pyrrhonismus und der Heraufkunft der selbstbewussten Politiker und zwar in dem Moment, in dem der Pyrrhonismus öffentlich und salonfähig wird. Für die Genese des Meinungsstreits in der modernen Politik ist dieses Moment wichtig. Um den Meinungsstreit dauerhaft zu etablieren, muss vorgängig der Skeptizismus gesiegt haben und die prinzipielle Austauschbarkeit und Nichtigkeit der Argumente in und statt skeptischer Tugend durchdringt ihn Intellektualität. Demgemäss schreit und schreibt der Neupyrrhonist hinaus, was ihm an Destruktionswürdigem so unter kommt. Der Neupyrrhoniker hat kein Geheimnis mehr und nichts hindert ihn an der Publikation. 20 „So ist z. B. das, was gelehrt wird, entweder wahr oder falsch. Wenn falsch, dann wird es wohl kaum gelehrt; denn das Falsche soll unwirklich sein, und von unwirklichen Dingen gibt es schwerlich eine Lehre. Aber auch nicht, wenn man es wahr nennt; denn dass es das Wahre nicht gibt, habe ich im Kapitel über das Kriterium gezeigt. Wenn also weder das Falsche noch das Wahre gelehrt wird und es ausserdem nichts Lehrbares gibt (denn niemand wird doch wohl behaupten, wenn diese unlehrbar sind, er lehre nur Aporien), dann wird nichts gelehrt.“ (Sextus Empiricus: Grundriss der pyrrhonischen Skepsis (1985). Drittes Buch, Kap. 27, § 253. S. 292). 21 Mori, Gianluca: Bayle philosophe, S. 8. 22 Leibniz, Theodizee, ibid., II., § 109 ff., S. 369 ff. und 379 ff.

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II. Steigende Nachfrage nach einer politikfreien Superlehre

breitere Schichten eingedrungen sein. Der Meinungsstreit zwischen Bayle und Leibniz markiert gerade die Diffundierung des skeptischen Potentials in die Breitenwirkung, da es hier darum geht, das höchste Prinzip zu verteidigen und sich nicht anders geholfen zu werden weiss, als diese Verteidigung öffentlich zu machen. Hier geht es nicht mehr um eine Diskussion in der Gelehrtenrepublik, sondern um die Besetzung der morphischen Felder, die kulturdeterminant sind. Die Bayle-LeibnizKontroverse endet mit dem Sieg des Bayleschen Skeptizismus, weil jeder zukünftige Meinungsstreit in der Öffentlichkeit ausgetragen werden muss. Weil Bayle „sowohl die Regeln guter Wissenschaft wie auch die Mängel einer schlechten“ angibt, wie Grafton zeigt, „und dabei stellte er in formeller Weise Regeln des wissenschaftlichen Verfahrens auf – eben jene Regeln, die Gibbon und Davis ein Jahrhundert später für selbstverständlich nahmen“: In dem berühmten Artikel David fordert Bayle einen M. Abbé de Choisi auf, für sein ansonsten ganz anständiges Buch doch bitteschön die Quellen offenzulegen, ob aus der Bibel, aus Josephus, aus heiliger oder profaner Quelle, „Belege hatten offensichtlich komplett und genau zu sein.“23 Jede Theorie muss ab diesem Moment durch den Skeptizismus durch, weil die Unendlichkeit der Fussnoten, der Belege und Querverweise unabschliessbar ist und Theorie ohne diese Belege, ohne diese jederzeit veröffentlichten Belege unterkomplex, unwissenschaftlich und unmöglich gemacht ist. Wenn Denker einen Blick in die Kultur werfen und philologisch nicht erhärtete Theorien anbieten, werden sie wissenschaftlich-akademisch erledigt: Das ist das Werk Bayles, das ist der Zwang zur Fussnotenhuberei. Als etwa Nietzsche einen Blick in die Kultur wirft und die Geburt der Tragödie ohne Belege und Fussnoten auskommen soll, saust umgehend das Fallbeil der Wissenschaft in Person des Henkers Wilamowitz-Moellendorff nieder und erledigt Werk und Autor. Die Beliebigkeit der wissenschaftlichen Belegstellen und ihre dem Gegenstand manchmal völlig inkommensurabele Beweiskraft wird nicht, wie sich Nietzsche mokiert, unkünftig aufgegeben, sondern mit absurden Anforderungen überfrachtet. „In der That glaube ich viel aus dem Gegensatze des Dionysischen und Apollinischen ableiten zu können. [ . . . ] Man bemüht sich der Entstehung der räthselhaftesten Dinge nahe zu kommen – und jetzt verlangt der geehrte Leser, daß das ganze Problem durch ein Zeugniß abgethan werde, wahrscheinlich aus dem Munde des Apollo selbst: oder würde eine Stelle bei Athenaeus dieselben Dienste thun?“24

Das kann natürlich dazu führen, dass die Inflation der möglichen Belege zu deren Abwertung führt und Belege schliesslich nichts mehr beweisen. Fein, würde Bayle, der Pyrrhoniker, sagen, solange Belege sind, sind Beweise überflüssig. Es müsste von daher aber nicht einzusehen sein, warum Texte nicht nur aus Fussnoten bestehen sollten. Mit diesem Argument bewaffnet verbrennen sich Bücher und Texte gleichsam von selbst, so dass das Feld der reinen Praxis überlassen werden kann, der Politik allzumal. Es ist nicht so weit von den Fussnoten zur modernen Politik – aber wie lässt sich das belegen? 23 24

Grafton, ibid., S. 199. Nietzsche an Rohde, 4. Aug. 1871, KSB, Bd. III, S. 217.

1. Bayle – Leibniz und die Genese des Meinungsstreits

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Die Leibnizsche Verteidigungsstrategie nimmt den Pyrrhonismus ernst. Dies gilt insbesondere für die Fussnoten- und Belegstellen des Bayle. Nachdem Leibniz seine Gründe entfaltet hat, dass Gott moralisch beim moralischen Übel, der Sünde, mitwirke, „ohne jedoch Urheber der Sünde und sogar ohne Mitschuldiger an ihr zu sein“25, dies jedoch von der Prämisse abhängt, dass alles im Glauben mit der Vernunft in Einklang stehe, müssen die von Bayle im Kapitel 144 seiner Réponse aux questions d’un provincial geäusserten Verdächtigungen, dass dem nicht so sei, weil er die Gründe ad absurdum führen könne, die grösste Gefahr für die Theodizee darstellen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil Leibniz die Bedingung der Möglichkeit von Publizität mit Bayle teilt: dass es ,vernünftig‘ zugehen soll und Gründe angegeben werden müssen, so aber mit ihm den Boden bereitet für den Siegeszug der Öffentlichkeit als Prinzip. Ohne Vernunft keine Publizität: deswegen Vernunft und nicht umgekehrt. Alles muss beweisbar sein: „Im ganzen jedoch dienen alle diese Begründungsversuche, bei denen man nicht unverrückbar an bestimmten Hypothesen festzuhalten braucht, nur dazu, uns begreiflich zumachen, daß es tausend Mittel gibt, das Verfahren Gottes zu rechtfertigen, und daß alle Hindernisse, die wir erkennen, und alle Schwierigkeiten, die man sich selbst entgegenhalten kann, nicht verhindern, daß man nicht der Vernunft gemäß glauben dürfte – wenn man es eben, wie wir gezeigt haben, und wie das Folgende es noch mehr zeigen wird, nicht aus Überzeugung könnte –, daß es nichts Erhabeneres gibt als Gottes Weisheit, nichts Gerechteres als seine Urteile, nichts Reineres als seine Heiligkeit und nichts Unermeßlicheres als seine Güte.“26

Der Feind, der sich hier ausmachen lässt, könnte das ,credo quia absurdum‘ sein, das Unsichtbare auch, das ,Unpassende‘, das Schweigen vor allem. Vergegenwärtigt man sich einen Moment die Stille der Weisheit, sind die Bayle-Leibnizschen Diskurse ein Mordsradau. Leibniz traktiert Bayle also mit öffentlichem Rationalismus pur – aber dadurch geraten zuerst der Rationalismus ins Gerede und dann der Pyrrhonismus in breite Schichten. Es ist pikant, dass die Theodizee „von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels“ keine entspannte und voraussetzungslose Schrift ad maiorem gloria Dei ist, sondern eine Kampfschrift gegen Bayles Skeptizismus ist. Wenn schon die Güte Gottes in den Streit hineingezogen und dem Rationalismus unterzogen wird, und zwar immer sub specie publici, ist damit zu rechnen, dass sich Meinungsstreit und Öffentlichkeit wechselseitig stützen, weil die Beweisbarkeit der Meinung von ihrer öffentlichen Beweisbarkeit abhängt. In der Öffentlichkeit wird der Meinungsstreit ausgefochten aber auch gehegt – dies ist der merkwürdige neue Gegensatz. Umgekehrt wird mit der Etablierung der Öffentlichkeit der Meinungsstreit notwendig, denn die Öffentlichkeit lechzt nach dem Meinungsstreit und würde ohne diesen vertrocknen. Solch ein guter Gott, der dieser Gott ist, wirft natürlich die Frage auf, wer denn dieser Gott ist. Dabei ist in der Forschung vertreten worden, etwa von Janke, dass 25 26

Leibniz, Theodizee, ibid., II., § 107, S. 367. Leibniz, Theodizee, ibid., I., § 106, S. 365.

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II. Steigende Nachfrage nach einer politikfreien Superlehre

die Gottesvorstellung spinozistisch angehaucht sei27, wofür sich immerhin gute Gründe finden lassen, gerade wenn die logischen, etwa mit dem Prinzip des Satzes vom zureichenden Grunde28 oder dem principium identitatis indiscernibilium aufgestellten Beweise oder die substanzmetaphysischen Spekulationen hinsichtlich der Natur Gottes den Gang der Argumentation bestimmen. Dagegen ist allerdings geltend gemacht worden29, dass der Gott bei Leibniz, jedenfalls um 1678, also nach seinem Besuch bei Spinoza, sowohl „,immanent‘ as well as ,transcendent‘ in relation to the world“30 gedacht war und damit die Person Gottes gerettet werden sollte, Gott also nicht nur Substanz und höchstes Bewusstsein, sondern auch ein, wenn auch stummer Adressat, einer für die Zwiesprache sein sollte. Gott und Mensch haben Anteil an derselben Substanz, doch geht dem Menschen der Grad an Wirklichkeit, wie sie der göttlichen Substanz eignet, anteilsmässig ab. Neben die binäre Substanzmetaphysik von Inklusion und Exklusion, von Substanz und Attribut tritt bei Leibniz jedoch das Gedankengefüge der unendlichen Graduierung, Konzentrierung, Stufung. Das Problem der Gewissheit, das nach dem Cogito Descartes’ nicht erledigt war, kann nicht mehr binär, mit einem grossen Sprung, mit einem Satz überwunden werden, sondern, Leibniz zufolge, nur noch graduell, jedenfalls im höchsten Grade. Zwischen den subjektiven Annahmen und den Wahrscheinlichkeiten, zwischen den Höchstwahrscheinlichkeiten und den Wahrheiten herrscht eine logische Struktur, die es erlaubt, mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit zu operieren. „Likewise in an outline of his planned ,Catholic Demonstrations‘ written slightly earlier, Leibniz thought it worthwhile to include, in addition to four theistic proofs of presumably stricter theoretical cogency, a ,demonstration [of the existence of God] of infinite probability, or moral certainty‘“31. Die Konjunktur der Wahrscheinlichkeit32 hält in das Denken Einzug und führt zu kasuistischen Schlüssen juristischer Ausgefuchstheit: Dass etwa Gott, wie angenommen, existiert, kann von den GegJanke, Wolfgang: Das ontologische Argument (1963), S. 259 ff. An Johann Bernoulli schreibt Leibniz 1699 (gemäss Adams, Robert: Leibniz: Determinist, Theist, Idealist (1994), S. 177), dass die Existenz Gottes und der Satz, dass sich gegenseitig Ausschliessendes nicht gleichzeitig wahr sein könne, als koinzident, als gleich angesehen werden müsse. 29 Friedmann, Georges: Leibniz et Spinoza (1962), S. 117 – 21; Parkinson, Gerald: Leibniz’s Paris Writings in Relation to Spinoza (1978); Stein, Ludwig: Leibniz und Spinoza, (1890) allerdings auch schon Kant, Immanuel: Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, Akad. XX, 302. 30 Adams, Robert: Leibniz: Determinist, Theist, Idealist (1994), S. 131. 31 Adams, ibid., S. 197 f. 32 Dazu Hacking, Ian: Emergence of Probability (1975), Kap. 15. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit eine alte skeptische, antistoische Fortifikation und schon Karneades hat die Wahrscheinlichkeit in unterschiedliche Grade aufgefächert, aber erst mit Leibniz kann man mit der Wahrscheinlichkeit auch rechnen. Die Berechenbarkeit der Wahrscheinlichkeit macht diese auch für die protestantische Welt und die Jansenisten interessant, da der verströmende Geruch jesuitischer Laxheit und Permissivität nun gewichen ist. 27 28

1. Bayle – Leibniz und die Genese des Meinungsstreits

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ner dieser Meinung nicht hinreichend entkräftet werden, ergo existiere Gott. Nach der Setzung der Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes sei die Wahrscheinlichkeit der Existenz immer etwas höher als die Unwahrscheinlichkeit der Existenz. Das Argument kann jedoch aufs Glatteis geführt und umgedreht werden. Dann würde als wahrscheinlicher gesetzt werden können, dass Gott nicht existiert. Aus dem juristischen Axiom, dass im Zweifelsfalle, bis zum Beweis des Gegenteils, dem Angeklagten geglaubt werden müsse, in dubio pro reo, ist ein theologischer Grundsatz geworden, dass erst einmal, bis zum Beweis des Gegenteils, Gott geglaubt werden müsse: in dubio pro Deo. Das macht so etwas wie einen Meinungsstreit vor Gericht, eine Verhandlung notwendig. Die Leibnizschen Gründe für die Existenz Gottes mögen stichhaltig und logisch sein, spinozistisch scheinen sie nicht zu sein, schon eher eine Portierung der unendlich annähernden Infinitesimalrechnung auf theologische Belange, schon eher ein Grenzwertbeweis der Differentialrechnung. Doch sind es nicht Applikationen der Logik, die die „Doctrine of the degrees of probability“ attraktiv gemacht haben; die Wahrscheinlichkeitsdoktrin war bereits „in Jurisprudence and Politics“33 in Gebrauch. Kein Wunder, dass dieser höchstwahrscheinliche Gott ins Gerede und in den gehegten Meinungsstreit kommt; kein Wunder, dass Wahrscheinlichkeit nicht nur zur Wahrheit skeptisch steht, sondern auch affirmativ zur Subjektivität der Meinung, einer Meinung, die sich der Gewissheit annähern und eine nach oben aufschaukelnde Reihung durchlaufen kann. Und Gott als der Höchste alles dessen, was wahrscheinlich ist, ist gleichsam der Patron der wahrscheinlich das Wahre Meinenden, der sich langsam zur Gewissheit hinaufstreitenden Meinungswahrheiten. Diese Methode scheint wirklich in Jurisprudenz und vor allem Politik in Gebrauch zu sein. Die Methode der Wahrscheinlichkeitsrechnung in theologicis erlaubt jedoch, wenn die Person statt das Prinzip Gott untersucht wird, wenn es also um Gottes Handeln geht, noch anderes. Das dürfte Bayle nicht entgangen sein. Die Wahrscheinlichkeit von Gottes Handeln liesse nämlich Rückschlüsse auf Seine Motive zu. Liesse Rückschlüsse auf Seine Politik zu. Der Bereich der Politik und der politischen Moral können aber, Bayle zufolge, Argumente gegen Gottes Güte, ja gegen Gott selber sein. Politische Dilemmata können jetzt ohne weiteres auf Gott hochgerechnet werden und Gott sozusagen angelastet werden. Bayle: „Es ist ein grosser Fehler bei den Herrschenden, wenn sie sich nicht darum kümmern, ob in ihren Staaten Unordnung vorhanden oder nicht vorhanden ist. Noch grösser ist dieser Fehler, wenn sie die Unordnung wollen und wünschen. Wenn sie auf geheimen und mittelbaren, aber untrüglichen Wegen einen Aufstand in ihrem Staat anzettelten und diese dem Untergang nahe brächten, um sich den Ruhm zu erwerben, dass sie den nötigen Mut und die nötige Klugheit besässen, ein grosses Königreich vor dem Verderben zu retten, wären sie höchst verdammenswert. Erregten sie jedoch diesen Aufstand deshalb, weil kein anderes Mittel vorhanden war, dem völligen Ruin ihrer Untertanen vorzubeugen und das Glück der Völker auf neuen Grundlagen und für mehrere Jahrhunderte sicherzustellen, so würde man die unglückliche Notwendigkeit beklagen (vgl., was S. 95, 96, 127 über die Gewalt 33

Adams, ibid., S. 199.

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II. Steigende Nachfrage nach einer politikfreien Superlehre der Notwendigkeit gesagt worden ist), in die sie versetzt waren und sie wegen des Gebrauchs loben, den sie davon gemacht haben.“34

Die politischen Taten der Fürsten, die aus purer Güte intrigant und sündig sein müssen, sind intentional nicht aufzuschlüsseln. Diese Unwägbarkeit auf eine göttliche Regierung übertragen, verunklart vollends, ob 1. nicht auch die Motive Gottes prinzipiell immer uneindeutig sind und 2. eine Parallele und Harmonie zwischen göttlichem und weltlichem Handeln jemals denkbar ist. Ist Gott zuletzt nicht selber ein Politiker? Die von Bayle nicht ausgeführte Antwort auf dieses Dilemma, die sich wohl im Rahmen der politischen Theologie bewegte, müsste auf jeden Fall die Genese von Öffentlichkeit nach sich ziehen, weil nur so das potentiell Böse einer jeden politischen Handlung der Herrschenden offenbar wird. Leibniz steigt auf die theologisch-politischen Ansinnungen Bayles nicht ein, weil er nur theodizeär argumentieren will. Er antwortet: „Dieser Satz ist wie mehrere andere der hier aufgestellten nicht auf die Regierung Gottes anwendbar. Abgesehen davon, dass es doch nur ein sehr kleiner Teil seines Reiches ist, dessen Unordnung man gegen uns geltend macht, ist es auch falsch, dass Gott sich nicht um die Übel kümmere, dass er sie wünsche, dass er sie ins Dasein rufe, um dann den Ruhm ihrer Beseitigung zu haben. Gott will die Ordnung und das Gute, aber es kommt zuweilen vor, dass das, was im Teil Unordnung im Ganzen Ordnung ist. Wir haben bereits jene Rechtsregel angeführt: Incivile est nisi tota lege inspecta judicare. Die Zulassung der Übel entspringt einer Art moralischer Notwendigkeit: Gott wird durch seine Weisheit und seine Güte dazu genötigt. Aber diese Notwendigkeit ist glücklicher Art, während die, in welcher sich nach dem obigen Satz der Fürst befindet, unglücklicher Art ist. Sein Staat ist einer der zerrüttesten; die Regierung Gottes aber ist der beste Staat, der möglich ist.“35

Leibniz gelingt das Kunststück der Theodizee und des Aufweises der Güte Gottes letztlich dadurch, dass er ihn extramundalisiert und Ihn mit seinem „besten Staat“ so fern wie möglich hält. Dieser Gott ist der beste Kreator, dessen Werk, die prästabilierte Harmonie, den Kreator vergessen macht, weil alles allezeit zugleich so rund und rund läuft – die prästabilierte Harmonie ist eigentlich eine prästabilisierte Harmonie – von Anfang an –, deren Status nie prekär werden kann und Gott nicht mehr braucht. Durch die Einbettung der Übel in den Heilsplan Gottes werde jedenfalls, Feuerbach zufolge, jede „ausserordentliche, mirakulöse, unmittelbare Handlung Gottes aufgehoben“. „Der Leibnizische Standpunkt hebt die Notwendigkeit und das Bedürfnis einer besondern, außer- und übernatürlichen Erlösung auf.“36 Der ausgetriebene Gott hat mit der Politik, speziell mit den politischen Ränken nichts mehr zu tun und soll es auch nicht haben. Verschärft gesagt: Der Staat Gottes ist so perfekt, dass Er hienieden eh nicht in Betracht kommt und sich ob seiner Perfektion in dieser Welt von selbst disqualifiziert – Gott und sein Staat werden ins Exil getrieben. „Leibniz übernahm die Widerlegung der Bayleschen 34 Bayle, Pierre: Réponse aux questions d’un Provincial (1703 [1704]), zitiert nach: Leibniz, Theodizee, ibid., II., § 128. XIII., S. 417 f. 35 Leibniz, Theodizee, ibid., II., § 128. XIII., S. 419. 36 Feuerbach, ibid., S. 323.

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Einwürfe gegen die Konformität des Glaubens mit der Vernunft. Aber Leibniz bleibt nicht bei der Klinge; er hält den theologischen Standpunkt nicht inne; er schiebt zwischen die Dogmen und Bayles Gegengründe seine eigenen Deutungen und Ideen ein. So entgegnet Leibniz, daß die Tugend nicht die einzige Qualität sei, die Gott liebe, daß des Menschen Glückseligkeit nicht sein einziger Zweck sei, daß das Universum, nicht der Mensch allein oder für sich selbst, sein Objekt sei.“37 Gott wird ein Gott für’s ganze Universum. Der Mensch rollt ins X, aus dem Gesichtskreis Gottes heraus, und Gott wird ein Gott, der mit der irdischen Politik nicht mehr korrespondieren kann, weil wir für Seinen Horizont zu winzig sind. Der epistemologische Rationalismus kommt hinzu. Zwar ist die göttliche Vernunft von derselben Natur wie die des Menschen, doch reicht unser Horizont eben nur bis zum Tellerrand. „Denn wären wir imstande, die universale Harmonie zu verstehen, würden wir einsehen, dass das, was wir zu tadeln versucht sind, mit dem Plan zusammenhängt, der der Erwählung am würdigsten war; kurzum, wir würden sehen und nicht bloss glauben, dass das, was Gott gemacht hat, das Beste ist.“38 Die Natur macht keine Sprünge39 lautet das Credo des Rationalismus, natura non facit saltus, aber dasselbe gilt für den menschlichen Verstand, der auch keine Sprünge macht und zunächst durch die Leistung der unmerklichen Perzeption von Geschmack und Geruch gekennzeichnet ist40, eine Verstandesleistung, die „die Grösse der göttlichen Vollkommenheit weit über alle Vorstellungen hinaus erhöht, die man sich je davon gemacht hat“41. Um die Probleme des Cartesianismus und des Sensualismus, also des erklärungsbedürftigen psychophysischen Parallelismus von res cogitans und res extensa oder der Willkür der Objekteinwirkungen zu vermeiden, nimmt Leibniz proleptische Anlagen im Verstand an, die in Kolonien von Monaden gestaffelt sind, so aber, dass der substanzhafte Mensch gleichzeitig aus höherwertigen, der Apperzeption (Erinnerung, Denken, Gefühl) fähigen monadischen Einheiten (Seelen) und niedrigeren, eher schlummernden Einheiten besteht. Der Dynamismus der Substanzwelt wird unterfüttert durch die durchgängige Entelechie der Monaden und ihrer Zustände, geführt bis in ihren Gipfel: der Monas monadum, die allezeit zugleich vollständig deutlich apperzipiert. Zusammengenommen lässt sich diese Metaphysik vielleicht auf die Formel bringen, dass die Welt und der Mensch unterschiedlich konzentriert sind. Dadurch wird der Unterschied zu Gott, dem Superkonzentrat, unüberwindbar und unüberbrückbar; dies ist ein Gott sans appel und prinzipiell dem Menschen unendlich fern. Ebenso fern ist eine Regierung Gottes: „ebenso ist es mit der Regierung Gottes: das, was wir hier davon überblicken können, ist nur ein Bruchstück und nicht gross genug, um die Feuerbach, ibid., S. 117 f. Leibniz, Theodizee, ibid., Abhandlung über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft, § 44., S. 139. 39 Leibniz, Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand (entstanden 1701 – 04, Erstdruck 1765, 1996), Vorwort, XXIX. 40 Leibniz, Neue Abhandlung, ibid., XXI ff. 41 Leibniz, Neue Abhandlung, ibid., XXVII. 37 38

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Schönheit und Ordnung des Ganzen daran zu erkennen“42. Da kann man mit Grotius gleich dem neuzeitlichen, politisch-naturwissenschaftlichen Grundsatz huldigen: handle, etsi Deus non daretur43. Aber dies ist die Devise des anschwellenden Meinungsstreits mit gutem Gewissen. Der Neopyrrhonismus führt also nicht zu schwindsüchtigen Hamlettypen und zur Errichtung von Handlungshemmnissen, sondern im Gegenteil zum Angriff auf Gott und zur Beseitigung von Handlungshemmnissen. Dieser Gott post Leibniz / Bayle ist durch das Stahlbad des Pyrrhonismus gegangen, so dass Er nicht anders kann, als vernünftig werden; ein vernünftiger, nicht mehr willkürlicher Gott, an dessen Stelle der Diskurs über Ihn gesetzt wird, ein Gott, der vor Seinen Übeln bewahrt wird, ein disziplinierter, umsorgter Gott, der reif wird für den Meinungsstreit der Öffentlichkeit und diese selber reif macht. Wie Raffel44 bemerkt, findet sich vor dem Singular in den Dépêches de Venise (1744) Rousseaus der Plural der opinions publiques lediglich bei Pierre Charron, Leibniz45 und Montaigne46. Es mag zwar richtig erscheinen, worauf Sommer hinweist, dass schon die nachtridentinische Kontroverstheologie den disziplinierten und diskursfähigen, ,natürlich-orthodoxen‘ und entsorgten Gott kennt47, aber das sind meines Erachtens Auswüchse Leibniz, Theodizee, ibid., II., § 134. XIX., S. 435. Ob das auf die politische Applikation des Atheismus ni Dieu ni maître hinausläuft, kann im Falle Grotius noch verneint, später dann aber nicht mehr ausgeschlossen werden. 44 Raffel, Michael: Michel de Montaigne und die Dimension der Öffentlichkeit (1985), S. 17. 45 Leibniz, Neue Abhandlungen, ibid., Buch IV, Kap. XX (Über den Irrtum), S. 660 f. Bezeichnenderweise fällt der Begriff bei Leibniz dort, wo das Dilemma für den einzelnen diskutiert wird, öffentlich Lehre zu vertreten, die dem Gewissen widerstreiten. „Et on ne voit guère d’autre moyen d’accorder les droits du public et du particulier [ . . . ] Cette opposition entre le public et le particulier et même entre les opinions publique de différent partis est un mal inévitable.“ Hier wird die öffentliche Meinung also bereits als gemacht und zwischen Parteien strittig taxiert. 46 Montaigne, Michel de: Essais, Exemplaire de Bordeaux (1580, 15882, 15953, 1998), Bd. I, Kap. XXIII, S. 64: „Platon suchte die seinerzeit verbreiteten abartigen Liebesbeziehungen mit folgendem Mittel aus der Welt zu schaffen, das er für grundlegend und massgeblich hielt: Die öffentliche Meinung [im Orig.: l’opinion publique, M.S.] müsse diese verurteilen, und die Dichter, ja alle Menschen sollten nur Erschreckendes über sie berichten . . .“ Dazu Raffel, ibid., S. 168 f. Und, anlässlich der Frage der Zitation fremder Meinungen heisst es: „Comme quelqu’un pourroit dire de moy : quej’ay seulement faict icy un amas de fleurs estrangeres, n’y ayant fourny du mien, que le filet à les lier. Certes j’ay donné à l’opinion publique, que ces parements empruntez m’accompaignent.“ Buch III, Kap. 12 (Über die Physiognomie). Die deutsche Übersetzung spricht zurecht, S. 533, vom „öffentlichen Geschmack“, weil bei Montaigne, im Gegensatz zu Leibniz, die öffentliche Meinung noch antiken Ursprungs ist und die Meinung noch abschätzend gemeint ist, statt dessen der epikureische Rückzug in den eigenen Garten gepriesen wird. Wobei einschränkend gesagt werden muss, dass die Essais Pädagogik betreiben und aus der skeptischen Sicherheit der eigenen ,Höhle‘ heraus konfessionelle Deeskalation intendiert ist. Montaigne steht als königlicher Berater auch nach seinem Rückzug aus dem Bürgermeisteramt von Bordeaux im Rampenlicht, insbesondere in der geheimen und gescheiterten Mission 1588 (darüber Lacouture, Jean: Michel de Montaigne. Ein Leben zwischen Politik und Philosophie (franz. 1996, dt. 1998), S. 294 ff.). 42 43

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des Skeptizismus, aus Montaigne verständlich, der sich pyrrhonisch gibt, aber nicht pyrrhonisch ist und sich nicht enthalten kann, christlich zu bleiben. Um den Bayleschen Pyrrhonismus zu verstehen, ist es deshalb ratsam, einen Moment auf den Unterschied von Skeptizismus und Pyrrhonismus, den Unterschied von Montaigne, Pascal und Pierre Bayle zu sehen. Montaignes Skeptizismus ist ein Pyrrhonismus, bei dem Gott nicht probabel wird, sondern um so strahlender leuchtet. Es gäbe, so Montaigne, ganz generell Gründe, viele Gründe, für und dawider, und viele Gegengründe, ebenfalls für und dawider, so dass, ganz generell, eine Zurückhaltung resultieren muss, die ihren Grund dann in Gott findet. „Je mehr wir uns Gott vertrauensvoll ausliefern, desto besser steht es mit uns. Nimm die Dinge, sagt etwa der Prediger Salomo, in der Form und Gestalt dankbar entgegen, wie sie sich dir Tag für Tag darbieten; alles andere ist dir verschlossen.“ „Der Herr kennt die Gedanken der Menschen und weiss, dass sie eitel sind.“48 Die Darstellung des Pyrrhonismus verrät zwar deutliche Sympathie, nur ist der Zweck der katholischen Pyrrhonistik, die Montaigne vor Augen hat, die Beruhigung, nämlich die Beruhigung der Konfessionsdynamik. Er ist gegen die selbstgerechte Pamphletistik der Protestanten gerichtet, gegen die anschwellende Intoleranz und Hexenverbrennungen des mit geistlichen Aufgaben überfrachteten und überforderten weltlichen Arms, gegen die Verfinsterung, Verhärtung und Versteinerung und die Unumkehrbarkeit des konfessionellen Gegensatzes, gegen die Krankheit zur Reformationitis. Montaignes Pyrrhonismus kann interpretiert werden als einfacher oder konservativer Skeptizismus, weil ihm die scharfe Spitze fehlt. Die angeblich pyrrhonistischen Produkte, Ataraxie und Meeresstille, vornehme Sophrosyne, gibt es ja bequemer, etwa in den klassischen Schulen von Stoa und Skepsis, ohne dass diese Skepsis notwendigerweise pyrrhonisch zu sein hätte. Montaigne ist viel zu vornehm und zu weise, als dass er seiner Zeit einen ätzenden Skeptizismus verordnen würde – er bleibt bei der einfachen Skepsis und kokettiert lediglich mit dem pyrrhonischen Auswuchs. „Wer immer etwas sucht, gelangt schliesslich an den Punkt, wo er entweder sagt, er habe es gefunden, oder, es lasse sich nicht finden, oder, er sei noch auf der Suche. Alle Philosophie teilt sich in diese drei Gruppen. Ihr Vorhaben zielt auf Wahrheit, Wissen und Gewissheit. Die Peripatetiker, die Epikureer, die Stoiker und andere meinten, die Wahrheit gefunden zu haben. Damit begründeten sie die Wissenschaften, die wir besitzen und die sie als gesicherte Erkenntnis behandelten. Klitomachos, Karneades und die anderen Mitglieder der Mittleren Akademie hingegen verzweifelten an der Erforschung der Wahrheit und urteilten, dass sie mit unseren Mitteln nicht zu fassen sei. Daraus schlossen sie auf die menschliche Unzulänglichkeit und Unwissenheit. Diese Schule hatte die grösste Gefolgschaft und die edelmütigsten Anhänger. 47 Das mag für etwa Charron gelten, hingegen nicht für Bellarmin, trotz aller Indulgenz, die aber wehrhaft bleibt. 48 Montaigne, Essais, ibid., Kap. II, Kap. 12 (Apologie für Raymond Sebond), S. 251.

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II. Steigende Nachfrage nach einer politikfreien Superlehre Pyrrhon und andre Skeptiker oder Epechisten [ . . . ] erklären, dass sie noch auf der Suche nach der Wahrheit seien. Ihr Urteil besagt, dass jene, die sie gefunden zu haben glauben, sich unendlich täuschten und dass sogar bei den Anhängern der zweiten Gruppe, die versichern, die Kräfte des Menschen reichten zu deren Erlangung niemals aus, eine allzu überhebliche Voreiligkeit mitspreche, denn festzustellen, inwieweit unser Vermögen ausreiche, die Schwierigkeit der Dinge zu erkennen und zu beurteilen, verlange ein grosses, ein ausserordentliches Wissen, und sie bezweifeln, dass der Mensch es je erwerben könne.“49

Man könnte meinen, Pyrrhon wäre Sokrates gewesen, der sich des Urteils enthalten habe und die Behaglichkeit aporetischen Wissens vorlebe und -lehre. Der Pyrrhonisten Gesprächstherapie scheint in der Montaigneschen Darlegung eine negative Mäeutik zu sein, die an Freundlichkeit nicht mehr zu überbieten ist. „Sagen sie zum Beispiel, alles Schwere sinke zu Boden, wären sie unglücklich, wenn man ihnen dies unbesehn glaubte; sie legen es geradezu darauf an, dass man ihnen widerspricht, weil sie zum Zweifeln und zur Urteilsenthaltung ermuntern wollen, die allein ihr Ziel sind. Sie bringen Meinungen vor, um jene Meinungen zu bekämpfen, von denen sie mutmassen, dass sie unser Credo seien. Übernehmt ihr die ihren, werden sie auf der Stelle behaupten, es gelte das Gegenteil. Ihnen ist alles eins, für sie gibt es nichts zu wählen. Falls ihr nachweist, dass der Schnee weiss ist, werden sie umgekehrt behaupten, er sei schwarz. Sagt ihr, er sei weder das eine noch das andere, entgegnen sie flugs, er sei beides. Äusserst ihr nach sicherer Erkenntnis die Überzeugung, ihr verstündet nichts von der Sache, werden sie darauf beharren, ihr tätet es doch. Selbst wenn ihr kategorisch behauptet, ihr wärt diesbezüglich im Zweifel, werden sie das bestreiten und erklären, dass ihr keineswegs im Zweifel seid oder dass ihr euern Zweifel gar nicht beurteilen, geschweige nachweisen könnt.“50 „In Streitgesprächen verschaffen sich Pyrrhonisten dadurch einen ungeheuren Vorteil, dass sie die Mühe der Verteidigung gar nicht erst auf sich nehmen. Für sie ist es belanglos, geschlagen zu werden, solange sie schlagen. Sie verstehen es, aus allem das Beste zu machen. Gewinnen sie, so hinkt offensichtlich euer Argument, gewinnt ihr, halt das ihre. Irren sie sich, bestätigen sie damit die menschliche Unwissenheit, irrt ihr euch, bestätigt ihr sie. Gelingt es ihnen zu beweisen, dass nichts wissbar ist – in Ordnung; gelingt es ihnen nicht – auch gut! Findet man in ein und derselben Sache für beide gleich gewichtige Gründe, ist es um so leichter, sich über beide des Urteils zu enthalten. Und sie machen sich stark dafür, leichter herauszufinden, warum eine Sache falsch als warum sie richtig ist; und eher zu entdecken, was es nicht gibt, als was es gibt; und was sie glauben, besser erklären zu können als was sie glauben. Ihre Redewendungen sind: ,Ich behaupte nichts.‘ – ,Es ist keineswegs eher so als so oder als weder so noch so.‘ – ,Das verstehe ich nicht.‘ – ,Nach aussen sind alle Dinge gleich.‘ – ,Man kann stets pro und kontra sprechen.‘ – ,Nichts scheint wahr, das nicht ebensogut falsch scheinen könnte.‘ – Ihr sakrosanktes Wort lautet epecho, das heisst: ,Ich enthalte mich, ich lasse mich zu keinem Urteil bewegen.‘“51 49 50 51

Montaigne, ibid., S. 249. Montaigne, ibid., S. 250. Montaigne, ibid.

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Bei so viel Freundlichkeit der Pyrrhonisten führt deren Weltwissen wohl zu einer docta ignorantia, die dem Lob der Torheit Tür und Tor zu öffnen vermag. Die klassischen christlichen Stratagemata gegen den Skeptizismus, etwa in Gestalt der theologia crucis – sie haben die skeptische Weltgewandtheit und das überlegene Wissen, wir aber haben das Kreuz – könnten hier wunderbar appliziert werden. Der Pyrrhonismus, wie ihn Montaigne präsentiert, führt zur barocken Vanitasvorstellung der menschlichen Inanität, die einen Schlussstein nötig macht, nicht zur Beliebigkeit.52 Montaignes Pyrrhonismus funktioniert mit einem überwölbenden Gott, der das Herumtoben des pyrrhonistischen Zugriffs auf die Welt bewacht und sorgsam betreut. Die Verwendung des Pyrrhonismus geschieht jedenfalls ad maiorem gloria Dei, aber damit bleibt der Pyrrhonismus grundsätzlich, und ergo seine anschwellende Gesprächigkeit gebändigt. Montaignes Philosophie hätte eine Veröffentlichung eigentlich nicht nötig. Das ist erst mit Bayles Philosophie der Fall. Erst mit dem unabgeschlossenen Pyrrhonismus à la Bayle wird der Pyrrhonismus der Grund der Tagesaktualität und grundloser Berichterstattung. Der Unterschied von einem Pyrrhonismus Montaignescher Couleur zu Baylescher Verfärbung ist der zwischen einem versöhnten und einem unversöhnten Pyrrhonismus – im Falle Bayles darf man wohl auch von einem unversöhnlichen Pyrrhonismus reden53; womit aber nicht bestritten werden soll, dass es nicht Verbindungslinien von Montaigne zu Bayle gibt54. Das gilt insbesondere deswegen, weil der durchtriebendurchdachten Kasuistik eines jeden Pyrrhonisten nicht geglaubt werden kann und der christliche Schluss Montaignes vielleicht nur ein falscher und aufgesetzter Schluss sein mag – vielleicht ist der Gott Montaignes nur ein Deus ex machina? Der Theaterdonnergott würde doch allzugut zu einem Pyrrhonisten passen. Dies bleibt bei Montaigne jedenfalls noch unausgemacht, was dann hinsichtlich Bayles nicht gesagt werden kann – hier, bei Bayle, ist alles ausgemacht und so kann Leibniz nicht die religiös zu gewinnende Meeresstille oberhalb des Pyrrhonismus dem Bayle entgegensetzen, sondern muss antidictionarisch vorgehen, mit einem geradezu unglaublichen Gott, einem Superkonzentrat und urvordenklichen Zeitgeber. In der Mitte zwischen Montaigne und Bayle steht Blaise Pascal, der nicht zufällig 1654 zum augustinisch-gnadenlosen Jansenismus konvertiert und ab 1655 52 „So bleibt nur der zwingende Schluss, dass allein Gott ist, nicht aufgrund irgendeines Zeitmasses, sondern einer unbewegten und unbeweglichen Ewigkeit, unvergänglich und unwandelbar; vor dem nichts ist und nach dem nichts sein wird (und schon gar nicht Neues und Jüngeres), sondern der als wahrhaft Seiendes mit einem einzigen Jetzt das ganze Immerdar ausfüllt. Es gibt nichts, das wirklich ist, als ihn allein“. Und so endet die Apologie für Raymond Sebond: „Nur durch unseren christlichen Glauben, nicht die stoische Tugend Senecas können wir uns das Wunder einer solchen göttlichen Wandlung [seinen eigenen Kräften völlig zu entsagen und sich dadurch über das Menschliche zu erheben, M.S.] erhoffen.“ (Montaigne, ibid., S. 300). 53 So wie sich Lübbe und sein pragmatischer Abschied vom Prinzipiellen deutlich unterscheidet von einem ,pragmatischen‘ Pyrrhonismus eines Richard Rorty. 54 Die aphoristischen Essais oder die Pensées sind natürlich zumindest in der Anlage enzyklopädisch, oder, wenn man so will, nicht missio- sondern dictionarisch.

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in Port Royal lebt (die Pensées postum 1669 / 70); der ebenfalls mit dem Pyrrhonismus kokettiert, aber in Tat und Wahrheit ein gnoseologischer Skeptiker bleibt, einer, der die stultitia lobt, um die Entscheidung zum Glauben leuchten zu lassen. Ein rational bewiesenes Christentum wäre ein schlechtes Christentum. „Wenn sie [die Christen, M.S.] diese [ihre Lehren] bewiesen, würden sie nicht Wort halten.“55 Die Kritik an Montaigne, die Pascal übt, ist die Kritik an einem äusserst pyrrhonistischen Montaigne, einem Montaigne der „zweihundertachtzig Arten des höchsten Gutes“56, den es bei Montaigne so gar nicht gibt und zunächst die Schärfe des zur Zeit Pascals möglichen und wirklichen Skeptizismus wiedergibt. Pascals Auseinandersetzung mit Montaigne ist eng, sehr eng, und eine synoptische Konkordanz von Essais und Pensées, wie sie Croquette57 darbietet, beweiskräftig. Gegen Montaigne wird aber ein Schlussstein des Zweifelns gefordert und man ist versucht, den Descartesschen Schlussstein des Cogito hier einzusetzen, nur kommt es dazu bei Pascal, der skeptisch ist und skeptisch bleibt, nicht: Selbst die ,reine‘ Mathematik kenne „nur die Definitionen, die in der Logik Nominaldefinitionen heißen, d. h. die Zuordnung eines Namens zu Dingen, die man mit bereits bekannten Begriffen klar beschrieben hat.“58 Mit illuminativer, bildlicher Einsicht können dagegen Punkte der Geometrie gesetzt werden, die ein semantisch zirkuläres System ermöglichen. Mit der naturwissenschaftlichen Methode lässt sich aber keine Gewissheit im Rahmen traditioneller theologischer Metaphysik treiben, sondern, das zeigen die Untersuchungen zum physikalischen Problem der Leere, machen einen leeren Raum denkmöglich, der angenommen werden kann, ohne dass sein Begriff weitere Aussagen über das Wesen von Licht und Nichts präjudizieren. Dem geometrischen Geist müsse sich der feinsinnige beigesellen und dem feinsinnigen der geometrische59. Das korrespondiert dem von Pascal 1647 geschriebenen Traktat Expériences nouvelles, touchant le vide, der den experimentellen Nachweis des Vakuums beschreibt und die noch antike, empedokleisch-aristotelische Vorstellung vom gotterfüllten Äther unplausibel machte – und des weiteren die jüdisch-christliche Vorstellung vom leeren gleich finsteren gleich leeren Raum in Verlegenheit stürzte: Durch das erzeugte Vakuum konnte jetzt Licht durchdringen, so dass der „leere Raum also nicht eo ipso der dunkle Raum“ sein musste. „Die Frage nach dem Licht ist damit 55 Pascal, Blaise: Gedanken über die Religion (entstanden 1656 – 1662, Erstdruck 1669 ungeordnet, 1670 Port Royal-Ausgabe, erste dt. Übersetzung 1710, Lafumas Edition 1963, dt. 1987, 21997), Nichteingeordnete Papiere, Serie II, Fragment 418 (Lafumas), (= 233 Brunschvicg, alte Zählung), S. 226. 56 Pascal, ibid., Nichteingeordnete Papiere, Serie I, Fragment 408 / 74, S. 221. 57 Croquette, Bernard: Pascal et Montaigne. Etudes des réminiscences des Essais dans l’œuvre de Pascal (1974). 58 Pascal, Blaise: De l’esprit géométrique / De l’art de persuader (1656 / 1658), zitiert nach der Übersetzung von Wasmuth (Pascal, Blaise: Die Kunst zu überzeugen und die anderen kleineren philosophischen und religiösen Schriften. Übertragen von Ewald Wasmuth (1938)) und Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Blaise Pascal (1999), S. 43. 59 Pascal, ibid., Nichteingeordnete Papiere, Serie XXII, Fragment 512 / 1, S. 324.

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aus der Frage nach der Leere ausgeschieden.“60. Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, Schöpfung und Nichts waren Gegensätze, deren Gegensätzlichkeit nun nicht mehr vollständig war, sondern ausdifferenziert wurde. Es stand nunmehr in Zweifel, dass der Schöpfungsakt göttlicher Scheidungsakt war. Der Begriff des Leeren war enttheologisiert. Der horror vacui war weg. Doch damit war für Pascal der Atheismus nicht gegeben, im Gegenteil. Pascal entdeckt vielmehr den leeren Raum, in der nach Länge, Breite und Tiefe Ausdehnung der Körper möglich ist, „woraus man erkennen wird“, so Pascal, „dass der Unterschied zwischen dem Nichts und dem leeren Raum die Mitte zwischen dem Stoff und dem Nichts einnimmt“ 61 – zwischen Nichts und Stoff sah er den Raum, auch wenn dieser hier noch nicht mit festen Schultern gegen das Nichts gestemmt sein muss. Die naturwissenschaftliche Methode ist bei Pascal also nicht atheistisch, sondern theistisch-spekulativ. Philosophische und theologische Spekulationen behalten ihr Gewicht und ihre Brisanz. Die Argumente der Pyrrhoniker etwa führten zwar zum Deus malignus, zum bösen Dämon, den auch Descartes überwinden möchte, der sich aber nicht so leicht überwinden lasse. „Die Hauptargumente der Pyrrhoniker [ . . . ] bestehen darin, dass wir keine Gewißheit über die Wahrheit dieser Prinzipien, außer dem Glauben und der Offenbarung, haben, wenn man nicht den Umstand berücksichtigt, daß wir sie von Natur aus in uns fühlen. Nun ist dieses natürliche Gefühl kein überzeugender Beweis für ihre Wahrheit, denn da wir außer dem Glauben keine Gewißheit darüber haben, ob der Mensch von einem guten Gott, von einem bösen Dämon oder planlos geschaffen wurde, ist es zweifelhaft, ob diese Prinzipien uns, unserem Ursprung entsprechend, als wahre, falsche oder ungewisse gegeben sind.“62

So scheint denn die Welt, Pascals Welt, voller Pyrrhonisten zu sein, wenn da nicht auch noch die Kirche mit ihrem Dogmatismus wäre, die Pascal nun, dialektisch, gegen den Pyrrhonismus ausspielt: „Das ist der offene Krieg zwischen den Menschen, in dem jeder Partei ergreifen und sich zwangsläufig entweder dem Dogmatismus oder dem Pyrrhonismus anschließen muß. Denn wer neutral zu bleiben vermeinte, wird zum Pyrrhoniker im wahrsten Sinne des Wortes. Solch eine Neutralität ist das Wesen dieser Sippe. Wer nicht gegen sie ist, der ist in ganz besonderer Weise für sie. Darin zeigt sich ihr Vorteil. Sie sind nicht für sich selbst, sie sind neutral, indifferent, bei allem unentschieden, ohne sich selbst auszunehmen.“

Der Dogmatismus der Kirche hält den Pyrrhonismus auf, doch ist damit Pascals eigene Position nicht bestimmt. Im Gegenteil. Pascal treibt das Dilemma zwischen Skepsis und Wahrheit, zwischen Natur und Vernunft auf die Spitze: „Man kann nicht Pyrrhoniker oder Akademiker sein, ohne die Natur zu unterdrücken, man kann nicht Dogmatist sein, ohne der Vernunft zu entsagen. Die Natur verwirrt die Pyrrhoniker (und die Akademiker), und die Vernunft verwirrt die Dogmatiker.“ Schmidt-Biggemann, ibid., S. 41. Pascal, Expériences nouvelles, touchant le vide (1647), Übersetzung von Wasmuth, S. 48, zitiert nach Schmidt-Biggemann, ibid., S. 42. 62 Pascal, ibid., Eingeordnete Papiere, 7. Widersprüche, Fragment 131 / 434 (ursprl. Zweiter Teil, erster Abschnitt), S. 87. 60 61

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Pyrrhoniker und Akademiker werden im selben Atemzug genannt und milde und scharfe Skepsis werden nicht mehr voneinander geschieden. Dahin ist es mit dem Skeptizismus in den Zeiten Pascals gekommen. Die Lösung Pascals aus diesem Dilemma ist ein dritter Weg, der den Menschen, sei er nun Dogmatiker oder Pyrrhoniker, als Menschen zurücknimmt und den Hochmut beider Parteien überwindet: „Erkenne also, du Hochmütiger, welches Paradoxon du für dich selbst bist. Demütige dich, ohnmächtige Vernunft! Schweig still, törichte Natur, erfahre, dass der Mensch unendlich über den Menschen hinausgeht, und höre von deinem Herrn, welches deine wirkliche Lage ist, die du nicht kennst. Höre auf Gott!“63

Man muss durch den Pyrrhonismus hindurch gegangen sein, ihn durchlebt und überwunden haben: „Der Pyrrhonismus ist wahr. Denn schliesslich wussten die Menschen vor Jesus Christus nicht, woran sie waren, und auch nicht, ob sie gross oder klein wären“64, so dass er der Figur der Nihilismusüberwindung bei Nietzsche sehr ähnlich sieht. In dieser Situation der Unentschiedenheit und Unentscheidbarkeit von Pyrrhonismus oder Dogmatismus solle sich der Mensch weder für sich, also den Pyrrhonismus noch für die Kirche entscheiden, sondern für Gott. Dieser jansenistisch-reformatorische Schluss ist aber in gewisser Weise kontingent und aus der Frontstellung von Pyrrhonismus und Dogmatismus erklärlich. Dabei scheint der angebliche ,Dogmatismus‘ der Kirche als Pappkamerad zu fungieren, den man zur Bändigung des Pyrrhonismus65 nötig zu haben scheint, nötig vor allem gegen die neuzeitliche, pyrrhonische Naturwissenschaft, die pomadig blasierte Naturwissenschaft, nötig gegen den Herrenzynismus der Wissenschaft, eine Wissenschaft, deren Ethos aus Skepsis durch und durch zu bestehen scheint, Skepsis vor allem gegen die Alten, Skepsis gegen das ererbte Wissen, gegen die Lehrmeinungen und Idole, aber immer gepaart mit diesem Ethos der Unverschämtheit, wenn es um die Zukunft, um die Neuerung geht. Pascal, der selber die Falsifizierung in der Wissenschaft zum universellen Programm erhebt, lebt bereits im Aeon der Instauratio Magna, des Novum Organon, welches Bacon 1620 publiziert hatte und nur hieraus ist verständlich, warum ihm der Dogmatismus der Kirche ein willkommenes antiskeptisches Argument bietet, um letztlich zum Glauben Platz zu bekommen. Im Unterschied zu Bacon kämpft Bayle aber nicht nur gegen die ,Alten‘ und auch nicht, wie Pascal, zu gleichen Teilen gegen Kirche und Pyrrhonismus, sondern gegen alle Idole generell, enzyklopädisch, gegen alles, was noch Platz böte für den Glauben. Pascal hatte, wie Montaigne, eine Publizierung seiner GePascal, ibid., S. 89 f. Pascal, ibid., Nichteingeordnete Papiere, Fragment 691 / 432, S. 384. 65 Der anmarschierende Pyrrhonismus scheint bereits zu Lebzeiten des Pascal so forsch zu sein, dass vor der Dialektik seiner umfassenden Herrschaft nur gewarnt zu werden übrig bleibt: „Nichts stärkt den Pyrrhonismus mehr, als dass es Menschen gibt, die keine Pyrrhoniker sind. Wenn alle es wären, hätten sie unrecht.“ Pascal, ibid., Eingeordnete Papiere, 2. Eitelkeit, Fragment 33 / 374, S. 45. 63 64

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danken nicht nötig gehabt, doch lebte er bereits in der Welt der anschwellenden Instauratio Magna, der über den Tod Bacons von Bacon selbst hinausprojizierten Instauratio, von der das Projekt des Skeptizismus, insbesondere des diktionarischen Projekts des Pierre Bayle ein Teil werden konnte. Die Entwicklung, die der Skeptizismus jedenfalls durchgemacht hat, ist also der einer Verschärfung, insofern man sich im Zeitalter des Pascals und des Descartes für oder gegen einen verschärften Skeptizismus, den Pyrrhonismus, entscheiden muss, aber zumindest, das ist der Unterschied zu Bayle, der die Entscheidung im Denken allen ,abnimmt‘, man noch selber entscheiden kann. Natürlich können Bayle und Leibniz schon auf eine alte Tradition der Gelehrtenrepublik zurückblicken, aber ein gelehrter Streit im Raum der Gelehrsamkeit ist hier nicht von Interesse; von Interesse ist dagegen, wie ein gelehrter Streit in den öffentlichen Raum hinausweist, intrinsisch hinausweist und nur noch durch Öffentlichkeit geführt werden kann. Bayle wendet sich durch seinen Dictionnaire an jedermann und dies mit Bedacht und als Methode – es ist für jeden was dabei und keiner wird bevorzugt, worauf Leibniz nur antworten kann mit einer Mundodizee für jedermann, die es möglichst vielen recht machen will und jeden konfessionellen und politischen Gegensatz zwingt, auf der Höhe des von Bayle und Leibniz vorgegebenen Diskurses zu argumentieren, öffentlich, gelehrt, wissenschaftlich und mit vielen Belegen zu argumentieren. Die Harmonisierung der theologischen Streitpunkte (auch mit Hilfe der prästabilierten Harmonie) bewirkt deren Entsorgung und die Verköstigung mit leichter Kost hienieden. Das führt in der Konsequenz zu der neuen Methode, die grossen Streitigkeiten dadurch zu entsorgen, dass man sie veröffentliche. Hauptsache, die Veröffentlichungschance bleibt intakt, Hauptsache, keine Sanktion droht, wenn es um Veröffentlichung geht: „Ich bedauere die tüchtigen Männer, die sich durch ihre Arbeiten und ihren Eifer Unannehmlichkeiten zuziehen.“66 Hintergrund dieser Parteinahme ist die Verdammung eines ansonsten ganz unbedeutenden Buches als „glaubensgefährlich“ 67. Dagegen richtet sich die Strategie Leibniz’. Wie unbedeutend ein Buch oder ein Autor auch sein mag, ein Index verbotener Bücher soll ein undenkbares Ding werden und allenfalls einen einzigen Eintrag aufweisen: den Index selber, der auf den Index der verbotenen Bücher gehört. Nun wird es auch möglich, auf Bücher zu verweisen, um des Verweisens willen und nicht mehr, um sie etwa zu lesen. Es entsteht ein Spinnennetz an Publiziertem, das derart vermascht wird, dass Selbstorganisation und Autonomie und subjektlose und autorlose Prozesse werden, dass der Meinungsstreit im öffentlichen Raum sein Heim und seinen Herd findet. Damit steigen Leibniz wie Bayle aus der von Machiavelli vorgezeichneten Bahn aus und wollen einen Raum jenseits der Politik, jedenfalls der Politik der Politiker, der Politik der Ränke und Ranküne, gewinnen. Es wird eine Politik gewonnen, die durch und durch Meinungsstreit sein soll, so dass der 66 67

Leibniz, Theodizee, ibid., I, § 86, S. 203. Leibniz, ibid. Die Rede ist von Thomas Bonartes’ Concordia scientiae cum fide (1659).

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,Zugang zum Machthaber‘ den Meinungsstreitenden offensteht. Ränke und Ranküne werden Teil des Meinungsstreits und der Öffentlichkeit68. Der Skeptizismus ist also in jenen Tagen eine Waffe im Kampf der Philosophen um die Meinungsmacht, gegen die Kirche gerichtet, gegen die Verbindung von Thron und Altar, gegen Zensur und Dogma, gegen Glaube und Aberglaube. Mit der Waffe des Skeptizismus und des Pyrrhonismus in der Hand tut man nach aussen ganz gelehrt, ganz vernünftig, ganz ausserpolitisch, und ist doch zur gleichen Zeit etwas ganz anderes: politisch, hochpolitisch. Es kann in der Folge zur Verbindung von Thron und Vernunft kommen, weil man nun zur Legitimationsmacht für Herrschaft aufsteigen kann und das Aufgeklärte des Absolutismus in Eigenregie bestimmt. Mit Meinungsstreit und Öffentlichkeit. Der pyrrhonische wie der rationale Ausstieg aus der Politik war also recht eigentlich ein Einstieg in sie.

2. Hobbes, das Naturrecht und die Genese des modernen Staates Und vollzieht nicht der vermeintliche Erzpolitiker Hobbes einen ähnlichen Ausstieg aus der Politik, insofern er den Staat der nur rudimentären Gewährleistung basaler Bedürfnisse skizziert, einen Staat, in der Politik entweder aufhört, weil der Leviathan sie verbietet oder sie nicht in den Blick gerät, weil der Leviathan Kommunal,politik‘ nicht beachtet? Was bei Hobbes insbesondere fehlt69, jedenfalls in 68 Übrigens ist die Publizierung der Theodizee angeregt durch Prinzessin Sophie-Charlotte (1668–1705), Tochter des Kurfürsten Ernst-August von Hannover und Frau des Kurprinzen von Brandenburg (1685), dem späteren Kurfürst Friedrich III., alsbald (1701) König Friedrich I. von Preussen. Dazu Leibniz’ Darstellung im Vorwort, S. 39 f. Man könnte dabei die Kategorie des Ausserpolitischen vielleicht auch auf die ,ausserpolitischen‘ Frauen applizieren, um zu zeigen, dass der ausserpolitische Diskurs sich ihrer bemächtigt, um in das Politikfeld zu wirken oder umgekehrt, dass sich Frauen aktiv des Ausserpolitischen bedienen, um Politik zu treiben. In der Konsequenz führt dies zu einer Potenzierung der politischen Ränke, wie sie Machiavelli nicht vorausgesehen hat. 69 Die unüberblickbar gewordene Forschungsliteratur zu Hobbes ist verschiedentlich zusammengefasst worden, jedenfalls versuchsweise, Schmitt, Carl: Die vollendete Reformation. Zu neuen Leviathan-Interpretationen (über die Bücher von Hood, Braun und Barion) zuerst in Der Staat, 4. Band, 1. Heft, S. 51 – 69 (1965), auch als Anhang in Schmitt, Carl.: Der Leviathan, ibid., S. 137 ff., unübertroffen von: Willms, Bernhard: Einige Aspekte der neueren englischen Hobbes-Literatur. (1962); dann auch Willms: Von der Vermessung des „Leviathan“. Aspekte neuerer Hobbes-Literatur (I) (1967). und Willms: Von der Vermessung des „Leviathan“. Aspekte neuerer Hobbes-Literatur (II) (1967); aber vor allem: Willms: Der Weg des Leviathan. Die Hobbes-Forschung von 1968 – 1978. (1979); und nochmals Willms: Tendenzen der gegenwärtigen Hobbes-Forschung. Hervorragend auch Angehrn, Emil: Ortsbestimmungen des Politischen. Neuere Literatur zu Thomas Hobbes (1990). Sodann Kodalle, Klaus-Michael: Carl Schmitt und die neueste Hobbes-Literatur (1971) und Schuhmann, Karl: Wege und Abwege neuer Hobbes-Literatur (1982); Weiß, Ulrich: Hobbes’ Rationalismus: Aspekte der neueren deutschen Hobbes-Rezeption (1978). Als Anthologie wichtiger Artikel zu Hobbes sehr brauchbar Thomas Hobbes: Critical Assessments (1993), auch mit den ver-

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seinem ,Commonwealth‘, ist der Streit, vor allem der Streit der Meinungen, als Ausdruck des Polemos, das, was Schmitt als Wesen des Politischen70 ausmacht. Es ist gerade dieser Feindbegriff nach innen, der bei Hobbes fehlt, ausser man würde sagen, dass für den Leviathan alle Untertanen Feinde sind, aber diese Bestimmung ist keine Unterscheidung und wäre sogar in Schmitts Sinne unpolitisch, weil dann keine Freund-Feind-Unterteilung mehr angegeben werden kann (es sei denn, die einzig übrig bleibende Feindschaft bestünde in der Feindschaft von Leviathan und Untertanen, Untertanen und Leviathan). Also fehlt im leviathanischen Staat die Politik. Die „eiserne Logik“ des Staates lässt ja keinen Raum für Diskussionen und Kritik zu. In diesem Sinne argumentieren schon z. B. Vialatoux71 und Mourgeon72. Streng genommen ist der Streit Teil des Naturzustandes; die Politik hört im Staate auf. Was dann in den Rathäusern an Auseinandersetzungen läuft, unterläuft die Sphäre des Politischen und ist hinsichtlich des Leviathans subperzeptiv. Die Frage, die M. Oakeshott, F. Tönnies, Lips, Amann, Paeschke und Höffe73 (auch) bewegte, nämlich ob Hobbes ein präliberaler oder absolutistischer (also prätotalitärer) Denker sei, ist aus dieser Perspektive gesehen müssig. Was denkt Hobbes eigentlich über Politik? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten und soll hier näherungsweise geschehen. Die Definition der politischen Vereinigung verrät vielleicht, was Hobbes unter dem Politischen verstehen könnte: dienstvollen Arbeiten von Tönnies et. al. Leider ist das spezifische Zurückschlagen der Betrachtungen des ,unpolitischen‘ Hobbes in das politische Feld, so weit ich sehe, noch nicht Gegenstand der Forschung. Was hiermit nachgeholt sei. 70 Die verschiedenen politischen Unterscheidungen reduzieren sich, gemäss Schmitt, auf den Freund-Feind-Gegensatz mit der einhergehenden verschärften Möglichkeit der existentiellen Vernichtung, wobei dieser Politikbegriff in etwa dem Polemos, dem Krieg, entspricht und so ist es kein Wunder, dass der Begriff des Polemos (insbesondere Begriff des Politischen, S. 29 mit dem Hinweis auf den Polemos bei Platon, Politeia 470 und der Möglichkeit der Feinderklärung gegen den inneren Feind, insbesondere seit dem Psephisma 410 v.Chr., aber auch, in der Folge, durch „Ächtung, des Bannes, der Proskription, Friedloslegung, hors la loi-Setzung, mit einem Wort, der innerstaatlichen Feinderklärung“, S. 47 f.) und des Polemischen (wird im Begriff des Politischen nicht umsonst insgesamt 21 Mal verwendet) den Begriff des Politischen bestimmen. 71 Vialatoux, Joseph: La cité de Hobbes: théorie de l’état totalitaire; essai sur la conception naturaliste de la civilisation (1935). 72 Mourgeon, Jacques: La science du pouvoir totalitaire dans le Léviathan de Hobbes (1963). 73 Oakeshott, Michael: Rationalism in politics, and other essays (1962, 1991); Tönnies, Ferdinand: Hobbes: Leben und Lehre (1896); Lips, Julius: Die Stellung des Thomas Hobbes zu den politischen Parteien der grossen englischen Revolution (1927); Amann, Heinz: Liberalismus und Absolutismus. Die soziale Funktion der politischen Philosophie von Hobbes und neueren Interpretationen (1971); Paeschke, Renate: Die Deduktion des Staates bei Thomas Hobbes: eine Betrachtung der Hobbesschen Staatsbegründung im „Leviathan“ und eine kritische Durchsicht ausgewählter deutschsprachiger Hobbes-Interpretationen (1989); Höffe, Otfried: Widersprüche im Leviathan. Zum Gelingen und Versagen der Hobbesschen Staatsbegründung (1981).

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II. Steigende Nachfrage nach einer politikfreien Superlehre „Of Systemes subordinate, some are Politicall, and some Private. Politicall (otherwise Called Bodies Politique, and Persons in Law,) are those, which are made by authority from the Soveraign Power of the Common-wealth.“74

Wahlweise könnten politische Vereinigungen also auch politische Körperschaften, Staatskörper oder juristische Personen genannt werden; errichtet sollen sie werden, so oder so, durch die souveräne Gewalt. Wichtiger scheint diesen Hobbesschen Korporationen die dem Souverän zu indizierende zweckdienliche Satzung zu sein als ihre institutionelle Stellung; der Souverän will wissen, was sie treiben – so wird Politik unter das Obligationenrecht subsumiert.75 Im eigentlich ,politischen‘ Feld wimmelt es aber bei Hobbes von juristischen Personen, die sich für politische Ämter instrumentalisieren liessen. Die Zeichnung der bunten Mannigfaltigkeit der politischen Korporationen enthält einen verächtlichen Touch: „The variety of Bodies Politique, is almost infinite“76, und in ihren Tätigkeiten gäbe es eine „unspeakable diversitie“, aber zum Glück „by the times, places, and numbers, subject to many limitations“.77 „Some are ordained for Government“, hebt Hobbes an, und man erwartet eine Diskussion der politischen Korporation, denen eine Regierung übertragen wird, erhält aber lediglich Fälle von Statthalterschaft; – die Korporationen scheinen zu administrieren, nicht zu herrschen, vergleichbar der Übertragung einer Provinz an den Propraetor. Das politische Leben selbst wird als für den Leviathan konspirativ und ungesetzlich abgetan: „The Leagues of Subjects [ . . . ] are in a Common-wealth [ . . . ] for the most part unnecessary, and savour of unlawful designe; and are for that cause Unlawful, and go commonly by the name Factions, or Conspiracies.“78 Es scheint auch insofern eine vollendete Reformation bei Hobbes vorzuliegen, als dass der machiavellistische Ränkeschmied, der Politiker, zu einem Querulanten und Konspirateur herabgesunken ist und die Technik der Politik vom Souverän, dem besten Politiker, der kein Politiker mehr ist, vollständig aufgesogen ist. Diesem Politikverständnis analog gibt es bei Hobbes auch eine Definition der Politik, die allerdings nur an einer, wenngleich zentralen Stelle steht. Auf der ,Schautafel des Wissens und der Wissenschaften‘ ist folgendes über den Begriff der Politik eingraviert: „Consequences from accidents of politic bodies; which is called politics, and civil philosophy“.79

Die mit Abstand am meisten verwendete Formulierung des body politic oder der bodies politic, der politischen Körperschaft, auch des Staatskörpers, wird als Terminus eingeführt, ohne den Begriff der Politik hinreichend zu explizieren; die anHobbes, Leviathan, Penguin Books (1651, 1985). II, Kapitel XXII, S. 274. Ein Grossteil des 22. Kapitels nehmen denn auch Ausführungen über privatrechtliche Haftungsfragen der politischen Korporationen ein. 76 Hobbes, ibid., II, 22. S. 279. 77 Hobbes, Leviathan, ibid. 78 Hobbes, Leviathan, ibid., S. 286. 79 Hobbes, Leviathan, Penguin Books (1651, 1985), Kap. IX, S. 149. 74 75

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deren 20 Stellen, in denen noch von politic, politics die Rede ist, setzen sich grösstenteils mit Aristoteles’ Politik auseinander80. Es mag wohl so sein, dass der Leviathan mit seiner Deutungsmacht eine Hobbessche Definition des Politischen nicht vertragen würde (und schon gar keine Freund-Feind-Definition). Insofern ist Hobbes konsequent und die Definition hinreichend offen. Wenn Politik also nur die „Consequences from accidents of politic bodies“ ist und sich die Politik gemäss der Schautafel aufspalte in zwei Bereiche, „1. Of consequences from the institution of COMMONWEALTHS, to the rights, and duties of the body politic, or sovereign“ und „2. Of consequences from the same, to the duty and right of the subjects“,

dann ist der body politic im Commonwealth identisch mit dem Souverän, der identisch mit dem Staatskörper ist, dann ist Politik tatsächlich nichts anderes als die Konsequenz des Handelns und der Ereignisse des Leviathan (und seiner Subjekte, aber vereinzelter Subjekte), dann ist aber auch der Nachweis erbracht, dass unterhalb des Leviathan Politik im strengen Sinne nicht existent sein kann. Es ist zwar ein Souverän, der nicht alles wissen muss, was vor sich geht, und nur so viel weiss, wie es „needful for it to know“81, aber wenn es um Politik, also um Deutungsmacht und ums Machen geht, wäre das etwas, was den Leviathan nicht nur interessiert, sondern etwas, das er auch selber betreiben müsste. Zwar sind es die Berater oder Minister des Leviathan, die diesen jeweils unterrichten müssen und darin könnte eine gewisse machiavellistische Kompetenz liegen, deren sich der Leviathan zu bedienen weiss82, aber worin diese notwendige Methode der Politik und worin das Studium der ,Politiques‘ konkret besteht, lässt Hobbes offen; streng genommen könnte es nötig sein, das Studium der Politik zu betreiben und Aristoteles, Machiavelli und die politische Praxis zu erlernen, aber genauso gut könnte es 80 Die folgenden Stellen sind aus der Penguin Books-Ausgabe (1651, 1985) des Leviathan extrapoliert: policy, 178, 239, 369, 420, 503, 504, 507, 508, 509, 510, 541, 575, 625 wird meist verwendet, um eine bestimmte Politik, etwa die der Römer, im Sinne einer bestimmten Richtlinie zu beschreiben, ganz ähnlich die Verwendung von politics, 111, 118, 149, 173, 211, 236, 250, 266, 267, 268, 309, 392, 409, 626, 687, 699, 700, 708, 715; politic, 81, 149, 241, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 281, 282, 283, 284, 289, 371, 526, 575, 684 in der Regel in Zusammenhang mit dem body politic (81, 149, 275, 276, 277, 279, 281, 282, 283, 284, 371; bodies politic 274, 275, 277, 278, 281) oder mit der Nennung der Aristotelischen Politik (211, 267, 687, 699, 700, 708) oder der Zusammenstellung von christlich, „ecclesiastic“ und politisch (etwa 575); political, 225, 228, 274, 290, 375, 409, 481, 631 unspezifisch verwendet; politicians, 727 werden mit dem Attribut „heathen“, heidnisch, versehen. Das heisst: Es gibt neben der ,Schautafel des Wissens‘ keine Stelle im Leviathan, die den Begriff der Politik näher erklärt. 81 Hobbes, Leviathan, Penguin Books (1651, 1985), Introduction, S. 81. 82 „Good Counsell comes not by Lot, nor by Inheritance; and therefore there is no more reason to expect good Advice from the rich, or noble, in matter of State, than in delineating the dimensions of a fortresse; unless we shall think there needs no method in the study of the Politiques, (as there does in the study of Geometry), but onely to be lookers on; which is not so. For the Politiques is the harder study of the two.“ Hobbes, Leviathan, Penguin Books (1651, 1985), XXX, S. 392.

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auch nötig sein, die resolutiv-kompositive Methode des Hobbesschen Werks zu begreifen, und das wäre sicherlich die logischere Deutung dieser Stelle, ohne dass uns Hobbes sagt, ob es denn nach dem Werk Leviathan noch nötig ist, Machiavelli zu studieren. Der Hobbessche Souverän hat jedenfalls keine Schliche und keine Verstellung nötig; an seinem Hof gibt es keine Intrigen und keine Hoffräulein – weil es aber keine Ränke gibt, gibt es auch keine Ranküne, gibt es keinen Polemos, gibt es keine Notwendigkeit für Reformen, gibt es auch keine Reformationen mehr, ist, zuletzt, der Zustand der vollendeten Reformation, das denkt der philosophische Kopf der Reformation, Hobbes, erreicht. Dabei ist interessant zu sehen, wie die neuzeitliche Konjunktur der Politik und der Wille der Theoretiker zum Ausstieg aus derselben mit Argumentarien vollzogen wird, die ausserpolitisch sind, aber permanent in die Sphäre des Politischen zurückwirken. Hobbes ist vielleicht der Erste, der das Wort von der „preterpolitical Church government in England“ (Kap. 47), vom über- oder ausserpolitischen Kirchenregiment prägt (die deutsche Übersetzung macht daraus „außerstaatlich“). Zumindest also die Vorstellung des Ausserpolitischen findet sich erstmals bei Hobbes, wenn auch nicht zentral und auch nicht wirklich begrifflich. Zudem ist das Ausserpolitische bei Hobbes kein Moment, das mit der politischen Sphäre und erst recht nicht mit dem body politic interagieren könnte. Ein Blick auf das moderne Naturrecht und seine Legitimierungsmacht zeigt aber deutlich, wie eine vermeintlich vorstaatlich-vorpolitische Ebene gleichzeitig aus der konkreten politischen Auseinandersetzung aussteigen will, aber gleichzeitig in sie einsteigt. Das Naturrecht seit Hobbes ist zur Eindämmung politischer Dynamiken und resultierender Willkür gedacht; es ist dasjenige, was übrig bleiben soll, oder übrig bleiben können soll, wenn man den Staat, seine Organe und Parteien, abzieht. Die Situation der erwachenden possessive market society, der Eigentumsmarktgesellschaft 83 muss dabei immer mitreflektiert werden, denn der Mensch der Leidenschaften wird in den Strudel des Marktes gerissen und obwohl – im Verein – Schöpfer des Marktes, unterliegt der Mensch dessen Mechanik und so ist es kein Wunder, dass die Mechanik des Naturrechts der Mechanik des Marktes korrespondiert: es begründet einen Vertrag von allen, dem jeder unterliegt. Das klassische Naturrecht ging von der Tatsache aus, dass nicht jeder jedem gleich sei und Beschränkung dem Menschen ebenso zukomme wie Freiheit.84 Auch wenn sich bei Cicero bereits eine Egalitätsvorstellung finde85, sei dies keine 83 Macpherson, Crawford: Die politische Theorie des Besitzindividualismus: von Hobbes bis Locke (1962, dt. 1973); Trevor-Roper, Hugh: The gentry: 1540 – 1640 (1953), hat verschärfend die gesamte englische Revolution als eine Adelsrevolte hingestellt, die Englands Aufstieg zum bürgerlich-imperialen Staat lediglich gestört habe und historisch zu vernachlässigen sei. Damit soll jedoch noch kein Urteil über die Richtigkeit dieser ökonomistischen Theorien abgegeben sein. 84 Strauss, ibid., S. 136. 85 In De Legibus finde sich die Prolepse des simile simili gaudet, welches eine natürliche Sozialität ausdrücke.

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Einführung des modernen egalitären Naturrechts, da es sich um eine singuläre Ansicht handele, der eine Fülle an konträren Ansichten entgegenstehe, nicht nur bei Cicero, sondern in der gesamten antiken Literatur86. Da die Distributionsgerechtigkeit sich aus der Natur selber herleitet und der natürlichste Zustand derjenige ist, in der jedem das Seinige zukommt, ist die beste Verfassung, die beste politeia, die Verwirklichung des aus der Natur ausfliessenden Rechts, das klassische Naturrecht. Das moderne Naturrecht dagegen, das „zum Teil eine Reaktion auf die Absorption des Naturrechts durch die Theologie“87 zu sein scheint, fand weder in der Natur noch in Gott etwas vor, was hinreichend als naturrechtsbegründend herhalten konnte88, schon allein, weil bei Hobbes der Mensch von Natur asozial oder unpolitisch ist89 und der durch die Instauratio Magna initiierte Skeptizismusschub der modernen (Natur-)Wissenschaft ein Auslesen der Natur der Natur verunmöglichen musste. „So war er gezwungen, darüber nachzusinnen, ob nicht das Universum für eine künstliche Insel, für eine die Wissenschaft zu schaffende Insel Platz liesse“90. Und siehe da, diese Insel der Naturrechtsbegründung, das sind wir, genauer: das bin ich, genauer: meine Vorstellung der Welt: „Die Welt unserer Gebilde ist daher die gewünschte Insel, welche dem Fluss der blinden und ziellosen Verursachung entzogen ist.“91 Natürlich ist es die Erkenntnistheorie und das Unbezweifelbare, die der ,Wissenschaft‘ des modernen Naturrechts unterliegen, als eines fundamentum inconcussum, als einer „Insel“. Es ergibt sich ein Weltbild, in dem der Beob86 Platon, Politeia 374 e 4 – 376 c 6, 485 a 4 – 487 a 5; Xenophon, Memorabilia IV. 1. 2; Hieron 7. 3; Aristoteles, Nik. Ethik 1099b 18 – 20, 1095b 10 – 13, 1197b 7 – 1180a 10, 1114a 31 – b 25; Politik 1254 a 29 – 31, 1267b 7, 1327b 18 – 39; Cicero, De legibus I. 28 – 33; De republica I. 49, 52; III. 4, 37 – 38; De finibus IV. 21, 56; V. 69; Tusk. II. 11, 13; IV. 31 – 32; V. 68; De officiis I. 105, 107; Thomas, Summa I. qu. 96, a 3 und 4. (Siehe Strauss, ibid., Fussnote 14, S. 139). 87 Strauss, ibid., S. 169. 88 Nach Willms, ibid., S. 166, Fussnote 25, sei die Arbeit von Waldmann, Theodor: Hobbes on the Generation of a Public Person (1974) die beste Darstellung der ,Geburt‘ des Leviathan. 89 Zudem nimmt Hobbes in epikureischer Tradition an, dass das Gute grundsätzlich identisch mit dem Angenehmen sei, welches eine brisante Mischung ergibt: „Wenn wir uns nicht durch vorübergehende Erscheinungen täuschen lassen wollen, dann wird uns klar, dass der politische Atheismus und der politische Hedonismus zusammengehören.“ (ibid., S. 175 f.) Und natürlich: Je skeptischer, desto verliebter in Mathematik und Logik (als letzte Überbleibsel des skeptischen Stahlbads). Die Mathematik sei „die Mutter aller Naturwissenschaften“ (ibid., S. 176, zit. Leviathan, XXXXVI, S. 438; English Works, VII, S. 346): „Die Verwirklichung der Weissheit ist identisch mit der Errichtung eines absolut verlässlichen dogmatischen Gebäudes auf der Grundlage des extremen Skeptizismus.“ (Strauss, ibid., 177). Mit ,extremem Skeptizismus‘ meint Strauss die erste Meditation des Descartes, erste These. 90 Strauss, ibid., S. 178. 91 Vgl. Hobbes, English Works, VIII, S. 179 ff., De homine (1658) X, S. 4 – 5, De cive (1642, erweitert 1647), XVIII, S. 4 und XVII, S. 28, De corpore (1655), XXV, S. 1. Diese Insel als fundamentum inconcussum einer Verbindung von ,science‘ und ,politics‘ zu sehen, komme einer „Revision seiner These“ (Willms, Bernhard: Einige Aspekte der neueren englischen Hobbes-Literatur (1962), S. 99) der grundsätzlichen Disparatheit beider Bereiche, wie sie Strauss früher (1935 / 36) verfocht, gleich.

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achter und Zuschauer der Gegebenheiten, id est der Wissenschaftler, den Grund und die Gewissheit seines Strebens in sich, in seinem Zweifeln findet und so der Mensch, nicht Gott, als ruhender Motor des einst im unbewegten Beweger fundierten Naturrechts pulsiert. Die Natur der Natur wird etwas, was im Menschen gründet. Deswegen ist dem Menschen auf den Grund zu gehen. Seine Leiden und Leidenschaften, seine Furcht und sein Tod werden naturrechtsbegründend. „Das Naturgesetz muss von der mächtigsten aller Leidenschaften abgeleitet werden“, schreibt Hobbes, d.i.: „Die mächtigste aller Leidenschaften ist die Furcht vor dem Tod, oder spezieller, die Furcht vor einem gewaltsamen Tod durch die Hände anderer“. „Der Tod nimmt den Platz des telos ein“92. Die atheistische Aggression der neuen Wissenschaft muss allerdings auch vor dem Hintergrund der englischen Revolution und dreissigjähriger Kriege, in denen das anthropomorphe Naturrecht als Fluchtpunkt fungieren kann, gelesen werden; nach der konfessionellen Entfesselung der Politik, mit dem telos des Todes vor Augen, soll aus der nunmehr ungehegten Politik ausgestiegen werden, um basale Minimalpositionen, also Ausserpolitik, zu erkämpfen. Der konfessionelle Gegensatz schien ja nicht mehr beherrschbar, weil er aus seiner Sphäre des Theologischen ausgebrochen, in die Sphäre des Politischen eingebrochen und dort nicht mehr in die theologische Sphäre zurückübersetzbar war, vielmehr die scheinbar ,höchste‘ Sphäre – die götterlose aber göttergleiche Sphäre der Politik – erreicht zu haben schien. Von jetzt an wurde immer nur mehr Politik generiert und deswegen – merkwürdig ähnlich der Position der ausserpolitischen Naturwissenschaften – die Minimalposition der staatlich-politischen Garantien. Man ist versucht zu sagen, dass hier der Staat halb apolitisch halb antipolitisch verstanden werden kann, der Staat als Gralshüter unverbriefter Freiheiten und Sicherheiten, gegen die Ansinnungen der entfesselten Politik, die sich in Bürgerkriegen austobt. Ein weiteres Moment beim Ausstieg aus der Politik kann bei Hobbes ausgemacht werden: die Machtanalyse. Und nach Hobbes und seinen Machtanalysen wird nichts mehr sein wie zuvor. „Es gibt einen Ausdruck, der in konzentrierter Form das Ergebnis der durch Hobbes verursachten Veränderung ausdrückt. Dieser Ausdruck heißt ,Macht‘“93, Macht verstanden als potentia und potestas. Die Machtanalyse ist ein Mittel, ausserpolitisch die Reihe der Bedingungen durchzugehen, bis man nicht bei etwas Nichtbedingtem, sondern etwas Bedingendem, der Spitze des Bedingten, anlangt, ohne in die Verstrickung der Parteiungen zu geraten. Fiebig betont den unpolitischen Charakter des Macht-Begriffes bei Hobbes, auch der Staatsmacht: „Aus all dem ergibt sich, dass die Macht als Zweck aller Wissenschaft von Hobbes unpolitisch gemeint ist: Es ist die Macht über die unvernünftige Natur. Und das gilt auch für den Staat als die größte politische Macht [ . . . ].“94 Die Strauss, ibid., S. 187. Strauss, ibid., S. 201. 94 Fiebig, Hans: Erkenntnis und technische Erzeugung: Hobbes’ operationale Philosophie der Wissenschaft (1973), S. 55. 92 93

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systematischen Brüche des Leviathan haben durchaus, wie Strauss zu Recht feststellt, mit der Portierung der euklidischen, „resolutiv-kompositiven“95 Methode auf die politische Theorie zu tun, wobei das wissenschaftstheoretische Methodenproblem überlagert wird durch Hobbes’ Bemühen, den Bürgerkrieg durch eine Analyse auch der menschlichen Psyche – pride and fear – zu beenden und noch mehr durch Hobbes’ Bemühen, Politik aus seinem Staat auszutreiben aber gleichzeitig in Realkoinzidenz mit dem Staat zusammenfallen zu lassen. Der Wille zum Ausstieg aus der Politik führt aber geradewegs in den Einstieg. Es geraten die Politik und die politische Philosophie eben dadurch in die Verstrikkung der Parteiungen, dass sie eine reine Machtanalyse vornehmen und an der Spitze der Macht die summa potestas ausmachen – den Souverän. Es ist kein Wunder, wenn das Ergebnis laut Strauss in der „fanatischen Starrheit“ der politischen Philosophen mündet. „Zu jener Zeit wich die vernünftige Elastizität der klassischen politischen Philosophie der fanatischen Starrheit. Der politische Philosoph konnte vom Parteigänger immer weniger unterschieden werden.“96 Die politischen Parteiungen werden jetzt eben ,machtbewusst‘ und halten nur zu gerne die summa potestas in den Händen, mit kräftiger Hilfe der Machttheoretiker; Politik wird zur philosophia prima (Willms)97, aber durchaus hinter dem Rücken von Hobbes. War der Staat von Hobbes anti- und ausserpolitisch konzipiert, ging es von seiten der Politik jetzt eben darum, den Staat in die Hand zu bekommen; der Staat wurde politisiert. Die Macht des Souveräns wurde bis ins Unermessliche gesteigert, was nicht dazu führen konnte, dass er oberhalb der entmachteten Korporationen und Interessengruppen sich dauerhaft etabliert, sondern dass er zu einer lohnenswerten Beute wird. Statt Siegel, Schwert, Szepter, Reichsapfel oder Kronjuwelen in den Händen zu halten, wird das Erringen der staatlichen Macht zum grössten Objekt der Begierde. Die Hobbessche Physik tut ihr Übriges hinzu. Als ausserpolitisches Moment, so scheint es, begründet sie doch eine Welt, in der „unkörperliche Substanzen“ so selbstwidersprüchlich wie „unkörperliche Körper“98 seien – nicht einmal Engel sind vor der Korporalisierung gefeit, und die Bibelstellen über den Geist werden Strauss, Leo: Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis (1935, 1965), S. 156 ff. Strauss, ibid., S. 199. 97 Ottmann, Henning: Hobbes: Widersprüche einer Philosophie der Macht (1992), strukturiert die Hobbes-Forschung je nach Auslegung des Prinzips der ,prima philosophia‘: 1) die Naturphilosophie als ,prima philosophia‘ (,orthodox view‘ – Greenleaf); 2) Theologie als ,prima philosophia‘: Taylor, Alfred: The Ethical Doctrine of Hobbes (1938), Warrender, Howard: The political philosophy of Hobbes: his theory of obligation (1957), u. a.; 3) Methodenlehre und Wissenschaftstheorie als ,prima philosophia‘: Röd, Wolfgang: Geometrischer Geist und Naturrecht: methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert (1970); Fiebig, Hans: Erkenntnis und technische Erzeugung: Hobbes’ operationale Philosophie der Wissenschaft (1973); Weiß, Ulrich: Das philosophische System von Thomas Hobbes (1980); 4) Politik als ,prima philosophia‘: Willms, Bernhard: Thomas Hobbes (1987); Polin, Raymond: Dieu et les hommes (1981). 98 Hobbes, Leviathan, XXXIV, S. 300. 95 96

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mit Hobbes’ Physik umgekehrt (Kap. 34). Damit korrespondiert der staatliche Mechanismus demselben Mechanismus der Bibelexegese; die (mechanische) staatliche Gerechtigkeit hat zur Voraussetzung oder zum Nebeneffekt, dass es in der Bibel keinen unkörperlichen Geist mehr gibt. Die Hobbes-Physik ist keine Kopernikus-Physik mehr, in der die Planeten und ihre ehernen Bahnen Paradigma sind, sondern die permanente Attraktion und Repulsion – diese Vorstellung auf die Politik übertragen, müsste zu einer Pluralität der politischen Körperschaften führen, die in der Folgewirkung vom Souverän nur noch mühsam gedeckelt werden kann, aber gedeckelt werden müssen. Die Hobbes-Physik ist ganz ausserpolitisch gemeint und gedacht, strahlt aber permanent, durch eine jederzeit mögliche Portierung auf politische Gruppen, auf politische ,Körper‘, mit mechanistisch zu verstehender Repulsion und Attraktion, in den politischen Raum zurück. Dies hat aber auch Konsequenzen für die Untertanen, die die Machttheoretiker lesen können und nun auch die ehemaligen Fürstenspiegel in die Hand bekommen; sie durchschauen die Parteiungen, verstehen die politisch verfasste Machtstruktur des Staates und treten in der Konsequenz selber als Parteiung auf, bis die Macht des Staates in ihren Händen ist. Wenn schon der Leviathan der einzige Feind der Untertanen ist, muss die geplante Machtergreifung solange legal kaschiert werden, bis er in ihren Händen ist, aber das kann in der Regel nicht mehr einem Souverän oder einem König allein gelingen, sondern nur noch einer Gruppe von Untertanen, am besten einer Partei. Die Konsequenz für die Schutzbefohlenen besteht darin, auf die Pflichten keine Lust mehr zu haben, denn der Machtdiskurs kennt keine Pflichten; warum auch, wenn der Halt in Gott und die Parallelität von geistlichem und weltlichem Reich, wie in Kapitel IV im einzelnen zu zeigen sein wird, ausgelaufen ist. „Wie oft bemerkt worden ist, wurden im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts die Rechte viel mehr betont, als es jemals zuvor getan worden war.“ Die moderne Politikverdrossenheit, die sich im und mit dem Liberalismus Bahn bricht, ist angelegt, angelegt im Pflichtenschwund angesichts einer götterlosen Selbstbehauptungs- und Selbstverwirklichungsgemeinschaft (und den Gesellschaftsvertrag einzuhalten, ist nicht schwer, sondern nur die letzte und erste Pflicht, wenn alle anderen Pflichten schon beseitigt sein können) – da muss man permanent von Pflicht, du erhabener Name, reden, weil es keine Pflichten aus dem Glauben mehr gibt. Will man diesen ausserpolitisch-politischen Machtdiskurs aber verankern und politisch fruchtbar machen, müssen die Machtkonkurrenten im Individuum gebannt werden. Hobbes’ Problem: „ . . . yet, because the fear of darkness and ghosts is greater than other fears.“99. Das bedeutet, dass man zuerst die Furcht vor Gott (dem ,Gespenst‘) verlieren muss, um die Furcht vor dem Tod (die sozusagen ,politische‘ Furcht, auf der das Naturrecht basiert) als primäre Furcht empfinden zu können100. Das ist dann der Sinn der Aufklärung. Furcht vor Gott austreiben und Furcht vor der eigenen Hinfälligkeit inthronisieren. Dabei darf man sich nicht von der Vorstellung 99

Hobbes, Leviathan, XXIX; English Works, IV, S. 44.

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leiten lassen, dass der mittelalterliche Mensch nicht Furcht vor seiner Endlichkeit gehabt habe; vielmehr verschiebt sich nun die Grenze der Angst: früher, in der Zeit der Ablässe, wurde gefürchtet, nach dem physischen Tod auch den seelisch-geistigen Tod zu erleiden, jetzt, mit Hobbes, wird nicht mehr der Tod zur ,Grenz‘erfahrung, hinter dem sich das Jenseits dieser Grenze entbirgt – der Tod wird selber das Ende und das Leben zur Grenze. Das mag in eine Geschichte des Barock oder auch des Manierismus eingereiht werden101, ist aber zum Lebensgefühl der Vanitas doch different, weil der Tod mit Hobbes in die politisch kalte Mechanik kommt; der Tod bei Hobbes ist nicht von der Semantik der Vergeblichkeit geprägt, sondern von Sachdienlichkeit. Es verrücken sich der Stellenwert des Todes und auch der Stellenwert des Lebens. Die Frage, was man dadurch alles gewonnen – und was verloren hat, stellt sich bei Hobbes nicht, noch nicht. Das wird dann die Erblast der Nachgeborenen. Die Neue Grenzerfahrung dürfte eigentlich mit Politik nichts zu tun haben, denn es sind private Existentialien, die hier Thema sind; in Tat und Wahrheit hängt aber die Hobbessche ,Politik‘ an diesen ausserpolitischen Existentialien – allerdings, das ist Hobbes zu konzedieren, um Politisierungsschübe zu domestizieren. Das hat aber zu der Mechanik der Möglichkeit von Politisierung durch Intrusion des Ausserpolitischen überhaupt erst geführt und zu etwas mehr: nämlich zu einer Fortschreibung dieser Mechanik hin zu einer Dialektik. Die Zurückdrängung des Politischen durch die Konzentration der politischen Dynamik in eine einzige oberste Stelle führt zu einer Extinktion des Politischen, auf die Gefahr hin, dass ausserpolitische Politik entsteht und sich breit machen kann. Der Mensch, sagt Julien Freund102, wenn verstanden als aristotelisches zoon politikon103, könne gemäss Aristoteles nicht selber, gegen und ausserhalb der Gemeinschaft, Träger von Rechten sein, so dass „eine Philosophie der Person vor Erscheinen der Werke Hobbes nicht möglich war“, und auch das moderne individuierte Subjekt, wie Willms ergänzt104, erst durch die politische Theorie Hobbes’ zu eigenen Rechten komme, ja moderne Philosophie als Philosophie des Subjekts überhaupt entstehen könne, – aber diese Ermöglichungsbedingung der modernen Philosophie ist keine praxisfreie und politiklose Metaphysik reinster Theorie, sondern dazu angemacht, vom scheinbar ausserpolitischen Subjektkern in die Politik aus- bzw. einzustrahlen. Zwischen Politik und Ausserpolitik sind Rückkoppelungseffekte möglich geworden; Dialektiken können entstehen. Die folgenden Jahrhunderte deklinieren das grosse Thema individueller Rechte, und man kann nicht mehr 100 Zu Hobbes’ Todesfurchtvorstellung Tönnies, Ferdinand: Thomas Hobbes, Leben und Lehre (1896, 31925), S. 448, und Strauss, Leo: The Political Philosophy of Hobbes, its basis and its genesis. (1936, dt. Übersetzung 1965, Gesammelte Schriften 2001), S. 15 ff., passim. 101 Schmitt, Carl: Die vollendete Reformation, in: Der Leviathan, ibid., S. 150. 102 Freund, Julien: Pouvoir et personne (1975), S. 57. 103 Während die Stellung Hobbes’ zu Aristoteles gut erforscht ist, weist Willms, Bernhard: Der Weg des Leviathan. Die Hobbes-Forschung von 1968 – 1978 (1979), S. 34, auf das Desiderat einer Studie über seine Rezeption des Nominalismus hin. 104 Willms, ibid., S. 32.

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angeben, ob diese Rechte denn nun privatistisch oder kollektivistisch, ob sie politisch oder ausserpolitisch gedacht sind; die ,List der Vernunft‘ besteht dann darin, dass sich das nicht mehr angeben lässt, weil die Kategorien durcheinandergehen, dialektisch durcheinandergehen. Hobbes kann aber, wie Villey meint105, von seiner Bedeutung als politischer Philosoph noch übertroffen werden durch seine Bedeutung als Rechtsphilosoph; er sei der Philosoph einer neuen „Configuration“ des Rechtsdenkens, nämlich der des „subjektiven Rechts‘, in der die zentrale Konzeption des modernen, des bürgerlichen Europas zu sehen ist.“106 Selbst der Leviathan wird zu einem Vorausschwimmer individueller Rechte, als „création continue des volonté individuelles“107, weil er „diese seine Existenz der Notwendigkeit verdankt, Verwirklichung, Garantie und kontinuierliche Praxis von Recht zu sein, das eben nicht anders als als individuelles aufgefasst werden kann.“108 Der Leviathan hebe das Recht des Individuums im hegelschen Sinne auf, er vermittele das Besondere in das Allgemeine, wodurch das Besondere besonders und frei bleibt. Der Übergang vom Recht zum Gesetz, vom ,droit‘ zum ,loi‘, gehe einher mit einer „mutation de la condition humaine“, schreibt Goyard-Fabre109 und je schärfer der rechtssetzende Akt des Vertrags gesehen wird, desto näher rückt man an die kalte ,Logik‘ des Leviathan, bis hin zur quasi annihilierenden Aufhebung des Rechts in das Gesetz: „la loi, donc, définit le droit“110. Dies solle nach Willms eigener Meinung „exakt der Kern“ dessen sein, „was ich [Willms, M.S.] die ,politische Definition‘ nenne“111. Der Leviathan ist kein übermächtiger Übeltäter, sondern einer, der die Aufhebung von Recht in Gesetz bewache und der „gekommen ist, um die Menschen zu retten“112, einer, der dem bien commune, dem salus populi verpflichtet sei und Verstösse gegen das zum Natur-Gesetz verwandelte Natur-Recht ahnde. Der Leviathan ist also gekommen, um uns Menschen zu retten und durch seine mechanische Logik individuelle Rechte unverbrüchlich zu machen, Recht als Recht von Individuen und damit modernes Recht überhaupt ins Werk zu setzen, doch muss sich dieses Recht die ketzerische Frage gefallen lassen: Ist dieses moderne Recht nun politisch? Oder nicht politisch? Oder ausserpolitisch? Oder beides? Sowohl als auch, weder noch? Sind die vom Leviathan begleiteten Verrechtlichungsprozesse Auswüchse einer PolitikVilley, Michel: Le droit de lindividu chez Hobbes (1969), S. 175. Willms, ibid., S. 163. 107 Villey, ibid., S. 188. 108 Willms, ibid. Ob der Hobbessche Nominalismus ein Durchhalten der Aufhebungsfigur verhindere und daher eine ,Rückkehr zu Aristoteles‘ für ein Rechtsdenken in bezug auf Freiheit notwendig sei, wie Villey ausgehend meint (Willms, S. 164), ist dann wieder im Warrender-Problem, siehe unten, angesiedelt. 109 Goyard-Fabre, Simone: Le Droit et la loi dans la philosophie de Thomas Hobbes. (1975), S. 111. 110 Goyard-Fabre, ibid., S. 139. 111 Willms, ibid., S. 166. 112 Goyard-Fabre, ibid., S. 199. 105 106

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feindschaft, damit politisch strittige Fragen aus der Politik herausgezogen werden können? Und werden diese Verrechtlichungen doch wieder nur Gemarkungen der politischen Taktik und der politischen Taktiker? Warum sind alle modernen Politiker juristisch versiert? Ist das moderne Recht des Individuums, als zunächst ausserpolitisches Recht auf alles, nicht etwas nur für schlaue Füchse, wenn das Recht auf alles durch die Gründungsleistung des Leviathan transformiert wird? Wird Recht zu etwas für einen der sein Recht kennt, der die Gesetze kennt, der ein Politiker des Rechts ist? Es scheint also auch in der grössten Leistung des Hobbes’, der Entdeckung des modernen individuellen Rechts, eine Dynamik und auch eine Dialektik zwischen Ausserpolitik und Politik ausgemacht werden zu können, die mit Hilfe des Leviathan die Interaktion von Ausserpolitik und Politik auf Dauer schaltet und die Grenzen, dann später, verschwimmen machen kann. Durch dasjenige, was dem Leviathan heilig ist, das, was nämlich Rechtssicherheit ist, kann prinzipiell alles Ausserpolitische, alles Lebensweltliche, alles Sakrale in das Politische hineingezogen werden, kann durchpolitisiert werden, und so ist der Ausstieg des Leviathan aus der Politisierung gleichzeitig ein potentieller Einstieg in die Politisierung alles Ausserpolitischen – immer unter dem Vorbehalt natürlich, dass die Politisierung nicht in die Sichtweite des Leviathan und der Gefährdung von Rechtssicherheit gerät. Die Dialektik von Schutz und Gehorsam, die zur Rechtssetzung des modernen Staates gehört, kann ja auch dazu führen, dass Schutzkonkurrenten, wie es etwa Familienväter sind, durch den Leviathan ihrer Macht beraubt werden und damit der Zusammenhang von Schutz und Gehorsam, der die Familien band, verloren geht. Die grosse pädagogische Allianz von Staat und Müttern zur Kontrolle des Virilen sorgt für die Durchdringung des rein staatlichen Schutzes in die Alltagswelt – das ist Politisierung des eigentlich Ausserpolitischen und natürlich Gift für den eigentlich ausserpolitischen Familienzusammenhalt. Es ist also nicht selbstverständlich, nachdem man den ausserpolitischen Hobbes kennengelernt hat, Hobbes, den Leviathan und Politik überhaupt mit einem Gleichheitszeichen zu versehen, wie Willms es tut: „Hobbes’ Denken ist nun allerdings so politisch, wie der Baum grün ist.“113 Für Willms liegt die Leistung des Leviathan und des Hobbes darin, „Politik als Politik“114 zu begründen. Die ausgemachte Dialektik kann ein bezeichnendes Licht auf die von Willms (bis 1979) in das Strauss-Methoden-Problem, das Warrender-VerantwortungPflicht-Problem, das Macpherson-Histomat-Problem und das Schmitt-Theologopo113 Willms, ibid., S. 38. Wie bei Ottmann, ibid., gezeigt, hegt auch Polin, ibid., ähnliche Gedanken, doch muss auch Ashcraft, Richard: Ideology and Class in Hobbes’ Political Theory (1978), dazu gerechnet werden, wenn Hobbes „in first instance“ als „politcal theorist“ (S. 27) zu sehen sei. Neben vielen anderen auch Goyard-Fabre, ibid., die aus dem Hobbes jederzeit angesonnenen „Primat des Politischen“ (S. 23) denkt. 114 Willms, Bernhard: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan (1987), S. 18, 255. Zu der Frage die konzise Buchbesprechung von Angehrn, Emil: Ortsbestimmungen des Politischen. Neuere Literatur zu Thomas Hobbes (1990), S. 7 ff., den die von Willms ausgemachte und befürwortete „Härte des Denkens“ angesichts der realen Härte des Leviathan zu Recht befremdet.

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litico-Problem rubrifizierte Hobbes-Forschung115 werfen, welche hier also kurz durchgenommen, aber anders angeeignet wird. 1) „Das Strauss-Problem besteht, kurz formuliert, in der Forderung, Hobbes’ politische Philosophie müsse unabhängig von dessen szientifischen Bemühungen um eine durchgängige Methode verstanden werden. [ . . . ] Begründet wird die These bekanntlich u. a. mit der Erscheinungsweise der Werke – De Cive vor De Corpore und De Homine –, mit der Eigenart der im Leviathan angeführten Methode der ,Introspektion‘ und mit den zu Recht berühmt gewordenen Analysen von pride und fear im Kontext klassisch-humanistischer Moralauffassung. Das ,Strauss-Problem‘ beinhaltet zugespitzt die These von einer sehr grundsätzlichen methodischen Inkonsistenz.“116 Die Inkonsistenz ergebe sich gerade, so Röd, wenn für Naturwissenschaft und Politik „identische Prinzipien“117 angegeben werden müssten, und normative Setzungen, trotz aller geometrischen Rückführungen, aller Resolutio, auf ein erstes Prinzip, immer normative Setzung, immer Compositio blieben, also das Auseinandernehmen und das Wiederzusammenbauen nicht dasselbe Produkt produziere – es bleibt eben meistens eine Schraube nach dem Zusammenschrauben oder eine Socke nach dem Waschgang übrig. Die angestrebte ,geometrische‘ Rechtsgleichheit ergebe sich aber nur, wenn die Auseinandernahme vollständig durchgeführt sei, wenn die „Negation aller positivrechtlichen Beziehungen [ . . . ] ausnahmslos gelten“ kann. Nur so lasse sich „die naturrechtliche Freiheit [ . . . ] eindeutig als Rechtsbegriff bestimm[en]“118. Solcherart entkleidet, leuchtet die Vertragskonstruktion natürlich um so leuchtender hervor, wenn es auch Röds Meinung ist, dass „Unvereinbarkeit von Sollen und Sein“119 die Einheit der resolutiv-kompositorischen Methode zum Scheitern verurteile. „Wie weit Hobbes durch diese seiner Naturrechtslehre anhaftenden Schwierigkeiten veranlaßt wurde, das natürliche bzw. moralische Gesetz zugleich als göttliches Gesetz zu bezeichnen, läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden.“120 Dieses Verdikt weitet Röd auf die „theistischen“ Äußerungen Hobbes’ im allgemeinen aus121. Gegen die „einseitige Schärfe dieser Kelsenschen juristischen Sehweise“122 beharrt Willms auf dem Primat der politischen Methode, die Willms, ibid., S. 72 – 129. Willms, ibid., S. 72. 117 Röd, ibid., S. 18. 118 Röd, ibid., S. 31 f. 119 Röd, ibid., S. 35. 120 Röd, ibid., S. 53. 121 Vgl. „Wie weit die theistischen Äusserungen des Philosophen ernst genommen werden können, wie weit somit die These von der Identifikation von natürlichem und göttlichem Gesetz als wesentlicher Bestandteil der Theorie anzusehen ist, läßt sich in Anbetracht der erwähnten Zweideutigkeit der in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe schwer entscheiden. Begreiflicherweise neigen die Vertreter der Ansicht, daß die natürlichen Gesetze echte moralische Normen sind, mehr oder weniger zur theistischen Interpretation der Hobbesschen Lex-naturalis-Lehre.“ (Röd, ibid., S. 53). 122 Willms, ibid., S. 75. 115 116

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– Kant und sein Primat des Praktischen hat es vorgemacht – sozusagen der systematische ,missing link‘ zwischen dem Ist der resolutio und dem Soll der compositio sein könnte. Nun hat man also, um das Ding wieder original zusammenzubauen, Politik nötig, kann man sich als Kommentar nicht verkneifen. Sehr gut. Bei der resolutiv-kompositorischen Methode, die mit dem Nihilismus der „Negation aller positiv-rechtlichen Beziehungen“ anbandelt und im Zusammenhang mit der anfangs erwähnten Spekulation in De Corpore steht, ist jedenfalls nicht anzugeben, ob denn diese ,Negation‘ auch die Politik oder das Politische negiert, ob es im Naturzustand überhaupt Politik gibt (denn diese scheint ja erst, wie es die Definition der Politik im Leviathan suggeriert, im Punkt der Stunde Null der Vertragsgültigkeit zu entstehen), oder ob umgekehrt der Naturzustand als Krieg aller gegen aller, die Behemoth-Situation, die Situation der Tobens der politischen Leidenschaften, der Orgasmus der Politik ist, die durch den Leviathan in eine neue Politik, eine gleichsam politiklose Politik hineindomestiziert wird? Die Untersuchung von Weiß, als Dissertation ,System und Maschine‘ von Willms besprochen und kurz danach erschienen123, nähert sich dem Kohärenzproblem nicht von einem Thema, sondern vom Kohärenzproblem selber her. Indem Hobbes die Kerngehalte des Systems als kybernetische Strukturen124 und Funktionszusammenhänge entfalte, erweise sich der anthropologische Grundansatz, die Auslegung des Menschen als des Machtwesens, zugleich als systemtheoretischer. Weiß zeichnet die Grenzen des Methodenproblems auf, wenn er zeigt, dass Hobbes’ Systemprogramm, welches Philosophie als einen axiomatisch-deduktiven Satzzusammenhang entwirft und die Ableitbarkeit von Anthropologie und Politik aus der Physik postuliert, gescheitert sei: In der Anthropologie werden Denkstrukturen kybernetischer Art eingeführt, die den mechanischen Bezugsrahmen der Physik sprenge und Theologie systemisch in Erscheinung bringen müsse. „Eine genuin theologische Hintergrunddimension relativiert und rechtfertigt das System in einem. [ . . . ] Die Erprobung von Reichweite und Grenzen des Systemdenkens geschieht im Einbringen einer theologischen Hintergrunddimension, aus welcher das System sowohl transzendiert als auch systemextern gerechtfertigt wird.“125 Die Anweisungen für eine neue Kohärenz des Hobbesschen Ansatzes werden von Weiß sub specie machinae gegeben: Wenn Hobbes den Menschen nicht mit den traditionellen Begriffen von pride and fear beschrieben hätte, sondern seine eigene machinale Kybernetik verwandt hätte, würde die ebenso machinale Kybernetik des Staates mit dem Menschen in Kohärenz stehen. „Hobbes selbst lehrt uns, seinen Menschen unter dem Aspekt der Maschine zu sehen.“126 Die Angleichung des Men123 Weiß, Ulrich: Das philosophische System von Thomas Hobbes (1980). Willms, ibid., S. 77 f. 124 „Obwohl Hobbes die kybernetische Terminologie noch nicht zur Verfügung hatte, entfaltet er das auf Machtakkumulation abzielende, an Selbsterhaltung orientierte und vernünftig gesteuerte menschliche Handeln sowie den darauf abgerichteten Funktionszusammenhang des Staates als kybernetische Systeme.“ Weiß, ibid., S. 138. 125 Weiß, ibid., Zusammenfassung.

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schen an den künstlichen machinalen Leviathan könnte systematische Defizite der Theorie überbrücken helfen, doch gehört es genauso gut in die Logik des Leviathan, dass sich eine Mittel-Zweck-Vertauschung ergeben kann: Nicht der Leviathan ist da für den Menschen und gekommen, den ,Menschen zu retten‘, sondern umgekehrt: Der Mensch solle die kybernetische Struktur des Leviathan adaptieren, um kommensurabel oder besser: kompatibel zu werden. Auch hier stellt sich die Frage: Ist das eine nur systematisch-ausserpolitische Forderung oder eine sogar hochpolitische Forderung? Oder wieder beides? Spragens stellt, gegen Strauss, das Kohärenzproblem selber in Frage, weil man in der Auswahl der inkohärenten Theoremata willkürlich verfahren könne, Spragens dagegen das Konzept von ,motion‘ als für Hobbes zentral erachtet, welches sich „radikal-revolutionär“127 zu Aristoteles verhalte, indem er substance in matter, ein anderes Paradigma, verwandele, allerdings mit Aristoteles noch den Begriff der Bewegung, ,motion‘, teile. Die Kohärenzproblematik aus Entstehungsgründen sei „von Gray argumentativ völlig geklärt“128, wobei die Explikation bei Willms fehlt. „Ebenso deutlich und mit solider und schlüssiger Argumentation hat Albritton 1976 die Einheit des systematischen Denkens Hobbes’ dargelegt, weniger freilich mit einhergehenden Einzeluntersuchungen als mit plausibler Darstellung von Hobbes’ geschlossener Intention: ,For Hobbes political science and politics are interdependent. Only a political order constructed according to a true science of politics can be durable, and for science of politics to become like Euklidean geometry, its definitions must be without competition and they must be settled.‘“129 Auch das Moment der „Introspection“, der Selbsteinsicht, die in der Einleitung des Leviathan gefordert ist und vermeintlich kein wissenschaftliches Korrelat besitzt, ist Gegenstand einer Studie, nämlich der von Missner, die zeigt, dass es nicht nur Wissenschaft und Exaktheit im Leviathan gebe, sondern auch Klugheit, allerdings, um den Leviathan an den Mann zu bringen und, didaktisch, um für ,general acceptance‘ zu werben. „Der ,Leviathan‘ sollte nicht nur esoterisch, sondern auch exoterisch wirksam werden, er sollte den Wissenschaftler ebenso überzeugen wie den politisch interessierten Laien.“ Missner: „Qualified introspection is not the only philosophically irrelevant element in the Leviathan“130. Auch die Ausflüge Hobbes’ ins geistliche Reich, also Leviathan Buch 3 und 4, könnten, Missner zufolge, als didaktische Darlegung der mit politischer Wissenschaft exakt deduzierten Wahrheiten gelten können, also quasi, würde ich sagen, die Politik des Leviathan, die Politik der politischen Theo126 Weiß, Ulrich: System und Maschine. Zur Kohärenz des Hobbesschen Denkens.– Dissertation (1974), S. 112, zitiert nach Willms, ibid., S. 77. 127 Willms, ibid., S. 81. 128 Willms, ibid., S. 82. Gray, Robert: Hobbes’s System and His Early Philosophical Views. (1978). 129 Willms, ibid., S. 82 f. Albritton, Robert: Hobbes on Political Science and Political Order (1976), S. 472. 130 Willms, ibid., S. 84. Missner, Marshall: Hobbes’s Method in Leviathan (1977), S. 620.

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rie sein. Vielleicht müsste man dieses Argument noch verstärken und die Tür zur Transzendenz, die die Formel des Jesuschristus verbürgt, in die ausserpolitisch-politische Dialektik eingebettet sehen. Laut Willms hat jedoch Jerry Weinberger bislang den überzeugendsten Versuch unternommen, die Einheitlichkeit von Hobbes’ Methodenauffassung darzulegen: Hobbes ,new rhetoric‘ wolle das alte Problem von politischer Theorie und politischer Praxis, das das durchgängige Thema von Hobbes sei, neu bestimmen, wozu ihm die exakte Methode der Naturwissenschaft, als Paradigma, da doch die Naturwissenschaft zur naturwissenschaftlichen Praxis, zur Naturbeherrschung unter Ablösung der alten Metaphysik geworden war, zupass komme, sich also politische Theorie, wenn sie exakt sein wolle, wenn sie exakt sein könne, herstellen, also machen lasse, wenn politische Theorie in die Setzung der Politik qua Souverän sich transformieren lassen könne. Das Methodenproblem löse sich, zufolge Weinberger, wenn das herstellende Weltverhältnis die Bedingung der Möglichkeit der Vereinheitlichung sei, wenn also, würde ich sagen, aus dem Problem der Einheitlichkeit die Lösung der Vereinheitlichung resultiere. „Die Einheit der Methode erfordert die Einbeziehung des Politischen in seinem nominalistischen, voluntaristischen und, wenn man will, dezisionistischen Moment.“131 Weinberger schlägt eine Brücke von der Kohärenzproblematik zum Warrender-Problem, weil auch das unscharfe politische Problem der ,Obligation‘ ein Problem sei, das auch eine Wissenschaft nicht lösen könne, aber: „it is precisely the insolubility of the problem of obligation that, for Hobbes, underscores the necessity of government itself.“132 2) Wo ist die Moral bei Hobbes, die philosophia moralis, mit der die „individuell ,vor-‘ und ,über-‘staatliche Verpflichtung anerkannt werden kann“?: Das ist das Warrender- und das liberale Problem133. Solange man die Moralphilosophie im Leviathan vergeblich suche, so Willms, sei man angewiesen auf die Bestimmungen Willms, ibid., S. 85. Willms, ibid., S. 89. Weinberger, Jerry: Hobbes’s Doctrine of Method (1975). 133 Warrender, Howard: The political philosophy of Hobbes: his theory of obligation (1957). Der Hobbesschen Bezeichnung der Naturgesetze als göttliche Gesetze folgend, verficht Warrender seine These, dass die natürlichen Gesetze nur deshalb moralisch verpflichtend seien, weil sie Befehle Gottes seien: „Thus, if the laws of nature in the State of Nature are considered as the commands of God, they may properly be regarded as laws, and it is this factor which is responsible for constituting their obligatory character.“ (S. 98) Er unterscheidet 1. the grounds of obligation, 2. the validating conditions of obligation, 3. the instruments of obligation (S. 14 ff.). Damit der Grund der Pflicht, der Wille Gottes, wirksam werde, müssen bestimmte Bedingungen, wie ,Erwachsen-‘ und ,Gesundsein‘, gegeben sein. „Validating conditions“, oder der Typ der Handlung, welcher in der Kompetenz des Souverän liegt, vergleicht Warrender mit der Rolle des Psychiaters, der Kranke wieder gesund und verantwortungsfähig macht, ohne Schöpfer der moralischen Verpflichtungen zu sein (S. 27 f.). Mit „instruments“ sind Gesetz und Vertrag gemeint: „Law is the instrument, whereby obligations are imposed upon the individual; covenant is the instrument whereby the individual takes obligations upon himself.“ (S. 28 f.) Das Warrender-Problem ist natürlich neoaristotelischen Ursprungs und wird schon von Oakeshott, Introduction to Leviathan (1946), wiederabgedruckt in Rationalism in politics (1962, 1991), S. 283 ff., diskutiert. 131 132

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der ,natural rights‘, die klar bestimmen: wer keinen Vertrag schliesst, kann auch nicht gebunden werden (Lev. Kap 16); es gibt keine Verpflichtung und keine Verantwortung des Menschen, wenn er sie nicht selber eingeht (Kap. 21). Barry hat in seinem Beitrag klar gemacht, dass sich das Warrender-Problem von der Warte der Obligation, wie sie im Leviathan definiert sei, nicht stelle und Willms ist sogar der „Meinung, dass die Kritiker den entscheidenden Fehler schon machten, indem sie Warrender in der Fragestellung folgten und sich wie er auf die Suche nach Hobbesscher Moralphilosophie begaben“134, so beispielsweise Terence Ackerman135. Der Vertrag ersetze eben die Moral, das gelte es zu sehen. Parry spricht davon, dass „political obligation arises, for Hobbes, from the nature of the contract“136. Campbell sieht die Struktur von Hobbes’ politischem Argument in der Aufhebung der moral obligation in die political obligation137 und Willms möchte mit Weinberger feststellen, dass gerade die Unlösbarkeit der moralischen Problematik die politische Lösung unausweichlich macht. „Damit wäre eine ,dialektische Konsistenz‘ erreichbar, die offenbar auch G.B. Herbert (1976a) vorschwebt.“138 Das WarrenderProblem soll sich zu einer Frage der Vertraglichkeit des Gesellschaftszustandes verschieben, weswegen die Detailanalyse der Zeitlichkeit und der Dauer des Vertrags, die Beackon und Reeve139 untersuchen, gelobt zu werden beanspruchen müsse, so Willms. Die Zukünftigkeit der Individuen, ihre Freiheit, ihr Recht auf alles, ihre Angst vor dem Tod, findet sich wieder in der „zeitlichen Ausdehnung kontraktueller Vereinbarungen“140, und zwar im Vertrag, den man mit sich selbst hat, als self-preservation, genau wie im Übertragungsvertrag, der auf dem Vertrag, den man mit sich selber hat, gründet, so dass das Zirkelargument, wonach der Unterwerfungsvertrag den Konsens voraussetze, den er selbst erst begründen solle, entschärft oder sogar ausgeräumt sei. Dabei werde erwiesen, dass die Hobbessche Vorstellung vom Vertrag der zeitgenössischen in etwa entsprochen habe und die hermeneutischen Einwände Skinners, der Textarbeit ohne Kontextarbeit für überflüssig hält, eingearbeitet seien. Das Verantwortungsproblem ist also dem Kohärenzproblem analog. 3) Das Macpherson-Problem verschärft die Skinnersche Forderung nach Kontextforschung und gewichtet den Kontext sogar stärker als den Text, begreift den Kontext als für den Text autoritativ. Dabei hat Julien Freund gezeigt, dass es unerheblich ist, ob Macpherson und seine Argumentation nun marxistisch sei oder Willms, ibid., S. 91. Barry, Brian: Warrender and His Critics (1968). Ackerman, Terrence: Two Concepts of Moral Goodness in Hobbes’s Ethics (1976). 136 Willms, ibid., S. 92; S. 96. Parry, Geraint: Performative Utterances and Obligation in Hobbes (1967), S. 246. 137 Campbell, Blair: Prescription and Description in Political Thought: The Case for Hobbes (1971), S. 376. 138 Willms, ibid., S. 102. Herbert, Gary: Thomas Hobbes’s Dialectic of Desire (1976). 139 Willms, ibid., S. 95 f. Beackon, Steve / Reeve, Andrew: The Benefits of Reasonable Conduct. The Leviathan Theory of Obligation (1976). 140 Willms, ibid., S. 95. 134 135

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nicht141. Für die Behandlung Hobbes’ als eines Denkers des 17. Jahrhunderts ist der Behemoth die herausragende Quelle und nach Ansicht der meisten Forscher ein Prolegomenon des Leviathan. „Ashcraft stellt nun ausführlich dar, wie Hobbes im ,Behemoth‘ die Ursachen für den Bürgerkrieg identifiziert und zwar unter dem Gesichtspunkt der Verbindung zwischen der ideologisch-revolutionären Rhetorik und den ökonomischen Interessen der City. (42 ff.) Er zeigt, wie Hobbes das Problem der gesellschaftlichen Dissoziation unter dem Begriff der ,faction‘ behandelt. [ . . . ] Hobbes verachtete die City, aber er war deshalb keineswegs ein mit Aristokraten sympathisierender Reaktionär.“142 Die Reduktion des Hobbesschen ,striving after power‘ auf ,Güter‘ und ,Eigentum‘143 führt bei Macpherson zu einer ,Behandlung‘ Hobbes’ und Lockes im selben Kapitel – mit Überbau-Unterbau-Holzschnitten und überall gewitterten ,Agenten‘. Dennoch gibt es Systematiken im Leviathan, die aus dem Wirtschaftsleben importiert zu sein scheinen. Es gibt ja nicht nur die politische Philosophie, die das moderne freie Individuum ermöglicht, sondern auch noch ehemalig mystische, bzw. in der Terminologie Hobbes „artificial“, „feigned“ persons, von denen der Leviathan der ranghöchste ist. Auf dem Grund der Hobbesschen politischen Philosophie west nicht das Individuum als irreduzibele Einheit, sondern die Person, die Träger ist144. Diese Trägerschaft findet ihre Freund, Julien: Marxisme et XVIIe siècle ou les limites de l’interprétation marxiste (1972). 142 Willms, ibid., S. 149 f., paraphrasiert Ashcraft, Richard: Ideology and Class in Hobbes’ Political Theory (1978), ibid. 143 Willms, ibid., S. 104. 144 Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (1995, ausgezeichnet übersetzt 2002), hält das nackte, blosse Leben für den Träger eines Rechtstitels, wie er in der Habeas Corpus-Akte referenziert sei. „Die großartige Metapher des Leviathan, dessen Körper aus sämtlichen Körpern der einzelnen geformt ist, muß in diesem Licht gelesen werden. Es sind die absolut tötbaren Körper der Untertanen gewesen, die den neuen politischen Körper des Abendlandes bilden.“ (S. 134) Das ist falsch. Die auf dem Titelblatt des Leviathan sichtbaren und den Staatskörper ausmachenden Untertanen sind nicht nackt, sondern bekleidet; Mann und Frau stehen da in vollem Staat, die Frauen geputzt und gestriegelt, die Männer mit Hut. Und die Körper sind für Hobbes zunächst ein universales Prinzip: „For the universe, being the aggregate of all bodies, there is no real part thereof that is not also body; nor anything properly a body that is not also part of that aggregate of all bodies, the universe“ (Leviathan, Penguin Books (1651, 1985), Kap. XXXIV, S. 428), aber dann vor allem ein Rechtsraum ausschliesslich der Person und in den Staat nur unter dem Vorbehalt der Selbsterhaltung, der Nichttötung, eingebracht „a right of nature to preserve his own body“ (Leviathan, Review and Conclusion, ibid., S. 718). Hobbes vermeidet den Begriff des natürlichen Körpers, des body natural, geradezu ängstlich und die 12 Stellen, an denen er vorkommt, vergleichen den body natural ausgerechnet mit dem Leviathan. Der eigene Körper verbleibt ausschliesslich bei der eigenen Person und tritt nicht in den ,politischen Körper des Abendlandes‘. Und auch wenn das Kapitel ,Punishments, and Rewards‘ (Kap. XXVIII) Enthauptung und Folter vorsieht, ist das, als Strafe, die Ausnahme und immer an den Rechtsgrundsatz nulla poena sine lege geknüpft. Nur wenn Gesetze explizit erlassen werden, die Folter vorsehen, kann sie vom Staats wegen ausgeübt werden, ansonsten ist sie verboten und der Körper dem Souverän entzogen. Die Nacktheit des Körpers ergibt sich meines Erachtens an einer ganz anderen Stelle: Wenn dem Menschen seine Jenseitigkeit genommen ist, wird 141

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Entsprechung in privatrechtlichen, obligationenrechtlichen Vorstellungen etwa juristischer oder ,politischer‘ Personen (schon in De Homine, Kap. XV) und ermöglicht so etwas wie Übertragung unter Beibehaltung einer nichtübertragbaren Eigenschaft. Der Weg vom Subjekt zur Person, die Personenhaftigkeit des Subjekts kann nicht tangiert, kann nicht lädiert werden, doch stellt sich eben die Frage, ob diese Begründung nicht auch am Subjekt direkt hätte angebracht werden können. Die Übertragbarkeit von ,Autorität‘ setzt den „Staat mit bürgerlicher Regierung“ voraus, denn „vorher gibt es kein Herrschaftsrecht über Personen“145. An der Schnittstelle zwischen Buch I, das den Menschen untersucht und dem Staat, Thema von Buch II, steht das Kapitel XVI mit seiner Lehre von der Vertretung, den „things personated“. Schon ganz zu Anfang des Leviathan findet sich das Attribut des Artifiziellen bei der Kennzeichnung des Leviathan. „For by Art is created that great LEVIATHAN, called a COMMON-WEALTH, or STATE, (in latine CIVITAS), which is but an A r t i f i c i a l l man; though of greater stature and strength than the Naturall, for whose protection and defence it was intended; and in which, the Soveraignty is an A r t i f i c i a l l Soul, as giving life and motion to the whole body; the Magistrates, and other Officers of Judicature and Execution, a r t i f i c i a l l Joynts; Reward and Punishment (by which fastned to the seate of the Soveraignty, every joynt and member is moved to performe his duty) are the Nerves, that do the same in the Body Naturall; The Wealth and Riches of all the particular members, are the Strength; Salus Populi (the peoples safety) its Businesse; Counsellors, by whom all things needfull for it to know, are suggested unto it, are the Memory; Equity and Lawes, an a r t i f i c i a l l Reason and Will; Concord, Health; Sedition, Sicknesse; and Civill war, Death [Hervorhebung gesperrt M.S.]“146.

Das Thema des Artifiziellen und Künstlichen wird erst wieder in diesem XVI. Kapitel aufgenommen. Überhaupt ist das Projekt des Buches Leviathan nichts anderes als eine Beschreibung dieser Künstlichkeit. Hobbes: „To describe the nature of this Artificiall man, I will consider“147: – und es folgt eine Inhaltsangabe der kommenden vier Bücher. Ob das Individuum im Naturzustand bereits natürliche Person ist und überhaupt etwas ohne seine Personenhaftigkeit übertragen kann, obwohl doch die Person schon eine Abstraktion der Individualität ist, die den Staat voraussetzt, ist möglicherweise, wie gezeigt, durch eine Detailanalyse anfänglicher Vertraglichkeit zu entschärfen; dennoch bleibt eine Portierung des Phänomens der juristischen Person, wie sie die aufstrebenden Handelskompagnien nur zu gut bebildern, für die Hobbessche Theorie möglich und das Cicero-Zitat 148, das Hobbes zu Anfang des XVI. Kapitels bringt, kaschiert die moderne Herkunft etwas zu aufder Tod, wie gezeigt, das Ende und das Leben zur Grenzerfahrung. Der Tod des Menschen wird der Tod des Körpers – der blosse Körper ist entblösst. Der ,christliche Materialist‘ Hobbes kennt zwar eine Wiederauferstehung nach dem Jüngsten Gericht, aber es werden die physischen Leiber sein, die Gott ihnen wiedergibt. 145 Hobbes, Leviathan (1651, 41991), Kap. XVI, Suhrkamp, S. 125. 146 Hobbes, Leviathan (1651, 1985), Kap. I, Penguin Books, S. 81. 147 Hobbes, ibid., S. 82. 148 Hobbes, ibid., Kap. XVI, S. 217.

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fällig – hier hat Hobbes offensichtlich etwas zu verbergen. Dass die possessive market society ganz wesensmässig auf dem Simulakrum der juristischen Person basiert und ebenso die Mechanik des Leviathan auf dem Simulakrum der juristischen Person, die jeder natürliche Mensch ist, basiert, ist etwas mehr als Analogie. Für die Beendigung des konfessionellen Bürgerkriegs mag die Deutungsmacht des Leviathan notwendig sein, eine Theorie der juristischen Person erscheint dagegen kontingent. Man spürt zurecht, dass hier die Steilvorlage der Verfasstheit kapitalistisch-imperialistischer Handelskompagnien für die Staatstheorie verwertet wird, aber Hobbes ist natürlich zu schlau, als dass man ihm im Text etwas nachweisen könnte. Auch Gauthier, Pitkin und Mansfield149 widmen ihre Überlegungen dem Komplex der Autorisierung. Sie erweitere, als „cornerstone of his (Hobbes’, B.W. [Willms, M.S.]) political theory“, obwohl an „relativ unauffälliger Stelle“ (nämlich Kapitel XVI), die Vertragstheorie und sei zur Begründung der Souveränität „leistungsfähiger“150. Dies zeigt vor allem das Werk von Pitkin, die aufweist, dass die Autorisierungstheoremata von Kapitel XVI die einzige Möglichkeit sei, zu obligation zu kommen. Als Theorem sei es aber die Verkürzung einer Repräsentationstheorie, unter der auch der ganze Leviathan leide. Auch Gauthier interpretiert das author-actor-Wechselspiel und heftet daran seine Hoffnung, dem schon von Hume geäusserten Zirkelverdacht gesetzter und gleichzeitig vorfindlicher Rechte zu entgehen. Dabei trennt er die Argumente jeweils in einen formalen und einen materialen Aspekt. Willms hält dagegen, dass auch „die Autorisierung von dem Prinzip, dass Bindung nur aus Selbstbindung folgen könne, nicht ausgenommen werden kann.“151 Mansfield bringe, Willms zufolge, die Diskussion zu einem vorläufigen Abschluss, weil er zeige, dass die Repräsentation nicht, wie Pitkin suggeriere, inhaltlich, substantiell gemeint sei, sondern lediglich formal: direkte politische Antworten seien nach dem Leviathan nicht mehr zulässig, moderne politische Theorie müsse immer auf Prinzipien indirekter Herrschaft bestehen. Damit gesellt sich Mansfield und wohl auch Willms in die Reihe der Autoren, die nicht mehr, wie Schmitt es tat, den Leviathan und die gesamte Philosophie des Hobbes als gegen die indirekte Herrschaft gerichtet, gegen Bellarmin, gegen den Policraticus, gegen die Bulle Unam Sanctam von 1302, gegen die römische Legitimierung der Kirchenmacht als einer indirekten gerichtet, interpretieren. Schmitt hatte auf die harten direkten Fragen: Quis iudicabit?, Quis interpretabitur? verwiesen und den Leviathan zum Modell einer wesensmässig direkten Herrschaft erhoben. Mansfield zieht dagegen vermehrt die Momente indirekter Gewalt auch im Leviathan in Betracht, so wie dies auch, in theologicis, Braun, vorgetan hatte: denn bei ihm, Braun, ist die Hobbessche Einbettung von 149 Willms, ibid., S. 151. Pitkin, Hanna: Hobbes’s Concept of Representation (1964). Gauthier, David: The Logic of Leviathan. The Moral and Political Theory of Thomas Hobbes (1969). Mansfield, Harvey: Hobbes and the Science of Indirect Government (1971). 150 Willms, ibid. 151 Willms, ibid., S. 152.

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Theologie nur ein staatlicher Trick, der demaskiert gehört und die Formel des Jesuschristus eine Formel indirekter Herrschaft, dessen sich der Leviathan bedienen könne152. Ein Fall von indirekter Herrschaft könnte man, meines Erachtens, auch darin sehen, dass der Leviathan das Politische aus seinem Staat austreibt, aber natürlich von allerlei Counselors beraten bleibt und das politische Leben in den Rathäusern nur mittelbar, wenn überhaupt erlebt. Die Person als Problem bleibt aber mit direkter oder indirekter Herrschaft ein Problem, das nicht gänzlich in Systematik aufgelöst werden kann und textfremde, aber welche, Einflüsse widerspiegeln mag. Es bleibt bei Unverbindlichkeiten, die William Letwin so zusammenfasst: „Macpherson’s propositions can be salvaged as a historical statement only by saying that the desire for economic efficiency was probably increasing during the seventeenth-century, while the force of the custom was diminishing somewhat.“153 Dem würde auch Macpherson, der Ideenhistoriker mit dem Gespür für durchgesetzte Wirklichkeiten, zustimmen. Willms würde die Kontext-Forschung gerne von den Marxismen reinigen und schlägt vor: „Die tiefgreifenden Wandlungen, die erst zusammengenommen den Charakter jener Herausforderung annehmen, auf die Hobbes seine philosophische Antwort fand, sind aber mindestens vierfach zu bestimmen: der politische Wandel, der gesellschaftlich-ökonomische, der Wandel in der Auffassung von Wahrheit und der in der Auffassung von Wissenschaft.“154 Die Fülle an marxistischen Autoren, die Willms nennt (Levy, Gross, Tuschling, Amann, Gehlauf), verspielen jedoch das grosse Thema einer Kontextualisierung der Hobbesschen Philosophie durch ihre ,leftwing undergraduate view‘155, ihr von vornherein sattelfestes ,Modell‘. Einzig Lopata bringe einen interessanten Aspekt in die Trostlosigkeit, indem er Hobbes eher denn als Locke zum Vater des späteren Liberalismus mache. Nach diesem sei die Definition des individuellen ,Rechts auf alles‘ zwar in den bürgerlichen Zustand aufgelöst worden, bestimme aber dennoch die ,Natur des Menschen‘156. Die von Hobbes ausgemachte wölfische Natur des Menschen mag also nicht nur dem Krieg geschuldet sein, sondern auch aus dem wirtschaftlichen Kontext seiner Zeit erklärbar. 4) Der Kontext der Hobbesschen Philosophie kommt auch im Schmitt-Theologopolitico-Problem zum Tragen. Nach Redwood ist das 17. Jahrhundert „god-rid152 Braun, Dietrich: Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth, Teil I: Erwägungen zu Ort, Bedeutung und Funktion der Lehre von der Königsherrschaft Christi in Thomas Hobbes Leviathan (1963). Besprochen von Schmitt, Carl: Die vollendete Reformation, ibid., S. 145 ff. und von Willms, Bernhard: Von der Vermessung des Leviathan II (1967), S. 228 ff. 153 Willms, ibid., S. 106. Letwin, William: The Economic Foundation of Hobbes’ Politics (1972), S. 149 f. 154 Willms, ibid., S. 109. 155 Willms, ibid., S. 113, Fussnote 15. 156 Willms, ibid., S. 111 f. Lopata, Benjamin: Property Theory in Hobbes (1974), S. 112 – 126.

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den“ und wer auch immer seinen Griffel ergreife, schreibe, wohl oder übel, im 17. Jahrhundert über Gott157. Förster158 verortet Hobbes in seiner Zeit und fragt nach den Einflüssen des Puritanismus, der Familie Cavendish oder der schottischen Covenanters, deren Lehre sich in der Hobbesschen Vertragstheorie finde. „Eine kurze, aber sehr instruktive und übersichtliche Darstellung von Hobbes’ Stellungnahmen zu allen religiösen Strömungen seiner Zeit gibt Megan Clive.“159 Ob Hobbes selber Atheist ist oder nicht, verschiebt dabei die Analyse des Leviathan, denn entweder sind seine Theologoumena argumentationsstrategische Lippenbekenntnisse, die handkehrum auch den Verdacht aller hinter dem Text, also auch aller marxistisch und ökonomistisch argumentierenden Autoren verstärken muss, oder nicht: Dann aber entsteht die Frage nach dem originär christlich denkenden Denker Thomas Hobbes, dann entsteht von selbst die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Politik, nach Glaube und Politik, nach Staat und Religion, usw. usf. Gemäss Pocock160 sei die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz ein Faktum, vor das die Menschen auch in einer wissenschaftlichen Welt gestellt seien, so dass es neben dem Vernichtungstreiben der Weltgeschichte eine parallele Zeit gäbe, in der der Mensch handele, und das ist die in Eschatologie einmündende Heilsgeschichte, die Leviathan Buch III und IV thematisiere, was aber wiederum Teil der politischen Geschichte, Teil der Geschichte des Leviathan werde. Braun hatte die Frage als eine theologische Frage in aller Extremität gestellt: Ist der Leviathan das ,Tier aus der Tiefe‘? und bekanntlich bejaht161; Kodalle dagegen möchte die Theologoumena gegen die Defizienz der wissenschaftlich begründeten Staatstheorie frucht- und nutzbar machen. Die zentrale Kategorie des Vertrags sei ohne biblische Bundestheologie nicht begründbar und die Subjektivität sei im Kern theologisch gefasst. Wenn Hobbes Theologie als Taktik verwende, sei der Leviathan nicht zu erklären. „Wer meint, sämtliche Ausführungen des Hobbes zu Fragen der Religion letztlich ihrer Alibi-Funktion zuschreiben zu müssen, übergeht geflissentlich, daß die Bedingtheit Hobbesscher Wissenschaft ebenso wie auf dem Ausschluß religiöser Wahrheit auch auf den anderen Formen des Wissens beruht, die für menschliches Dasein unverzichtbar sind [ . . . ]“.162 Es gehe um „die Fermente lebensweltlich ,metatheoretischer‘ Art, die in das rationalistische System integriert, nicht aber aus ihm erklärbar sind.“163 Kodalle schreibt der Theologie einen „radi157 Willms, ibid., S. 115. Redwood, John: Reason, Ridicule and Religion. The Age of Enlightenment in England 1660 – 1750. (1976), S. 9. 158 Willms, ibid., S. 116. Förster, Winfried: Thomas Hobbes und der Puritanismus. Grundlagen und Grundfragen seiner Staatslehre (1969). 159 Willms, ibid., S. 117, Fussnote 5. Clive, Megan: Hobbes parmi les mouvements religieux de son temps (1978). 160 Willms, ibid., S. 118. Pocock, John: Time, History and Eschatology in the Thought of Thomas Hobbes (1970). 161 Braun, ibid. 162 Kodalle, ibid., S. 9. 163 Kodalle, ibid., S. 11.

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kalisierten Stellenwert im Hobbesschen System“164 zu: „Ohne die theologische Komponente bräche Hobbes’ Staatskonstruktion in sich zusammen.“165 Der Widerspruch zwischen mechanisch-wissenschaftlich angelegter Methode und dem Appellieren an Transzendenz (That Jesus is the Christ) laste auf dem System Hobbes’ und erkläre dessen Scheitern. „Hobbes hätte auf geschichtlich ausgebildete religiöse Bewußtseinsdispositionen als geistige Grundlagen sinnvoller und nur notwendiger Herrschaftspraxis zurückgreifen können, deren Rationalisierung die Aufgabe der religionsphilosophischen Theorie war. Indem er auf diese nicht genügend Gewicht legte, war auch ihre Wirkung völlig ungenügend; die politische Chance zu überzeugender Vermittlung seiner wissenschaftlichen Theorie war vertan.“166 „Die in Hobbes’ Theorie (nach unserer Version) festgehaltene, sicherlich von ihm nicht hinreichend explizierte Vermittlung formal-emanzipatorischen und religiösen Bewußtseins muß als ein Angebot an die moderne Gesellschaft, als zaghafte Formulierung ihrer einzigen Chance verstanden werden. Hobbes wollte die Subjektivität über die sie konstituierende Kräfte, an denen sie unreflektiert noch festhielt, aufklären, um sie vor deren Entmachtung, Verdrängung und Verlust zu bewahren. Heute freilich existiert jene Subjektivität, zumindest im Sinne geschichtlich-realer Macht, als Korrelat zum Staat kaum noch.“167

Weiß fasst die Kernthese Kodalles zusammen: bei ihm erscheinen Erfahrungsbestände in christlicher Gestalt: „Erst das substantielle, der biblischen Bundesidee verpflichtete religiöse Bundesbewußtsein der Bürger schaffe jene praktische Einheit des Gemeinwesens, welche die rationale Konstruktion des Vertrags schuldig bleiben müsse.“168 Die Tendenz der Aussagen Kodalles scheinen mir eher in das Warrender-Verantwortungs-Problem hineinzugehören, als in das der politischen Theologie. „Das konkrete institutionelle Angebot Hobbes’, ,souveräner Staat‘, hat geschichtlich allem Anschein nach abgewirtschaftet“169; „der Mensch scheint eben an der Perpetuierung bloßer Selbsterhaltung doch nicht interessiert zu sein.“170 Dagegen macht Willms geltend, dass der Eigenraum einer theologisch oder religiös verstandenen Subjektivität die politische Möglichkeit der Dissoziation nach sich ziehe, weil daraus nur unvermittelbare Konfession folge. Kantianer und andere Deontologen argumentieren ähnlich wie Kodalle mit Gott als notwendigem Vertragsgrund. Taylor, etwa, gehe in der Diskussion vom strikt deontologischen, theistisch unterlegten Charakter der Hobbesschen Morallehre, welche den Rückbezug auf das christliche Naturrecht impliziere, aus:171 „A certain kind of theism is absolutely necessary to make the theory work.“172 Er trennt Hobbes’ ,egoistic moral 164 165 166 167 168 169 170 171 172

Weiß, ibid., S. 239. Kodalle, ibid., S. 59. Kodalle, ibid., S. 193 f. Kodalle, ibid., S. 194. Weiß, ibid., S. 22. Kodalle, ibid., S. 193. Kodalle, ibid. Siehe: Weiß, S. 14, Anm. 5. Taylor, Alfred: The Ethical Doctrine of Hobbes (1938), S. 429.

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psychology‘ von seiner Ethik, da nicht systemnotwendig: „Hobbes’ ethical doctrine proper, disengaged from very strict deontology [ . . . ].“173 Taylor zieht die Hobbessche Konstruktion einer Zuordnung der verpflichtenden laws of nature zum natural kingdom of God in Zweifel und befürwortet um der inneren Konsistenz willen ihre eigentliche Zugehörigkeit zum kingdom of God by covenant.174 Nicht der Souverän schafft die Verpflichtungen, Verträge zu halten; was er schafft, sind lediglich die präzisen Formen und Formeln des Vertrags, deren Deklaration und Verwirklichung er vorschreibt.175 Die Vermengung von Warrender- und Schmitt-Problem ist ein guter Indikator für vollendeten Kantianismus, dem es um den Aufweis der Praktikabilität des zu einem Supplement der Vernunft herabgesunkenen, dem vernunftnotwendigen Gott geht und sich allerorten findet, etwa bei Woodfield176, der das Zirkelargument gegen die Vertragsstruktur noch einmal bringt. Ähnlich argumentieren soziologisch inspirierte Denker wie Parsons oder Ellis177, die Normen, Werte und gesellschaftliche Ordnungen zum Gegenstand machen und deskriptiv-normative Dichotomien aufweisen. Doch gibt es auch theologische Beiträge zum Theologopolitico-Problem. Hepburn etwa untersucht die Spannung in Hobbes’ Gottesbegriff und kommt zu dem Ergebnis, dass Hobbes Gott zunächst zu einem fernen Gott macht (,skying‘), ihn aber als ,corporal spirit‘ gleichzeitig verirdische (earthening) und materialisiere, als ,prima causa‘ denke und eschatologisch in die Geschichte miteinbeziehe. Allerdings: „Hobbes, so Hepburn, unterminiere seine religiöse Substanz mit der eigenen Skepsis (108); seine Befassung mit Theologie und seine Religionsphilosophie sind gleichermassen erfolglos – ganz gleich ob sie als Dekonstruktion oder als Rekonstruktion der überkommenen Theologie aufgefasst wird.“178 In der Tat ist der Hinweis auf den Skeptizismus bei Hobbes auch dann richtig, wenn seine politische Philosophie den Ausgang aus der skeptischen Frage des Quis iudicabit? darstellt; die resolutiv-kompositorische Methode wird ja auf das Heilige Buch appliziert und Hobbes nimmt im dritten und vierten Teil des Leviathan die Bibel auseinander, bis eben nur noch die Formel, that Jesus is the Christ übrigbleibt. Mit dieser Minimalformel wird aber erstaunlicherweise keine compositio betrieben und dies verdankt sich wohl tatsächlich dem skeptischen Kern dieser Methode. Der leviathanisierte Gott kann offenbar nicht wieder baugleich zusammengesetzt werden; als mit Kratos und Bia ausgestatteter Souverän entfernt sich dieser Gott, zu dem der Leviathan über die Formel des Jesuschristus die Verbindung nur noch mit Mühe aufrecht erhält. Die Herrschaft des Leviathan, der selber Taylor, ibid., S. 408. Taylor, ibid., S. 419 und Anm. 1. (Hinweis bei Kodalle, ibid., S. 69). 175 Taylor, ibid., S. 413. 176 Woodfield, Richard: Hobbes on the Law of Nature and the Atheist (1971). 177 Ellis, Desmond: The Hobbesian Problem of Order. A Critical Appraisal of the Normative Solution (1971); Parsons, John: Aspects of Hobbes (1975). 178 Willms, ibid., S. 126. Hepburn, Ronald: Hobbes on the Knowledge of God (1972), S. 88. 173 174

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Gott aber doch Gott fern, ist indirekt und muss als theologicopolitisches Gegenstück zur ausserpolitisch-politischen Dynamik gelten. Theologie und Politik beginnen durcheinanderzulaufen und eine Dynamik zu entfalten, die das Verhältnis unüberschaubar macht. Mit Recht hat Greenleaf Bezüge auf das Buch Hiob hergestellt; schon das Motto des Frontispiz sei ein Hiob-Zitat und lege eine Untersuchung nahe. Die philosophische Reflexion allein sage noch nichts über diesen christlich / nichtchristlichen Gott, der der Leviathan ist; Glaube und Offenbarung müssten hinzutreten, um einen Gott vorzustellen, der, gemäss Greenleaf, die Züge des Gottes von Hiob XL-XLI trage: „a being of awesome and invincible power.“179 Dieser Gott ist meines Erachtens in der Tat allmächtig und unverständlich; seine Botschaften sind jähe, unvorhersehbare ,Hiobbesbotschaften‘, keine frohen Botschaften – eine Folge wohl der resolutiv-kompositorischen Methode. Die Parallelität von verständlich-unverständlichem Gott und indirekt-direktem, ausserpolitisch-politischem Leviathan ersetzt wohl die hergebrachte Parallelität von Gott und Welt, von temporal und spirituell. Eine Analyse dieser Beziehung setzt aber eine Aufklärung über deren Genese und Gewichtung voraus, die erst in Kapitel IV vollzogen werden kann. Ich trenne die Hobbes-Forschung, analog der Zweiteilung des Leviathan – ,civill‘ und ,ecclesiastical‘ – in zwei Teile: der erste Teil ist im ,Civill‘ angesiedelt und umfasst den Grossteil der hier behandelten Autoren, insbesondere die Strauss-, Warrender-, und Macpherson-Problemlagen, aber auch Teile der Schmitt-Problematik, nämlich insofern diese den ,politischen‘ Aspekt der Theologicopolitica, etwa das Warrender- im Schmitt-Problem beleuchten; der zweite Teil ist im ,Ecclesiastical‘ angesiedelt und hat insbesondere, neben rein theologischen Fragestellungen, den Bezug von ,civill‘ zu ,ecclesiastical‘ selbst zum Thema. Im Gang der Argumentation war es hier nur wichtig festzustellen, mit welchen Prämissen der moderne Staat entsteht. Die Furcht vor dem eigenen Tod etabliert sich, der moderne Staat entsteht und die Parameter der Politik verschieben sich mit. Der Staat bekommt ein ausserpolitisch-politisches Innenleben, in dem der öffentliche Streit der Meinungen geprobt wird und obenauf kommen kann.

3. Moderne Öffentlichkeit und moderner Staat: Rousseaus Contrat social Das Innenleben des modernen Staates beginnt ein Eigenleben zu führen, und das Leben des Staates ist die Öffentlichkeit, Öffentlichkeit verstanden als losgelassene und loszulassende Öffentlichkeit, als lorenzisches Schar- und Schwarmverhalten, und das hat niemand besser verstanden als Rousseau. Interessiert an der Öffentlichkeit sind vornehmlich die clerks, die Intellektuellen, von denen Medienabstinenz zu erwarten ungefähr das letzte ist, was erwartet werden darf, und deren Wille zur 179 Willms, ibid., S. 128 f. Greenleaf, William: A Note on Hobbes and the Book of Job (1969), S. 32.

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Macht sich hier, in der öffentlichen Presse und Publizistik, austoben kann: Alle Intellektuellen und Philosophen sind ab dem 17. Jahrhundert vom Virus der Öffentlichkeitsfanatismus befallen, weil sie begreifen, dass ihnen hier Macht gegeben ist, vor der die Throne und die Kanzeln zittern und der ,Richterstuhl der Vernunft‘ ist nur eine Rochade des eigentlichen Richterstuhls: das der Öffentlichkeit. Alles, was Aufklärung ist, alles was Vernunftbegeisterung ist, alles, was die Revolution in den Wissenschaften ist und alles, was die Weltaufteilung, was Handel und Wandel ist, kurz: alles, was die Epoche ausmacht, ist nichts anderes als ein Subsystem dessen, was Öffentlichkeit ist und was Öffentlichkeit wird. Und Rousseau schreibt ihre Apotheose. Der Contrat social und die ganze Philosophie Rousseaus muss in dieser Hinsicht neu vermessen und mit close reading, mit neuer Explication de texte wiedergelesen werden.180 Dabei widme ich meine Gedanken nicht den Haupt- und Nebenschwierigkeiten des Contrat social in Bezug auf seine mögliche liberale Lesart181, nicht wieder dem Totalitarismusverdacht des allzeit homogenisierenden Gemeinwillenterrors182 und auch nicht den Beziehungen überhaupt zur Demokratie183. Mir geht es nur darum, das Politische wachsen zu sehen und wieder, als Commoratio, ein vermeintliches Ausserpolitisches – die Öffentlichkeit – als eine in die politische Grammatik eindringende Substanz herauszukristallisieren. Gezeigt wird in diesem Kapitel der Anschluss an Hobbes, Leibniz, Bayle, Locke und, unter Einschluss der 180 Die Forschungsliteratur zum Thema Contrat Social und Öffentlichkeit gibt nicht gerade viel her. Erst eine 1977 erschienene, preisgekrönte Dissertation (Ganochaud, Colette: L’opinion publique chez Jean-Jacques Rousseau) macht das Thema, wenn auch nur unter dem Aspekt der öffentlichen Meinung, zum Thema. Die systematische Interdependenz zur Demokratietheorie ist breit und fundiert ausgeführt, eine Analyse über ausserpolitische-politische Wechselwirkungen oder eine Schau auf das Thema des Nihilismus der Politik in Hinsicht auf die anonyme Öffentlichkeit jedoch ausserhalb ihres Erkenntnisinteresses. Zentral das Kapitel (IX) L’opinion publique et la volonté générale, S. 331 – 422, auf das ich mich gern beziehe. 181 Der Kartesianismus (oder besser gesagt der Euklidismus) Rousseaus und damit der Rationalismus und damit der Liberalismus Rousseaus am eindrucksvollsten in Derathé, Robert: Le Rationalisme de Jean-Jacques Rousseau (1948). 182 Hierzu immer noch einschlägig: Talmon, Jacob: The Origins of Totalitarian Democracy (1952, 19552, US 1970, dt. 1961) und ähnlich Shklar, Judith: Men and Citizens: A Study of Rousseau’s Social Theory (1969, 21985). Dagegen wägt Chapman, John: Rousseau – Totalitarian or Liberal? (1956, 21968) die einzelnen Argumente Talmons hinsichtlich des vermeintlichen Prätotalitarismus bei Rousseau umsichtig ab. 183 Für Fetscher ist er „der wichtigste Anwalt der Demokratie auf dem Kontinent“ (Fetscher, Iring: Rousseaus politische Philosophie (1960, 1990), S. 32), Kersting, öfters: „Der Rousseausche Gesellschaftsvertrag ist das Symbol der politischen Selbstermächtigung des Volkes.“ (Kersting, Wolfgang: Jean-Jacques Rousseaus ,Gesellschaftsvertrag‘ (2002), S. 52, ähnlich schon in: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags), Richter: „Das Ideal demokratischer Herrschaft im kleinen Raum findet in Rousseaus Staatsphilosophie seinen markantesten Ausdruck.“ (Richter, Emanuel: Die Expansion der Herrschaft (1994), S. 55), und zuletzt noch Sartori, der Rousseau als liberalen Demokraten sieht (Sartori, Giovanni: Demokratietheorie (1987, 1992), S. 433).

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beiden Arbeiten von Koselleck und Habermas184, die Ideenlage seiner Zeit; gezeigt wird der systematische Anschluss an das Frühwerk, insbesondere an die beiden Diskurse und endlich wird auch gezeigt, welchen Anschluss der Contrat social an das Prinzip Öffentlichkeit erlangt, wie das Leben in der Öffentlichkeit das Leben des Contrat social bestimmt, wie die moderne Öffentlichkeit aus jedem und allem einen politisierten Menschen macht, wie die schweigende virtuelle Mehrheit eine feste Grösse durch das Phantom Öffentlichkeit wird, wie sie, die Öffentlichkeit, sich im privaten Herzen niederlässt, wie sie den Zusammenhalt im Staate garantiert und den Kitt der Rousseau-Gesellschaft ausmacht, wie sie, schliesslich, alternativlos wird und Gottesersatz. Der Weg von Hobbes zu Rousseau ist kurz und doch weit. Es geht immer noch um Naturrecht, immer noch um den Souverän, immer noch um eine Vertragstheorie und Staatsentstehung, immer noch um das Recht des Stärkeren, immer noch um Volk und Regierung, um Besitz und Eigentum, um Mischverfassung oder nicht, um Korruption und Widerstandsrecht. Aber es haben sich bedeutsame, auch historische Verschiebungen ereignet, von denen Rousseau ausgeht. Der Staat als territoriales Gebilde ist bereits gesetzt und die Souveränität bereits „unveräusserlich“185, das Fegefeuer kein Thema und der Naturzustand der Bürgerkriege so weit entfernt, dass der Wilde kein wildgewordener Puritaner ist, sondern edel, hilfreich und gut, die vernünftige Zivilisation aber unfähig, zur „Läuterung der Sitten“186 etwas beizutragen. Die Revolution der Denkungsart ergibt sich allerdings auf einem anderen Gebiet, dem der modernen Publizität, und es entsteht ein Strukturwandel, der die Menschen zwingt, mit der Chimäre der öffentlichen Meinung zu leben. Der Leviathan leistet hier wertvolle Steigbügeldienste, indem er die Macht des Souveräns bereits an die Veröffentlichung der Dogmen knüpft187 und immerhin von Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise (Diss. 1954, Erstdruck 1959, 81997); Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962). 185 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag (1762, erste dt Übersetzung 1763, 1977). 2. Buch, 1. Kapitel, S. 27. 186 Preisfrage der Akademie, ob der „Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zu Läuterung der Sitten beigetragen hat“, welches Rousseau bekanntlich verneint. 187 „By which it is manifest, that an opinion publiquely appointed to bee taught, cannot be hæresy“, Hobbes, Leviathan, XXXXII, Penguin Books (1651, 1985), S. 605. Wir können es der Forschung überlassen, zu entscheiden, ob hier bereits von ,public opinion‘ die Rede ist, oder ob es hier die (private) Meinung des Souveräns ist, die veröffentlicht werden muss und deswegen nicht identisch mit der ,öffentlichen Meinung‘ ist, oder ob diese private Meinung, die öffentlich werden muss, nicht zumindest die öffentliche Meinung präjudiziert und vorwegnimmt. Den Befund von Habermas, ibid., 165 f., der das Erkennen dessen, was ,öffentliche Meinung‘ ist, ins Jahr 1751, also hundert Jahre nach dem Leviathan, verlegt – „Tatsächlich hatte, ein Jahr zuvor, zum erstenmal ein Autor von opinion publique gesprochen, nämlich Rousseau in seinem berühmten Diskurs über Kunst und Wissenschaft“ –, scheint mir deutlich zu spät. Wir argumentieren jedoch lediglich aus der Vermutung heraus, dass Rousseau alle seine Einsätze auf die moderne Öffentlichkeit, mehr und radikaler als alle anderen, setzt, nicht dass er diese womöglich entdeckt habe. 184

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den nichtprivaten, nichtsubjektiven, nichthäretischen „Opinion of men“188 redet und sogar die Schwere von Straftaten von der Läsion des durch die öffentliche Meinung bestimmten öffentlichen Interesses abhängig macht189. Die Beobachtung von Habermas ist richtig: „In England hingegen entwickelt sich zur gleichen Zeit aus dem Pamphlet die politisch räsonierende Presse“190, aber davon sind bei Hobbes noch keine Zeichen sichtbar und sollen auch nicht, gemäss der Logik des Leviathan, sichtbar sein. Doch hat die Konjunktur des ,Publiken‘ auch bei Hobbes, wie in ganz England191, Einzug gehalten und allein der Leviathan enthält 98 Nennungen des ,Public‘ und seiner Derivate192. Diese Öffentlichkeit, die „bürgerliche Öffentlichkeit“, die sich formiert, sei in der Rohform „vorerst als die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute [zu] begreifen [ . . . ]“193, sagt Habermas, und über die Lesegesellschaften geschehe eine Überführung einer zunächst unpolitischen, ausserpolitischen Instanz, der „literarischen Öffentlichkeit“, in die Politik, in die „politische Öffentlichkeit“194, und wie man es auch wendet: Rousseau steht vor dieser vollendeten Tatsache, wobei die Genese der Öffentlichkeit an dieser Stelle von untergeordneter Bedeutung ist und lediglich die Existenz einer Öffentlichkeit hier behauptet sein will, die so etwas wie investigativen Journalismus und die Herrschaft der öffentlichen Meinung überhaupt möglich macht. Wie ich gezeigt habe, führt das Deckeln der Politik nur dazu, daß alles, was den Deckel nicht erreicht, für den Leviathan „subperzeptiv“ ist. Hier kann sich 188 „Private, is in secret Free; but in the sight of the multitude, it is never without some Restraint, either from the Lawes, or from the Opinion of men; which is contrary to the nature of Liberty.“ Hobbes, Leviathan, XXXI, ibid., S. 401. 189 „Of facts against the Law, done to private men, the greater Crime is that, where the dammage in the common opinion of men, is most sensible.“ Hobbes, Leviathan, XXVII, ibid., S. 351. 190 Habermas, ibid., S. 165. Richtig, aber das heisst, wollte man eine hegelische Geschichte schreiben: Die öffentliche Meinung ist auch gebürtig aus der Pamphletistik, gebürtig also aus dem Vorzeigenkönnen, dem Vorzeigen der Guten und Gerechten, der Gewissensmenschen, aber nicht nur. Die öffentliche Meinung ergibt sich möglicherweise als dialektische Synthese aus der These: Pamphletistik plus Bürgerkrieg und der Antithese: Restauration einer monarchischen Souveränität (Charles II., William III. und die Könige des Hauses Hannover) unter den Augen eines reformatorisch gesinnten Parlaments. 191 „In England ist seit der Mitte des 17. Jahrhunderts von ,public‘ die Rede, wofür bis dahin ,world‘ oder ,mankind‘ gebräuchlich war.“ Habermas, ibid., S. 84. Die öffentliche Meinung ist jedoch bereits in der Politik des Aristoteles ein fester Wert und Cicero kennt bereits den Begriff der öffentlichen Meinung, den er im Brief an Atticus (Cicero ad Atticum VI. 1, 18,2) verwendet, er sei, entschuldigend, der öffentlichen Meinung, der publicam opinionem gefolgt. Der Begriff der öffentlichen Meinung wird dann in der Aristoteles-Renaissance des Mittelalters wieder entdeckt und findet auch im Policraticus des Johannes von Salisbury, allerdings auch schon bei Priscillian und dann bei Montaigne wieder Verwendung. 192 Das ergibt sich aus dem mir vorliegenden Leviathan-Register. 193 Habermas, ibid., S. 86. 194 „Das an der zentralen Kategorie der Gesetzesnorm demonstrierte Selbstverständnis der politischen Öffentlichkeit ist durch das institutionsgerechte Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit vermittelt.“ Habermas, ibid., S. 120. Über die Richtigkeit dieser Ansicht siehe weiter unten in Kap. II. 5.

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dann auch, wie Koselleck zeigt, ein ,Reich‘ der Moral, ein Reich der Kritik ausbreiten, das konspirativ und obstruktiv sein kann.195 Koselleck argumentiert mit einer ganz ähnlichen Figur, die sich der Umgruppierungs- und Neutralisierungstheorie Carl Schmitts196 verdankt und das Eindringen der Moral in die Politik beschreibt, dabei jedoch, komplementär zu den Analysen Habermas‘, die Rolle der Öffentlichkeit anders beleuchtet. Koselleck: „Die Selbstgewißheit des moralischen Innenraums liegt in seiner Fähigkeit zur Publizität. Der Privatraum weitet sich eigenmächtig zur Öffentlichkeit aus, erst in ihrem Medium erweisen sich die persönlichen Meinungen als Gesetz.“197 Am Ende des Prozesses sei Öffentlichkeit schon in den Innenraum eingedrungen: „Nachdem die Aufklärung jeden Unterschied zwischen Innen und Außen beseitigt hat, alle arcana entlarvt hat, wird die Öffentlichkeit zur Ideologie. Die Gesinnung herrscht, indem sie hergestellt wird.“198 Statt der Lesegesellschaften bei Habermas werden bei Koselleck die Freimaurerlogen Gegenstand seiner Theorie199: „Aus der Ablehnung der Politik im 18. Jahrhundert auf den unpolitischen Charakter der Logen in dieser Zeit zu schließen, ist ein Fehlschluß der liberalen und meist auch der maurerischen Historie selbst, die die funktionale Bedeutung einer Leugnung der Politik im Rahmen des absolutistischen Staates verkennt. Der Schluß entspringt dem Erfahrungshorizont erst nach der Französischen Revolution.“200

Der Begriff der Moral wird zu einem politischen Kampfbegriff, indem er sich explizite aus der Politik heraushält. „Aus der Not, keine politische Autorität zu beKoselleck, ibid., S. 48. Schmitt, Carl: Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929) und Schmitt, Carl: Leviathan (1938). 197 Koselleck, ibid., S. 44. 198 Koselleck, ibid., S. 138. Man erlebt die unsichtbare Macht der Öffentlichkeit und nimmt diese erst am Vorabend der Revolution wahr, deutlich ausgesprochen von Jacques Necker, dem Kameralisten, der selber durch seine Veröffentlichung der compte rendu, der bislang geheimen Staatsrechnung und des darin offenbarten Staatsbankrotts, zu den überhasteten sich überschlagenden Revolutionsereignisse beitrug und sie quasi präludierte. Necker: „Die Mehrzahl der Fremden hat Mühe, sich eine richtige Vorstellung von der Autorität zu machen, welche die öffentliche Meinung in Frankreich ausübt. Sie verstehen nur schwer, daß es eine unsichtbare Macht gibt, die ohne Kasse, ohne Leibwache, ohne Armee Gesetze gibt, die selbst im Schlosse des Königs befolgt werden, und doch gibt es nichts, das wahrer wäre (zit. nach v. Böhn, Rokoko, Frankreich im 18. Jahrhundert, S. 318).“ Koselleck, ibid., Anm. 87, S. 188. Ebenso finden wir die l’opinion publique ganz selbstverständlich in Laclos’ Liaisons dangereuses von 1782. Und Rivarol (1753 – 1801) sagt: „Einem Wilden kann es nicht in unseren Städten gefallen, weil er gar keinen Wert auf die öffentliche Meinung legt, täte er es, so würde er bald all unsere Ketten ertragen, da er schon die schwerste auf sich genommen hat.“ (Schalk, Fritz: Die französischen Moralisten (1940, 1963), Bd. 2, S. 149). 199 Koselleck weist auf beide Gruppen hin: „Zwei gesellschaftliche Formationen haben auf dem Kontinent das Zeitalter der Aufklärung entscheidend geprägt: die République des lettres und die Logen der Freimaurerei“ (S. 49), behandelt aber nur die zweite, Habermas dagegen die erste. Beide machen damit am sichtbaren Material fest, was seiner Struktur nach unsichtbar ist und geraten dadurch in eine systematische Schieflage. 200 Koselleck, ibid., Anm. 55, S. 184. 195 196

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sitzen, machte die neue Gesellschaft ihre Tugend: sie verstand auch ihre geheime Institution nicht als ,politisch‘, sondern von vornherein als ,moralisch‘.“201 Moralisch meint hier also: ausserpolitisch. Nur verdeckt der Begriff der Moral das Ausserpolitische, fungiert aber in der politischen Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts entlang der Oszillation von Politik und Ausserpolitik. Die Epoche der Aufklärung wird durch eine neue Form des Geheimnisses durchzogen, das der Moral, die aus dem Geheimen in den politischen Raum drängt. „In den Logen und durch sie gewinnt das Bürgertum eine eigene soziale Form. Ihr Geheimnis tritt – in Nachahmung beider – neben die Mysterien der Kirche und neben die Arcanpolitik der Staaten. Es ist das Geheimnis einer dritten Gewalt, die nach ihrem eigenen, selbstgeschaffenen Gesetz lebte, wie es bei Locke als ,Law of private Censure‘ neben das Divine Law und Civil Law getreten war.“202 Das Ausserpolitische ist das Geheimnis selbst, das den absolutistischen Staat unterläuft203 und die Gesellschaft als ausserhalb des Staates stehend, möglich macht. „Auf Grund dieser Gemeinsamkeit [der machtlosen Adeligen, Financiers und Philosophen, M.S.] bildete sich eine für den absolutistischen Staat außerstaatliche Interessensphäre heraus, die der Gesellschaft, der société, in der die verschiedenen Gruppen ihren eigenständigen Platz sahen.“204 Und die Öffentlichkeit ist das Sammelsurium aller indirekten Gewalten, in denen sich diese austoben dürfen: das ist das Geheimnis.205 Dass die moderne Öffentlichkeit alle Zeichen der potestas indirecta206 trägt und daher jede Art von Kritik an ihr der Kritik an der potestas indirecta gleicht, versteht sich von selbst, wie es sich auch von selbst versteht, dass die Herrschaft der anonymen Öffentlichkeit auch die Kritik an allen anonymen, nichtsichtbaren Mächten, an den Freimaurern, an den Jesuiten, an den Juden usw. verstärkt. Meine Intention ist hier jedoch Koselleck, ibid., S. 59. Koselleck, ibid., S. 57. 203 „Durch das Geheimnis und hinter ihm vollzog sich eine soziale Gruppierung, die das Gewicht einer indirekten Gewalt bekam, während auf der anderen Seite der absolutistische Staat stand in der Hoheit und in Frankreich schließlich in der Hohlheit seiner direkten Herrschergewalt. Es sind bereits und gerade die innergesellschaftlichen Funktionen, die – scheinbar ohne den Staat zu berühren – die absolutistische Souveränität in Fragen stellten.“ Koselleck, ibid., S. 65: Koselleck beweist, daß es nicht der individuelle Gewissensvorbehalt ist, der den Staat aushöhlt, sondern das Geheimnis der Ausserpolitischen, die nicht gesehen werden können vom Leviathan. 204 Koselleck, ibid., S. 52. 205 Man möchte sogar einmal die Sinnstiftung durch Geschichte, wie sie im 18. Jahrhundert en vogue ist, auf ihre ausserpolitische Funktion hin befragen. Man wird feststellen, dass auch die Geschichte eine ausserpolitische Vorstellung ist, die wunderbar in den politischen Raum zurückschlagen kann. War es bislang eher die Vorsehung, mit denen die Gewissensmenschen wie Cromwell ihre politischen Aktionen zu legitimieren beliebten, wird die Notwendigkeit der Geschichte oder der Aufklärungsprozess, den es, auch mit Tugendterror, zu befördern gelte, zu einem in den politischen Raum zurückebbenden Kampfbegriff. Koselleck stellt fest: „Die Geschichtsphilosophie war die indirekt politische Macht schlechthin.“ Koselleck, ibid., S. 113. „Diese Verdeckung des Politischen bleibt durch die bürgerliche Geschichtsphilosophie als diese Verdeckung verborgen.“ Koselleck, ibid., S. 103. 206 Habermas spricht zu Recht vom corpus mysticum, Habermas, ibid., S. 173. 201 202

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ausschliesslich, dieses Phänomen bei Rousseau zu lesen. Rousseau war – wie weiland Sokrates, der Zeuge der Geburt des Gewissens, des Daimonion – nun Zeuge einer Geburt der anonymen Öffentlichkeit oder doch wenigstens der erste bewusste Zeuge und Entdecker eines bereits Geborenen, einer Öffentlichkeit, die so grundverschieden von dem war, was publik genannt wurde – denn Öffentlichkeit war ursprünglich nur die konkrete Negation des Oikos und gar nicht anonym, hauptsächlich sogar der politische Raum der Umstehenden als ein Raum der potentiellen Freundschaft – nun aber wurde Öffentlichkeit etwas Abstraktes, Anonymes, etwas Aussermenschliches, Unstoffliches und Unsichtbares. Der Contrat social ist weniger ein sozialer Vertrag als vielmehr ein öffentlicher Vertrag, ein Contrat publique. Er wird der Öffentlichkeit, die sich wohl anhand des Rousseauschen Werkes ihres Gemeinwillens bewusst werden soll, unterbreitet, – „es schien mir am wenigsten unwürdig, der Öffentlichkeit vorgelegt zu werden“207 – wobei der Öffentlichkeit die Richterrolle übertragen wird, die sie erst bei Selbstbewusstwerdung durch den Text des Contrat social ganz erfüllen kann. Der Ausbruch aus der Gelehrtenrepublik, der nach Bayle und Leibniz, wie gesehen, systematisch auf dem Programm stand, musste, wenn schon der Leviathan gesetzt sein soll, gedeckelt werden, musste aber auch in die anonyme Öffentlichkeit diffundieren und musste früher oder später den ausserpolitischen Pyrrhonismus auf die politische Tagesordnung bringen. Der starke Staat als Garant der inneren Befriedung werde ja nicht, gemäss Rousseau, ausgeweidet, wie dies auch Carl Schmitt zu verstehen gab208, durch den individuellen Gewissensvorbehalt der Bürger, sondern werde durch die Möglichkeit eines umfriedeten Tummelplatzes, des „gefährlichen Pyrrhonismus“209 gefährdet. Gegen diese Diagnose baut Rousseau einen Gesellschaftsstaat auf, „der alles Mögliche unternehmen muss, um die Bürger gerade die Tatsache vergessen zu lassen, die die politische Philosophie als Grundlage der Gesellschaft in den Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit rückt“210, nämlich, dass es einen ursprünglichen Vertrag gegeben habe, dessen Inhalte plötzlich ins Gerede kommen könnten – ein Stratagematum, das man nötig hat, wenn man den unsichtbaren Körper des Königs eliminiert und neue götterlose Arkana an- und aufzupflanzen gezwungen ist. Die Problematik des Skeptizismus, der den Staat aushöhlen kann und den sinnlosen Streit im Innern unlösRousseau, ibid., Vorbemerkung. Schmitt, Leviathan, ibid., S. 124. 209 „A l’ignorance méprisée on substituera un dangereux pyrrhonisme.“ [An die Stelle der Unwissenheit wird ein gefährlicher Pyrrhonismus treten]. (Rousseau, Discours sur les sciences et les arts.– In: Rousseau, Jean-Jacques: Schriften zur Kulturkritik. Über Kunst und Wissenschaft (1750, 41983), S. 13). 210 Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 300. „Indessen polemisiert Rousseau bereits in seiner Préface à Narcisse gegen den vaterlandslosen Philosophen.“ Kurt Weigand, Herausgeber der beiden Diskurse, verweist auf Voßler, Otto: Der Nationalgedanke von Rousseau bis Ranke, 1937 sowie Choulguine, Alexandre: Les origines de l’esprit national moderne et J. J. Rousseau, 1938 (Annales) in Hinblick auf Rousseau als Vater des Nationalgedankens. (Rousseau, Schriften zur Kulturkritik, ibid., 2. Discours, 1. Teil, Anm. 65, S. 333). 207 208

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bar werden lässt, ergibt sich daraus, dass die modernen Skeptiker sich nicht des Urteils enthalten, sondern mit ihrem Wertrelativismus Politik machen können211. Nicht von ungefähr sind erstaunliche Parallelen zwischen Rousseau und Bayle gezogen worden: „Die totale Demokratie, die Rousseau ein halbes Jahrhundert später konzipieren sollte, ist die auf den Staat ausgeweitete Gelehrtenrepublik des Bayle (Vgl. A. Cochin, La Révolution et la libre-pensée, Paris 1924, 76 ff.). Sie lieferte das Modell einer Staatsform, für die der Bürgerkrieg, wenn auch nur geistig, legalisiert und Grundlage der Legitimität ist.“212 Die Aufgabe, vor der Rousseau also bezüglich des (aus der Warte des Leviathan) nach unten weltanschaulich neutralen, im Innern aber weltanschaulich pyrrhonistischen Staates gestellt war, bestand in der Suche nach einer Assoziation, die gerade angesichts des pyrrhonistischen Sprengstoffs hinreichend liberal-freiheitlich war, ohne den Namen der Assoziation zu verlieren, genauer: „Trouver une forme d’association . . . par laquelle chacun s’unissant à tous n’obéisse pourtant qu’à la même et reste aussi libre qu’auparavant.“213 Koselleck schreibt: „Die eigentliche Schwierigkeit, die es zu lösen gelte, sagte Rousseau schon in seinem Art. ,Economie‘ in der Enzyklopädie, ,est d’assurer à la fois la liberté publique et la autorité du gouvernement.‘“214 Und meiner Meinung nach gelingt Rousseau das Kunststück, die liberté publique und die l’autorité du gouvernement zu verbinden, indem er ein Gleichheitszeichen zwischen beide einfügt: die liberté publique ist die l’autorité du gouvernement, und das ist nichts anderes als die Volonté générale. „Die wichtigste Aufgabe des neuen Gesetzgebers, von der alles andere abhänge, besteht darin, die Autorität durch die Macht der Öffentlichkeit zu ersetzen. Dieser Aufgabe unterzieht der Chef sich nur im geheimen (Contrat social II, 12).“215 Hier bezieht sich Koselleck auf einen der zentralen Pas211 Schon Bayle selber bescheinigt der Politik, einen ,désordre‘ zu entfachen, dessen Remedur vergebens zu suchen ist. „Le désordre est inévitable dans la Politique“, aber: „c’est vain qu’on en chercheroit le remède“ (Art. Bourgogne, 639 b), zitiert nach Koselleck, ibid., Anm. 178, S. 202. Selbstredend nimmt sich Bayle von seiner Diagnose aus und will die Verantwortung seines Kassandratums nicht wahr haben. Als Skeptiker ist ihm die Politikkunst des Principe natürlich angenehm: „Politica est ars tam regendi quam fallendi homines“ sagt er, wie immer skeptisch-demaskierend. Über Machiavelli geht er hinaus, indem er die der Politik eigene Grammatik und Sprache nicht konstruiert sondern schon konstatiert: „Les politiques ont un langage à part et qui leur est propre; les termes et les phrases ne signifient pas chez eux les mêmes choses, que chez les autres hommes.“ (Diss. sur les lib. diff.). Damit steht, umgekehrt, der Politiker, und im weiteren dann Rousseau, vor der Frage, wie er seine Sprache den Menschen wieder verständlich machen kann, wenn er, der Politiker, schon eine eigene Sprache spricht. Rousseaus Antwort der Herrschaft der Volonté générale soll die Antwort auf die Sprachschwierigkeiten der Politiker sein. Das Problem des Skeptizismus im Innern der Gesellschaft und des Staates ist in der Tat ein politisches Problem, das der Skeptizismus nicht selber lösen kann und die Politiker auf den Plan rufen muss. 212 Koselleck, ibid., S. 91. 213 Rousseau, ibid., I, 6. 214 Koselleck, ibid., Anm. 105, S. 223. 215 Koselleck, ibid., S. 139.

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sagen aus dem Contrat social, eine Passage, in der Rousseau Klartext einmal redet und die „Einteilung der Gesetze“, so die Kapitelüberschrift, vornimmt. Grundgesetze existieren auf der Ebene des Gesamtkörpers ohne Ansehen der Personen, bürgerliche Gesetze regeln das Verhältnis der Teile untereinander und der Teile zum Ganzen, Strafgesetze, „die im Grunde weniger eine besondere Gattung von Gesetzen sind“216, ahnden die Läsion der Gesetze, und dann, als Höhepunkt, „fügt sich eine vierte, die wichtigste von allen, die weder auf Marmor noch auf Erz, sondern in die Herzen der Bürger geschrieben wird“ Art von Gesetzen, und Rousseau expliziert: „Je parle des mœurs, des coutumes, et surtout de l’opinion; partie inconnue à nos politiques, mais de laquelle dépend le succès de toutes les autres; partie dont le grand législateur s’occupe en secret . . .“217 Der Politiker-Souverän beschäftigt sich allerdings, gemäss Rousseau, mit den Meinungen, den öffentlichen Meinungen, und nur mittelbar mit den Sitten und Gebräuchen, nämlich insofern sie sich in die moderne anonyme Öffentlichkeit emanieren. Um einen Schritt weiter zu gehen von der Beschäftigung des Législateurs mit der öffentlichen Meinung zu der bei Rousseau vermuteten Öffentlichkeitsdiktatur, muss die Genese von Öffentlichkeit im Denken Rousseaus seit den beiden Diskurse beleuchtet sein. Es ist ja erstaunlich, welchen Weg der einstige Zivilisationskritiker Rousseau zurückgelegt hat, der geschrieben hatte, dass „. . . der zivilisierte Mensch immer sich selbst fern [ist] und nur im Spiegel der Meinung der anderen leben [kann]“218, er „das Gefühl seiner eigenen Existenz sozusagen aus deren Urteil allein [entnimmt]“219, und den menschlichen Schrei der Überredungskunst in der Versammlung entgegengestellt hatte220, zudem die Kritik an den Konventionen in Gestalt des edlen Wilden, der nie auch „nur daran gedacht, sich über das Leben zu beklagen und sich umzubringen“221, um so leuchtender hervorgehoben hatte, nun aber, im Gesellschaftsvertrag, die eben noch verachtete Gesellschaft und ihren Gemeinwillen zu besingen scheint. Dabei ist es gerade die in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit anzutreffende Bosheit, die bei Rousseau wie bei Voltaire Grund der Ablehnung ist: Die Darstellung der ,bösen‘ Gesellschaft durch Voltaire in seiner berühmten Replik auf den 1. Discours ist bezeichnenderweise völlig bestimmt von Gemeinheiten aus der Welt Rousseau, ibid., II, 12, S. 60. Rousseau, Contrat Social, II, 12. 218 Rousseau, Schriften zur Kulturkritik, Discours sur l’inégalité, ibid., S. 265. 219 Rousseau, ibid., S. 267. Hier sehen wir die Kritik an der Öffentlichkeit als einer Kritik der Entfremdung und diese als einer Kritik der zeitgenössischen Politik voll entfaltet. 220 „Die erste Sprache des Menschen, die allgemeinste, kraftvollste und die einzige, die er nötig hatte, bevor er eine Versammlung überreden mußte, ist der Schrei der Natur.“ (Rousseau, Discours sur l’inégalité, ibid., 1. Teil. S. 153 ff.) Statt Cicero also Tarzan. Gegen die falsche Öffentlichkeit und das ,gut reden‘ wird das Unverbrauchte in Stellung gebracht, jedoch noch ohne so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit einzudenken. 221 „Ich frage, ob man jemals sagen hörte, ein Wilder in Freiheit habe auch nur daran gedacht, sich über das Leben zu beklagen und sich umzubringen?“ (Rousseau, ibid., S. 165). 216 217

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der Presse: öffentliche Verleumdungen, geistiger Diebstahl, böswillige Verfälschungen, usw., ein Preis, den der Aufklärer Voltaire billigt, sogar wenn er Opfer der Gemeinheiten sei222. Der Stadt-Land- oder Zentrum-Provinz-Gegensatz mit ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit ihrer unterschiedlichen Zeit und mit ihrer je eigenen Öffentlichkeit und Geselligkeitsform, wie sie Cassirer als persönlichkeitsbildend bei Rousseau ausmacht223, mag hier, in der anfänglichen Ablehnung von Gesellschaft und Öffentlichkeit zum Tragen kommen und man könnte handkehrum den Contrat social als eine verstädterte, antimittelalterlich-antiländliche Theorie begreifen, aber interessant erscheint mir vor allem das mögliche Dialektikpotential der – in den Diskursen – ursprünglichen Frontstellung gegen Öffentlichkeit und das – im Contrat social – spätere Überlaufen zur modernen Öffentlichkeit in Hinblick auf den Typus Rousseau; Rousseau, der selber eine öffentliche „media celebrity“224 wurde, aber eine media celebrity der antiöffentlich gemeinten Empfindsamkeit / Empfindlichkeit. Es ist richtig, was Hannah Arendt225 bemerkt, dass insbesondere die Spur der ganz und gar ausserpolitischen Empfind222 Brief Voltaires an Rousseau vom 30. Aug. 1755. In: Rousseau, ibid., 1. Discours, Anhang. S. 305 f. Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass die offensichtlich selbstlose Heuchelei des Voltaire beim Erdulden presse-öffentlicher Verleumdung wohl verdecken sollte, dass der grossolympische Aufklärer an den Schlammschlachten selber munter mittat. Das anonyme [!] Pamphlet, in dem Rousseau der moralischen Heuchelei bezichtigt wurde – eben diese Geschichte über seine fünf Kinder, die er in ein Pariser Waisenhaus abgeschoben hat – wurde in Wirklichkeit von Voltaire verfasst. Voltaire schreibt, anonym, über Rousseau: „Betrachten wir den Mann, der sie so behandelt; ist es ein Gelehrter, der mit Gelehrten disputiert? Nein, es ist der Verfasser einer Oper und zweier ausgepfiffener Komödien. Ist es ein redlicher Mann, der, durch einen falschen Eifer getrogen, ungebührliche Vorwürfe gegen tugendhafte Männer erhebt? Wir gestehen errötend und leidvoll, daß es ein Mann ist, der die schlimmen Zeichen seiner Ausschweifungen noch an sich trägt und, als Gaukler verkleidet, jene Unglückselige von Dorf zu Dorf und von Berg zu Berg mit sich führt, deren Mutter er den Tod brachte und deren Kinder er vor der Pforte eines Hospizes aussetzte, womit er ihnen die Pflege versagte, die ihnen eine mildtätige Frau angedeihen lassen wollte; damit hat er allen Empfindungen der Natur abgeschworen und die der Ehre und der Religion von sich getan.“ Schröder, Winfried (Hrsg.): Jean-Jacques Rousseau: Korrespondenzen. Eine Auswahl (1992), S. 415. Dieser gemeine Manœuvre im Rahmen eines theoretischen Streites brachte Rousseau an den Rand des Wahnsinns. (Vgl. Boswell, James: Journal (entstanden 1762 / 63, Erstdruck 1950, 1996), S. 442, Anm. 21). Aber das bestätigt nur die These über die Rolle der Öffentlichkeit. Ausserdem verfährt Rousseau konsequent, wenn er die Kinder ins Waisenhaus steckt, da es ,natürlich’ die Öffentlichkeit sein soll, die für sie sorgt. 223 Cassirer, Ernst: Das Problem Jean Jacques Rousseau (1954, dt. 1959, 1970), S. 5 ff. 224 Jaumann, Herbert: Rousseau in Deutschland (1995), S. 9 nennt als Vergleich James Dean. Süßenberger, Claus: Rousseau im Urteil der deutschen Publizistik bis zum Ende der Französischen Revolution. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte (1974), Kapitel I: Wallfahrt, Apotheose und Polemik, S. 21 ff., berichtet von den Wallfahrten nach Ermenonville – 1780 besucht Marie-Antoinette das Grab von Jean-Jacques – und der stets publizistisch begleiteten Wallfahrerromantik. 225 Rede anlässlich der Verleihung des Lessingpreises (1959), in: Arendt, Hannah: Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, und in der Fortführung: On Revolution (1963).

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samkeit und der emphatischen Mitleidsvorstellung, also Gegenstücke zur Publizität, ebenfalls ins Politische einfallen könne und direkt zum Tugendterror des Robespierre führe, denn, „zu einem politischen Prinzip erhoben, entpuppe sich der Mitleidsgedanke als höchst gefährlich, ja explosiv, weil er Emotionalität an die Stelle der Rationalität setze und weil das Mitleid mit den Armen und Unterdrückten sich als Kampfmittel gegen die vermeintlichen Unterdrücker einsetzen lasse.“226 Aber damit ist die Dialektik der modernen Öffentlichkeit, wie sie im Leben, Denken und Werk Rousseaus ansichtig wird, noch nicht erfasst. Die Geschichte der Pamphlete und Gegendarstellungen, des Streits um Rousseau ist immer mit einer Geschichte der Dialektik von Öffentlichkeit mitzulesen. Süßenberger bemerkt dazu: „Soviel bleibt festzuhalten: Die Klagen gegen die Person des Genfers wurden zu seinen Lebzeiten meist nicht in aller Offenheit ausgetragen, sondern seine Kritiker bedienten sich gern anonymer Schmäh- und Spottschriften, exklusiver Publikationen und privater Korrespondenzen. Erst nach seinem Tod, in der Kontroverse um seine Todesart und anlässlich des Erscheinens der autobiographischen Schriften greift die Attacke gegen Rousseau auf öffentlich verbreitetes und ausgewiesenes Schrifttum über, um nach einer Zeit ziemlichen Desinteresses nach der Revolution im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts noch einmal neu entfacht zu werden. Von Anbeginn an, seit dem Erscheinen des ,Discours sur les sciences et les arts‘, Anfang 1751, wurde in Frankreich ein vehementer Meinungsstreit um den paradoxen Literaten Rousseau geführt, wo Spekulationen über seinen Charakter gleich schon beigemischt waren. [ . . . ] Bemerkenswert aber ist, daß dennoch der Politiker Rousseau bis zur Revolution hin dann kaum mehr so recht wahrgenommen wird“.227

Die schon von Habermas ausgeschlachtete erste (und im Diskurs einzige) Erwähnung des Begriffs der öffentlichen Meinung im ersten Diskurs lohnt sich zu zitieren, da auch hier schon das Problem der Zersetzung der Gesellschaft durch den Skeptizismus auf der Tagesordnung steht und wesentlich zu der Verneinung beiträgt, ob die Wissenschaften und Künste die Sitten geläutert hätten. Von den skeptischen Gebildeten und „obskuren Schriftstellern“ heisst es: „Non qu’au fond ils haïssent ni la vertu ni nos dogmes; c’est de l’opinion publique qu’ils sont ennemis; et pour les ramener aux pieds des autels, il suffirait de les reléguer parmi les athées“228. Hier erscheit die öffentliche Meinung schon als etwas Positives, der sich die obskuranten Pyrrhonisten zu entziehen suchen, um lieber in den politischausserpolitischen Logen ihrem Privatskeptizismus zu frönen, aber Rousseau diagnostiziert hier noch, entwickelt sich dann erst im Contrat social zum Kämpfer für eine moderne Öffentlichkeit. 226 Kronauer, Wolfgang: Der kühne Weltweise. Lessing als Leser Rousseaus (1995), Abschnitt 1. Hannah Arendt: die merkwürdige Übereinstimmung, S. 24. 227 Süßenberger, ibid., S. 40. 228 Rousseau, Discours sur l’inégalité, ibid., Seconde Partie, 5. Abschnitt. [„Nicht als ob sie [die Rede ist von den skeptischen Gebildeten und ,obskuren Schriftstellern‘, M.S.] im Grunde die Tugend und unsere Dogmen hassten – ihr Gegner ist die öffentliche Meinung [oder: sie sind der öffentlichen Meinung feind, M.S.]. Um sie zu den Füssen der Altäre zurückzuführen, würde es genügen, wenn man sie unter die Atheisten versetzte [als Atheisten ausstösse, M.S.].“].

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Der Umschlag von der Kritik an Gesellschaft zum Hymnus auf Gesellschaft, von Discours zum Contrat, ereignet sich nicht als Läuterung Rousseaus, sondern ergibt sich als Radikalisierung des anthropologischen Ansatzes der Diskurse. Die durch die Öffentlichkeit uniforme Gesellschaft, wie sie der Contrat social theoretisch untermauert, ergibt sich durch eine monistische Misanthropie, die sich ursprünglich der Kulturkritik verdankt. Es ist bemerkt worden, dass Rousseau hobbesianischer als Hobbes in der psychologisierenden Schilderung des Naturzustandes sei229, was noch gesteigert werde durch die Reduktion der bürgerlichen Welt auf ihre ,Triebe‘.230 Der Mensch ist im Naturzustand nicht nur asozial, wie es Hobbes zugab, sondern auch vorrational, das heisst unfähig, allgemeine Begriffe zu besitzen, somit unfähig zur durchgehenden Leidenschaft, zu Stolz und Eitelkeit. Der Mensch kann im Naturzustand nicht böse sein, weil ihm das auf rationaler Distinktion basierende Kalkül oder die auf gesellschaftlicher Konvention basierende amour propre, die Selbstsucht, fehlt: somit besitzt der Mensch von Natur aus, gegen Pascal, La Rochefoucauld und die Skeptiker, aber pro Vauvenargues (Fetscher, ibid., S. 69) die bonté naturelle. „Der Hang zur Geselligkeit“ (ibid., 2. Discours, Vorwort, S. 73) über den sich Rousseau mit Diderot entzweite (ibid., Anm. 8, S. 328), wird von Rousseau nicht mehr als notwendig angenommen. In die triebhaften menschlichen Welt herrscht ein neues Prinzip, das freiheitliche und nichtskeptische Gesellschaften begründen und fundieren soll, das Prinzip der Freiheit durch das Gesetz, das Prinzip des „Gehorsams gegen das selbstgegebene Gesetz“, und dieser bürgerliche Gesellschaftszustand macht den Menschen frei von seinen Trieben und reif für die „sittliche Freiheit“ und damit reif für die Internalisierung allerlei Allgemeinheiten in die Konkretion des Gewissens. „Der allgemeine Wille nimmt die Stellung des Naturgesetzes ein. [ . . . ] Die freie Gesellschaft beruht auf der Absorption des Naturrechts durch das positive Gesetz.“231 Dass das Rousseau, ibid., 281 f. „Sein [Rousseaus] Begriff des Ganzen erforderte es jedoch, worauf Spinoza hingewiesen hatte, dass der Dualismus von Naturzustand und bürgerlicher Gesellschaft oder der Dualismus zwischen der natürlichen Welt und der Welt des Menschen auf den Monismus der natürlichen Welt reduziert werde . . .“. (Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 284). Teil dieser Argumentation ist die Analyse, dass die heilige Einheit der Polis (Vorbild Rom, Athen) durch ,den Dualismus der weltlichen und geistlichen Macht‘ (Rousseau, ibid., 264) zerstört worden sei, man die Reihe der Bedingungen zurück müsse, um zum ,Wahren‘ zurückzugehen, bis schliesslich durch die Rückkehr vom modernen Staat zur klassischen Polis und weiter bis zum Naturzustand, zum ,Naturmenschen‘ angelangt werden könne. Dagegen opponiert Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, ibid., S. 79 ff., der den Dualismus anthropologisch-kartesianisch bestehen sehen bleibt und im ,Doppelwesen‘ Mensch neben dem être sensitif auch das Gewissen, être intelligent, in Rousseaus Konzeption beschlossen sieht. Diesem intellektuellen Sein entspricht aber keine geistig-göttliche Welt, sondern ist lediglich der „l’amour de ordre“ (Brief Rousseaus an den Pariser Erzbischof Christophe de Baumont (1762), zit. nach Fetscher, ibid., S. 80), der Liebe zur Ordnung zugeordnet. Das Gewissen geht auf die Liebe zur Ordnung der Welt, sprich vom ausserpolitischen Inneren des Menschen auf die politische ,Liebe zur Ordnung‘, womit die Reduktion auf den ,Monismus der natürlichen Welt‘, von der Strauss spricht, trotz der Einwendungen Fetschers, bestätigt ist. 229 230

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öffentliche Wohl eine Spätwirkung der privaten Laster sei, wird von Rousseau kulturgeschichtlich begründet zurückgewiesen232; seine ,invisible hand‘ hat weder im ersten Discours noch im Gesellschaftsvertrag etwas mit der Apotheose privaten Eigentums, sondern viel mehr mit Politikkritik und der späteren Apotheose von Öffentlichkeit zu tun, Öffentlichkeit als nichtprivate, von jeglicher Privatheit getrennte Öffentlichkeit verstanden. Der Zusammenhang der beiden Diskurse mit dem Contrat social konstruiert sich also durch die gemeinsame Feindschaft zu den ,obskuren Schriftstellern‘, zu den Skeptikern und Pyrrhonisten, zum Bayle / Leibniz-Universum233 mithin, und die Erfahrung des Ungenügens der beiden Diskurse, diesen Pyrrhonisten mit Kulturkritik nicht beikommen zu können, führt Rousseau zu einer ,Leviathanisierung‘ seines Ansatzes – mit Hobbes und der idealisierten Antike bewaffnet, um das Moment einer Herrschaft der Öffentlichkeit, sprich der Volonté générale nachgerüstet. Der grosse Unterschied zu den Diskursen besteht vor allem darin, dass im Contrat social die Paradoxien, kunstvoll eingeflochten, instrumentalisierbar sind und in der Vorstellung einer niemals sich konkretisierenden Volonté générale kulminieren. Als öffentlich-antiöffentlicher Typus hat Rousseau Paradoxien234 vermehrt und ein für das Funktionieren unserer modernen Gesellschaft notwendiges Paradoxienniveau aufs Podest gehoben, das nicht mehr ungeschehen gemacht und nicht mehr ,weggedacht‘ werden kann. Rousseau hypostasiert im Contrat social einen allgemeinen Willen, der jedem gemein ist, um das Fundament zu legen für eine freiheitliche Grundordnung, die resistent ist gegen den ,gefährlichen Pyrrhonismus‘, also gegen Indifferenz, Kontingenzbewusstsein, gesellschaftlichem Egoismus und Atomisierung, so dass die Parteiungen nicht überhand nehmen und eine aussergesellschaftliche Instanz, wie es etwa das Naturrecht schafft, nicht nur undenkbar, sondern auch folgenlos würde. Die ideale Einheit einer Volksherrschaft muss angenommen werden, ansonsten Strauss, ibid., S. 284. Das Mandevillesche „Private vices, public benefits“ „der Luxus ist der Glanz der Staaten“ kritisch diskutiert im 1. Discours, „Über Kunst und Wissenschaft“. (In: Rousseau, Schriften zur Kulturkritik, ibid., S. 35). 233 Wie Masson auseinandersetzt, ist die ,Formation religieuse de Rousseau‘ davon geprägt, dass in der ,Bibliothèque de ‘, der Madame de Warens, auch die ,livres séculiers‘ des Bayle und des Voltaire standen, Rousseau also über seine Gegner genau Bescheid wusste (Masson, Pierre: La Religion de J. J. Rousseau (1916) I, 85). 234 Die Brüche und Paradoxien beschäftigen die Forschung bis zum heutigen Tage und lassen diese vor die Option der Harmonisierung oder der stehengelassenen Differenz gestellt sein. Zu nennen wäre: Salkever, Stephen: Interpreting Rousseau’s Paradoxes (1977 / 78); Derathé, Robert: L’unité de la pensée de Jean-Jacques Rousseau (1962); Wahl, Jean: La Bipolarité de Rousseau (1953 / 55); Topazio, Virgil: Rousseau, Man of Contradictions (1961); Shklar, Judith: Men and Citizens: A Study of Rousseau’s Social Theory (1969, 21985); Powers, R.H.: Rousseau’s ,Useless Science‘, Dilemma or Paradox? (1961 / 62). Bereits früher: Faguet, Émile: Rousseau (1910), Maritain, Jacques: Trois réformateurs, Luther, Descartes, Rousseau (1925) Ritzel, Wolfgang: J.-J. Rousseau (1949), Groethuysen, Bernhard: J.-J. Rousseau (1949). Diesen Autoren vorher geht der Aufsatz von Lanson über die Einheit des Rousseauschen Denkens, Lanson, Gustave: L’unité de la pensée de J.-J. Rousseau (1912). 231 232

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nicht das Volk herrscht, und selbst wenn die moderne Demokratie sich mit der wertneutralen Hegung allen wünschenswerten Dissens‘ brüstet, bleibt ein imaginärer Rest an Nichtrelativismus, Nichtskeptizismus, Nichtdissens dieser Ordnung, den Rousseau wenigstens sieht und mit dem Begriff der Volonté générale fassen will. Und als freiheitliches Individuum bleibe ich nur frei, wenn ich nicht gesellschaftlichen Partikularinteressen gegenüberstehe, sondern ein Zusammenhang mit einem potentiellen Einverständnis meinerseits mit der mich umgebenden Gesellschaft möglich und wirklich ist. „Les engagements qui nous lient au corps social ne sont obligatoires que parce qu’ils sont mutuels; et leur nature est telle qu’en les remplissant on ne peut travailler pour autrui sans travailler aussi pour soi.“235 Das ,Engagement‘ der Bürger ist also mutuell, wechselseitig-gegenseitig verstrebt, und nur durch die abgeschlossene Wechselseitigkeit bezieht die Volonté générale ihre Legitimation. Die Bedingung der Möglichkeit dieser gedachten Form der abgeschlossenen Wechselseitigkeit muss ein diese Wechselseitigkeit ermöglichendes Medium oder Forum sein, das, vielleicht nur kontrafaktisch vorhanden, den Objekten der Volonté générale die Illusion gibt, dass sie prinzipiell immer in Beziehung zu den anderen Objekten treten könnten. Dieses Forum-Medium kann nur die anonyme, nichtpersonale Öffentlichkeit sein. Es muss vor allem ein Forum-Medium sein, in das man eintritt, ohne dass etwas gefordert werden kann oder geschuldet sein muss, ohne dass ein wechselseitiger Vertrag und ohne dass ein Rechtshandel entstehen kann, ohne dass Vorteilsnahme, ohne dass Prärogative, Pfründe, wohlerworbene Rechte und Privilegien vorlägen. Denn damit beschränkte die Wechselseitigkeit sich lediglich auf wechselnde Vertragsparteien. „In der Tat, sobald es sich um eine besondere Tatsache, um ein besonderes Recht handelt in einer Sache, die nicht durch eine vorherige allgemeine Übereinkunft geregelt worden ist, wird die Angelegenheit strittig. Dies ist ein Verfahren, in dem die betroffenen Einzelnen die eine und die Öffentlichkeit die andere Partei sind, in dem ich aber weder das Gesetz sehe, das anzuwenden ist, noch den Richter, der entscheiden soll. Es wäre lächerlich, sich da auf einen ausdrücklichen Entscheid des Gemeinwillens beziehen zu wollen, der nichts sein kann als der Beschluß einer der Parteien und der folglich für die andere nur ein von außen kommender, besonderer Wille ist, der in diesem Fall zur Ungerechtigkeit neigt und dem Irrtum unterworfen ist.“236

Der Gemeinwille, die Volonté générale, ist kein Gesamtwille, keine Volonté de tous und als solcher absolut (Contrat social, I, 7), unveräußerlich und unübertragbar (II, 1), unteilbar (II, 2), unfehlbar (II, 3) und unzerstörbar (IV, 1), wobei er, gemäss Bertrand de Jouvenel, eine dreifache Wurzel aufweise: eine logische, eine naturrechtliche, eine theologische237. Die Kehrseite der Medaille und im Faschismus235 Rousseau, Contrat Social, ibid., II, 4; S. 33 [„Die Verpflichtungen, die uns an den Gesellschaftskörper binden, sind nur deshalb zwingend, weil sie gegenseitig sind, und ihre Natur ist derart, dass man, wenn man sie erfüllt, nicht für einen anderen arbeiten kann, ohne zugleich für sich zu arbeiten.“]. 236 Rousseau, ibid., II, 4; S. 34. 237 Jouvenel, Bertrand: Du Contrat Social de J. J. Rousseau (1947), S. 105 ff. Die logische Wurzel ist die der weiter unten strapazierten systematischen Nichtkonkretion des immer ,All-

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vorwurf an Rousseau oftmals strapaziert, ist, dass der Gemeinwille nicht nur im Sinne einer Fiktion, um bürgerlichen Freiheit zu legitimieren und theoretisch zu untermauern, sondern mit Ausschliesslichkeitsanspruch versehen gilt. „Darüber hinaus ist die Vereinigung, da die Entäusserung ohne Vorbehalt geschah, so vollkommen, wie sie nur sein kann, und kein Mitglied hat mehr etwas zu fordern: denn wenn dem Einzelnen einige Rechte blieben, würde jeder – da es keine allen übergeordnete Instanz gäbe, die zwischen ihm und der Öffentlichkeit entscheiden könnte – bald des Anspruchs erheben, weil er in manchen Punkten sein eigener Richter ist, es auch in allen zu sein; der Naturzustand würde fortdauern, und der Zusammenschluss wäre dann notwendig tyrannisch oder inhaltslos.“238

Mit dem Begriff der Volonté générale ist dem Umstand begrifflich Rechnung getragen, dass dem Allgemeinen, Anonymen, Abstrakten, und ,Generellen‘ eine Richtung, eine ,Volonté‘ innewohnen kann und innewohnt, dass sich darauf bauen lässt und damit rechnen lässt, dass trotz aller Allgemeinheit eine Konkretion vorliegt, die eine Intentionalität, einen ,Willen‘ beherbergt239. Die Volonté générale ist Öffentlichkeit pur sang, ins Metaphysische übersetzt und nur mangels eines Begriffs von Öffentlichkeit im modernen Sinne ersonnen240. Selbst wenn die Volonté de tous einmütig wäre, wäre sie nie Volonté générale – ihr fehlt der anonyme und systemisch-dialektische Zug, ihr fehlen die abgeschlossen-interdependenten Prozesse, die instrumentalisiert werden können. Die neue Öffentlichkeit ist eben nicht mehr res publica, die allen gemeinsame Sache, sondern die gemeinsame aber niemandes Sache, die von allen losgelöste aber gemeinsame Sache, die Sache, die die abstrakten Gesetze ins Recht und in die Macht setzt und die Gesetze herrschen macht; herrschen in einem Behälter, in dem Gesetze, Gemeinwille und Einzelwillen verschmelzen. Zur Abtretung der Freiheitsrechte an ein anonymes Allgemeines gehört auch das Abtreten der Eigentumsrechte an so etwas wie die ,öffentliche Hand‘. Der Staat als gemeinen‘ Willens, die naturrechtliche die einer moralisch-metaphysischen Wesenheit ohne juristische, hobbessche Fiktion und die theologische die Übertragung des schönen göttlichen Willens more geometrico auf den Gemeinwillen der menschlichen Gemeinschaft. Fetscher bricht hier, wie sonst, wieder eine Lanze für die kleinen Republiken und direkte Demokratien, wenn er zeigen will (ibid., S. 118 ff.), dass diese Übertragung sich nur in Republiken kleineren Formats denken liesse. 238 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, ibid., I, 6; S. 17 f. 239 Interessanterweise hat Kant in der Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis, (1793, II. 3, A244), gegen Hobbes, für Rousseau, die These vertreten, dass alles Recht nur als der Ausspruch des allgemeinen Willens verstanden werden könne, bzw. als der „Actus eines öffentlichen Willens“ (Kant, Werke, Bd. 9, S. 150) Es steht zu vermuten, dass Kant den Witz der Rousseauschen Theorie verstanden hat und nicht zufällig statt vom allgemeinen vom öffentlichen Willen redet! 240 Öffentlichkeit wird im Französischen, ebenso wie im Englischen, in der Regel mit ,public‘ übersetzt und somit fälschlicherweise ineinsgesetzt mit der antiken Tradition. Neuere Versuche, mit den Begriffen domaine public oder public sphere zu operieren, sind hoffnungsvoll, um den deutschen Stand der entwickelten Begrifflichkeit zu erreichen. Siehe auch Fussnote 420.

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,Leviathan‘ scheint dabei nur die vollziehende Rolle der öffentlichen Gewalt zu sein. Staat und Öffentlichkeit sind streng geschieden, und statt einer Übertragung und Rückübertragung des ,Gemeinguts‘ an den Leviathan soll es statt dessen zu einer ,Belehnung‘ über das Prinzip Öffentlichkeit kommen. „Indem die Eigentümer als Sachwalter des Gemeingutes betrachtet und ihre Rechte von allen Gliedern des Staates anerkannt und mit aller Kraft gegen Fremde behauptet werden, haben sie sozusagen durch eine vorteilhafte Abtretung an die Öffentlichkeit und mehr noch an sich selbst alles erworben, was sie hingegeben hatten. Ein Widerspruch, der sich leicht auflöst, wie man später sehen wird, durch den Unterschied der Rechte, die der Souverän und der Eigentümer an dem selben Boden haben.“241

Die Neue Öffentlichkeit zwingt zu Intersubjektivitäten, die unausweichlich werden und zuungunsten des freien Individuums ablaufen, obschon es als eine Vereinigung freier Individuen gedacht ist und auch ist. Öffentlichkeit systemisch heisst: nicht mehr der Einzelne entscheidet, der Öffentlichkeit beizutreten, sondern die Öffentlichkeit bestimmt, wer drinnen und wer draussen ist. Kriterium hierfür: Wer sich an die Regeln der Öffentlichkeit hält, ist drinnen, wer nicht, ist draussen.242 Staatliche Garantien basaler Bedürfnisbefriedigung genügen nicht, wenn es um den Zusammenhalt der Freien geht; eine sittliche Gemeinschaft muss her, die auch nur wieder über die Übereinkunft in publicis generiert werden kann. Wenn Hobbes die eine öffentliche Person, den Souverän, sieht243, der die Idee der Repräsentation quasi repräsentiert und so etwas wie die Sittlichkeit der Gemeinschaft ausmacht, verschiebt sich die Problematik in dem Moment, in dem die Gemeinschaft aller Rousseau, ibid., I, 9; S. 25. Habermas verkennt den Begriff der Öffentlichkeit, der sich im 18. Jahrhundert breit macht, wenn er den ,allgemeinen Zugang‘ als ihr Wesen auszumachen bestrebt ist: „Die bürgerliche Öffentlichkeit steht und fällt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs. Eine Öffentlichkeit, von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen wären, ist nicht etwa nur unvollständig, sie ist vielmehr gar keine Öffentlichkeit.“ Habermas, ibid., S. 156. Davon kann natürlich bei einer Öffentlichkeit, die der Fama ähnlich sieht, keine Rede sein. Auf den Widerspruch im bürgerlichen Öffentlichkeitsverständnis machen, leider unter Bezugnahme auf eine fehlende proletarische Öffentlichkeit, Negt und Kluge, aufmerksam, wenn sie bemängeln, dass diese Öffentlichkeit ideell allen zugänglich sein solle, in Tat und Wahrheit aber Ausschluss- und Selektionsprozesse provoziere. Kluge, Alexander / Negt, Oskar: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit (1972). 243 Die public person ist in der Regel der Souverän selbst („sovereign, that is, the public person“ (Hobbes, Leviathan, ibid., Kap. XXXV); „The king of any country is the public person, or representative of all his own subjects“ (Kap. XXXV); „the public person (that is to say, the representant of the Commonwealth)“, (Kap. XLII)) und nur zähneknirschend die vom Souverän beauftragten ,Mitglieder des Commonwealth‘ („These public persons, with authority from the sovereign power, either to instruct or judge the people, are such members of the Commonwealth as may fitly be compared to the organs of voice in a body natural“ (Kap. XXIII)), jedenfalls nicht die repräsentationslosen, öffentlichkeitslosen Berater, der Staatsrat oder das Kabinett des Souveräns: „Neither a counsellor, nor a council of state, if we consider with no authority judicature or command, but only of giving advice to the sovereign when it is required, or of offering it when it is not required, is a public person.“ (Kap. XXIII). 241 242

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sich selbst repräsentieren muss und die öffentliche Person das ist, was Rousseau die ,Polis‘ nennt. „Dieser Akt des Zusammenschlusses schafft augenblicklich anstelle der Einzelpersonen jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft [ . . . ] Diese öffentliche Person, die so aus dem Zusammenschluss aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis, heute trägt sie den der Republik oder der staatlichen Körperschaft [ . . . ].“244

Diese Polis als sittliche Gesamtkörperschaft ist nicht mehr die Republik im klassischen Sinne, sondern eine Polis, die tauglich ist zur Volonté générale, zu einer selbstreferentiellen Repräsentation die einen Spiegel der Repräsentation nötig hat und damit zu einem Forum-Medium, dem einzig möglichen Spiegel dieses „corps moral et collectif“ 245 tendiert. Das kann nur die moderne Öffentlichkeit sein. In einer Rousseau-Welt lebten wir nicht als edle Wilde des ersten Diskurses, sondern in einem uniformen Staat mit eindimensionalen Menschen, in dem das Fernsehen Prinzip wäre, erfunden von einem législateur, der auch Relikte wie Parlamente noch duldete246. Volonté générale und opinion publique treffen im Textkorpus an einer bezeichnenden Stelle aufeinander, Vom Censoramt: „De même que la déclaration de la volonté générale se fait par la loi, la déclaration du jugement public se fait par la censure. L’opinion publique est l’espèce de loi dont le censeur est le ministre, et qu’il ne fait qu’appliquer aux cas particuliers, à l’exemple du Prince“247

heisst es zu Beginn von Kapitel IV, 7 und man möchte meinen, dass hier die gleichermassen kollektiv gedachte Volonté générale und die opinion publique different sind, wie es auch Ganochaud präzise formuliert: „Volonté générale et opinion publique énoncent donc leurs décisions par des voies différentes: la loi est l’expression de la volonté générale, la censure, celle du jugement public, donc de l’opinion publique statuant comme le gouvernement le fait par décret sur des cas particuliers.“248 Rousseau, Contrat Social, ibid., I, 6; S. 18 f. Rousseau, Contrat Social, ibid., I, 6. 246 Es ist nicht ganz klar, ob in Rousseaus Staat die Parlamente ganz abgeschafft sind oder noch geduldet werden. Auf der einen Seite wird gesagt: „Der Gedanke der Volksvertreter ist modern. Wir haben ihn aus dem Feudalsystem, dieser ungerechten und widersinnigen Regierungsform, in der die menschliche Art herabgewürdigt und wo das Wort Mensch entehrt ist. In den alten Republiken und selbst in der Monarchie hatte das Volk niemals Vertreter; man kannte das Wort gar nicht.“ (ibid., III, 15, Von den Abgeordneten oder Volksvertretern, S. 103) Wenn die alten Republiken also das Ideal sind, bedürfen wir also keines Parlaments. Andererseits ergeht kein explizites Verbot des Parlaments; es bleibt nur die unaufgelöste Frage „Hat die politische Körperschaft ein eigenes Organ, um diese Willensäußerungen auszusprechen?“, solange die folgende Regel gilt: „[ . . . ] Die Bedingungen der Gesellschaft zu regeln kommt nur denen zu, die sich vergesellschaften.“ (Rousseau, ibid., II, 6; S. 42). 247 Rousseau, ibid., IV, 7; S. 138: [„Wie sich der Gemeinwille in den Gesetzen erklärt, so erklärt sich das öffentliche Urteil im Censoramt; die öffentliche Meinung ist die Gesetzesart, deren Sachwalter der Censor ist, der sie nach dem Beispiel des Fürsten nur auf Einzelfälle anwendet“]. 244 245

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Wenn der Pyrrhonismus das Schreckgespenst ist, dann sind die Sitten, die mœurs, das positive Gegenteil, das es natürlich zu bewahren, ja zu heben gilt. „Das Censoramt erhält die Sitten dadurch, daß es die Zersetzung der Meinungen verhindert . . .“ sagt Rousseau, doch ergibt sich ein Zirkelproblem: „Wer über die Sitten urteilt, urteilt über die Ehre, und wer über die Ehre urteilt, leitet sein Gesetz aus der Meinung ab.“249 Das Censoramt kann für die Bewahrung der Sitten nützlich sein, nie aber für die Hebung der Sitten, und Rousseau bringt ein Beispiel: Ein Erlass des Königs hatte von der „Feigheit“ gesprochen, Sekundanten bei Duellen beizuziehen, als Begründung für das damit erfolgte Verbot, worauf flugs, da ganz im Sinne der öffentlichen Meinung und diese offenbar ausdrückend, diese Unsitte erlosch; das Verbot jedoch aller Duelle, im selben Erlass verfügt, führte nur zu allgemeiner Belustigung und führte nicht zur ,Annahme‘ des Gesetzes. Der Censor, den Rousseau im Auge hat, ist also alles andere als einer, der zensiert, geschweige denn Pressezensur übt, „Sprachregelung“250 betreibt oder gar ein Propagandaministerium unterhält. Er scheint eher eine Art Ombudsmann im Rahmen des „institutional support“251, ein Ombudsmann für Regierende, der Regierungsakte auf ihre Sittlichkeit überprüft, – Sittlichkeit verstanden als Produkt der öffentlichen Meinung, – und daher flicht Rousseau auch das antike Beispiel des Ephorats ein. Das Censoramt, das Rousseau im Auge hat, sieht eher einem Ehrengericht (etwa dem von Rousseau an anderer Stelle erwähnten Ehrengericht der Marschälle Frankreichs) oder sogar einem Verfassungskonformität überprüfenden Verfassungsgericht ähnlich, Verfassung verstanden als Verbindung von Volksbräuchen und Verfassungsgeist. Dabei ist der Verfassungsgeist an die Intention des Legislateurs gebunden. Nun tritt die Volonté générale und die opinion publique nicht wirklich auseinander, denn „die Meinungen eines Volkes erwachsen aus seiner Verfassung; obgleich das Gesetz nicht die Sitten regelt, ergeben sich diese aus der Gesetzgebung; wenn die Gesetzgebung erschlafft, entarten die Sitten; dann aber kann das Urteil der Censoren nicht erreichen, was die Kräfte der Gesetze nicht hat erreichen können.“252 Danach fragt sich, wie die in der Verfassung sich manifestierende Volonté générale mit der durch die Verfassung sich manifestierende opinion publique überhaupt auseinandertreten kann – offensichtlich kann sie, sonst würde Rousseau schon längst die Identität behauptet haben und das Kapitel Vom Censoramt schon Ganochaud, ibid., S. 338 f. Rousseau, ibid., IV, 7; S. 139. 250 so der Altmeister der politischen Philosophie, Hennis, Wilhelm: Der Begriff der Öffentlichen Meinung bei Rousseau, S. 115, der dem grossen Thema leider nur 5 Seiten widmet, zwar die wesentlichen Stellen nennt, aber gerade die systematische Interdependenz von Öffentlicher Meinung und Öffentlichem Willen für Rousseaus Ansatz und für die Demokratietheorie im allgemeinen nicht erkundet, dafür die ,Behandlung‘ der Öffentlichen Meinung durch Rousseau als prätotalitäres Zeugnis erachtet. 251 Gildin, Hilail: Rousseau’s Social Contract. The design of the argument, Kap. 6., S. 173 ff. 252 Rousseau, ibid. 248 249

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längst überflüssig geworden sein. Die Lösung ist auch hier darin zu suchen, dass sich die Volonté générale auf Gedeih und Verderb nicht aktualisieren darf, nicht ansichtig werden darf: Und die öffentliche Meinung, die opinion publique, ist zur Zeit der Abfassung des Contrat Social noch zu sehr verquickt mit ihrer Sichtbarkeit, mit ihrer Materialisierung in der gegebenen Möglichkeit von Versammlungen, von moralischen Wochenzeitschriften, von Sendboten, von Theater, von der seit alters her bekannten öffentlichen Meinung, die eben noch nicht die anonyme Öffentlichkeit als Prinzip ist. Dass die althergebrachte öffentliche Meinung jedoch einen Zusammenhang mit dem neuen Prinzip Öffentlichkeit, wie es meiner Ansicht nach im Wesen der Volonté générale west, behält, darf nicht übersehen werden und ist gerade deswegen eine entscheidende Verbindung zwischen aktualisierten hobbesianischen Gedanken, als die sich die Gedanken der Volonté générale zu begreifen haben, und den antikisierenden Vorstellungen, die im Ideal der Polis gipfeln, weil die Volonté générale nur das Rahmenwerk der dann doch entscheidenden Sitte und Sittlichkeit des Volkes, die sich in der öffentlichen Meinung manifestiert, ist. Die Volonté générale muss eben auch wirken können, darf es aber nicht direkt und behält deswegen einen direkten Zusammenhang mit der opinion publique. „Notre auteur semble donc assigner à la volonté générale et à l’opinion publique des fonctions différentes et complémentaires, la première devant détenir véritablement le pouvoir législatif, la seconde contribuant à la réalité du pouvoir exécutif en dépit des apparences, de telle sorte que, lorsque dans une démocratie les deux pouvoirs se confondent en n’en faisant plus qu’un, seule subsiste une volonté générale agissante.“253 Die Volonté générale, wiewohl eine Chimäre, soll und muss sich aber ausdrücken können, und ein Zusammenhang zwischen Souverän und Volk, gegen den gemeinsamen Feind Pyrrhonismus und mit dem Negativbeispiel des über allen Wipfeln schwebenden Hobbesschen Leviathan vor Augen, muss bestehen bleiben – aber das gelingt nur, wenn der Vertrag und die Gesetze um Elemente der Sittlichkeit und der Erziehung, im Medium der öffentlichen Meinung, ergänzt werden. Zusammenfassend Ganochaud: „Précisons enfin que, selon Rousseau, les lois de l’État, d’abord rédigée par un sang législateur lors de la formation du peuple, puis ratifiée par la volonté générale de celui-ci, acceptées ou conçues par la suite par une opinion éclairée lorsque les citoyens délibèrent, bref, les lois établies par le Souverain exerçant la plénitude de son pouvoir législatif aux moyen de ses deux modes d’expression, deviendraient en quelque sorte des lois de nature.“254

Damit ist evident, dass Volonté générale und opinion publique ähnliche aber verschiedene Dinge sind, was in etwa, wie ich meine, dem Unterschied von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung entspricht und die Möglichkeit der Identität von Öffentlichkeit und Volonté générale auch nach Durchsicht der Forschungsliteratur bestehen lässt. 253 254

Ganochaud, ibid., S. 343. Ganochaud, ibid., S. 420.

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Nun möchte ich den Text selbst befragen, ob sich die These der Identität von moderner Öffentlichkeit und Volonté généreale erhärten lässt. Die Frage der selbstreferentiellen oder auch repräsentationslosen Repräsentation, wie sie im Begriff der Volonté générale als Chiffre der Chimäre der Herrschaft aller über alle verdichtet ist, stellt sich schon vor dem Inkrafttreten des Vertrags, wo die Grundlage dafür geschaffen werden muss, dass die Mehrheit der Freien die Minderheit der Freien inskünftig einmal binden können darf. „Es wäre deshalb gut, bevor man den Akt untersucht, durch den ein Volk einen König erwählt, denjenigen zu untersuchen, durch welchen ein Volk zum Volk wird. Denn da dieser Akt dem anderen notwendigerweise vorausgeht, ist er die wahre Grundlage der Gesellschaft. In der Tat, woraus entstünde, es sei denn, die Wahl war einstimmig, ohne eine vorausgehende Übereinkunft die Verpflichtung für die Minderheit, sich der Wahl der Mehrheit zu unterwerfen, und woher haben hundert, die einen Herrn wollen, das Recht, für zehn zu stimmen, die keinen wollen? Das Gesetz der Stimmenmehrheit beruht selbst auf Übereinkunft und setzt zumindest einmal Einstimmigkeit voraus.“255

Die Volonté générale ist als Chimäre aber nicht nur im Prozess der Staatsentstehung anwesend-abwesend, sondern muss auch in der konkreten gesellschaftlichen Situation deduzierbar bleiben. Sie schlummert grundsätzlich im allgemeinen, ist sichtbar etwa im allgemeinen Stimmrecht, wo sie ebenso anwesend wie abwesend ist und auch hier ihrer Zwillingsschwester oder besser: ihrem Double, dem Prinzip von anonymer, interdependenter Öffentlichkeit mehr als ähnlich sieht. Jedenfalls ist in der Formel des ,one man one vote‘ die Stimme als menschliches Organ des sich Hörbarmachens wunderbar ausgedrückt: Wer am Konzert der Öffentlichkeit teilnimmt, hat eine Stimme, wer nicht, der nicht. Das allgemeine Wahlrecht hilft in der Konsequenz nicht den sonst Stimmlosen auf, sondern legitimiert – nicht die Reichen und Mächtigen, sondern – die sowieso schon Schreienden, dass sie auch für die Stummen sprächen. Es ist kein Wunder, dass man bei der Wahl, die im Turnus der Routine den Stimmlosen das Gefühl geben soll, zu entscheiden und abzustimmen, auch zu sagen pflegt, doppeldeutig zu sagen pflegt, dass man seine Stimme ,abgibt‘. Dabei solle das Abgeben der Stimme ein Indiz für grundsätzliche Zustimmung zum Prozedere der Wahl sein – die Figur der Systemaffirmität hält in die Demokratietheorie Einzug – und damit sei grundsätzliches Einverständnis zum System, faktisch selbstreferentielle Repräsentation, ja sogar prinzipielle Einstimmigkeit, gegeben. Nur funktioniert diese prinzipielle Einstimmigkeit uneingestanden lediglich dort, wo die Stimmen auch wahrgenommen und reflektiert werden können, nämlich im Raum der Stimmen, im Raum der Öffentlichkeit: Ohne Öffentlichkeitsprinzip könnte Rousseau niemals die Transformation von Naturzustand zu bürgerlicher Gesellschaft legitimieren. Das macht das Schweigen zu einer ausserpolitisch-politischen Tat, zu einem Surrogat für fehlende Totallegitimation und strukturell dem anwesend-abwesenden Gemeinwillen oder der anwesend-abwesenden, ausserpolitisch-politischen Öffentlichkeit verwandt. Der Schluss vom Schweigen auf die Zustimmung ist für den 255

Rousseau, ibid., I, 6; S. 16.

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Contrat social konstitutionell und zwar gerade dann, wenn der Gemeinwille konkret zu werden droht und damit seine anwesende Abwesenheit die Balance, also seine Allgemeinheit verlieren könnte: „Das heisst nicht [wenn der Wille des Volkes etwa durch Akklamation konkret wird, statt allgemein zu bleiben und die Fiktion des ,Souveräns‘ dadurch zerstört würde, M.S.], dass die Befehle der Oberhäupter nicht so lange für Gemeinwillen gelten können, als der Souverän, der die Freiheit hat, sich zu widersetzen, dies nicht tut. In einem solchen Fall muss man aus dem Schweigen aller auf die Zustimmung des Volkes schliessen. Das wird noch ausführlicher erklärt.“256

Rousseau operiert an vielen Stellen mit dem Schweigen. Schon die „Bestimmungen des Vertrags“ müssen wohl „stillschweigend in Kraft und anerkannt“257 worden sein – schon zu Beginn der Vertragsdauer –, doch auch die Sukzession der Gesetze resultiert aus dem Schweigen des Volkes und der jeweiligen Untätigkeit des Souveräns – „aus dem Schweigen wird die schweigende Zustimmung abgeleitet“ 258 –, und damit wird das Schweigen zur negativen und diese bestätigende Öffentlichkeit, der Gesellschaftsvertrag aber dauerhaft an die „stillschweigende Übereinkunft“, „die allein die anderen ermächtigt, dass, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird“259, gebunden. Mithin ist also die aliénation totale260 und damit die Volonté générale und damit der Contrat social an das Dioskurenpärchen von stillschweigender Affirmation und Herrschaft der Öffentlichkeit, also an die Dialektik der anonymen, interdependenten Öffentlichkeit selbst gebunden, so stark, dass ein Unterschied zwischen dieser Öffentlichkeit und der Volonté générale nicht mehr auszumachen ist. Rousseau, ibid., II, 1; S. 28. „Les clauses de ce contrat sont tellement déterminées par la nature de l’acte, que la moindre modification les rendrait vaines et de nul effet; en sorte que, bien qu’elles n’aient peut-être jamais été formellement énoncées, elles sont partout les mêmes, partout tacitement admises et reconnues;“ (Rousseau, ibid., I, 6) [„Die Bestimmungen dieses Vertrags sind durch die Natur des Aktes so vorgegeben, dass die geringste Abänderung sie null und nichtig machen würde; so dass sie, wiewohl sie vielleicht niemals förmlich ausgesprochen wurden, allenthalben die gleichen sind, allenthalben stillschweigend in Kraft und anerkannt“] (Rousseau, ibid., I, 6; S. 17). 258 „La loi d’hier n’oblige pas aujourd’hui: mais le consentement tacite est présumé du silence, et le souverain est censé confirmer incessamment les lois qu’il n’abroge pas, pouvant le faire.“ (Rousseau, ibid., III, 11) [„Das Gesetz von gestern ist heute nicht mehr verbindlich, aber aus dem Schweigen wird die schweigende Zustimmung abgeleitet, und man nimmt an, dass der Souverän ununterbrochen die Gesetze bestätigt, die er nicht abschafft, obwohl er dazu in der Lage ist“]. (Rousseau, ibid., III, 11; S. 97). 259 „Afin donc que ce pacte social ne soit pas un vain formulaire, il renferme tacitement cet engagement, qui seul peut donner de la force aux autres, que quiconque refusera d’obéir à la volonté générale, y sera contraint par tout le corps;“ (Rousseau, ibid., I. 7) [„Damit nun aber der Gesellschaftsvertrag keine Leeformel sei, schliesst er stillschweigend jene Übereinkunft ein, die allein die anderen ermächtigt, dass, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird“] (Rousseau, ibid., I. 7; S. 21). 260 Rousseau, ibid., I, 6. 256 257

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Wenn die alte Öffentlichkeit, als personale Versammlung, mit der neuen Öffentlichkeit, der anonymen, unpersönlichen Öffentlichkeit, zusammenkommt, herrscht die neue Öffentlichkeit in Gestalt der virtuellen „Einstimmigkeit“. „Aus dem vorhergehenden Kapitel ersieht man, daß die Art und Weise, wie die öffentlichen Angelegenheiten behandelt werden, ein hinreichend sicheres Anzeichen für den augenblicklichen Stand der Sitten und für die Gesundheit der politischen Körperschaft abgeben kann. Je mehr Übereinstimmung bei den Versammlungen herrscht, d. h. je näher die Meinungen der Einstimmigkeit kommen, um so mehr herrscht auch der Gemeinwille vor; lange Debatten jedoch, Meinungsverschiedenheiten, Unruhe zeigen das Emporkommen der Sonderinteressen und den Niedergang des Staates an.“261

Die Volonté générale ist also in den ,Versammlungen‘ eine contradictio in adjecto, weil es um das Abweisen von Parteilichkeit und das Einstimmen in den Chor der Mehrheit geht: „Dies setzt allerdings voraus, daß alle Kennzeichen des Gemeinwillens noch bei der Mehrheit sind: Wenn sie dort nicht mehr sind, gibt es keine Freiheit mehr, welche Partei man auch ergreift.“262 Aber das Einstimmen in den Gemeinwillen muss wohl schweigend passieren, sonst droht sofort das Überhandnehmen von Parteilichkeit, und ergo ergibt sich so etwas wie die ,schweigende Mehrheit‘, die aber angesichts der ,Versammlung‘ ein Problem ist. Das müsste also eine Versammlung sein, die gar nicht richtig stattfindet, weil sich der Gemeinwille hier gefährlich konkretisieren also spalten könnte und doch das Ansinnen der freiheitlichen aber gemeinschaftlichen Individuen sein muss, an dieser quasi nicht stattfindenden ,Versammlung‘ teilzunehmen. „In einem gut geführten Staat eilt jeder zu den Versammlungen; unter einer schlechten Regierung möchte niemand auch nur einen Schritt dorthin tun [ . . . ].“263 Es müsste also eine Art ,Versammlung‘ sein, die man sozusagen fernsieht; eine ,Versammlung‘ der ,vierten Wand‘264, und die Parallele zum modernen Theater drängt sich hier auf. Die Anweisung an den Schauspieler, wie in einer Bühne mit vier Wänden, also quasi im Gefängnis, oder besser im Panoptikum, zu agieren, ist die Bedingung der Möglichkeit pädagogischer Intrusionsprozesse (das Auge des Zuschauers öffnet sich während des Sehens, während dessen der Autor seine Botschaft ins Innere hineinbringen kann), die moralische Besserungsanstalten inaugurieren. Die Regie des Sehens auf dem Theater arbeitet untergründig mit der Anonymisierung und der anonymisierten Öffentlichkeit: dem Schauspieler ist sein Publikum, das er einst adressierte, verlustig gegangen – diese Tragödie kommt im modernen Theater zur Aufführung. Die Partizipation des Volks vollzieht sich bei Rousseau, ganz analog, nicht in der Kenntlichmachung der Vox populi im Sinne der seit alters her265 gebräuchlichen Rousseau, ibid., IV, 2; S. 114 f. Rousseau, ibid., IV, 2; S. 117. 263 Rousseau, ibid., III, 15; S. 102. 264 Vgl. hierzu Johannes Lehmanns verdienstvolle Dissertation über Diderot: Lehmann, Johannes: Der Blick durch die Wand: zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing (2000). 261 262

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Akklamation der Umstehenden, sei es durch Murren, Grunzen und Stampfen während der Arenga, sei es durch Applaus oder Zuruf, sondern prinzipiell durch Virtualisierung der teilnehmenden Nichtteilnehmer, der politisierten Nichtpolitiker: Gefragt ist hier Demoskopie und noch einmal Demoskopie. Der Vox populi wird ja gerade von Rousseau nicht getraut, denn „wie soll eine blinde Menge, die oft nicht weiß, was sie will – weil sie selten weiß, was ihr guttut – von sich aus ein so großes und schwieriges Unternehmen wie ein System der Gesetzgebung ausführen? Von sich aus will das Volk immer das Gute, aber von sich aus erkennt es das Volk nicht immer. Der Gemeinwille hat immer recht, aber das Urteil, das ihn führt, ist nicht immer erleuchtet.“ 266 Damit ist aber nicht der Öffentlichkeit selber misstraut, sondern nur der alten Öffentlichkeit, in der das Volk noch umsteht und hüpft und zwar das Gute will, aber nicht das Gute schafft – und nur der anonyme Gemeinwille, nicht das Volk von Personen „hat immer recht.“ Es ist meines Erachtens unnötig, den Begriff der öffentlichen Meinung bei Autoren wie Leibniz, Montaigne, oder das vermeintliche Phänomen selbst bis in die Antike, bis in die Volksversammlung der Ilias, zurückzuverfolgen, denn der Begriff, den Rousseau im Kopf hat, ist nicht mehr geprägt von einer Öffentlichkeit, die präsent ist – Rousseaus Öffentlichkeit, jedenfalls die, die die Volonté générale prägt, ist nicht mehr, im eigentlichen Sinne, da. Es genügt Rousseau nicht, moderne Öffentlichkeit im Zeichen der Volonté générale ins Recht und in die Macht zu setzen – sie soll auch in die Herzen der Bürger eingesenkt werden. Privatinteressen verschmelzen mit der Öffentlichkeit, denn „je besser der Staat verfaßt ist, desto mehr überwiegen im Herzen der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten die privaten.“267 Glück soll nicht mehr von Oben organisiert werden und kann auch nicht von unten, als Privatsache, durch das Individuum organisiert werden, sondern Glück ist plötzlich überall, in der anonymen Öffentlichkeit, im öffentlichen Raum, überall, und dieses Glück kommt quasi aus dem Nirgendwo ins Gefühl: Das ist Internalisierung der anonym-entfesselten Intersubjektivität, das ist Herrschaft der Öffentlichkeit im Innern der Seele und bald auch in Trieb, Haltung und Handlung. Die Feinde, die der Volonté générale gefährlich werden könnten, sind die Feinde der geschlossenen aber öffentlichen, öffentlichen aber geschlossenen Gesellschaft: Zuallererst sind es die Zersetzer des Gemeinwillens, also alle, die auf die Herzen zielen, alle, die skeptisch oder pyrrhonisch sind und dadurch dem Gemeinwillen gefährlich werden können, sodann die Gefahr der Konkretion des Gemeinwillens, der sich nicht konkretisieren darf, des weiteren die Parteien und Parteiungen, die 265 Die Volkesstimme als göttlich zu bestimmen, geschieht möglicherweise zuerst durch den Propheten Jesaja, 66, 6: „Vox populi de civitate, Vox de templo, Vox Domini, Reddentis retributionem inimicus suis“. Dabei ist nicht klar, ob es hier um eine explikative Verwendung der Reihung oder nur um eine akkumulative Reihung geht. Bei Seneca, Alkuin und Machiavelli findet sich die Vorstellung aber schon als vorausgesetzt (nach Noelle-Naumann, Elisabeth: Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale (1982), S. 252 f.). 266 Rousseau, ibid., II, 7; S. 45. 267 Rousseau, ibid., III, 15; S. 102.

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den Gemeinwillen vergiften und möglicherweise auch die Regierungen, die nach Sonderinteressen handeln. Die Zersetzung der Gemeinschaftlichkeit und der daraus folgende Untergang des Staates ist das Damoklesschwert der freien und gleichen Gesellschaft und da hilft auch kein Leviathan. „Enfin, quand l’État, près de sa ruine, ne subsiste plus que par une forme illusoire et vaine, que le lien social est rompu dans tous les coeurs, que le plus vil intérêt se pare effrontément du nom sacré du bien public, alors la volonté générale devient muette; tous, guidés par des motifs secrets, n’opinent pas plus comme citoyens que si l’État n’eût jamais existé; et l’on fait passer faussement sous le nom de lois des décrets iniques qui n’ont pour but que l’intérêt particulier.“268

Es sind also die „verborgenen Beweggründe“, die „motifs secrets“, die der freien Gemeinschaft gefährlich werden und die Volonté générale zum Verstummen bringen können, und dieser Vorbehalt der Bürger fliesst nicht aus ihrem Gewissen, sondern aus einem pyrrhonischen Missbrauch des Prinzips der ungeteilten Öffentlichkeit, einem Missbrauch, der das Private in den Gegensatz zum Öffentlichen bringt und die vorher noch ins Herz eingesenkte Öffentlichkeit aus diesem expulsiert. Damit ist das Weimarer System exakt beschrieben. Rousseau sieht die Gefahren einer solchen korrumpierbaren Öffentlichkeit, die doch sein Vertrauen in die Volonté générale untergraben müsste, kann aber systematisch gegen die Entartung der Öffentlichkeit als Forum des sinnlosen Streits nichts vorbringen, sondern nur das Ende des Gemeinwillens und der Republik konstatieren. Auch die Geschichte des Nieder- und Untergangs des Römischen Reiches lese sich, Rousseau zufolge, wie eine Geschichte der betrogenen Öffentlichkeit, wie eine Geschichte der entarteten Herzen, denn als sich noch jeder „schämte, öffentlich seine Stimme einem ungerechten Vorschlag oder einer unwürdigen Sache zu geben“269, war das „Verfahren gut“, „Ehrbarkeit unter den Bürgern“, die Welt noch in Ordnung – „als aber das Volk verderbt wurde und man die Stimmen kaufte“, war das Prinzip Öffentlichkeit hintergangen, und die Einführung des geheimen Wahlprozederes, dem „Cicero . . . teilweise den Untergang der Republik zuschreibt“, hat da auch nichts mehr geholfen, wobei sich Rousseau von der Beseitigung der geheimen Wahl zu wenig verspricht, als dass dadurch die verlorene Ehre der Öffentlichkeit wiederherzustellen wäre270; im Gegenteil würde sein Vorschlag 268 [„Wenn schliesslich der Staat seinem Untergang nahe ist und nur noch als eine eingebildete und leere Form besteht, wenn das gesellschaftliche Band in allen Herzen gerissen ist, wenn das niedrigste Interesse die Stirn hat, sich mit dem geheiligten Namen des Gemeinwohls zu schmücken: dann verstummt der Gemeinwille, alle werden von verborgenen Beweggründen geleitet werden und äussern ihre Meinung nicht mehr wie Bürger, gerade als ob der Staat niemals existiert hätte, und unter dem Namen von Gesetzen bringt man fälschlicherweise unbillige Verordnungen durch, die nur das Sonderinteresse zum Ziel haben.“] (Rousseau, ibid., IV, 1; S. 113). 269 Rousseau, ibid., IV, 4; S. 131. 270 „Dieses Verfahren war gut, solange Ehrbarkeit unter den Bürgern herrschte und jeder sich schämte, öffentlich seine Stimme einem ungerechten Vorschlag oder einer unwürdigen Sache zu geben; als aber das Volk verderbt wurde und man die Stimmen kaufte, kam es über-

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der sein, die geheime Wahl noch geheimer zu machen und „on distribua donc aux citoyens des tablettes par lesquelles chacun pouvait voter sans qu’on sût quel était son avis: on établit aussi de nouvelles formalités pour le recueillement des tablettes, le compte des voix, la comparaison des nombres, etc.“271, was allerdings auch nicht verhindere, dass „ce qui n’empêcha pas que la fidélité des officiers chargés de ces fonctions (a) ne fût souvent suspectée.“ Es kann eben nicht mehr zurückgekehrt werden zur Öffentlichkeit der Polis, in der die reale Stimme noch gilt, sondern es muss die reale Stimme ins Wahllokal verbannt werden und die reale Stimme der virtuellen Stimme weichen – andernfalls wäre für die Volonté générale Gefahr in Verzug; Öffentlichkeit wird anonymisiert und muss anonymisiert bleiben, institutionell und im Herzen. Der Homogenität von Volonté générale und moderner Öffentlichkeit erwachsen allerdings noch andere Feinde. Wer nur auf den öffentlich verfassten Gemeinwillen setzt, für den sind die Parteien und Parteiungen Gift. Was der Liberalismus seit Jahrhunderten nicht verstanden hat, in unseren Tagen aber nachvollziehbar wird, ist hier angelegt: Rousseaus strikte Trennung von Öffentlichkeit und Parteiendemokratie mit der Präferenz des ersteren kann zu einer Öffentlichkeitsdiktatur werden, die das Prinzip der Gewaltenteilung unterläuft: „Wenn die Bürger keinerlei Verbindung untereinander hätten, würde, wenn das Volk wohlunterrichtet entscheidet, aus der großen Zahl der kleinen Unterschiede immer der Gemeinwille hervorgehen, und die Entscheidung wäre immer gut. Aber wenn Parteiungen entstehen, Teilvereinigungen auf Kosten der großen, wird der Wille jeder dieser Vereinigungen ein allgemeiner hinsichtlich seiner Glieder und ein besonderer hinsichtlich des Staates; man kann dann sagen, daß es nicht mehr so viele Stimmen gibt wie Menschen, sondern nur noch so viele wie Vereinigungen. Die Unterschiede werden weniger zahlreich und bringen ein weniger allgemeines Ergebnis. Wenn schließlich eine dieser Vereinigungen so groß ist, daß sie stärker ist als alle anderen, erhält man als Ergebnis nicht mehr die Summe der kleinen Unterschiede, sondern einen einzigen Unterschied; jetzt gibt es keinen Gemeinwillen mehr, und die Ansicht, die siegt, ist nur eine Sonderanschauung. Um wirklich die Aussage des Gemeinwillens zu bekommen, ist es deshalb wichtig, daß es im Staat keine Teilgesellschaften gibt und daß jeder Bürger nur seine eigene Meinung vertritt“272. ein, dass die Stimmen geheim abgegeben wurden, um die Käufer durch das Misstrauen im Zaume zu halten und um den Spitzbuben Mittel an die Hand zu geben, nicht als Verräter dazustehen. Ich weiss, dass Cicero diese Veränderung tadelt und ihr teilweise den Untergang der Republik zuschreibt. Aber wenn ich auch weiss, welches Gewicht dem Ansehen Ciceros hier zukommt – ich kann mich seiner Meinung doch nicht anschliessen. Ich bin im Gegenteil der Meinung, das man dadurch, dass man zu wenig vergleichbare Veränderungen einführte, den Zerfall des Staates beschleunigte. Wie die Lebensweise Gesunder sich nicht für Kranke eignet, so kann man ein verderbtes Volk nicht durch die gleichen Gesetze regieren wollen, die einem Volk zukommen.“ (Rousseau, ibid., IV, 4; S. 131). 271 Rousseau, ibid., IV, 4. 272 Rousseau, ibid., II, 3; S. 31; dazu Rousseaus Anmerkung, Machiavelli zitierend: „Vera cosa è‘, sagt Machiavelli, ,che alcune divisioni nuocono alle Republiche, e alcune giovano: quelle nuocono che sono dalle sette e da partigiani accompagnate: quelle giovano che senza sette, senza partigiani si mantengono. Non potendo a dunque provvedere un fondatore d’una

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Das Problem der Parteiung stellt sich allerdings akut, wenn es nur Öffentlichkeit und Individualität gibt, und tertium non datur. Rousseau „formuliert den fundamentalen Unterschied der beiden Willen. Zugleich wird deutlich, daß der Mensch qua Bürger, der als Einzelner einen Eigen- bzw. Einzelwillen besitzt und als Glied der Gemeinschaft den Gemeinwillen, für Rousseau ein paradoxes Wesen ist, das ununterbrochener Anstrengung bedarf, um sich überhaupt in seiner paradoxen Situation erhalten zu können: die natürliche Dynamik des auf Unterscheidung angelegten Einzelwillens stellt eine dauernde Gefährdung der Existenz als Bürger dar; hieraus resultiert der ,Hang zur Entartung‘ des Gemeinwesens.“273 Rousseau scheint hier einen Schritt hinter Locke und die englische Situation des schon entwickelten Parteienparlamentarismus zurück zu gehen, aber dies täuscht, denn Rousseau muss nun zusammenkleben, was Locke und Bayle / Leibniz durch Individualismus und Skeptizismus zerbrochen hatten. Freiheit und Gleichheit der Individuen in der liberalen und egalitären Gesellschaft werden nur gewonnen und an die Individuen zurückgegeben über die Schimäre der nichtindividuellen, nichtskeptischen Volonté générale, auf dem Forum der nichtindividuellen, nichtskeptischen Öffentlichkeit. Denn obwohl sich in der Öffentlichkeit das zu Skeptizismus einladende Konzert der Meinungen austobt, ist die Öffentlichkeit selber nichtskeptisch. Und so verschmelzen auch aus der Sicht der Individuen die Grenzen von Volonté générale und moderner Öffentlichkeit. – Damit meine ich aus mehreren Perspektiven und an mehreren Stellen im Text gezeigt zu haben, dass die Näherung von Öffentlichkeit an Volonté générale so vollständig ist, dass eine Identität behauptet werden kann. Welche Antithetik könnte hieraus entstehen? Auf Rousseau und sein Faible für die Öffentlichkeit übertragen, würde das bedeuten, zu fragen, wie die aufbrechende innere Dynamik dieser freien und gemeinschaftlichen Rousseau-Gesellschaften entsorgt oder beruhigt oder eben umgruppiert, anderem aufgelastet wird. Der erste Preis, der zu zahlen wäre, bestünde natürlich in der ungeheuren inneren Homogenisierung der staatlichen Wirklichkeit und dem Verlust des ersten und zweiten Standes mit allen seinen Folgewirkungen. Es bleibt der Dritte Stand übrig, und der Dritte Stand ist die Öffentlichkeit und nichts ausserdem, während der erste und der zweite Stand Privatinteressen, „Sonderinteressen“ sind. Republica che non siano inimicizie in quella, hà da provvedere almeno che non vi siano sette.‘“ (Geschichte von Florenz, 7. Buch.) [„Es ist wahr, daß manche Unterteilungen für Staaten schädlich, andere vorteilhaft sind: schädlich sind die, welche Parteien und Parteigänger im Gefolge haben, vorteilhaft jene, welche sich auch ohne Parteien und Parteigänger erhalten. Da nun der Gründer eines Staates nicht Vorsorge dafür treffen kann, daß sich im Staat keine Zwistigkeiten ergeben, muß er wenigstens dafür sorgen, daß sich keine Parteien bilden.‘“] (ibid., S. 31 f.) Die Zitation Machiavellis ist natürlich eine Camouflage, da der Contrat social ja kein Fürstenspiegel zu sein beansprucht und Autoritäten für die Volonté générale, auch die Machiavellis, nicht anerkennen kann. Im Gegensatz zu Machiavellis Staat, in dem der Fürst dafür besorgt sein kann, dass sich keine Parteien bilden, sind ja die Parteiungen, die sich generisch aus dem Öffentlichkeitsdiskurs ergeben, nicht mehr im vorhinein durch den Législateur so ohne weiteres zu verbieten. 273 Anmerkungen von Brockard, Hans (Hrsg.). In: Rousseau, Gesellschaftsvertrag (1977), S. 159.

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„Das Erkalten der Vaterlandsliebe, die Betriebsamkeit des Privatinteresses, die Übergrösse des Staates, die Eroberungen und der Regierungsmissbrauch haben in der Nationalversammlung den Gedanken an das Mittel der Volksvertreter oder der Abgeordneten des Volkes aufkommen lassen. In gewissen Ländern wagt man das den Dritten Stand zu nennen. So wird das Sonderinteresse zweier Gruppierungen an die erste und zweite Stelle gesetzt, und das öffentliche Interesse steht erst an dritter.“274

Was verliert eine solche Gesellschaft des dritten Stands, wenn die beiden ersten Stände erledigt sind? Die Dignität und das würdevolle Repräsentieren des Klerus, die Weihe der irdischen Satzung durch göttliche Mittelsmänner, die Orte der Stille und die Möglichkeit der erimitischen Abkehr, die oberste Stelle im bisherigen Wertekanon, sodann das souverän Agonale der Aristokraten, das paternalistische Ethos der Landgrafen und Edelmänner, Kabale und Liebe, die Ausflugsziele, die sich lohnen, das personale Zusammengehörigkeitsgefühl, und so weiter, aber, auch das geht verloren bei der Ineinssetzung von drittem Stand und Öffentlichkeit: die Sorgen und Nöte des vierten Standes, der Zukurzgekommenen und Nichtöffentlichen, der Sprachlosen und Ausländer; verloren geht die Caritasdurchdringung der Gesellschaft, die gerne gibt, der Geben seliger als Nehmen ist und nicht, wie Rousseaus Mitleidskonzeption es forderte, Nehmen seliger als Geben275. Ein weiteres kommt hinzu: Es gibt bei der Herrschaft des mit der Öffentlichkeit ineinsgesetzten dritten Standes weder ein Oben, den christlichen Himmel oder auch Nietzsches Grosse Menschen, noch ein Unten, die Hölle, wie die ,Unterschicht‘, zunächst auch kein aussen, – so dass vielleicht gerade noch ein Links und ein Rechts übrigbleibt, aber nur, bis auch dieser Unterschied vom Prinzip Öffentlichkeit eingeebnet ist. Dann bleibt Öffentlichkeit und nur Öffentlichkeit übrig und führt nicht zu harmonischem Zusammenleben, sondern zu ungeheurer Politisierung aus Alternativlosigkeit und als Reaktion darauf zu Politikmüdigkeit und Wille zur Ausserpolitisierung (die wieder und wieder in die Politik zurückschlägt). Das Entfremdungsempfinden der Romantik angesichts der modernen Öffentlichkeit, als ausserpolitisches Empfinden schlechthin, kann jederzeit in das Politische zurückschlagen und zu Radikalisierung führen, allerdings nun, in der durch Rousseau angedachten Demokratie der Freien und Gleichen, immer durch ein Vermehren von Öffentlichkeit, immer unter Medienbedingungen. Der zweite, andere Aspekt der durchgängig dynamisierten und monopolisierten Öffentlichkeit richtet sich nach aussen. Gemeinwille und Nationalismus heissen die Kehrseiten derselben Medaille. Meine These ist, dass aus der Volonté générale, als metaphysisches Prinzip der Öffentlichkeit, direkt der Nationalismus und die Völkerkriege sich herleiten. Das Bedürfnis nach Expansion ergibt sich schon aus dem inneren Antrieb des Gemeinwillens, dass immer mehr Mitglieder in ihn einstimmen sollen: die Güte der Volonté générale ist ihre Grösse. Rousseau, ibid., III, 15; S. 103. Über den Hass auf das die beiden ersten Stände ,tragende‘ Parallelreich der wie auch immer gearteten Civitas Dei siehe Kap. IV. 274 275

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„Was ist der Zweck der politischen Vereinigung? Die Erhaltung und das Gedeihen ihrer Glieder. Und welches ist das sicherste Kennzeichen, daß sie erhalten werden und gedeihen? Ihre Zahl und ihre Bevölkerung. Sucht also jenes so umstrittene Kennzeichen nicht anderswo. [ . . . ] Statistiker, jetzt seid ihr daran: zählt, messt und vergleicht.“276

Eine Demokratietheorie, die es mit einer unüberschaubar gewordenen Polis zu tun bekommt, muss natürlich wesentlich komplexer werden, als dies bei einer aristotelischen Polis, deren Kriterium die Möglichkeit des wechselseitigen Sehens ist, noch gewesen war. Ob Rousseau an anderer Stelle die kleine politische Einheit, die antike Polisgrösse, besingt, ist unwesentlich, denn hier geht es um das zentrale Argument, worin denn die Güte einer Regierung und damit die Güte der Volonté générale und damit die Güte des Contrat social besteht; in der Zunahme der Bevölkerung lautet dabei die Antwort. Statt 25.000 Einwohner müssen nun mit ein paar Millionen gerechnet werden und je mehr desto besser, sagt Rousseau, interessiert wie er ist, interessiert nämlich, wie ich glaube, an einer Verstärkung der Anonymisierung des öffentlichen Prinzips, was wiederum den grossen Staat stärkt und vice versa. Ob es einmal eine Obergrenze hinsichtlich der Einwohnerzahl und der damit einhergehenden Anonymisierung der Öffentlichkeit gibt, lässt sich aus dem Prinzip der Volonté générale nicht herleiten, trotz der Vorliebe Rousseaus für Polis-Staaten, also nichtruninöse, kleine Staaten277, und es zeigt sich wieder einmal, wie die Systematik der Argumente über die Wünsche des Autors Herr werden. Die Externalisierung der Öffentlichkeits- und Uniformitätsproblematik aufgrund innerer Unlösbarkeiten müsste das probate Mittel des Gemeinwillens sein. Rousseau argumentiert mit dem Unterschied von Naturzustand und Kriegszustand; letzterer weise nur einen Bruchteil der Gefahren auf, weil es gemeinsam zu durchlebende Gefahren sind; gemeinsam mit den anderen und dem Gemeinwillen kämpfen wir fürs Vaterland. „Alle müssen bei Bedarf für das Vaterland kämpfen, das ist wahr; es muß aber auch nie jemand für sich kämpfen. Gewinnen wir nicht noch dabei, wenn wir uns für das, was unsere Sicherheit ausmacht, nur einem Teil der Gefahren aussetzen, denen wir uns um unser selbst willen aussetzen müßten, sobald diese Sicherheit uns genommen wäre?“278 Wenn der Gemeinwille aufsteht und der Sturm losbricht, kann es auch keine individuelle Abwägung über die Vernünftigkeit von Kriegszielen geben; wenn alle aufstehen, geht’s los, egal wohin, und das hat auch mit dem Milizheer des Republikanismus, dem einzig Senkrechten, wenig gemeinsam. Dann hört auch schlagartig die mögliche Gefahr der ,Parteiungen’ auf und die Öffentlichkeit wird selber zum Kampfverband. Die levée en masse der Revolutionskriege hat ja auf ähnliche Art und Weise funktioniert, wobei die potentielle Instrumentalisierung der Truppen ad maiorem gloria Bonaparti in der Struktur des ausgehobenen Gemeinwillens begründet lag. Natürlich gibt es eine Präferenz des Gemeinwillens bei der Selektion von kriegswichtigen Zielen: 276 277 278

Rousseau, ibid., III, 9; S. 91 f. Rousseau, ibid., II, 9; S. 50 ff. Rousseau, ibid., II, 4; S. 36.

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Dazu gehört beispielsweise die Idee der Menschenrechte als öffentliche Fiktion. Die Revolutions- und Befreiungskriege und fort folgende sind aber immer Kriege von Öffentlichkeiten, einer Öffentlichkeit gegen eine andere Öffentlichkeit, und es interessiert die Generäle seit dieser Zeit, wie sie ,ihre‘ Öffentlichkeit in die andere eindringen lassen können (zunächst über die Literatur und die Zeitungen, dann über Radiowellen, dann über Fernsehwellen und heute über das Internet) oder vor feindlicher Öffentlichkeit schützen können. Diese anfallenden und hier aufgezeigten Kosten der staatlichen Publifizierung sind aber nicht nur theoretisch bei Rousseau, sondern realgeschichtlich 279, weiter unten, nachzuweisen. Der Denkweg Rousseaus weist eine Struktur auf, wie sie nicht deutlicher vom Willen zur Ausser- und Antipolitik geprägt sein kann und durch die zunehmende Politisierung und schliesslich die Politik, dem jederzeitig „Praktisch werden können“280 selbst überwölbt wird, ohne aus dieser Mechanik aussteigen zu können. Die Kritik an der Entfremdung ist die Kritik an der Künstlichkeit, an der Gekünsteltheit, am Fortschritt der Sitten, ist die Kritik an der Öffentlichkeit, ist Kritik an der Politik, ist Antipolitik, und das Ganze, politisch gewendet, wird später, sehr viel später, Volonté générale, wird ,aufgehoben‘ in einen ,Gesellschaftsvertrag‘. Ich denke, man kann Rousseau durchaus liberal interpretieren und gerade diese Fundierung des liberalen, freiheitlichen Staates als nihilistisch brandmarken. In der Gleichung Rousseau Faschismus = böse, Rousseau Liberalismus = gut sind die Frontlinien eigentlich ganz andere: Es handelt sich hier um einen bösen Liberalismus, um die Entfesselung der anonymen Öffentlichkeit als ausserpolitisch-politischem Politikersatz, der notwendig scheitern muss. Es wird dem Prinzip Öffentlichkeit von Rousseau mehr zugetraut, als ihm zuzutrauen ist und mehr zugemutet als ihm zuzumuten ist. Rousseaus antimachiavellistischer Gesellschaftsvertrag dreht den Spiess um: Derjenige, der keine Politik treibt, ist der Politikverständige, nicht der Fürst mit seinen Fürstenspiegeln. Derjenige, der nicht den Konventionen unterliegt, derjenige, der nicht dem Sichtbaren auf den Leim geht, verfügt über höhere Urteilskraft. „Man wird mich fragen, ob ich Fürst oder Gesetzgeber sei, dass ich über Politik schreibe. Nein, antworte ich, und ebendeshalb schreibe ich über Politik.“281 Die Kompetenz für Politik liegt nicht mehr beim Sachverständigen, nicht mehr beim Politiker und Principe, sondern bei den Politisierten, die für die moderne Öffentlichkeit von der modernen Öffentlichkeit schreiben und damit alle fit machen für Politik, fit machen aber auch für Politik und Politisierung in moderner Öffentlichkeit. Wenn Politik das Problem bei den Hörnern packt, dass Menschen ohne Götter überhaupt über Menschen herrschen, wird das Problem dadurch verkompliziert, 279 Siehe das Kapitel II. 5: Die Geschichte des 18. Jahrhunderts: Meinungsstreit und Staat und Öffentlichkeit und Parteiungen – Der Nationalismus, weiter unten. 280 Fetscher, ibid., S. 89. 281 Rousseau, ibid., Erstes Buch, Einleitung, S. 5.

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dass ab Rousseau, jedenfalls idealtypisch, alle über alle herrschen können sollen, Rousseau dafür den Begriff der Volonté générale findet und, wie nicht anders zu erwarten, vermehrt Politik getrieben werden muss. Das wirft die Frage nach Gott auf, deren Beantwortung in Kapitel IV vorgenommen wird. Nur soviel: Wir leben nicht mehr auf der einsamen Insel Robinsons, wo „das Bequeme in diesem Reich [Robinsons, M.S.] darin bestand, dass der Herrscher seines Thrones sicher war und weder Aufstand noch Krieg noch Verschwörer zu fürchten hatte“282, sondern wir leben nun, trotz allen Faibles für den abenteuernden Ausreisser, hienieden ohne Alternative zum Gesamt der Gemeinschaft, hienieden ohne Alternative zum Gesamt der Öffentlichkeit, ohne Alternative zum Höchsten der Gefühle und das ist nicht mehr Gott, sondern das Höchste ist die Volonté générale und das ist: die moderne Öffentlichkeit. Noch immer gilt das republikanische Ideal, dass die Vox populi die Vox Dei sei, aber diese Stimme des Volkes ist bereits vollständig virtualisiert und verschmilzt mit der Neuen Öffentlichkeit, die nun die Stimme Gottes ist.

4. Die Genese der Parteiungen a) Das Eigentümliche der Eigentümer: Locke Hatte Rousseau zuerst des edlen Wilden und damit Freitags Partei ergriffen, später eine Gesellschaft von Freitagen, die frei und gleich, also durchgängig öffentlich, sein sollten, konstruiert, kann Locke nur als der ideelle Vater Robinsons gelten. Robinson nimmt die Insel in Besitz, indem er sie durch permanente Arbeit in sein Eigentum verwandelt, wozu ihm die Errungenschaften der Zivilisation, die er aus den Wracks zusammenklaubt, allem voran das Schiesspulver, getreu zur Seite stehen.283 Die „amerikanischen Siedler, nicht die amerikanischen Indianer sind 282 Rousseau, ibid., I, 2; S. 8. Für Rousseau ist Robinson jedenfalls nicht der zeitungsfreie Mensch und auch nicht der edle ausserstaatliche Wilde, sondern der unwahrscheinliche Ausnahmefall eines sicheren Naturzustands, woraus nichts, auch wenn dieser erbauliche Naturzustand einträte, gefolgert werden dürfe. Die Robinson-Utopie ist eine Utopie, bei der nicht klar ist, was utopisch an dieser Utopie ist. Es kommt bei dieser Robinsonade keine Verrohung des Protagonisten heraus, kein ,Herr der Fliegen‘, sondern doch nur wieder das Nachahmen der europäischen Kultur, die die beste Utopie zu sein scheint. Der unbedingte Drang des Robinson, zur See zu fahren, gegen alle Ratschläge und Drohungen des Vaters, ist ein Aufruf zum Eskapismus, der die geschlossene alternativlose Gesellschaft voraussetzt, so alternativlos, dass nicht einmal der Rückzug auf die Insel Alternative ist. Hier geht es gegen die Öffentlichkeit, ohne Öffentlichkeit in den Blick zu bekommen; hier geht es gegen Politik, ohne Politik in den Blick zu bekommen. Es ist ein kleiner Schritt von der Bukolik des Robinsons zum edlen Wilden Rousseaus, weil es mit derselben Dialektik der ausserpolitischen Politik operiert. 283 Dies findet seine Entsprechung in einer Bemerkung Lockes, die die Robinsonade vorwegnimmt: „Die Versprechen und Tauschgeschäfte usw. zwischen den beiden Menschen auf der einsamen Insel, von denen Garcilaso de la Vega [Sebastian Garcilaso de la Vega (1535 – 1616), peruanischer Historiker spanischer Herkunft] in seiner Geschichte Perus berichtet, oder zwischen einem Schweizer und einem Indianer in den Wäldern Amerikas sind für sie

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[bei Locke, M.S.] Prototyp des Naturzuständigen“284, schon deswegen, weil das Urbarmachen des Landes an den Eigentumstitel und die Division des Landes geknüpft ist. Aus dem Willen zur Parzellierung leitet sich natürlich ein anderer Nomos der Erde ab, nämlich ein je und je parzellierter Nomos, der Auswirkungen auf die von Locke vorgestellte politische Struktur hat – der claim, ein Besitztitel, der zugleich Eigentumsanspruch ist, verwandelt die Gemeinschaft in eine Gemeinschaft von Parzellenbesitzern und politisch Re-klamierenden, das Government in ein dadurch jederzeit zugleich limited Government. Mir geht es aber nicht um den Einzigen und sein Eigentum, der die Ordnung nur noch in seiner Parzelle hegt und ich will Locke auch nicht als den Agenten eines Besitzindividualismus demaskieren, wie das seit den Arbeiten Macphersons285, die in ihrer Brisanz und Erklärungskraft nur noch der Theorien Max Webers über den Zusammenhang von protestantischer Ethik und Geist des Kapitalismus vergleichbar seien286, diskutiert wird. Diesem zufolge sei das liberalistische Individuum schon des 17. Jahrhunderts „wesenhaft der Eigentümer seiner eigenen Person oder seiner eigenen Fähigkeit, für die es nichts der Gesellschaft schuldet. Das Individuum wurde weder als ein sittliches Ganzes noch als ein Teil einer grösseren gesellschaftlichen Ganzheit aufgefasst, sondern als Eigentümer seiner selbst. Die Beziehung zum Besitzen, die für immer mehr Menschen die funverbindlich, obwohl sie sich in ihrer Beziehung zueinander vollkommen im Naturzustand befinden. Denn Wahrheit und Vertrauen gebührt dem Menschen als Menschen und nicht als Glied der Gesellschaft.“ (Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690, dt. 1977), II, 2; § 14, S. 208). Locke beschäftigt sich schon früh mit den praktischen Fragen seines Naturzustands, da er bereits ab 1668 internationale Mandate bekleidet, „ein – allerdings nicht sehr wichtiges – Staatsamt [erhielt] und Sekretär der Vereinigten Farmer von Carolina [wurde]. Locke machte zu jeher Zeit auch allerhand lukrative Geldgeschäfte. So investierte er, vermutlich von Shaftesbury beraten, in einer Reihe von Handelsgesellschaften.“ (Euchner, Walter: Einleitung des Herausgebers [zu Lockes Zwei Abhandlungen], S. 19, dazu Anm. 23: „Eine Aufstellung der Einnahmen Lockes findet sich bei Cranston (cf. Anm. 7), p. 115. Lokke hat übrigens auch am Sklavenhandel verdient.)“. Dabei wäre es interessant, zu diskutieren – apropos Sklaverei – ob Robinson nach Lockeschen Theoremen Eigentümer Freitags gewesen ist, insofern er diesen ,bearbeitet‘. Zudem rechtfertige der Umstand, dass Freitag absolut mittellos ist, ,despotische Gewalt‘: „Väterliche Gewalt besteht nur dort, wo Unmündigkeit das Kind unfähig macht, über sein Eigentum zu verfügen; politische Gewalt, wo die Menschen Eigentum zu ihrer eigenen Verfügung haben; und despotische Gewalt kann man nur über solche Menschen haben, die überhaupt kein Eigentum besitzen.“ (Locke, ibid., S. 310 f. (II, 15; § 174)). Ebenso interessant wäre eine Übertragung der Lockeschen Kategorien auf seine eigene Tätigkeit als Commissioner of the Commission for Trade and Plantations (ab 1696), die den Imperialist Locke mit dem Liberalist in Deckung zu bringen und das Managen von Naturzuständen zu beschreiben hätte. 284 Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 240. 285 Macpherson, Crawford: The Political Theory of Possessive Individualism: Hobbes to Locke (1962, dt. 1967, 21973). 286 Zusammenfassend spricht Tully davon, dass Macpherson „thesis of possessive individualism has played a role in contemporary political thought similar to the role of Max Weber’s thesis of Protestant ethic and the spirit of capitalism.“ Tully, James: An approach to political philosophy: Locke in contexts (1980). – Chapter 2: After the Macpherson thesis, S. 71.

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damental wichtige Beziehung geworden war, welche ihre konkrete Freiheit und ihre konkrete Chance, all ihre Möglichkeiten zu entfalten, bestimmte, wurde in die Natur des Individuums zurückinterpretiert. Das Individuum ist, so meinte man, insoweit frei, als es Eigentümer seiner Person und seiner Fähigkeit ist. Das menschliche Wesen ist Freiheit von der Abhängigkeit vom Willen anderer, und Freiheit ist Funktion des Eigentums. Die Gesellschaft wird zu einer Anzahl freier und gleicher Individuen, die zueinander in Beziehung stehen als Eigentümer ihrer eigenen Fähigkeiten und dessen, was sie durch deren Anwendung erwerben. Die Gesellschaft besteht aus Tauschbeziehungen zwischen Eigentümern. Der Staat wird zu einem kalkulierten Mittel zum Schutz des Eigentums und der Aufrechterhaltung einer geordneten Tauschbeziehung.“287

Dagegen haben verschiedene Autoren geltend gemacht, etwa Ashcraft, Dunn, Miller, Pocock, Thompson, Tully, Vaughn, u. a.288, dass die konkreten zeitgenössischen Frontstellungen der Denker nicht erklärt werden könnten, wenn die damaligen Theoretiker zu blossen Agenten herabsänken. Exemplarisch fragt sich Jacob, „if Hobbes was the apologist of market society, and the Latitudinarians and Newtonians were the apologists of market society, why was Hobbes the principal enemy whom the latter desired to overthrow?“289 Und dasselbe gilt für Locke, der sich schlecht in das Schema von Old Whigs, True Whigs, Honest Whigs290 pressen lässt und daher auch nicht den ,Commonwealthman‘ zugeordnet werden kann291. Wer einen Agenten und Ideologen der market society und des „Whig system of propertied control“ vor Augen geführt bekommen möchte, resümiert Pocock, solle „not Locke, but Defoe“292 studieren. Desgleichen sprechen Vergangenheit und Zukunft der Lockeschen Theorie, als Einfluss auf und Wirkung von Locke, eine andere Sprache: Statt die klandestine Beseitigung moralischer Skrupel und Vorgaben des klassischen Naturrechts, vorgegeben durch die Tradition von Aristoteles bis zum Hl. Thomas, zu beklagen und dies als Errichtung des Besitzindividualismus zu brandmarken, wird, etwa durch Tully, die Verbindung Lockes insbesondere zu Grotius oder Suarez behauptet293, wird desgleichen, der Institutionalisierung des ,public credit‘ durch die Gründung der Bank von England ein weit höhere Kredit für die Etablierung der 287 Macpherson, Crawford: Die politische Theorie des Besitzindividualismus: von Hobbes bis Locke, ibid., S. 15. 288 Aylmer, Gerald (Hrsg.): The Interregnum: The Quest for Settlement (1972); Dunn, John: Political Thought of John Locke (1969); Leites, Edmund: Conscience, Leisure and Learning: Locke and the Levellers (1978); Miller, David: ,The Macpherson version‘, Political Studies 30, I (1982); Pocock, John: Virtue, Commerce, and History (1975), S. 59 – 71; Ashcraft, Richard: The Two Treatises and the Exclusion Crisis: The Problem of Lockean Political Theory as Bourgeois Ideology (1980); Thompson, Martyn: The Reception of John Locke’s Two Treatises of Government, 1690 – 1705 (1976); Tully, James: A Discourse Concerning Property: John Locke and his Adversaries (1980); Vaughn, Karen: The economic background of Locke’s Two Treatises (1992). 289 Jacob, Margaret: The Newtonians and the English Revolution (1976, 21990), S. 52. 290 Gemäss Robbins, Caroline: The Eighteenth-Century Commonwealthman (1959). 291 Pocock, John: Virtue, Commerce, and History, ibid., S. 229. 292 Pocock, ibid., S. 67. 293 Tully, James: An approach to political philosophy: Locke in contexts (1993), S. 105.

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,market society‘ eingeräumt, als den Two treatises, in denen die Möglichkeit einer Bank von England mit keiner Silbe Erwähnung finden294. Schon für die ,Glorious‘ Revolution kommt Kenyon zu dem Schluss, dass „the truth is, the constitutional theories put forward by defenders of the Revolution were not really ,Lockean‘ at all, except for their use of the term ,contract‘, which in any case was part of the common vocabulary of politics long before Locke appeared on the scene.“295 Von den beiden Treatises wurde eine lange Zeit nur der erste wahrgenommen, nur die Abkanzelung von Filmer blieb im allgemeinen Bewusstsein, wozu auch das anonyme Erscheinen der beiden Abhandlungen das Seine tat296. Das Lockesche Gedankengut drang erst sehr allmählich in die Köpfe297 und es dauerte bis in die 1740er und 1750er Jahre, bis Locke auch an den Universitäten Fuss fasste. Es ist allerdings zu erwägen, ob die Einwände gegen Macpherson dessen Argumentation ausser Kraft setzen. Die Krise des demokratischen Liberalismus, die im 19. Jahrhundert beginne, sei, so Macpherson, dadurch bestimmt, dass Egalität und Interessenkohäsion nicht mehr, wie im ,Heyday‘ der market society (17.-19. Jahrhundert), den zentrifugalen Kräften des Marktes überlegen sei. Macpherson liefert dann aber nicht eine Analyse des anonymen Marktes unter Ausschluss der Individuen, sondern nur sehr bedingt marxistische Analysen über die Rolle, die Stellung, die Rechte und Pflichten des Individuums, quasi unter Ausschluss der Analyse des Marktes. Die Stossrichtung Macphersons ist klar: Das liberale Programm besonders der 1960er Jahre soll unter Beschuss kommen und ist auch, ex post gesehen, unter Beschuss gekommen: Ein Vierteljahrhundert verbleibt die anschliessende Rezeptionsgeschichte im gleichen Paradigma, den Einzelnen – seine self preservation, sein self interest, sein self ownership, sein (unübertragbares) natural right (vor allem über sich selbst), sein property, seine Beziehung zur Regierung, sein Sosein als ,man‘, als „an infinitely desirous consumer of utilities“ – unter die auch nicht besonders marxistische Lupe zu nehmen. Dass Locke nicht der gierige Raub294 Pocock, ibid., S. 108: „[ . . . ] Locke was to be personally involved [in die Neue Finanzwirtschaft der 1690er Jahre, M.S.]; but its presence is not to be detected in his Treatises on Government, and when the great debate began it is hard to detect Locke’s presence in it“. 295 Kenyon, John: Revolution Principles. The Politics of Party 1689 – 1720 (1977), S. 2. 296 Kenyon, ibid., S. 18. Und weiter: „Any unbiased study of the position shows in fact that it was Filmer, not Hobbes, Locke or Sidney, who was the most influential thinker of the age, and this was because he was, in Laslett’s words, ,that extremely rare phenomenon, the codifier of conscious and unconscious prejudice‘ [Filmer, Patriarcha, hrsg. v. Peter Laslett, S. 41].“ S. 63. 297 „[ . . . ] no one, including most Whigs, was ready for the idea of a national or abstract contract of the kind adumbrated by Locke. Again, though it was easy to assume that the Revolution hinged on contract, it found no place in the Bill of Rights.“ Kenyon, ibid., S. 200. Und Young, Brian: Religion and Enlightenment in Eighteenth-Century England. Theological Debate from Locke to Burke (1998), S. 7 ff. stellt dar, wie das Curriculum der englischen Universitäten erst langsam im Verlaufe des 18. Jahrhunderts (bis 1750) umgestellt wird auf einen Lehrplan mit Bacon und Locke. Der Widerstand gegen Locke an den Universitäten ist anfangs gross, doch scheitert bereits 1703 in Oxford ein Versuch, das informelle Lesen des Essay concerning human understanding zu unterbinden.

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tierkapitalist ist und hemmungslosen Konsum predigt, spricht sich dabei schnell herum, und es ergehen eine Fülle an Untersuchungen über Lockes Sicht auf Moral und Theologie, die die ökonomistische Methode hinter sich lassen wollen298. Die neuere Forschung macht dann gegen die (an Macpherson) vatermörderischen Autoren wiederum geltend, dass Locke sehr wohl über einen ökonomischen, nicht so sehr einen moralischen oder theologischen Hintergrund für seine Argumentation in den Two Treatises verfüge und die beiden Abhandlungen mit einer Zwillingsschrift, den Considerations of the Consequences of Lowering of Interest and Raising the Value of Money (1692) zusammenzulesen wären299. Deren Vorarbeiten (Some of the Consequences that are like to follow upon Lessening of Interest to 4 percent) reichen bis in das Jahr 1668 zurück und diskutieren die Interventionsmöglichkeiten und -rechte der Regierung in monetären, volkswirtschaftlichen Angelegenheiten, wobei die Frage „Can the price of the hire of money be regulated by law?“ mit der knappen Antwort beschieden wird: „tis manifest it cannot“300. Vaughn untersucht diese Synopsis und muss feststellen, dass Locke Übergänge etwa zwischen Naturzustand und Gesellschaft zeige, „that makes government a reasonable, profitable institution for his reasonable, profit-seeking men“301 und auch wenn sie sich beeilt, sich vom „wrong-headed [ . . . ] Marxist“302 Macpherson zu distanzieren, sind ihre Ergebnisse mit denen Macphersons ziemlich identisch: „People should have property; government should make laws for the regulation of property between subjects; it should not engage in any kind of arbitrary confiscation, including the levying of taxes upon the people without their consent“303, mit dem Unterschied vielleicht, dass Locke hier zum strengen Neoliberalisten wird. Die Einschränkungen des Besitztriebs, dem berühmten Ovidschen Amor sceleratus habendi, den Locke in Kap. 8, § 111. im Zuge seiner Staatsentstehungstheorie anführt, sind denn auch kein Einbruch moralischer oder theologischer Barrieren, sondern richten sich, nimmt man die Considerations hinzu, lediglich gegen volkswirtschaftlich schädlichen Luxus, insbesondere gegen Einfuhr handelsbilanzdefizitärer Luxusimportwaren. Der Protektionismus, den Locke predigt, muss wohl als intelligenter Merkantilismus verstanden werden, der sich allerdings moralisch drapiert und eigentlich volkswirtschaftliche Gründe hat. „One is tempted to see in this the idea that it is the destruction of capital rather than its accumulation that Locke would find morally offensive“304. 298 Tully, James: An approach to political philosophy: Locke in contexts, ibid. – Chapter 2: After the Macpherson thesis, S. 71 ff. 299 Vaughn, Karen, beklagt sich darüber, dass „among the many weaknesses I find in Tully’s reading of Locke, Tully’s complete unfamiliarity with Locke’s economics is the most egregious. A reading of the Considerations and Further Considerations simply belies his interpretation.“ S. 147, Anm. 25. 300 Locke, Some Considerations, § 1, zit. nach Vaughn, Karen, ibid., S. 121. 301 Vaughn, Karen, ibid., S. 136. 302 Vaughn, Karen, ibid., S. 118. 303 Vaughn, Karen, ibid., S. 140.

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Diese anderen Lesarten mögen der Wahrheit nahe kommen, mir dagegen schwebt vor, dass Locke durch seine Theorie, vielleicht ungewollt, vielleicht auch verschwiegen, vielleicht auch zwischen den Zeilen, von Konsens auf Dissens umstellt und vom Individualismus auf kollektive Gruppendynamik. Im Unterschied zu Hobbes sieht Locke die Gesellschaft nicht so sehr von Individuen durchdrungen, sondern von Gruppen, und logischerweise ergibt sich daraus nicht die Gefahr des hobbesschen homo homini lupus, denn der Dissens unter Gruppen führt nicht zur Anarchie, sondern nur zu einem Wettbewerb um Macht und Einfluss nach aussen der nach innen funktionierenden Gruppendynamik. Daher lese ich Locke nicht primär von seinem erkenntnistheoretischen und dadurch notwendig subjektiven ,Essay‘, nicht als „Fürst des Individualismus“305, sondern quasi „kollektivistisch“306, von seinen beiden Treatises her – eine Verschränkung beider Werke mag verdienstvoll, aber nicht notwendig und möglicherweise sogar irreführend sein307. Darin, in den Treatises, wird der Naturzustand genauer und vorurteilsloser untersucht und ragt nicht mehr als Damoklesschwert über und in das Alltagsleben hinein. Im Gegensatz zu Hobbes ist der Naturzustand nicht mehr die Situation des Stromausfall in New York, in dem die staatlichen Minimalgarantien auf körperliche Unversehrtheit erlischen, sondern die Situation des permanenten Stromausfalls308 und der menschlichen Fähigkeit, diesen Zustand zu meistern; nach Hause Iversen, Karen, ibid., S. 135. Vaughn, Charles: Studies in the History of Political Philosophy (1925), S. 156. 306 Kendall, Willmore: John Locke and the Doctrine of Majority-Rule (1941, 21959), S. 53. In der älteren Literatur wird das Kollektivistische jedoch meistens verkürzend zusammengedacht mit dem Vorwurf des Autoritären und Locke in die Ahnenreihe des Totalitarismus eingereiht, ohne das Umschalten auf Dissens systematisch einzuarbeiten. Desgleichen ist auch die neuere und neueste Forschung nicht über den Stand des Standardwerks eines Sabine, George: A History of Political Theory, hinausgekommen, die lediglich die Frontstellung von „Individual and the Community“ (S. 523 ff.), die Rechte der Regierung versus die Rechte der Individuen, in der Lage zu sehen sind. Oben und unten werden zwar wohl miteinander verschränkt („Public interests must be conceived in terms of private well-being“ (S. 540)), aber es gibt nur öffentliche Regierung und privates Individuum; – Tertium, die Parties, die Interest groups, die pressure groups, die Vereine, Vertretungen und Kompagnien, non datur. 307 In dieser Hinsicht stimme ich mit Peter Laslett überein, der es für müssig hält, die Brüche in Lockes Theorien, die Strauss fruchtbar machen will, auf Disparitäten zwischen altem und neuem Naturrecht zurückzuführen und sich mit der Feststellung begnügt, Locke sei „vielleicht der widersprüchlichste aller grossen Philosophen“ (Laslett, Peter: A Critical Edition with an Introduction [der zwei Treatises] (1960, 21963), S. 82) und man ansonsten eine gemeinsame Basis von Essay und Treatises vergebens suche, das Werk von Locke keine Einheit bilde, statt dessen die Politik vornehmlich als Praxis verstanden werde. Informativ auch weiterhin: Baracho, José Alfredo de Oliveira: As raízes da epistemologia e do pensamento democrático em John Locke (1996). S. 7 – 13. 308 Die Situation des Stromausfalls in New York ist allerdings friedfertig, verglichen mit der Ausnahmesituation marodierender Truppen im englischen Bürgerkrieg, von der Locke spricht: „View but an army at the sacking of a town, and see what observation or sense of moral principles, or what touch of conscience for all the outrages they do.“ (Locke, Essay, I, 3; § 9). 304 305

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zu gehen, Kerzen anzuzünden und sein Hab und Gut zu verteidigen. In solch einem Naturzustand würde genug Zeit vergehen, dass Wechselseitigkeit entstünde, so dass das Verhalten im Naturzustand eine Frage der Taktik und der Abschätzung wird, so wie das Verhalten in der bürgerlichen Welt ein Hochrechnen dieser Abschätzung werden kann: „Von dem, der im Naturzustand die Freiheit rauben würde, die in diesem Zustand jeder besitzt, müßte man zwangsläufig annehmen, daß er beabsichtigt, auch alles andere zu rauben, denn diese Freiheit bedeutet die Grundlage alles übrigen: ebenso wie man annehmen muß, daß derjenige, der im Gesellschaftszustand den einzelnen Gliedern dieser Gesellschaft oder dieses Gemeinwesens die ihnen gebührende Freiheit raubt, auch beabsichtigt, ihnen alles übrige zu nehmen, und daß man ihn deshalb als in einem Kriegszustand betrachten muß.“309

Lockes Argument läuft darauf hinaus, dass es auch im Naturzustand Entwicklung geben kann und gegeben haben muss; dergestalt kann es auch Abschreckung geben und ein ,Übertreter‘ zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden: „Diese Gewalt, den Besitz oder die Dienstleistungen des Übertreters zu beanspruchen, hat die geschädigte Person durch ihr Recht auf Selbsterhaltung, wie ein jeder durch das Recht, die Menschheit zu erhalten und alles zu tun, was vernünftigerweise zu diesem Ziel führt, die Macht, das Verbrechen zu bestrafen, um damit zu verhindern, daß es noch einmal begangen werde.“310

Hier begegnet man dem Chamäleon Naturzustand wieder, der einerseits als Hypostase verwendet wird, um als Schreckgespenst für politische Eindeutigkeit zu sorgen, andererseits aber historisiert werden kann, auf dass es, auch im Naturzustand, menschelt. Aus dem Naturzustand resultieren Chancen, vor allem die Chance der Selbstverteidigung ohne Angst. „Das verleiht dem Menschen auch das Recht, einen Dieb zu töten, der ihn nicht im geringsten verletzt hat, noch irgendeine Absicht gegen sein Leben hat verlauten lassen, sondern der nichts weiter versuchte, als ihn durch Anwendung von Gewalt in seine Macht zu bekommen, um ihm sein Geld, oder was ihm sonst noch gefällt, wegzunehmen.“311

Der Naturzustand, wie ihn Locke sieht, scheint nur die Radikalisierung der Parzellierung zu sein, insofern jeder auf seinem claim sitzt, diesen beackert, Eigentümer desselben wird, Diebe erschiesst und ansonsten dem Nachbarn nicht zu nahe kommt – ursprünglich wären sich die Menschen nicht ins Gehege gekommen: „Es war daher also für einen Menschen unmöglich, auf diesem Wege in die Rechte eines anderen einzugreifen oder sich selbst ein Eigentum zum Schaden seines Nachbarn zu erwerben. Diesem blieb (nachdem der andere sich einen Teil genommen hatte) immer noch Raum genug für einen ebenso guten und ebenso großen Besitz wie vorher, ehe sich jener seinen Besitz angeeignet hatte.“312 309 310 311 312

Locke, Zwei Abhandlungen, S. 210 (II, 3; § 17). Locke, ibid., S. 206 (II, 2; § 12). Locke, ibid., S. 210 f. (II, 3; § 18). Locke, ibid., S. 221 (II, 5; § 36).

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Dann kommt aber die Raumknappheit als Argument, dann kommt das Geld und es entwickeln sich entwickeltere Gesellschaften, die den Naturzustand aufheben. Movens der Vergesellschaftung des Menschen im Naturzustand ist nicht mehr das Bedürfnis, das Leben des eigenen Körpers zu behaupten, sondern nun den Lohn von Arbeit zu konservieren313. Da Besitz plus Arbeit / Bearbeitung Eigentumsanspruch und dann Eigentum nach sich zieht, ist die gemeinsame Ressourcenausbeutung314 geheimes Solidaritätskainsmal der Vergesellschaftung. Der Naturzustand ist nicht das ganz Andere, in der die Maske fallen gelassen wird, sondern als Restbestand immer noch anwesend ist, auf dass der Umgang mit dem Naturzustand erlernbar wird315. Der spätere Commissioner of the Commission for Trade and Plantations hat den Naturzustand auf einer Reihe von Kontinenten wohl als real existierend wahrgenommen und deshalb nicht als reine vor- und aussergesellschaftliche Drohkulisse verstehen wollen. Mit den Erfahrungen von Naturzuständen in Übersee muss es Locke schwer gefallen sein, zu glauben, dass die Situation des englischen Bürgerkriegs oder des Grotius-Rahmens 30-jähriger Kriege, der Behemoth, der Naturzustand sei. Ja, würde Locke sagen, es gibt den 313 „Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist also die Erhaltung ihres Eigentums.“ Locke, ibid., S. 278 (II, 9; § 124) Dieses Argument kehrt gebetsmühlenartig wieder, etwa: „Der Grund, aus dem die Menschen in eine Gesellschaft eintreten, ist die Erhaltung ihres Eigentums, und der Zweck, zu dem sie eine Legislative wählen und bevollmächtigen, ist, dass Gesetze erlassen und Regeln festgelegt werden, um das Eigentum aller Glieder der Gesellschaft zu bewachen und zu beschützen und so die Gewalt und die Herrschaft jedes Teiles und Gliedes der Gesellschaft zu beschränken und zu mäßigen.“ (Locke, ibid., S. 338 (II, 19; § 222)). 314 „Er gab sie dem Fleißigen und Verständigen zur Nutznießung (und Arbeit sollte seinen Rechtsanspruch darauf bewirken), nicht aber dem Zänkischen und Streitsüchtigen für seine Launen oder Begierden.“ (Locke, ibid., S. 220 (II, 5; § 34)). 315 Der Naturzustand ist bei Locke nicht die andere, dunkle Seite, die dräut, sondern gleichsam um die Ecke und kann hie und da noch überall aufscheinen. Der via Arbeit erlangte Besitz ist ein guter Indikator, dass es einen Naturzustand gegeben hat und nach wie vor quasi im Innern des Besitzes gibt. „Da aber die Regierung eine direkte Rechtsprechung nur über den Grund und Boden hat und den Besitzer (ehe er sich tatsächlich der Gesellschaft einverleibt hat) nur insofern betrifft, als er auf diesem Boden wohnt und sich des Besitzes erfreut, so beginnt und endigt die Verpflichtung, sich jener Regierung zu unterwerfen, der jemand auf Grund eines solchen Besitzes unterstellt ist, mit dem Besitz.“ (Locke, ibid., S. 276 (II, 8; § 121)). Die Zustimmung der Einwohner zur Gesellschaft erfolgt via Besitz via Arbeit. Dadurch müsste so etwas wie eine schweigende ,Arbeiterpartei‘ resultieren. „Was unseren Fall anbelangt, so gibt es eine allgemeine Unterscheidung zwischen einer ausdrücklichen und einer stillschweigenden Zustimmung.“ (Locke, ibid., S. 275 (II, 8; § 119)). Alle modernen Politiktheorien haben einen Faible für die schweigende Mehrheit und jedes Theorem der Volkssouveränität muss sich natürlicherweise um diese Klientel ,sorgen‘, aber bei Locke ist schweigende Mehrheit keine amorphe Masse oder Chimäre, sondern eine fest umrissene Grösse, die in etwa den ,werktätigen‘ Eigentümern entspricht und durchaus als Eigentümer ihre Interessenvertreter beauftragen können, also Parteiungen alimentieren, im Ganzen die schweigende Mehrheitspartei bilden. Der Abstand von Naturzustand und bürgerlicher Gesellschaft ist nicht gross.

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drohenden Naturzustand, aber man kann ihn managen und in ihm sogar Handelsvertretungen, selbstverständlich englische Handelsvertretungen pflanzen, also ihn, den Naturzustand, mit Trade und Plantations überziehen – und so erklärt sich, dass der Naturzustand bei Locke keine philosophische Dimension besitzt316 bzw. sich nicht zum Begriff erhebt und eher eine Erfahrung darstellt; nach Lockescher Terminologie also keine complex idea aufgrund getätigter Reflexion ist, sondern eine simple idea. Bestes Beispiel des Umgangs mit dem Naturzustand ist der Krieg, den die Regierung kraft ihrer Souveränität zwar deklarieren und Bürger einfach als Kombattanten ausheben kann, in dem der Soldat zwar getötet werden kann, ohne dass irgend eine Wiedergutmachung oder ein Schadensersatz gefordert werden dürfe, der aber eine entscheidende Klausel kennt: Nicht das Leben des Soldaten ist von Wert oder sein Körper tabu, einzig und allein der Sold ist es, der unantastbar ist, der nicht freie Verfügungsmasse der Obrigkeit ist. Die Armee als Kampfverband, deren Gehalt ihr Gehalt ist, muss als Gemeinschaft der Eigentümer zur Kriegsvorbereitung und Kriegsführung verstanden werden, wobei das gemeinschaftliche Erleben der Mittelstellung zwischen Naturzustand und bürgerlichem = politischen Zustand zur Elementarform gehört.317 Der Eigentümer weiss sich im Exerzieren des Ausnahmezustands als Miteigentümer, im Heer der Eigentümer, für die ihr Sold sakrosankt ist. Selbstredend ist das gemeinsame Naturrecht ein gemeinsames nationales Naturrecht – Locke wendet sich nicht an Philosophen, sondern an Engländer, nicht an den Engländer, sondern an die Engländer. Ausnahmezustände sind in mehreren Feldern gegenwärtig und können sogar im privaten Bereich einstudiert werden. Natürlich scheint der Vater über den Ausnahmezustand zu gebieten, doch gibt es das ,natürliche Gesetz‘ der Verantwortung für die Kinder, welches das Machtmonopol des Vaters laufend bricht. 316 Damit würde ich den Versuchen, den Naturzustand systematisch zu begreifen, wie ihn die folgenden Forscher versuchen, nicht erliegen. Vaughn, Charles, ibid., S. 136 ff. hält den Naturzustand bei Locke für eine Idylle, bei Gough, John: John Locke’s Political Philosophy (1950, 21956), S. 27, ist er sozial, Laslett, ibid., S. 99 Anm., spricht von einer immanent sociability, Garotti, Loris Ricci: Locke e i suoi problemi (1961), S. 66 f., will in ihm einen Idealzustand des freien, Eigentum besitzenden Bürgers sehen, ähnlich auch Viano, Carlo: John Locke. Dal razionalismo all’ illuminismo (1960), für Polin, Raymond: La politique morale de John Locke (1960), ist der Lockesche Naturzustand ein „état normative“, für Yolton, John: Locke on the Law of Nature (1958), ist er ein „normative device“, in den Augen von Maclean, Alexander: The Origins of the Political Opinions of John Locke, Kap. II, ist er ein Friedenszustand, ebenfalls bei Lamprecht, Sterling Power: The Moral and Political Philosophy of John Locke (1918, 21962), S. 127. In die richtige Richtung denkt Vaughn, Karen, ibid., wenn sie darauf hinweist, dass der Gesellschaftszustand auf Widerruf gestundet sei und jederzeit von einer „cost / benefit analysis“ (Vaughn, ibid., S. 129) der Bürger abhänge, jedoch immer noch eine systematische Verbindung zwischen (ontologischem) Law of Nature und (gesellschaftlichen) state of nature (S. 128) sieht. 317 Wenn Menschen sich zu einer Gesellschaft vereinigen und ihre natürlichen Rechte abgeben, entstehe „eine politische oder bürgerliche Gesellschaft“, offensichtlich austauschbar gedacht. (Locke, ibid., S. 254 (II, 7; § 89) und S. 289 ff. (II, 11; § 139)).

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„Um jedoch diesen Mängeln ihres [der unmündigen Kinder, M.S.] unvollkommenen Zustands abzuhelfen, bis sie durch fortschreitendes Wachstum und Alter von selbst behoben wurden, hat das natürliche Gesetz Adam und Eva und nach ihnen alle Eltern dazu verpflichtet, ihre Kinder, die sie gezeugt haben, zu erhalten, zu nähren und zu erziehen, und zwar nicht als ihr eigenes Werk, sondern als das Werk ihres eigenen Schöpfers, des Allmächtigen, dem sie für sie verantwortlich waren.“318

Die Schutzbefohlenen verleiten die Eltern nicht zum Genuss des ihnen auferlegten Ausnahmezustands, sondern zur Pflicht der Arbeit an ihnen. Die Familie, als vermeintlich kleinste Interessenpartei der Gesellschaft, muss und soll sich dafür interessieren, dass ihr Nachwuchs zu mündigen Interessenten wird und also qua Arbeit zum Eigentum gelangen kann. Durch Arbeit zum Eigentum zum Interesse zum Parteigänger („sich und anderen nützlich sein“) – das ist die Reihenfolge der Erziehung, bei der eine „absolute, willkürliche Herrschaft des Vaters“ absolut unvernünftig wäre, schon im eigenen Interesse: „Aber welcher vernünftige Grund kann diese Fürsorgepflicht der Eltern gegenüber ihren Kindern zu einer absoluten, willkürlichen Herrschaft des Vaters werden lassen? Denn die Gewalt des Vaters reicht nicht weiter, als durch die Zucht, die ihm am wirksamsten scheint, ihrem Körper Stärke und Gesundheit, ihrem Geist jene Schärfe und Rechtschaffenheit zu verleihen, die seine Kinder dazu in die Lage versetzten, sich und anderen möglichst nützlich zu sein, und sie, wenn es seine Lebensbedingung erforderlich macht, für den eigenen Unterhalt arbeiten zu lassen, sobald sie dazu imstande sind. An dieser Gewalt aber hat auch die Mutter, gemeinsam mit dem Vater, ihren Anteil.“319

Die Herrschaft des Vaters erstreckt sich – ebenso wie der Anspruch des Souveräns auf den Sold des Soldaten – nicht auf das Eigentum des eigenen Kindes und ist nur „vorübergehend“320, wobei die Dialektik solch einer Anweisung dazu führt, dass gefragt werden kann, ja gefragt werden muss, ab wann ein Kind arbeiten, also Eigentum erwerben darf und geantwortet werden kann, ja muss: natürlich so bald wie möglich. Kinderarbeit ist für Lockes Konzeption kein Fremdwort. Dies wird noch verstärkt durch den Keil, den Locke in die Familie treibt, eine Familie, deren Aus318 Locke, ibid., S. 233 (II, 6; § 56). Locke betont zwar immer den kardinalen Unterschied zwischen väterlicher und politischer Gewalt: „Diese beiden Gewalten, die politische und die väterliche, sind aber so völlig grundverschieden und unabhängig voneinander, beruhen auf so verschiedenen Grundlagen und sind zu so verschiedenen Zwecken bestimmt, daß jeder Untertan, der ein Vater ist, ebensoviel väterliche Gewalt über seine Kinder hat wie ein Fürst über die seinen.“ (ibid., S. 243 (II, 6; § 71)), und dass insbesondere politische Gewalt nicht durchgängig sei (also der Untertan des Untertans nicht mehr Untertan des ersten sei), daraus dann – merkwürdigerweise – folge, dass politische Gewalt nicht väterliche Gewalt sei, aber die Gewalt der Väter über ihre Kinder bleibt der Gewalt des Souveräns zumindest analog, wenn nicht sogar gleich. Es versteht sich, dass nach dieser Durchtrennung von väterlicher und politischer Auctoritas der Paternalismus selber zur politischen Partei werden muss (siehe weiter unten). 319 Locke, ibid., S. 238 f. (II, 6; § 64). 320 Locke, ibid., S. 239 (II, 6; § 65). Es korrespondieren sich also Taschengeld und Sold und das eine kann als Frühform des anderen, das andere als Spätform des einen verstanden werden. Vielleicht müssten Taschengeld und Sold noch um das Element des Erbes erweitert werden.

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sengrenze nicht das Ende der Interessenparteiung markiert, sondern im Innern selber in Eigentümerkonkurrenten zersplittert ist. Dies wird von Locke sogar mit einem anthropologisch unveräusserlichen Recht, dem Recht auf Erbschaft sanktioniert. „Jeder Mensch wird mit einem zweifachen Recht geboren: Erstens mit einem Recht auf Freiheit für seine Person, über die kein anderer Macht hat und über die nur er selbst frei verfügen kann. Zweitens mit einem Recht, zusammen mit seinen Brüdern vor allen anderen Menschen den Besitz seines Vaters zu erben.“321

Freiheit und Erbberechtigung scheinen gleich gestellt; der Mensch ist frei zu erben. Der Mensch, bzw. das Kind lebt im Modus der Möglichkeit, Eigentümer zu werden. Sind die Eigeninteressen gedeckt, kann ein dieses Eigeninteresse überwölbendes, veredelndes und rechtfertigendes Common good zum individuellen Ethos werden: „Mit ihrem Eintritt in die Gesellschaft verzichten nun die Menschen zwar auf die Gleichheit, Freiheit und exekutive Gewalt des Naturzustandes, um sie in die Hände der Gesellschaft zu legen, damit die Legislative so weit darüber verfügen kann, wie es das Wohl der Gesellschaft erfordert. Doch geschieht das nur mit der Absicht jedes einzelnen, um damit sich selbst, seine Freiheit und sein Eigentum besser zu erhalten (denn man kann von keinem vernünftigen Wesen voraussetzen, daß es seine Lebensbedingungen mit der Absicht ändere, um sie zu verschlechtern). Man kann deshalb auch nie annehmen, daß sich die Gewalt der Gesellschaft oder der von ihr eingesetzten Legislative weiter erstrecken soll als auf das gemeinsame Wohl.“322

Mit den Menschen, die auf ihre Freiheit verzichten, sind die meisten Menschen gemeint, nämlich die Eigentümer. Diese bilden die grösste Partei im Staat, wobei sie ein Interesse daran haben, dass das Interesse der Gesellschaft und das eigene Interesse sich reziprok stützen, mit dem Vorbehalt der Existenz des Gemeinwohlinteresses der Gesellschaft als ,reziprokfähig‘323. Das Fortbestehen und die Vermehrung des Gemeinwohls gibt aber nicht nur dem Individuum die Sicherheit, dass es seine Rechte zurecht beschnitten bekam, sondern ist vor allem conditio sine qua non, dass die politischen Parteien, die in Lockes Abhandlung ihre Apotheose dargelegt bekommen, in einem gewissen Rahmen agieren, der die Politik und den Staat nicht sprengt. Das Gemeinwohl ist so verstanden der Nomos der politisierten Eigentümer und Spielregel des Eigentümerverbandes324. Handkehrum ist auch von der Legislative zu erwarten, dass sie sich den Spielregeln unterwirft und sich auf das „öffentliche Wohl der Gesellschaft beschränkt“325, wobei die Legislative, als quasi summa Locke, ibid., S. 320 (II, 16; § 190). Locke, ibid., S. 281 (II, 9; § 131). 323 „Die fortschreitende Argumentation Lockes zeigt immer deutlicher, daß der Staat Lockes ein Staat der Eigentümer ist. Nur der Eigentümer ist Vollbürger, d. h. nur er kann Vertreter ins Parlament wählen, und zwar ,im Verhältnis zu dem Beistand, den er der Öffentlichkeit leistet‘“ (ibid., Einleitung des Herausgebers, S. 38). 324 Das Gemeinwohl bildet dabei einen wichtigen Teil der moralistischen bürgerlichen Heuchelei, den Cant, den Hamann das Vergnügen besaß, als „Kaviar des Leviathan“ zu bezeichnen und im großen das wiederholt, was im kleinen die Mentalität der Guten und (Selbst-)Gerechten, also das urprotestantische Gefühl, ist. 321 322

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potestas, als „in allen Fällen höchste Gewalt“326, die Vorgabeinstanz sein muss, in der sich die Parteiungen austoben dürfen. Alle Parteien der Legislative sollen dem bien publique verpflichtet sein und es ist zu fragen, ob das Gemeinwohl, als politische Überwölbung, nicht aus der Politik, aus dem Ränkespiel aussteigen will, aber gleichzeitig dazu führt, dass in sie, in Politik, permanent eingestiegen werden muss, ob also das gute Gewissen der Gemeinwohlproduzenten ausserpolitische Politik pur sang nach sich zieht und gleichzeitig die vollendete Reformation, das gute Gewissen des ganzen Staates und aller Bürger, bedeutet. Öffentlichkeit und Berechenbarkeit sollen diesen Staat tragen und Gegensätzlicheres zum politischen Ränkementor Machiavelli, zu Geheim- und Kabinettspolitik ist nicht denkbar. In dieser Hinsicht ist die Zusammenfassung des limited government, wie sie Locke fordert, interessant: „Dies sind die Grenzen, die der legislativen Gewalt eines jeden Staates, gleichgültig welche Regierungsform er auch hat, gesetzt sind, und zwar durch das Vertrauen, das die Gesellschaft und das Gesetz Gottes und der Natur in sie gelegt haben. Erstens muß sie nach öffentlich bekanntgemachten, festen Gesetzen regieren, die nicht für besondere Fälle geändert werden dürfen, sondern für reich und arm nur einen Rechtsgrundsatz kennen, für den Günstling am Hofe ebenso wie für den Bauern am Pflug. Zweitens sollen diese Gesetze auf keinen anderen Zweck als das Wohl des Volkes ausgerichtet sein. Drittens dürfen sie keine Steuern auf das Eigentum des Volkes erheben ohne die Zustimmung des Volkes selbst oder seiner Abgeordneten. Und dies betrifft eigentlich nur solche Regierungen, wo sich eine ständige Legislative befindet oder wo doch wenigstens das Volk die Legislative nicht teilweise Abgeordneten vorbehalten hat, die von Zeit zu Zeit von ihm selbst gewählt werden. Viertens darf und kann die Legislative die gesetzgebende Gewalt nicht auf irgendeinen anderen übertragen oder irgendwie anders anlegen, als es das Volk getan hat.“327

Öffentliche Rechtssicherheit, Gemeinwohl, parlamentarische Steuerhoheit und Nichtübertragbarkeit der legislativen Kompetenz lauten zusammengenommen die Kernpunkte der liberalen Gesellschaft, lauten aber genausogut die Kernpunkte einer Gesellschaft von Eigentümerverbänden, gleichzeitig Kernpunkte einer zusammengesetzten Gesellschaft, deren Bürger qua Interessenlage unter einer Decke stecken. Der Locke von unten, in dem Freiheit und Eigentum dem Individuum garantiert sind, wird jederzeit zugleich überlagert durch den Locke von Oben, der im Staatswesen das Feld frei macht für Parteiungen und Parteien. Die Föderation ist die Föderation der vereinigten Disgregierten; doch wichtiger wird Lockes Vorliebe für die englische Entsprechung der lateinischen ,civitas‘: ,Commonwealth‘ als Term gewinnt deswegen so an Bedeutung, weil „there may be Subordinate Communities in a Government“328, also Körperschaften, Vertretungen, Lobbys und vor 325 „In ihren äußersten Grenzen ist ihre [der Legislative, M.S.] Gewalt auf das öffentliche Wohl der Gesellschaft beschränkt.“ (Locke, ibid., S. 284 f. (II, 11; § 135). 326 Locke, ibid., S. 294 (II, 13; § 150). 327 Locke, ibid., S. 290 f. (II, 11; § 142).

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allem Parteiungen und Parteien. Dann ist auch die Wahlmonarchie als reine Repräsentationsinstanz kein Problem und tangiert das Prinzip der ,Subordinate Communities‘ keinesfalls. Hatte Thomas Hobbes das konfessionelle Problem dadurch gelöst, dass er es quasi deckelt, allerdings so deckelt, dass unten hernach dann Friedhofsruhe einkehren möge, ergründet Locke Bedingungen, natürlich unter dem Deckel, bis zu welchem Ausmass innenpolitische Kämpfe zugelassen werden können, ohne dass der Deckel durch den Druck explodiert. Das heisst: Zulassen des Kampfes mit der Voraussetzung eines geteilten ,handicaps‘: des eigenen Eigentums; Umgruppierung der politischen und religiösen Konkurrenz in die ökonomische, damit die Konkurrenz Konkurrenz bleibt und nicht zum Krieg ausartet. Die Parteilichkeit scheint so das Prinzip der liberalen Verfassung zu sein;– noch das Individuum kann als atomisierte Minipartei angesehen werden. Es kommt zu einer wechselseitigen Affirmation der Eigentümer untereinander und gegenüber iher ,Partei‘. Das Verhältnis der Eigentümer zu ihrer Partei und zu ihrer Legislative ist – natürlich gut reformatorisch – eine Schule des Verdachts, da es permanent um Interessen, Interessenläsion, Interessenkonflikt, Interessenkollision und Interessenausgleich geht. Amtsmissbrauch ist daher das vorherrschende Thema der politisierten Interessenten: „Das [Amtsmissbrauch, M.S.] braucht nicht so sehr bei Regierungen befürchtet zu werden, wo die Legislative ganz oder teilweise in veränderlichen Versammlungen besteht, deren Mitglieder, wenn die Versammlung aufgelöst wird, gleich allen übrigen Menschen Untertanen der allgemeinen Gesetze ihres Landes sind.“329

Eine universale Verdächtigung der Personen, die den allgemeinen Willen ,kundtun‘330 führt zum allgemeinen Prinzip Misstrauen in der Politik, in der Politiker Politiker331 beäugen und der individuelle Eigentümerinteressent gerade durch den Verdacht gegenüber den anderen Interessengruppen, aber vor allem auch gegenüber den eigenen Interessenvertretern durchpolitisiert wird, da er die Politik als ,struggle 328 Nach Yolton, John: A Locke Dictionary, Cambridge (1993). S. 39, bezüglich II, 10; § 133: „Es kann nämlich untergeordnete Gemeinschaften unter einer Regierung geben“ (Locke, Zwei Abhandlungen, ibid., S. 282). 329 Locke, ibid., S. 288 (II, 11; § 138). 330 „Ein jeder kann über seinen eigenen Willen verfügen, wenn diejenigen, die die Gesellschaft damit betraut hatte, den öffentlichen Willen kundzugeben, von ihrer Aufgabe ausgeschlossen werden, und andere, die keine solche Vollmacht oder Befugnis besitzen, ihre Stelle usurpieren.“ (Locke, ibid., S. 334 (II, 19; § 212)). 331 Insbesondere natürlich gegenüber dem Chef der Exekutive und allen, die die Macht im Staate errungen haben: „Er [der vermeintlich egoistische ,höchste Inhaber der Exekutive‘, M.S.] handelt auch dem Vertrauen zuwider, wenn er entweder die Staatsgewalt, den Staatsschatz oder die Ämter der Gesellschaft dazu gebraucht, um die Abgeordneten zu bestechen und sie für seine Absichten zu gewinnen, oder wenn er die Wähler vorher offen beeinflusst und ihrer Wahl Männer vorschreibt, die er durch dringende Bitten, Drohungen, Versprechungen oder sonstwie für seine Pläne gewonnen hat und die er gebraucht, um solche Personen einzustellen, die vorher versprochen haben, wofür sie stimmen und was sie beschließen werden.“ (Locke, ibid., S. 339 (II, 19; § 222)).

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for interest‘ interpretieren muss. So verwandelt das unpolitische Eigentum den Eigentümer in einen immer mehr politisierten Menschen. Wie Karen Vaughn zurecht bemerkt, ist zwar auch die klassische Lehre davon ausgegangen, dass, wie noch Augustin sagt, der Mensch den Drang habe, billig zu kaufen und (ver)teuer(t) zu verkaufen, nur bestünde die Neuerung Lockes darin, das Government nicht gegen diesen Umstand, sondern mit ihm zu führen: „Yet it is modern in the sense that Locke believed that government could not easily override the aims and projects of people trading in the marketplace. In Some Considerations [of the Consequences of Lowering of Interest and Raising the Value of Money (1692)], the message was for government to work within the confines of human and to take into account the likely response people will make to legislation.“332 Der Umstieg von Konsens auf Dissens wird also mit der Abstinenz der Regierung in ökonomischen Belangen vollführt, so dass die Properties der Individuen, ihre Eigenschaften, zunehmend identisch werden mit ihren Properties, ihrem Eigentum333 und so die Transformation der Eigentümer in Interessenten, politische Interessenten, ermöglicht. Der Garant der Rechtsstaatlichkeit rückt dadurch in das Zentrum des Interesses, schon deshalb, weil es scheint, dass Momente der Legislative jurisdiktionelle Funktionen übernehmen334. Man könnte hier ein Überbleibsel hobbesianischer Vorstellungen wittern, ist dann aber erstaunt, zu hören, dass letztlich, im Falle des Widerstands, also des Staatsnotstands, doch das Volk der Richter sei: „Hier wird man sicher die übliche Frage stellen. Wer soll Richter sein, ob der Fürst oder die Legislative entgegen dem in sie gesetzten Vertrauen handeln? Vielleicht könnten unzufriedene oder aufrührerische Menschen so etwas im Volke verbreiten, wenn der Fürst nur von seiner gebührenden Prärogative Gebrauch macht. Darauf antworte ich: Das Volk soll Richter sein.“335

Aber anders als Rousseau würde Locke nicht sagen: das Volk als Volonté générale ist Richter, sondern das Volk als Volk der Eigentümer, als Interessenvolk ist Richter. Noch ist es die Legislative, die den „einzigen Willen“ „kundzugeben und gleichsam zu hüten“ hat336; auch wenn es schon, ganz rousseauistisch, einen Zwang zur Öffentlichkeit und eine Engführung der Öffentlichkeit mit dem ,einziVaughn, Karen: The Economic Background to Locke’s Two Treatises, ibid., S. 121. Tully, James: An approach to political philosophy: Locke in contexts, ibid., S. 77, hat, wie andere auch, darauf aufmerksam gemacht, dass Property einen „broader reference than today“ besässe und insbesondere die „personal rights“, „especially religious and civil liberties“ mitmeine. Ob dies aber die Quintessenz rechtfertigt, Property nicht als ökonomisches Konzept, sondern lediglich das „moral, political and military“ (S. 83) Kapital in ihm zu sehen, darf mit Fragezeichen versehen werden. 334 „Dieser Richter [der Richter, den die Menschen einsetzen, um aus dem Naturzustand in ein Staatswesen zu gelangen, M.S.] ist die Legislative oder die von ihr ernannte Obrigkeit.“ (Locke, ibid., S. 255 (II, 7; § 89)). Von diesem Naturzustand aus ist in der Tat die Legislative die Judikative. 335 Locke, ibid., S. 353 (II, 19; § 240). 336 „Denn da das Wesen und die Einheit der Gesellschaft darin besteht, einen einzigen Willen zu haben, ist es die Aufgabe der Legislative, wenn sie einmal durch die Mehrheit eingesetzt ist, diesen Willen kundzugeben und gleichsam zu hüten.“ (Locke, ibid., S. 333 (II, 19; § 212)). 332 333

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gen Willen‘ des Volkes gibt. Die Argumentationsstrategie Lockes läuft darauf hinaus, einen hobbesianischen starken Souverän als Übertragungsinstanz bei der Beendigung des Naturzustands zu setzen, dessen Macht aber beständig zu destabilisieren, einzugrenzen und ein politisches Leben unterhalb der Souveränität zu ermöglichen und deshalb tausend Gründe gegen diesen Souverän aufzubieten337. Die höchste Souveränität ist die höchste Souveränität, die ja nicht alles selber machen kann. Der Souverän herrscht, aber, nach einer bekannten Formel: il ne gouverne pas338; die Ausdifferenzierung von Souveränität und government ist wichtig für die Etablierung von Parteiungen. Nach der Lektüre der zweiten Abhandlung wird klar, dass das Verhältnis Untertan-Obrigkeit unklar bleibt – wer hat wieviel Rechte konkret? – aber die Vermutung liegt nahe, dass es unklar bleiben soll, damit die klaren Stellen um so heller leuchten mögen, – damit die Eigentümertheorie den Lesern als verständlich bleibe339. Den Schutz des Eigentums, das Recht auf Eigentum, die Herrschaft von ,Interessen‘ – das soll man verstehen. Der Gedanke des Eigentums wird so stark gemacht, dass sogar Kriege unnütz zu werden drohen340. Dies verstärkt noch einmal die Grundtendenz, dass Regierungen gegenüber Eigentümer-Parteiungen nichts machen können. Das Erbe der englischen Revolution soll bewahrt werden, so dass der König zum blossen Garanten der Rechtssicherheit wird: Zum Unterschied zwischen Tyrannei und Monarchie zitiert Locke König Jakob I., der „in seiner Rede an das Parlament im Jahre 1603 folgendes [sagt]: ,Ich werde mit Hilfe von guten Gesetzen und Einrichtungen das Wohl des Volkes und des gesamten Staates stets 337 Zentrales Argument gegen den Hobbesschen Souverän ist dessen Unerreichbarkeit und deswegen Unfähigkeit, politischen Zank überhaupt zu schlichten: „Wo es also Menschen gibt, die keine solche Autorität [schlichtende Richter also, M.S.] besitzen, die sie zur Entscheidung ihrer Streitigkeiten anrufen könnten, befinden sich diese Menschen immer noch im Naturzustand. Und das gilt für jeden absoluten Fürsten gegenüber denjenigen, die unter seiner Herrschaft stehen.“ (Locke, ibid., S. 255 (II, 7; § 90)). Der Richter muss appelabel sein, deswegen scheidet die „absolute Monarchie“ aus; die absolute Monarchie ist „mit der bürgerlichen Gesellschaft unverträglich“ (ibid.). Ebenso: „Denn da man von dem Fürst annimmt, dass er alle Gewalt, sowohl die legislative als auch die exekutive, allein in seiner Person vereinigt, so ist kein Richter zu finden, den man anrufen könnte und der gerecht, unparteiisch und mit Machtbefugnis entscheidet und von dessen Entscheidung man bei jedem Unrecht oder jedem Schaden, die man von seiten des Fürsten oder auf seinen Befehl erleidet, Abhilfe und Wiedergutmachung erwarten könnte.“ (ibid., S. 255 f. (II, 7; § 91)). 338 „Le roi règne mais il ne gouverne pas“, siehe dazu Schmitt, Carl: Verfassungslehre (1928, 81993), S. 290 und Schmitt, Carl: Politische Theologie II (1970, 41996), S. 42. 339 Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 230, spricht davon, dass Locke „mit den Wölfen heule“ und absichtlich seine Absichten verschleiere, „Vorsicht“ (ibid., S. 214 ff., siehe auch weiter unten) walten lasse. Dies insbesondere, weil seine politischen Grundlegungen das klassisch-biblische Naturrecht sprenge. 340 „Aus all dem [den vorangegangenen Paragraphen über die Eroberung, M.S.] folgt, daß die Regierung eines Eroberers, die den Unterworfenen gewaltsam auferlegt wird, für diejenigen, gegen die er kein Recht eines Krieges hatte oder die nicht an dem Krieg, zu dem er berechtigt war, gegen ihn teilnahmen, keinerlei Verpflichtung hat.“ (Locke, Zwei Abhandlungen, ibid., S. 320 (II, 16; § 187)).

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meinen besonderen und privaten Interessen vorziehen. [ . . . ] Ich gebe nämlich zu, dass das eigentliche und hauptsächliche Unterscheidungsmerkmal zwischen einem rechtmässigen König und einem usurpierenden Tyrannen darin besteht, dass der stolze und ehrgeizige Tyrann glaubt, sein Königreich und sein Volk seien nur zur Befriedigung seiner Lüste und unvernünftigen Begierden bestimmt, während im Gegensatz dazu der rechtschaffene und gerechte König erkennt, dass er eingesetzt ist, um den Wohlstand und das Eigentum des Volkes zu fördern.‘ Ferner spricht er in seiner Rede an das Parlament im Jahre 1609 folgende Worte: ,Der König verpflichtet sich selbst durch einen zweifachen Eid zur Befolgung der grundlegenden Gesetze seines Reiches: Stillschweigend, weil er ein König und dadurch verpflichtet ist, sowohl Volk wie auch die Gesetze seines Reiches zu schützen; und ausdrücklich durch seinen Krönungseid.‘“341

Die Gesetzestreue und Gesetzesförmigkeit der monarchischen Regierungsform bestehe darin, dass sich der Regent an die Gesetze hält, d. h. dass unterhalb seiner Sphäre die Parteiungen um Macht sich offensichtlich hemmungslos bewerben können. Damit geht der ursächliche Zusammenhang zwischen Schutz und Gehorsam verloren.342 Die Herrschaft der Gesetze ist conditio sine qua non der Ermächtigung der Metöken. Parteien-Demokratie ist nur machbar mit strikter Rechtssicherheit. Es geht Locke also um die Einrichtung eines Raums, des geschützten Raums der Politik, eines Raums, in dem Politik in unserem Sinne überhaupt erst möglich wird, nachdem ihn Hobbes mit seinem Gerede von Angst und Naturzustand = Kriegszustand und summa potestas beinahe vernichtet hätte. Ein Grundkonsens der Egoismen soll ihm dazu verhelfen, auf dass ein Rückfall in den Naturzustand berechenbar bliebe und nicht als Medusenhaupt den politischen Raum jederzeit zugleich implodieren macht. Dieser Konsens ist der Besitz, zunächst der Besitz der Freiheit (§ 17), aber schon bald (§ 18), als Ausdruck der Freiheit, der Besitz von Geld. Dadurch ändert sich auch die Rolle des Zwingherrn, des Souveräns, der eher Schiedsrichter wird und dessen erstes Attribut nicht die Exekution sein kann, sondern die Rechtsprechung. Meines Erachtens sollen in der zweiten Abhandlung nicht Besitzindividualismen, sondern Gruppeninteressen ermöglicht werden. Das Wogen des Ringens um politische Vorherrschaft innerhalb des Staatsverband – das, was Locke so lebhaft vor Augen hat – ist hier legitimiert und zwar unterhalb der Aufsicht des Leviathan und ohne das Prinzip des Leviathan herauszufordern. Dass die Parteienermächtigungsabhandlung Eigentümer benötigt, ist zwar nicht ephemer, aber doch marginal. Man braucht sie halt, die Eigentümer, so wie man sie, sogar in Platons Staat, schon immer gebraucht hat, aber diesmal braucht man sie als Eigentümergruppen. Der dialektische Trick von Locke ist sein Vorschlag: lasst uns die Interessengruppen nicht als Staatszersetzer und vollendete Egoisten begreifen, die zur Not noch ihr Vaterland verkaufen würden, sondern begreifen wir sie als Fundament des politischen Lebens, überhalb derer der Leviathan und der Souverän ruhig thronen darf und unterhalb derer Besitzindividualisten ihren Geschäften nachgehen. 341 342

Locke, ibid., S. 326 f. (II, 18; § 201). Siehe dazu auch: Hermosa Andujar, Antonio: Ley e poder: Locke (1999). S. 163 – 183.

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Die disparaten Ideen zum Naturrecht, die Locke anbietet und zu den berechtigten Vermutungen Leo Strauss‘ geführt, dass die Bruchstellen zwischen der klassisch biblisch-christlichen Begründungsmöglichkeit des Naturrechts und der Lokkeschen Begründung durch Lockes Theoriecamouflage, seine ,Vorsicht‘ verborgen werden sollte343, verstehen sich möglicherweise besser, wenn nicht das Individuum im Zentrum des Naturrechts gedacht wird, sondern die Parteien. Es handelt sich bei Lockes zwiespältigem Naturrecht nicht um die „unzulässige Vereinfachung eines komplexen Sachverhalts“344, sondern lediglich um das Aufrollen der zwei Abhandlungen vom falschen Ende her; das Naturrecht wird von Locke lediglich verwendet, verwendet für die Genese von Eigentümern; die Gesellschaft wird aber nicht von Eigentümern getragen, sondern von Parteien. Es geht in den beiden Abhandlungen nicht primär um Individuen, um Einzelrechte, um individuelle Vernunft oder private Ängste und Vorsorge, um den ,Einzigen‘ und sein Eigentum, nicht einmal um Verwendung erkenntnistheoretischer Grundlagen, sondern hauptsächlich um die Regierung: of government. Es mag wohl sein, dass das natürliche Recht auf Eigentum die Folge des Grundrechts der Selbsterhaltung ist und so von keinem Vertrag abgeleitet sein kann, damit im Ego gründe, doch zeigt Locke immer wieder, dass das Eigentum den Eigentümer zwar charakterisiere, aber vor allem, gerade wenn es um ,government‘ geht, in Beziehung treten lasse zu seinen Miteigentümern.345 Und auch die Dialektiken und Interaktionen der Eigentümer untereinander im Naturrecht selber verwandeln gerade das individualistische Naturrecht in ein gemeinsames Naturrecht. Vielleicht muss man sagen, dass Individuen bei Locke nicht Individuen sind, sondern Mitglieder und die politische Kontrolle nicht polizeiliche sondern soziale Kontrolle346 ist. Damit ist aber nicht Geselligkeit mitgemeint oder Vereinsmeierei, sondern die prinzipielle Inkorporabilität, die Anschlussbedürftigkeit und Anschlussfähigkeit und Anschlusseignung der Individuen. Die Individuen müssen in der Verfassung sein, sich anschliessen zu lassen, sie müssen an ihrem Interesse sich packen lassen und darum wird das Ei343 Über Lockes ,Vorsicht‘ siehe: Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 214 ff. Zu Strauss’ Locke-Interpretation sehr konzis Balázs, Zontán: Egy értelmezés értelmezései: Leo Strauss Locke-ról [The interpretations of an interpretation Leo Strauss on Locke] (1994), S. 711 – 747. 344 „Lockes Lehre vom Menschen, der nach ständiger Vermehrung seines Eigentums strebt, gehört zu jenen Theorien der modernen Naturrechtsauffassung, die die klassische Naturrechtslehre von innen her aushöhlten, ohne jedoch ihren Rahmen, die Existenz gottgeschaffener, natürlicher, vom Menschen erkennbarer Normen in Frage stellen zu wollen. Strauss und Cox erkannten scharfsinnig die Unvereinbarkeit von Traditionellem und Neuem in Lockes Philosophie. Da sie in Locke ausschließlich einen dezidierten Vertreter des modernen bürgerlichen Weltbildes sahen, erklärten sie diese Widersprüche damit, daß Locke seine wahren Ansichten verschleiern wollte. Dies ist eine unzulässige Vereinfachung eines komplexen Sachverhalts, die den gordischen Knoten nicht entwirrt, sondern durchschlägt.“ (Euchner, Walter: Einleitung [zu Lockes Zwei Abhandlungen], S. 47 f.). 345 Dazu erhellend: Micunovic, Dragoljub: Lokova politicka teorija svojine [Locke’s political theory of Property] (1983). S. 39 – 55. 346 Dazu Ross, Edward: Social Control. A Survey of the Foundations of Order (1901).

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gentum ein Definiens des Individuums, als ein substantielles Akzidenz des je eigenen Gruppeninstinkts. Der systematische Konnex zum Essay würde dann nicht vom Individuum zum Eigentum geführt werden müssen, sondern vom ,Mode-bewussten‘ Anerkennungstierchen Mensch zu seinem sozialen Stratifikat, seiner peer group, seiner Partei. Öffentliche Meinung, Gruppeninteressen und soziale Existenz verschmelzen bei Locke, wenn die Mode den Menschen ,streng geteilt‘: „Wer sich vorstellt, dass Lob und Tadel für die Menschen keine sehr starken Beweggründe seien, um sich den Meinungen und Regeln derer anzupassen, mit denen sie zusammen sind, der ist offenbar mit der Eigenart und der Geschichte der Menschheit wenig vertraut. Die meisten von ihnen richten sich, wie wir sehen werden, in erster Linie, wenn nicht ausschliesslich, nach diesem Gesetz der Mode; und so tun sie nur das, was ihnen in der Gemeinschaft, der sie angehören, den guten Ruf erhält, kümmern sich aber wenig um die Gesetze Gottes oder die der Obrigkeit.“347 Die durchgängig positive Verwendung der fashion steht also im engen Verhältnis zu Lockes Denken. Diese Vorüberlegungen zur politischen Philosophie Lockes kulminieren in folgender Interpretation: Das Zwiespältige des Naturzustands weist eine politische und eine ausserpolitische Dimension auf; als politisches Mittel legitimiert es ohne Umschweife die staatliche Souveränität, als ausserpolitische allgemein-menschlich-vernünftige Idylle dagegen kehrt es, schon bei Locke, wieder in das politische Feld zurück, weil die politische Auseinandersetzung an Verve gewinnen kann. Es droht ja nun kein Ausnahmezustand mehr, kein beyond the line, in dem alles zusammenbricht. Die Hemmschwelle für politische Parteien, sich zu ,betätigen‘, für Politik insgesamt wird tiefer gelegt. Dazu kommt das ,ausserpolitische‘ Motiv der Arbeit als Rechtsanspruch, das nicht weniger ,ausserpolitische‘ Prinzip Eigentum, die ,ausserpolitische‘ Geldtheorie, die Vorstellung des ,ausserpolitischen‘ Souveräns als Richter etc. pp. – alles Momente der Politikexemtion, die ins Politische zurückschlagen: Wird die Arbeit politisch, entstehen Arbeitsgesellschaften und Verteilungskämpfe, wird das Eigentum politisch, entstehen wie von selbst Interessenverbände, wird Geld politisch, wird Geld und Politik reziprok konvertibel, wird der Souverän aus der Politik verbannt, rückt Arbeit und Eigentum und Geld, rükken Parteien und Parteiungen an seine Stelle.348 Nirgendwo bei Locke ist ausgeLocke, Versuch über den menschlichen Verstand (1690, dt. Übersetzung 1757, 52000), Bd. I, Buch II, Kap. XXVIII, § 12, S. 447. Auf diese Stelle weist vor allem Noelle-Naumann, Öffentliche Meinung, ibid., S. 98 ff. hin. 348 Locke, Zwei Abhandlungen., S. 232 (II, 6; § 52). Ganz individualistisch bei Strauss, der die Lockesche Erfindung der uneaseness mit der Arbeit verschränkt sieht. „Das Leiden, welches das Leiden beseitigt, ist die Arbeit“; „Die schmerzvolle Befreiung von Schmerz gipfelt nicht so sehr in den höchsten Lustgefühlen als ,im Besitz der Dinge, welche die grösste Lust erzeugen‘. Das Leben ist das freudlose Suchen nach Freude.“ (ibid., S. 261). Natürlich ist die Arbeit der einzige Rechtstitel auf Eigentum und zudem auf Naturrecht beruhend, aber die Lockeschen Überlegungen zielen doch zu offensichtlich auf Arbeiterparteien oder Korporationen wie den ,Eminent Merchants and Traders by Sea‘ und ähnlichen, am englischen Imperialismus reich werdenden ,Kaufmannsgilden‘. 347

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sagt, jetzt machen wir mehr Politik, mehr Politisches, jetzt stellen wir auf Dissens um, jetzt ermächtigen wir falsche Transzendentien, jetzt wählen wir eine scheinbar politikexemte Taktik um unserer Politisierungsstrategie willen, alles das ist nicht gesagt und läge, vielleicht, ausserhalb der Möglichkeiten des Theoriedesigns im 17. Jahrhundert, ausserhalb der Möglichkeiten von Locke zumal, aber, und das ist der punctum saliens, es liegt innerhalb der Konsequenz von Lockes Denken und vor allem von Lockes Schriften. Richard Ashcraft hat die These verfochten, derzufolge Lockes ,Verdienst‘ darin bestünde, „belief from action – political theory from practical action –“349 separiert zu haben, aber dieser Verdienst hat meines Erachtens die Politisierung – das Politische – auf besondere Weise angeheizt; Locke wäre demzufolge kein Bremser, sondern ein Heizer. Mit dieser nichtliberalistischen Sicht auf Locke, mit dieser sozusagen soziologischen Sicht350, mit der Fokussierung auf Gruppen, Gruppendynamik, Parteien, Parteiungen meine ich der Locke-Forschung eine neue Fragestellung einzuimpfen und Ernst mit der Einsicht Lockes zu machen, dass Politik und Commonwealth aus einer „variety of opinions and contrariety of interests“351 sich zusammensetze. Doch kann unsere Eingangsfrage, die Frage nach dem Nihilismus in der Politik hinsichtlich Locke erst schlüssig beantwortet werden, nachdem man einen Blick auf Lockes Verständnis der Transzendenz geworfen hat, welches erst jenseits in Kapitel IV geschehen kann. Dort ist auch der Raum, um nach Lockes Glauben und seiner Verortung im theologischen Diskurs seiner Zeit zu fragen. An dieser Stelle genügt es, die ausserpolitisch-politische Mechanik ein Stückchen mehr wachsen gesehen und den Text danach befragt zu haben, was Locke für die Parteien, für die Genese der Parteien getan hat. Und weiter: Die zwei Abhandlungen sind schon ein Stück jenes Pragmatismus, der nach Möglichkeit aus der Theorie aussteigen will und theorielose Theorie anbietet (alles bleibt letztlich unklar, alles wird postum publiziert, alles wird durch wenige Klarheiten beleuchtet), dadurch politische Theorie politikfrei macht und zuletzt das gänzlich Politikfreie in den politischen Raum hineinholt, wogegen sich das Politische nicht mehr wehren kann und den Bezug zur politischen Theorie, als letztes Überbleibsel einer Anbindung der Politik an eine transzenAshcraft, Richard: The Politics of Locke’s Two Treatises (1992), S. 16. Vaughn, Karen, ibid., spricht von der Entdeckung der berechenbaren Nichtintentionalität im 17. Jahrhundert und weist damit ebenfalls in soziologische Dimensionen: „Economic phenomena increasingly were explained as the predictable outcomes of comprehensible systems rather than as the consequences of the preserve behavior of individuals. That is, the fact that there are predictable, unintended consequences of human action was becoming more and more for granted in the economic writings of the seventeenth century.“ (S. 123). Pocock vergibt die Chance, mit seinem Arbeitstitel The mobility of property and the rise of eighteenth-century sociology (in Pocock, John: Virtue, Commerce, and History, ibid., Kap. 6, S. 103 – 123) Ernst zu machen und will nur die Knüpfung des Eigentums an die Tauschbeziehung statt ans Individuum im 18. Jahrhundert darstellen. 351 Locke, Two treatises (II, 8; § 98). 349 350

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dente Instanz verliert. Es wird ja nirgends bei Locke gesagt, dass es um Politik ginge, immer ist nur von politikfernen Entitäten (Eigentum, Arbeit, Geld, Vertrag) die Rede, nirgends auch gesteht der vorsichtige Locke ein, dass nunmehr politische Parteien die Regierung zu bilden haben, aber in der Konsequenz verbandeln sich die politikfernen Entitäten und bewirken eine Entfesselung der politischen, der neuen parteipolitischen Auseinandersetzung. Ohne, dass man wüsste, wie das geht, ohne dass die Theorie noch auf die Höhe der Praxis kommen könnte. Das Politische, als reine Praxis, wächst und drängt die Politik, die angebundene Politik, noch etwas mehr zur Seite. Es mag kein Zufall sein, dass ausgerechnet bei der ,Glorious‘ Revolution das Problem der Neuen Legitimation der Herrschaft zum Tragen kam und ein König auf den Thron ,berufen‘ wurde, dessen Legitimation erst gemacht werden musste, da er in der Thronfolge an vierter Stelle rangierte. Kenyon spricht hier von den de facto-Theoretikern, die, wie Daniel Finch, Earl of Nottingham, davon ausgehen, dass die Thronbesteigung William III. im Jahre 1689 nicht mit „reason or law“ gerechtfertigt werden könne, „but only by the sword“352. Die Majestät, Dignität und Sakrosanz der Krone wird hier schon ganz rechtspositivistisch mit dem fait accompli begründet, und der Bischof von Salisbury, Burnet, spricht im selben Jahr von den Geschehnissen als conquest, die ein de facto-Recht verleihe353, Sherlock, seines Zeichens Master of the Temple, erweitert Providenz und Prädestination zum geradezu legalistischen Türkenfatalismus, in der es keine „distinction between a de facto and a de jure ruler“ mehr gäbe: „A successful usurpation, resulting in a settled government, was an act of God alone; God conferred the right to rule, and He could also transfer it; the power to govern was overt evidence of this transfer, and the recipient then enjoyed all the advantages of divine right, and was even entitled to the passive obedience of his new subjects.“354 Die anglikanischen, hoftheologischen Friseure der königlichen Perücke inaugurieren damit, wenn es um Legitimität geht, eine normative Kraft des Faktischen, die zur faktischen Kraft des Faktischen tendiert und scheinbar, über eine nackte Faktizität, aus der Politik aussteigen will, über de facto-Rechte im Rahmen der Ausserpolitik verbleiben will, in Tat und Wahrheit aber die Politisierung und das Politische nur antreibt und anheizt. Politik wird ethoslos und theoriemüde, wenn dem Neuen Herrscher eine technische Legitimation untergeschoben werden soll und in Zukunft das Parlament, also die Parteien des Parlaments herrschen sollen und wollen355, wenn der Neue Herrscher Kenyon, ibid., S. 33. Kenyon, ibid., S. 22. 354 Kenyon, ibid., S. 27. 355 In der Folge leiden die Theoretiker der Whigs unter der theorielosen de facto-Theorie, die in sich nicht schlüssig sein kann: „It was difficult for the Whigs to make any convincing response to all this, except by demanding blind adherence to ,Revolution Principles‘, which were not really principles at all, it seemed, but paradigmas for future action drawn from the circumstances of 1688.“ Kenyon, ibid., S. 201. Es scheint das Politische bereits hier jede Anbindung verloren zu haben. 352 353

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ohne Herkunft seine Legitimation aus dem Goodwill gegenüber dem Politischen, dem Parteipolitischen, bezieht.356 Es ,gebührt‘ aber notabene einem Politiker die Ehre, die theoriefreie Politik nicht nur gedacht, sondern auch gemacht zu haben.

b) Ein Politiker redet: Burke Die imaginären Menschenrechte, die „sophistical rights of men“357, wie sie den Tugendterror der französischen Revolution legitimieren sollten, werden zum Feindbild eines britischen Politikers, der das Theoretische nach Möglichkeit aus dem Politischen, aus der Politik verbannen will358. Die Französische Revolution wird von Burke als „einzigartig“ taxiert, „weil sie eine Revolution des Dogmas und der theoretischen Lehren“359 sei, sie, die „erste philosophische Revolution“360, gemacht von „Vollblut-Metaphysikern“361 und durchaus der Reformation ähnlich. 356 Der tiefere Grund der ,Glorious‘ Revolution bestand natürlich in der Durchkreuzung der Thronbesteigung eines römischen Katholiken und es wäre dem nachzugehen, ob es einen engeren Zusammenhang gibt zwischen dem Abfall von Rom und der Ermächtigung des Politischen, ob Politik theorielos wird, indem sie romlos wird und das Politische demnach das Romlose wäre! 357 Burke nennt die „sophistical rights of men“ (Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, (1854 – 1856), Bd. V, S. 138) auch „the metaphysic rights“ (ibid., II, S. 334), „They have ,the rights of men‘. Against these there can be no prescription; against these no agreement is binding: these admit no temperament, and no compromise: anything withheld from their full demand is so much of fraud and injustice. Against these their rights of men let no government look for security in the length of its continuance, or in the justice and lenity of its administration. The objections of these speculatists, if its forms do not quadrate with their theories, are as valid against such an old and beneficent government, as against the most violent tyranny, or the greenest usurpation. They are always at issue with governments, not on a question of abuse, but a question of competency, and a question of title. I have nothing to say to the clumsy subtility of their political metaphysics.“ (Burke, Works, II, S. 331). 358 „Government is not made in virtue of natural rights, which may and exist in total independence of it; and exist in much greater clearness, and in a much greater degree of abstract perfection: but their abstract perfection is their practical defect.“ (Burke, ibid., S. 332 f.). Es ist der natural rights-Diskurs, dem Theorie,lastigkeit‘ vorgeworfen wird, wobei zwischen natural rights-Diskurs und dem Vorwurf der Theorielastigkeit bald einmal nicht mehr unterschieden wird. Die Theorie der natural rights und die Theorielastigkeit jeglicher Politik werden ineins gesetzt. 359 „The present Revolution in France seems to me to be quite of another character and description; and to bear little resemblance or analogy to any of those which have been brought about in Europe, upon principles merely political. It is a revolution of doctrine and theoretic dogma. It has a much greater resemblance to those changes which have been made upon religious grounds, in which a spirit of proselytism makes an essential part.“ (Burke, Works, ibid., III, S. 350). Hierbei geht natürlich vergessen, wie ,doktrinär‘ die englische Revolution gewesen ist, nicht minder doktrinär als die französische. 360 Burke, ibid., V, S. 138. 361 „Nothing can be conceived more hard than the heart of a thoroughbred metaphysician“ (Burke, ibid., S. 141).

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Diese „bewaffnete Lehre“ sei „von der Religion getrennt“ und durch und durch „atheistisch“362. Es ist erstaunlich, dass ein Politiker noch so redet und den fremden Atheismus in sein politisches Kalkül einbezieht; man kann es auch sarkastisch formulieren: „Burke war damit zufrieden, dass die Französische Revolution durch und durch böse war.“363 Warum war dem so? Gross geworden als ,Hauptschriftleiter‘ des Annual Review, einem jährlich erscheinenden Magazin364, das sich den ,world affairs‘ verschrieben hatte, wechselt Burke, bewaffnet mit besten Beziehungen zur Presse, ab 1765, zunächst als „Jackal“365, als Handlanger des Lord Rockingham, dann als Fraktionschef der Whigs, in die Politik, wo er Tagespolitik, garniert mit Grundsatzreden und -schriften, orchestriert366. Dem Parteimann ist die Volonté générale suspekt, schon allein, weil „der Wille der Vielen und ihr Interesse sehr oft auseinandergehen [müssen]“367 und der Interessenvertreter auf dem Weg ist, unabhängig von den Interessen der Vielen seine eigene Dignität zu erlangen. Politik als Beruf wird dort möglich, wo der Interessenvertreter dem Interessent bedeutet, dass er keine Teilnahme an der politischen Macht einfordern könne denn durch ihn. Diese Teilnahme werde in der Theorie durch naturrechtliche Konstruktionen erdacht, so Burke, und damit verwandelten die französischen Theoretiker „einen Notfall in eine gesetzliche Regelung“368. Wenn dann die Konstruktionen des modernen Naturrechts alltagsrelevant und politisch würden, wären Ausnahmezustände die Regel. Burke war es dagegen um eine Wiederbelebung des klassischen Naturrechts zu tun, in der die gewachsene Konvention über dem spekulativen Naturrecht stehe und das Naturrecht nicht politik- und staatsbegründend sei (im Gegenteil: Verfassungen müssen gewachsen sein, nicht gemacht werden); die Gewohnheiten der Tugend, der ciceronianischen virtus, sind wichtiger als der ursprüngliche Akt der Ver362 So Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 315. Vgl.: „We cannot be ignorant of the spirit of atheistical fanaticism that is inspired by a multitude of writings dispersed with incredible assiduity and expense, and by sermons delivered in all the streets and places of public resort in Paris. [ . . . ] The spirit of proselytism attends this spirit of fanaticism.“ (Burke, Works, ibid., II, S. 424). 363 Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 381. 364 Der Annual Review sollte eine Verbindung von ,Magazines‘ mit den ,Reviews‘ sein, und kann wohl getrost als der erste Readers ,Digest‘ bezeichnet werden; gut verdaulich sollte die Kost sein, weil folgender Anspruch (in der ersten Nummer bekannt) zu erfüllen war: „to steal some moments from the round of dissipation and pleasure“, „relieve the minds of men of business“ usw. Die intellektuell ,anstrengenden‘ Teile sollten durchsetzt werden mit „matters of lighter nature, but pleasing even by their levity, by their variety, and their aptitude to enter into common conversation.“ (Lock, Frederick: Edmund Burke (1998), S. 167 ff.). 365 Titel (,Journalist and Jackal‘, 1758 – 1765) des 6. Kapitel der überaus informativen Biographie Edmund Burkes. (Lock, ibid.). 366 Ohne jedoch, und das gehört formell und inhaltlich zu seiner Theorie, ein kohärentes und systematisches Werk zur politischen Philosophie geschrieben zu haben. 367 „The will of the many, and their interest, must very often differ; and great will be the difference when they make an evil choice.“ (Burke, Works, ibid., II, S. 325). 368 Burke, Works, ibid., II, S. 291.

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tragsschliessung: „Nur Verjährung, unterschieden vom ursprünglichen Akt, kann eine gegebene Gesellschafts- und Sozialordnung heiligen“369. Der „alte Brauch ist [ . . . ] die grosse Stütze aller Regierungen in der Welt,“370, nicht jedoch die Bewusstwerdung der vertraglichen Abtretung individueller Selbstbehauptungsrechte. Damit geht eine Rückkehr zum Aristotelismus, gar eine Rückkehr zum Thomismus371 einher. „The ultimate ground of morality, for Burke, was God’s will. The laws of God and the natural moral laws were synonymous. [ . . . ] The second fundamental question for Burke’s moral philosophy is how we distinguish evil from good. According to Burke, there are two principal means: natural feeling and reason. [ . . . ] This is Burke’s solution to this difficult problem. God made man imperfect. For that reason, we should not be greatly ashamed of our weaknesses. [ . . . ] This tolerance of moral weakness has important political implications. Men who hate vice too much, says Burke, love men too little. In the womb of moral puritanism lies the seed of political authoritarianism. [ . . . ] Paradoxically, extreme virtue turns into extreme vice.“372

Aufgrund des Streits zwischen ,Spekulation‘ und Praxis intervenierte Burke auch in seinem politischen Aktionen für die Praxis und gegen die ,Spekulation‘; so griff er gegen die französische Revolution und für die amerikanischen Kolonien ein. „In beiden Fällen ging Burke genau in der gleichen Weise vor: er bezweifelte weniger die Rechte als die Weisheit, diese Rechte auszuüben. In beiden Fällen versuchte er, gegenüber der legalistischen Einstellung die eigentlich politische wiederherzustellen.“373 Dabei ist ihm seine Verantwortungsethik zur Gesinnungsethik geronnen. Sitte und Gesittung haben einen hohen, Geschichte insgesamt jedoch, Burke zufolge, einen nur begrenzten Wert. Aus der Geschichte könne zwar „viel politische Weisheit gelernt werden“, aber nur „als Gewohnheit, nicht als Vorschrift.“374 Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 312. „In the mean time, neither party felt any inconvenience from this double legislature, to which they had been formed by imperceptible habits, and old custom, the great support of all the governments in the world.“ (Burke, Works, ibid., II, S. 33). 371 Die göttliche Harmonie des Universums strahlt aus in die menschlichen Bereiche der Gefühls- und Geisteswelt. Physikalische Attraktion und Repulsion funktionieren nach Regeln der Selbstrücknahme und der Eigenkritik, parallel, äquivok und reziprok gedacht zur Welt der Moral. Der Mensch kommt zu seiner Erfüllung, in dem das in ihm liegende Soziale zur Entfaltung kommt: durch Gesellschafts- und Staatsgründung wird das gemeinsame Gute erstrebt und evolutionär verteidigt; der Staatsverband sollte ideellerweise eine Einheit bilden. 372 Freeman, Michael: Edmund Burke and the critique of political radicalism (1980), S. 38 ff. 373 Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 323. So vor allem auch in den Reden „On American Taxation“ (1774), „On Moving His Resolutions for Conciliation with the Colonies“ (1775) und „A Letter to the Sheriffs of Bristol, on the Affairs of America“ (1777). 374 „Not that I derogate from the use of history. It is a great improver of the understanding, by showing both men and affairs in a great variety of views. From this source much political wisdom may be learned; that is, may be learned as habit, not as precept.“ (Burke, Works, ibid., III, S. 456). 369 370

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Das Problem der Übertragung theoretischer gesellschaftlicher Begründungen und Grundlagen stellt sich für einen Politiker natürlich nicht abstrakt, sondern konkret. In der Fortführung und Weiterentwicklung der Lockeschen Positionen sind die gesellschaftlichen Prozesse zu komplex, als dass noch Restbestände des ursprünglichen Naturrechts ausgemacht werden könnten und vor allem politisch fruchtbar gemacht werden sollten. Da „die Aufgaben der Gesellschaft von der grösstmöglichen Verwickeltheit sind“, können „die Urrechte der Menschen“ nicht „in der Einfachheit ihrer ursprünglichen Richtung fortdauern“, „und in dem gleichen Masse, wie [diese Rechte] metaphysisch wahr sind, sind sie sittlich und politisch falsch.“375 Die Spekulierer und Theoretiker könnten keine echten politischen Ratschläge erteilen: „Spekulierer müssen neutral sein. Ein Minister kann das nicht.“376 Politische Theorie verletzt bereits in sich das Moment der Öffentlichkeit, insbesondere der politischen Öffentlichkeit, der öffentlichen Meinung und zwar ganz unabhängig von der Öffentlichkeit der veröffentlichten politischen Theorie. „Die Spekulation, die wesentlich ,privater Natur‘ ist, befasst sich mit der Wahrheit ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung. Aber ,nationale Massnahmen‘ oder ,politische Probleme betreffen nicht in erster Linie Wahrheit oder Unwahrheit. Sie beziehen sich auf Gut und Böse‘.“377 Noch schärfer zieht Burke die Grenze: „Während die Theorie den Irrtum, das Vorurteil oder den Aberglauben ablehnt, sucht der Staatsmann diese nutzbringend anzuwenden.“378 Und: „Die legitimsten theoretischen Probleme werden in der politischen Arena zu ,ärgerlichen Fragen‘ und rufen ,Streitsucht‘ und ,Fanatismus‘ hervor.“379 Der kardinale Unterschied zwischen Theorie und Praxis führt dazu, dass auf der Seite der Praxis ein Denken entsteht, das weitgehend unbeschadet theoretischer Vorgaben zu existieren weiss. „Der Praxis mangelt es an der Freiheit der Theorie auch deswegen, weil sie nicht warten kann. [ . . . ] Praktisches Denken ist Denken im Hinblick auf einen Termin.“380 Leo Strauss kommt zu dem Schluss, dass „Burkes Bemerkungen über das Problem von Theorie und Praxis der wichtigste Teil sei375 „These metaphysic rights entering into common life, like rays of light which pierce into a dense medium, are by the laws of nature refracted from their straight line. Indeed, in the gross and complicated mass of human passions and concerns the primitive rights of men undergo such a variety of refractions and reflections that it becomes absurd to talk of them as if they continued in the simplicity of their original direction. The nature of man is intricate; the objects of society are of the greatest possible complexity; and, therefore, no simple disposition or direction of power can be suitable either to man’s nature or to the quality of his affairs. [ . . . ] The pretended rights of these theorists are all extremes; and in proportion as they are metaphysically true, they are morally and politically false.“ (Burke, Works, ibid., II, S. 334 f.). 376 „Speculators ought to be neutral. A minister cannot be so.“ (Burke, Works, ibid., III, S. 380). 377 Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 323. 378 Strauss, ibid., S. 324. 379 Strauss, ibid. 380 Strauss, ibid., S. 322.

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nes Werkes [sind]. Er sprach darüber ausdrücklicher und machtvoller, als es insbesondere Aristoteles getan hatte, weil er mit einer neuen und überaus mächtigen Form des ,Spekulatismus‘ zu kämpfen hatte.“381 Es sind allerdings bedeutsame Unterschiede zwischen den klassischen Konzeptionen und den Konzepten Burkes zu konstatieren: „Zumindest muss soviel gesagt werden, dass Burkes Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis von der aristotelischen völlig verschieden ist, weil sie sich nicht auf die klare Überzeugung von der elementaren Überlegenheit der Theorie oder des theoretischen Lebens stützt“382, ausserdem sein Naturrecht vertragstheoretischer Natur und somit nicht klassisch ist. Es liegt auf der Hand, dass die ,spekulationsfreie‘ Praxis betriebsblind gegen Transzendenz ist, wenn Transzendenz nötig wird. Burke feiert die britische Verfassung, so wie Cicero in der 1820 entdeckten De republica die römische feiert, mit dem bedeutsamen Unterschied, dass Cicero eine Instanz ausserhalb der ,besten‘ Verfassung, wie den sagenhaften Staatsgründer Spartas, Lykurg, noch kennt, Burke dagegen die aus reiner ererbten Praxis bestehende britische Verfassung rühmt. Burkes strikte Trennung von Theorie (dem Unveränderlichen) und Praxis (dem zu Verändernden) ist gerade keine Rückkehr zur Klassik, sondern unverblümte Säkularisierung. Man will gar nicht mehr wissen, wie Theorie und Praxis interagiert: und so steht man mit Unverständnis vor den Einbrüchen der Theorie in die Praxis, genau wie man das Handeln Gottes, des angeblich Nichtexistenten, nur noch als aus dem off kommend, erkennen kann. Man mag dem gläubigen Burke, der über die Spannungen von Theorie und Praxis räsonnierte, hier Unrecht tun und seine Verdienste als grosser Konservativer schmälern, aber die politischen Massnahmen gegen die französische Revolution sind mindestens genauso theorielastig und voraussetzungsvoll, wie diese selbst. Was droht, ist hier geschehen: die Entkoppelung der politischen Praxis von einer Einhegung, trotz aller rhetorischen Anrufungen Gottes oder der Einbindung organischer Vorstellungen383. Es hilft ja nichts, den Politiker als „philosopher in action“384 zu definieren, der die Grenze staatlicher Eingriffe und Einflussnahme mitbestimmen helfe und sich dazu göttlich-naturrechtlicher Kategorien bedienen muss, die aber wiederum dem Verdikt der Theorielastigkeit ausgeliefert sind. Denn es sind die Hoffnungen auf Politiker von Burke selber desavouiert worden, indem er ihre unheilige Allianz in der französischen Revolution mit den Philosophen brandmarkte. Strauss, ibid., S. 316. Strauss, ibid., S. 325. 383 Im Impeachment-Verfahren gegen den Generalgouverneur Bengalis, Warren Hastings (1772 – 1785), zeigte sich allerdings, wie ,modern‘ Burke im Grunde dachte, als er dessen Ansicht für gefährlich hielt, dass die westlichen Kategorien und Standards bezüglich Herrschaft und Legalität nicht auf den Osten übertragen werden könnten. Burke dagegen sah das Naturrecht, dem alle Menschen unterstanden, als massgebend an, Naturrecht offenbar als gegen die Konventionen des indischen Subkontinents gerichtet verstanden. 384 Burke, Reflections on the Revolution in France, S. 374. 381 382

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„In the Revolution of France two sorts of men were principally concerned in giving a character and determination to its pursuits: the philosophers and the politicians. They took different ways, but they met in the same end. The philosophers had one predominant object, which they pursued with a fanatical fury, that is, the utter extirpation of religion. [ . . . ] They worked themselves up to a perfect phrensy against religion and all its professors. They tore the reputation of the clergy to pieces by their infuriated declamations and invectives, before they lacerated their bodies by their massacres. This fanatical atheism left out, we omit the principal feature in the French Revolution, and a principal consideration with regard to the effects to be expected from a peace with it. The other sort of men were the politicians. To them, who had little or not at all reflected on the subject, religion was in itself no object of love or hatred. They disbelieved it, and that was all. Neutral with regard to that object, they took the side which in the present state of things might best answer their purposes. They soon found that they could not do without the philosophers; and the philosophers soon made them sensible, that the destruction of religion was to supply them with means of conquest first at home, and then abroad. The philosophers were the active internal agitators, and supplied the spirit and principles: the second gave the practical direction. Sometimes the one predominated in the composition, sometimes the other. The only difference between them was in the necessity of concealing the general design for a time, and in their dealing with foreign nations; the fanatics going straight forward and openly, the politicians by the surer mode of zigzag. In the course of events this, among other causes, produced fierce and bloody contentions between them. But at the bottom they thoroughly agreed in all the objects of ambition and irreligion, and substantially in all the means of promoting these ends. “385

Das ist Politikerschelte, die aus dem Dilemma nicht heraus kann, gleichzeitig Gott und Theoriefeindschaft anzuempfehlen. Freeman bemerkt zu der denkerischen Malaise bei Burke: „This weakness derives from the fact that he wished to provide morality and politics with a religious basis but could not overcome his distaste for the theological theorizing necessary to make this basis rationally intelligible.“386 Die Abwertung der Theorie führt dazu, dass der real existierenden Gesellschaft (anders als in Ciceros De republica) kein Ideal mehr entgegengestellt werden kann, welches die Idealität der römischen Verfassung mit der Möglichkeit eines überzeitlichen Ideals verbindet – weil nur noch Praxis, nur noch Politik, trotz aller Politikerschelte, übrigbleibt. Mit Burke ist die eindimensionale Gesellschaft da, weil jede Referenz auf Theorie überhaupt ausgemerzt ist. Was übrig bleibt: Politik und nur Politik. Politik selbst wird durch diese Politikvorstellung tangiert, weil ihre Abnabelung von der Theorie mit gutem Gewissen erfolgen kann; Politik wird referenzlos, gewollt oder nicht gewollt, und trotz aller Aufhalter, trotz allen guten Willens, trotz auch des guten Willens von Burke: die Schleusentore sind geöffnet. Die auf Burke folgende (historistische) Einhegung der entkoppelten Theorie durch Erfahrung führt in der Konsequenz leider zur Auslieferung der Theorie an Erfahrung und damit bereits hier, einiges vor Hegel, zu einer Auslieferung der Philosophie, 385 386

Burke, Works, V, S. 245 f. Freeman, ibid., S. 38.

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der Theorie, an Geschichte, vor allem, in der Konsequenz, an gemachte statt erlebte Geschichte. Es kommt so weit, dass sich hier der Pragmatismus verschärft. Politisches Handeln erfordere Klarheit und Einfachheit, sagt der Pragmatiker anfangs. Aber politisches Handeln ist immer klar und einfach, ist immer Praxis, ob es nun vom Ethos geleitet ist, von bester Einsicht oder von Rassengesetzen und Reinheitsvorstellungen. Das Elend des Pragmatismus gipfelt in der Betriebsblindheit gegenüber der Dialektik der Aufklärung, weil alle nur noch klar und einfach agieren, am Schluss aber das Resultat weder klar noch einfach ist und ausserhalb der Rezeptionsfähigkeit der klaren und einfachen Agenten liegt. „Burke is here using the concept of ,novelty‘ for conservative purposes: he is saying that a new situation requires new methods to preserve old institutions.“387 Es ist meines Erachtens völlig richtig, Burke zum Ahnherr einer jeden konservativen Revolution zu machen, denn Burke „proposed a general conservative theory of revolution and of political radicalism in order to combat and refute the general ideas he believed the revolutionaries to hold.“388 Ausgerechnet der heimliche Fraktionschef der Whigs, der Agent New Yorks, der „clubbable man“389, der Apologet der Party, ausgerechnet dieser Burke geisselt die französische Revolution, weil in ihr „dieser Geist allgemeiner Parteiung“390 wehe. Es scheint an die Stelle der Parteiung die Partei, die Party, zu rükken; vielleicht verbirgt sich in Burkes Diktum nur eine an antiker Rhetorik geschulte Sentenz391, aber vielleicht will uns Burke auch sagen: wenn alle parteilich organisiert sind, gibt es keine Parteiung mehr. Diese Party, die uns Burke schmackhaft machen will, ist zu seiner Zeit eine Art Clan, eine Klientel- und Klüngelgemeinschaft392 im mafiösen Stil, die sich vielleicht durch ein mittelalterlich-ritterliches Ethos ausgezeichnet hat, – auf dem Hintergrund, dass die beiden grossen Parteien der englischen Revolution, durch den Wegfall der in Ungnade gefallenen Tories, auf die Whigs reduziert und diese wiederum in zahllose Fraktionen, aus denen einzelne Warlords bzw. Partylords, ,opinion leaders‘ herausragten, zersplittert waren. „Der handelnde Mensch ist notwendigerweise und mit Recht in seiner Sache Partei; es ist seine Pflicht, Partei zu nehmen“393: Das ist die Theodizee der Parteiung und zwar theoretisch, die hässliche Theorie der Praxis. Freeman, ibid., S. 31. Freeman, ibid., S. 4. 389 Nach Aussage Samuel Johnsons. Vgl. Kirk, Russell: Edmund Burke. A Genius Reconsidered (1997), S. 23. 390 „In the modern world, before this time, there has been no instance of this spirit of general political faction, separated from religion, pervading several countries, and forming a principle of union between the partisans in each. But the thing is not less in human nature.“ (Burke, Works, ibid., III, S. 351). 391 Dazu instruktiv: Reid, Christopher: Edmund Burke and the Practice of Political Writing (1985). 392 Noch die Bedfords oder die King’s friends waren für Burke ,Party‘. 393 Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 322. 387 388

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II. Steigende Nachfrage nach einer politikfreien Superlehre

In den Thoughts on the Cause of the Present Discontents394 (1770) werden die Grundzüge der Parteienherrschaft und des Parteienparlamentarismus niedergelegt. „Party divisions, whether on the whole operating for good or evil, are things inseparable from free government“395. Dabei sollen die Member of Parliament aber nicht reine Interessenvertreter à la Locke sein, sondern sind eher dem Gemeinwohl verpflichtet, insbesondere dem nationalen Gemeinwohl. Dieses Pamphlet enthält die neue Rechtfertigung der Parteien als einer Körperschaft, die durch das Prinzip Öffentlichkeit verbunden sind und als konstitutioneller Link zwischen König (dem Cause of the Present Discontent) und Parlament fungieren, aber auch grundsätzliche Kritik in der Opposition vorbringen sollen. Politische Parteien würden den Verwaltungsapparat und damit den Staat, das gemeinsame Gut, stärken und einheitlicher gestalten. In der berühmten Rede Bristol 1774 hatte Burke den Bristolanern das Wesen des Parlamentariers dargelegt, des nicht an Weisungen gebundenen Parlamentariers 396: „Parliament is not a Congress of Ambassadors from different and hostile interests, which interests each must maintain, as an Agent and Advocate, against other Agents and Advocates; but Parliament is a deliberative assembly of one Nation with one Interest, that of the whole. You chose a Member indeed; but when you have chosen him, he is not a Member of Bristol, but he is a Member of Parliament“397

Das Mitglied im Parlament soll kein Delegierter sein, sondern ein Repräsentant, dessen Integrität von seinen Wählern zwar im vorhinein beurteilt werden mag, aber im nachhinein, nach der Wahl, nicht mehr beurteilt werden braucht, weil der Mandatsträger zwar auch den lokalen Interessen, aber vielmehr dem Gemeinwohl der gesamten Nation verpflichtet sei und primär sogar seinem eigenen Wissen und Gewissen folge. Die Idee, unterhalb der göttlichen Sphäre des Souveräns eine Parteienschicht zu etablieren, die sich wo immer bekämpfen mag, führt zu einer politi-

394 Die Thoughts geniessen in der Party, wie Theoriefeind Burke an O’Hara am 21. Mai 1770 mitteilt, offensichtlich das Prädikat eines Credo (Lock, Edmund Burke, ibid., S. 274). Zahlreiche Interpretationen sind zu dieser Schrift erschienen, um die wichtigsten zu nennen: Bryant, Donald: Burke’s Present Discontent: The Rhetorical Genesis of a Party Testament (1956), S. 115 – 126; Brewer, John: Party and the Double Cabinet: Two Facts of Burke’s Thoughts (1971), S. 479 – 501; Reid, ibid., S. 186 – 214; Browne, Stephen: Edmund Burke and the Discourse of Virtue (1993), S. 11 – 26. 395 Burke, Writings and Speeches (1981 ff.), II, S. 110. Der Zweck der ,Thoughts‘ bestünde laut Burke, darin, „to form and unite a party upon real and well-founded principles – which would in the end prevail and re’establish order and Government in this country“. (Burke, Correspondence (1958 – 78), II, S. 91 f.). 396 Natürlich nach der Wahl, welche er dank massivem Einsatz der Presse zweitplaziert, aber gewählt, gewonnen hatte. (Lock, Edmund Burke, ibid., S. 375). 397 Lock, ibid., S. 377, zitiert: Burke, Writings and Speeches, III, S. 69. Damit wird die konstitutionelle Frage, ob beim Konflikt Volk – Parlament (wie geschehen bei der Wahl Robert Wilkes, der als Outlaw eigentlich nicht eligibel war und trotzdem vom Volk das Mandat erhielt) die Suprematie beim Volk oder beim Parlament liege, eindeutig zugunsten des Parlaments entschieden.

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schen Wirklichkeit, wie sie noch in Grossbritannien sichtbar ist und Gebilde wie His and Her Majesty loyal opposition begründet. Das allen gemeinsame Band scheint aber das durchaus nationalistisch oder auch imperialistisch verstandene Gemeinwohl zu sein, das Regierungspartei, Oppositionspartei und König eint. Verfassung und Imperium gehen eine unheilige Allianz ein und nicht umsonst hat der Investor der East India Company, Burke, die politische Freiheit des Landes (also die Freiheit der Parteipolitik) mit der altehrwürdigen Monarchie zu verknüpfen gewusst, indem er ,empire‘ und ,constitution‘ als Bindungsgrund angab: „We are members of a free country . . . We are members in an ancient monarchy; and we must preserve religiously the true legal rights of the sovereign, which forms the keystone that binds together the noble and well constructed arch of our empire and our constitution.“398 Der Term ,Party‘ wird von Burke geradezu verräterisch definiert: „a body of men united, for promoting by their joint endeavours the national interest, upon some particular principle in which they are all agree.“399 Übersetzt: der kleinste gemeinsame Nenner der Parteien und ihr grundlegender Zusammenhalt ist der Nationalismus. Hatte Bolingbroke noch 1738 The Idea of a Patriot King geschrieben, in der der ideale Monarch das Land reinigen könne, indem er die Fraktionen beseitige und statt mit Parteien nur noch auf Tugend sich stützend regieren solle, wird nun das Parteiwesen favorisiert, das ganz aus Praxis besteht400. So wie der individuelle Egoismus seit Mandeville und Adam Smith zum wealth of nations führt, nicht zum Ruin, so werden nun die Parteien als Garanten der Eintracht besungen. Die Feier des Prinzips ,Partei‘ ohne Rücksicht darauf, für was die Partei Partei nimmt, führt zur Etablierung aber vor allem zum Weiterbestehen der Partei lange nachdem das erreicht wird, wofür sie angetreten war. Parteien beginnen sich zu enttheoretisieren, damit sie über ihre Ziele erhaben bleiben können. Damit vollzieht sich in der politischen Theorie das, was in der politischen Praxis Usus geworden war und korrespondiert der geistigen Situation der Zeit, in der Theorie der Praxis hinterherzuhinken beginnt. Die neue Gegenwart der Geschichte im 18. Jahrhundert kann durchaus als Umgruppierung derselben Problemlage gelesen werden. „Wir haben schon bemerkt, dass das, was später als Entdeckung der Geschichte erschien, ursprünglich eher eine Wiederherstellung des Unterschieds zwischen Theorie und Praxis war.“401 Strauss zufolge sei Theorie im 17. und 18. Jahrhundert im Dienste der Praxis gestanden, dann durch skeptische Erwägungen abgewertet worden und nur noch zur Burke, Works, ibid., I, S. 447. Burke, Writings and Speeches, ibid., II, S. 317. 400 „,Party‘ has, since Burke’s time, become a neutral word to describe a political association. Before Burke, the common view was that political parties were (at best) necessary evils. Early defences of party are mostly apologetic.“ (Lock, Edmund Burke, ibid., S. 284). Dazu Robbins, Caroline: ,Discordant Parties‘: A Study of the Acceptance of Party by Englishmen (1958), S. 505 – 529. 401 Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 333. 398 399

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Beschau der ,höchsten‘ Form der Praxis (der Gründung der Gesellschaft) zugelassen gewesen, und, immer weiter, nur noch zum Verstehen der Praxis als tauglich erachtet, mit dem Ergebnis, dass Geschichtsphilosophie möglich und triumphierend wurde. „Indem die Praxis zum höchsten Anliegen der Philosophie wurde, hörte sie auf, eigentliche Praxis, d. h. Beschäftigung mit den agenda zu sein.“402 Dass Geschichtsphilosophie maximal zum Begreifen der Realia und der realsten Realia, der Praxis, als tauglich erachtet wurde, mag zwar sein, aber das ist nur die eine Seite der Medaille, nämlich ihre theoretische, vielmehr: es verbirgt sich hier wieder ein Ausstieg aus der Politik, eine Ausserpolitik, nämlich aus der theoriegeführten Politik mit dem gleichzeitigen Einstieg in die Politik und Entfesselung der Politik durch Enttheoretisierung der Praxis. Hatte der weise Machiavelli dem Fürsten noch raten können, mit welchen Schlichen und Ränken er sein Ziel erreicht, wird nun die Politik selbst weise – indem sie sich selbst überlassen wird und dieselbe Interdependenz und Intersubjektivität, die im Prinzip der Öffentlichkeit ausgemacht werden konnte, auch im politischen Bereich zu wesen beginnt. Politik wird alternativlos, je mehr ihre Praxis enttheoretisiert ist. Für die Menschen, die der Politik gegenüberstehen, bedeutet das, dass sie in die Praxis hineingezogen werden und Objekte der politischen Praxis werden und nichts ausserdem, ohne Hoffnung; ohne Hoffnung deshalb, weil Theorie kompromittiert und ihrer Korrektivkraft verlustig gegangen ist. Der Frage ist verschärft nachzugehen: Inwiefern ist Burke, der Profipolitiker, der Vollblutpolitiker, ein Ausserpolitiker? Ich würde sagen: Burke ist ein Ausserpolitiker, insofern es mit Politik unter der Dorflinde nicht mehr geht und er sich der Presse und der Partei bedient, bedienen muss. Wenn das Moment der Überschaubarkeit bestehen bleibt, wenn man noch weiss, womit und mit wem man es zu tun hat, sind Hegungen der Politik noch machbar. Und auch noch am Hof, unter den Grossen des Reiches oder auch noch im Rathaus, unter dem Patriziat der Stadt sind die Geschicke des Landes, der Stadt, durch alle Untiefen steuernd und darüber gemeinsam redend, auf eine ähnliche Weise klar, wie sie unter der Dorflinde gewesen waren. Aber wenn alle mitreden aber eigentlich keiner mitredet (Prinzip der anonymen Öffentlichkeit und der Presse), wenn alle durcheinander schreien (Prinzip Meinungsstreit) und das nicht in der Polis oder im Reich, sondern im anonymen leviathanischen Staat, kann man nicht mehr gemeinsam reden, dann kann man die Dorflinde vergessen. Das ist die Gemeinsamkeit der beiden feindlichen Brüder Rousseau und Burke: beide stehen vor der entwurzelten Dorflinde und fangen an zu denken. Und zu handeln. Und insofern ist der Erzpolitiker Burke einer, der Politik als Politiker in anonyme Instanzen wie Presse und Partei trägt und von dort wieder, politisch potenziert, zurückerhält. Burke ist eben nicht nur der Parlamentarier, der die Parties legitimiert und die Dorflinde im Sitzungssaal neu anpflanzen will, sondern vor allem der politische Theoretiker, der gegen Theorie wettert, publizistisch wettert, und Politik und Theoriefeindschaft nicht im Parlament, 402

Strauss, ibid.

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sondern hauptsächlich mit Hilfe der Presse macht. Der nicht an Weisungen und seinen Wahlkreis gebundene Parlamentarier kann die Linde seines Dorfes getrost vergessen, weil er sofort, als Member of Parliament, im nationalen Kontext, also im nationalen Pressekontext eingebunden ist. Lokale Politik ist im Moment der Wahl wie weggeblasen, und es beginnt für den gewählten Politiker die Stunde Null, die Stunde der nationalen Politik, des Schwimmens im publizistischen Karpfenteich, der freien Bewegungskämpfe, des Operierens in der politischen Theorielosigkeit und es verschwimmen dem Politiker, je theorieloser, je politischer er ist, die Grenzen, was politisch, was ausserpolitisch ist. Man hat versucht, das ist die Tendenz von Locke bis Burke, Politik zu befrieden, indem man ihre Friedlosigkeit zuliess, indem man Meinungsstreit, Interessenstreit und Parteienstreit versuchte zu hegen, allerdings in einem Medium, das wie die Virgilsche Fama403, seine Flügel erhebt und bald auf den ganzen Erdball ausspreizt. Burke verbindet die Parteienapotheose, wie sie Locke vorbereitet, mit einem rousseauistischem Zwang zur Öffentlichkeit, so dass die Fama der Parteien „durch Beweglichkeit stark“, „sich Kräfte im Gehen“ erwirbt, bald zum „Scheusal“ wird.

5. Die Geschichte des 18. Jahrhunderts: Meinungsstreit und Staat und Öffentlichkeit und Parteiungen – der Nationalismus Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem so viel und zu viel passiert, so zu viel, wie dies seit nunmehr knapp 300 Jahren der Fall ist. Ich nenne das Akzele403 Es ist kein Zufall, dass die Schrecken der Fama von einem Zeitgenossen der durchpolitisierten Gesellschaft, die sich nach dem Bürgerkrieg wieder depolitisieren muss, besungen wird: In der Übersetzung von Götte: „Allsogleich geht Fama durch Libyens mächtige Städte. / Fama, ein Übel, geschwinder im Lauf als irgendein andres, / ist durch Beweglichkeit stark, erwirbt sich Kräfte im Gehen, / klein zunächst aus Furcht, dann wächst sie schnell in die Lüfte, / schreitet am Boden einher und birgt ihr Haupt in den Wolken. / Mutter Erde, so heisst es, gebar aus Groll gegen die Götter / jene zuletzt für Enkeladus noch und Koeus als Schwester, / schnell zu Fuss mit hurtigen Flügeln, ist sie ein Scheusal, / greulich und gross; so viele Federn ihr wachsen am Leibe, / so viele wachsame Augen sind drunter – Wunder zu sagen – , / Zungen und tönende Münder so viel und lauschende Ohren. / Nachts fliegt sie, mitten von Himmel und Erde, durchs Dunkel / schwirrend, schliesst niemals zu süssem Schlummer die Augen. / Tagsüber sitzt sie als Wächterin hoch auf dem Dache des Bürgers oder auf stolzem Palast und schreckt die mächtigen Städte, / ganz so auf Trug und Verkehrtheit erpicht, wie Botin der Wahrheit. / Sie schwoll nun mit Gerücht und Gerede im Ohre der Völker, / kündete froh, was geschah, und erfand, was nimmer geschehen.“ (Vergilius, Aeneis, IV., 173 – 190). Diese Fama scheint jedoch noch im Gegensatz zur res publica, zur öffentlichen und gemeinsamen Sache, zum Staat, zu stehen. Das kann man für die Situation der Moderne nicht unbedingt mehr sagen. Heute ist die Fama ein Instrument der Aufklärung geworden, ohne dass ihre Hässlichkeit weniger geworden wäre.

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ration der Geschichte. Die Unübersichtlichkeit der Ereignisse, das Stolpern von einem ,Geschichtszeichen‘ zum nächsten verdankt sich wohl der Entfesselung nicht so sehr der Produktivkräfte, als vielmehr der anonymen Interdependenzen – was in stetiger Reihenfolge das Denken eines Hegels, der Soziologie und der Systemtheorie Luhmanns ermöglicht hat. Die grossen Stränge der Entwicklung wurden, wie versprochen, hier nachgezeichnet und es wurde unterschieden zwischen einer Genese des Meinungsstreits, der Genese der Öffentlichkeit, der Genese der Parteiungen und der Genese des Staatsverband. In der Geschichte der res gestae modernae sind aber immer mehr Interdependenzen auszumachen, so dass sie schliesslich ein systemisches Ganzes bilden, sich eine Grenze verfestigen kann. Die Menschen beginnen in einer Welt zu leben, in der – dank anschwellender Information – die christliche Geschichte durch die Ereignisgeschichten ersetzt wird und ergo, um eine bekannte Theorie einmal umzukehren, um 1750 aus der Geschichte die Geschichten werden – mit dem bekannten philosophischen Kompensationswunsch, aus diesen Geschichten wieder eine einzige einheitliche Geschichte zu machen. Dabei ist das Datum 1750 nur eingeworfen, weil darauf die bekannte Theorie ,abhebt’. In unserer Herleitung wird dagegen die Sattelzeit durch Bayle / Leibniz, Hobbes, Rousseau, Locke, Defoe umspielt, durchaus mit einem Schwerpunkt nicht um 1750, sondern um 1700, und videtur: die Reaktion durch die Geschichtstheologie404 steht der Aktion der Journaille nach. Der grösste Umbruch in jenen Tagen geschieht nicht durch Diskussionen in der Gelehrtenrepublik, sondern durch die Genese von Öffentlichkeit (vorbereitet natürlich durch Diskussionen der Gelehrtenrepublik), Öffentlichkeit verstanden als Moloch der Entfesselung anonymer Interdependenzen und Intersubjektivitäten, auf die reagiert werden muss. An dieser Stelle verdichtet sich der ursprünglich versprochene Befund der Definition von Politik – hier werden die Interdependenzen der vorher auseinandergerissenen Komponenten, systematisch und historisch, wieder zusammengesetzt. Vorausgegangen ist diesem siècle de la lumière ein wahres Schreckensjahrhundert, in der die ,hoffnungsvollen Toren‘ von Renaissance und Reformation ihre Dialektik der Aufklärung erleben durften. 30jähriger Krieg, Bartholomäusnacht und englische Revolution sind Produkte der konfessionellen Spaltung und das Ende des reformatorischen Traums, gleichzeitig Urkatastrophenerfahrung405 der kommenden Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Christopher Hill fasst die Entwicklung Englands im ,Century of Revolution‘ so zusammen: „Shakespeare had thought of the universe and of society in terms of degree, hierarchy; by 1714 both society and the universe seemed to consist of competing atoms.“406 Einer dieser competing atoms ist uns bereits begegnet und mischt um 1700 kräftig in diesem Universum mit.

404 Hierzu die bald publik werdende Habilitation von Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Genese der Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. 405 Vielleicht nur der Erfahrung des ersten Weltkriegs vergleichbar. 406 Hill, Christopher, The Century of Revolution (1603 – 1714). (1963), S. 4.

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Der umtriebige Autor des Robinson Crusoe, der eine vergnügliche ,politikfreie Idylle‘ (s. o.) konstruiert, scheint so gar nichts mit dem Autor zahlloser politischer und religiöser Pamphlete gemein zu haben.407 Dieser Defoe, der eine Zeitschrift herausgab, eine Zeitschrift, die zunächst wöchentlich, alsbald dreimal wöchentlich erschien und schon den Charakter einer Zeitung haben sollte408; dieser Defoe, der die tagespolitischen Ereignisse kommentiert, kann doch nicht der Kreator des Freitags sein. Und doch. Doch ist es nicht falsch, Daniel Defoe als einen der ersten Journalisten zu bezeichnen und die Frage stellt sich, was Robinson mit dem London Defoes zu tun hat, ob Robinson Crusoe etwa nur das Alterswerk eines müde gewordenen sechzigjährigen Journalisten sein kann? Weit gefehlt; George Macauley Trevelyan sagt es deutlich: „Even his novels, such as Robinson Crusoe and Moll Flanders are imaginary ,reports’ of daily life, whether on a desert island or in a thieves’ den.“409. Es beginnt sich abzuzeichnen, dass Reporter anfangen zu existieren und die Praxis der Theorie überlegen wird, schon allein weil die Ereignisse sich überstürzen und das Tempo der alltäglichen Praxis nicht mehr von der Theorie bewältigt werden kann. Bestenfalls, aber das gelingt nur noch Einzelnen, kann die Theorie die Praxis eben noch erreichen, dann ist die Zeit begriffen, der Denker ist auf der Höhe und kann seine Zeit in Gedanken fassen. Aber der Theoretiker hechelt prinzipiell, das ist die Einsicht Hegels, immer hinterher. Erst in der Dämmerung beginnt die Eule der Minerva ihren Flug, will sagen, erst wenn eine Entwicklung, das heisst ein Set an Praxis, vorbei ist, unwiderruflich vorbei, erst dann kann sie begriffen werden. Sinnigerweise hat dies Hegel erst dann begriffen, als diese Entwicklung vorüber war, sprich, als er begriff, dass er bestenfalls die Praxis noch einholen könne – der Theoretiker kommt in die Situation des Achill, der die Schildkröte nie erreichen kann, weil mit jedem Stück Theorie die Praxis mindestens ein Millimeter weit vorangeschritten ist. Theorie wird nicht mehr vom Sehen hergeleitet, von der ,view‘, sondern vom Gesehen-Haben, von der Review. Alles andere ist ,Spekulation‘. Nicht zufällig nennt Defoe seine Zeitung Review und wenn Burke sein Magazin Annual Review betitelt, mag das in bewusster oder unbewusster Filiation stehen. „Untersucht man nun die Londoner Zeitungen und Zeitschriften der Jahre 1700 bis 1730, so kommt man zu dem Ergebnis, dass Defoe mit seiner Review einen besonderen Platz einnimmt.“410 Ab 1695 kommt es zu einer Lockerung der Zensur, die zur ersten Blütezeit der englischen Zeitungen führt. Zwar waren im Gefolge der englischen Revolution die Veröffentlichungen stark angestiegen, doch war der Charakter derselben fast immer demagogischer (und laientheologischer) Natur und 407 Ähnlichkeiten zur Publizistik Defoes würde, worauf Sommer hinweist, eine Beschäftigung mit Jonathan Swift, dem ersten Pamphleteer der Tories, ergeben, welches leider hier ausgespart bleiben muss. 408 Degering, Klaus: Defoes Gesellschaftskonzeption (1977), S. 46 ff. 409 Tevelyan, George Macaulay: England Under Queen Anne (1948), S. 308 f., zitiert nach Degering, Defoes Gesellschaftskonzeption, ibid., S. 43. 410 Degering, ibid., S. 46.

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gehört eher in die Geschichte von Reformation und Genese des Buchdrucks. Der kardinale Unterschied zwischen Buchdruck und Presseöffentlichkeit besteht gerade in der Verfügbarmachung von Tagesereignissen und deren Kommentar; die Entfesselung von Interdependenz und Intersubjektivität gelingt dadurch, dass den Lesern keine Atempause mehr gegönnt wird, sondern Jetztzeit in das Herkunftsverständnis eindringt. Wie Lucian Hölscher zeigt, muss man hinsichtlich des Wandels im 18. Jahrhundert darauf hinweisen, dass zwischen dem ,Öffentlichsein‘ und der ,Öffentlichkeit‘ begrifflich zu unterscheiden ist: „öffentlich spielte sich das soziale Leben bis in die frühe Neuzeit in vielerlei Hinsicht und, wie die deutsche Romantik wohl mit Recht betonte, sogar in grösserem Masse ab als im 19. und 20. Jahrhundert; Öffentlichkeit als soziales Ordnungsprinzip wurde dagegen erst zur Zeit der Aufklärung entdeckt“411, und auch der Wortgebrauch des Mittelalters und der frühen Neuzeit keinen Begriff für die Öffentlichkeit fand, sondern sich adverbialer Umschreibungen bedienen musste. „Der erste Beleg des Wortes [Öffentlichkeit, M.S.] findet sich in der Schrift Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz des Wiener Kameralwissenschaftlers Joseph von Sonnenfels aus dem Jahre 1765. Die Formulierung lässt sogar denkbar erscheinen, dass Sonnenfels das Wort selbst zum ersten Mal gebildet hat. ,Öffentlichkeit nannte er diejenige Qualität allgemein zugänglicher Kommunikationsmittel, die, wenn es keine Zensur gäbe, zur ,Verbreitung irriger, ärgerlicher und gefährlicher Meinungen‘ führen könnte. Die Zensur, definiert er, ,erstreckt sich daher nicht nur auf Bücher, sondern auch auf Schauspiele, Lehrsätze, Zeitungen, alle öffentlichen an das Volk gerichteten Reden, Bilder und Kupferstiche, und was sonst immer eine Art Öffentlichkeit, wenn man so sagen darf, an sicht hat.‘ “412

Die lexikalische Registrierung sagt natürlich noch nichts über die Konjunktur des Begriffs aus, die erst nach 1813 einsetze. Dennoch gibt es zu denken, dass der Begriff ein Sammelsurium überschatten muss, der einem Moloch gleicht und hinreichend unbestimmt und anonym bleibt. Dass sich hierfür die Polizey zu interessieren beginnt und diese die anonyme Öffentlichkeit als erste registriert, gibt ebenso zu denken. Dies scheint mir ein ganz neuer Typus von Öffentlichkeit zu sein, der nur noch wenig gemein hat mit einem Typus von Öffentlichkeit, der sich vom Publikum herleitet, Publikum verstanden als ein Typ Öffentlichkeit, für den die öffentlich Seienden sich erst qualifizieren mussten und noch weniger gemein mit dem ursprünglichen antiken und mittelalterlichen Typ Öffentlichkeit, dem vom Volk, vom anwesenden, umstehenden Volk, siehe oben, sich ableitenden Publiken. Eine Begriffsgeschichte, wie sie Hölscher unternimmt, klebt notwendig an den Textstellen, so dass sie das Durchhalten der lateinischen und vor allem der römisch-rechtlichen Tradition des publicus und vor allem der res publica413, die Hölscher, Lucian: Öffentlichkeit und Geheimnis (1979), S. 11. Hölscher, ibid., S. 119, zitiert Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz (1765), S. 82. 413 Die Bedeutung des publicus, als aus pubes, der Mannbarkeit, ableitbar und die der res publica, sind bereits altrömischen Ursprungs und nehmen bereits dort verschiedene Bedeu411 412

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Parallelverwendung von publicus und öffentlich414 und allerlei griechische, lateinische und deutsche Etymologie untersuchen muss. Dennoch ist es bezeichnend, dass etwa die frühneuzeitliche Übersetzung von Bodins De la Republique (1576) in der deutschen Übersetzung, 2. Auflage von 1611 noch lautet Von gemeinem Regiment der Welt. Ein Politische, gründtliche und rechte Unterweisung415, dass also das Gemeine als unspezifisch nichtausschliessender Begriff immer noch die Filiation des Öffentlichseins, auch das des Volkes und des realen Marktes, des Marktplatzes mitschwingen lässt. Dies führt eine Tradition des Mittelalters weiter, in der das germanische Rechtsleben im lateinisch juristischen Corpus ausgedrückt war. „Die politisch-soziale Unbestimmtheit römischrechtlicher Termini im Mittelalter verbietet es, für sie [die Begriffe ius publicum und ius privatum, M.S.] allgemeine Bedeutungen festzulegen.“416 Die Rechtskraft und -gültigkeit war in vielen Fällen tungen zusammen: „Res publica hiess 1. der ,öffentliche Besitz‘, 2. im Plural ,die öffentlichen, staatlichen Angelegenheiten‘ und im Singular die Summe oder der Inbegriff dieser Angelegenheiten, 3. ,der öffentliche Zustand‘ des Staates und im Plural ,die öffentlichen Verhältnisse‘, und 4. ,das öffentliche Interesse‘“ (Hölscher, ibid., S. 42). Das Bedeutungsgefüge der Res publica ändert sich auch in der frühen Neuzeit nicht; etwa wenn Alciatus, De verborum significatione (1572) schreibt: „Publicae res heissen eigentlich die Dinge, die dem populus Romanus gehören. Aber auch, was in anderen Staaten der öffentlichen Nutzung dient, wird so genannt. Im weitesten Sinne werden aber auch Dinge so bezeichnet, wenn sie nicht im öffentlichen Gebrauch stehen . . .“, (Hölscher, ibid., S. 50) und bei Althusius, Dicaeologiae (1617): „Publicae res sunt, quarum usus, vel proprietas communis est civibus ejusdem Reipublicae seu quarum dominium est populi Romani . . . et per consequentiam civium Romanorum . . . Publica autem res deicitur: primo, cujus usus singulis privatis civibus, separatim conceditur . . . Secundo, publica dicitur, cujus usus et proprietas, non singulis privatis, separatim, sed toti corpori communis est . . . Tertio, quae per consequentiam, non principaliter populi utilitati inservit . . . Quarto, quae ad utilitatem et causam totius populi pertinet, et per consequentiam ad singulorum utitlitatem redundat.“ (Hölscher, ibid., S. 51) Die Bedeutung der res publica wandert dann in den der Republik ein und meint dann in der Zeit des Absolutismus den Souverän, der die Sache aller verwaltet und in Personalunion ist; daneben hält sich aber etwa die Bedeutung von engl. public im herkömmlichen römischen Sinne und kann daher, schon wegen der Fülle der ursprünglichen lateinischen Bedeutungen, kein Indiz geben für einen ,Strukturwandel‘ der Öffentlichkeit. Statt dessen ergeben sich in der juristischen Literatur interessante Modifikationen, insbesondere wenn das ius publicum zu einem eigenständigen Recht wird, das nicht mehr nur die naturrechtliche res publica zu beleuchten hat, sondern auf der Ebene der modernen Öffentlichkeit angesiedelt ist, programmatisch Kant, Metaphysik der Sitten, § 43, A161 / B191: „Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, ist das öffentliche Recht.“ , Kant, Werke 7, S. 429. 414 Doppeldeutigkeit von publicus und öffentlich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, vgl. Hölscher, ibid., S. 84. 415 Hölscher, ibid., S. 55; S. 58. 416 Hölscher, ibid., S. 48. Das hindert jedoch nicht, dass die Trennung von öffentlich und privat schon früh eine politische Wirkung intendiert: „Die zunächst rein rechtssystematische Unterscheidung [von publicus und privatus, M.S.] wirkte sich jedoch auch sozial und politisch aus, indem sie die ständische Ordnung durchschnitt und sie letztlich aufzuheben begann. Im 17. Jahrhundert wurde diese zwar noch nicht unmittelbar preisgegeben, aber dadurch für die landesherrliche Verwaltung nutzbar gemacht, dass man die Stände teils unter den Landesherren mediatisierte, teils aus Herrschafts- in Berufsstände uminterpretierte.“ (Hölscher,

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an den Vollzug vor aller Augen geknüpft. Im mittelalterlichen Kirchenrecht etwa „bildete die öffentliche Verlobung (sponsalia publica) den Rechtsgrund für eine gültige Ehe (nuptiae publicae). [ . . . ] Nach katholischem Kirchenrecht erfolgte die öffentliche Verlobung in der Kirche in conspectu omnium (im Spätmittelalter noch häufig vor der Kirchentür)“417. Gegen die germanisch-römische Mixtur eines gemeinen Publicus richtet sich der von Hölscher systematisch richtig aufgezeigte Eintritts- und Ausschlusscharakter des Christentums, das, streng genommen, von der Taufe bis zur Respublica christiana, von der Ecclesia bis zur Offenbarung eine exquisite Gesellschaft ist und mit den Herumstehenden eigentlich nichts zu tun hat. Das Pfingstgebot, die frohe Botschaft zu künden und die öffentlich gemeinsame Feier des Abendmahls sind die wichtigsten Adressen an die Umwelt, dass man einer eingeschworenen Gemeinschaft angehöre, so dass es eben kein Wunder ist, dass Luther Predigtamt und Eucharistie in die Helle der Welt rücken möchte, „sol daher leuchten wie die sonne, nicht im tunckeln schleichen und meuchling, wie man der blinden küe spielet, sondern frey am tage handlen, und jm wol lassen unter die augen sehen, das beide prediger und zuhorer des gewis seyen, das es recht geleret, und das ampt befolen sey, das sie es kein heel haben durffe.“418 Das sind dann schon die Guten und Gerechten, die, wie die Protestanten in den Niederlanden, vor dem Fenster keine Gardinen haben, weil sie nichts zu verbergen haben. Die Auserwähltheit wurde jedoch im Innern abgehalten und konnte erst ins Freie treten, als dieses politisch wurde und den konfessionellen Krieg entfachte. Die Verwalter und Schirmherren und Oberherren der protestantischen öffentlichen Redlichkeit, der Summepiskopus und Fürst, konnten jedenfalls nun von den Geistlichen verlangen, dass sie das Beichtgeheimnis brächen und die Anschläge und Sünden wider die öffentliche Ordnung, wenn „salus publica bey denen begangenen Criminibus periclitirt“419, anzeigten. In dieser Beziehung ist die bürgerliche Idee des Publikums, für das man sich zu qualifizieren hatte, nur die säkulare Form der reformatorischen Ecclesia-Vorstellung. Diese bürgerliche Idee ist geprägt von eindeutiger Kommunikation, von Sender-Adressaten-Kommunikation, von Autor-Rezipient, von Schauspieler-Zuschauer und hier gibt es immer so etwas wie eine Gemeinde und immer eine Interaktion. Die Vorstellung einer literarischen Öffentlichkeit, als einer Öffentlichkeit des mehr oder minder gelehrten oder zu belehrenden Publikums bestimmt dabei bis heute die Sicht auf die Genese der ausschliesslich bürgerlich verstandenen Öffentlichkeit, die sich im 18. Jahrhundert gebildet habe.420 ibid., S. 70) Die wesentlich auf sichtbare Repräsentation basierende Ständegesellschaft wird durch den Primat des Privaten herabgesenkt zu einer Zunftgesellschaft, in der die Anbindung an Oben verloren geht. 417 Hölscher, ibid., S. 26. 418 Luther, Dr. Martin: Wochenpredigten über Matth. 5 – 7 (1530 – 32), WA 32 (1906), S. 303 f., zitiert nach Hölscher, ibid., S. 31. „Die Predigt solle offentlich ynn den kirchen fur allen volck gehalten werden“, war der Leitspruch der Reformierten, wie es Luther, Deudsche messe und ordnung gottis diensts, WA 19 (1897), S. 74 f., verkündete. 419 Declaration, wie weit ein Prediger schuldig sey, die ihm von Beichtkindern eröffnete delicta zu offenbaren (1685), zitiert nach Hölscher, ibid., S. 25.

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Der Begriff der Öffentlichkeit ist aber meines Erachtens schon ein Indiz dafür, dass die Eindeutigkeit der Interaktion, wie sie im Publikum noch beschrieben werden kann, nun vorbei ist. Die Herrschaft der öffentlichen Meinung wirft den Menschen in ein Vorfindliches, das eben, wie oben gezeigt, nicht mehr dem Individuum die Entscheidung überlässt, in das Publikum einzutreten und bei Bedarf auch wieder wegzugehen. Eine Begriffsgeschichte dessen, was da als anonymer Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert an die Macht kommt, müsste auch die im Umfeld des Leidens unter Öffentlichkeit angesiedelten Begriffe wie Fama421, Diffamierung, Infamie, Gerede, Ruf, Verruf, Rufmord, Gerücht, Nachrede, Spott, Tadel, Gehässigkeit, Hörensagen, Neugier, Misstrauen, Mode, oder andere Begriffe der Freude an Öffentlichkeit wie Fama422, Nachrichten, Zeitung, Ruhm, Anerkennung, Ansehen, Prestige, Renommée, Reputation, usw. untersuchen, soziologiesemantisch untersuchen. Die Klagen über die neue Öffentlichkeit muss auch an entlegenen Orten gesucht werden, etwa dort, wo man im 18. Jahrhundert anonyme Mächte auszumachen bestrebt ist, etwa bei den Logen423 oder den Jesuiten. Um dies weiter zu treiben, könnte man versucht sein, sogar den Begriff der Aufklärung, wenn er denn hauptsächlich Beseitigung von Anonymität und Obskuranz meint, als eine Folge des Leidens an beginnender Anonymität zu lesen, als Sehnsucht nach Helle dort, wo man nicht hinleuchten kann. Dann würde der

420 Analog zu der These Habermas, die im Strukturwandel der Öffentlichkeit verhandelt wird. Hölscher stellt ebenso den Wandel von der mittelalterlichen Öffentlichkeit zur literarischen, bürgerlichen, dar, wie dies auch andere, moderne Autoren, wie Hohendahl, Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs, S. 7 und die darin versammelten Autoren, immer noch tun. Durch die Übersetzung des Habermas-Buches von 1989 (Habermas, Jürgen: The Structural Transformation of the Public Sphere) – Öffentlichkeit wird als ,public sphere‘ übersetzt – kann der Bibliographie zum Begriff der Öffentlichkeit, S. 124 ff., entnommen werden, dass mittlerweile auch die englischen Erscheinungen dem Beispiel Habermas‘ folgen. Dabei liegt das systematische Problem darin, dass die historischen Texte nach dem Terminus ,öffentlich‘, ,Öffentlichkeit‘ hin befragt werden (wann Lessing zum ersten Mal von öffentlich redet usw.) und logischerweise nur die allen sichtbare Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts, etwa die öffentliche Meinung zum Vorschein kommt. 421 Siehe dazu weiter oben das Zitat der Vergilschen Fama, als Gottheit, aus der Aeneis, IV., 173 – 190, Fussnote 403. Ebenso die klassischen Darstellungen bei Ovid, Metamorphosen, XII, 43 ff. und Valerius Flaccus, Argonautica, 2, 116. Es gibt fast keinen römischen Autor, der sich nicht mit der Fama auseinandergesetzt hat. Und bereits Hesiod rät: „Ganz verschwindet es nie, das Gerede, wenn einmal viele / Leute im Mund es führen, es ist ja selbst eine Gottheit.“ (Hesiod, Erga, 763 f.). 422 Im 18. Jahrhundert müsste man, bezüglich der Sonnenseite der öffentlichen Meinung auch auf David Humes Treatise of Human Nature (1739 / 40) und insbesondere dessen elftes Kapitel Of the Love of Fame (ibid., S. 316 ff.), hinweisen. 423 Koselleck ist zu entnehmen, dass die Zahl der Illuminaten lächerlich gering ist und die Angst vor ihnen im krassen Verhältnis zu ihrer ,Gesamtstärke‘ steht: „Die Gesamtstärke des Ordens [der Illuminaten] zur Zeit seiner größten Ausdehnung über Mittel-, Nord- und Osteuropa in den frühen achtziger Jahren schätzte der Sohn Weishaupts, später bayerischer General, auf 2500 (siehe dazu Roßberg, [F.: Freimaurerei und Politik im Zeitalter der Französischen Revolution, Berlin 1942,] 54 ff.)“. Koselleck, ibid., Anm. 126, S. 194.

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Begriff der Aufklärung gar nicht mit der modernen Öffentlichkeit einhergehen, sondern der Wunsch nach Stillung sein. Mein Begriff der Öffentlichkeit ist gar nicht gebunden an das Vorkommen in der Publizistik des 18. Jahrhunderts. Wann wer das erste Mal von öffentlicher Meinung, öffentlichem Wohl, öffentlicher Sache oder der Öffentlichkeit schreibt, interessiert deswegen nur am Rande, weil es in der Natur der Sache liegt, dass die Anonymität der Öffentlichkeit das Bemerken derselben behindert. Und es darf nicht zu einer blossen Auflistung aller Stellen kommen, in denen von Öffentlichkeit, von öffentlicher Meinung usw. die Rede ist oder das gruppendynamische Phänomen Versammlung an allen Orten bis zu Homer zurückverfolgt wird424, ansonsten der Dreischritt von Öffentlichkeit als Umstehen am Marktplatz zur asynchronen Sender-Empfänger-Interaktion zur unfreiwillig eingemeindenden Anonymität amorpher Massenkommunikation nicht dargestellt werden könnte. Diese Neue Öffentlichkeit ist immer weniger ein soziales Phänomen, als vielmehr ein soziologisches. Der Unterschied von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung ist meines Erachtens eine noch unerledigte Anfrage an die Soziologie, die weiterhin im Umkreis von Tönnies und Noelle-Naumann befangen ist und sich hauptsächlich mit der öffentlichen Meinung, bei Tönnies als Kritik der öffentlichen Meinung, bei Noelle-Naumann als Kritik des Konformitätsdrucks durch die „Schweigespirale“ auseinandersetzt425. Die richtige Richtung hätte Albert Schäffle gewiesen, der bereits 1875 im Bau und Leben des socialen Körpers schreibt: „Wir haben jedoch an dieser Stelle nicht die geistige Wechselwirkung innerhalb geschlossener besonderer Wirkungskreise, sondern nur jene rechtlich formlose Reaktion der Massen oder einzelner Schichten des socialen Körpers, wie sie in der öffentlichen Meinung uns vor Augen tritt, des Näheren zu betrachten. Hierbei können wir allerdings nicht umhin, die Öffentlichkeit überhaupt, auch das Publikum und die ,Organe‘ der Öffentlichkeit und öffentlichen Meinung, hauptsächlich die Tagespresse in Betracht zu ziehen. [ . . . ] Was ist die viel erörterte Öffentlichkeit anders, als die symbolisch durch Wort, Schrift und Druck vermittelte geistige Offenheit socialer Erkenntnisakte, Wert- und Willensbestimmungen für die Masse des Volkes oder wenigstens für die interessierten besonderen Kreise? [ . . . ] Was die öffentliche Meinung, wenn nicht der Ausdruck der Ansichten, Werturteile und Willensneigungen des allgemeinen oder irgend eines speciellen Publikums? [ . . . ] Sie [die Öffentlichkeit, M.S.] ist schon in den Urzuständen der Gesittung vorhanden, aber anfänglich einseitig durch persönliche Symbolik vermittelt.“426 424 etwa bei Noelle-Naumann, Öffentliche Meinung, ibid., passim., die den gesamten abendländischen Textbestand nach so etwas wie öffentlicher Meinung, ohne Entwicklungssprünge aufzuzeigen, durchforsten lässt. 425 Noelle-Naumann, ibid. Der Artikel von Tönnies, Ferdinand: Kritik der Öffentlichen Meinung (1922), ist wiederabgedruckt in: Pöttker, Horst (Hrsg.): Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Klassiker der Sozialwissenschaft über Journalismus und Medien (2001), S. 351 – 412 und auch wenn Tönnies die Funktion der Presse als Herstellung von Öffentlichkeit bestimmt, die auch einmal gegen die öffentliche Meinung gerichtet ist, sind das eher Randbemerkungen, die die Analyse der öffentlichen Meinung nicht bestimmen. 426 Schäffle, Albert: Bau und Leben des socialen Körpers (1875), in: Pöttker (Hrsg.), ibid., S. 116 f. Der lexikalische Gebrauch von Biologismen hat dann allerdings die Wirkung seiner Theorien behindert.

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Natürlich ist für die Genese der anonymen Öffentlichkeit das Lesen wichtig und insofern ist einer der Adressaten der Öffentlichkeit das Lesepublikum; aber es ergibt sich bei der Veröffentlichung ein Surplus an Öffentlichkeit, jenseits aller Lesenden, schon weil die Zeitungen die Runde machten und ins ,Gerede‘ kommen – ganz unabhängig von den Lesenden. Die Presse wurde für die Regierung interessant, weil eben nicht nur die Lesenden erreicht wurden. In der Öffentlichkeit ist das Lesen der Bekanntmachung nur der erste Schritt, aber dann setzt die Fama ein, wie sie Vergil beschreibt und die Habermas nicht kennt. Das Kaffeehaus, das coffee house ist nicht die Öffentlichkeit und auch keine Gegen-Öffentlichkeit gegen die öffentliche staatliche Gewalt, sondern nur ein Ort, an dem sich anonyme Öffentlichkeit austobt – hier können Zeitungen gelesen werden oder über deren Leitartikel diskutiert werden, hier wird die starre Mechanik von Schreiber-Leser von einer Atmosphäre des Lesens-Meinens427 durchbrochen. Die Bewohner des 18. Jahrhunderts mussten wohl glauben, dass die Öffentlichkeit des Kaffeehauses die Öffentlichkeit selber ist – so neu und so spektakulär sind diese neuen Einrichtungen, und ähnliches liesse sich wohl von den „societies, tribes clubs, sects“428 sagen. Daran kranken auch alle Darstellungen des 18. Jahrhunderts, die die halbprivaten, halböffentlichen Versammlungsorte mit der Öffentlichkeit selbst verwechseln und den Quellen auf den Leim gehen. Schon allein mit dem Begriff der öffentlichen Meinung ist die Enge des Kaffeehauses gesprengt und meine Fragestellung interessiert sich prima facie nicht für die Existenz des öffentlichen Raums, sondern welche Prozesse und welche kommunikativen Strukturen sich in ihnen ausbreiten können. Zu einer Wissenssoziologie reichte den Besuchern der Kaffeehäuser im 18. Jahrhundert noch nicht das Verständnis, zu einer Ansicht der Öffentlichkeit ohne Kaffeehausraum noch nicht die Perspektive. Das Erstaunliche an dieser Öffentlichkeit, wie ich sie verstehe, ist, dass sie da ist und herrscht, obwohl die „Masse [ . . . ] nicht nur weitgehend illiterat, sondern auch so pauperisiert [ist], dass sie Literatur gar nicht bezahlen könnten.“429 Gerade umgekehrt. Durch das herrschende Prinzip von Mündlichkeit werden die wenigen schriftlichen Zeugnisse zu Sakralgütern, zum Aufschein von Tafeln. Des weiteren fragt man sich, wer denn der Adressat der Pamphletistik, der Abertausenden an Flugschriften und Sendschreiben, die allein in der englischen Revolution produziert worden sind, gewesen sein soll, wenn der Kommunikationsrahmen an das Lesenkönnen geknüpft war? Die neue, moderne Öffentlichkeit sprengt eben den Rah427 Habermas kann sich nicht vorstellen, dass es so etwas wie Herrschaft der Öffentlichkeit überhaupt gibt: deswegen Herrschaft mit Gänsefüsschen: „Die ,Herrschaft‘ der Öffentlichkeit ist ihrer eigenen Idee zufolge eine Ordnung, in der sich Herrschaft überhaupt auflöst; veritas non auctoritas facit legem.“ (Habermas, ibid., S. 153). Diese Meinung fusst also auf einem traditionellen, vielleicht schmittischen Herrschaftsbegriff, der immer Träger der Herrschaft, einen sichtbaren Repräsentanten, ausmachen wollen muss. Das ist erstaunlich für einen Autor, der mit Soziologie gross geworden ist. 428 Koselleck, ibid., S. 176, Anm. 8 zu Kapitel 2,1. 429 Habermas, ibid., S. 99.

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men des ,Alphabetismus‘ und sprengt überdies den Rahmen der ,Literatur‘430. Und siehe da, wen findet man in diesen Coffee Houses: „Sie [die emigrierten Hugenotten, M.S.] gründeten im Rain-Bow-Coffee-House, einem Freimaurerlokal zu London, eine Informationszentrale, von wo aus sie englischen Geist, englische Philosophie und vor allem die englische Verfassung über den geistigen Umschlagplatz Holland im absolutistischen Europa propagierten. Desmaizeaux, der Biograph Pierre Bayles, Pierre Daudé und Le Clerc, der Freund von Locke, gehörten zu dieser besonders aktiven Gruppe.“431 Die der Pamphletistik entsprungene Presse der englischen Revolution überlebt das nächste Jahrhundert nicht – ein guter Indikator, dass sich hier, in der Öffentlichkeit etwas verändert hat. Nur eben das offizielle Regierungsorgan The London Gazette kann sich bis ins 18. Jahrhundert behaupten. Die Konvulsion an Publikationen der Revolutionsjahre weicht einer Regelmässigkeit an Nachrichten. 1710 muss die wöchentliche Gesamtauflage der erscheinenden Zeitungen dann bereits die 200.000 überschritten haben, wie Defoe schätzt. „Grundsätzlich lassen sich in diesem Zeitraum drei Typen von Blättern unterscheiden: 1. Nichtkommentierte Nachrichtenübermittler, Sensationsdepeschenpostillen; 2. Zeitungsnachrichten garniert mit allgemein orientiertem Leitartikel; 3. Journale, reine Kommentare und / oder Editorials.“432 Die nichtkommentierenden Nachrichtenübermittler sind jedoch keine Depeschenagenturen im heutigen Sinne, sondern durchaus Sensationsblätter. Zu ihnen zählen der Post-Boy, der Post-Man, der Daily Courant, die Daily Post, die London Post, die Flying Post, die English Post und die London Gazette. Hof, Adel, Regierung, Parlament, Londoner Ereignisse und Auslandsnachrichten werden hauptsächlich ihres Unterhaltungswertes nach gruppiert und berichten über Morde, Hinrichtungen, Überfälle, den Handel betreffende Schiffsuntergänge, und so weiter, enthalten sich aber allgemeiner Betrachtungen politischer, ökonomischer oder sozialer Natur. Es muss vermutet werden, dass ihr Quasi-Nachrichtenmonopol dazu führt, eine Vorselektion der Skandalia vorzunehmen, welche qua Theorielosigkeit weit implikationöser ist, als es die mit Kommentaren versehenen selbstre430 Extrapoliert aus den Zahlen der moralischen Wochenschriften muss gesagt werden, dass England und Deutschland im 18. Jahrhundert die führenden Gesellschaften waren und Frankreich bedenklich hinterherhinkte – bis dann die Revolution diese Entwicklung überstürzt nachholt. „So offensichtlich die Revolution in der moralischen und in der geistigen Welt ist – man lebte, wie Condorcet sagte, in einem ,milieu des révolutions des opinions‘ (Œuvr. 5, 13, 1786) – so selbstverständlich werden die Revolutionen überhaupt.“ (Koselleck, ibid., Anm. 97, S. 221) Jedenfalls am Vorabend der Revolution. Es gibt so gesehen im 18. Jahrhundert einen französischen Sonderweg. Nur zögernd, aber exemplarisch stellt sich hier die anonyme Öffentlichkeit ein: „Ökonomisten heissen die Physiokraten, die sich erst bei Quesnay, später bei Mirabeau und Turgot treffen; über ein Jahrzehnt hält ihr Club zusammen. Ihre Lehre verfechten sie in der ,Gazette du commerce‘ und im ,Journal de d’Agriculture, du Commerce et des Finances‘; bis schliesslich mit Turgot und Malesherbes 1774 zwei ihrer bedeutendster Vertreter in die Regierung berufen werden – gleichsam die ersten Exponenten der öffentlichen Meinung.“ (Habermas, ibid., S. 135 f.). 431 Koselleck, ibid., S. 51. 432 Degering, ibid., S. 48.

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flektierenden Editorials gewesen sind. Es werden Londoner und britische Ereignisse gewesen sein, die interessierten und in Wechselwirkung traten zu den nationalen Bedürfnissen des durch die News verstärkten Wirgefühl. Der zweite Typ der Zeitungen bringt dieselben unkommentierten Nachrichten, aber garniert mit Leitartikeln, zu lesen etwa beim Observator (Whig), aber auch beim Rehearsal (Tory). Die Liste lässt sich verlängern: London Mercury, The Weekly Journal or British Gazetteer, The Weekly Journal or Saturday’s Post, Applebee’s Journal, Mist’s Journal, Fog’s Journal, The St. James Journal, The Country Journal or The Craftsman (in der Herausgeber Viscount Bolingbroke zu publizieren beliebte) usw. „Fast alle Gazetten waren nach folgendem Schema aufgebaut: 1. Leitartikel, 2. Auslandsnachrichten, 3. Londoner Nachrichten / Inlands- oder Hofnachrichten, 4. Werbeanzeigen (die übrigens bei keinem der drei Typen fehlten).“ „Religion, Historie, Staatsphilosophie, Moralphilosophie, Politik, Militär und Kulturelles in etwa dieser Reihenfolge“433 scheinen die beliebtesten und häufigsten Themen zu sein, denen sich die Kommentare widmen (nebst den meist gehässigen Tritten gegen die Konkurrenzblätter). In Zeitungen wie der des Review, dem dritten und ganz neuen Typ, dagegen werden tagesaktuelle Nachrichten nur am Rande vermerkt. Hier, beim reinen Kommentar der Nachrichten, ist die Abhängigkeit vom ,Rohstoff‘, von den res gestae natürlich besonders gross, was aber kompensiert wird durch ein Mehr an Kommentar und ein Editorial, das den Namen Editorial auch verdient, eher schon Essaycharakter trägt. „Eindeutig wegbereitend steht am Anfang dieser Tradition in England Daniel Defoe mit seiner Review. Schon von der äusseren Aufmachung her erscheint die Review wie eine andere, neue Zeitungs-Welt: Der grosse, fast die halbe Seite einnehmende Titel mit klaren Band- und Datumsangaben sowie das besonders gut leserliche Schriftbild ergeben ein ,Layout‘, das sich deutlich von der Konkurrenz abhebt.“434 Obwohl in der Form ähnlich, muss bei The Tatler, The Spectator und The Guardian gesagt werden: „Keiner der genannten Zeitschriften besitzt jedoch ein so breites Spektrum von Inhalten wie die Review. Wirtschaft, Handel und im engeren Sinne soziale Fragen nehmen in ihnen nur einen sehr untergeordneten Raum ein, während sich Defoe eingehend damit beschäftigte. Nach dem Ende der Review übernimmt zum Beispiel erst der Mercator als Fachblatt wieder das Gebiet der Wirtschaft und des Handels.“435 Wenn Wirtschaft und Handel kommentiert werden, essayistisch und nationalistisch kommentiert werden, wenn Zeitung nicht mehr Postille ist, sondern ein Review des Tagesgeschehens, ist das Prinzip anonymer Öffentlichkeit bereits erfüllt. Das insgesamt ca. 5600 Seiten starke Magazin der Review ist zwar von William Payne436 und auch James Sutherland437 anthologisch ediert, aber dann nur nach 433 434 435 436

Degering, ibid., S. 48. Degering, ibid., S. 49. Degering, ibid., S. 50. Payne, William: Mr. Review. Daniel Defoe as Author of ,The Review‘ (1947).

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biographischen Kapiteln gruppiert.438 Aber der Vorläufer von Handelsblatt, Wall Street Journal und Cash auf der einen Seite, auf der anderen von Süddeutscher Zeitung und Zeit verkörpert ein anderes Prinzip als das des privaten Meinungsblattes. Hier wird bereits umgestellt „von Konsens auf Dissens“439. Dieser Nukleus der Schriften Defoes ist nach mehreren Seiten erweiterbar: als getreuer Berichtererstatter in The Journal of the Plague Year, in A Tour through the Whole Island of Great Britain oder als Sittenschriftsteller in The Complete English Tradesman und in The Complete English Gentleman, oder eben als Romancier in Robinson Crusoe und Moll Flanders. Immer aber werden die Beiträge Defoes von einem protestantischen Sendungsbewusstsein getragen, das die Leser unverblümt auffordert, herzusehen, und einen foucaultianisch zu beschreibenden Voyeurismus mit einem selbstgerechten Exhibitionismus paart. Dabei interessiert mich nur am Rande, ob „Defoe’s anachronistic piety a quintessential ingredient of his politics“440 ist oder ob er als typischer Vertreter des Mittelstands „auf der öden Insel den Kapitalismus gründet“441, wichtig scheint mir die Einschätzung: „Defoe war ein grosser Politiker“442. In der Review wird bereits Aussenpolitik kommentiert und bekämpft, zwar noch im Rahmen des konfessionellen Gegensatzes, aber schon ganz im Rahmen einer zu funktionieren scheinenden Öffentlichkeit. Defoe bekennt rückwirkend: „The first time I had the misfortune to differ with my friends was about the year 1683, when the Turks were besieging Vienna, and the Whigs in England, generally speaking, were for the Turks taking it; which I, having read the history of the cruelty and perfidious dealings of the Turks in the wars, and how they had rooted out the name of Christian religion in above threescore and ten kingdoms, could by no means agree with. And though I was but a young man, and a young author, I opposed it, and wrote against it, which were taken very unkindly indeed.“443

Defoe liess also seine Leser an britischer Aussenpolitik teilnehmen und wenn auch der Leserkreis noch gering war, ist die Konversion der Leser in Politiker durch Interdependenzen und Intersubjektivitäten der anonymen Öffentlichkeit schon deutlich vorgebildet. Jetzt musste nur noch in breiteren Schichten lesen gelernt werden, auf dass die Presse auch die Öffentlichkeit des ganzen Landes erreichte. Sutherland, James: Daniel Defoe – A Critical Study (1971). Bei Payne sind dies: „Self Portrait“, „Journalist“, „Economist“, bei Sutherland „The Journalist“, The Poet“, „The Writer of Fiction“ usw. 439 Schwanitz, Dietrich: Schiffbruch mit und ohne Zuschauer: Robinson Crusoe und die Abstraktion der Zeit in der Epoche der Glorious Revolution (1994), S. 78. 440 Schonhorn, Manuel: Defoe’s Politics. Parliament, Power, Kingship and Robinson Crusoe (1991), S. 8. 441 Kott, Jan: Kapitalismus auf einer öden Insel (1970), S. 258 – 273. 442 Kuckuk, Die Politischen Ideen Daniel Defoes (1962). S. 1, zitiert nach: Schonhorn, ibid., S. 1. 443 Defoe, Daniel: Selected Writings of Daniel Defoe, ed. by James Boulton (1965, 2 1973), S. 191, zitiert nach: Macaree, David: Daniel Defoe’s Political Writings and Literary Devices (1991), S. 1. 437 438

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Die Anonymisierung der Öffentlichkeit wird mit der Zurückdrängung lokaler und regionaler Kommunikationszusammenhänge erreicht. In London zirkulieren 1760 bereits vier tägliche Tageszeitungen, Abendzeitungen bringen es auf sechs, drei mal wöchentlich erscheinende Ausgaben, die allerdings schon auf die Dörfer gegangen sind und englandweit zu lesen sind; eine Folge des Dekrets von 1695, das Zeitungen ausserhalb Londons erlaubt. Auf dem Lande werden nun gar eigene Newspapers und Bücher und Dictionaries und Magazine und Werbeschriften herausgegeben. Zwischen 1700 und 1750 verzeichnet England 57 Verlagsgründungen ausserhalb Londons; bis 1725 entstehen 22 Regionalzeitungen, 1760 sind es schon 37 und 1780 dann 50. Schottland bringt es 1750 auf 7 Zeitungen oder Periodika, wie das in Edinburgh erscheinende und in Aberdeen, Glasgow, Dundee, Perth und Stirling erhältliche Scots Magazine. Zusammengenommen werden 1760 jährlich etwa neun Millionen Zeitungen verkauft und bei den hohen Preisen (drei bis vier Penny pro Ausgabe) kann man davon ausgehen, dass bis zu 20 Personen eine Zeitung lesen. In der Provinz werden meist die Artikel der grossen Londoner Zeitungen nachgedruckt, so dass sich tatsächlich eine nationale Informationslage ergeben hat. Dies wird noch verstärkt durch die 1770 erfolgte Abschaffung des Verbots, Parlamentsdebatten zu veröffentlichen; auch wenn dieses Verbot schon im Verlauf des 18. Jahrhunderts oftmals gebrochen wird. Dass England den 7jährigen Krieg gewinnt und das wechselnde Schlachtenglück dem Land letztlich hold bleibt, wird nun von mehr Leuten wahrgenommen, als jemals zuvor. Wenn schon der Meinungsstreit der Parlamentsdebatten ,auf die Dörfer geht‘, steht zu vermuten, dass früh eine Vermischung von Meinungsstreit, Öffentlichkeit, Parteiungen im gesamten Staatsverband zu konstatieren ist. Ob dies bereits um 1700 oder erst um 1750 angesetzt werden muss, scheint mir unwichtig zu sein, es genügt die allgemeine Diagnose: „Das wichtigste Ergebnis der politischen Entwicklung wie der sie begleitenden theoretischen Erörterung war, daß der Begriff der Partei, seit der Antike stets mit einer negativen Wertung verbunden, im England des 18. Jahrhunderts zum erstenmal positiv beurteilt wurde und man der Opposition schließlich eine eigene und wichtige Funktion auch im Interesse des Ganzen zuerkannte. Enger als auf dem Kontinent war dabei die Verbindung von Macht und Geist, Politik und Literatur. Die führenden Schriftsteller in jener Blütezeit der englischen Literatur, Joseph Addison, John Arbuthnot, Daniel Defoe, Alexander Pope, Richard Steele, Jonathan Swift und selbst noch der ,literarische Papst‘ des 18. Jahrhunderts, Samuel Johnson, waren zugleich, ja meist in erster Linie politische Schriftsteller, Verfasser von Pamphleten, Satiren und Flugschriften. Alexander Pope hat seinen Essay on Man, dieses literarische Kompendium der englischen Aufklärungsphilosophie, im Hause seines Gönners Bolingbroke verfaßt, wohl weitgehend auch unter dessen überragendem geistigem Einfluß.“444

Vielleicht ist ein Hinweis auf Bolingbroke angebracht. Dieser hatte zwischen 1730 und 1734 eine bedeutsame Wende in der Beschreibung der innenpolitischen 444 Wandruszka, Adam: Die europäische Staatenwelt im 18. Jahrhundert (1960 – 1964), S. 399.

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Wünschbarkeiten erkennen lassen, die in der Dissertation upon Parties gipfeln. „Bolingbrokes Remarks on the History of England (1730 / 31), nach Herbert Butterfield die erste eigentliche „Whig‘ history“,445 deuten die Geschichte England als „manichäischen Kampf zwischen guten und bösen Kräften“,446 nämlich zwischen der alten, unter Königin Elizabeth I. blühenden, rechtmässigen Freiheit und dem Überhandnehmen letztlich verderblicher und illegitimer Partikularinteressen. Die Dissertation upon Parties (1734) sieht demgegenüber die faktischen Differenzen zwischen Whig und Tory schwinden und an ihre Stelle den Konflikt zwischen der regierungsgegnerischen, aber verfassungskonformen Gruppe sowie der regierungsfreundlichen, jedoch verfassungsfeindlichen Gruppe um Walpole treten. Bolingbroke macht namentlich die postrevolutionären Veränderungen im ökonomischen Gefüge und das Aufkommen eines schrankenlosen Kapitalismus für die negativen Veränderungen verantwortlich.“447 Man könnte sagen, dass Bolingbroke auf halbem Wege zwischen Locke und Burke steht, weil jener noch nicht das Prinzip Opposition und den Gegensatz von Regierung und Verfassung eingearbeitet hatte, dieser aber bereits die Parteien ausserhalb ihrer Loyalitäts- und Interessenstandpunkte beschreiben und legitimieren kann.448 Und die Akzeleration nimmt zu. Die schnellste Kutsche nach Cambridge (60 Meilen entfernt) benötigt im 17. Jahrhundert noch eine Tagesreise; nach Edinburgh deren zehn. Um 1750 sind dann die grössten Städte (Bristol, Manchester, Newcastle, Leeds, Birmingham) mit London durch Mautstrasse verbunden, so dass die Reisezeit drastisch reduziert ist und die anderen Städte in den Dunstkreis Londons wachsen. Multipliziert wird diese Entwicklung durch die Post, die universell wird und nicht umsonst dem Grossteil der Zeitungen den Namen borgt. England wird zum Hinterhof Londons449 und kann eine arbeitsteilige Gesellschaft regionalisieren und wieder zentralisieren, so wie Defoe das zusammengesetzte englische Tenue wohlhabender Bürger beschreibt: „A coat of woollen cloth from Yorkshire, a waistcoat of cullamancoe from Norwich, breeches of strong drugget from Devizes and Wiltshire, stockings of yarn from Westmoreland, a hat of felt from Leicestershire, gloves of leather from Somerset, shoes from Northampton, buttons from Macclesfield, or, if metal, from Birmingham, garters from Manchester, and a shirt of handmade linen from Lancashire or Scotland.“450 445 Butterfield, Herbert: The Englishman and His History (1944), S. 2. Vgl. Cottret, Bolingbroke. Exil et écriture au Siècle des lumières Angleterre – France (vers 1715 – vers 1750). (1992), S. 395. 446 Kramnick, Isaac: Bolingbroke and His Circle. The Politics of Nostalgia in the Age of Walpole (1968), S. 25. 447 Sommer, ibid., S. 87. 448 Im Kern richtig, mit dem Exempel Defoe aber zu früh angesetzt, kann man für das englische 18. Jahrhundert grob sagen: „Die gegenwärtige Opposition wird nämlich durch die Aussicht auf die zukünftige Regierungsbildung domestiziert.“ (Schwanitz, ibid., S. 78). 449 Und damit wird die die englische Revolution noch durchdringende Frontstellung von höfischem Zentrum und ländlicher Peripherie (siehe auch Zagorin, Perez: The Court and the Country: the beginning of the English revolution (1969)) beseitigt.

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Im 18. Jahrhundert arbeitet jeder sechste Brite in seinem Leben einmal in London. Dienstleister aller Art werden jetzt auch in anderen Städten gebraucht, 17 Anwälte allein in einem Ort namens Preston in Lancashire (1728), knapp 30 Jahre vorher taten es noch deren zwei, Konsumgüter- und Freizeitindustrie kommen hinzu, aber für das tägliche Leben am auffälligsten wird das Ausbreiten der Krämerläden bis in die letzten Winkel. In Birmingham (Warwickshire) handeln 129 shops mit Knöpfen, 56 mit Spielzeug und 35 mit Juwelierwaren (1770): eine Nation von, wie Napoleon sie nannte, Krämern. Der Anstieg der Population und Erklärungsmuster der industriellen Revolution aufgrund demographischen Drucks mag hier nicht als Argument beigebracht werden. In unserem Zusammenhang interessanter sind die zeitgleich mit dem Wirken Defoes erfolgenden Gründungen etwa der Bank von England (1696), die das Papiergeld zu einem Wert macht oder der Gründung der Versicherung Lloyds (1688), die von der Entdeckung der Bevölkerungsstatistik und der Möglichkeit der Berechnung mittlerer Lebenserwartungen profitiert, oder auch der Gründung der Londoner Börse (1698). Kein Wunder, entdeckte Defoe die Konvertibilität von „credit“ und „opinion“451. Wiewohl das Geld als Modus der Zukunft das Moment der Unruhe konserviert und zusammen mit Versicherung und Newtonscher Physik den klassischen Zusammenhang von aeternitas (die göttlich-ewige Begleitpräsenz) und tempus (die in die Ewigkeit einmündende Bewegung) annihiliert452, scheint es mir doch gerade in bezug auf die Einübung von Streit und Parteilichkeit weitaus mächtiger zu sein. Es werden öffentlich-überwölbende Instanzen geschaffen – Versicherung, Papiergeld, Börse oder absoluter Raum, absolute Zeit453 – an denen alle Parties partizipieren, ob Rüpel oder Gentleman, ob Tory oder Whig, ob Christ oder 450 18th-century Britain, 1714 – 1815: british society by the mid-18th century. Encyclopaedia Britannica. Multimedia Edition (1999). 451 Vgl. Pocock, John: The Machiavellian Moment (1975), S. 440 f., 454 ff. Defoe analysiert nicht zu unrecht den ,Credit, the invisible Phantom‘ (Di, 14. Juni 1709). 452 Schwanitz, ibid., S. 62, 66 f., 75 ff. Siehe auch: Toulmin, Stephen: The Discovery of Time (1965, 21977). und Toulmin, Stephen: Voraussicht und Verstehen. Ein Versuch über die Ziele der Wissenschaft (1981). 453 Newton hatte definiert: „I. Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfliesst an sich vermöge ihrer Natur gleichförmig, und ohne Beziehung auf irgend einen äusseren Gegenstand. Sie wird so auch mit dem Namen Dauer belegt. Die relative, scheinbare und gewöhnliche Zeit ist ein fühlbares und äusserliches, entweder genaues oder ungleiches, Maass der Dauer, dessen man sich gewöhnlich statt der wahren Zeit bedient, wie Stunde, Tag, Monat, Jahr. II. Der absolute Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äusseren Gegenstand, stets gleich und unbeweglich. Der relative Raum ist ein Maass oder ein beweglicher Theil des ersteren, welcher von unseren Sinnen, durch seine Lage gegen andere Körper bezeichnet und gewöhnlich für den unbeweglichen Raum genommen wird.“ (Newton, Isaac: Mathematische Prinzipien der Naturlehre (1687, 1936), S. 25 f., zitiert nach Schwanitz, ibid., S. 66). Von Bedeutung für den Umschlag von Konsens auf Dissens ist aber auch der kulturgeschichtliche Paradigmawechsel von Physik zu Chemie. Statt (zwar dynamischer) Weltenharmonik wird nun die Schönheit des chemischen Kampfes der Elemente zum vorherrschenden Paradigma, auch als Vorbild für Kants Antinomienlehre.

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nicht. Diese ausserpolitischen Instanzen beginnen auf Politik in immer grösser werdenden Massstab auszustrahlen und das hobbessche Modell der Souveränität zu knacken: Wozu basale Bedürfnisse als Primärinteressen definieren, wenn das Geld Essen konvertibel macht; wozu Schutz und Gehorsam komplementär denken, wenn es Versicherung gibt; wozu sich der Deutungs- und Urteilsmacht des Souveräns unterwerfen, wenn die Börse zur hermeneutischen Macht Nr. 1 aufsteigt, wozu dem christlichen Staat loyal sein, wenn absolute Zeit und absoluter Raum weltimmanent sind? Die überwölbenden Instanzen nehmen den Raum falscher Transzendentien ein und führen in den fatalen Ignoranzzusammenhang, sind aber exportierbar. Der nationale Kontext der ausserpolitisch-politischen Inthronisierung falscher Transzendentien als Ermöglichungsgrund der Herrschaft von anonymer Öffentlichkeit und von allumfassender Parteilichkeit setzte systemische Innen-Aussen-Dynamiken frei. Ausschlussverfahren drängen sich auf, wenn die Souveränität auf unbekannte, multiple Souveräne, auf Geld, Versicherung, Börse, übertragen wird, diese aber im nationalen Korsett eingeschnürt bleiben – Ausschlussverfahren werden dadurch nur anonymisiert. Sichtbar wird dies an den Grenzen, insbesondere an den Neuen Grenzen. Nationaler Rahmen und Commonwealth oder Reichsgedanke sind inkompatibel, da Grenzziehung anders funktioniert. Diese beiden Prinzipien kollidieren in den Vereinigten Staaten, als diese nicht mehr Inland sind, sondern Ausland zu werden beginnen. Die Kolonisten hatten die Indianer und den wilden Westen kolonisiert und waren noch Englishmen. Dann wurden, durch verstärkten englischen Nationalismus454, die Kolonisten selber unter die Rubrik Kolonie subsumiert und nun waren sie plötzlich nicht mehr Englishmen, sondern draussen. Die Frage war beziehungsweise wurde: „Are not the People of Amerika, BRITISH Subjects? Are they not Englishmen?“ Und der junge John Adams konnte sich nicht enthalten, in der Boston Gazette neue Töne anzustimmen: „We won’t be their Negroes“455. Der Topos scheint alle amerikanischen Revolutionäre beseelt zu haben. „In den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts hielt er (James Otis Jr.) einem fiktiven Vertreter der englischen Gesellschaft einen öffentlichen Vortrag: ,You think most if not all the Colonists are Negroes and Mulathoes – You are wretchedly mistaken [ . . . ].‘“456 Das war das Fanal zweier im Kampf befindlicher anonymer Öffentlichkeiten, die den Waffengang in der Presse vorbereiteten. Dabei hat sich die US-amerikanische Öffentlichkeit gegenüber der englischen Öffentlichkeit offensichtlich durchgesetzt. Es muss also einen Unterschied zwi454 Breen hat ganz recht, wenn er schreibt: „Egal, welches Etikett man nun bemüht, es scheint heute klar zu sein, dass während der 1740er Jahre eine Atmosphäre entstand, die man entweder als ein dramatisches Anwachsen des nationalen Bewusstseins, als Heraufkunft eines aggressiven Patriotismus oder als verstärkte Artikulation nationaler Identität begreifen kann.“ (Breen, Tymothy: Ideologie und Nationalismus am Vorabend der Amerikanischen Revolution, oder: Von der Notwendigkeit, den Revisionismus zu revidieren (1998), S. 80. 455 Maryland Gazette, 8. August 1765. Zitiert nach: Breen, ibid., S. 90. 456 Breen, ibid., S. 91.

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schen diesen Öffentlichkeiten gegeben haben. England spielte seine Rolle. Es setzte Prozesse in Gang, die weltgeschichtliche Bedeutung erlangten. Aber auch hier findet der Gedanke Hegels seine Anwendung, derzufolge ein geschichtliches Prinzip sich manifestiert mit einem Träger und alsbald, nach seiner Vollendung, wieder verlässt, den Träger aber hinter und unter sich lassend. Die Prinzipien, die in England zum Tragen kamen, trafen auf Aufhalterinstanzen, die der Reinheit des Prinzips widerstrebten: der Monarch, der trotz Settlement Act kein falsches Transzendentium ist und, sobald des Englischen mächtig, also spätestens ab George III., begriffen haben musste, welche goldenen Kälber nun angebetet wurden; sodann die englische Tradition i.e. das englische Volk selber, das auf einen Monarchen nicht verzichten konnte und sich immer noch in einer Art ,national-katholischen‘, eben anglikanischen Eschatologiezusammenhang begriff. Das zeigt sich auch an einem bislang ausser acht gelassenen Phänomen, das ein ähnlich falsches Transzendentium ist und überwölbenden Charakter hat: die Rede ist vom Nationalismus. In England wird diesem anfänglich sogar mit einer gewissen Reserve begegnet: „Gerald Newman hat nicht unrecht, wenn er die anfängliche Reserve der britischen Aristokratie gegenüber der Ausbreitung eines massenhaften Patriotismus betont.“457 Das Prinzip aber brach sich Bahn und wechselte seinen Träger. In den Vereinigten Staaten sollte der Präsident der Monarch sein, aber den neuen Prinzipien von Öffentlichkeit und Partei, von Geld und Bank, von Versicherung und absoluter Zeit / absolutem Raum unterliegen. Der amerikanische Präsident wird gewählt, öffentlich gewählt, von Wahlmännern der Parteien458 und steht in einem Zusammenhang mit Geld, Bank, Börse, unabhängig von etwelchen Aufhalterinstanzen. Das amerikanische Volk ist keine Aufhaltergestalt, sondern eine eschatologische Sturm-und-Drang-Gestalt. Die amerikanische Entwicklung ist gekennzeichnet von der Aufhalterlosigkeit. Und in den Vereinigten Staaten gab es nie Gründe gegen den Nationalismus, der hier Patriotismus heisst, um zu indizieren, dass dieses falsche Transzendentium auch gefühlt zu werden vermag. „To the extent that the others were self-conscious nationalists“ so führt John Murrin aus „they saw themselves as part of an expanding British nation and empire.“459 Und 457 Newman, Gerald: The Rise of English Nationalism. A Cultural History 1740 – 1830 (1987). Patriotismus vom Nationalismus zu unterscheiden, ist bezüglich der hier allein interessierenden Interdependenz zwischen Öffentlichkeit, Gefühl und Nationalismus belanglos. 458 Max Weber weist auf die amerikanische „Parteimaschine“ hin, die komplementär zu sehen sei zur „Zuwendung aller Bundesämter an die Gefolgschaft des siegreichen Kandidaten“, des plebiszitär gewählten Präsidenten als „Chef der Amtspatronage“ – eine Vorwegnahme des britischen Caucus, aber noch radikaler in der Wirkung: „Was bedeutet dies spoil system [ . . . ] für die Parteibildung heute? Dass ganz gesinnungslose Parteien einander gegenüberstehen, reine Stellenjägerorganisationen, die für den einzelnen Wahlkampf ihre wechselnden Programme je nach der Chance des Stimmenfangs machen – in einem Masse wechselnd, wie dies trotz aller Analogien doch anderwärts sich nicht findet.“ Weber, Max: Politik als Beruf (1918 / 19, 1988), S. 537 f. 459 Murrin, John: A Roof Without Walls. The Dilemma of American National Identity (1987), S. 334 – 338. Zitiert nach Breen, ibid., S. 88.

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nach dem Bruch mit England war diese Translatio besonders leicht und durch nichts aufzuhalten. Hier gibt es Raum für Typen wie Benjamin Franklin. Schlagende Beweise für den direkten Zusammenhang von Öffentlichkeit und Nationalismus bietet uns seine Gestalt, Benjamin Franklin, der berühmte Publizist mit den 40 Pseudonymen460 und Initiator der ersten öffentlichen Bibliothek in USA (1731), der sein ,Glück‘, sein lebenslanges Auskommen als Druckereibesitzer und Verleger ,gemacht‘ hatte und nun sein öffentliches Wirken der Öffentlichkeit selber widmete – noch die Autobiographie ist, nach dem Zerwürfnis mit dem Sohn (der der Krone treu blieb), to the public gewidmet. Wie das mit der Öffentlichkeit so ist, als eines unkontrollierten, abstrakten, begrenzten und begrenzenden Systems, kollidieren die beiden Öffentlichkeitssysteme England und New-England und Franklin in und mit ihnen – das war der Moment, als Benjamin Franklin, der Monarchist, zum glühenden Nationalisten wurde – mit Folgen für diese Nation. Der Gründer der Sekte Society of the Free and Easy461 war noch bis zum stamp act (1765 / 6) Vertreter des Ausgleichs mit England, konnte dann aber im fiktiven Edict by the king of Prussia (1773) die Ungerechtigkeit der englischen Wirtschaftspolitik mit der Vorstellung der Besteuerung der hypothetisch preussischen Kolonie Angelsachsen anprangern – und als Globetrotter dann übliche Bemerkungen über Nationalcharaktere machen „I find [the French] a most amiable nation to live with. The Spaniards are, by common opinion, supposed to be cruel, the English proud, the Scottish insolent, the Dutch avaricious, etc., but I think the French have no national vice ascribed to them“462. Hinzu kommt, dass die Reputation des Erfinders des Blitzableiters und des gelehrten Mitglieds der Academie Française, der Royal Society und der Göttinger Akademie der Wissenschaften zumindest beim europäischen Publikum das Junktim von Aufklärung und ,gerechte Sache des amerikanischen Volkes‘ plausibel machen musste463 – mit der Folge, dass der fremde Nationalismus seine Dignität und Aufgeklärtheit wohl haben würde und auch auf den eigenen ausstrahlen konnte. Hier stellt sich die Frage, warum überhaupt moderne anonyme Öffentlichkeit und nicht vielmehr keine Öffentlichkeit. Dass das entsteht, ist wohl unbestritten – aber warum? Nun, hegelianisch gesprochen: weil man ihrer bedurfte. Warum bedurfte man der Öffentlichkeit? Offensichtlich um gegenteilige Meinungen miteinbeziehen zu können, also Spass an der Intersubjektivität und der Bewusstwerdung zu bekommen. Öffentlichkeit gehorcht also derselben Metaphernlage wie der des Nationalismus, als Form einer spezifischen Form der Politisierung. Ohne Öffentlichkeit kein Nationalismus. Ein Diskurs ist immer ein Diskurs-System, mit Teil460 Gemäss Franklin, Benjamin: The autobiography and other writings (1986), Vorwort, S. XIV. 461 „persons free from vice and debt, therefor easy in mind and spirit“ (Franklin, ibid., S. XI). 462 To Josiah Quincy, 22. April 1779, Franklin, ibid., S. 255. 463 Über die Reaktion in Deutschland: Dippel, Horst: Deutschland und die amerikanische Revolution. Sozialgeschichtliche Untersuchung zum politischen Bewusstsein im ausgehenden 18. Jahrhundert (1972), S. 216 ff. (Franklin als Zeitidol).

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nehmern, Zuschauern und Ausgeschlossenen. Ein System besteht immer aus drinnen und draussen, wobei die drinnen bestimmen, was drinnen ist und was draussen. Ausgeschlossen bleiben die Fremdsprachigen, die Unvermögenden, die Ausgewanderten, die Nicht-Zugelassenen. Drinnen sind die Zugelassenen, die ClubMembers: was ist deren kleinster gemeinsamer Nenner, wenn es nicht, geht man aufs Grosse und Ganze, die gemeinsam geteilte Sprache ist? Die grösste Diskursgemeinschaft ist also die Sprachgemeinschaft und das deckt sich merkwürdigerweise mit den Nation, jedenfalls der zeitungslesenden, also am Diskurs teilnehmenden Menschen. Fehlt nur noch, dass genügend Menschen genügend Zeit und Geld besitzen, um diese Zeitungen zu kaufen und gebildet genug sind, um deren Inhalte auch zu verstehen und schon hat man die grösste Diskursgemeinschaft vor sich, die nicht mehr, analog zur anonymen Öffentlichkeit, sich beaufsichtigen oder bevormunden lässt. Das ist zweifelsohne eine Nation, die zum Nationalismus aufgelegt sein wird. Eine aufmerksame Beobachterin des 18. Jahrhunderts, Linda Colley, enthält sich der Bewertung, wenn sie konstatiert: „It remains unclear why this resurgence of interest in matters patriotic occurred in so many different countries at the same time. The coming of war on the hitherto unprecedented scale, the growth of towns, the spread of printing and the increasing importance of that class we call the bourgeoisie must have all contributed to this widespread mood of national awakening“.464

Die knirschende Mechanik des Nationalismus beruht auf einer Politisierung, Politisierung im Sinne der Bewusstwerdung des eigenen Standpunkts, im Sinne des Eindringens der Intersubjektivität, des Minimalkonsenses einer auf Dissens beruhenden Gesellschaft und der Interdependenz mit falschen Transzendentien wie Geld, Versicherung, Börse im anonymen öffentlichen Raum. Wer an der Börse reich geworden ist, wie etwa Voltaire an der Rohstoffbörse, kann ,Aufklärer‘ werden, das heisst falsche Transzendenz offensiv verkaufen. Die ausserpolitischen Stratagemata reagieren auf eine Politisierung, die man als Bewusstwerdung der eigenen Interessenlage im Konzert des Lobbyismus und aus der Vogelschau einer zunehmenden Fraktionierung des politischen Feldes zu bezeichnen hätte. Dabei korrespondiert die zunehmende Bewusstheit und Hinnahme der Fraktioniertheit des politischen Feldes dem Bewusstsein minimaler überfraktioneller oder auch interfraktioneller Gemeinsamkeit – aber genau das ist das Bewusstsein der Nationalität, woraus sich politisch der Nationalismus speist. Der Nationalismus ist so verstanden ein Surrogat der Bewusstwerdung der Bewusstwerdung, deswegen seinem Wesen nach wütend, wütend darum, weil man nicht weiss, wie einem geschieht, noch nicht Nationalist, plötzlich Nationalist wird, wütend auch deshalb, weil man nicht weiss, wofür das Gefühl des Nationalen denn Surrogat sein soll, weil man nicht mehr fühlen kann, nicht mehr wissen kann, für was diese Ersatzreligion denn 464 Colley, Linda: Britons. Forging the Nation, 1707 – 1837 (1992). Zitiert nach Breen, ibid., S. 80.

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Ersatz sein soll; es handelt sich um ein notwendig anonymes Gefühl. Das offensichtlich Kompensatorische des Nationalismus findet keine Entsprechung zum Grund der Kompensation: es muss etwas kompensiert werden, man weiss nicht wofür und diese Nebulösität passt nicht zu Umfang und Brisanz der Kompensation. Aber das ist ja schon wieder diese merkwürdige Politisierung der Unpolitischen, die unpolitisch bleiben, trotzdem politisiert werden und man weiss nicht, wie das geht. Man hat etwas verloren, etwas, was wohl kompensiert werden musste, aber man weiss nicht genau, was man da verloren hat, gibt aber der Nation, was immer das ist, zur Not die eigenen Söhne auf dem Opfertisch, das eigene Leben – und alles ohne zu wissen, wofür.465 Man mag auf der anderen Seite Jürgen Heidekings These von der fehlenden Nationalisierung der amerikanischen Öffentlichkeit zustimmen, der richtig bemerkt, dass eine levée en masse nicht stattgefunden hat und die Armee kaum mehr als 5000 Mann umfasste466, doch zeigt dieser Umstand nur zu deutlich, welche Macht bereits der anonymen Öffentlichkeit, der Presse, zukam, die die Einwohner eben in einen Nationalisierungs- und Nationalismuszusammenhang zwang. Bis zum heutigen Tag haben die Nichtnationalisten in den Vereinigten Staaten keine öffentliche Stimme, keine eigene Partei und das gehört zum Charakteristikum der Vereinigten Staaten hinzu. Dass die neuen Prinzipien der Unruhe in den USA ihre Heimstätte und ihren Träger gefunden haben, scheint einleuchtend467; wichtig wird dann die Frage der transatlantischen Einflussnahme auf den alten Kontinent. Dies ist nicht gleichbedeutend mit der Frage nach dem Export des Nationalismus, auch wenn der Zusammenhang zwischen englischer, amerikanischer und französischer Revolution von älteren Historikern wie Hans-Ulrich Wehler auch in neueren Publikationen nach wie vor vertreten wird: „Gegen diese zähen Mythen von der Langlebigkeit der Nation und des Nationalismus will ich hier noch einmal die Interpretation vertreten, dass der moderne Nationalismus und die moderne Nation in den großen westlichen Revolutionen in England, Amerika und Frankreich gewissermaßen geboren werden.“468 Natürlich ergeben sich auch personelle Kongruenzen zwischen amerikanischer und französischer Revolution – Jefferson in Paris – aber Nationalismus scheint ein Phänomen zu sein, das von sozialgeschichtlichen Strukturen abstrahiert zu sein scheint. Es ist doch eigentlich erstaunlich, dass der deutsche Nationalismus sich trotz deutscher Kleinstaaterei und der zerklüfteten politischen und zurückge465 Wehler spricht, immer noch, und zurecht, davon, dass der Nationalismus „Qualität einer ,politischen Religion‘“ besässe. (Wehler, Ulrich: Nationalismus, Nation und Nationalstaat in Deutschland seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert (1996), S. 272. 466 Heideking, Jürgen: Einheit aus Vielfalt? Die Entstehung eines amerikanischen Nationalbewusstseins in der Revolutionsepoche 1760 – 1820. (1996), S. 106. 467 Die Bedeutung der Öffentlichkeit und insbesondere der öffentlichen Meinung in den Vereinigten Staaten wird meisterhaft von Tocqueville, Alexis de: De la démocratie en Amérique (1835 / 1840), an vielen Stellen dargestellt. 468 Wehler, ibid., S. 272.

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bliebenen sozialen und ökonomischen Landschaft gleich entfalten konnte wie bei den homogen-nationalstaatlichen Nachbarn – offensichtlich hat das dem Prinzip der Öffentlichkeit sich verdankende Primat der Homogenität und Homogenisierung der Sprache allein genügt – jenseits aller politischen und sozialen Differenz – den Nationalismus ins Werk zu setzen. Um wie viel nationalistischer konnte zudem die Theoriebildung mit dem Argument der Ursprache werden (zuerst Klopstock, Unserer Sprache (1773)).469 Wer dann noch die englische Revolution als lästige Rebellion abqualifiziert (auf dem Weg zum Empire stören die adeligen Fehden der englischen Revolution doch erheblich) oder die Nichtnationalisiertheit der Amerikaner in der Revolution bemerkt, der müsste für den Nationalismus noch andere Gründe parat halten. Verständige Gedanken über den Zusammenhang von res publica politica und der res publica literaria liefert uns Heinrich Bosse und weist zu Recht auf Klopstock hin: „Mit Klopstock ist das Thema ,Patriotismus und Öffentlichkeit‘ zu Ende. Er schreibt ein Programm zur Nationalisierung der Öffentlichkeit. Was immer veröffentlicht wird, muss auf die Nation bezogen sein, was nicht auf die Nation bezogen ist, kann geduldet werden, wenn es gleichgültig ist, oder es ist auszuschließen. So lauten die Gesetze in der ,Deutschen Gelehrtenrepublik‘ (1774): Wer lateinisch schreibt, wird des Landes verwiesen; wer in einer modernen Fremdsprache schreibt, wird des Landes verwiesen; wer ausländisch Worte gebraucht, wird zumindest verachtet. Die Muttersprache – Klopstock sagt, die Landessprache – dient dazu, das Gemeinwesen nach aussen abzudichten und nach innen zu homogenisieren. Die ganze Apparatur der Landtage, Beratungen und Beschlüsse zeigt eine Öffentlichkeit, die sich immer deutscher zu machen strebt.“470

Nun indiziert eine Stelle bei Klopstock noch lange nicht, dass die Mechanik des Prinzips Öffentlichkeit und des nationalistischen Prinzips zum Tragen gekommen ist; zu leicht wäre der Kompensationsvorwurf zu erheben und möglicherweise auf die deklassierte Stellung der Intellektuellen hinzudeuten. Und amerikanische Verhältnisse hat es in Deutschland nicht gegeben. Dennoch ist der Hinweis auf die Gefühlslandschaft in Deutschland deswegen nicht falsch, weil die Sehnsucht nach einer öffentlichen, gewalten- und parteienteiligen, monetarisierten, assekurierten und nationalisierten Gesellschaft in Deutschland zunächst nur über das Gefühl und die Dichter erreicht werden kann. Dies geht aber Hand in Hand mit neuen Realitäten im politischen Bereich. Das neue englisch-amerikanische Prinzip wird über den Umweg der Politik sofort zu einem Machtprinzip, dem bei Strafe des Untergangs nachgetrachtet werden muss. Allenthalben kommt es in Europa zu Reformen von oben unter permanenter Einschaltung von Öffentlichkeit. Die staatlich gewünschte öffentliche Diskussion des Preussischen Allgemeinen Landrechts, des „Entwurfs eines allgemeinen Gesetzbuches für die Preußische Staaten“ (1784) ist nur eines von vielen Beispielen. Auch der Briefwechsel Katharinas II. mit Voltaire führt vor Augen, dass man auf der 469 Fink, Gonthier-Louis: Das Wechselspiel zwischen patriotischen und kosmopolitischuniversalen Bestrebungen in Frankreich und Deutschland (1750 – 1789). (1996), S. 175. 470 Bosse, Heinrich: Patriotismus und Öffentlichkeit (1996), S. 86.

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Seite der Machthaber die Lunte gerochen hat und sich mit den neuen Legitimierungsmächten anzufreunden weiss. Damit wird manifest, dass der aufgeklärte Absolutismus ein Leben mit Dissens, wie es die entfesselnde anonyme Öffentlichkeit fordert, anders organisieren muss, als es der monarchisierten (England) und nichtmonarchisierten (USA) Parteiendemokratie möglich ist. Hier begegnet man notwendigerweise dem klassischen Vorbehalt gegen die Parteiungen: Friedrich II. lässt etwa „in seinen ,Lettres sur l’amour de la Patrie‘ (1779) Philopatros die grossen Tugenden der griechischen und römischen Republiken loben, um dann zu zeigen, dass ,ein gut regiertes Königreich‘, in dem ,nur die Gesetze herrschen‘, einer ,Familie‘ gleiche und darum noch den Vorteil habe, dass es in ihm ,weniger Parteigeist und Spaltungen (gebe) als in den Republiken‘“471. Unterhalb des Souveräns soll also das Prinzip Rechtssicherheit so weit ausgebaut werden, dass sich Öffentlichkeit und Dissens ausbilden können. Die Beantwortung der Preisfrage: „Was ist Aufklärung“ zielt auf dasselbe ab: Trennung von öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft, – die Forderung, öffentlich zu räsonnieren, unterstützt offensichtlich nur ein einziger Herr: „Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!“472 Der private Gebrauch der Vernunft scheint dagegen nicht zulässig zu sein, weil das Private hier gar nicht privat im Sinne der eigenen vier Wände ist, sondern etwa das private Vernünfteln der Bürger, ob Steuern zu zahlen seien, der Soldaten, ob ergangene Befehle gehorcht werden solle und der Geistlichen, ob sie den auferlegten Katechismus zu ändern hätten, meint. Das Publikum kläre sich schneller und besser auf als das Individuum: hier wird die Mechanik der Öffentlichkeit fruchtbar gemacht für die Aufklärung. Nicht in Preussen, aber in der Toskana, unter dem reformfreudigsten Monarch der Zeit, ist sogar eine Zeit erwogen worden, den Monarchen unter die Verfassung zu stellen und das Prinzip Monarchie noch einmal auf eine andere Weise mit dem Prinzip Öffentlichkeit zu verbinden. „Das herausragende Beispiel in diesem Bereich ist das von Leopold um 1780 betriebene toskanische Verfassungsprojekt, dem unverkennbar in Amerika konzipierte politische Ordnungsvorstellungen zugrunde lagen. Wie bei keinem anderen Reformvorhaben der Zeit lassen sich hier eindeutige geistige Verbindungslinien wie auch personelle – nämlich Filippo Mazzei – zu Amerika aufzeigen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass dieses Verfassungsprojekt nie realisiert worden ist.“473

Auch eine Mikrogeschichte von unten wird das neue Prinzip der Öffentlichkeit ausmachen können. Blickt man nach Frankreich am Vorabend der Revolution, müssen Fragen nach Öffentlichkeit und Nationalisierung, gerade der Masse, allen voran der Bauern, gestellt werden. Hier zeigt sich, dass es zu einer Politisierung der BauFink, ibid. S. 171. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. (1784; 41983). Bd. 9, S. 55, A 485. 473 Dippel, ibid., S. 308. Vgl. Palmer, Robert: The age of the Democratic Revolution. Political History of Europe and America, 1760 – 1800. (1959 – 64). 471 472

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ern nicht kommen musste, weil sie seit Jahrhunderten gewöhnt waren, ihre verbrieften und unverbrieften Rechte gegen seigneurale Anmassungen verteidigen zu müssen; neu aber sind bäuerliche Verteidigungsstrategien, statt anarchisch zu revoltieren, ihre Ansinnen bis zum Gericht verfahrensrational durchzuziehen und bei Niederlage diese auch zu akzeptieren, statt dessen den Kampf auf andere Felder ausdehnend. Die neue Bauernschläue besteht darin, dem öffentlichen Prinzip, das herrscht, nicht zu widersprechen, sondern es taktisch auszunützen.474 Die Verbundenheit mit der Nation dagegen ist regional dispers und lässt sich nicht eindeutig belegen.475 Es ergibt sich, dass eine Politisierung der Bauern nicht statt fand, vielmehr eine Ausserpolitisierung zu vermelden ist, etwa indem das Moment der Öffentlichkeit nun in die strategischen und taktischen Überlegungen miteinbezogen werden muss. Der Umgang mit den Neuen Mächten wird verwickelter und zwingt die Teilnehmer politischer Auseinandersetzungen, sich mit den neuen falschen Göttern wie Öffentlichkeit, Geld, Versicherung, Börse, Rechtssicherheit etc. zu beschäftigen. Politik selber wird komplizierter und unüberschaubar. Der Sturm auf die Bastille und die Befreiung der 7 dort Inhaftierten muss wohl als Gipfel der Herrschaft der anonymen Öffentlichkeit gelten, in der der Mob auf Ziele fehlgeleitet wird, die mit den anonymisierten Mächten nichts mehr zu tun hat. Angesichts der Entfesselung von Öffentlichkeit das Staatsgefängnis zu stürmen und die Gefangenen sozusagen ver-öffentlichen, gehorcht natürlich der Rousseauschen Logik, doch macht dies eben in einer linearen Geschichte der politischen Freiheitsidee keinen Sinn476 und wird erst hinter dem Rücken der Akteure wider Willen zu einem sinnvollen Ereignis, einem eminenten Ereignis der Ausserpolitik (ein paar Handwerksburschen wissen nichts besseres zu tun, als 7 Inhaftierte in ihrer wohlverdienten Ruhe zu stören477), das sofort auf die Politik zurückstrahlt und zu unge474 Mikro- und Makrogeschichtlich gut austariert bei Schmale, Wolfgang: Zur politischen Vorstellungswelt der französischen Bauern am Vorabend der Revolution (1991), S. 107 – 146. 475 Schmale, ibid. 476 Es mag wohl noch zugehen, den Vaubanschen Festungstyp als „zentralperspektivisch angelegte symbolische Ordnung des absolutistischen Staates“ (Albrecht, Christoph: Geopolitik und Geschichtsphilosophie 1748 – 1798. (1998), S. 47) zu charakterisieren und dem Sturm auf die Bastille eine architekturgeschichtlich bedeutsame Komponente zu entlocken, jedoch wird das Groteske und Falsche am Sturm nicht erfasst. Bonapartes Bewegungskrieg nutzt schon wenige Jahre später die Festungen als Attrappe, als Potemkinsches Dorf, die er durch 500 Krüppel verteidigen lässt, um feindliche Truppen zu binden. (ibid., S. 84) Dieses Prinzip der Potemkinade bricht sich meines Erachtens zuerst im Sturm auf die Bastille Bahn, was einhergeht mit dem Verkennen der ,Positionisten‘, dass mit der Einnahme der Burg nichts mehr gewonnen ist. 477 Das Exempel des Sturms auf die Bastille wird auch von Noelle-Naumann, Öffentliche Meinung, ibid., S. 156, zur Erläuterung einer öffentlichen Meinung als öffentlicher Psychose, unter Zitation Taines, herangezogen. Taine beschreibt, wie das Schauspiel des Sturms von gutaussehenden Damen der Pariser Gesellschaft mit Panoramablick beobachtet wird und die 800 – 900 Mann, die sich zum Sturm auf die Bastille angeschickt haben, nur deswegen nicht von den aus überlegener Position heraus befindlichen Wächtern kartätscht werden, weil eine um so grössere Menschenmenge den Sturm verfolgt und es das Wachpersonal selber ist, das, der Dramaturgie des Schauspiels gehorchend, die Zugbrücke herunterlässt. Beim anschlies-

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heurer Politisierung führt. Der Triumph der Öffentlichkeit zeitigt eine Dialektik: Die ,Rache‘ de Sades an der Gesellschaft ist die Bekämpfung der Öffentlichkeit durch ihre eigenen Mittel, durch ihr eigenes Prinzip: Veröffentlichung um der Veröffentlichung willen führt zum Willen zur Veröffentlichung um jeden Preis: auch der Veröffentlichung von Unerhörtem, Pietätlosem und Skandalösem. Die 120 Tage von Sodom werden 1782 – 85 verfasst und verstören die ,zum Publikum zusammengetretenen Privatleute‘, verstören aber vor allem das Prinzip einer ,Volonté générale‘, die inskünftig auch das Böse und die écrivains maudits ertragen muss. Die Erfahrung des Fehlgreifens, des In-die-Leere-Schlagens und das Gefühl der Herrschaft anonymer Öffentlichkeit unterlegen zu sein, ist eine Entfremdungserfahrung. Diese Erfahrung, dieses Gefühl hat ursprünglich, geradezu originär nach einem politischen Lösungsversuch geschrieen – und es gibt eine direkte Linie von Rousseaus nichtentfremdetem Wilden zur Deklaration der Menschenrechte mit ihrem Allerlei an garantierten Unverbrüchlichkeiten –, nur wird sie dann im Deutschland der folgenden Generation mit Sturm und Drang traktiert und statt politischer Emanzipation resultieren dann die ,Leiden des jungen Werther‘. Dessen ,Leiden‘ haben weniger, wie Heine es ex post wahr haben wollte, die höfliche Ausweisung des jungen Werther aus der bürgerlichen Gesellschaft, als vielmehr den Primat der Gefühlsduselei vor der politischen Frage, zum Gegenstand478; die Umkehr der Hierarchien hätte die Probleme des jungen Werther auch nicht lösen können. Der Erfolg des Werther in ganz Europa beweist, dass dies keine niaiserie allemande, sondern eine kulturell-gesamteuropäische Antwort ist. Gleichzeitig weist jene ,Empfindsamkeit‘ auf eine eigentliche Dünnhäutigkeit gegenüber Eindrücken, gegenüber intersubjektiven Prozessen, die jeder Ich / Nicht-Ich-Philosophie vorhergehen muss und fast schon an den stream of consciousness eines Leutnant Gustl oder an die Gefühlslage von Anton Reiser erinnert. In der sofort anhebenden Rezeption erstaunt die richtige Analyse des Pastor Goeze, der Werther sei ein Lehrstück vermittelten Atheismus, weil der Protagonist alles wolle und alles sofort wolle, einzig aus seinem Gefühl heraus; daran ändert auch die Zwiesprache mit dem Gott des alten Testaments nichts. Das Genre des Briefromans als Soliloquium lässt auf ein Eingeschlossensein in das Bedürfnis nach Kommunikation schliessen, das noch nicht das Moment der Wechselseitigkeit kennt, sondern so etwas wie erlittene Intersubjektivität oder auch subjektive Intersubjektivität darstellt. Werther ist vielleicht das Werk der versehrenden Intersubjektivität. Da ist einer, der sich anbequemen muss, den gesellschaftlichen Normen, dem gesellschaftlichen Verkehr und der gesellschaftlichen Hierarchie, kurz: der Öffentlichkeit sich anbequemen muss, sich dieser verweigern will und auf sie nicht politisch reagieren kann, nicht politisch reagieren will, sondern wegdreht und dessen Innerlichkeit nicht machtgeschützt ist. senden Tumult dringt die Meute in die Festung ein und „die letztgekommenen erschiessen die ersten, rein nach Zufall“ (Taine, Hippolyte: Les origines de la France contemporaire. III. La Révolution l’Anarchie. Tome 1. (1877), zitiert nach Noelle-Naumann, ibid., S. 156 f.). 478 Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. (1976). Bd. 5: Schriften 1831 – 1837, S. 374.

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Es gibt nun ein öffentliches Gefühl für die eigene Nation, für die eigene nationale Öffentlichkeit. Dieses Gefühl, als Gefühl, ist ausserpolitisch, wird aber zu einem politischen Gefühl, zu einem nationalen Gefühl. Aber Gefühle sind zu dieser Zeit längst von Politisierung durchzogen und es ist kein Wunder, wenn der ,Eingang ins Gefühls‘ durch patriotische Schriften Shaftesburys, der die „Amalgamierung von Heldenmuth (heroism) und Menschenliebe (philanthropy) inspiriert“479 und so die politische Tugend als „primär ein Gefühl“ initiiere, vollzogen wird. Die Mechanik bleibt gleich: Das Ausser- und Antipolitische des Sturm-und-Drang kehrt in die Politik zurück und radikalisiert sie. Lesen wir dieses Kapitel über das sich entwickelnde Gefühl für Öffentlichkeit mit demjenigen über den theoriefeindlichen und publizitätswirksamen Burke zusammen, ergibt sich erst das volle Bild der Dynamiken, wie sie auf seiten der Praxis vonstatten geht. Es genügt nun nicht mehr, am Vorabend des deutschen Idealismus, die Theoretiker ohne das sie umgebende Set an Praxis zu lesen – so entwickelt, so entkoppelt, so ,bewusst‘ ist Praxis, zumal politische Praxis, geworden. Die anfangs ausgemachte heuristische Definition von moderner Politik, als Meinungsstreit öffentlicher Parteiungen im Staatsverband, hat sich verdichtet und ist zu einem modernen politischen Gefühl, einem nationalen Gefühl geworden.

6. Politikgefühl und Historismus, Historismus und Sport Es bedarf wenig, dass aus dem politischen Gefühl ein Gefühl für Politik wird. Das Gefühl für Politik ist eng verknüpft mit dem Gefühl für Geschichte. Es ist meine Überzeugung, dass die Theoretiker des deutschen Idealismus an der Genese des Gefühls für Politik kollaborieren, insbesondere dort, wo es primär nicht um Politik zu gehen scheint, also hinter den eigentlichen Texten zur politischen Theorie. Durch diese Annahme meine ich das grosse Thema der Darstellung der politischen Philosophie im deutschen Idealismus elegant umgehen zu können. Die bekannte Entgegensetzung zur Politik heisst im deutschen Idealismus zunächst Moral resp. Recht. „Keiner der ,politischen‘ Texte Kants oder des deutschen Idealismus trägt noch den Theorie-Titel der ,Politik‘ (nur der Untertitel von Fichtes Geschlossenem Handelsstaat (1800)) . . . Die alte ,Politik‘ ist der Diskriminierung verfallen“480. Im Anhang zum ewigen Frieden diskutiert Kant etwa politische „Schlangenwendungen einer unmoralischen Klugheitslehre“481: 1. fac et excusa, 2. si fecisti nega, 3. divide et impera.482, um dagegen das Recht und insbesondere das durch den kategorischen Imperativ fundierte Recht, als rein formal basiertes 479 480 481

Bosse, ibid., S. 83. Vollrath, Ernst: Politik, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, S. 1057. Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. (1795). Werke, Bd. 9, S. 237.

B86. 482

Kant, ibid., S. 236. B82, 83.

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Recht, zu setzen. Volker Gerhardt weist zu Recht darauf hin, dass Kant den „Begriff der Politik ganz unabhängig vom kategorischen Imperativ gewonnen“ habe und ganz allgemein die „Politik von der Moral [trenne].“483 Das ,politiklose‘ Recht484 soll geschützt werden durch das Prinzip der Öffentlichkeit. „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht“485 und umgekehrt: „Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik überein“486. Hier spricht noch der politische Philosoph Kant, wie wir ihn von der Beantwortung der Frage ,Was ist Aufklärung‘ kennen, der allerdings gänzlich ,gefühllos‘ argumentiert und, wie aus Grundlegung und den Kritiken hinlänglich bekannt, formale Grundlegungen analysiert und synthetisiert. Dem analog kommt es Kant nicht in den Sinn, in der Kritik der Urteilskraft das geschichtliche Fühlen mit zu reflektieren; die ,Analytik des Erhabenen‘ (Erster Teil, Erster Abschnitt, Zweites Buch) kennt nur A. das Mathematisch-Erhabene und B. das Dynamisch-Erhabene der Natur, nicht aber das Geschichtlich-Erhabene oder auch den politisch Erhabenen, wes Diskussion schon durch die Filiation des Erhabenen aus dem lateinischen Begriff des Augustus angestanden hätte. Kant scheint, so meine These, die Theorie politischer Erhabenheit – und Erhabenheit ist immer ein zunächst politischer Begriff, ein politisches Attribut der Herrscher gewesen – aus seinen Erwägungen zu verbannen, um Erhabenheit selbst zu demokratisieren, ihn zu einem ,reinen‘ Begriff werden zu lassen. Dies kann jedenfalls ex negativo aus dem geschlossen werden, was Kant nicht sagt. Geschichte scheint für die Urteilskraft Kant nach zu folgern nicht von konstitutiver Bedeutung, nicht einmal von ephemerer. Es scheint also in den Kritiken kein Gefühl für politische Erhabenheit, kein Gefühl für Geschichte zu geben. Das ist um so erstaunlicher, als bereits 1784 die Karriere der Geschichte auch bei Kant begonnen hat und den achten Satz der Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht bringt: „Man kann die Geschichte der Menschengattung im grossen als Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und, zu diesem Zweck, auch äusserGerhardt, Volker: Vernunft und Urteilskraft (1991), S. 322. Gerhardt will die Definition des ewigen Friedens, derzufolge die Politik „nicht mehr und nicht weniger als eine ,ausübende Rechtslehre‘“ (gemäss Kant, Zum ewigen Frieden, Akademie-Ausgabe, Bd. 8, S. 370, Gerhardt, ibid., S. 328) sei, noch über die Bestimmungen des Politischen von Carl Schmitt, Dolf Sternberger und Hannah Arendt gestellt sehen, wobei unklar bleibt, worin diese „ausübende Rechtslehre“ wohl konkret bestünde. Möglicherweise haben wir es mit einer in unserem Theoriezusammenhang wunderbar inkludierbaren Ausserpolitik zu tun, die von aller Politik gesäubert ist, einer Rechtslehre mithin, die ,rein‘ ist und dann in das Feld der Politik, „ausübend“, zurückprallt. 485 Kant, ibid., S. 245, B100. 486 Kant, ibid., S. 250, B111. Vgl. auch Laursen, John: The Subversive Kant: the Vocabulary of ,Public‘ and ,Publicity‘ (1986, 1996), der die These detailliert vertritt, dass Kant an der subtilen Errichtung der Waffe ,Öffentlichkeit‘, gerichtet gegen die absolutistischen Herrscher, konspirativ beteiligt war. 483 484

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lich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.“487

Wo Geschichte ist, ist dann das Gefühl nicht weit: „Obgleich dieser Staatskörper für itzt nur noch sehr im rohen Entwurfe dasteht, so fängt sich dennoch gleichsam schon ein Gefühl in allen Gliedern, deren jedem an der Erhaltung des Ganzen gelegen ist, an zu regen; und dieses gibt Hoffnung, dass, nach manchen Revolutionen der Umbildung, endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schoss, worin alle ursprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zu Stande kommen werde.“488

Es beginnt sich ein Gefühl zu regen, ein Gefühl, Teil eines historischen Prozesses zu sein, ein Gefühl, das man verstärken kann und sich im ,Staatskörper‘, also vornehmlich politisch, zu regen beginnt. „Die Geschichte a priori ist als Konstrukt der Vernunft eine Hypothese, und Kant weiss, dass ihre Aufstellung z.T. eine ,Lustreise‘ bedeutet und sie zum blossen ,Roman‘ zu werden droht.“489 Nun kann aber die Lustreise jedermanns Sache werden und die Breitenwirkung des ,Romans‘, auch wenn sie in Gestalt einer „philosophischen Geschichte“490 erzählt wird, führt eben zu einer romantischen Epoche. Was hindert, dass sich jeder im Sinne des kategorischen Imperativs eine Hypothese über die geschichtliche Entwicklung bastelt, die das eigene Handeln und Fühlen jederzeit muss begleiten können? Was hindert, dass ein jeder ,Geschichtszeichen‘ sieht, die er jederzeit zugleich dem eigenen Handeln unterlegt? Und was hindert, dass diese ,Geschichtszeichen‘491 nicht verwaltet werden, verwaltet von professionellen Geschichtszeichenverwaltern, man möchte auch: ,Journalisten‘ sagen? Was hindert dann noch, dass man das eigene Handeln nach den Meinungen der öffentlichen Kommentatoren und Kolumnisten ausrichtet? Was hindert dann noch, dass das eigene Fühlen von den Geschichtszeichenverwaltern bestimmt wird? Was hindert, dass die Nachrichten eine Frage des Gefühls werden? Ich würde also sagen, dass sich die Geschichtsphilosophie Kants über seine politische Philosophie legt und das Gefühl für Geschichte, als ein Gefühl für Politik, die Kritik der Erhabenheit, die die Kritik der Urteilskraft ist, jederzeit zugleich übertüncht. Die Einbruchstelle der Kantischen Geschichtsphilosophie in seine politische Philosophie ist dort zu suchen, wo Kant das Gefühl der Erhabenheit in politicis und in historicis nicht diskutiert – in der Kritik der Urteilskraft. 487 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. (1784). KantWerke. Bd. 9, S. 45. A403. 488 Kant, ibid., S. 47. A407. 489 Scholtz, Gerhard: Geschichte / Historie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, S. 362. 490 Kant, ibid., S. 50. A 411. 491 „An irgend eine Erfahrung muß doch die wahrsagende Geschichte des Menschengeschlechts angeknüpft werden“, lautet der bezeichnende Titel im Streit der Fakultäten, wo vom Geschichtszeichen die Rede ist (Kant, ibid., II, 5.; A143).

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Doch Kant steht nicht am Anfang dieser Entwicklung. Die Konjunktur der Geschichte hatte sich abgezeichnet. „I. Iselin und viele andere beginnen ihre den Fortschritt darlegende Menschheits-Geschichten mit einem psychologischen bzw. anthropologischen Vorspann, der die Mennschennatur abgetrennt von ihrer geschichtlichen Bestimmtheit beschreibt.“ Genau: die Menschenpsyche wird nun mit Geschichte wechselseitig vermittelt und ergibt beim Leser ein Gefühl für Geschichte. „J.G. Herder gelingt es durch Übertragung des Leibnizschen Kraftbegriffs auf die Geschichte, die Menschennatur nicht als das Vorausgesetzte, sondern als das sich erst Realisierende zu denken“.492 Das Prinzip Geschichte wird gerade dadurch dynamisiert, dass gruppendynamische Prozesse angemacht werden. Geschichte wird Geschichte für alle. Die Menschen kommen unter die Geschichte, statt an ihr Ende in der Gegenwart; nicht mehr früher, später, davor und danach, es war einmal und ist nicht mehr, sind die massgebenden historischen Partikel bei der Ingeschichtsnahme des Menschen, sondern das Oben und das Unten, das Tragen und Getragenwerden sind geschichtlich und individuell-existentiell relevant, bis in den Bereich der individuellen Trägerschaft oder auch: der eigenen Subjektifizierung. Der Mensch war geschichtlich, ist geschichtlich und wird geschichtlich sein und werden: das ist das neue Credo. Herder fühlt schon in die richtige Richtung, wenn er sagt: „Geschichte ist die Wissenschaft dessen was da ist, nicht dessen, was nach geheimen Absichten des Schicksals etwa wohl sein könnte“493, aber das eigentliche geschichtliche und dann historistische Gefühl, das sich bis hin zu Marx auszudrücken beginnt, würde gerade behaupten, dass Geschichte die Wissenschaft ist dessen was noch nicht da ist aber kommen muss. Wichtiger Umschlagpunkt hierzu ist die Radikalisierung der Geschichte, wie sie Fichte vornimmt. „Das Wissen ist, wie gesagt, Daseyn, Aeusserungen, vollkommenes Abbild der göttlichen Kraft. Es ist daher für sich selber: – das Wissen wird Selbstbewusstseyn; und es ist für sich selbst, in diesem Selbstbewusstseyn, eigene, auf sich selbst ruhende Kraft, Freiheit und Wirksamkeit, weil es ja Abbild der göttlichen Kraft ist; alles dieses als Wissen, also in alle Ewigkeit fort sich entwickelnd zu höherer innerer Klarheit des Wissens, an einem bestimmten Gegenstande des Wissens, von welchem es ausgeht.“

Das Wissen ist zunächst unbestimmt, unbegriffen, ,entwickelt‘ sich aber in alle Ewigkeit, konkretisiert sich in einem konkreten Wissensinhalt, der aber als Wissensinhalt erst einmal ein Teil des Wissens allgemein bleibt: „Es ist, sage ich, der Eine, in alle Ewigkeit sich gleichbleibende Gegenstand, da das Wissen alle Ewigkeit hindurch an ihm zu begreifen hat; in dieser stehenden objectiven Einheit heisst er Natur, und die regelmässig auf ihn gerichtete Empirie Physik.“

Scholtz, ibid., S. 358. Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1787, 1820), Dritter Teil, 13. Buch, VII, S. 847. 492 493

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Die Perspektivenverschiebung vom Subjekt, das Wissen in sich aufnimmt, zum Wissen, das abstrakt analysiert werden kann und erst mittelbar das Subjekt, als Objekt des Wissens, wieder ins Spiel bringt, führt dazu, dass Wissen in einen statischen und einen dynamischen Teil zerteilt werden kann, in Wissen um Physik und Wissen um Geschichte. „An ihm entwickelt sich das Wissen in einer fortfliessenden Zeitreihe; die auf die Erfüllung dieser Zeitreihe regelmässig gerichtete Empirie heisst Geschichte. Ihr Gegenstand ist die zu aller Zeit unbegriffene Entwickelung des Wissens am Unbegriffenen.“494

Wissen, als Abbild der göttlichen Kraft, akkumuliert sich am Unbegriffenen und zerrt das Unbegriffene nach und nach ins Begriffene, ins Wissen – Geschichte wird eine Geschichte des Wissens und eine immer wissentlichere Geschichte, als eine sich entwickelnde, sich erfüllende Wissensgeschichte. Wissen kann, in der Verkehrung des ursprünglichen Verhältnisses, zum Objekt des Subjekts werden, als Wissen um Geschichte, die sich aber auch je und je ereignet, als zunächst unbegriffene Ereignisgeschichte. Das Unbegriffene zeigt sich nach und nach, wird aufgesogen und in den Bereich des Wissens transferiert, so dass Geschichte zu einer Geschichte der Wissensakkumulation wird, was Geschichte und Wissen ununterscheidbar mehrt. Der Philosoph begreift Geschichte, der Historiker stellt sie dar; der Plan der Geschichte wird zu einem Ding an sich, apriorisch und in der Konsequenz eine Einladung an den Menschen, mit ihr und in sie einzustimmen, mit dem sich entwikkelnden Wissen mitzuschreiten: „Die Geschichte dieser allmähligen Cultivirung des Menschengeschlechtes als eigentliche Geschichte hat wiederum zwei, innigst verflossene Bestandtheile: einen a priorischen, und einen a posteriori. Der a priori ist der in der ersten Rede in seinen allgemeinsten Grundzügen aufgestellte Weltplan, hindurchführend die Menschheit durch die damals charakterisirten fünf Epochen.“ [ . . . ] „Der Philosoph, der als Philosoph sich mit der Geschichte befasst, geht jenem a priori fortlaufenden Faden des Weltplanes nach, der ihm klar ist ohne alle Geschichte; und sein Gebrauch der Geschichte ist keinesweges, um durch sie etwas zu erweisen, da seine Sätze schon früher und unabhängig von aller Geschichte erwiesen sind.“ [ . . . ] Das „allgemeine, absolute und ewig sich gleichbleibende in dieser Führung des Menschengeschlechtes im klaren Begriffe aufzufassen, ist die Sache des Philosophen: die stets veränderliche und wandelbare Sphäre, über welche jener feste Gang fortgeht, factisch aufzustellen, ist Sache des Historikers, an dessen Entdeckungen der erste nur beiläufig erinnert.“495

Geschichte kann also pragmatische Geschichte werden, womit die Bestimmung der Wissenschaftslehre, die eine „pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes“496 sein soll, indiziert ist: „aus der Tatsache des menschlichen Geistes werden 494 Fichte, Johann Gottlieb: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804), Neunte Vorlesung, Bd. 7, S. 130 f. 495 Fichte, ibid., S. 139 f.; S. 142. 496 Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794, 21802, 1971), Band I, S. 222.

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allein die Tatsachen erinnert, die in Beziehung stehen zum Werden der Freiheit und aus deren Problematik der Sache der Freiheit dienende Belehrung sich gewinnen lässt.“497 Geschichte wird also nicht nur eingeübt und positiv verstärkt, sondern pädagogisch gefordert und als Kampfbegriff in die Köpfe gebracht, durchaus über den Umweg des Staates als Inbegriff und Garant der Freiheit. „Zu diesem absoluten Staate der Form nach, als einem durch die Vernunft geforderten menschlichen Verhältnisse, sich allmählig mit Freiheit zu erheben, ist die Bestimmung des menschlichen Geschlechts“498, Staat freilich verstanden als die „innige Durchdringung des Bürgers vom Staate, die ich oben als den politischen Charakterzug unseres Zeitalters aufgestellt habe.“499 Man sieht, wohin eine solche Freiheit führt: justamente in den absoluten Staat fichtischer Prägung, dem mit Liebe und Gefühl zu begegnen ist. Eingereiht in die Freiheitsgeschichte weiss sich das Ich immer mehr in eine Solidarität intersubjektiver Nicht-Iche verwoben, welche Teil haben an dieser Bewusstwerdungsgeschichte. Obwohl hier von Gattung und Menschheit viel die Rede ist, müssen doch früher oder später Kriterien für das individuelle Teilnehmen an der Freiheitsgeschichte gefunden werden, Kriterien, die den universellen Ansatz beschränken und gemeinsam geteilte Geschichte, also auch den gemeinsam geteilten politischen Staat, vermehrt ins Bewusstsein rücken. Das Individuum tritt zurück zugunsten des in ihm wesenden Geschichtsprozess, daher auch die Zusammenfassung der dritten Vorlesung über die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters: „Im Gegensatze mit dem Leben eines solchen Zeitalters bestehe das vernunftmässige Leben darin, dass das Individuum sein Leben an den Zweck der Gattung, oder an die Idee setze. Versuch an den Gemüthern der Zuhörer, ob sie sich entbrechen könnten, ein solches Leben zu billigen und zu bewundern; und was aus diesem Versuche, falls er gelingen sollte, folgen würde.“500

Das Bewusstsein aufpflanzen, dass man seine Zeit in seinem Zeitalter verbringe und Teil seines Zeitalters ist, rückt nach und nach die Zeitalterzeit an die Stelle der Eigenzeit. In diesem Moment ist die Entfremdung des Menschen, der hauptsächlich in seinem Zeitalter lebt, statt seine Zeit zu leben, perfekt. Hier würden die Analysen von Sein und Zeit nichts an Aktualität verlieren. Die Person darf sich vergessen: „Sonach besteht das vernünftige Leben darin, dass die Person in der Gattung sich vergesse, ihr Leben an das Leben des Ganzen setze und es ihm aufopfere; das vernunftlose hingegen darin, dass die Person nichts denke, denn sich selber, nichts liebe, denn sich selber und in Beziehung auf sich selber, und ihr ganzes Leben lediglich an ihr eigenes persönliches

497 Hahn, Manfred: Geschichte, pragmatische. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3 (1974), S. 402. 498 Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, ibid., Zehnte Vorlesung, S. 148. 499 Fichte, ibid., Vierzehnte Vorlesung, S. 210. 500 Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Dritte Vorlesung, Zusammenfassung (1804, 1971), Bd. 7, S. 34.

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Wohlseyn setze: und falls das, was vernünftig ist, zugleich gut, und das, was vernunftwidrig ist, zugleich schlecht zu nennen seyn dürfte, – so giebt es nur Eine Tugend, die – sich selber als Person zu vergessen und nur Ein Laster, das – an sich selbst zu denken“501.

Auch die Verschärfung der Dialektik des Naturzustands findet sich in Fichtes Naturrecht, insofern die Theoremata Lockes dahingehend auf die Spitze getrieben werden, als dass die Interaktion der Menschen im Naturrecht dieses nicht nur verharmlost, sondern die Selbstbehauptung des Menschen ganz in die Intersubjektivität aufgelöst wird. In Fichtes Naturrecht ist der Stromausfall in New York ein transzendentalphilosophisches Sandkastenspiel, das nicht vorkommt, sondern ersetzt wird durch die vermittelte Selbstsetzung des Subjekts über das Fremdbewusstsein. Der Kampf, dass eine Person entsteht, eine Person als Produkt wechselseitiger Selbstsetzung, ist das eigentliche Drama der Selbstbehauptung, nicht mehr die körperliche Unversehrtheit. Die körperliche Unversehrtheit ist kein Drama mehr. Wenn diese Ausserpolitik in die politische Arena zurückschwappt, müssen Stilblüten entstehen, die den Deutschen das Deutsche definiert, von Blut oder Boden bewusst absehend, um das Deutsche als Übereinstimmung mit dem Sittengesetz, natürlich intersubjektiv, zu erweisen; prinzipiell kann jeder Mensch, bei entsprechender hoher Gesinnung und Gesittung, ein Deutscher sein – dieser ,Universalismus‘ konnte im ersten Weltkrieg dann mühelos reaktiviert werden. Nun beweist Fichtes Wissenschaftslehre nichts, wären da nicht die Romantik und die Romantiker, die seine Gedanken ins Allgemeine und Verständliche und in die Mentalität wenden. Genese des Ich und Genese des Bewusstseins werden stimmungsvoll mit der Geschichte der Natur und der Menschheit verstrebt. „Die ganze Geschichte ist Evangelium“, und als solche „weissagend“502, sagt Novalis und voll „Verheissungen“; der Historiker ist, sagt Friedrich Schlegel „ein rückwärts gewandter Prophet“503. Das Gefühl für Politik, das aus dem Gefühl für Geschichte folgt, kann wohl nicht zufällig bei Schiller wiedergefunden werden und es würde eine lange Analyse der Historiendramen daran anschliessen können. Exemplarisch etwa will uns Wilhelm Tell sagen, dass der Rütlischwur bindet, uns und unser Gefühl bindet, auf ewig bindet, also durch ein historisches Gefühl bindet. Einen Rütlischwur und schon gar nicht den Schillerschen hat es nie gegeben, aber das ist deswegen unerheblich, weil er ja im Drama steht. Das historistische Gefühl konkretisiert sich aber nicht in der Einstimmung mit den Alturvorderen, sondern in Sehnsuchtsphantasien kollektiver Homogenität, die meine Selbstbewusstwerdung jederzeit muss begleiten können. Seid umschlungen, Millionen, ist daher der Wahlspruch des historisierten Subjekts, das für den Mahnruf dieser Millionen (bzw. ihrer Führer) reif ist. Es ist ein kleiner Sprung von der Apologie der historistisch verbrämten geistigen Landesverteidigung zum radikalen Nationalismus, als eines Substrats des Gefühls für Politik. 501 502 503

Fichte, ibid., S. 35. Scholtz, Geschichte / Historie, ibid., S. 366. Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragment 80 (1798).

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Bei Schiller wird ein zunächst ästhetisches (Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts in einer Reihe von Briefen), dann sentimentalisches Gefühl (Über naive und sentimentalische Dichtung) in die Köpfe eingesenkt, wobei sich die Sentimentalität vornehmlich auf die ,Alten‘ bezieht. „Das Gefühl, von dem hier die Rede ist, ist also nicht das, was die Alten hatten; es ist vielmehr einerlei mit demjenigen, welches wir für die Alten haben. Sie empfanden natürlich; wir empfinden das Natürliche. Es war ohne Zweifel ein ganz anderes Gefühl, was Homers Seele füllte, als er seinen göttlichen Sauhirt den Ulysses bewirten ließ, als was die Seele des jungen Werthers bewegte, da er nach einer lästigen Gesellschaft diesen Gesang las.“504

Der Dramatiker trägt die Begebenheit „als vollkommen gegenwärtig“ vor und stellt nicht den aussengeleiteten sondern „den nach innen geführten Menschen“505 dar, zusammengenommen: der Dramatiker will das historische Potential nutzbar machen, um zu erziehen, er will den Menschen historistisch machen, um immer besser zu erziehen. Natürlich ist die Ode an die Freude ein politischer Text und Beethoven, der Tonsetzerdichter-Titan, ein Politiker, der das historische Gefühl ins metaphysische katapultiert und ergo in den Glauben. Alle Menschen werden Brüder heisst in concreto: alle Menschen werden Brüder, die das auch verstehen, also alle der deutschen Sprache mächtigen Menschen werden Brüder, also alle deutschen Menschen werden Brüder, also deutsche Brüder jedenfalls. Schon die Eroika, anfangs Napoleon gewidmet, spricht eine deutsch und deutliche Sprache, wer sie nur zu hören wüsste. Nicht alle Symphonien sind Coriolan-Ouvertüren, aber fast alle könnten in ein historistisches Gefühl übersetzt werden, trotz aller Heiligenstätter Testamente, trotz des Allgemein-Menschlichen, an das appelliert zu werden scheint. Es ist das Pathos der Befreiungskriege, das den ostinaten Bass des Pathetischen der Werke Beethoven abgibt – Kriege für die Freiheit: zunächst ein scheinbar napoleonisches Projekt, ein prometheisches Projekt, dann ein deutsches Projekt, aber immer ein politisches Projekt im nationalen Rahmen, immer mehr auch ein nationalistisches Projekt, das Gefühl und Musik verlangt506. Nach der Kaiserkrönung Napoleon soll Beethoven die Widmung zerrissen haben, wohl weil das Prinzip der anonymen Öffentlichkeit, auf dem auch und gerade der autonome Künstlerkomponist des 19. Jahrhunderts reitet – Musik für den Äther – durch den Begriff des Kaisers in Frage gestellt ist. Dynamik und Dialektik der (politischen) Freiheitsidee, die in das historistische Gefühl umgeschmolzen wird, sind hier vorgezeichnet und lassen sich 504

Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung, (1795 / 96,

10

1980),

S. 28. Schiller, Friedrich: Über epische und dramatische Dichtung, (1797, 101980), S. 3. 506 Über die politische und kulturelle Wirkung Beethovens sehr verständig Schmitt, Carl: Glossarium (1947 – 1951, 1991), S. 12. „Beethoven, das ist also die französische Revolution, nicht nur Robespierre, sondern auch Rousseau: die Pastorale dazu; das erst macht ihn so erstaunlich total; erste und einzige ,Landschaft‘ im Sinne des säkularisierten Paradieses; noch ganz landschaftsgläubig; diese Rousseau-Wirkung der Pastorale ist noch wichtiger als Rousseaus Einwirkung auf Kant, Fichte, den jungen Hegel, Hölderlin und Schiller“. 505

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bei den romantischen Musikern, vor allem Richard Wagner, dem einstigen Revoluzzer und fliegendem Holländer, dem späteren Musikdramatiker mittelalterlicher Stoffe und Nationalchauvinist, bestens nachweisen. Der Typus des romantischen Musikers bleibt aber reserviert gegenüber Texten und Eindeutigkeit von Texten; romantische Opern sind Mangelware oder im Libretto so hölzern wie Fidelio. Die bekannte Revolutionsoper münzt die Freiheitsidee in die Befreiungsgeschichte eines zu Unrecht Gefangenen um. Der Dank für Gottes Gerechtigkeit und eine Hymne auf Leonore (Schlußchor Wer ein solches Weib errungen) bilden das emphatische Finale. Die Liebe wird ein Fall für die Politik und die Politik wird ein Fall für die Liebe, vertont mit allerlei Vorhaltakkorden, die bis zur Vollchromatik und zur Aufgabe der Funktionsharmonik gesteigert werden: das nenne ich ausserpolitische Politisierung, die selber ins Politische zurückschlägt und diese unweigerlich verschärft. Politik ist hier nicht mehr eine Sache der Sprache, des vernünftigen Seelenteils, wo Rede und Beratschlagung Ausfluss menschlicher, sprachlich basierter Geselligkeit sind. Mit Beethoven ist das Gefühl für Politik da und all die ausserpolitischen Endomorphine, Myofibrillen, Synapsen, Verdauungswege und Sympathikusse tanzen, wenn Politik, zumal mit Musik, ruft. Aber gegen Kritik immun und imprägniert und rückschlagresistent wird das Prinzip Geschichte erst mit Hegel. Es gebe, glaubt man Hegel, einen ursprünglichen Zusammenhang von Poesie und Historie, weswegen das Wesen von Geschichte zunächst prosaisch sei: keine Geschichte ohne Geschichtsschreibung und keine Geschichte ohne Bewusstsein von Geschichte: dasjenige, was über das gleichförmige ereignislose Schicksal der Stämme hinausweise, kann nur dann aufbewahrt werden, wenn ein als Staat organisiertes Gemeinwesen sein öffentliches Erinnern in der ,Prosa‘ der Geschichten darstelle: „denn zur geschichtlichen Betrachtung gehört die Nüchternheit, das Geschehene für sich in seiner wirklichen Gestalt, seinen empirischen Vermittlungen, Gründen, Zwecken und Ursachen aufzunehmen und zu verstehen.“507 Hegel kann vom „Gedoppelten“ reden, das in „jeder Geschichte“ liege; denn die „Geschichte hat [einerseits] . . . diese vereinzelte Seite, Einzelnes, bis auf Äusserstes hinaus Individualisiertes; aber darin sind auch die allgemeinen Gesetze, Mächte des Sittlichen erkennbar.“508 Zur Erkenntnis einer Sache gehört zudem die der Sache inhärierende „innere geschichtliche Bedeutung“, die zur geschichtlichen Werdung des Geistes Analogie und Anschluss besitzt, denn „das Bedeutende in der Geschichte ist seine Beziehung, Zusammenschluss mit dem Allgemeinen“.509 Ge507 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I (gehalten 1820 / 21, 1823, 1826, 1818 / 29, ediert 1835, 21842, 1990), Zweiter Teil, 1., B., 1., Die phantastische Symbolik, Bd. 13, S. 432. 508 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I (gehalten 1821, 1824, 1827, 1831, ediert 1832, 1840 von Bruno Bauer, 1986) Erster Teil, B., II., 3. Die Vorstellung, Bd. 16, S. 143. 509 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I (gehalten unter anderem 1816, 1823 / 24, 1825 / 26, 1827 / 28, 1829 / 30, ediert 1833 – 36,

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schichte als Prinzip wird ins Zentrum der Aufklärung und des Denkens und Wissens verlegt und wird durch sich selber als Geschichte Geschichte. „Die Geschichte leistet die Verwirklichung der Freiheit, die in der christlichen Religion vorgestellt wird, im Staat als weltliches Prinzip sich manifestiert und in der Philosophie zum Begriff ihrer selbst kommt.“510 Wenn es zum Bewusstsein kommt, dass Geschichte erst Geschichte wird und geschichtlich geworden ist, ist jedes Denken der Geschichte untertan und eine Kritik an Geschichte nicht mehr möglich. Aber das Gefühl für Geschichte wird immer intensiver. Ohne die Phänomenologie des Geistes als Ganzes interpretieren zu wollen, ist doch schon in der Denkbewegung der hegelschen Dialektik ein ungeheures Internalisierungspotential beschlossen, insofern niemand angeben kann, wieviel Millionen und Milliarden und Myriaden dialektische Bewegungen schon durchlaufen sind, bis die Jetztzeit erreicht ist. Auch wenn Hegel diese extremen Rechenoperationen abbricht und einen Parameter einsetzt, den er ,Geist‘ tauft, ändert das nichts an der unvorstellbaren Gewordenheit, die fast nur noch übertrumpft wird durch die Unvorstellbarkeit der Werdung der Zukunft. Welchen Eindruck die Eindringung hegelscher Philosopheme auf den ,Geist‘ seiner Zeit gehabt haben mag, soll nicht entschieden sein; es genügt die der Dialektik sich verdankende Überwölbungschance der nicht enden wollenden Synthetisierung vor das Bewusstsein zu stellen, um zu ermessen, dass Moralität nicht nur gedanklich von Sittlichkeit übertüncht hat werden können, dass das Prinzip ,Gesellschaft‘ sich tatsächlich vom Prinzip ,Staat‘ abheben konnte, dass schliesslich der objektive Geist vom absoluten Geist und Wissen tatsächlich überwunden und aufgehoben werden konnte. Man lese einen Zeugen, Minister Altenstein, wenn er an Hegel schreibt: „Indem Sie in diesem Werke [gemeint sind die Grundlinien der Philosophie des Rechts, M.S.] wie in Ihren Vorlesungen überhaupt mit dem Ernste, welcher der Wissenschaft geziemt, darauf dringen, das Gegenwärtige und Wirkliche zu erfassen und das Vernünftige in der Natur und Geschichte zu begreifen, geben Sie der Philosophie, wie mir scheint, die einzig richtige Stellung zur Wirklichkeit, und so wird es Ihnen am sichersten gelingen, Ihre Zuhörer vor dem verderblichen Dünkel zu bewahren, welcher das Bestehende, ohne es erkannt zu haben, verwirft und sich besonders auf den Staat in dem willkürlichen Aufstellen inhaltsleerer Ideale gefällt.“511

Die Wirkung, hier ist sie getan: es geht um die Erkenntnis des Gegenwärtigen in der Gegenwart, des Wirklichen in der Wirklichkeit und hier insbesondere um das Bestehende bzw. das Bestehende im Bestehenden, so intensiv, dass Politisierung und „inhaltsleere Ideale“ verunmöglicht werden sollen. Hier taucht wieder das janusköpfige an dieser wie auch immer aufhebenden Denktradition auf. Der von Staats wegen bestallte Denker leitet zum Denken an, das Teil der höchsten Politik 2

1840 – 44, 1986) A, Bestimmung der Geschichte der Philosophie, Fussnote 10 (Einfügung von Michelet), Bd. 18, S. 25. 510 Scholtz, ibid., S. 365. 511 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Anhang (1820, 31993), S. 517 f.

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ist, aber von Politisierung, oder vom politischen ,Dünkel‘ ablenken helfen soll. Die Geschichte dieser politischen Ausserpolitik ist bekannt; so oder so wurde jede auf Hegel folgende Denkbewegung – sei dies Darwin und seine Entdeckung der Gewordenheit der species, sei dies der Linkshegelianismus, der die Gewordenheit der Zukunft auf seine Fahnen schrieb und ,betrieb‘, seien es Vertreter einer historischen Schule à la Savigny und ihre rein darstellenden Rechtsgeschichte – von diesem dialektischen Wechselspiel geprägt: die ausserpolitische Theoriebildung schwappt wie von selbst in den politischen Raum zurück und führt zu grösserer Politisierung. Der Eingang des Historismus und damit des Politischen ins Gefühl vollzieht sich parallel im Himmel philosophischer Systematik. Die wesentlich geschichtliche Ordnung der Dinge hatte sich aus den Unzulänglichkeiten der idealistischen, speziell der fichtischen Philosophie ergeben, die sich in ihrem polaren Denken nicht beruhigen kann und das Problem der Versöhnung virulent macht. Dieses Problem wird gelöst, indem die fichtische Philosophie nicht aufgegeben, sondern nur überwölbt wird. Es kommt in der Folge zu einer Perspektivierung, die das ,an sich‘ abspaltet vom ,für sich‘. Das ,Für sich‘ stellt das Ergebnis einer Auseinander-Entwicklung als Ergebnis einer Differenzierung dar und bildet den systematischen Annex zum eigentlich unvermittelbaren ,an sich‘. Es kann nach den fichtischen Vorgaben nicht anders sein, als dass es der Mensch ist, für den ,an sich‘ und ,für sich‘ zusammenfallen; Hegel sagt: „Das an und für sich seiende Wesen aber, welches sich zugleich als Bewusstsein wirklich und sich sich selbst vorstellt, ist der Geist.“512 Damit gelangt das ,Selbst‘ zu philosophischen Ehren, in dem die Entwicklung immer schon kulminiert ist und die Intensität der Kulmination hin auf das, was ist, sein äusserstes Ende erreicht. Die Philosophie erreicht derart Anschluss an die Phänomene der natürlichen Welt und kann ebenso Begriffe wie Herrschaft, Knechtschaft, Versöhnung, Alltagsbewusstsein, Herz und Gemüt, das unglückliche Bewusstsein, ,Lust und Notwendigkeit‘ inkorporieren und denken. Die Arbeit am Begriff führt zum Begreifen des werdenden Wissens als wesentlich gewordenes Wissen. Das Für-ein-Anderes-Sein der Gegenstände muss vermittelt werden können mit dem An-sich-selbst-Sein des Begriffs, sonst ist keine Wahrheit im Sinne der Adaequatio von Wahrheit und Gegenstand möglich – aber so, „dass diese beiden Momente, Begriff und Gegenstand, Für-ein-Anderes- und Für-sich-selbst-Sein, in das Wissen, das wir untersuchen, selbst fallen“.513 Auch wenn das Für-sich-sein der Gegenstände letztlich in dasselbe Bewusstsein fallen, in dessen Domäne das An-sich-sein der Gegenstände sich befinden, das Für-sich-sein also doch nur eine Scharade des Bewusstseins sein kann, das ein Für-es-sein der Gegenstände vorspiegelt, wird doch dem Gegenstand ein Beziehungsgeflecht und eine Entwicklung (eine physische und eine temporale 512 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (1807, 31993), C., BB., VI., Der Geist, S. 325. 513 Hegel, ibid., Einleitung, S. 77.

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Umgebung) angesonnen, die darauf hinausläuft, dass der Gegenstand in seinem Wesen eine Geschichte hat, ohne die er nicht erkannt werden könnte. Dadurch können Menschen und Sachen Freunde sein, weil sie derselben Kategorie des Gewordenen unterliegen. Diese Freundschaft lässt sich wunderbar internalisieren, diese historistische Freundschaft. Im Innern der Dinge west ihre Geschichte, und Bewusstwerdung dieses Sachverhalts läuft darauf hinaus, ein Gefühl hierfür zu bekommen – steigt man dann die Bewusstseinsleiter der Dinge bis zum Staat, steigt man auch auf einer Gefühlsleiter nach oben und es lässt sich nicht ganz abweisen, dass das Gefühl für Politik, als dem Gefühl für das absolute Wissen verwandt, eines der höchsten Gefühle ist. Über die epistemologisch begründete Freundschaft von Mensch und Ding im Selbstbewusstsein wird aber die Geschichte des Geistes, als eine Geschichtsgeschichte, als eine Bewusstseingeschichtsgeschichte, drübergelegt. „Die andere Seite aber seines Werdens [des Geistes, M.S.], die Geschichte, ist das wissende, sich vermittelnde Werden – der an die Zeit entäußerte Geist; [ . . . ]“514 Geschichte ist nicht nur Wissensgeschichte, sondern immer mehr Wissensgeschichte. Das wissende Werden umfasst kreisend immer grössere Bevölkerungsschichten und wird ein Fall für die Soziologie. Hegel war angetreten, die Brüche der Transzendentalund Bewusstseinsphilosophie zu versöhnen, hinterlassen hat er uns eine Gesellschaft des werdenden und vor allem gewordenen Wissens, des unaustilgbaren Wissensgefühls, zerlöchert vom Wissen, wie wir sind. Es gibt bei Hegel, summa summarum, einen Gegensatz zwischen Versöhnen und Aufheben, wo sich das Aufheben an die Stelle der Versöhnung setzt und nicht aufhören kann, aufzuheben, wenn also das Aufheben nicht Versöhnung bedeutet, sondern Hortung und Sammlung, wenn also dadurch Sammler geboren werden, unerlöste, unversöhnte und unversöhnliche Menschen515. Der Siegeszug des Historismus ist hundertfach beschrieben worden und als solcher nicht neu. Mich interessiert dies als eine Entfesselung der Politik, auch weil das geschichtliche Gefühl und Denken identisch ist mit dem nationalen Gefühl (als Zugleich von dumpfem Herkunftsgefühl und aggressiver Hoffnung auf eine Zukunft der Herkunft), Entfesselung der Politik aber einhergeht mit der Absage an Tagespolitik. Resultat des Historismus: man wird zum durch und durch politischen Mensch, verachtet aber immer mehr die Tagespolitiker und blättert zuerst auf die Sportseite. Die Sportseite ist die Nachricht über die Gegenwart und Zukunft der eigenen Herkunft, apolitisch politisiert. Die eigene Mannschaft, das ist zunächst das lokale Team, dann das regionale, dann das nationale – eine Weltelf als solche kann meine Emotionen nicht schüren. Und solcherart ist der unpolitische Historismus, der mich einbetten hilft in meine Herkunft, sofort selber eingebettet in eine Art der Politisierung, man sieht es an der Berichterstattung im Sportteil, die chauvinistisch ist und ohne die heutigen Predigten zur permanenten Mässigung und ent514 515

Hegel, ibid., C., DD., Das absolute Wissen, S. 590. Vgl. Skirl, Miguel: Was Sammeln? (2000), S. 96 ff.

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sprechendes Polizeiaufgebot sofort destruktionsrezidiv würde. Allerlei olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften, internationale Titelkämpfe usw. usf., wie sie von unpolitischen Sportlern bestritten, von Sportfunktionären politisiert und von den unpolitisch-politischen Zuschauern verfolgt werden, zeigen uns nur zu gut das falsche Ende des Historismus und zwar insbesondere sein unpolitisch-politisches Ende. Auf dem Siegertreppchen werden die Sportleregoisten, die ihren Willen zum Sieg leben, gekleidet im Nationaldress, umwölkt vom politischen Gefühl, von politischer Nationalhymnen-Musik, umrahmt durch flatternde Fahnen, Wimpel und Maskottchen, von Funktionären bewacht und Kommentatoren befragt, bis die politische Grammatik den Siegeregoismus transzendiert hat. Der Sportler wird dem Gefühl für Politik untertan, je höher er steigt, und so steht er auf der Höhe Schillers und Beethovens, analog zur ausserpolitisch-politischen Dynamik – als Sieger ist er gar die Synthese von Geschichte, die in einer hohen Wirklichkeit kulminiert. Sicher gibt es den Breitensport, die Eurythmie im Park, die verordnete Bewegungstherapie, Turn mit, die Theken- und Werksmannschaften und die Fit-forfun-Psychosen, aber es gibt eine Hierarchie der Athleten. Die high society gerät in den Dunstkreis der Politik, und die anderen Sportbegeisterten müssen sich schon entscheiden, ob sie zum Training gehen oder sich das Spiel anschauen. Das ist attraktiv, das Spiel, weil sich Gefühle regen, Gefühle der Erhabenheit, Gefühle geschichtlicher Herkunftsbereitschaft, Gefühle von und für Politik. Dieser Leistungssport, wie wir ihn kennen, ist ein Kind des Historismus. Und auch dies ergibt einen weiteren Mosaikstein zum Wesen von Politik. Aus dem heimeligen Zusammengehörigkeitsgefühl des historistischen ,Wir‘ wird ein ,Wir sind wir‘, ,Wir bleiben wir‘ und immer weiter bis zum messbaren Wirgefühl des olympischen Medaillenspiegels. Dieser liest sich, meistens in der Reihenfolge der errungenen Medaillen, notabene als der Spiegel und die Rangordnung durchnihilisierter Gesellschaften, die sich ihr Wirgefühl über den politischunpolitischen Sporterfolg erkauft haben.

III. Nietzsches Wiederkunftslehre als Kulminationspunkt Im 19. Jahrhundert ändert sich, aus der (katholischen) Perspektive des Dualismus von weltlich und geistlich – nichts. Es ereignet sich im katholischen Denken des 19. Jahrhunderts – nichts. Es ist erstaunlich, wie wenig katholisches Denken an den Debatten der Zeit teilnimmt – eine Überwinterung, ein Ausharren im Turm ein Jahrhundert lang, noch im Kulturkampf gegen den Bismarck-Staat, das ist unglaublich und fest im Glauben. Das 19. Jahrhundert ist dagegen, auf der anderen Seite, das Jahrhundert des Bankrotts des Protestantismus – angefangen bei Hegel, durchgeführt durch die Junghegelianer und vollendet durch Nietzsche und Overbeck. Den Weg von Kant zu Nietzsche näher nachzuzeichnen, wäre sicherlich auch anhand unserer Fragestellung ein verdienstvolles Unterfangen, das aber den Rahmen dieser Arbeit sprengt. Ob das 19. Jahrhundert im Niedergang, wie Löwith, von Hegel zu Nietzsche oder im Seitwärtsgang, wie Schnädelbach, unter Hinweis auf kantianische und neukantianische Philosophie in Deutschland 1831 – 19331, sie interpretieren, sich befindet, kann an anderer Stelle erwogen werden. Löwith hat jedenfalls ganz recht, wenn er im V. Kapitel, übertitelt: Das Problem der Christlichkeit, schreibt: „Die philosophische Kritik der christlichen Religion hat im 19. Jahrhundert von Hegel ihren Ausgang genommen und in Nietzsche ein Ende gefunden. Sie ist ein spezifisch deutsches, weil protestantisches Ereignis, und zwar sowohl von seiten der Kritik wie von seiten der Religion.“2 „Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie“, „Strauß’ Zurückführung des Christentums auf den Mythos“, „Feuerbachs Reduktion der christlichen Religion auf das natürliche Wesen des Menschen“, „Ruges Ersatz des Christentums durch Humanität“, „Bauers Destruktion der Theologie und des Christentums“, „Marx’ Erklärung des Christentums als einer verkehrten Welt“, „Stirners systematische Destruktion des Göttlichen und des Menschlichen“ und „Kierkegaards paradoxer Glaubensbegriff und sein Angriff auf die bestehende Christenheit“ werden potenziert aufgehoben in „Nietzsches Kritik der christlichen Moral und Kultur“ und vielleicht noch überboten in „Overbecks historische Analyse des ursprünglichen und vergehenden Christentums“3. Das scheint den Katholizismus nicht gerade sehr beeindruckt zu haben, hält man sich vor Augen, dass er nach dem Schock der französischen Revolution 1 Löwith, Karl: Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1939, 21949, 1988); Schnädelbach, Herbert: Philosophie in Deutschland: 1831 – 1933 (1983, 61999). 2 Löwith, ibid., S. 409. 3 So die Unterkapitelüberschriften in Löwith, ibid., S. 409 – 485.

III. Nietzsches Wiederkunftslehre als Kulminationspunkt

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und auch der Anmassung eines sich selbst krönenden Kaisers, Napoleon, im Turm, eher die Trierer Rockwallfahrt 1844, Lourdes 1858 ff. und Sacré-Cœur 1876 ff. erlebt, mit den Höhepunkten der Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariä 1854 und dem Unfehlbarkeitsdogma von 1870. Hat man einen grösseren Gegensatz als die Herrschaft des Politischen und Maria, den Gegensatz etwa Bismarcks und der Immaculata? Wohl kaum. Alle bösen katholischen Ahnungen über den weltlichen Staat, der sich partout nicht ins Spirituelle einzumischen habe, sind wahrgeworden mit der Aufhebung der Klöster, mit der Sperre jeder Rückzugsmöglichkeit aus dieser Welt, aus dieser von Politik dominierten Welt und dieses Menetekel wird für immer über dem Portal des liberalen Staates stehen. Da ist der Kulturkampf nur das Tüpfelchen auf dem i, wenn der weltanschaulich neutrale Staat den Katholizismus zu einer Politisierung zwingt, die eine katholische Partei, das Zentrum, nötig macht, mit allen Folgeproblemen eines eigentlich ausserstaatlichen, ausserpolitischen Glaubens und der Notwendigkeit politischer Taktik. Die politischen Taten Bismarcks schienen zunächst ganz machiavellistisch von Ränken und getürkten Unterschriften geprägt zu sein, aber bei näherem Zusehen liegt der Unterschied vom Principe und dem Eisernen Kanzler darin, dass Machiavelli niemals die Politisierung weiter Bevölkerungsteile anempfohlen hätte, so wie die Sozialistengesetzgebung, der Kulturkampf, der deutsch-französische Krieg und die Reichsgründung es mit sich brachten – Bismarck ist eben nicht nur der schlaue Mehrheitsbeschaffer im Reichstag, sondern der Generator von Massenparteien, als Reaktion auf Bismarcksche Politik, die in die Breite und in die Tiefe geht. Nietzsche ist einer dieser Opfer Bismarckscher Politik, weil er ein Opfer des deutschfranzösischen Krieges ist – das ist seine Tragödie. Das Ursprungserlebnis, aus dem Nietzsche seinen denkerischen Höhenflug beginnt –Beobachter des Verwundetenschmerzes, welcher in dionysischem Orgasmus ,transfiguriert‘ werden kann –, entsteht unter den Folgen der in die Köpfe eingedrungenen ,Politik‘ im deutsch-französischen Krieg4 und es entsteht ein erlebter Zusammenhang zwischen Wille zur Macht und Dionysos. Eine Neue Politik soll über den Umweg der Geburt der Tragödie wieder in den politischen Raum, zugunsten einer wahren, nämlich Bayreuther Politik, zurückwirken. Vielleicht ist die Bayreuther Idee, das ist das denkerische Produkt, das dem Bismarck-Opfer Nietzsche vor Augen schwebt, ein Angebot an die Katholiken, ihren tragischen Pessimismus zugunsten einer dionysischen Weltbetrachtung auszuwechseln, vielleicht auch ein Angebot an die Sozialisten und an die Liberalen, ihren tragischen Optimismus gegen eine Dionysos-Welt einzutauschen, vielleicht auch ein Angebot an Bismarck. Schnell wird jedenfalls bewusst, dass in der Schnittstelle von Dionysos und Politik etwas steht und stand, was als Kultur bezeichnet wird und Nietzsche zeit seines Lebens nicht mehr aus 4 „Heute (Samstag) Telegramm des Königs über den entscheidenden Sieg unter seiner Führung. Wir chloroformirten gerade einen Franzosen zu einem Gypsverband (die Hand ist zerschossen: er rief in der Narkose ,mon dieu mon dieu je viens‘), vorher ein Mädchen von elf Jahren, Sequester im Bein zu entfernen.“ Nietzsche, KSA 7, 88 (Nachgelassene Fragmente August-September 1870).

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III. Nietzsches Wiederkunftslehre als Kulminationspunkt

dem Kopf bekam. Die politische Kaste aber hatte es nicht begriffen, um welche Politik Nietzsches Bücher kreisten – in den Gründerjahren des 2. Kaiserreichs wollte niemand der Politiker begreifen, welche Politik Nietzsche da trieb, und sie konnten es auch nicht begreifen. Dies war eine Erfahrung für Nietzsche, die traumatisch blieb und noch in die Wahnsinnszettel, mit den Kriegserklärungen an das Hause Hohenzollern etc. ausstrahlen sollte. Die Antwort des Establishment auf die Einmischung in innere Angelegenheiten liess in Gestalt von Wilamowitz-Moellendorff nicht lange auf sich warten und bestand im vernichtenden Ratschlag silete in munere alieno, was sich insbesondere auf die Verquickung von Philologie mit Politik bezog. Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik waren geschieden und sollten es auch bleiben – interessant bleibt hierbei, warum 1. Politik gegen die Analysen politiktranszendierender Argumente taub geworden und nicht mehr zu erreichen war und wie 2. Nietzsche darauf reagierte. Um die Antwort vorwegzunehmen: Nach der Tragödie der Geburt dauerte es lange, bis er den politikfernsten, aber dennoch intramundansten Begriff, den der ewigen Wiederkunft des Gleichen, fand, aber durch diesen selber in den Strudel der Politisierung gezogen wurde, um sich der Politik verständlich zu machen.

1. Die Wiederkunftspolitik im Bogen der Wiederkunftslehre Nach dem Ende aller Metaphysik schlägt die Stunde des Politikers. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen stellt sich am Ende der Metaphysik ein und will dort weiterdenken, wo jeder Glaube an etwas Transzendentes oder Immanentes, jedenfalls etwas zum Sosein Differentes, nicht mehr gelingen kann. Nachdem der schleichende Prozess der Intramundanisierung das Fabel-hafte5 und Hinterweltliche6 dieser Welt extingiert hatte, hat Nietzsche über die Möglichkeit Neuer Werte (und Neuer Ordnungen) kontempliert – mit dem Ergebnis, dass die linearen Zeitvorstellungen der christlich-abendländischen Metaphysik die ewig selben teleologischen Probleme zeitigten, die nur durch eine modern-kreisförmige Wiederkünftigkeit zu überwinden sei. Diese Kontemplation entspringt einer Meditation, an deren Ende eine Vision steht – der Gedanke der ewigen Wiederkunft. „Ich gieng an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke.“7 Die der Vision nachfolgenden Einträge im Nachlass8 eröffnen den Spannungsbogen, der das weitere Denken Nietzsches und der Interpreten um die neue Lehre bestimmen sol5 6 7 8

Nietzsche, Wie die Welt endlich zur Fabel wurde (1889), Götzendämmerung, KSA 6, 80. Prominent Nietzsche, Von den Hinterweltlern (1883), Zarathustra I, 3, KSA 4, 35. Nietzsche, Ecce Homo (entstanden 1888), 3., Nr. 23, KSA 6, 335. Nietzsche, KSA 9, 494 ff.: 11[141]ff. (Frühjahr 1881 – Sommer 1882).

1. Die Wiederkunftspolitik im Bogen der Wiederkunftslehre

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len. KSA, Band 9, Heft 11, Aphorismus 141, 11[141] entwirft die Lehre im Wogen von unschuldig leichtmütiger Existenz und neuem Schwergewicht, [142] kritisiert bereits das Offenbartsein der Lehre (und die Kritik am Offenbartsein), [143] stellt ein ethisches Ansinnen in den Raum: „ist es so, dass ich es unzählige Male thun will?“, [144] will das „Spiel des Lebens“ mit Hilfe der ewigen Wiederkunft inthronisieren, [145] reflektiert Erziehungsprinzipien für „eine [durch die Wiederkunftslehre zum Spiel des Lebens hingezogene] neue Kaste“, [147] betrachtet die Durchsetzbarkeit der Lehre – „die ersten Anhänger beweisen nichts gegen eine Lehre“, [148] variiert erstmals die Endlichkeit der Welt und die Rastlosigkeit der Kräfte als physikalischen Grund der Wiederkunftsannahme – und des Lebens in der Wiederkunft, des Lebens, das peu à peu alle teilen werden; [149], [150], [151], [152], [154], [155], und [157] forcieren noch einmal die Vielfältigkeit des physikalisch Gegebenen, um die menschlichen Anschauungsformen als Gegenargument gegen die Wiederkunftslehre auszuschliessen, [158] kommt wieder auf das Einsickern der Lehre zu sprechen, Jahrtausende seien vonnöten, [159], [160], [161] begutachten die Lehre in Hinblick auf das (schon nicht mehr ganz so spielerisch zu bewältigende) Leben – „in Ewigkeit so leben wollen!“ : von einer „Aufgabe“ ist da die Rede, [163] manieriert schliesslich die antiegalitäre Funktion der Wiederkunftslehre: wer Lust hat zu streben, der strebe, wer zu ruhen, der ruhe, wer zu gehorchen, der gehorche – ohne Neid (und Sozialismus) generierende Hinterwelt. Nach dieser Aphorismenhäufung kehren die Lehre und die Gedanken in den Nachlässen immer wieder – allerdings nun unterbrochen von wiederkunftsfremden Einschüben. Man darf Nietzsche glauben, dass 1881, ab KSA Band 9, Seite 494, die Wiederkunft geboren wurde (bzw. an dieser Stelle textualisiert wird), nur man hüte sich zu glauben, dass damit die Wiederkunftslehre da ist. Nietzsche ist vielmehr auf der Suche nach der passenden Lehre für den Wiederkunftsgedanken, für das Wiederkunftserlebnis; unsicher, was der Gedanke eigentlich zu bedeuten habe, welche Implikationen er bürge und ob die ewige Wiederkunft das Set an Problemen, das er seit dem Bewusstsein des Ungenügens der Freigeisterei vor sich sah9, erschlagen könne. Es wird ein Ringen um die Vision und der weitere Denkweg ist davon gezeichnet. Zarathustra ist der Held der permanenten Selbstüberwindung mit den Mitteln der unüberwindbaren Wiederkunftslehre; angesichts der Wiederkunftslehre beginnt Zarathustras Untergang10 und mit der Überwindung des Wiederkunftsgedankens endet Zarathustras Untergang11: Dieser Untergang bedeutet ein gleichzeitiges Vorbei und Verwinden der Lehre als auch eine präsumtive Aussicht auf die Wiederkunft der Lehre selbst – als Rechtfertigung, dass die Lehre nicht im Moment der Überwindung ausgelebt ist, sondern auch bei Nietzsche immer wiederkommen kann. Zarathustra ist das Werk, das auf der Suche nach dem Widerlichen der Wiederkunft ist; Zarathustra ist das Drama der katastrophischen und kathartischen ewiVgl. retrospektiv: „Der Freigeist“ KSA 11, 329: 28[64]. (Herbst 1884 – Herbst 1885). Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft (1881), KSA 3, 571, vgl. 4, 11. 11 Nietzsche, Zarathustra, ibid., III, 13., KSA 4, 277. 9

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gen Wiederkunft, wobei das pathos entscheidender ist als das drama. Die Lehre ist nicht erträglich und soll es auch nicht sein (Salomé nennt den rosenumkränzten Schmerzensjubel eine „Vergewaltigung Nietzsches durch Zarathustra“12), Hoffnung bestehe einzig in der (durch Zarathustras Untergang) möglichen Existenz des Übermenschen, der die Wiederkunftslehre mit der Muttermilch aufgesogen hat und unter ihr leben kann. „Nach der Aussicht auf den Übermenschen auf schauerliche Weise die Lehre der Wiederkunft: jetzt erträglich!“13 Der Wiederkunftsgedanke scheint hier noch mehr auf ein acting oder break out hinauszulaufen, als auf eine rational nachvollziehbare Handlungsmaxime; der Gedanke der Wiederkunft ist ein Selbstversuch, der in jedem, zuerst in Nietzsche ausgetragen wird, mit allen Spiegeln, Kameras und Protokollen dieser Welt. Der Wiederkunftsgedanke soll in seiner Originalgestalt den ganzen Menschen fordern, die ewige Wiederkunft soll den Menschen überfordern, so zwar, dass er entweder verwandelt wird oder daran zerbricht, als Wasserscheide zwischen Gut und Schlecht. Die Applizierung der Wiederkunftslehre auf die eigene Existenz („ego – Fatum“14) ist Trauerarbeit und potentielle psychische Genesung in einem: Das Begreifen der ewigen Wiederkunft ist die vollendete Psychoanalyse. Die visionäre und psychologische Gestalt der ewigen Wiederkunft diffundiert aber von selbst in ethische Implikationen, weil der Gedanke eine Lehre werden kann und auch geworden ist; weil der Blitz sich in eine Moral ableiten lässt: Hierher gehört sowohl die Rede von der Wiederkunftslehre als eines antiplatonischen Mythos15, eines Mythologems16 oder eines „countermyths“17 auf der ethisch-visionären Seite, ebenso wie, auf der psychologisch-anthropologischen Seite, die lebenspraktischen Fragen der Wiederkunftslehre. Die ewige Wiederkunft kann sehr wohl den Alltag bestimmen. „Die Frage bei allem, was du thun willst: ,ist es so, daß ich es unzählige Male thun will?‘ ist das größte Schwergewicht“18, ebenso im berühmten § 341 der Fröhlichen Wissenschaft: „Das grösste Schwergewicht. – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein . . . Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem „willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?“ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen!“19 Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894, 1983), S. 296. Nietzsche, KSA 10, 481: 15[10], vgl. 10, 593: 20[10]; (Juli 1882 – Winter 1883 / 84). 14 Nietzsche, KSA 11, 291: 27[67] (Sommer – Herbst 1884). 15 Ottmann, Henning: Philosophie und Politik bei Nietzsche (1987, 21999), S. 373 ff. 16 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos (1979), S. 271, 275. „Es versinken die Mythen endgültig zugunsten des einen Mythos von der ewigen Wiederkunft des Gleichen“ (ibid., S. 674). 17 Magnus, Bernd: Nietzsche’s Existential Imperative (1978), S. 155 ff. 18 Nietzsche, KSA 9, 496: 11[143] (Frühjahr – Herbst 1881). 12 13

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,Willst Du diess noch einmal und noch unzählige Male?‘, ist eine Frage, die schon bald durch einen kategorischen Imperativ, oder auch einen „existential imperative“ (Magnus) reformuliert werden kann. Das Problem des Lebens aus einer Erschütterung heraus besteht darin, dass diese ein Fall für den Willen werden kann: man kann die Wiederkunft wollen, und nichts hindert, dass man sie hernach auch wollen können kann – aber das wäre schon wieder Maximenmoral: „227. Man muß vergehen wollen, um wieder entstehen zu können – von einem Tage zum anderen. Verwandlung durch hundert Seelen – das sei dein Leben, dein Schicksal: Und dann zuletzt: diese ganze Reihe noch einmal wollen!“20 Zunehmende Aufgeklärtheit erregt zunehmende Abgeklärtheit – darunter leidet auch der Wiederkunftsgedanke: „willst Du dies noch einmal?“21 lautet die Frage, an der selbst in einer götter-, schuld- und sündlosen Welt niemand mehr zerbrechen muss. Auch die Erzüchtung des Übermenschen durch den Gedanken ist nicht davor gefeit, als paideia und gebildete Selbstverwirklichung22 verstanden zu werden. Simmel23 steht 1907 mitten in einer Entwicklung, die den Gedanken der ewige Wiederkunft vorwiegend ethisch liest, als ethischen „Appell“, als „Postulat in Permanenz“24, bei der ein Primat der mehr „poetischen“ als „theoretischen“ Darlegung (Horneffer25) unverkennbar sei, ebenso „in mehr oder minder verwässerter Weise“ „bei A. Riehl, A. Drews, R. Richter“26, sodann bei E. Förster-Nietzsche, die den Gedanken moralisch-instrumentell fasste, „zur Erhöhung des Typus Mensch“27. Die kosmologische Seite der Wiederkunft bedeutet für Simmel nur ein „Vergrösserungsglas“ des Wiederkunfts-„Prüfsteins“, gewissermassen die Verschwerung des grössten Schwergewichts; die Erschütterung demgemäss nur aus einer „gewissen Ungenauigkeit in ihrer logischen Auffassung“ erklärbar. „Nur für einen Zuschauenden [ . . . ], der die Vielheit der Wiederholungen in seinem Bewusstsein zusammenfasst, bedeutet die Wiederkehr etwas; in ihrer Realität an und für sich, für den Erlebenden, ist sie nichts. Nur ihr Gedanke hat eine ethisch-psychologische Bedeutung.“28 Die Umwertung der Wiederkunft hin auf ihre „moralische Grundabsicht“, ihr Dasein als „Regulativ“ ist vollzogen, und bald einmal gehört es zum kantianischen Frühsport, die Wiederkunftslehre als Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zu Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, ibid., IV., 341., KSA 3, 570. Nietzsche, KSA 10, 213: 5[1].227 (November 1882 – Februar 1883). 21 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, IV., 341., KSA 3, 570; 10, 480: 15[7] (Sommer – Herbst 1883); 10, 518: 16[56] (Herbst 1883). 22 „Werde, der du bist“ (Nietzsche, Zarathustra, IV. (1885), 1., KSA 4, 297). 23 Simmel, Georg: Schopenhauer und Nietzsche (1907, 1995), Bd. 10, S. 167 – 408. 24 Ewald, Oscar: Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen. Die ewige Wiederkunft und der Sinn des Übermenschen (1903), S. 17 f. 25 Horneffer, Ernst: Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft, und deren bisherige Veröffentlichung (1900). 26 Löwith, Karl: Anhang zu Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Zur Geschichte der Nietzsche-Deutungen (1955, 1987), Bd. 6, S. 353. 27 Förster-Nietzsche, Elisabeth: Der einsame Nietzsche (1913), S. 148. 28 Simmel, ibid., S. 398 f. 19 20

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gebrauchen, durch den kategorischen Imperativ plafonierbar und domestiziert; so, in jedem Augenblick, zu leben, „als ob wir ewig lebten, d. h. als ob es eine ewige Wiederkunft gäbe“29. Eine weitere Beruhigung ergibt sich aus der kosmologischen Interpretation und Interpretierbarkeit; Spekulationen ersetzen die Leidensverwindung: „Die Welt der Kräfte erleidet keine Verminderung: denn sonst wäre sie in der endlichen Zeit schwach geworden und zu Grunde gegangen. Die Welt der Kräfte erleidet keinen Stillstand: denn sonst wäre er erreicht worden, und die Uhr des Daseins stünde still. Die Welt der Kräfte kommt also nie in ein Gleichgewicht, sie hat nie einen Augenblick der Ruhe, ihre Kraft und ihre Bewegung sind gleich groß für jede Zeit. Welchen Zustand diese Welt auch nur erreichen kann, sie muß ihn erreicht haben und nicht einmal, sondern unzählige Male. So diesen Augenblick: er war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren, alle Kräfte genau so vertheilt, wie jetzt: und ebenso steht es mit dem Augenblick, der diesen gebar und mit dem, welcher das Kind des jetzigen ist.“30

Es ist das Verdienst Karl Löwiths, auf diesen halb vergessenen Aspekt der Wiederkunftslehre aufmerksam gemacht zu haben; Nietzsche gehe es gar nicht um die moralisch ausbeutbare Fiktion, sondern um die Wiedergewinnung einer Welt – dieser Welt, für die die „tatsächliche“ 31 Wiederkehr eine beinharte Voraussetzung bilde. Es ist in der Tat völlig schleierhaft, wie das – Nietzsche so sehr am Herzen liegende – Jasagen zu dieser Welt gelingen können soll, wenn der Wiederkunftsgedanke nur eine (moralische) Absicht bekunden würde, wenn die ewige Wiederkunft nur unser Verhältnis zur Welt beträfe, ohne diese selbst zu betreffen. Moral und Physik der ewigen Wiederkunft werden von Löwith dichotomisiert und hegelianisch widerspruchsvoll aufgehoben: „Die Einheit im metaphysischen Gleichnis der ewigen Wiederkehr spaltet sich auf in eine zweifache Gleichung, nach Seite des Menschen und nach Seite der Welt. Das Problem der Wiederkunftslehre ist aber die Einheit dieses Zwiespalts zwischen dem menschlichen Willen zu einem Ziel und dem ziellosen Kreisen der Welt.“32, wobei die Synthesis in der Formel amor fati gelänge. Kontrateleologie und Epistemologie sollen zudem das Aufrechnen in nunc und Prognosen ex futuro verunmöglichen33. Nietzsches Beackerung Simmel, ibid., S. 400. Nietzsche, KSA 9, 498: 11[148] (Frühjahr – Herbst 1881). 31 Löwith, Karl: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935, 1987). 32 Löwith, ibid., S. 178. 33 Über die physikalistische Interpretation der Wiederkunftslehre vergleiche die Arbeiten von Löwith, ibid., Becker, Oscar: Nietzsches Beweise für seine Lehre von der ewigen Wiederkunft. In: Becker, Oscar: Dasein und Dawesen (1963); Abel, Günther: Nietzsche. Die Dynamik des Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr (1984) und D’Iorio, Paul: Cosmologie de l’éternel retour. In: Nietzsche Studien, 24 (1995), S. 62 – 123, aber auch die Bemerkungen etwa von Ottmann, ibid., 364 f. Es ist hier nicht der Ort, über die einzelnen Stränge der Beweisführung und das leibnizsche principium identitatis indiscernibilium zu philosophieren, es genügt der Aufweis von Skirl: „Nietzsches Welt gipfelt in das Bild des ,Thorwegs‘ („Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus – das ist eine 29 30

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der zeitgenössischen Physik und die thermodynamischen Spekulationen sollen das Faktische der Wiederkunft mitbeweisen helfen. Das Ringen um eine physikalistische Untermauerung bedeutete für die Lehre mehr als eine Rechtfertigung oder eine Verwissenschaftlichung, um zu reüssieren – es sollte die Lehre vor allem davor bewahren, in einen blossen Glauben, eine Hypothese, eine Handlungsanweisung zum besseren Leben oder einen neuen Idealismus umgruppiert zu werden – Felder, auf denen Nietzsche sich nur allzu leicht den Boden unter den eigenen Füssen zu entziehen vermochte. Eine Herleitung der Wiederkunft interessiert nur insofern, als dass sie unsere Weltsicht revolutionieren kann; eine reine Begründung und Plausibilisierung vermeintlicher Abstrusität (und die Wiederkunftslehre nimmt sich jedenfalls vor dem Hintergrund moderner theoretischer Physik wenig phantastisch aus) läge nicht auf der Linie der Wiederkunftslehre; als kleinsten gemeinsamen Nenner müsste man wohl konstatieren, dass Nietzsches Kosmos eine endliche Welt der Vektoren, der durchgängigen Vektorisierung, ist – als solcher ist er anzusehen. „Das Maaß der All-Kraft ist bestimmt, nichts „Unendliches“: hüten wir uns vor solchen Ausschweifungen des Begriffs! Folglich ist die Zahl der Lagen Veränderungen Combinationen und Entwicklungen dieser Kraft, zwar ungeheuer groß und praktisch „unermeßlich“, aber jedenfalls auch bestimmt und nicht unendlich. [ . . . ] Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern die Gesammtlage aller Kräfte immer wiederkehrt. Ob je, davon abgesehen, irgend etwas Gleiches dagewesen ist, ist ganz unerweislich. . . .“34

An dieser Stelle wird das ganze Dilemma der Wiederkunftsphysik deutlich, die ihrer Natur nach als Begründung konzipiert war, aber in ihrer wahrheitsskeptizistischen Konzeption (qua ateleologischer Vektorisierung) ideologiekritisch wirkt – wie kann das, was die anthropologische Verwandlungskapazität der Wiederkunftslehre ausbauen helfen soll, als „ganz unerweislich“ aufgewiesen werden? Der Konnex zur moralischen Begründung des Wiederkunftsgedanke scheint dahin zu schwinden; Konzentration und Schwere des Gedankens nehmen ab. Neben den beiden dargestellten Interpretationssträngen existiert ein dritter hier zu thematisierender Strang: die Wiederkunftspolitik, die meist übersehene Wiederkunftspolitik. Dieses Absehen verdankt sich nicht zuletzt der Nietzsche-Interpretation Baeumlers, die aus dem „System“ Nietzsches die „einzige Deutungsebene“ entnimmt, dass er, „das Schwert schwingend“ bei seinem „Siegfriedangriff auf die Urbanität des Westens“, nur mit dem „Grundgedanken des ,Willens zur Macht‘ denke“ – der Wiederkunftsgedanke sei „ohne Belang“, weil er nur „Ausdruck eines höchst persönlichen Erlebnisses“ sei und der politischen Essenz, die sich ausandre Ewigkeit.“ (Zarathustra III (1884), Nr. 2; KSA 4, 199)): ein antigoethischer, antiaugustinischer Augenblick, der nicht verlängert werden soll, sondern Ewigkeit punktförmig inkludiert. Von diesem ,Thorweg‘ aus darf man Rückwärts- und Vorwärtsrechnen, nicht aber aus der Vergangenheit auf den jetzigen Augenblick schielen (aus kontrateleologischen Gründen), noch eine Zukunft sich aus der Gegenwart (aus epistemologischen Gründen) zurechtmachen.“ (Skirl, Miguel: Ewige Wiederkunft. In: Nietzsche Handbuch (2000), S. 228). 34 Nietzsche, KSA 9, 523: 11[202] (Frühjahr – Herbst 1881).

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schliesslich im ,Willen zur Macht‘ entberge, ohnmächtig gegenüberstehe. Wiewohl es nicht an Versuchen gefehlt hat, die Wiederkunft, besonders ihren visionär-gnostischen Part, politisch zu nutzen35, hält die (gegen Baeumler gerichtete) Frontstellung ,Wille zu Macht‘ = politisch / instrumentalisierbar, Wiederkunftslehre = unpolitisch-metaphysisch, seit Löwiths Zeiten36 unvermindert an. Daran hat auch das zutreffende Diktum Ottmanns „Er kannte nur Politik mit Philosophie, keine ohne“37 nichts geändert. Und ebenso wie die Wiederkunft unpolitisch sein soll, wurde auch die gesamte Philosophie Nietzsches zu einer unpolitischen. AnsellPearson stellt etwa für den englischsprechende Werdegang rückblickend fest: „The consensus which held sway for several decades from the end of the Second World War until quite recently, was that Nietzsche was not a political thinker at all. [ . . . ] This view was typical of those, such as the renowned Nietzsche translator and biographer, Walter Kaufmann, who tried to rescue Nietzsche’s writings from the abuse they had suffered at the hands of the Nazi ideologists and propagandists.“38 Es ist völlig in der Ordnung, wie Ottmann schreibt, „von seiner Philosophie als ganzer sprechen zu müssen“, wolle man über Nietzsches Politik sprechen: „erst die großen Begriffe öffnen die letzten Türen“39. Aber die Wiederkunft wird von Ottmann dann doch nur wieder als unpolitische Theorie behandelt, die die Unsystematik systematisch abschliesst. Und die neueren Versuche, Nietzsche wieder politisch zu lesen und etwa für den Liberalismus und die Demokratie tauglich zu machen, so bei Rorty40, so bei Ansell-Pearson41, so bei Owen42 und Conway43, argumentieren fast 35 „Die Fahne des Dritten Reiches symbolisiert im Hakenkreuz die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen.“ (Giese, Fritz: Nietzsche – Die Erfüllung (1934), S. 127). 36 Löwith, Anhang zu Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, ibid., S. 363 ff. 37 Ottmann, ibid., S. 7. 38 Ansell-Pearson, Keith: An introduction to Nietzsche as political thinker: the perfect nihilist (1994), S. 1 f. 39 Ottmann, ibid., S. 346. 40 Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie, Solidarität (1989, dt. 1992). Über Nietzsches politische Philosophie in der philosophischen und politischen Diskussion der Gegenwart informiert, in Kapitel 9 auch über Nietzsche und die liberale Demokratie post Rorty und Rawls (K. Ansell-Pearson, D. Conway, B. Detwiler, L. J. Hatab, D. Owen, L. P. Thiele, M. Warren) sehr ausführlich Ottmann im Anhang der zweiten Auflage seines epochemachenden Werkes Philosophie und Politik bei Nietzsche, ibid., S. 463. Ausgerechnet Antichrist, § 54 und die Insinuation, dass Überzeugungen Gefängnisse sind, soll Basis eines jeden guten, liberal-ironischen Demokraten sein. Selbstkreation, also Selbstsetzung und Gerechtigkeit seien für immer inkommensurabel, weil Selbstsetzung privat-ungeteilt und Gerechtigkeit öffentlich-gemeinsamgeteilt sei – dafür ist Selbstabstraktion, wie sie die hermeneutisierende Spätphilosophie Nietzsches aus dem Willen zur Macht uns anempfiehlt, eine Bedingung der Möglichkeit von Vermittlung beider Prinzipien. 41 Ansell-Pearson, ibid. „In his most self-reflexive moments Nietzsche calls into question his own pretensions as a philosopher-legislator, and, ironically, becomes the most democratic of philosophers, since he allows his readers the freedom of interpretation.“ (S. 205) Machtquantenpluralismus und demokratisches Freiheitsprinzip resultieren aus einer gewissen Selbstwidersprüchlichkeit, auch wenn die Selbstwidersprüchlichkeit nicht systematisch ein-

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ausschliesslich aus der foucaultianisch gelesenen heterogenen, heteronomen Disgregation der Welt, wie sie die unendliche Machtquantenhermeneutik des Willens zur Macht nahelegt und nicht aus den Politikamenten des ganzen Nietzsche, wie es wenigstens Ottmann und Marti44 vorbildlich tun. Die folgenden zusammenfassenden Bemerkungen zur Wiederkunftspolitik wollen dagegen eine direkte Beziehung von Wiederkunftslehre zur Politik herstellen und müssen als Präliminarien der weiter unten durchgeführten Detailanalyse gelten. Mit der ewigen Wiederkunft kann man alsbald Planung betreiben: „Die zukünftige Geschichte: immer mehr wird dieser Gedanke siegen – und die nicht daran Glaubenden müssen ihrer Natur nach endlich aussterben! Nur wer sein Dasein für ewig wiederholungsfähig hält, bleibt übrig: unter solchen aber ist ein Zustand möglich, an den noch kein Utopist gereicht hat!“45 In der neuen Religion überwiegt der pastoraltheologische Teil den systematischen bei weitem: gearbeitet ist und Ansell-Pearson die deutsche Forschung, insbesondere Müller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie (1971), und Zittel, Claus: Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche (1995), und Nietzsche im Original aus sprachlicher Inkompetenz nicht zur Kenntnis nehmen kann. Der Nietzsche von Ansell-Pearson ist ein Demokrat, weil er unter der Knute des Nihilismus uns die Aufgabe des Lesens und der freien Interpretation aufgegeben hat. Damit wird Nietzsche ein Politiker wider Willen – vielleicht ein Tyrann, der die Volksherrschaft vorbereitet?, würde man AnsellPearson veredeln dürfen. Das mag in der Konsequenz der Texte und Theoremata Nietzsches liegen. Aber: Die Demokratie der freien Interpretation löst das Problem des Nihilismus in keinster Weise, im Gegenteil, es schreibt den Nihilismus nur fest und macht die Demokratie nihilistisch. 42 Owen, David: Nietzsche, Politics & Modernity. A Critique of Liberal Reason (1995). Zu Owens Buch bemerkt Ottmann, ibid., S. 465 f.: „Die wohl extremste Eingliederung Nietzsches in die Demokratie vollzieht schliesslich David Owen in ,Nietzsche, Politics & Modernity‘ (1995). [ . . . ] Nietzsche wird geradezu zu einem Super-Liberalen erklärt, dessen Liberalismus noch dem Liberalismus von Kant bis zu Rawls und Rorty überlegen sein soll. Nietzsche hat demnach den kantischen und kantianisierenden Liberalismus überholt, wenn er das Subjekt perspektivisch zerstört und an die Stelle des metaphysischen Person- und Subjektbegriffs den agonalen Pluralismus der Perspektiven gesetzt hat.“ Dazu gehört natürlich auch eine Umwertung des Nihilismus, der für einen Liberalen nie schlimm sein darf: „To recognise the necessity of undergoing nihilism is an abysmal thought but it is, at least potentially, a bearable thought if we also recognise the possibilities for overcoming ressentiment and bad conscience implicit within this experience.“ (Owen, ibid., S. 96). 43 Conway, Daniel: Nietzsche & the Political (1997). Die „Versucherkunst“ (Kapitel 5) führt zu einer Experimentalphilosophie, die zusammengelesen werden kann mit dem ,pursuit of happiness‘ und individuelle Selbstkultivierung bedeuten kann, die rawlsianischen Lebensentwürfen ähnlich sieht und nichts mit dem ,politischen‘ Perfektionismus zu tun hat. 44 Marti, Urs: ,Der grosse Pöbel- und Sklavenaufstand‘. Nietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokratie (1993). Für Marti bedeutet die politische Theorie Nietzsches auch die Chance, demokratiefeindliche Tendenzen besser kritisieren zu können. „Die Frage ist daher nicht, wie Nietzsche gemeint hat, ob die modernen Menschen als Material für eine Gesellschaft taugen (FW 356), sondern ob sie über die Kraft verfügen, eine politische Gemeinschaft zu begründen und zu verteidigen, die andere Werte kennt als Profit, Konsum und Stammesegoismus.“ (S. 302). Die Gefahr einer solchen, wenn auch sehr umsichtigen Interpretation ist allerdings der ,portable Nietzsche‘.

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„Seid ihr nun vorbereitet? Ihr müßt jeden Grad von Skepsis durchlebt haben und mit Wollust in eiskalten Strömen gebadet haben – sonst habt ihr kein Recht auf diesen Gedanken; ich will mich gegen die Leichtgläubigen und Schwärmerischen wohl wehren! Ich will meinen Gedanken im Voraus vertheidigen! Er soll die Religion der freiesten heitersten und erhabensten Seelen sein – ein lieblicher Wiesengrund zwischen vergoldetem Eise und reinem Himmel!“ (ebd.) Die Wiederkunftslehre ist für Eliten bestimmt. Noch eine der letzten Notizen zur Wiederkunftslehre spricht von einer eigenen Kaste, den „Wiederkünftigen“46.

Was aber, wenn es einen Wiederkunftskommunismus gäbe? „Furcht vor den Folgen der Lehre: die besten Naturen gehen vielleicht daran zu Grunde? Die schlechtesten nehmen sie an?“47 Dagegen hülfe nur ein Manifest der Wiederkunftslehre, das die ,neue Rangordnung‘ (passim, prominent KSA 11, 212: 26[243]) dekretierte, von Nietzsche geplant als abschliessender (vierter) Teil einer Gesamtdarstellung der Wiederkunftslehre: „4. Ihr Platz in der Geschichte, als eine Mitte. Zeit der höchsten Gefahr. Gründung einer Oligarchie über den Völkern und ihren Interessen: Erziehung zu einer allmenschlichen Politik.“48 Die Wiederkunftslehre wird ein Fall für die grosse Politik: ein neuer Stand über den Ständen49, eine durch den züchtigenden Gedanken siegreiche Rasse50 und eine „neue Aufklärung“ für „herrschende Naturen“51 wird qua Wiederkunftslehre generiert. War aus dem ganz privatissime erlebten Wiederkunftsblitz eine kosmische Zwingkraft im Sinne des archimedischen Hebels geworden (,ego fatum‘), musste die politische Ausrichtung ebenso universell werden – „Beherrschung der Menschheit zwecks ihrer Überwindung“52; „Reife der Menschheit für diesen Gedanken“53 – stünde wohl in der Präambel der magna charta einer Planetenregierung, wenn nicht gar über „die ganze Menschheit“ geurteilt und sie „unter Umständen [ . . . ] für ein höheres Gebilde“ ,geopfert‘ würde – dies käme wohl nur den Herrschern der Vereinigten Planeten zu. Das ist schon fast kosmische Politik, die die Menschheit zur Disposition stellt. Im Felde der ewigen Wiederkunft tritt allerdings der Umstand hinzu, dass die Lehre von Anfang an Teil des Gedankens war und dass deshalb schon aus politischen Gründen – wäre sie für die neue Rangordnung untauglich – die Wiederkunftslehre kassiert werden müsste. Am Ende solcher Überlegungen steht das berühmte Lenzer Heide Fragment über den europäischen Nihilismus, welche sich wie Strategien eines Nihilismus- und Wiederkunftspolitikers lesen: Die Schlecht45 46 47 48 49 50 51 52 53

Nietzsche, KSA 9, 573 (Frühjahr – Herbst 1881). Nietzsche, KSA 13, 355: 14[169] (Frühjahr 1888). Nietzsche, KSA 10, 520: 16[63] (Herbst 1883). Nietzsche, KSA 10, 645: 24[4] (Winter 1883 / 84). Nietzsche, KSA 11, 195: 26[173] (Sommer – Herbst 1884). Nietzsche, KSA 11, 250: 26[376] (Sommer – Herbst 1884). Nietzsche, KSA 11, 295: 27[80] (Sommer – Herbst 1884). Nietzsche, KSA 10, 512: 16[41] (Herbst 1883). Nietzsche, KSA 10, 646: 24[7] (Winter 1883 / 84).

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weggekommenen, so Nietzsche, werden „den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv auslöschen, sondern Alles auslöschen machen, was in diesem Grade sinn- und ziellos ist [ . . . ].“54 Die „Mässigsten“ dagegen – „Menschen die ihrer Macht sicher sind“, die keine „extremen Glaubenssätze“ benötigen – sind grosse Menschen, jeder einzelne – „Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft? – “55. Die Umwertung der ewigen Wiederkunft ist hier getan, auch wenn sich auf moralischem und physikalischem Feld die Abwertung der Wiederkunftslehre abgezeichnet hatte. Es ist kein Wunder, wenn der Wille zur Macht die ewige Wiederkunft dann fortführt, wenn der Wiederkunftslehre die Nihilismusbekämpfung und -überwindung allein nicht mehr gelingt – übrig bleibt eine grosse Wiederkunftspolitik, die sich mit eklektizistischer Theorie (Vitalismus, Wille zur Macht, Antiegalitarismus, Experimentalpragmatismus, Heroismus, grosse Politik, Züchtung) und Tatwille folgendermassen kombiniert: „Das Problem des Lebens: als Wille zur Macht. (Zeitweiliges Überwiegen der socialen Werthgefühle begreiflich und nützlich: es handelt sich um die Herstellung eines Unterbaus, auf dem endlich eine stärkere Gattung möglich wird.) Maaßstab der Stärke: unter den umgekehrten Werthschätzungen leben können und sie ewig wieder wollen. Staat und Gesellschaft als Unterbau: weltwirtschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Züchtung.“56

Wie gesehen, bedeutete in der ethischen Nachbereitung des Wiederkunftserlebnisses das Durchleben des Wiederkunftsgedanken das Ende der Wiederkunftslehre: die Psychoanalyse ist vorbei – Zarathustra ist untergegangen. Zudem droht die Unbeweisbarkeit der Lehre als Damoklesschwert über dem kosmischen Ethos der ,Wiederkünftigen‘ zu schweben, sei es als Kritik am Offenbartsein der Wiederkunftslehre57, sei es als Wirkung des Dubitativums „Vielleicht ist er [der Gedanke, M.S.] nicht wahr“58, „Der Gedanke: seine Voraussetzungen, welche wahr sein müßten, wenn er wahr ist“59, sei es, dass sich aus ihm nur eine Müdigkeit ergäbe, in der Formel: „Alles ist gleich, Alles ist leer, Alles war“60. Es fragt sich, ob die vektorisierte Welt die Weltanschauung nicht vektorisiert und die ewige Wiederkunft ein Fall für den Wahrheitsskeptizismus wird. „An Stelle der Grundwahrheiten stelle ich Grundwahrscheinlichkeiten“61 – so würde Nietzsche noch der antipaulinische Lehrer seiner antijesuanischen Botschaft werden: und noch einmal sein erster Apostat, sein erster Luther, sein erster Kritizist und sein erster Nietzsche; 54 55 56 57 58 59 60 61

Nietzsche, KSA 12, 216 f.: 5[71] (Sommer 1886 – Herbst 1887). Nietzsche, ibid., 217. Nietzsche, KSA 12, 339: 9[1] (Herbst 1887). Nietzsche, KSA 9, 496: 11[142] (Frühjahr – Herbst 1881). Nietzsche, KSA 10, 521: 16[63] (Herbst 1883). Nietzsche, KSA 11, 225: 26[284] (Sommer – Herbst 1884). Nietzsche, KSA 10, 586: 19[14] (Herbst 1883). Nietzsche, KSA 10, 643: 24[2] (Winter 1883 / 84).

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Nietzsche wäre in einer Person nicht nur ein Religionsgründer, sondern auch sein erster Reformator und dessen Reformator und dessen Reformator und so weiter, mit der Gefahr allerdings, dass eine kreisförmige Zeit nicht entstünde, sondern nur eine Annäherung an ein Ende. Auch die physikalistischen Spekulationen sind in sich dazu angetan, die Wiederkunftslehre in den Kältetod zu schicken, unter anderem durch die Kritik an der Kausalität62, die die sehr kausale Theorie der Wiederkunftslehre und die kausale Begründbarkeit der Lehre mit hineinzieht. Dies verschärft sich zum radikalen Antinomismus „Wir finden eine Formel, um eine immer wiederkehrende Art der Folge auszudrücken: damit haben wir kein „Gesetz“ entdeckt, noch weniger eine Kraft, welche die Ursache zur Wiederkehr von Folgen ist. Daß etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretirt, als ob ein Wesen in Folge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom „Gesetz“, Freiheit hätte, anders zu handeln“63,

der aber nicht mit der eigentlich benötigten Denkfigur einer coincidentia oppositorum (etwa von höchster Gesetzlosigkeit und höchstem Fatalismus) gekrönt wird. Partikularität („Alle Physik ist nur Symptomatik“64), Stochastik („ein Gegen-Reich zu schaffen d. h. eine Statistik und Werthabschätzung“65) und Hermeneutik („Der organische Prozeß setzt fortwährendes Interpretiren voraus“66) durchdringen zunehmend Nietzsches Kosmos und machen ein Ende mit der kosmischen Gestimmtheit des amor fati: „Man muß das All zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen“67. Zuletzt bleibt die so erdachte Welt zwar in Kraft, doch muss sich Nietzsche auf die Suche nach der verlorenen Lehre machen: „Ich suche eine Weltconception, welche dieser Thatsache gerecht wird: das Werden soll erklärt werden, ohne zu solchen finalen Absichten Zuflucht zu nehmen“68 – kein Wort von der ewigen Wiederkunft. Gefunden zu haben meinte Nietzsche eine Zeit wohl den Willen zur Macht als ,Neue Weltconception‘: „Und wißt ihr auch, was mir „die Welt“ ist? [ . . . ] Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom „Nichts“ umschlossen als von seiner Gränze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo „leer“ wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und „Vieles“, hier 62 63 64 65 66 67 68

So z. B. Nietzsche, KSA 13, 274: 14[98] (Frühjahr 1888). Nietzsche, KSA 12, 137: 2[142] (Herbst 1885 – Herbst 1886). Nietzsche, KSA 11, 147: 25[507] (Frühjahr 1884). Nietzsche, KSA 11, 194: 26[171] (Sommer – Herbst 1884). Nietzsche, KSA 12, 140: 2[148] (Herbst 1885 – Herbst 1886). Nietzsche, KSA 12, 316: 7[62] (Ende 1886 – Frühjahr 1887). Nietzsche, KSA 13, 34: 11[72] (November 1887 – März 1888).

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sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-wider-sprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt –: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniß-Welt der doppelten Wollüste, dieß mein jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat, – wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Räthsel? ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“69

Und nichts ausserdem? Die Wiederkunftswelt, wie sie Nietzsche hier eigentlich beschreibt, wird vollumfänglich durch den Willen zur Macht abgedeckt; da bleibt kein Platz mehr für Wiederkünfteleien – ab hier besitzt die Wiederkunftslehre allerhöchstens noch antiquarischen, bestenfalls politischen, argumentationsstrategischen Wert, mit Lizenz zur Wiederkunft der Wiederkunft. Die Funktion der Wiederkunftslehre reduziert sich ab Juli 1885 auf eine wiedergekommene Wiederkunftslehre, als Souvenir und Vergissmeinicht – Nietzsche appliziert die Kategorie des Unhistorischen, des Vergessen-Könnens der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung auf die ewige Wiederkunft. Er kann sie vergessen und tut es auch, allerdings immer wieder. Die Frage der Periodisierung stellt sich nach dieser Zusammenschau akut. Es ist nach der Durchschau der Nachlässe evident, dass die intensivste Auseinandersetzung mit dem ,grössten Schwergewicht‘ in das Jahr 1881 zu datieren ist, in der Numerierung der KSA ab Band 9, 494. Hier taucht die Vision auf, die Welt, die neue Weise zu leben, die Politik der Rangordnung und sogar ein wiederkunftskritischer Ton ist zu vernehmen. Diese erste Phase der Reflexion ist durchdrungen von dem Wiederkunftserlebnis, wo alle Folgen der neuen Lehre hektisch durchdekliniert werden, bald sind es die anthropologischen, bald die religionsphilosophischen, bald die politischen Implikationen. Der Entschluss zum Studium der Naturwissenschaften ist getragen von dem Enthusiasmus der Vision und dem Durchstehen der Vision. Man kann hier nicht von einer Dominanz des einen Teils über den anderen sprechen. In die Öffentlichkeit gelangen aber die kosmologischen Spekulationen nicht: incipit Zarathustra, dem Werk der Verwandlungen und vollendeten Psychoanalysen, nicht das Werk von Energieerhaltungstheoremata. Mit Zarathustra wird eine Häutung durchlebt, an deren Ende eine Genesung und Gesundung steht oder stehen 69

Nietzsche, KSA 11, 610: 38[12] (Juni – Juli 1885).

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III. Nietzsches Wiederkunftslehre als Kulminationspunkt

soll. Es bleibt der Gedanke der ewigen Wiederkunft in der Gestalt der Lehre übrig, weil er jetzt durchlebt wurde. Die physikalischen Spekulationen sind noch da, aber sie lassen sich nun genauso in den ,Wirkungskreis‘ der Machtwillen einordnen. Die Verwandlungsmacht der Wiederkunft taugte zur Lehre, aber nicht richtig zur Ethik. Die Lehre taugt aber um so besser für Politik, am besten grosse Politik: Nietzsche wendet sich auch in seinen späteren Schriften der Moralkritik zu, wobei diese als Prolegomena der grossen Politik zu gelten haben. Eine neue Phase inauguriert die Herrschaft des Willens zur Macht. Nur selten wird die Wiederkunft noch erwähnt, auffallend wenig im systematischen Zusammenhang zur neuen ,Hauptprosalehre‘. Die Kritik an der Wiederkunftslehre wird bis in das Lenzer Heide Fragment so stark, dass Nietzsche die Wiederkunftslehre auf ihren immanenten Nihilismus abklopft, mit dem Ergebnis, dass die Diagnose der ewigen Wiederkunft nihilismuspositiv lauten muss, trotzdem aber immer noch politisch instrumentalisiert werden kann. Nietzsche verschwendet ab 1887 keinen Gedanken mehr an den Gedanken der Gedanken (nachdem er 1885 ,erledigt‘ wird) und aus der Lehre wird die Leere: eine halb vergessene Erinnerung, die seiner entfesselten Aufklärung und der grossen Politik geopfert wird. Die grosse Retrospektive, Ecce Homo, bringt den Begriff des Amor fati wieder, nachdem der Begriff ab 1882 nicht mehr vorgekommen war, aber nun erscheint die Jasagende Philosophie wie eine Philosophie ohne Wiederkunft; eine Philosophie, die zu dieser Welt ja sagt, auch wenn sie nicht wieder kommt. Und das Jasagen wird verschmolzen mit dem ,Neinthun‘: „Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner Kraft zum Vernichten gemäss ist, – in Beidem gehorche ich meiner dionysischen Natur, welche das Neinthun nicht vom Jasagen zu trennen weiss.“70 Das Jasagen ist Teil der Politik, der Grossen Politik, geworden. Um die spezifische Form der Politisierung der Lehre besser verstehen zu können, genügt es jedoch nicht, nur die reine Politisierung zu konstatieren; dass es zu Neuen Rangordnungen kommen soll, ergibt sich aus der Inhaltsleere des Wiederkunftsendes nicht ohne weiteres. Der Rang und die Ordnung der Rangordnungsvorstellungen, seine ,Kulturpolitik‘ selbst, sollen beim jungen und beim alten Nietzsche beleuchtet sein.

2. Der Hierarchiengedanke beim jungen und alten Nietzsche Die heroische Artistenmetaphysik der Geburt der Tragödie schweigt nicht nur feindselig gegenüber dem Christentum71, sondern schweigt auch, vornehm, gegen die ausgemachte Möglichkeit der Sklaverei, die sich die moderne Kultur nicht einNietzsche, Ecce Homo 4., KSA 6, 366. Wie Nietzsche ex post, Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik (1887), 5., KSA 1, 18, feststellt. 70 71

2. Der Hierarchiengedanke beim jungen und alten Nietzsche

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gestehe72, aber besser einzustehen sei. Die Geburt der Tragödie liest sich wie die Geburt der politischen Tragödie, insofern der Politik eine kulturelle Genesung verschrieben wird, die ganz ausserpolitisch textualisiert wird, aber in die Politik hinein wirken soll – ein offenbar in der Neuzeit beliebtes Verfahren. Die Wiedergeburt der Tragödie löst die Arbeiterfrage durch den totalen Primat der Kultur. Aus dem Bismarck-Reich soll ein Bayreuther System werden. Und Bayreuth soll die Antwort sein auf das Warum des zweiten deutschen Kaiserreichs, der Grund eines durch die Politik Bismarcks, aber dann durch Politik allgemein nicht mehr benennbaren Warums. Nietzsches Erstling antwortet auf den hier vorgefundenen Nihilismus der Politik. Dagegen wird in der aufbrechenden Freigeistphase, nach dem Ende dieser Tragödie, die politische Phantasie hintangestellt, um erst einmal radikale Aufklärung des Menschen über sich selbst – mit Moralkritik und Psychologie bewaffnet – in Gang zu setzen: wobei das Ergebnis eine synthetisch neue nachvoltairische Sklavereivorstellung ergibt, die einerseits das Motiv der Sklaverei durch Freiheit bringt – der Mensch nicht mehr von Natur Sklave (wie bei Aristoteles), sondern aus und durch Freiheit: Freiheit verstanden als Aufgabe, der die modernen Sklaven nicht gewachsen sind – andererseits eine Abstufung und Ausdifferenzierung der Sklaverei: das aber ist die Neue Rangordnung. Es ergibt sich die Problematik der Neuen Rangordnung im Denken Nietzsches aber nicht nur evolutionär, als Ausdifferenzierung eines alten Motivs, sondern auch systematisch. Nach der Begutachtung der Moral wurde diese zum freibeweglichen, in der Beliebigkeit aufgehängtes Koordinatensystem – die Vielzahl an Moralen – rücken in den Blick. Die Frage nach den Beziehungen dieser Moralen untereinander, und weiter: deren Rangordnung entsteht: „Ja man kann fragen: giebt es überhaupt eine Rangordnung der Moralitäten? Giebt es einen Kanon, der über allen waltet, das Sittliche definirt ohne Rücksicht auf Volk, Zeit, Umstände, Erkenntnißgrad? Oder ist eine Ingredienz aller Moralen, der Grad von Anpassung an die Erkenntniß, vielleicht das, was eine Rangordnung der Moralen ermöglicht?“73

72 Die Denkschrift Der griechische Staat (1872) macht der modernen Kultur eine Rechnung auf, die sie nicht begleichen kann. „Wir Neueren haben vor den Griechen zwei Begriffe voraus, die gleichsam als Trostmittel einer durchaus sklavisch sich gebahrenden und dabei das Wort ,Sklave‘ ängstlich scheuenden Welt gegeben sind: wir reden von der ,Würde des Menschen‘ und von der ,Würde der Arbeit‘. Alles quält sich, um ein elendes Leben elend zu perpetuiren; diese furchtbare Noth zwingt zu verzehrender Arbeit, die nun der vom ,Willen‘ verführte Mensch – oder richtiger – menschliche Intellekt gelegentlich als etwas Würdevolles anstaunt.“ (Nietzsche, KSA 1, 764) Sklaverei ist eine Option, wenn man sie nur wahrhaben will. „Solche Phantome, wie die Würde des Menschen, die Würde der Arbeit, sind die dürftigen Erzeugnisse des sich vor sich selbst versteckenden Sklaventhums.“ (Nietzsche, KSA, 1, 765) Die uneingestandene Sklaverei der Moderne ist eine höhere und perfidere Form der Sklaverei und eine verachtenswerte Form der Sklaverei, die das Eingestehen der Existenz von Sklaverei denkmöglich und attraktiv macht – so gesehen ist die antike Sklaverei der modernen Form vorzuziehen, weil sie sozusagen eine redliche, also protestantisch offensichtliche Sklaverei ist. 73 Nietzsche, KSA 9, 21: 1[73] (Anfang 1880).

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III. Nietzsches Wiederkunftslehre als Kulminationspunkt

Die schöne und fröhliche Wissenschaft von der Moral ergab die Transzendierung der Moral, das Jenseits von gut und böse: der Moralismus führt in den Immoralismus, und weiter zu einer Synopsis immoralischer Menschen: Napoleon, Cesare Borgia und wieder das Problem Sokrates und weiter bis zur auf dem makron anthropon basierenden Grossen Politik, in die die Rangordnung der Moralen und die Neue Rangordnung jenseits von gut und böse einmündet. Die Freigeisterei erledigt das Problem der politischen Rangordnung nicht, sondern siedelt es in den Bereich der Moral um. Nach der ätzenden Moralkritik und dem Tod der Moral durch den Tod Gottes wird die politische Rangordnung jedoch herrenlos und schwappt als Problemlage wieder zurück. Zarathustra ist dieser immoralistische Unhold, der zwar ein Johann ohne Land74 ist, aber durch seinen Untergang ein Opferzeichen gibt, das eine Neue Rangordnung von selbst in Gang setzt – Zarathustra ist nur der Künder und Prophet und Täufer des angekündigten Übermenschen, der kommenden schenkenden Tugend, der künftigen Funktion der Ehe, der Alten aber vor allem der Neuen Tafeln, der Neuen Unschuld des Werdens: Zarathustra ist ein grosser Versprecher, der den Menschen einen New Deal nach der Stunde Null bringt; Zarathustra ist ein bisschen ein Politiker, der aber keine Partei und auch keinen Verein gründet, weil sich die Neue Politik nicht in den herkömmlichen Kategorien der Politik beschreiben lässt, ja die Grundlagen dessen, worauf Politik basiert, nichtig zu sein scheinen. Deswegen ist die Rede von der Neuen Rangordnung politischer und implikationöser, als es sich dabei anhört – es geht um ,nachpolitische‘ Politik, in dem der Begriff der Politik verschwunden ist; es geht um nachmoralische Moral, in dem der Begriff der Moral verschwunden ist und es geht um nachmetaphysische Metaphysik, in dem der Begriff der Metaphysik verschwunden ist. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft ist diese nachmetaphysische nachmoralische nachpolitische Politik, Moral und Metaphysik – in der diese Begriffe überwunden sind. Zentrum des Glaubens, der Vision wie der der Lehre, ist die Annahme, dass alles ewig gleich wiederkommt, dieser Gedanke und dieser Satz, „Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im Thorwege, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd – müssen wir nicht Alle schon dagewesen sein? – und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen schaurigen Gasse – müssen wir nicht ewig wiederkommen?“75

ohne damit in klassisch-abendländische, sprich platonische, Denkmuster zurückzufallen zu müssen.

74 Zarathustra liebt wohl die Berge, die Stadt der bunten Kuh, seine Höhle; seine Erde, der treu zu bleiben ist; die Fabel aber handelt vom Untergang, oder besser vom Umgang, vom Itinerar Zarathustras, der ein Wanderer und unstet und flüchtig, nicht sesshaft ist, ein Nachtwandler vielleicht, und wohl nur, wie sein Jünger Nietzsche, poste restante zu erreichen ist. 75 Nietzsche, Zarathustra III (1884), Nr. 2, Vom Gesicht und Räthsel, KSA 4, 200.

3. Die Entwicklungsstufen der Wiederkunftspolitik

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Nach dem Vergilben der Vision, der zunehmenden Unbeweisbarkeit der Lehre und der Routine kategorischer Wiederkunftsmaximen kehrt die Sonne zwar ewig wieder, aber nun ist es vermehrt so, dass die Sonne wiederkommen oder sogar nur wiederkehren soll. Dadurch kommt es zu einer zunehmenden Präskription, die den je und je sich ereignenden Wiederkunftserfolg dubios macht, weil nun imperativisch argumentiert werden muss. Es wird zunehmend von oben dekretiert, dass sich Wiederkunft zu ereignen hat. So wird die schon anfängliche auftretende Rangordnungspolitik noch einmal aktueller und akuter – bei grösserer Unwahrscheinlichkeit der Wiederkunftsfaktizität muss von den faktischen Mächten vermehrt eingesprungen werden; das Ist der Politik ersetzt immer mehr das Ist der Wiederkunft. Je unwägbarer der Imperativ wird, desto mächtiger muss wohl der Imperator werden, der den Imperativ durchdrückt und ihn, kantianisch gesprochen, zum Naturgesetz erhebt. Der alte Nietzsche hat also nicht mehr, wie der junge Nietzsche, das Problem der niederen Stände, der Sklaverei, das sich als Arkanum so oder so ergeben hatte, sondern das Bilden der höheren und höchsten Stände – wenn doch das höchste Ideal, Gott, und damit der höchste Anknüpfungspunkt, vernichtet zu sein scheint. Die Entwicklungsstufen der Wiederkunftspolitik geben Auskunft über Nietzsches Verlangen nach den götterlosen Göttern, nach dem götterlosen Gott, als die er die Lehre der ewigen Wiederkunft verstand. Die ,Neue Rangordnung‘ ist mit der Einführung oder dem Eingestehen von Sklaverei im nationalen oder staatlichen oder gesellschaftlichen Rahmen nicht mehr herstellbar – durch die zuerst historisch-kritische, dann psychologische, dann moralkritische, dann genealogische Analyse wird die Problematik der Rangordnung universell und ist nur noch global und universell zu lösen: das Problem des Nihilismus betrifft alle und kann nicht mehr nur mit Sklaverei gelöst werden. Die ,Neue Rangordnung‘ ist eine Ordnung nach dem Nihilismus, nach der Vollendung des Nihilismus und ist auf der Ebene der ,Menschheit‘ angesiedelt. Nach dem Tod Gottes wiederholt sich die Entwicklung des frühen Nietzsche: die Statik der vollendeten Sklaverei des amor fati weicht einer entwickelteren Dynamik der Sklaverei durch Freiheit: wer den Gedanken in freien Stücken aushalten kann, ist zur Herrschaft berufen, bis dann nach einer Lösung post tenebras lux gesucht wird, die aus dieser Mechanik aussteigen will und Diktatur, vor allem aber grosse politische Spekulation nach sich zieht.

3. Die Entwicklungsstufen der Wiederkunftspolitik An dieser Stelle ist der Genese der anhebenden politischen Spekulation detailliert nachzugehen, wobei, wie gesagt, es sich vielmehr um ein Versiegen aller anderen theoretischen Stränge handelt, bei der die Wiederkunftspolitik, die von Anfang an da ist, gleichsam von selbst übrig bleibt. Deshalb ist es sinnvoll, den einzelnen Okkurenzen im Korpus nachzugehen. Die Vision der Neuen Politik ist die einer Leibpolitik, genauer gesagt einer Einverleibungspolitik, die noch nicht auf Generationen berechnet, sondern noch in-

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III. Nietzsches Wiederkunftslehre als Kulminationspunkt

struktiv ist: hierbei geht es um den eigenen Leib, für den es gilt, Politiker oder Lehrer zu sein.76 Zeitgleich, jenseits der Neuen Leiber und quasi als dialektisches Gegenstück, setzt aber schon die Spekulation über die neue Kaste ein, deren Mitglieder ihren Leib wohl durchpolitisiert haben, aber herakliteisch-spielerisch gestimmt sind: „Es sollen die herrschenden überschauenden Wesen geschaffen werden, die dem Spiel des Lebens zuschauen.“77 Es bilde sich – Erziehung durch Umgang mit viel Geld ( . . . ) – eine „neue regierende Kaste“78. Die Wiederkunftspolitik ist auf Jahrhunderte berechnet, wie das von Nietzsche bewunderte Römische Reich79, sie ist in dieser Frühform der Tagespolitik fremd und kann auf „ihre besten Vertreter“80 warten. Die Lehre „muss langsam einsikkern“81. Es soll die Ewigkeit sein, die gelte82 und die den Zeitgenossen aufs Auge gedrückt wird, gegen den (Tages-)„politischen Wahn“ (ebd.).83 76 „Das neue Schwergewicht: die ewige Wiederkunft. [ . . . ]Wir lehren die Lehre – es ist das stärkste Mittel, sie uns selber einzuverleiben. Unsre Art Seligkeit, als Lehrer der grössten Lehre.“ (Nietzsche, KSA 9, 494: 11[141] (Frühjahr – Herbst 1881)). 77 Nietzsche, KSA 9, 496: 11[145] (Frühjahr – Herbst 1881). 78 „Die neue Erziehung hat zu verhindern, daß die Menschen Einer ausschließlichen Neigung verfallen und zum Organ werden, gegenüber der natürlichen Tendenz zur Arbeitstheilung. Es sollen die herrschenden überschauenden Wesen geschaffen werden, die dem Spiel des Lebens zuschauen und es mitspielen, bald hier, bald dort, ohne allzuheftig hineingerissen zu werden. Ihnen muß schließlich die Macht zufallen, ihnen wird sie anvertraut, weil sie keinen heftigen, ausschließlich auf Ein Ziel gerichteten Gebrauch davon machen. Zunächst giebt man ihnen das Geld in die Hand, zum Zweck der Erziehung (die ersten Erzieher müssen sich selber erziehen!), dann weil Geld in ihren Händen am sichersten ist (überall sonst wird es verbraucht für überheftige einseitige Tendenzen). So bildet sich eine neue regierende Kaste.“ (Nietzsche, KSA 9, 496: 11[145] (Frühjahr – Herbst 1881)). 79 Etwa Nietzsche, Der Antichrist, § 58, KSA 6, 245 f.: „Das imperium Romanum, [ . . . ], sein Bau war berechnet, sich mit Jahrtausenden zu beweisen“. 80 Nietzsche, KSA 9, 497 f.: 11[147] (Frühjahr – Herbst 1881). 81 Nietzsche, KSA 9, 503: 11[158] (Frühjahr – Herbst 1881). 82 Nietzsche, KSA 9, 504: 11[163] (Frühjahr – Herbst 1881). 83 Die Ewigkeit, die Nietzsche meint, ist vor allem die der kleinen Politik gegenüberstehende Ewigkeit. „Der politische Wahn, über den ich eben so lächle, wie die Zeitgenossen über den religiösen Wahn früherer Zeiten, ist vor allem Verweltlichung, Glaube an die Welt und Aus-dem-Sinn-Schlagen von ,Jenseits‘ und ,Hinterwelt‘. Sein Ziel ist das Wohlbefinden des flüchtigen Individuums: weshalb der Socialismus eine Frucht ist, d. h. die flüchtigen Einzelnen wollen ihr Glück sich erobern, durch Vergesellschaftung, sie haben keinen Grund zu warten, wie die Menschen mit ewigen Seelen und ewigem Werden und zukünftigem Besserwerden. Meine Lehre sagt: so leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben ist die Aufgabe – du wirst es jedenfalls! [ . . . ] Es gilt die Ewigkeit!“ (Nietzsche, KSA 9, 504: 11[163] (Frühjahr – Herbst 1881)). „Eine neue Lehre trifft zu allerletzt auf ihre besten Vertreter, auf die altgesicherten und sichernden Naturen, weil in ihnen die früheren Gedanken mit der Fruchtbarkeit eines Urwalds durcheinandergewachsen und undurchdringlich sind. Die Schwächeren Leereren Kränkeren Bedürftigeren sind die, welche die neue Infektion aufnehmen – die ersten Anhänger beweisen nichts gegen eine Lehre.“ (Nietzsche, KSA 9, 497 f.: 11[147]). „Hüten wir uns, eine solche Lehre wie eine plötzliche Religion zu lehren! Sie muß langsam einsickern, ganze Geschlechter müssen an ihr bauen und fruchtbar werden, – damit sie ein großer Baum werde, der all noch kommende Menschheit überschatte. [ . . . ] Für den mächtig-

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Die Frage, ob die Wiederkunftspolitik ein Humanismus sei, muss verneint werden; wer es mit der Ewigkeit zu tun hat, stellt die Menschheit zur Disposition – der einstmals individualpsychologische Ansatz der Lehre wird zum politischen Mittel der Auslese. Der Gattung wird die Psychoanalyse der Wiederkunft verordnet und wer an dieser zugrundegeht, ist ,überwunden‘: „ausgenommen die, welche sie aushalten“84. Das Problem ist dann nur noch, wie man die Lizenz zur Verordnung der bitteren Pille erhält, zur Not – wenn die Legalität ausbleibt – mit legitimem Ausnahmerecht: „Es ist nicht genug, eine Lehre zu bringen: man muß auch noch die Menschen gewaltsam verändern, daß sie dieselbe annehmen! – Das begreift endlich Zarathustra.“85 Das begreift endlich auch Nietzsche. Wenn aber erst in ferner Zukunft die Lehre ihre Kraft und Wahrheit entfaltet, ist die Frage nach der unmittelbaren Wirkung auf die paradoxiensüchtige Jetztzeit ein peinliches Desiderat: Nietzsche muss zum Theologiepolitiker werden, wie dies Paulus mit der Lehre Jesu getan hat, er muss sein eigener Paulus werden86. Welche Steuerungsmittel hat der Jetztpolitiker Nietzsche im taktischen Bereich, wenn ihn, bereits in der Ausarbeitung des Zarathustra, die Furcht „vor den Folgen der Lehre“ befällt: „die besten Naturen gehen vielleicht daran zu Grunde? Die schlechtesten nehmen sie an?“87 Zarathustra ist das Werk der Vorbereitung des ,Gedankens‘: ein politisches Buch, auch das Buch eines Politikers, der eine Blut-Schweiss-und-Tränen-Theorie verkündet, ein Buch, bei dessen Vorbereitung Nietzsche immer wieder darauf reflektiert, wie sich die Wiederkunft an den Mann bringen lässt: „Seine Beruhigung: es läßt sich die Wirkung nicht voraussehn! der größte Gedanke wirkt am langsamsten und spätesten! [ . . . ] Vielleicht ist er nicht wahr: – mögen Andere mit ihm ringen!“88 Der gute Politiker, der Zarathustra wie Nietzsche ist, weiss eben zwischen kurzfristigem Wahlerfolg und langfristiger Wirkung zu unterscheiden; die Wiederkunft ist eingekeilt zwischen der Wiederkunft Jetzt! und der Immerwiesten Gedanken bedarf es vieler Jahrtausende – lange lange muß er klein und ohnmächtig sein!“ (Nietzsche, KSA 9, 503: 11[158]). 84 Nietzsche, KSA 10, 512: 16[41] (Herbst 1883). 85 Nietzsche, KSA 10, 519: 16[60] (Herbst 1883). Sodann: „Beherrschung der Menschheit zum Zweck ihrer Überwindung / Überwindung durch Lehren, an denen sie zu Grunde geht, ausgenommen die, welche sie aushalten.“ (KSA 10, 512: 16[41] (Herbst 1883)) Ebenso: „Es ist nicht genug, eine Lehre zu bringen: man muß auch noch die Menschen gewaltsam verändern, daß sie dieselbe annehmen! – Das begreift endlich Zarathustra.“ (Nietzsche, KSA 10, 519: 16[60] (Herbst 1883)). 86 Vgl. dazu Sommer, Andreas Urs: Friedrich Nietzsches ,Der Antichrist‘. Ein philosophisch-historischer Kommentar (2000), wobei der These, Nietzsche wolle „sein eigener Interpret und Mythologe sein, um dadurch jenem Schicksal vorzubeugen, das Sokrates in der Gestalt des Platon und vor allem Jesus in derjenigen des Paulus ereilt hat: Nämlich umgefälscht zu werden von Epigonen, die völlig entgegengesetzte Interessen verfolgen“ (ibid., S. 156), entgegenzusetzen wäre, dass Nietzsche genügend Selbstfälschung vornimmt, um sein eigener Paulus sein zu können und nicht einen möglichen Paulus damit zu verunmöglichen, siehe auch weiter oben. 87 Nietzsche, KSA 10, 520: 16[63] (Herbst 1883). 88 Nietzsche, ibid.

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der Wiederkunft – dazwischen gilt es zu lavieren. Der „letzte antipolitische Deutsche“, als der sich Nietzsche später geriert89, ist der letzte Deutsche, der Politik im kleinen treiben will – Politik wird gross, sehr gross. Die Wiederkunftspolitik, wie sie der Zarathustra entwickelt, ist der Auferstehungs- und der Pfingstbotschaft analog – das Selbstopfer Zarathustras, Zarathustras Untergang, gibt der Menschheit den Geist, der „über sie“90 kommt. Überhaupt Pfingsten: Nietzsche muss imponiert haben, wie die Zungen alle erfüllten „mit heiligem Geist“ (Apg 2, 4) und eine politische Bewegung inaugurierte, die ihresgleichen sucht: Der Missionsbefehl: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes“ (Mt 28,19) erfolgt zwar durch den Wiederauferstandenen, aber die Perlokution „Nehmt hin den heiligen Geist!“ (Joh 20,22) bleibt für die Jünger so lange ohne Kraft, bis die pfingstlichen Zungen sie tauglich für die Mission machen. Die Vision der Wiederkunft ist Pfingsterlebnis, ein Damaskus ist nur der paulinische und eifersüchtige Nachklang des pseudoapostolischen Erlebnisses. Nietzsche, der Politiker, ist durch Pfingsten herausgefordert: Als theologischer Politiker, als Kerygmatiker, konkurriert Nietzsche mit dem, was im Christentum Pfingsten ist – als politische Sendung der grossen Gestalten des Christentums; Jesus (und der heilige Geist), der die Sendung gibt, die Apostel, die die Sendung nehmen und Paulus, der die Sendung macht – dass daraus dann Institutionen werden, „als Nachwirkungen großer Einzelner und als Mittel, die großen Einzelnen einzusenken und einzuwurzeln – bis endlich Früchte entstehen“91, ist nur das Resultat einer erfolgreich aufgegebenen Sendung, die ihre Empfänger erreicht hat. Die Sendung der Wiederkunft kommt aber aus der Zukunft92, dort, wo auch die zarathustrischen Pfingstfeste93 liegen. „Wer aber der Zukunft Einen Sinn giebt, der bestimmt auch die Eine Deutung des Vergangenen“94: hier deutet sich der ,Triumph des Willens‘ an, wenn schon „Befreiung von der Moral und Erleichterung durch Feste“95 gefeiert werden. 89 „ich, der letzte antipolitische Deutsche“ (KSA 14, 472) ist ein Zitat aus einer möglichen Vorstufe für Ecce Homo 3. (Warum ich so weise bin), die von Elisabeth in die Veröffentlichung (der Grossoktavausgabe) miteingebracht wurde, um den „abgründlichsten Gedanken“, dass Mutter und Schwester der „tiefste Einwand“ gegen die „ewige Wiederkunft“ sind, zu ersetzen, von daher ist nachträgliche Redaktion des Lama zu befürchten. 90 Nietzsche, KSA 10, 523: 16[65] (Herbst 1883). 91 Nietzsche, ibid. 92 „Alles Vergangene ist eine Schrift mit hundert Sinnen und Deutungen und wahrlich! ein Weg zu vielen Zukünften! wer aber der Zukunft Einen Sinn giebt, der bestimmt auch die Eine Deutung des Vergangenen.“ (Nietzsche, KSA 10, 624: 22[3] (Ende 1883)). 93 „Im Theil 4 stirbt Zarathustra, als er den Schmerz seiner Freunde merkt: und sie ihn verlassen. – Aber nach seinem Tode kommt sein Geist über sie. Die Institutionen als Nachwirkungen großer Einzelner und als Mittel, die großen Einzelnen einzusenken und einzuwurzeln – bis endlich Früchte entstehen.“ (Nietzsche, KSA 10, 523: 16[65] (Herbst 1883)). 94 Nietzsche, KSA 10, 624: 22[3] (Ende 1883). 95 „Um schaffen zu können, müssen wir selber uns größere Freiheit geben als je uns gegeben wurde; dazu Befreiung von der Moral und Erleichterung durch Feste (Ahnungen der

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Die Ausarbeitung der Perikopen und Bücher Zarathustras variieren die politische Stossrichtung. Die „Gründung einer Oligarchie über den Völkern und ihren Interessen: Erziehung zu einer allmenschlichen Politik“ erwägt erstmals in politischer Konkretheit eine Art Ephorat über den Völkern, gleichzeitig die politische Instrumentalisierbarkeit der Lehre unabhängig davon, ob sie wahr ist oder nicht. Hier wird von den „muthmaaßliche Folgen davon, daß sie geglaubt wird“96, ausgegangen, so dass eine Folge, insbesondere eine politische Folge der ewigen Wiederkunft bestehenbleibt, auch wenn diese nicht wahr, aber dennoch geglaubt wird – die Folge scheint vor allem eine politische zu werden, da dies jenseits ihres Wahrheitsgehalts geschehen wird: als Prophezeiung. In politicis braucht der Gedanke nur wenig Begründung (deshalb ist die Politik für den Wiederkunftsgedanke so attraktiv), er gewinnt seine Kraft und Gewalt, indem er in den politischen, ungehegten Raum entlassen wird und erhabene Gedanken über den Gang des künftigen Wiederkunftsstreits erlauben. „Der Gedanke der Wiederkunft als auswählendes Princip, im Dienste der Kraft (und Barbarei!!). Reife der Menschheit für diesen Gedanken. Aufklärung darüber, daß es kein Ding an sich und 1) keine Erkenntniß an sich giebt! 2) kein Gut und Böse an sich! 3) kein Ziel und keine Herkunft!“ Der Zuschauer Zarathustra schaut durch eine fünfte Wand in die Zukunft und lacht wie ein Potentat: „Zarathustra lacht, ist glücklich, denn er bringt die große Krisis“97. Jetzt wird der Weg frei für eine radikalisierte Hierarchienlehre, die sich mit derjenigen des Pseudo-Dionysius durchaus messen kann: Moral ist überwunden, (Partei-)Politik ist überwunden, Glaube und Religion ist überwunden, was bleibt – ein neuer Stand, „einen Ordensbund höherer Menschen“98, der aber noch „von NieZukunft! die Zukunft feiern, nicht die Vergangenheit! Den Mythus der Zukunft dichten! In der Hoffnung leben!) Selige Augenblicke! Und dann wieder den Vorhang zuhängen und die Gedanken zu festen, nächsten Zielen wenden!“ (Nietzsche, KSA 10, 602: 21[6] (Herbst 1883)). 96 Nietzsche, KSA 10, 645: 24[4] (Winter 1883 / 84). 97 Nietzsche, KSA 11, 95: 25[322] (Frühjahr 1884). Ebenso in den folgenden Entwürfen: „Die ewige Wiederkunft. / Ein Buch der Prophezeiung. / 1. Darstellung der Lehre und ihrer theoretischen Voraussetzungen und Folgen. / 2. Beweis der Lehre. / 3. Muthmaaßliche Folgen davon, daß sie geglaubt wird (sie bringt Alles zum Aufbrechen) / a) Mittel, sie zu ertragen / b) Mittel, sie zu beseitigen / 4. Ihr Platz in der Geschichte, als eine Mitte. / Zeit der höchsten Gefahr. / Gründung einer Oligarchie über den Völkern und ihren Interessen: Erziehung zu einer allmenschlichen Politik. / Gegenstück des Jesuitismus.“ (Nietzsche, KSA 10, 645: 24[4]); und: „die beiden größten (von Deutschen gefundenen) philosophischen Gesichtspunkte der des Werdens, der Entwicklung der nach dem Werthe des Daseins (aber die erbärmliche Form des deutschen Pessimismus erst zu überwinden!) von mir in entscheidender Weise zusammengebracht alles wird und kehrt ewig wieder – entschlüpfen ist nicht möglich! / Gesetzt, wir könnten den Werth beurtheilen, was folgt daraus? / der Gedanke der Wiederkunft als auswählendes Princip, im Dienste der Kraft (und Barbarei!!) / Reife der Menschheit für diesen Gedanken. Aufklärung darüber, daß es kein Ding an sich und 1) keine Erkenntniß an sich giebt! 2) kein Gut und Böse an sich!. 3) kein Ziel und keine Herkunft!“ (Nietzsche, KSA 10, 646 f.: 24[7] (Winter 1883 / 84)). 98 „Wenn ich mich jetzt nach einer langen freiwilligen Vereinsamung wieder den Menschen zuwende, und wenn ich rufe: wo seid ihr meine Freunde? so geschieht dies um großer

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mandem gehört wird“, um so mehr aber mit der „neuen Rangordnung“ einhergeht. Die Spekulationen über die Neue Rangordnung nehmen in den nachgelassenen Fragmenten breiteren Raum ein und wären es wohl wert gewesen, einem neuen Buch die Struktur zu leihen. „Die neue Rangordnung. / Vorrede zur Philosophie der ewigen Wiederkunft. / Immer strenger fragen: für wen noch schreiben? – Für Vieles von mir Gedachte fand ich keinen reif; und Zarathustra ist ein Beweis daß Einer mit der größten Deutlichkeit reden kann, aber von Niemandem gehört wird. – Ich fühle mich im Gegensatz zur Moral der Gleichheit. / Die Ungleichheit der Menschen / 1. Führer und Heerde. (Bedeutung des Isolirten) / Ironie gegen Moralisten [ . . . ] Die Ungleichheit der Schaffenden / 5. Die Künstler (als die kleinen Vollender) aber in allen Werthschätzungen abhängig. / 6. Die Philosophen (als die Umfänglichsten, die Überblicker, Beschreiber im Großen) (aber in allen Werthschätzungen abhängig), schon sehr viel mißrathener. / [ . . . ] 9. Ein fehlender Typus: der Mensch, welcher am stärksten befiehlt, führt, neue Werthe setzt, am umfänglichsten über die ganze Menschheit urtheilt und Mittel zu ihrer Gestaltung weiß – unter Umständen sie opfernd für ein höheres Gebilde. Erst wenn es eine Regierung der Erde giebt, werden solche Wesen entstehen, wahrscheinlich lange im höchsten Maaße mißrathend. / Die Ungleichheit der höheren Menschen / 10. [ . . . ] Die höchste Kraft, alles Unvollkommene, Leidende als nothwendig (ewig-wiederholenswerth) zu fühlen aus einem Überdrange der schöpferischen Kraft welche immer wieder zerbrechen muß und die übermüthigsten schwersten Wege wählt (Princip der größtmöglichsten Dummheit, Gott als Teufel und ÜbermuthSymbol)“99

Fast scheint das Nichtverstehen- und -hörenwollen der Lehren Zarathustras in Nietzsche eine Enttäuschung hervorzubeschwören, die nach Rache und Willen zur Wirkung schreit – es scheint weniger kosmische Politik mehr möglich, statt dessen bricht ein Führerwille durch. Nietzsche möchte das stählerne Gehäuse des kontemporären politischen ,Systems‘ durchbrechen, weil er in diesem den Grund wittert, der eine adäquate Rezeption der Wiederkunftslehre bislang verhindert hat. Da jede politische Couleur seiner Zeit einer mehr oder minder verwässerten Form des Egalitarismus anhängt (die ,modernen Ideen‘ auch noch bei den preussischen Königen), vermutet Nietzsche hier wohl zurecht seinen Feind, der nicht nur zu analysieren, sondern auch zu bekämpfen ist: mit einer Art Superpolitik und einem Superpolitiker, der „führt, neue Werthe setzt, am umfänglichsten über die ganze Menschheit urtheilt und Mittel zu ihrer Gestaltung weiß – unter Umständen sie opfernd für ein höheres Gebilde.“100 Die Externalisierung des durch den Wiederkunftsgedankens ausbrechenden inneren Wertekonflikts ausdifferenzierter Gesellschaften wird aber nicht im neuzeitlichen Rahmen der Nationalstaaten und ihrer Aussenpolitik, sondern, mangels eines klaren geopolitischen Konzepts bei Nietzsche, rassisch geDinge willen. ich will einen neuen Stand schaffen: einen Ordensbund höherer Menschen, bei denen sich bedrängte Geister und Gewissen Raths erholen können; welche gleich mir nicht nur jenseits der politischen und religiösen Glaubenslehren zu leben wissen, sondern auch die Moral überwunden haben.“ (Nietzsche, KSA 11, 195: 26[173] (Sommer – Herbst 1884)). 99 Nietzsche, KSA 11, 212: 26[243] (Sommer – Herbst 1884). 100 Nietzsche, ibid.

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dacht. „Es ist der große züchtende Gedanke: die Rassen, welche ihn nicht ertragen, sind verurtheilt; die, welche ihn als größte Wohlthat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehn“101. Dies schliesst Kriege nicht aus, sondern explizit ein. „Vielleicht geht die Menschheit daran zu Grunde“102 lautet der immer wiederkehrende Zweifel, den Nietzsche als Triumph über die Nachgeborenen gefühlt hat – ein zweifelhafter Triumph.103 So weit ich sehe, hat einzig Jin-Woo Lee bislang die These vertreten, dass es bei Nietzsche eine Politische Philosophie des Nihilismus gebe, allerdings keine Politische Philosophie im Sinne einer philosophischen Fachdisziplin. Er sagt, dass „Philosophie als ursprüngliche Antwort des Menschen auf das Wesen seines Daseins immer politisch ist.“104 Daraus folgend sieht er die Krisis der Moderne in der Verdrängung des Menschlichen und des Politischen, welche dem „überschwänglichen und gewaltsamen Vernunftraum“ des modernen Subjekts entspringe. „Der Ansatzpunkt für eine Politische Philosophie des Nihilismus liegt im Denken Nietzsches in der Wesenszusammengehörigkeit von Nihilismus und Macht.“105 Der Mensch steht vor der Frage der Macht wie vor der Frage des Nihilismus wie vor der Frage der Politik und zwar ganz unabhängig vom Macht- und Politikmonopol des Staates. „Im nihilistisch durchsetzten Wertpluralismus und in der machtbedingten Dynamisierung des gesellschaftlichen Lebens verliert das Wort politisch seine klare Fixierung auf den Staat“.106 Damit ist der Mensch natürlich wieder ganz anders mit Politik konfrontiert, wenn denn die Übertragung von Politik auf den Staat obsolet geworden ist und der Mensch wieder mit sich selbst, mit seinem Nihilismus allein ist. Dadurch kann Lee die Auswirkung des Nihilismus auf Politische Philosophie klar benennen. Ohne eine transzendente Instanz ist der Mensch ein anderer und wird es immer mehr; ohne transzendente Instanz, nach aller Metaphysik, steht der Mensch vor der Politik wie vor dem Nihilismus und wird gleichzeitig immer politischer und immer nihilistischer. Nietzsche, KSA 11, 250: 26[376] (Sommer – Herbst 1884). Nietzsche, KSA 11, 281: 27[23] (Sommer – Herbst 1884). 103 „Meine Philosophie bringt den siegreichen Gedanken, an welchem zuletzt jede andere Denkweise zu Grunde geht. Es ist der große züchtende Gedanke: die Rassen, welche ihn nicht ertragen, sind verurtheilt; die, welche ihn als größte Wohlthat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehn.“ (Nietzsche, KSA 11, 250: 26[376]). „Zarathustra 3 ,ich gab euch den schwersten Gedanken: vielleicht geht die Menschheit daran zu Grunde, vielleicht erhebt sie sich, dadurch daß die überwundenen lebensfeindlichen Elemente ausscheiden.‘ ,Nicht dem Leben zu zürnen, sondern euch!‘ – Bestimmung des höheren Menschen als des Schaffenden. Organisation der höheren Menschen, Erziehung der zukünftigen Herrschenden als Thema von Zarathustra 3. Eure Übermacht muß ihrer selber froh werden im Herrschen und Gestalten. ,Nicht nur der Mensch auch der Übermensch kehrt ewig wieder!‘“ (Nietzsche, KSA 11, 281: 27[23]) (Sommer – Herbst 1884). 104 Lee, Jin-Woo: Politische Philosophie des Nihilismus: Nietzsches Neubestimmung des Verhältnisses von Politik und Metaphysik (1992). S. 2. 105 Lee, ibid., S. 25. 106 Lee, ibid., S. 211. 101 102

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III. Nietzsches Wiederkunftslehre als Kulminationspunkt

Daraus hat Lee allerdings nicht den Schluss ziehen wollen oder nicht ziehen können, dass Politik etwas mit Nihilismus zu tun habe und Politik daher grundsätzlich unter Nihilismusverdacht zu stehen habe. Statt dessen glaubt er, dass Nietzsche „zur Einsicht [gelange, M.S.], dass der Nihilismus im Grunde der nihilistischen Verfassung des Menschen“ entspringe107. Damit ist das Problem für die Politik, wenn es doch der Mensch sei, der das nihilistische Kapital einbringe, elegant umgangen, allerdings um den Preis einer petitio principii. Dies gründet in einer Tautologie, die sich bei Nietzsche so nicht findet: „Nihilismus ist das Wesen des Menschen, der ,Mensch‘ ist das Wesen des Nihilismus.“108 Die ,Schuld‘ liegt also beim Menschen, die Politik ist freigesprochen. Nun fehlt ja nur noch, wie bei Lee auch geschehen, die Ausrichtung des Menschen an und auf die Politik, damit er „zu sich selbst“ komme: „Wenn die Krisis der modernen Vernunft auch auf die Möglichkeit eines anderen Anfangs hindeutet, bewirkt sie vielleicht eine Umkehr des Menschen zu sich selbst, die ihm dann vielleicht ermöglicht, über sich hinauszugehen und somit den Umschlag von Idiotie zu Politie zu vollziehen.“109 Von Idiotie zu Politie – na dann gute Reise. Es könne der prinzipiell nihilistische Mensch durch etwas Kommunitarismus und ein neoaristotelisches Kommunikationsapriori zu Gemeinsinn gebracht werden: „In seiner Urteilskraft schafft der geistige Mensch den politischen Zwischen-Raum, in dem er eine Verbindung mit den anderen eingeht. Es handelt sich um eine Politik, die die Gegenwart der anderen repräsentativ in die Überlegung über den eigenen Nutzen einlässt und so zu einer gemeinsinnigen Verbindlichkeit gelangt.“110 Durch Nacht zum Licht und vom Nihilismus zur „Politik der Tugend“ – das will Lee aus Nietzsche ausgelesen haben: „In der Politik der Tugend muss der Machtwille sich vom Vergnügen im Namen der absoluten Wahrheit ab und dem Vornehmen der perspektivisch gesetzten Wahrscheinlichkeiten zuwenden. Nietzsches Dämonologik des Politischen führt als Politik der Tugend zur Bejahung der Natur im Menschen und zur Bejahung des Menschen in der Natur“.111 Nietzsche kennt in der Tat jedoch, das ist der ansonsten überaus richtigen Untersuchung Lees entgegenzuhalten, keine ,Dämonologik des Politischen‘, dafür eine sich je und je verschärfende Wiederkunftspolitik. In diese hält schliesslich der Hammer Einzug. Im gleichen Moment, in dem die physikalistischen und ethischen und visionär-kosmischen Begründungen der Wiederkunftslehre schwinden, verschärft sich der Ton des Politikers. Die Folgenlosigkeit der rätselhaften, zarathustrischen Verkündigung bei den Zeitgenossen hat den Verdacht entstehen lassen müssen, dass die Lehre selbst folgenlos ist – denn was liegt daran, wenn alles sowieso wiederkommt – was aber umgekehrt den Schwerpunkt des ,grössten Schwergewichts‘ auf die Beseitigung der Folgenlosigkeit legt: 107 108 109 110 111

Lee, ibid., S. 65. Lee, ibid., S. 81. Lee, ibid., S. 3. Lee, ibid., S. 422 f. Lee, ibid.

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mit anderen Worten: jetzt mussten die Folgen ,gemacht‘ werden, denn damit würde auch die Wahrheit der Lehre, nämlich ihre medusenhafte Schreckhaftigkeit, bewiesen werden können. Die Lizenz zum Kaputtschlagen gehöre „den herrschenden Naturen –“, die, bewaffnet mit der „Lehre der ewigen Wiederkunft als Hammer“112, im ,fünften Teil‘ der Menschengeschichte den Hammer rauslassen, auf das „der Hammer (oder Dionysos)“113 rede. Wenn der Hammer und Dionysos einander gleich oder identisch sind, kann man sich in etwa vorstellen, wie der Hammer sausen und brausen wird, wobei es dann hinterher egal ist, ob der „entscheidende Moment“ bei der Genese der neuen Rangordnung durch die ,Tat‘ der ewigen Wiederkunft und dann im Pogrom („Zerbrecht die Guten und Gerechten!“114) sich vollzieht oder umgekehrt. Nun wäre Nietzsche nicht Nietzsche, wäre der Hammer sein letztes Wort. Es darf zwar nicht übersehen werden, dass er mit dem Hammer geliebäugelt, angebändelt und ihn sogar angefasst hat, aber es folgt doch wieder eine selbstreflektierte Analyse, wie die Geschichte der Wiederkunft auf eine Geschichte des Hammers hinauslaufen konnte – der Nihilismus, als kommendes Phänomen, in dem der Nihilismus und die scheinbare Nihilismusüberwindung der Wiederkunft eingelesen wird, kommt in den Blick. Der Nihilismus der Wiederkunftslehre scheint aber geradezu in ihrem politischen Gehalt zu liegen, es ist der Hammer, auf den die Lehre hinausläuft (aufgrund der theoretischen und praktischen Folgenlosigkeit) und der alles kaputtschlagen will – dies will Nietzsche genauer sehen. Es geht ihm dabei um ein Nacherzählen seiner eigenen Wiederkunftsgeschichte (wie dies in Ecce Homo115 vorgenommen wird), aber auch um das Aufrollen der Wiederkunftslehre von ihrem Ende aus – von ihrer Politik aus – ohne diese Politik zurückzunehmen. Die Geschichte des Nihilismus wird in die Geschichte Europas hineinverdichtet und löst zwar wieder alle Arten von Prognosen aus, aber keine Prophezeiungen mehr – es geht konkret geschichtlich um das heutige und das kommende Europa und der Hammer ist jetzt in den Händen der Schlechtweggekommenen, während die „Mäßigsten“ (Fragment Lenzer Heide) an die ewige Wiederkunft nicht im Nietzsche, KSA 11, 295: 27[80] (Sommer – Herbst 1884). Nietzsche, KSA 11, 485: 34[191] (April – Juni 1885). Der Hammer wird Teil der Politik und der Rangordnung, etwa KSA 11, 430: 34[33] (April – Juni 1885); 11, 443: 34[78]; 11, 484: 34[188]; 11, 487: 34[199]; 12, 109: 2[100] (Herbst 1885 – Herbst 1886); 12, 120: 2[118]: „Der Hammer: als die Lehre, welche die Entscheidung herbeiführt.“ Die Götzendämmerung kann in Form einer instrumentellen Frage gestellt werden: „Wie man mit dem Hammer philosophiert“, eine Frage, die den Zusammenhang von Hybris und Politik noch einmal überdeutlich macht und die Unentrinnbarkeit der Entscheidung ,betreiben‘ soll. „Der Hammer: eine furchtbare Entscheidung heraufbeschwören, Europa vor die Consequenz stellen, ob sein Wille zum Untergang ,will‘.“ (Nietzsche, KSA 12, 132: 2[131] (Herbst 1885 – Herbst 1886)). 114 Nietzsche, KSA 12, 93: 2[71] (Herbst 1885 – Herbst 1887). KSA 11, 295: 27[80] (Sommer – Herbst 1884); KSA 11, 485: 34[191] (April – Juni 1885); KSA 12, 93: 2[71] (Herbst 1885 – Herbst 1886). 115 Nietzsche, Ecce Homo 3, 23; KSA 6, 335. 112 113

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III. Nietzsches Wiederkunftslehre als Kulminationspunkt

Traum denken: „16. Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft?“. Ohne hier auf die Spielarten des Nihilismus116 und die Differenzen zwischen „ewiger Wiederkehr“ (Fragment Lenzer Heide, 6.) und „ewiger Wiederkunft“ (Fragment Lenzer Heide, 14.)117 näher einzugehen, soll doch die Argumentation Nietzsches insofern nachvollzogen werden, als dass es grundsätzlich zwei Nihilismen in der Geschichte gibt, den ersten, ursprünglichen, existentiellen, bei der die Moral eine Art Aufhalter spielt („5. [ . . . ] Die Dauer, mit einem „Umsonst“, ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht ist, sich nicht foppen zu lassen“), und einen zweiten, modernen Nihilismus, der sich durch das Beseitigen dieses Aufhaltens ergibt – der nicht mehr aufgehaltene, moderne Nihilismus ist aber nicht mehr der alte.118 Wiederkunftspolitik wird hier nicht mehr betrieben, vielmehr geht es Vgl. Kuhn, Elisabeth: Artikel Nihilismus. In: Nietzsche Handbuch, (2000). Nietzsche, Fragment Lenzer Heide, KSA 12, 211 f.: 5[71] (Sommer 1886 – Herbst 1887, datiert 10. Juni 1887). „6. Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: „die ewige Wiederkehr“. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das „Sinnlose“) ewig! [ . . . ] 14. Was heißt jetzt ,schlechtweggekommen‘? Vor Allem physiologisch: nicht mehr politisch. Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen Ständen) ist der Boden dieses Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv auslöschen, sondern Alles auslöschen machen, was in diesem Grade sinn- und ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüthen ist bei der Einsicht, daß Alles seit Ewigkeiten da war – auch dieser Moment von Nihilismus und Zerstörungslust. – Der Werth einer solchen Crisis ist, daß sie reinigt, daß sie die verwandten Elemente zusammendrängt und sich an einander verderben macht, daß sie den Menschen entgegengesetzter Denkweisen gemeinsame Aufgaben zuweist – auch unter ihnen die schwächeren, unsichereren ans Licht bringend und so zu einer Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkte der Gesundheit, den Anstoß giebt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen. / 15. Welche werden sich als die Stärksten dabei erweisen? Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze nöthig haben, die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben, die welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Werthes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten – Menschen die ihrer Macht sicher sind, und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentiren. / 16. Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft? – “ Der Begriff der Wiederkehr findet sich in Nietzsches Werk, entgegen landläufiger Ansicht, fast gar nicht und ist lediglich Signifikant des redundant kreisförmigen Sichwiederholens, durchaus „ohne Sinn und Ziel“, während die Wiederkunft das Instantane und im Augenblick (als Thorweg) kulminierende Moment der Ewigkeit im prospectus et retrospectus ex nunc transportiert – und so als wenigstens potentiell gedachte Überwindung des Nihilismus, auch politisch gewendet, fungieren kann. 118 Eine Theorie der untheoretischen Nihilismustheorie bei Nietzsche, eine „Typologisierung“ bringt Ottmann (ibid., S. 342) in Anlehnung an Riedel (Riedel, Manfred: Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften (1978), S. 371 – 411). Kuhn, Elisabeth: Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus (1992), bietet eine Systematisierung der verschiedenen Nihilismen an, die mir zu weit geht, aber nichtsdestotrotz überaus verdienstvoll ist. 116 117

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um eine neutralisierte Wiederkunftssoziologie, die zwar medizinal gefärbt (Gesundheit als Ordnungsfaktor), aber kultursoziologisch („die schwächeren, unsichereren ans Licht bringend“, dadurch „Rangordnung der Kräfte“) verargumentiert ist. Mag sein, dass es nur die Ungesunden sind, die „die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv auslöschen, sondern Alles auslöschen machen, was in diesem Grade sinn- und ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüthen ist bei der Einsicht, daß Alles seit Ewigkeiten da war – auch dieser Moment von Nihilismus und Zerstörungslust“,

mag sein, aber Nietzsche hat diesen ,Ungesunden‘ den Hammer beschafft und es werden Erinnerungen wach an den Louvre-Brand, als Nietzsche zu Burckhardt eilt, den (vermeintlichen) Verlust der Kultur beweinend. Nietzsche hat die ewige Wiederkunft also in den politischen Maelstrom hineingeschrieben und liest ihn hier wieder aus, wohl auf der Seite der „Mäßigsten“. Von der These, dass tatsächlich etwas wiederkommt, hier keine Spur mehr – nur noch die Geschichte des Nihilismus und der Wiederkunft sind übrig geblieben. Wie gesehen, wird das Jasagen im Ecce Homo verkreuzt mit dem Neinthun – das amor fati wird eine Riminiszenz. Das Problem ist nun, dass gegen die Wiederkunftsrevoluzzer nur eine Rangordnung hilft, die ebenfalls durch die Wiederkunftslehre zusammengehalten und auch ermöglicht wird – dieselbe Rangordnung, in der der Nihilismus der Wiederkunft kulminiert. Die Lösung dieses Dilemma heisst noch einmal „Züchtung“: „An Stelle von Metaphysik und Religion die ewige Wiederkunftslehre (diese als Mittel der Züchtung und Auswahl“119, noch einmal „Rangordnung“120, und zum Schluss sogar das Hoffen auf die Wiederkünftigen („Der Nihilismus und sein Gegenbild: die Wiederkünftigen“121). Aber wer soll das sein? Und so scheint das aus sich rollende Rad entrollt zu sein und eine Parusie der ,Wiederkünftigen‘ erhofft werden zu müssen. Es ist kein Wunder, dass Nietzsches Kampf gegen die eigens herbeigeführte Politisierung der Wiederkunftslehre mit Hilfe der Rangordnungspolitik doch nur wieder im Bereich der Politik und der Rangordnung und des Nihilismus verbleibt – die Büchse der Pandora war bereits aufgetan und den Teufel mit dem Beelzebub 119 Nietzsche, KSA 12, 343: 9[8] (Herbst 1887). Ebenso: „Zum Plane. / An Stelle der moralischen Werthe lauter naturalistische Werthe. Vernatürlichung der Moral. An Stelle der ,Sociologie‘ eine Lehre von den Herrschaftsgebilden. An Stelle der ,Erkenntnißtheorie‘ eine Perspektiven-Lehre der Affekte (wozu eine Hierarchie der Affekte gehört). die transfigurirten Affekte: deren höhere Ordnung, deren ,Geistigkeit‘. An Stelle von Metaphysik und Religion die ewige Wiederkunftslehre (diese als Mittel der Züchtung und Auswahl)“. 120 Nietzsche, KSA 12, 491: 10[58] (Herbst 1887 – März 1888). 121 „1. Die wahre und die scheinbare Welt. 2. Der Philosoph als Typus der décadence. 3. Der religiöse Mensch als Typus der décadence. 4. Der gute Mensch als Typus der décadence. 5. Die Gegenbewegung: die Kunst. Problem des Tragischen. 6. Das Heidnische in der Religion. 7. Die Wissenschaft gegen Philosophie. 8. Politica. 9. Kritik der Gegenwart. 10. Der Nihilismus und sein Gegenbild: die Wiederkünftigen. 11. Der Wille zur Macht.“ (Nietzsche, KSA 13, 355: 14[169] (Anfang 1888 – Anfang Januar 1889)).

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III. Nietzsches Wiederkunftslehre als Kulminationspunkt

austreiben, hat trotz einiger Publikationspläne nie das Stadium der Kapitelüberschriften verlassen. Als Nietzsche verstanden hatte, in welche Richtung die Wiederkunftslehre gedriftet war, und wie gut sie sich aus der Decadence der nihilistischen, spätbürgerlichen Kultur auslesen liess, war es aus mit der Wiederkunftslehre, spätestens dann. Aber: Er hatte die Lehre gelehrt, durchlebt, ausgedacht und schliesslich gemacht, um am Schluss all das auch verstanden zu haben. Der Leser und Denker kann dann selbst entscheiden, ob die Wiederkunft wiederkommt, als Versöhnung nach dem Verstandenhaben oder ob die Lehre damit zu Ende ist – dieses Rätsel hat Nietzsche in unserem und in seinem Interesse nicht mehr aufgelöst. Es ist allerdings erstaunlich, dass der hellsichtigen Selbstbespiegelung im Lenzer Heide-Fragment der Antichrist folgt, das Werk der hemmungslosen Auslieferung an die Politik und politischer Gesetze, etwa jenes ,wider das Christentum‘. Auch hier ist die ewige Wiederkunft vermieden, auch hier ist die Neue Rangordnung gewollt und gesollt, auch hier ist das Problem des Nihilismus im Blick, auch hier gibt es einen augenzwinkernden Spassfaktor in der skeptisch-pyrrhonischen Selbstdemontage, wenn man nur gut lesen könne122, aber es ist und bleibt ein Werk für die Vielen, für den Pöbel, der nicht philologisch geschult ist, sondern Nietzsches falsche Münzen für bare nehmen soll – aber eben das ist wieder Politik, unverblümte Politik. Wollte man den Antichrist mit dem amor fati zusammenlesen, würde der Antichrist das Neinthun des Jasagens sein und somit aus Politik und nur aus Politik bestehen – wobei das Jasagen aus nicht mehr viel anderem als aus Jasagen bestünde, also praktisch aus Nichts. Trotz der Masken bei Nietzsche wird bei ihm etwas in nuce, mit nackter Wahrheit, sichtbar, was das Produkt des Protestantismus ist und sich auch mit fröhlicher Wissenschaft, Widerspruchsgedanke etc. nicht kaschieren lässt; das Gesetz wider das Christentum ist das logische Ende des ,Bauernaufstands des Geistes‘, wie es Nietzsche selber diagnostiziert hatte und – incipit tragoedia, jedenfalls die politische Tragödie, die mit dem Antichrist beginnt.

122 Worauf Sommer, Andreas Urs: Friedrich Nietzsches ,Der Antichrist‘. Ein philosophisch-historischer Kommentar (2000), in seiner bahnbrechenden Studie (insbesondere unter Hinweis auf § 54 AC) aufmerksam macht (wobei sehr die Frage ist, ob hier nicht Herrenskeptizismus statt Aufklärungsskeptizismus gepredigt wird). Es macht eben einen Unterschied, ob ein Kopf wie Sommer den Antichrist liest, oder andere dies tun. Eigentlich ist der Antichrist nicht für Gelehrte à la Sommer gedacht, sondern für Täter und es folgen andere Taten aus der Lektüre, wenn Sommer liest (nämlich keine) oder wenn Hitler liest. Dann folgen andere Taten. Nietzsche hatte gefragt, ob man ihn verstanden habe (Nietzsche, Ecce Homo 4., KSA 6, 371) und kein Werk hatte man besser verstanden, als das Fanal gegen das Christentum, wie beispielsweise die ,Schriftenreihe für die weltanschauliche Schulung der Ordnungspolizei‘ beweist. In der Ausgabe 1943 ist es neben dem Juden Karl Marx und der durch das jüdische Freimaurertum angezettelten französische Revolution vor allem der Jude Paulus, der in Gestalt des Christentums das Unglück in die Welt gebracht habe (Browning, Christopher: Ganz normale Männer – Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die hEndlösungi in Polen (1996), S. 236) – eine Interpretation, die von Nietzsche (nicht von Wellhausen) in die politische Welt hineingeworfen wurde.

IV. Politik und Nihilismus – von Anfang an Wie bei Nietzsche gesehen, war es ein untaugliches Mittel, die Politik durch die Politik kurieren zu lassen – der Einzug des Nihilismus in die Wiederkunftslehre konnte nicht dadurch gelindert werden, dass man zurück zum Gefühl und Gedanken und zur Lehre der Wiederkunft ging; jedenfalls kamen entsprechende Pläne Nietzsches wohlweisslich nicht zur Ausführung. Die durchgreifende Politisierung der Lehre konnte nach ihrer Säkularisierung und Umgruppierung in den politischen Raum nicht wieder ungeschehen gemacht werden. Dies wirft allerdings die philosophische Frage nach dem inhärenten Nihilismus der Politik selbst auf. Wir hatten gesehen, dass mit der Politisierung der Lehre ihr Substanzverlust einherging, oder umgekehrt mit ihrem Substanzverlust ein kompensatorischer Wille zur Politik erstand, der bei seiner retrospektiven Analyse im Lenzerheide-Fragment die Wiederkunftslehre selber unter Nihilismusverdacht stellte. Da aber dieser Tatbestand der Synchronizität von Politisierung und zunehmender Inhaltsleere konstatiert werden muss, ist in der Geschichte zurück zu gehen, um diesem Phänomen der Politik nachzudenken. Die Exegese der von Nietzsche vertretenen Ansichten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nicht nur mit den theoretischen Unzulänglichkeiten seiner Lehre haderte und kämpfte, sondern sehr wohl die Bedingungen des Denkens und Ersinnens nachmetaphysischer und nachchristlicher Theoremata überdachte. Insbesondere das Denken ohne jede auch nur versteckteste Form der Teleologie ist gerade das Ferment, aus dem die Redlichkeit seines Denkens erwuchs, und es ist wohl nicht eingestandenes Kennzeichen des sogenannten nachmetaphysischen Denkens, möglichst a- oder antiteleologisch zu denken und die Tradition der Neuzeit zu vollenden. Es ist also im weiteren in der Betrachtung der Politik der teleologischen Komponente Beachtung zu zollen, weil es sich bei Nietzsche erwiesen hatte, dass es gerade die nachmetaphysische Theorie schlechthin: die Lehre von der Wiederkunft, gewesen ist, die aus sich selbst zu einer ungeheuren Politisierung führte. Es ist schon merkwürdig, dass eine Grosstheorie – eine wie auch immer geartete nachmetaphysische, anitmetaphysische, aussermetaphysische Metaphysik – sich politisieren musste und selber nihilistisch wurde, damit aber das Wesen der Politik preisgab, besser und distinkter preisgab, als dies in den Jahrhunderten eines Ordos der Fall war. Und ist nicht in der Notwendigkeit der Politisierung unsere nihilistisch verfasste Welt selber in Augenschein zu nehmen?, ja ist es nicht geradezu das Wesen unseres Nihilismus, dass immer und überall Politisierung ist? Zuletzt: Ist das nicht zugleich ein Indiz für das Wesen der Politik selbst? Ist nicht immer da, wo Politik ist, immer Nihilismus; ist nicht immer da Nihilismus, wo Politik ist? Wenn das das Ergebnis ist, dass Politik Ni-

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IV. Politik und Nihilismus – von Anfang an

hilismus ist, müssen wir allerdings noch einmal über die Bücher und noch einmal von vorn anfangen. Auch wenn es an dieser Stelle systematisch unzulässig ist, möchte doch ein Hinweis auf die Nationalsozialisten und ihr Verständnis von Politik und Antipolitik eingefügt werden. Denn waren sie nicht aufgestanden gegen die ,Politik‘, etwa gegen die ,Quasselbude‘ des ,Weimarer Systems‘, gegen jene liberale Form von Politik, die sich im Parlamentarismus, im Pluralismus zeigt und vermeintlich ungehöriges Durcheinanderschreien zur Methode hat? Wollten die Nazis nicht das Prinzip dieses ,Politischen‘ aushebeln, indem sie das Durcheinanderschreien, dieses vermeintlich Politische ohne Anbindung, ins Absurde trieben? Ist nicht die abgegebene Erklärung, auf legalem Wege die ,Bewegung‘ an die Macht zu bringen, nur das taktische Manöver gewesen, das politische System mit seinen eigenen Mitteln auszuhebeln? Sind nicht alle Begriffe der Nazis – Volk, Rasse, Kampf, Blut, Boden, Braun, etc. – eminent anti- und ausserpolitische Begriffe, Begriffe, mit denen das Politische nicht gesteigert oder verschärft oder intensiviert oder existentiell, sondern aufgehoben werden sollte? Sind nicht alle Regierungsakte der beginnenden nationalsozialistischen Ermächtigung auf die Abschaffung des Politischen berechnet: Ausschaltung aller politischen Gegner, Gleichschaltung der Gewerkschaften, permanente Vertagung des Reichstages, Etablierung eines Führerstaates, Verteilung der Macht nach Massgabe des Zugangs zu den Machthabern, Lagersystem, geheime Staatspolizei, Rechtsetzung nach Führerwort und Führerwille, Sammlung und Konzentration des Volkskörpers1, Oktroyierung eines Arkanum, dem der ,Rasse‘, sichtbar werdend durch die Rassengesetze? Sind diese ,Massnahmen‘ nicht Teil der antipolitischsten Politik, die je versucht wurde? Und wie endete dieser ganz analog zu Nietzsches Angriff auf das Politische? Die ausserpolitische Politik der Nationalsozialisten musste in den Untergang führen, weil das Politische selbst über das Ausserpolitische obenaufkam, aber die ausserpolitischen Politiker dafür nicht empfänglich sein konnten, sondern nur ihre Taten und Rhetorik zu verschärfen in der Lage waren. Nach und nach wurde der Terror immer grösser, mit immer einschneidenderen Verordnungen gegen die Juden2, mit immer weiter gehenden Rechten der Partei, mit immer grösserer Politisierung von Schutzstaffeln, Sicherheitsdiensten, Hitlerjugenden usw.: mit zunehmender Repression. Je ausserpolitischer die Politik gemeint war, desto politischer war ihr Effekt und intensiver wurde die Politik. Der ,Lebensraum im Osten‘ und der Endkampf der Rassen als ausseraussenpolitische Kategorien, ja der Krieg als Krieg, das Antipolitikum schlechthin, war dann die Quintessenz der antipolitischen ,Bewegung‘. Man ersehe, dass das Remedium der Politik nicht Antipolitik sein kann und aus dem Politischen nicht erlöst. Man ersehe aber auch, dass die Politik 1 Hierzu instruktiv Skirl, Miguel: Was sammeln? In: Sommer, Andreas Urs / Winter, Dagmar / Skirl, Miguel: Die Hortung. Eine Philosophie des Sammelns. 2 Detailliert und beklemmend Klemperer, Victor: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 – 1941. (1997).

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offenbar der Erlösung oder Hegung bedürftig ist. Und —— dass Politik als brutum zu ihrer eigenen Annihilation führt. Die Forderung des Tages muss deswegen lauten ad fontes: zurück zum Start. – — *** — Die Genese des Begriffs der Politik war eng verknüpft mit der Genese des Begriffs der politischen Wissenschaft, der Technik der Politik, die sich evolutionär durch die Probleme der Kolonisation, also des griechischen Imperialismus ergab. Auch wenn Politik auf das „Zusammenleben in der Polis, auf die Hegung der Macht, also auf Probleme der Verfassung, Ethik und Erziehung konzentriert [war], dass das Nachdenken über Aussenpolitik und Krieg fast unabhängig daneben stand“3, ist doch die Politik unübersehbar an menschliches Machtstreben geknüpft. Es wäre nur zu schön, würde sich in der Politik das Nachdenken über das mitmenschliche Zusammenleben verbergen; in Tat und Wahrheit ging es bei der Entstehung des Politischen bei den Griechen um vermehrte Steuerungskompetenz einer zerklüfteten Dörfergruppierung (Polis4) zwecks ihrer Expansion; es ging um ein Machen von Expansion, für die man Köpfchen brauchte. Man muss davon ausgehen, dass die Entdeckung der Politik durch das Sich-Wundern über die Politisierung von jedermann entstanden sein kann, also vorgängige Demokratisierungen voraussetzen kann, ein Breitenphänomen des Politischen, das das Nachdenken über Politik, das Zugleich von Handeln und Theorie, notwendig macht. Das ist nur verständlich, wenn man sich den ursprünglichen, griechischen Glauben bewusst macht, der sich um das Verhältnis von Göttern und Sterblichen, vor allem deren Rangunterschied, dreht und in den Oden Pindars formuliert ist. Ottmann schreibt: „Die Götter und das Göttliche sind nah und keineswegs unendlich fern.“5 Der Rangunterschied ist gross aber existentiell nah – die Götter sind hic et nunc – zwar ist Göttlichkeit in der menschlichen Könnerschaft, aber das ist die blitzende Ausnahme einer menschengerechten Schicksalsbescheidung. Das ist das adelige Ethos, das zu Grossem und Ungeheurem fähig macht, in der Regel aber nomoethisch, mit strafenden Göttern, gedacht und gefühlt werden muss, allerdings auch schon früh die rasende Hybris eines Achill und die Existenz von Halbgöttern kennt. Der Niedergang des adeligen Ethos vollzieht sich langsam und hält noch Jahrhunderte, bringt aber schon Gestalten wie Odysseus hervor, den schlauen, mit allen Wassern gewaschenen Ränkeschmied, doch ist mit diesem ersten Politiker Politik noch nicht da, da ist nur ein gewiefter Fuchs, aber keiner, der seine Schliche abstrakt reflektiert; dies könnte man etwa erst mit Solons politischem Denken ansetzen, mit der Entdeckung der „Handlungskausalität“ 6 auch in 3 Meier, Christian: Politik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, (1989), S. 1042. 4 Strauss, Leo: The City and Man (1964), S. 30 f. 5 Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens, Bd. I / 1. Die Griechen. Von Homer bis Sokrates (2001), S. 119. 6 Ottmann, ibid., S. 98.

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politicis, mit der „naturalization in justice“7, mit der Revolution der Denkungsart, wonach der Mensch selber schuld ist, zwar noch gestraft, wenn es um Läsion der hesiodschen Eunomia geht, von Dike, der unentrinnbaren Dike, aber verantwortlich wird der Mensch selbst, selbstverantwortlich, gerade wenn es um die Geschicke der Stadt geht, und das sind Erfahrungen der Phalanx, also der prinzipiellen Politisierung von jedermann im Kampfverband. Solon, der potentielle Potentat, bescheidet sich selbst und bleibt Politiker, „ehrlicher Makler“ vor allem „zwischen den Klassen“8, einer, der die Götter, Zeus und die Eunomia, dazu benutzt, den Menschen in seine Selbstverantwortung zu setzen, ergo die politischen Probleme zwar immer unter Hinweis auf die Götter, aber letztlich ohne Götter anzugehen – das ist eine Frömmigkeit, die, wie das Staatsreligiosentum eines Hobbes, nicht fromm ist. Natürlich ist es einem Politiker, einem Dichter zumal, vorbehalten, die hesiodsche Eunomia „aus ihrem theologischen Zusammenhang“9 zu lösen. Solons Eunomia beginnt noch mit dem Verweis auf die Fürsorge des Zeus und der Pallas Athene, doch beginnt damit gleichzeitig der Kniff der Politiker, eine Präambel zu ersinnen, in der die Götter noch etwas zu suchen haben. Von den Göttern könne Athen nichts geschehen, der „Ruin der Stadt“ komme nicht von Gott oder Hybris, sondern von „grossen Männern“ und „die Knechtschaft des Volkes von seiner Dummheit“ (Solon, Eunomia, 100). Selber schuld, lautet seitdem die Antwort auf die Frage des Niedergangs und es ergiesst sich seitdem der Anwurf der Verantwortlichkeit auf den selbststeuernden Menschen, den Politiker und die selbstgesteuerte Stadt – mit oder ohne Präambel. Zeitgleich wird dem Adel das Monopol über den Kult entzogen, was mit der Einführung einer Präambel zusammenzulesen ist. Und unter dem Deckmantel der Präambel können dann auch die hergebrachten Bindungen über Bord geworfen werden und die Neuordnung der Phylen in Demen statt in Phratrien stattfinden. Die Einführung der Demokratie ging langsam vonstatten; erst mit der Kleisthenischen Reform kommt sie dauerhaft auf den Weg. Stadt-Land-Küste-Durchmischungen werden in seiner Sozialreform eingeführt und führen, wie Aristoteles, Pol 1319b19, anmerkt, zur Auflösung der „vertrauten Bindungen“. „Kleisthenes zwang ihn [den Adel, M.S.] auf die Bühne der Demokratie“10, da es ererbte Klientel für ihn nicht mehr gab. „Aristoteles schreibt dem Kleisthenes noch eine zweite institutionelle Neuerung zu: die Einführung des Ostrakismos, des Scherbengerichts (Ath pol 22,1). Ein Politiker konnte für zehn Jahre in die Verbannung geschickt werden, ohne dadurch seinen Bürgerstatus oder sein Vermögen zu verlieren.“11 Aus unserer Perspektive der Hybris muss man den Ostrakismos als Mittel begreiVlastos, Gregory: Solonian justice (1946), S. 65. Ottmann, ibid., S. 100. 9 Ottmann, ibid., S. 98. 10 Ottmann, ibid., S. 103. 11 Ottmann, ibid., S. 102. 7 8

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fen, Politiker zu disziplinieren, sprich, sie an ihre Hybris zu gewöhnen und in ihnen nicht den Gedanken aufkeimen zu lassen, dass sie einer politiktranszendenten, sozusagen auswärtiger, ausländischer Gewalt untertan wären. Und, des weiteren, begreife man den Ostrakismos als Mittel, das Hamsterrad der Politik am laufen zu halten, um Politikerkonkurrenz in Permanenz zu erzeugen und mit einer recht diesseitigen Strafe für recht diesseitige Politiker zu Politik zu erziehen. Zuletzt, in den Zeiten des Perikles, werden Taggelder für die ärmeren Bürger ausgesetzt, an den politischen Institutionen teilzunehmen. „Offenbar waren sie auch ausreichend, die Politik attraktiv zu machen.“12 Offenbar. Gleichzeitig entsteht die Metapher vom Staatsschiff, eine überaus „erfolgreiche“13 Metapher, die sich erstmals bei Alkaios findet, dann von Theognis übernommen wird, bei Aischylos und Sophokles eine grosse Rolle spielt, bei Platon ein Bild für die Demokratie als verkehrte Ordnung ist, schliesslich von Polybios beschrieben wird und dann von Horaz in seiner „heute gebräuchlichen Bedeutung“14 geprägt worden ist. Ob der Begriff die „gemeinsame Aufgabe, die gemeinsame Anstrengung und das gemeinsame Ziel beschwört“15 oder doch die ,gemeinsame imperialistische Aufgabe‘ meint, ist zu entscheiden, aber es ist doch interessant, dass die plötzliche Gemeinsamkeit eine Allgemeinheit nach sich zieht, die abgelöst zu sein scheint von der Erde und seiner Satzung, die thalassokratische Spurenelemente aufweist und die noch etwas anderes transportiert, die Vorstellung etwa, dass man da nicht mehr so einfach aussteigen kann, dass man gemeinsam, auf Gedeih und Verderb, aufeinander angewiesen ist, dass man im günstigen Fall die Gemeinsamkeit, das Staatsschiff, selber steuern kann, aber im ungünstigen Fall auch gemeinsam dran ist – in dieser Metapher ist schon ein Nachsinnen und eine Versonnenheit über Politik enthalten, die davon zeugt, dass Politik in seinem Vollsinn da ist. Die Geschichte der attischen Demokratie und der Entdeckung der Politik ist eine Geschichte des erwachenden Land-Meer-Gegensatzes, der in der Transformation der regionalen Landmacht Attikas, Athen, in die seegestützte Hegemonialmacht Athen endet. „Später hiess es, Themistokles habe die Athener zu ,Seewesen‘ gemacht – und auf eine solche Wandlung lief es damals wohl hinaus.“16 Doch ist das eine ganz späte Entwicklung, die ihre Vorläufer im 6. und 5. Jahrhundert findet, etwa in der bewussten Inkaufnahme einer persischen Strafexpedition durch die Unterstützung der aufmüpfigen ionischen Städte, und hier macht sich ein Vertrauen auf das nautische Könnensbewusstsein breit, das die Grenzen landlicher Satzungen übersteigt. Herodot berichtet, was auch schlachtentscheidend gewesen sei, dass die 12 13 14 15 16

Ottmann, ibid., S. 104. Ottmann, ibid., S. 64. Ottmann, ibid. Ottmann, ibid. Meier, ibid., S. 18.

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Griechen im Gegensatz zu den Persern, bei Salamis, schwimmen konnten. Das müssen allerdings schon Seewesen gewesen sein. Diese Entwicklung ist eine Fortführung der in der Phalanx gemachten Erfahrung der Solidarität, doch ist die Thetensolidarität natürlich auch eine Verschärfung der Heereskameradschaft, insofern das Aneinandergebundensein und das Nichtaussteigenkönnen ganz andere Disziplin und erweiterte intersubjektive Prozesse erfordert, nebst dem, dass ganz andere kybernetische Fertigkeiten das Könnensbewusstsein unterstreichen – aufs Gemeinwesen übertragen liegt da ein Begriff wie der des Staatsschiffs nahe. Und so thematisieren die griechischen Tragödien nicht von ungefähr den LandMeer-Gegensatz, und die ,Mutter‘ der Tragödien, die Perser des Aischylos, ist ganz und gar von diesem Gegensatz geprägt, geprägt von der neuen Freiheit der Meere, die im Gegensatz steht zur Despotie der (persischen) Landmacht, geprägt vom Frevel an Poseidon, den die Perser begehen, weil sie meinen, auch das Meer noch beherrschen zu können. Wir befinden uns in den Persern in einer verkehrten Welt: Der Dichter Aischylos wirft den Persern vor, die gottgegebene Grenze des Landes übertreten zu haben und sich auf göttliches Territorium hinausbegeben zu haben, in See gestochen zu sein. Die Griechen dagegen scheinen in ihrem Element zu sein; sie scheinen schon die Seewesen aus Natur. Die kunstvoll angelegte Tragödie überblendet jedoch immer wieder Freund und Feind und nimmt eine Perspektivenverschiebung vor, die die Tragödie erst zur Tragödie macht: der Schilderung aus der Sicht der vernichteten Perser und des unterlegenen Xerxes. Die Scharade operiert mit historischen Begebenheiten, die ein bisschen geschummelt sind, bedenkt man, woraus die Armada der Perser bestand – aus verbündeten Ioniern und nicht minder seegewandten Phöniziern –, bedenkt man ferner, dass die Athener erst kurz vorher beschlossen hatten, auf die Schiffe zu gehen und die Landungsstege hinter sich einzuziehen, metaphorisch gesprochen17. Die pädagogische Absicht des Aischylos muss es gewesen sein, die Athener auf der See zu beheimaten (den an den Dionysien anwesenden Bundesgenossen gut sichtbar), denn beheimatet waren sie dort ganz und gar nicht. Der Frevel, auf das eigentlich göttliche, das maritime Element sich zu begeben, dagegen den anderen, sprich den Persern, in die Schuhe zu schieben: – das musste Rückwirkungen auf die politische Grammatik haben, auf die plötzliche Möglichkeit, auch politisch, gegen die Götter, in See zu stechen und das Staatsschiffsteuer selber in die Hand zu bekommen. Und noch in der Antigone des Sophokles gibt es diesen Land-Meer-Gegensatz, der sich noch nicht beruhigt zu haben scheint, und trotz des Ortes der Handlung, Theben, des ganz und gar verlandeten Theben, mitten in Böotien, findet sich die Metapher vom Staatsschiff18 und der Vorstellung des Navigierens des Gemeinwesens, also schon dasjenige, was Politik ist, gerade, wenn es nun einen radikalen Gegenspieler gegen diese Politik gibt, besser gesagt eine Gegenspielerin: Antigone. Sie streut Erde, nicht Asche, auf das Haupt des Bruders, um ihn zu bestatten. 17 18

Vgl. Meier, ibid., S. 89. Verschiedentlich in den Reden des Kreon, Ant. 189, 994, als Anklang 179.

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Sie bringt damit zum Ausdruck, dass die ungeschriebenen Gesetze der Götter Gesetze der Erde sind, die für alle Menschen, für die letztlich doch landtretenden Menschen gelten und auch nicht durch den ersten Kybernauten im Staate gebrochen werden können. Es spielt sich hier ein Drama ab, das Drama der autonomen politischen Steuerungskunst gegen die göttlichen Satzungen, oder vielmehr, das Drama des Nihilismus der Politik. Weder Hegel19 noch Schmitt20 haben den LandMeer-Gegensatz und auch nicht das Drama des Nihilismus der Politik gesehen, und dass es dort einen Zusammenhang gibt, soll hier behauptet sein. Die Absicht des Dichters ist aber auch hier wieder eine pädagogische, nämlich das Recht der Politik dem Recht der Götter zumindest anzugleichen und die Schuld von Kreon und Antigone nicht eindeutig zu verteilen, denn das Prinzip hergebrachte Satzung (Nomos, Familie) und das Prinzip neue Satzung (Politik, Steuerkunst) „sind in wesentlichen Hinsichten richtig, beide sind für die menschliche Gemeinschaft wichtig, aber beide sind verderblich, wenn sie von ihren Voraussetzungen gelöst und ins Extreme gesteigert werden: Dies ist es, was beide Antagonisten unrettbar ins Unglück treibt“21. Es ist eine Tragödie, dass uns dies der Tragödiendichter mitteilen will: Politik und Nomos sind gleichwertig. Die „politischste Tragödie“, die Orestie, ist ein Musterbeispiel der Problematik der Hybris gegenüber den Satzungen, gegenüber dem Göttlichen, eine Geschichte unentwegter Ruchlosigkeit, vor der die Griechen, die Athener vor allem – um hier stellvertretend die politisch-psychologische Wirkung der Tragödie zu diagnostizieren – Angst haben, Angst vor Politik, tierische Angst, panische Angst, eine Angst, die einen anfällt, nicht mehr verlässt und in der Psychose enden kann – ein immerwährender dräuender Untergrund, ein tritonaler basso continuo schiebt sich unter alle Lebenden, eine höllische Traumzeit, eine Kubinsche ,andere Seite‘, eine zwielichtig-medusenhafte Rätselhaftigkeit – ein böser Alb will sein Recht, die Furien sind los und mitten in dieser kollektiv psychotischen Angst bleibt etwas stehen, unverwandt, und das ist der Zuschauer des Psychokriegs, als Prinzip, das die Angst 19 „Der Hauptgegensatz, den besonders Sophokles nach Aischylos’ Vorgang aufs schönste behandelt hat, ist der des Staats, des sittlichen Lebens in seiner geistigen Allgemeinheit, und der Familie als der natürlichen Sittlichkeit. Dies sind die reinsten Mächte der tragischen Darstellung, indem die Harmonie dieser Sphären und das einklangsvolle Handeln innerhalb ihrer Wirklichkeit die vollständige Realität des sittlichen Daseins ausmacht. Ich brauche in dieser Rücksicht nur an Aischylos’ Sieben vor Theben und mehr noch an die Antigone des Sophokles zu erinnern. Antigone ehrt die Bande des Bluts, die unterirdischen Götter, Kreon allein den Zeus, die waltende Macht des öffentlichen Lebens und Gemeinwohls. Auch in der Iphigenia in Aulis sowie in dem Agamemnon, den Choephoren und Eumeniden des Aischylos und in der Elektra des Sophokles finden wir den ähnlichen Konflikt.“ Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik III (1835 ff., 41993), Dritter Teil, Dritter Abschnitt, Drittes Kapitel, C., III., 3., c). (Die konkrete Entwicklung der dramatischen Poesie und ihrer Arten), S. 544. 20 Schmitt, Carl: Land und Meer (1942, 21954, 1981). Dort werden wohl die Perser zitiert, aber der Gegensatz wird nicht auf den Begriff des Politischen übertragen. 21 Raaflaub, Kurt: Politisches Denken im Zeitalter Athens (1988), S. 297.

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brechen und umbetten und auflösen kann – die freie Sicht auf die fremde Angst, das Mitleid mit den von Angst durch und durch Angefallenen, und weiter: es kommt zu der Erfahrung, dass Mitleid und psychotische Angst – zwei eigentlich sich fremde psychopolitische Instanzen –, miteinander zu tun bekommen können, dass Mitleid das Schlottern am ganzen Körper versiegen lassen kann. Und das ist eine Erfahrung, die man im Theater, vorzugsweise mit Historiendramen, macht. Das kann soweit gehen, dass die Psychotherapie durch mitleidsvolle Erhabenheit so erfolgreich ist, dass aus den Erinnyen die Eumeniden, die Wohlmeinenden, werden und aus den seelisch Kranken die happy Bürger. Und auch dieses Ende der Psychotherapie, dies scheint uns der grossartige Denker Aischylos sagen zu wollen, damit alle Psychotherapie überwindend, ist eine Tragödie. Den behandelten Bürgern bleibt diese Tragödie der Tragödie jedoch verborgen; geheilt wie sie sind, befreit von Angst und reif für neue Satzungen und die Politik der athenischen Hegemonie. Die sittenlosen Bürger sind angesichts der Götter und der Tragödie der Schutzflehenden, die eher Schutzerpresserinnen sind, selber unverschämte Schutzflehende, da sie sich der Götterdämmerung schuldig gemacht haben, aber aus der Ferne, im Theater betrachtet, wird ihre Schuldigkeit mit Unschuldigkeit drapiert und ein Fall fürs Mitleid – worauf die Schutzflehenden in reality extra theatrum weiterhin schuldig-unschuldig handeln können, also die Lizenz zur Politik erhalten. Das ist die Wirkung der Bewusstwerdung und der Bewusstmachung der Hybris, wenn es auf dem Theater dargestellt wird. Entschuldigung also, nicht Furcht und Mitleid und auch nicht Schrecken und Mitleid will sie uns zeigen, sondern nur Mitleid, indem sie abgründige Angst zeigt – Angst und Mitleid gibt uns die Tragödie. Und das Aushalten der Hybris der Politik. Das Aushalten der Angst vor den Folgen der schamlosen Politik, und das erwirkt durch die Regung des Mitleids, also einen fast biologischen Affekt mütterlicher und väterlicher Sorge, ein Insgesamt von Gefühlen mütterlichen ,Quivives‘ und väterlich schützender Ritterlichkeit – das ist in der Tat eine Katharsis vergleichbar einer Triebabfuhr, die physisch erlebt werden kann und meines Erachtens haben die Zuschauer die Entstehung der Politik, ihre ungemeine Hybris, noch am eigenen Leib gefühlt, sie haben Politik gefühlt, und zwar kalt den Rücken herunter. Ist die Tragödie dazu da gewesen, „für das mentale Unterfangen der Politik zu sorgen“22 und der Polis, den Bürgern und der Politik einen „Sinnkredit“23 zu gewähren? Und ist die Tragödie gar eine kurzweilige Auszeit, eine angenehme Erschwernis, damit nicht „die Athener sich zu rasch im Politischen erschöpften“24? Ist sie gar eine Verwechselungskomödie, in der die Hamartia, das Versehen, wie Aristoteles meint, zum Programm gehöre, – in der der Held herumstolpere, bis das Schicksal, als dummer Zufall, ,als Dienstbote, als Briefträger, als Kalendermann‘, wieder zuschlage und das ,possirliche Treiben‘ dann doch noch ein Ende habe? 22 23 24

Meier, Christian: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, ibid., S. 52. Meier, ibid. Meier, ibid., S. 53.

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Muss die Tragödie gelobt werden, weil sie die „politische Problematik besonders existentiell“25 mache? Konnten sich die Dichter „viel freier bewegen“, weil sie sich der Problematik von „Polis und Politik im allgemeinen“ annehmen und so den Mythos „wesentlich vom Politischen her neu deuten konnten“, es „also gerade politische Erfahrung und Problematik“ gewesen war, „die eine neue Auffassung des Mythos bedingte“?26 Der Schlüssel für das merkwürdig politisch-ausserpolitische Wesen der Tragödie mag im Genre liegen: „Es konnte in der Tragödie kaum um dezidierte Stellungnahmen zur Tagespolitik gehen. Die politische Funktion der Tragödie lag auf einer anderen, tieferen Ebene. Das attische Theater war Teil des Dionysos-Festes. Die Tragödien unterlagen bestimmten Gesetzen der Form. Jährlich wurden je drei Stücke (mitsamt einem Satyrspiel) von drei Dichtern aufgeführt. Der Archon Eponymos traf die Auswahl unter den Kandidaten, die einen Chor beantragt und dazu gewiß ihre Stücke eingereicht hatten. Ob er allein die drei besten aussuchte und nach welchen Kriterien, wissen wir nicht. Der Archon hatte außerdem die drei Choregen zu bestimmen, die je für einen Dichter die Ausstattung seiner Stücke übernahmen. Alle waren mit mächtigem Ehrgeiz bei der Sache. Große Mittel wurden für die Ausstattung aufgewandt, intensive Vorbereitungen getroffen. Denn es galt, einen Preis zu gewinnen. Eine Jury stellte fest, wer von den dreien der Sieger war. Sie bestand aus zehn Bürgern, die phylenweise aus einer Liste erlost wurden, welche der Rat der 500 aufzustellen hatte. Damit war einerseits eine gewisse Urteilsfähigkeit, andererseits aber wohl auch garantiert, daß es nicht gerade Spezialisten, und schon gar nicht Verfechter bestimmter Richtungen waren, die den Preis verliehen. Außerdem konnten sich die Juroren nur bedingt dem Eindruck der Beifalls- oder Missfallenskundgebungen der Besucher entziehen. Und die Stücke fanden starkes Interesse in der Bürgerschaft wie unter den Fremden. Man hat wohl mit 15 000 oder mehr Zuschauern zu rechnen. Wenn Perikles Schaugelder einführte, so wollte er vermutlich den Armen die Teilnahme erleichtern. Das Interesse breitester Schichten aber war schon vorauszusetzen. Mit all dem war vermacht, daß die Tragödien-Dichter kaum politisch im Sinne innerer Gegensätze Partei nehmen konnten.“27

25 „Wo die Identität einer Gesellschaft politisch ist, ist politische Problematik besonders existentiell. Mit den unerhörten politischen Veränderungen, dem Schritt ins Freie, der Verfügung über die Verfassung ergaben sich schwierigste, elementare Orientierungsprobleme. Eben darum geht es in einem noch lange nicht genug gewürdigten Ausmaß in der attischen Tragödie. Hier, im politischen Denken jenseits aller Parteiungen, lag deren eigentlich politischer, die Bürgerschaft betreffender Gehalt.“ (Meier, ibid., S. 157). 26 Meier, ibid. 27 Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen (1980, 1983), S. 154 f. Später akzentuiert Meier etwas anders: „Es liegt sehr nahe, anzunehmen, daß die Bürger die Tragödien wesentlich auch als Bürger gesehen und gehört haben. Wie es auch wahrscheinlich ist, daß die Tragiker an der Tradition des griechischen Politischen Denkens teilhatten, in der sich weitgehende Unabhängigkeit mit großer Autorität verband. Ihre Werke müssen deswegen im Politischen nicht aufgegangen sein. Und sie müssen übrigens auch keineswegs zu den Fragen der Tagespolitik Stellung genommen haben, eher sollte man mit dem Gegenteil rechnen. Aber es spricht durchaus vieles dafür, daß sie eine politische Funktion hatten [ . . . ].“ (Meier, Christian: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, S. 11).

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Schon Jakob Burckhardt hat darauf hingewiesen, dass man die Tagespolitik mied, weil man sie „fürchtete“: „Auffallend früh und nur in den Anfängen der Tragödie stellt sich der Versuch ein, auf Zeitgeschichte überzugehen. Ein Zeitthema, nämlich die Großtaten Athens im Perserkriege, wahrscheinlich mit Betonung der Verdienste des Themistokles, lag den genannten ,Phönissen‘ des Phrynichos (476 v. Chr.) zugrunde, und der nämliche Dichter hatte schon früher (492) den ,Fall Milets‘ aufführen lassen, wofür ihn die Athener, weil er sie an eigenes Unglück erinnert hatte, um 1000 Drachmen büßten. In der Folge reihten sich diesen Stücken noch die ,Perser‘ und die ,Ätnäerinnen‘ des Äschylos an und sehr viel später, im IV. Jahrhundert, der ,Mausolos‘ des Theodektes, das Gelegenheitsstück eines Rhetors und Tragikers, der sonst mythische Stoffe dramatisierte. Diese Ansätze blieben vereinzelt. Man fürchtete die Zeitgeschichte wohl, weil sie erweislich zu stark wirkte, und der Mythus schloß sein Goldgewölk wieder, nachdem er es kurze Zeit geöffnet. Übrigens ist von dem einzigen dieser zeitgeschichtlichen Dramen, das wir besitzen, den Persern des Äschylos, zu sagen, daß hier die Ferne und das Fremdartige schon annähernd wie das Mythische wirken; d. h. sie gestatten eine ähnliche Befreiung vom Realistisch-Wirklichen; es ist ein frei-fabelhaftes Persien mit einzelnen Zügen aus der genauern persischen Wirklichkeit. Für die Ausschließung der zeitgeschichtlichen Stoffe entschädigte man sich dann freilich in der Folge reichlich dadurch, daß man dauernd nicht nur das patriotische Hochgefühl, sondern die momentanen Tendenzen der attischen Politik hereinzog. Schon Äschylos tönt in den ,Bittflehenden‘ auf den Bund mit Argos, und in den Eumeniden nimmt er deutlich Bezug auf die Frage nach dem Schicksal des Areopags. In wie maßlosen Ausfällen sich Euripides in den Herakliden und in der Andromache über Sparta ergeht, und wie er in den Bittflehenden die Bestattung der Gefallenen durch Theseus gegen die Thebaner erzwungen werden lässt, ist bekannt; Tragiker und Redner brauchten diese Motive um die Wette.“28

Daraus folgt aber nicht notwendig, dass die Tagespolitik „erweislich zu stark wirkte“ und man das „Goldgewölk“ des Dramas nötig hatte. Die Frage bleibt, warum Phrynichos mit 1000 Drachmen unter der fadenscheinigen Begründung gebüsst wurde, weil er ,die Athener‘, wer auch immer das war, an ihr Unglück erinnert habe, wenn das Fehlen der Tagespolitik ein Gesetz des Genres sein soll? Herodot berichtet (Historien VI,2129) von der satten Geldbusse, die der Burckhardt, Jakob: Griechische Kulturgeschichte. Dritter Band (1898 f., 1978), S. 193 f. „Anders die Athener, die auf mannigfache Weise ihrem Schmerz über den Fall Milets Ausdruck gaben. So dichtete Phrynichos ein Drama ,Der Fall Milets‘, und als er es aufführte, weinte das ganze Theater, und Phrynichos musste tausend Drachmen Strafe zahlen, weil er das Unglück ihrer Brüder wieder aufgeführt habe. Niemand durfte das Drama mehr zur Aufführung bringen.“ Herodot, VI, 21. Zitiert nach der Übersetzung Horneffer, Kröner, S. 387. Die Aburteilung des Phrynichos kann sich aber nicht auf das Weinen im Theater bezogen haben, auf die Erregung eines öffentlichen Ärgernisses im Sinne unmässiger Disziplinlosigkeit und der Evozierung von Leidenschaften der Masse – das würde bedeuten, dass im Theater nicht geweint worden wäre und die Läsion Sanktion nach sich zog: eine abwegige Vorstellung – sondern auf die Erregung eines öffentlichen Ärgernisses im politisch unliebsamen Sinne, im Sinne des Niederreissens des Schleiers der athenischen Politik, und es steht zu vermuten, dass die seelisch fortgerissenen Weinenden nach Katastrophe 28 29

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Tragödiendichter für seine Tragödie ,Milets Fall‘ zu entrichten hatte, weil er „eigenes Leid“ erinnert habe und vom gleichzeitigen Verbot, Stoff und Inhalt weiterhin zu „gebrauchen“30, was wohl bedeuten muss, dass die Tragödie eine politische Kunstgattung ist, die aber die Politik nur umtänzeln darf, immer zwar vielfache politische Anspielungen transportiert (die beiden Werke von Meier und Ottmann31 schlüsseln diese meisterhaft auf), aber niemals konkret, politisch konkret werden darf. Damit wird Politik durch die Tragödie selber verhüllt und ergo sakralisiert; die Tragödie ist der Tempelvorhang der Politik, allerdings nach Massgabe der Neuen Herren, nach Massgabe der Politiker. Politik an sich lässt sich selbst beweihräuchern, und die Einbettung der Tragödiendichter in die politische Grammatik der Athener spricht Bände: Der Chorführer, als politisch einflussreicher Mäzen, als poetisch-ästhetischer Rennstallbesitzer, gibt dem Dichter, mit dem er gemeinsam bepreist wird, das Geleit und lässt ihn auftreten an den berühmten Dionysien, einer panhellenischen Feier, bei denen die tributpflichtigen ,Bundesgenossen‘ ihre ,Geschenke‘ öffentlich vor aller Welt darzulegen haben. Zu anfangs jedoch ziehen erst einmal die Kriegswaisen ein und werden, weil volljährig, aus der Obhut des Volkes entlassen, demonstrieren also, dass das Opfer der politisierten Bürger für die Politik der Bürger würdig und recht ist, verleihen also der Politik eine Weihe von Leben und Tod, verhelfen der Politik zu einer Selbstvergewisserung ihrer Autonomie, die bis in den Tod der Bürger reicht. Anschliessend an die Aufführung wird eine Volksversammlung abgehalten, „in der der Ablauf, die Opfer, der Umzug, der Tragödienagon zur Diskussion gestellt wird; sowohl das Handeln des Archon wie alle anderen Vorkommnisse“, immer gemäss des athenisch-demokratischen Prinzips, dass man „Öffentlichkeit und Kontrolle so weit ausdehnte, wie es ging“32. Die Kontrolle des Staates über den Inhalt der ,Bühnenpolitik‘ scheint unvermeidlich gewesen zu sein. Die Tragödien thematisieren also das „urgriechische“ Motiv von „Hybris und Fall“33, aber dies ist ein Motiv, das parallel zu der Genese von Politik zu entwikkeln ist, und an dieser Genese von Politik ist die Tragödie unschuldig-schuldig, die Tragödie als Kassandra, die an dem Unglück, das sie vorhersagt, vielleicht nicht und Katharsis diese Busse nicht erlassen haben, sondern eine deliberative und politische Überlegung dahinterstand. 30 Meier, ibid., S. 76 ff. 31 Meier, ibid.; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. I / 1. Die Griechen. Von Homer bis Sokrates (2001), S. 180 – 211 (Kap. X: Die griechische Tragödie und ihre politische Bedeutung). 32 Meier, ibid., S. 73. Raaflaub, Kurt: Politisches Denken im Zeitalter Athens, ibid., S. 282, nennt die Aufführung der Tragödien einen „politischen Akt“: „Die Aufführungen waren staatlich organisiert und finanziert. Am ersten Tag wurden die Tribute aus dem Seebund in der Orchestra ausgestellt, verdiente Bürger geehrt und die volljährig gewordenen Kriegswaisen mit einer Rüstung ausgestattet und für mündig erklärt. All dies waren bedeutsame politische Handlungen; die Tragödie war damit von vornherein in ein für die Gemeinde wesentliches Bezugssystem hineingestellt, war selbst ein politischer Akt“. 33 Ottmann, ibid., S. 135.

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ganz unschuldig ist. Es ist eben leider nicht so, dass die Politik, die Geburt der Politik, eine Antwort auf gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche oder sonstige Probleme ist, im Gegenteil: die Politik ist das Problem. Das zeigen uns jedenfalls die Tragödien. Sie zeigen uns, dass der Mensch in seinem dunklen Drange des rechten Weges sich nicht bewusst ist, dass er, wenn er sich dann auch noch politischer oder nautischer Steuerungskunst bedient, ungeheuerlich ist. „Vieles ist ungeheuerlich, nichts ungeheurer als der Mensch. Das durchfährt auch die fahle Flut in des reissenden Südsturms Not; das gleitet zwischen den Wogen, die rings sich türmen! Erde selbst, die allerhehrste Gottheit, ewig und nimmer ermüdend, er schwächt sie noch, wenn seine Pflüge von Jahre zu Jahre, wenn seine Rosse sie zerwühlen.“ (Ant. 332 – 341)

Die Land-Meer-Dichotomie und die Ungeheuerlichkeit des Menschen, der seine Rillen an allen Orten hinterlässt: eine brisante Mischung, die nur durch eine noch perfidere Erfindung des Menschen in den Schatten gestellt wird: „den Trieb, die ¨ bersetzung verStaaten zu ordnen“ („6óôõíüìïõò =ñãáò“ ^ Ant. 354 – 355,). Die U deckt die Metapher des Dichters: 6óôõíüìïõò =ñãáò, ^ und sie, 6óôõíüìïõò =ñãÜò, wird erst recht verdeckt durch den Gebrauch bei Pindar, =ñãáé ^ 6óôõíüìïé, den so u¨bersetzten „social dispositions“, oder, was den astynomos betrifft, durch ¨ dilat vergleichbares spa¨tere Substantivierungen, die den 6óôõíüìïõò, ein dem A athenisches Amt innerhalb des Magistrats meint, nein, der Dichter spielt womo¨glich mit dem Literalsinn, mit der Leidenschaft, der Begierde, der Wut, der ,Orgie‘ des Menschen, einen ,Nomos‘, ein Gesetz, eine Verfassung fu¨r das Athenische, fu¨r 6óôõ, fu¨r das Athenische im Universellen, zu finden. Athen und seine politische Ordnung sind ein Fall der menschlichen Leidenschaft, der Ungeheuerlichkeit des Menschen; astynomos ist nicht „protecting the city“, wie Lidell, Scott, Jones u¨bersetzen, auch nicht, in Hinsicht auf die Stelle bei Sophokles „the feeling of social ¨ bersetzung von Jebb „moods that give order to a city“34. life“ oder in der U Im Prometheus ist Zeus, der Wahrer des Rechts durch den Blitz, zu einem Tyrann verkommen und es scheint insinuiert zu werden, dass Zeus selber einer Hybris unterliegt, seine Herrschaft nur auf Kratos und Bia, auf Macht und Gewalt basie34 Lidell, Scott, Jones (LSJ), A Greek-English Lexicon (1940). Interessant in diesem Zusammenhang ist die sonstige Verwendung von astunomos in der Antike. Während es bei Aristoteles gerade einmal anderthalb Stellen sind, in denen von astunomos die Rede ist (Athen, 1,18; Pol 1322a) und auch sonst der Begriff keine grössere Beachtung zu finden scheint (bis auf Aeschylus, Agamemnon, 88; Pindar, Ode N, 9, 28; Isaeus, Reden 1, 15; Demosthenes, Reden 24, 112.), wird er zu einem Zentralbegriff in den Gesetzen des Platon (746b, 759a, 760a, 763cde, 764c, 779b, 794b, 844c, 845e, 847ab, 849ae, 879de, 881c, 913d, 918a, 920b, 936a, 954b).

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ren, so dass Recht und Macht auseinander treten. Da ist die Hybris Athen dagegen gehalten, ein kleines Pausenbrot. Prometheus ist ein erstes Stück guten Gewissens, unterbreitet jedem und allen Politikern und geprägt schon vom Zwang zur Politik. „Später erklärte Demokrit, wer von den Honoratioren sich der Politik entziehe, gerate in schlechten Ruf, ja er habe möglicherweise ,etwas zu erleiden‘, wie wenn sich daraus psychosomatische Konsequenzen ergeben konnten. Perikles meint gar, freilich für die radikale Demokratie seiner Zeit: ,Wir sind die einzigen, die den, der gar nicht an diesen Dingen Anteil nimmt, nicht für einen ungeschäftigen, sondern für einen unnützen Bürger ansehen.‘“35. Auch die göttliche Ordnung ist eine gewordene und die Aufrechterhaltung ein Fall von Politik, und man mag im Geiste Sophokles ergänzen, dass alles was entsteht, erst recht die tyrannische Ordnung des Zeus, auch wert ist, dass es zugrunde geht. Das ist die Lehre des Prometheus und die Lehre der Politik. Die Portierung der tyrannisch-göttlichen Herrschaftstechnik auf das eigene Handeln im Rahmen des Könnensbewusstseins liegt dann auf der Hand und ist in der Hegemonialpolitik vorexerziert worden, meisterhaft beschrieben von Thukydides, der dieselbe Sachlage in der Geschichte Athens auffindet. Die militärisch haushoch überlegenen Athener stehen vor Melos und verargumentieren ihren Imperialismus mit radikal agnostischem Utilitarismus, mit dem Fingerzeig, dass die Bulldozer über die Melier hereinbrächen, wenn sie sich nicht fügten und auch die Götter von den athenischen Truppen niedergewalzt würden: „. . . und handelt nicht wie die vielen, die zwar (zuerst) die Möglichkeiten hatten, sich noch mit Menschenkraft zu retten, aber dann, wenn in Not und Bedrängnis alle sichtbare Hoffnung geschwunden ist, auf die unsichtbare vertrauen: Weissagung, Göttersprüche und dergleichen mehr, was im Gefolge der Hoffnungen ins Verderben führt.“36 Und zum Schluss an die gottergebenen Melier: „Ihr seid also wirklich die einzigen, so scheint es uns nach diesen Entschlüssen, die in der Zukunft mehr Sicherheit erkennen, als in dem, was vor Augen liegt, und die das Verhüllte, allein weil sie es wünschen, als wirklich betrachten.“37 Wie zu sehen: Politik ist überragt vom Politischen, hic et nunc, immer rein gegenwärtig, und die Wissenschaft der Politik rankt sich am Bewusstsein empor, welches Machtgefälle hier und heute besteht; Politiker sind dergestalt unübertrefflich an Geistesgegenwart; für die Menschen, die aus der ,Zukunft‘, aus dem Gottvertrauen, mehr Sicherheit gewinnen, sind sie betriebsblind und hochfahrend, weil sie offenbar eine höhere Stufe des Geistes, eben die politische Stufe, erklommen haben. —*— Nachdem die Infoelite der athenischen Gesellschaft, Sophisten und Dichter, das für das Expandieren notwendige Überhandnehmen der Staatsräson über individuelle Ethik thematisierten und insofern systemaffirmativ optierten, als sie sich zu 35 36 37

Meier, ibid., S. 20. Thukydides, Der peloponnesische Krieg, S. 272. Thukydides, ibid., S. 276.

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Agenten der Bewusstwerdung (wenn auch – hoffentlich – unbewusst) missbrauchen lassen konnten38, reagierte Platon darauf39, dass es so etwas wie Politik überhaupt gibt, etwas, das den nobelsten Athener, Sokrates, mit dieser götterlosen Steuerungskompetenzenagglomeration kollidieren liess. Das Schicksal des Sokrates ist die Vollendung der Geburt und die Ermächtigung der Politik, ausgerechnet gegen den besten Bürger40. Dem braven Soldaten Sokrates konnte all sein couragiertes Engagement für die Sache der Polis nichts helfen, als die Politik der Polis ihn nicht mehr erlaubte. Aus dem Defizit an glaubhaften Göttern heraus den Sokrates, der einen eigenen neuen Gott, sein Daimonion, sein Gewissen, wenigstens dieses, gefunden hatte, zu verurteilen, ist für Sokrates paradox und fatal gewesen, aber es indiziert zugleich das Paradox der sich selbst steuernden Stadt, die als Preis für die Übernahme des Steuers Gott aus der Hand gegeben hat und die Lösung des Sokrates: nach der politischen Bewusstwerdung nun auch die theologisch-individuelle Bewusstwerdung zu vollziehen, nicht mitmachen kann. Platons Antwort auf dieses Dilemma reiht sich nahtlos in die nicht aufzuhaltende Bewusstwerdung der Bewusstwerdung ein, und die platonische Dialektik zielt insgeheim darauf ab, jeweils an der Spitze der Bewusstwerdung zu marschieren, – immer jedoch unter 38 Es ist kein Wunder, dass das früheste Zeugnis des Aufeinanderprallens von Legalität und Legitimität in der ,Antigone‘ aufgearbeitet ist: die Legalität Kreons gegen die Legitimität Antigones und der tragische unlösbare Konflikt, der aber doch bewusster macht, und insofern in Bewusstwerdung aufgelöst werden kann. Das Problem der Legitimität vs. Legalität ist aber das der Politik überhaupt; der Gehorsam, der den Göttern geschuldet ist, steht immer über dem Gehorsam gegenüber den Gesetzen der Polis. Es scheint aber die Dichotomie von Legalität und Legitimität ein bloss legistisches Gegensatzpaar zu sein, das verdunkelt, wie der pietätvolle Götterglaube durch die bewusstwerdende Polis ,eingemauert‘ wird und sich hier vielmehr das Drama des Nihilismus der Politik abspielt. 39 Die Bewusstwerdungsmaschinerie der Sophisten traf offensichtlich auf ein immenses Bedürfnis, wenn wir Platon Glauben schenken dürfen. Das Spektakel, alle „Gesetze und alle Staatsangelegenheiten“ „streitbar“ zu machen, hatte wohl einen ,Prolog im Himmel‘, der sich in der Diatribe wie folgt darstellt: „Fremder: So laß uns denn sehen, worin denn solche Leute sich rühmen, andere streitbar zu machen im Gespräch. Unsere Untersuchung aber gehe von Anfang an so. Zuerst über göttliche Dinge, wie sie den meisten verborgen sind, setzen sie sie doch in Stand sich zu streiten? Theitetos: Gesagt wird das ja von ihnen. Fremder: Und was offenbar ist auf der Erde und am Himmel, auch darüber? Theitetos: Allerdings. Fremder: Aber auch in geselligen Versammlungen, wenn vom Werden und Sein im Allgemeinen gesprochen wird, wissen wir doch, daß sie selbst gewaltig sind im Widersprechen, und daß sie auch die andern tüchtig machen in dem, was sie selbst sind. Theitetos: Auf alle Weise. Fremder: Und über Gesetze und alle Staatsangelegenheiten versprechen sie nicht, sie streitbar zu machen? Theitetos: Niemand würde ja wohl, daß ich es gerade heraussage, mit ihnen reden, wenn sie dies nicht versprächen.“ (Platon, Sophistes, 232b). Deutlicher kann die Geburt der Politik, als Zugleich von entstehendem politischen Bewusstsein und politischer Wissenschaft, beides agnostisch durch und durch, nicht gezeigt werden. 40 Im übrigen wäre hinsichtlich des Nihilismus der Politik zu fragen, ob nicht die Besten der abendländischen Kultur, Sokrates und Jesus, Opfer der Politik sind, vom jüdischen und athenischen Hohen Rat auch noch justizförmig gemordet, und darüber hinaus zu fragen ist, warum die Menschen eben dieses abendländischen Kulturkreises immer noch von Politik berauscht und hingerissen sind?

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dem Vorbehalt, dass die Polis ein höheres Gut durchdringe, welches göttliche Verehrung geniessen solle. Die ersonnene Lösung, aus den Göttern nur noch einen Gott zu machen und aus dem einen Gott ein höchstes Prinzip, ist die Verschärfung in der transzendenten Region als Analogon der Verschärfung der politischen und individuellen Bewusstwerdung, oder anders gesagt: der Entstehung der Politik. Der Aufstieg in der Politeia wird gefolgt von einem Abstieg, um Bewusstwerdung auszugiessen, Bewusstwerdung über das höchste Prinzip, das Prinzip der Gerechtigkeit. Dieses Prinzip hat eine aitiologische Reihe durchlaufen, weshalb ihm als prinzipiierendes Prinzipium quasi Gottescharakter beikommt – damit soll aber der Idealstaat durchdrungen sein und zwar ein Idealstaat, der über die Sophisten und Dichter obenauf kommen kann und daher im geistigen Ringen eine höhere Bewusstseinsstufe erreicht haben muss. Platons späterer Denkweg lief über eine aus der Gerechtigkeit allein zu deduzierende Einheit der Polisverfassung, in der Philosophenkönige den Anschluss an das höchste Gut durch eine (mystische) Schau bewerkstelligen und das aufgefundene Gut hierarchisch distribuieren (Politeia), bis zur neugemachten Einheit der Gesetze (Nomoi), in der die Einsenkung religiöser Überzeugungen Hauptaugenmerk der ,Gesetzeshüter‘ ist. Wie wird das aber gemacht: die politische und gesellschaftliche Neueinbürgerung der göttlichen Substanz?: Die wichtigste Regel: Man betreibe systematischen Ostrakismos der besagten Infoelite, also der Dichterfürsten. Ihre Mimesis konkurrenziert nicht nur die platonisch-künstlich-künstlerische Herbeiführung des gotteskompensatorischen Gerechtigkeitsguts, sondern macht auch zunehmend bewusst und zwar falsch bewusst, was den homogen, uniform, kommunistischen Staatsverband, sagen wir mal, zersetzt: „Aber doch wird er [der Nachbilder, Künstler, M.S.] drauflos nachbilden, ohne zu wissen, wie jedes gut oder schlecht ist, sondern, wie es scheint, was dem Volk und den Unkundigen als schön erscheint, das bildet er nach.“41 Die Dichter, als medial begabte Menschen, als Seher und unendlich empfindliche Seismographen des Entstandenen und Entstehenden, sind keine Aufhalter, sondern Bewusstwerdungsmacher, die zumindest Politik nicht beschränken können, die nicht, gegen Politik, sagen können, was gut im emphatischen Sinne ist. Die Geschichten der Dichter operieren jeweils mit einem Material, das Erfahrungen darstellt und niemals ein kontrafaktisches Gut, meint jedenfalls Platon, hinstellen könne, das vor aller Erfahrung ist und unbedingt gilt. Es geht bei Platon in seinen politischen Empfehlungen immer um den Verlust der Götterbindung: veränderte Umstände evozieren veränderte ,Gesetze‘42, und die Platon, Politeia, 602b. Nirgendwo so radikal wie in den Nomoi offenbart Platon seine eigenen Denkvoraussetzungen, seine eigene Problemlage: „Bewunderungswürdig ist, was man von der Art erzählt, wie Rhadamanthys seine gerichtlichen Entscheidungen fällte. Er sah nämlich, daß die Menschen seiner Zeit von dem Glauben an das Dasein der Götter und ihr leibhaftiges Walten erfüllt waren, wie denn dies auch natürlich war in einer Zeit, in welcher so viele von ihnen selber von Göttern entsprossen waren, zu denen Rhadamanthys selbst gehörte, wie die Sage lautet. Demgemäß scheint er denn nun auch gedacht zu haben, man müsse nicht Menschen die Entscheidung von Rechtssachen anvertrauen, sondern den Göttern selbst, und infolge41 42

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Lösung ist etwas mehr als eine blosse Zivilreligion, die sich damit begnügt zu sagen, in god we trust; die Lösung in den Nomoi ist eine Verfassung, in der zwar nicht mehr die Philosophenkönige regieren43, aber die „göttlichen Männer“44, die den Glauben an Gott vermitteln können, Männer, die gegen die „Gottesleugner“45 die Ordnung im All und die Unsterblichkeit der Seele behaupten und den „Staat der Magneten“ gründen, „oder welchen Namen der Gott ihm verleihen wird“46, die Lösung, die aber leider schon wieder eine politische ist und aus dem Geiste theologischer Ingenieurskunst gebürtig. Platon ist aber am Problem der götterlosen Gesellschaft wenigstens interessiert, nur lenkt er mit seiner Philosophie das Problem in das Feld zurück, aus dem er es geerbt hatte: in die Politik. Damit spielt Platon einer gemachten, gesuchten Theologie und einer ,Verwaltungswissenschaft‘ trübster Couleur in die Hände. —*— Die Eule der Minerva hatte ihren Flug begonnen, als es mit der athenischen Selbstherrlichkeit vorbei war, Aristoteles die Bühne des Denkens betrat und die klassischen Rubrifizierungen der politischen Wissenschaft fand – alles aber schon dessen wurden dieselben von ihm einfach und schnell entschieden. Er ließ nämlich in bezug auf jeden streitigen Punkt die streitenden Parteien einen Eid leisten und machte so den Rechtshändeln rasch und sicher ein Ende. Jetzt aber, wo, wie gesagt, ein Teil der Menschen ganz und gar nicht an Götter glaubt, ein anderer vermeint, daß sie sich nicht um uns bekümmern, und der größte und schlechteste Teil endlich der Ansicht ist, daß sie für kleine Opfer und allerlei kleine Schmeicheleien den Raub großer Schätze begünstigen und vielfach den Übeltätern große Strafe erlassen, bei diesen jetzigen Menschen, sage ich, würde dieser Kunstgriff des Rhadamanthys sehr übel angewendet sein. Vielmehr, da sich die Meinungen der Menschen über die Götter geändert haben, muß man auch veränderte Gesetze geben.“ (Platon, Nomoi, 948 b – d.). 43 So hat man die als eine pragmatische, dem Rechtsstaat nahestehende Schrift lesen können, die sich mit der ,zweitbesten‘ Verfassung (das Gesetz regiert) abgefunden habe und die hochtrabenden Pläne der Politeia nach Platons sizilischen Experimenten beerdigen würde. Dabei wird zumeist übersehen, dass die Staatsform der Nomoi auf eine Theokratie (Nomoi X) hinausläuft. 44 Da Platon den Begriff der Kirche noch nicht hat, entwirft er eine Theokratie, die ihre Legitimität aus einer Hegung des Politischen zieht, insofern vor allem die Hierarchien im Staat von Gotteskenntnis abhängen und eine Autonomie des Politischen damit unterbunden ist: „Der Athener: Gehört es nun aber nicht zu dem Allerwichtigsten, zu wissen, daß es Götter gibt und wie große Macht und Gewalt sie offenbaren, soweit dies überhaupt einem Menschen zu erkennen möglich ist, mit einem Worte alles das zu wissen, was wir vorhin sorgfältig erörtert haben? Muß man es daher nicht der großen Menge der Bürger zwar nachsehen, wenn sie hierin bloß der Stimme des Gesetzes glaubt, denen aber welchen die Bewachung des Staates anvertraut werden soll, dieselbe nicht anvertrauen, wenn sie nicht alle Mühe darauf verwendet haben, sich alles anzueignen, worauf sich der Glaube an Götter gründet? Dieses Nichtanvertrauen aber bestehe darin, daß man niemals jemanden zum Verweser der Gesetze erwähle noch unter die auserlesenen Männer aufnehme, welchen der höchste Preis der Tugend zuzuerkennen ist, der nicht ein göttlicher Mann ist und sich jenes Wissen gründlich erworben hat.“ (Platon, Nomoi, 966c). 45 Platon, ibid., 967a. 46 Platon, ibid., 969a.

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,sous l’œil des macédoniens‘. Seine Philosophie der Ausdifferenzierung muss als eine grosse verkappte Provokation gegen die Reichs- und Königsidee der Mazedonier und, auch, gegen das monolithisch Eleatisch-Pythagoreische des Platon gelesen werden. „Seine praktische Philosophie ist Ethik und Politik ohne Metaphysik. Auch wenn die Abnabelung von der Metaphysik keine totale ist, so hat sie aber doch die Konsequenz, dass es bei Aristoteles keine metaphysisch legitimierten Philosophenkönige, keine unmittelbare Einheit von Theorie und Praxis, keine direkt metaphysische Grundlegung von Ethik und Politik mehr gibt.“47 Das Auseinandernehmen der Dinge korreliert einer Metaphysik, die einen satten Ober-Gott zum unbewegten Beweger deklariert, 55 unterunbewegte Beweger und eine sublunare Welt zur Wahrnehmung freigibt: die Hinordnung des Menschen ist gelockert und indirekt, eine pros-hen-Relation. Das Auseinandernehmen korreliert der Weltsicht, die von Hylemorphismus, von Substanz und Akzidenz geprägt ist, von je und je getrennten Substanzen, die jede für sich je eigene Akzidentien haben, obwohl diese Wirklichkeit von einer ermächtigenden Potenz durchdrungen ist, die Erbschaft der platonischen Idee ist – nur bleibt unklar, wie diese beiden Welten in Deckung zu bringen sind. Das Auseinandernehmen korreliert einer Pluralisierung der Ursachen (causa materialis, formalis, efficiens, finalis), die je und je der Fall sein können. Das Auseinandernehmen korrespondiert einer Dreiteilung des Wissens, theoretisch, praktisch, poietisch, das auf je Unterschiedliches aus ist, Erkennen, Handeln, Produzieren, und menschliches, vor allem aber politisches Handeln von einer Umklammerung durch Metaphysik löst. Das Auseinandernehmen korreliert schliesslich, aber nicht nur schliesslich, einer Topik, die nicht mehr auf eine Idee zusteuert, sondern Argumentationslinien dechiffriert, auch wenn sie noch an der Sache orientiert ist und nicht sophistisch verkürzt werden darf. Aber zusammenzubringen, das, was auseinandergerissen ist, das ist eine Aufgabe, die nach Aristoteles zu einer Sisyphos-Aufgabe wird – das weiss Aristoteles, und vielleicht besteht hierin sein homerisches Gelächter, das er bekanntlich nicht lacht. Sogar das praktische Wissen wird in Ethik und Politik auseinandergerissen und die Ethiken, Eudemische, Nikomachische und Grosse, sind nicht deckungsgleich mit den Lehren aus der ,Politik‘, auch wenn beide „sich auf das oberste Ziel menschlichen Handelns: das Glück [beziehen]“48, aber zumindest doch der Maxime treu, dass das praktische Wissen ein nichtakribisches Wissen im ,Umriss‘ ist, dass Praxis eigene Dignität geniesst und praxiseigene Probleme zeitigt und dass die Unschärfe, das Essayistische der Praxis andere Methoden der Erkenntnis, etwa Annäherung und Aufzählung, Sichtung und Beispiele, aber auch andere ,Anwendung‘ erfordert: Klugheit vor allem. Die Theorie meldet sich aber in dieser selbstgenügenden Praxis immer wieder zurück und hier insbesondere in der Wahl der Lebensformen und in dem vermeintlichen Vorrang des theoretischen Lebens vor politischem und apolaustischem Le47 Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens, Bd. I / 2. Die Griechen. Von Platon bis zum Hellenismus (2001), S. 113. 48 Ottmann, ibid., S. 136.

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ben. Diese Spannung durchzieht die Politik, aber mehr noch die Nikomachische Ethik: In der Politik wird das theoretische Leben als das eines Fremden mitten unter den Bürgern abqualifiziert. Dennoch ist auch diese Lebensform kein Grund zum Entzug bürgerlicher Rechte; umgekehrt sollen sich die anderen, die praktisch veranlagten Menschen, „ihr politisches Leben auch nicht herabwürdigen lassen“. „Ihr Leben ist das ehrenhafte Glück der meisten, die selbstverständliche Normalform bürgerlichen Glücks. Gegenüber der Feier des theoretischen Lebens am Ende der Nikomachischen Ethik (X, 6 – 10) ist dies eine gemässigte Lehre von der Gleichberechtigung der Lebensformen. [ . . . ] In der Politik ist es umgekehrt. Die theoretische Lebensform muss erst noch die Weihe der ,guten Praxis‘ (eupragia) erhalten, damit der Theoretiker sich nicht der Kritik aussetzt, wie ein ,Fremder‘ in der Stadt zu leben und ohne bürgerliche Ehre zu sein.“49 Die Harmonisierung der Spannung von theoretischem und praktischem Leben nach Massgabe der Politik begegnet aber der Schwierigkeit, dass nicht die Politik Aristoteles’ letztes Wort ist und daher nicht die Ethik von der Politik aus zu lesen ist, sondern die Politik (Entstehungszeit 345 – 325 v.Chr.) von der Ethik (335 – 322). Und diese Spannung zwischen vita activa und contemplativa bleibt also bestehen, eine Spannung, die nicht nur durch die Selbstbewusstwerdung der Politik bestimmt ist, sondern auch auf der Ebene des theoretischen Lebens, angekettet an einen Gott des interesselosen Wohlgefallens, sich abspielt. Der Rang des theoretischen Lebens ist schliesslich „bestimmt durch den Rang des theoretischen Erkenntnisvermögens, des Nous. Dieser sei das Göttliche im Menschen, des Menschen bester Teil (X, 7). Bei Aristoteles spiegelt das Leben des Philosophen das Leben des sich selbst denkenden Gottes.“50 Dieselbe Spannung pflanzt sich dann in den Bereich der Tugenden fort, wo Weisheit über Klugheit steht (NE, Buch VI) „Statt nun aber den Logos für den Bereich des Praktischen einfach als das zu zeigen, was er ist, der ,richtige Plan‘ (orthos logos), das Durchdenken, das Sich-Beraten, also kurzum Klugheit, führt Aristoteles auch die theoretischen Erkenntnisweisen vor, insbesondere die bedeutendste, die Weisheit (sophia). Dadurch gerät bereits in das sechste Buch eine Spannung zwischen Klugheit und Weisheit, theoretischem und praktischem Erkenntnisvermögen.“ Dianoetische Tugenden, die des Verstandes (Episteme, Nous, Sophia, Techne / Poiesis, Phronesis), sind dem Ethos des Gefestigten obenauf, aber, geschuldet der durchgängig phänomenologischen Methode, merkwürdig angeklebt. „Das theoretische Leben ist das der Philosophen, und es ist das Leben der Philosophen allein. Aristoteles hat mit Sicherheit nicht gemeint, dass alle Bürger Philosophen werden sollen.“ Dies ist gesagt gegen die „Interpreten, welche die praktische Philosophie des Aristoteles der Metaphysik annähern wollen (Dudley 1982; Kamp 1985; Leo Strauss in seiner Gesamtauffassung von Aristotelischer Philosophie, Schneider 2001, 295 ff.)“ und den „Schluss der Nikomachischen Ethik als einen Beweis dafür [verstehen], dass Aristoteles alles Praktische doch wieder an der Theorie und am Göttlichen orientiert.“51 Es bleibt also, Ottmann gefolgt, bei 49 50

Ottmann, ibid., S. 212. Ottmann, ibid., S. 168.

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einer ,Autonomie‘ des Politischen, ebenso bei einer ,Autonomie‘ der Ethik. Ethik bleibt ein Feld der Praxis. „Was für ein Wissen beansprucht aber der Philosoph, der eine Vorlesung über Ethik hält?“ – „Der Philosoph, der über Ethik liest, hat kein prinzipiell anderes, sondern ein systematisierteres und reflektierteres Wissen. Es ist aber Wissen ein und derselben Art, so dass ohne weiteres auch die Ethik selber als phronetisches Wissen betrachtet werden kann.“52 Dieselbe Problemlage ergibt sich für die Rangfolge der Verfassungen: „Bei den guten Verfassungen lässt sich über ihre Rangordnung streiten. Nach Siegfried (1967) und Kelsen (1964) rangieren Monarchie und Aristokratie vor der Politie, so dass die Reihenfolge im Sechserschema [Monarchie, Aristokratie, Politie, alle gut, zielend auf das bonum commune; Tyrannis, Oligarchie, Demokratie, alle schlecht, je ihre Klientel bevorteilend, M.S.] zugleich die Rangfolge ist. Kelsen verbindet mit dieser Deutung sogar den Versuch, Aristoteles, den Makedonen, zum Anhänger Philipps und Alexanders zu machen. Nach Bien soll es jedoch die Politie sein, die Aristoteles für die beste Verfassung gehalten hat. (31985, 315 ff.)“53. Die Politie entspricht dem Ethos von Mitte und Mass (mesotes) und hat ihr historisches Vorbild möglicherweise in der von Theramenes eingeführten und von Thukydides gelobten Verfassung der ,5000 Bürger‘ (411 v.Chr.), doch reicht die Mitte und das Mass nicht hin, um aus der Politie die beste aller denkbaren Städte zu machen, „so dass sie [die beste Stadt, M.S.] summa summarum am ehesten einer aristokratisch gefärbten Politie zu gleichen scheint“54. Das muss man aber schon mutmassen, da die Anbindung von Praxis an Theorie, ebenso wie die Anbindung der Stadt an ein Ideal (Politik VII-VIII) schleierhaft bleibt und die beste Verfassung in der auf die Politik folgende Nikomachische Ethik der Monarchie (NE VIII, 12 – 13) zuerkannt wird. Die Tugenden von Grosszügigkeit (eleutheriotes), Grossgeartetheit (megaloprepeia) und Grossgesinntheit (megalopsychia) verraten aber schon, trotz aller Betonung der Mitte, eine Anschlussbedürftigkeit der Praxis an eine Wertinstanz, die aus reiner Praxis, auch aus der Mitte, nicht zu bekommen ist. Es bleibt beim Vorzug der Gerechtigkeit, die aber in allerlei Gerechtigkeiten auseinandergenommen ist. Die oberste Gerechtigkeit, iustitia universalis, „bezieht sich auf Güter und Ehren, auf das Nicht-mehr-haben-Wollen, als es einem zusteht“55, aber das ist eine Gerechtigkeit auf der Ebene der Praxis, des Habituellen, des common sense, eine 51 Ottmann, ibid., S. 169 f. Dudley, John: Gott und die Theoria bei Aristoteles. Die metaphysische Grundlage der Nikomachischen Ethik (1982); Kamp, Andreas: Die politische Philosophie des Aristoteles und ihre metaphysischen Grundlagen (1985); Schneider, Wolfgang: ÏÕÓÉÁ und ÅÕÄÁÉÌÏÍÉÁ. Die Verflechtung von Metaphysik und Ethik bei Aristoteles (2001). 52 Ottmann, ibid., S. 160 f. 53 Ottmann, ibid., S. 197. Bien, Günther: Die Grundlegung der politischen Philosophie des Aristoteles (1973, 31985); Kelsen, Hans: Die hellenistisch-makedonische Politik und die Politik des Aristoteles (1933, 1964). 54 Ottmann, ibid., S. 210. 55 Ottmann, ibid., S. 149.

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Ebene von nomikon (das Gesetzliche) und ison (das Gleiche), also keine metaphysische Gerechtigkeit und damit ein Blankoscheck für das Praktische, über das Praktische zu urteilen – dass bei dieser Praxis weniger Praxis herauskommt, weniger Mehr-haben-wollen, kann nur durch eine gelungene Praxis bewiesen werden – ein Zirkel. Ähnliche zirkelverdächtige Reziprozitäten sind bei Aristoteles an allen Orten anzutreffen. Die Freisetzung des Pluralismus etwa kommt einher zwar mit der Orientierung an einem obersten Ziel. „Dieses [ . . . ] oberste Ziel ist die Stadt. Sie ist die höchste Gemeinschaft. Allerdings ist sie dies nicht im Sinne einer die anderen Gemeinschaften aufsaugenden Totalität.“56 Aber die ,Hinordnung‘ auf die Stadt schlägt von seiten der Stadt immer zurück auf die Bürger, da die Stadt nichts anderes als ihre Bürger ist. Der Bürger, der schon im Begriff Bürger der Stadt ist, richtet sich auf die Stadt aus und erhält seine Dignität von der Stadt zurück, denn die Stadt selbst ist für ihn nichts anderes als „die Gesamtheit der Genannten [Bürger, M.S.], die hinreicht, um sich selbst zum Leben zu genügen“ (1275b20), wodurch sich Stadt und Bürger wechselseitig ,verstärken‘. Reziprok ist auch die Verfassung der Stadt, die die Identität der Stadt ausmacht; die Stadt ist ihre Verfassung und: „Für Stadt kann man auch Verfassung, für Verfassung wiederum Bürgerschaft einsetzen. Eine Stadt ist ihre Bürgerschaft . . .“57 Man könnte sogar sagen, dass die Stadt Stadt ist, Verfassung Verfassung und Bürgerschaft Bürgerschaft und alles eins ist. Damit ist nichts gewonnen. Auch die Freundschaft, wenn sie politisch gedacht ist, und das ist sie bei Aristoteles, ist ein Gradmesser der Güte einer Verfassung, welche wiederum ein Gradmesser von Freundschaft ist: „Je schlechter eine Verfassung, um so weniger Freundschaft (und um so niedriger die jeweilige Freundschaftsart). Je besser eine Verfassung ist, um so eher kann sie für die substantielle Freundschaft offen sein.“58 Freundschaft und gute Verfassung stützen sich und das führt in der Konsequenz zu Henne-Ei-Debatten. Dasselbe muss man auch über die Beziehung Individuum – Gemeinschaft sagen, wobei klar ist, dass „das Gemeinwesen Vorrang vor dem Einzelnen [hat]. Das Verhältnis von Stadt und Einzelnem gleicht fast dem von Substanz und Akzidenz.“ Aber die Rangfolge der Gemeinschaft richtet sich doch auch wieder nach der Ermöglichung des individuellen Glücks und ihre Verfassung nach der den Umständen je am besten entsprechenden Glücksermöglichung für möglichst Viele. Das Glück ist nicht akzidentiell, sondern substantiell für die Polis. „Politik ist bei Aristoteles die praktische Philosophie vom Glück der Stadt, so wie die Ethik die praktische Philosophie vom Glück des einzelnen ist.“59 Das mag richtig sein, aber dadurch zeigt sich nur ein neuer Zirkelverdacht, und diesesmal ist davon der aristotelische Begriff von Politik überhaupt betroffen. Ein selbstgenügendes Dasein der Gemeinschaft der politischen Tiere passt gut in das autarke Schema der aristotelischen Polis, ja der aristotelischen Natur selbst (Polis 56 57 58 59

Ottmann, ibid., S. 174. Ottmann, ibid., S. 191. Ottmann, ibid., S. 167. Ottmann, ibid., S. 172.

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als zu den natürlichen Dingen gehörend). Auch wenn der Zweck der Stadt auf das gute Leben der Bürger abzielt60, gilt vice versa: das gute Leben der Bürger befruchtet den Erhalt der Stadt, und es ergibt sich eine gegenseitige Bezweckung der gut Lebenden im Gemeinwesen, welches so eingerichtet ist, dass diese gut leben können, was hinwiederum dem Gemeinwesen der gut Lebenden zugute kommt und alle letztlich prima leben können, jedenfalls die wohlgenährten Besserverdiener der ,Zweidrittelsgesellschaft‘. Die Autarkie der Stadt vergrössert sich beständig, wenn alle das gute, vollkommene Leben leben – und Ziel und Mittel eines Polis-Staates zusammentreffen. Die zirkelverdächtige Wechselseitigkeit macht sich sogar im Menschenbild breit, wenn die berühmte Definition des zoon politikon (Politik, I, 2; 1253a2 – 3) fällt. In Aristoteles Politikuniversum geht es recht natürlich zu und her, weil die Natur der Politik und die Natur der Natur eine Korrelation besitzen61, die Wunder wechselseitig ausschliesst. Da die Natur nichts vergeblich macht, sieht Aristoteles einen direkten Beweis für das politische Wesen des Menschen in dessen Sprachbegabung. Einem Antiutopisten, einem Realisten wie Aristoteles schien die Erklärung Platons, die staatliche Vereinigung sei der Schwäche des Einzelnen zu verdanken, zu dürftig. Die Interessenunterschiede und eine Vielfalt der Regierungsformen als Beweis dafür würden einen solchen Contrat social verhindern. Weil der Mensch ein „von Natur auf die staatliche Gemeinschaft angelegtes Wesen“ ist, verlangen die Menschen, auch wenn sie keiner gegenseitigen Hilfe bedürften, „nichtsdestoweniger nach dem Zusammenleben“ (Politik, 1278b). Gipfel aller Selbstbezüglichkeit und zirkulären Fehlschlüsse ist ,natürlich‘ immer der Hinweis auf die Natur, die sich entfaltet und aus deren Entfaltung man das auslesen kann, was sie eingelesen hatte. Da liegt es mehr als nahe, diese Natur biologisch zu verstehen. „Dass der Mensch ,von Natur aus‘ ein politisches Lebewesen ist, ist gelegentlich in einem biologischen Sinn gedeutet worden. Diese Tendenz findet sich, unterschiedlich stark ausgeprägt, bei Kullmann (1980), Cooper (1990) oder Arnhart (1994).“62 O’Meara hat in der Verdichtung der aristotelischen Anthropologie, Zoo60 „Und mithin muss man behaupten, dass die staatliche Gemeinschaft der tugendhaften Handlungen wegen besteht, und nicht des Zusammenlebens wegen“ (Aristoteles, Politik, 1281). 61 Aristoteles, Politik, 1253a. Aristoteles erklärt das Werden der Staatlichkeit aus der Sicht seiner Entelechie-Lehre über das Werden alles Natürlichen, gleich wie er Entwicklung des Gegenstandes aus Stoff und Form erklärt. Genau deswegen gehört der Staat für ihn „zu den von Natur bestehenden Dingen“. „Darum ist alles staatliche Gemeinwesen von Natur, wenn anders das gleiche von den ersten und ursprünglichen menschlichen Vereinen gilt. Denn die Stadt verhält sich zu ihnen wie das Ziel, nach dem sie streben; das ist aber eben die Natur. Denn die Beschaffenheit, die ein jedes Ding beim Abschluss seiner Entstehung hat, nennen wir die Natur des betreffenden Dinges, sei es nun ein Mensch oder ein Pferd oder ein Haus oder was sonst immer. Auch ist der Zweck und das Ziel das Beste; nun ist aber das Selbstgenügen Ziel und Beste“ (Aristoteles, Politik, 1252b). Dass Naturrechtslehre und Polisauffassung kongruent laufen, betonen u. a. Ritter, Gerhard: Naturrecht bei Aristoteles (1969), S. 133 – 182 und Voegelin, Eric: Das Recht von Natur (1964), S. 38 f. 62 Ottmann, ibid., S. 177. Kullmann, Wolfgang: Der Mensch als politisches Lebewesen bei Aristoteles (1980), S. 419 – 443; Arnhardt, I.: The Darwinian biology of Aristotle’s political

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logie, Ethik und Politik unter Verwendung von Historia animalium I,1, Politik I,2, sowie unterstützend Nikomachische Ethik VIII,12 (1162a15 – 20) und Eudemischen Ethik VII,10 (1242a19–1242b2) ein kohärentes Bild des Menschen als zoon politikon ausfindig gemacht, das er wie folgt beschreibt: „Die Aussage, der Mensch sei von Natur aus ein politisches Lebewesen, darf nicht als eine eigentliche Bestimmung der menschlichen Natur verstanden werden. Es handelt sich vielmehr um eine biologische Einteilung, welche ein Beobachtungsergebnis verschiedener Verhaltensweisen darstellt und weitere Tierarten mit einschliesst. Doch der Mensch kann unter den ,politischen‘ Tierarten als vollkommenster Fall gelten, insofern sein gemeinsames Werk vielfältig ist: es reicht von der Gewährleistung des Lebens bis zur Verwirklichung des guten Lebens, also des eigentlich Menschlichen. Diese vielschichtige Leistung findet sowohl in der Hausgemeinschaft als auch in der Polis statt, obwohl sie sich nur in der Polis in vollkommener Weise vollziehen kann.“63 Von der Natur des Menschen, verstanden als Biologie, auf die Bindungsfähigkeit des Menschen zu schliessen, ist allerdings sehr naturalistisch und nichts als naturalistisch, und dennoch ein Fehlschluss. Gegen den drohenden Nihilismus die Biologie des Menschen ins Feld führen, ist ein bei Aristoteles eingeführtes Verfahren, das auch bei Nietzsche versagt und zu irrigen Vorstellungen der Gesundheit des Leibes als Garant der Nihilismusüberwindung geführt hatte. Gegen den Biologismus stellt Kamp in seiner Ousia-Interpretation der Vermittlung von zoon politikon und zoon logon echon die Polis als einem „normativen“64 Begriff dar, oder wie Sternberger betont: es gehe beim zoon politikon um eine „normativ-teleologische ,Definitionen‘ gemäss der Vollkommenheit“65. Das biologistische Missverständnis resultiert jedoch aus der intendierten Uneindeutigkeit der Begriffe, dem Verschleiern der zirkulären Reziprozität und letztlich aus der Differenz von nicht vollständig in Theorie eingefasster Politik und der Theorie selber. Aristoteles gelingt es zwar, mit seiner Theorie auf der Seite der Politik und der Praxis zu bleiben, aber um den Preis einer möglichen Zirkelgefahr – damit geht er der politischen Grammatik auf den Leim, damit wird er zum Spielball des Systems Politik, zum Agitator der losgelösten politischen Sphäre und damit zeigt sich Politik, über ihr Medium Aristoteles, in ihrer Gestalt. Um Politik zum Sieg zu verhelfen, unternimmt Aristoteles eine Bewusstwerdung über Verfassungsproduktion. Alle Verfassung will er erfassen (nur eine Hierokratie und eine Theokratie ist für ihn nicht diskutabel) und „ein Interpret hat nicht ganz zu Unrecht von ,apothekerhaften Mischungen‘ gesprochen (Erhardt)“66; animals (1994), S. 464 – 485; Cooper, John: Political Animals and Civic Friendship (1990), S. 220 – 241. 63 O’Meara, Dominic: Der Mensch als politisches Lebewesen. Zum Verhältnis zwischen Platon und Aristoteles (1992), S. 15. 64 Kamp, Andreas: Die politische Philosophie des Aristoteles und ihre metaphysischen Grundlagen (1985), S. 88. 65 Sternberger, Dolf: Drei Wurzeln der Politik (1978), S. 96; gemäss Kamp, ibid., S. 88, Fussnote 28.

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sein Ziel (und des von ihm zu belehrenden Staatsmannes) ist nicht eine neue Staatsform, sondern die Reform einer Verfassung, „da die meisten Schriftsteller über Politik, wenn sie auch sonst viel Gutes sagen, doch das praktisch Brauchbare verfehlen. Denn man muss nicht bloß darauf sehen, welches die beste, sondern auch darauf, welche möglich, und ebenso, welche leichter und für alle Gemeinwesen durchgängig entsprechender ist“ (Politik, 1288b). Der Polisbau ist bei Aristoteles ein Handwerk. In dem Kapitel der Politik, wo er die „notwendigen Voraussetzungen“ jedes Staates angeht, wo er Zahl der Bürger, Größe des Landes usw. bestimmt, sagt er: „Denn wie den Werkmeistern, z. B. den Webern und Schiffsbaumeistern, das geeignete Material für ihre Arbeit zu Gebote stehen muss – denn je besser es beschaffen ist, desto besser muss auch die Leistung ihrer Kunst geraten –, ebenso muss auch der Staatsmann und Gesetzgeber das eigentümliche Material für seine Arbeit in der geeigneten Beschaffenheit zur Verfügung haben. Bei der Ausstattung eines Staates [einer Polis, M.S.] kommt aber an erster Stelle in Betracht, wie viele und was für Leute er nach der Natur der Sache notwendig braucht, und imgleichen, welche Größe und Beschaffenheit das zu ihm gehörige Land haben muss“ (Politik, 1325b). Der Politiker Aristoteles kann nicht anders als praktisch vernünftig sein im Sinne des common sense. Es reicht jedoch nicht, die handwerkliche Produktion der Verfassung den Bürgern bewusst zu machen; Erziehung wird nötig, um auch das Leben in Politik einzusenken. Die Erziehung sorgt für die Erhaltung des natürlichen politischen Wesens im Menschen und dadurch für die Erhaltung der Polis. „Das Wichtigste aber für den dauernden Bestand der Staatsform, wichtiger als alles bis jetzt Angeführte ( . . . ), ist eine der Verfassung angemessenen Erziehung“ (Politik, 1310a), „da die Staaten im Einklang mit ihrer jeweiligen Verfassung verwaltet werden müssen“ (Politik, 1337a). Er fordert deshalb eine schulische Erziehung: „Da aber die ganze Polis nur einen Zweck hat, so muss zweifellos auch die Erziehung eine und dieselbe für alle und die Sorge für sie eine gemeinsame sein, keine private . . .“ (Politik, 1337a). Die Frage nach dem Kitt der Gesellschaft, nach dem Ethos der Gemeinde, nach dem Göttlichen im Zusammenleben, nach dem Wofür jenseits des guten Lebens, nach politischer Teleologie und Theologie stellt sich so oder so. Die Antwort Aristoteles lautet: in sich. In sich kreisen die Zwecke, am durchschlagendsten am Beispiel des Musiktreibens veranschaulicht: der Zweck der Musik ist in sich; ihre Praxis ist ihr Ziel. Der Begriff der Autarkie, das, was in der Systemtheorie die Autopoiesis, das selbstreferentielle System heisst, reiht sich nahtlos in diese Theorematastrategie ein, und noch in der Politik ist der Zweck der Polis nahezu in sich. So kann aus dem systematischen Problem der Teleologie und dem Zweck der Polis die profane Selbsterhaltung, systemisch gedacht, folgen. Solange Selbsterhaltung funktioniert, wird die mangelnde göttliche Legitimation nicht bewusst; erst im Moment des Umsturzes erinnert man sich an den Gott, der im Himmel thront, aber 66

Ottmann, ibid., S. 195.

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dann ist es auch schon zu spät. Natürlich würde man bei Aristoteles einen reinen ,Etatismus‘ vergeblich suchen, und natürlich ist es das gute Leben, wie aktiv oder kontemplativ man dieses auch leben will, welches durch die Polis ermöglicht wird, aber dieser Zweck der Polis vollzieht sich innerhalb der Grenzen der Polis, und nun leben diese gut Lebenden innerhalb des Staates so gut, dass sie den Staat mit all ihren Tugenden am Laufen erhalten: eine reziproke Legitimierung und Bezwekkung ergibt sich zwischen Gemeinwesen, Gemeinwohl und Gemeinde. Wir wissen nicht, ob der Ratschlag an Alexander, die erobernden Griechen als Hegemon zu behandeln, die eroberten Asiaten als „Tiere und Pflanzen“, wie es Werner Jaeger67 hinsichtlich frg.658R Aristoteles beimisst, tatsächlich von ihm stammt, aber gegen die Freund-Pflanze-Unterscheidung wirkt die Freund-FeindGruppierung wie der reinste Humanismus, – was ein bezeichnendes Licht auf die Mitglieder der ,good life city‘ wirft, wenn sie erst einmal in der Fremde losgelassen werden und das ,gute Leben‘ extra muros, in imperialistischer Phronesis gerüstet, ausleben. Dieselben Bürger, die intra muros gut und gerecht leben, verrohen beim Anblick der Feinde instantan (der Gott, der sie hindern könnte, an den glauben sie nicht) und schlachten Perser oder Melier ganz pragmatisch ab – so gesehen ist der peloponnesische Krieg des Thukydides eine Kritik an der aristotelischen Polis. Die gut und selbstgerecht, gut verfasst, gut erzogen und gut glücklich Lebenden der autarken Polis sind sicherlich keine Krämer, aber wenn es um die Flotte geht, darf es auch gern etwas mehr sein. „Der Flotte werden die Aufgaben Verteidigung, Angriff und Schutz der Nachbarn zugeschrieben (Politik, VII, 6, 1327a40 – 1327b7). Eine führende Rolle der Stadt bedarf einer gewissen Seemacht, und diese wird von Aristoteles offenbar nicht so kritisch beurteilt wie von Platon.“68 Auf die Dauer ist dieses Glück durch Politik nicht auszuhalten, und dass dann eine Flotte zur Ausfahrt nötig ist, dass dann das Glück, die Tugend, die Politik den Nachbarn gezeigt werden muss, mit Grösse im guten wie im bösen, versteht sich von selbst. Die Reihung wechselseitiger Verstärkung ad politicae bis zur Eingemeindung der Kinder führt zu der Popperschen Frage nach der Offenheit dieser durchgängig politisierten Polis. Die Polis bei Aristoteles ist in ihrer durchgängig reziproken Legitimität eine geschlossene Gesellschaft, und die einzige Alternative innerhalb der aristotelischen Theorie bestünde in der Möglichkeit, dass sich die Bürger auf ein anderes gutes Leben verständigten, welches ausserhalb der vorgezeichneten Bahn läge – wenn die Bürger selber entscheiden würden, Gott zu sich einzulassen. Dass dies in der Regel – nach Aristoteles – nicht nötig ist, ergibt sich schon dadurch, 67 Jaeger, Werner: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung (1923; 1955), S. 271. Ottmann zitiert Plutarch (de Alex. fort. 321b (Ottmann, ibid., S. 113, bzw. de Alex. fort. 329b nach Ottmann, ibid., S. 259) derzufolge Aristoteles dem Alexander geraten habe, „sich den Griechen gegenüber als Hegemon, den Barbaren gegenüber aber als Despot zu verhalten, und um die Griechen wie um Freunde und Verwandte sorgen, die Barbaren aber wie Tiere (oder Pflanzen [Zusatz des Plutarch, H.O.] behandeln.“ Die Einschätzung ist richtig: „Alexanders Politik war dies gerade nicht“. 68 Ottmann, ibid., S. 211.

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dass Gott gar kein Interesse haben kann, an der Polis regen Anteil zu nehmen; er ist nämlich so glückselig, wie es die gut Lebenden der Polis fast schon sind, mit dem Unterschied, dass er aus sich, und nicht durch das gute Leben in der Polis, glückselig ist: „So gelte uns denn als ausgemacht, dass einem jeden von der Glückseligkeit nur soviel zufällt, als ihm Tugend und Verstand und entsprechende Tätigkeit beschieden ist, und wir wollen dafür Gott als einen Zeugen verwenden, ihm, der vollkommen glückselig ist, aber durch kein äußeres Gut, sondern durch sich selbst und die Beschaffenheit seiner Natur“ (Politik, 1323b). Kein Wunder, dass für die Priesterschaft die ausgedienten Bürger rekrutiert werden, „die wegen ihres Alters von den öffentlichen Geschäften zurückgetreten sind, so werden sie es sein müssen, die man für heilige Dienste bestellt“ (1329a). Irgendeinen Einfluss auf das aktive politische Leben für diese „Rentner“ kommt nicht in Frage, und man fragt sich, ob man solchen Leuten nicht vorsorglich das Bürgerrecht wieder entziehen sollte. Vielleicht wollte sich die Hofschranze Aristoteles am makedonischen Hof nicht an heissen (staats-)theologischen Spekulationen beteiligen (die Apotheose der Polis kann für die mazedonische Reichsidee nur eine schallende Ohrfeige bedeutet haben) oder sich in Athen selber in Gefahr bringen (galt doch der Mazedone Aristoteles als potentiell unathenisch und, wie der Nikomachischen Ethik zu entnehmen, der Monarchie nicht ganz abgeneigt); die Argumentation über die bestallte Priesterschaft macht aber eher einen selbstbewussten, vor allem sophistischen Eindruck, als ob zu seiner Zeit über das Problem gar nicht diskutiert werden musste und man darf Popper zustimmen, der in Aristoteles, weil er Rhetorik gelehrt habe, einen professionellen Sophisten sieht, nur gilt diese Einschätzung auch für seine politische Theorie (als Lust an der Provokation politikentfesselter Politik). Den Mut früherer Zeiten kann man nur bewundern: „Frühe Kirchenväter wie Tertullian haben die Aristotelische Philosophie verworfen. In Cordoba wird sie 1196 n.Chr. verboten, und noch auf der Pariser Synode (1210) und dem Laterankonzil (1215) wird sie verurteilt.“69 Das ist jedoch lange her. Auf das systematische Problem der Götterdämmerung jedenfalls antwortet Platon mit einer Verschärfung im transzendenten Bereich, während Aristoteles den Nihilismus überbietet und eine natürliche Politik ersinnt, die das Problem als solches verstellen helfen soll. Leider hat sich das Problem dann wieder zurückgemeldet. Beide haben aber die Geburt des Politischen als Hydra des Nihilismus verstanden und miterlebt, und sind dann, mit diesem Stachel, denken gegangen; Platon mit einer verschärften Aufhalterphilosophie, Aristoteles mit einer Überwindungsphilosophie, die die Politik in sich gefressen hat. —*— Als Kritik an der politischen Antike, die in sich und gegen sich selbst den permanenten Stachel des Politischen barg, erwuchs die politische Theorie des Christentums, die letztlich in der ausgefeilten Zwei-Reiche-Lehre Augustins kulmi69

Ottmann, ibid., S. 213.

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nierte und die politischen Verwerfungen des Mittelalters mit dem bekannten Dualismus von Kaiser und Papst als sinnfälligstem Ausdruck evozierte70. Im strengen Sinne ist hier Politik aufgehoben in eine Heilsordnung, die relativ achtlos dem Kaiser gibt, „was des Kaisers ist“, Gott aber, „was Gottes ist“ (Mt 22,15 – 22). Auch wenn Jesus von Nazareth bereits die Zwei-Reiche-Lehre lebte und uns das Donnerwort gab, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei, sein Reich vielmehr erst noch im Kommen befindlich (passim, etwa Lk 17,20), er damit wohl die politisch-escha70 Troeltsch behauptet zwar, Augustins De civitate Dei habe mit dem Mittelalter nichts gemein, da es nach wie vor in antiken Denkstrukturen verhaftet sei (Troeltsch, Ernst: Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter im Anschluss an die Schrift ,De civitate Dei‘ (1915, 21963), S. 21 f.) und nicht auf die mittelalterlich-germanische Papstkirche abziele, gleichwohl aber soll hier nur die prinzipielle Trennung von weltlichem und geistlichem Reich bei jederzeit möglichem, gleichzeitigem Aufeinanderbezogensein als Lösung der jesuanischen Aufgabenstellung und als scharfer Unterschied zu antiken Politiktheorien behauptet sein. Die augustinische Theologie war deswegen so anschlussfähig, weil: „St. Augustine developed no detailed, systematic theory of the proper relationship between Church and State or the way in which their spheres of activity should be separated and marked off“ (Deane, Herbert: The political and social ideas of St. Augustine (1963), S. 172). Betrachten wir mikro- und alltagsgeschichtliche Studien, fällt auf, dass auch die Bibliotheken und Diskurse der (späthochmittelalterlichen) schönen Ritter die Sphäre der civitas terrena nicht verliessen, exemplarisch stellt Bernhard Sterchi (im Erscheinen befindlich) fest: „Ebenso ist zu berücksichtigen, dass Texte auf eine Weise rezipiert – in diesem Falle nicht nur gelesen, sondern auch übersetzt und kopiert – worden sein können, welche der Intention des Autors wohl entgegenstand. Jacques Monfrin (Monfrin, Jacques: La connaissance de l’antiquité et le problème de l’humanisme en langue vulgaire dans la France du XVe siècle (1972), S. 131 – 170) zeigt dies am Beispiel von Augustinus’ Civitas Dei und liefert damit eine mögliche Antwort auf die Frage, was politisch hochbeschäftigte Adlige wie Philippe de Croy, Jean de Créquy, Louis de Bruges, Philipp von Kleve oder Antoine de Lalaing mit dieser komplexen Theorie angefangen haben mögen. (Philippe de Croy: BR Mss 9013 und 9014 (Debae, Marguerite: La bibliothèque de Marguerite d’Autriche. Essai de reconstitution d’après l’inventaire de 1523 – 1524, (1995), Nr. 84 und 97); Jean de Créquy: Amiens, Bibliothèque Municipale Ms 216 (Willard, Charity: Patrons at the Burgundian Court: Jean V. de Créquy and his wife, Louise de la Tour. In: Wilkins, The search for a patron in the Middle Ages and the Renaissance (1996), S. 58); Louis de Bruges: BN Mss fr 17 und 172 (Lemaire, Claudine: De bibliotheek van Lodewijk van Gruuthuse. In: Dewitte, Vlaamse kunst op perkament: Handschriften en miniaturen te Brugge van de 12de to de 16de eeuw (1981), S. 207 – 221, Nr. 9 und 46); Philipp von Kleve (De Fouw, Arie / Van Kleef, Philips: Ein bijdrage tot de kennis van zijn leven en karakter (1937), S. 391); Antoine de Lalaing (Van Gelder, Enno: Gegevens betreffende roerend en onroerend bezit in de Nederlanden in de 16e eeuw (1972), S .20.). Verständlich ist hingegen die Eignerschaft von Jean Chevrot, dem Bischof von Tournai: BR Ms 9015 – 16 (De Winter, Patrick: La bibliothèque de Philippe le Hardi, duc de Bourgogne (1364 – 1404), (1985), S. 243 ff.). Vor Beginn des theologischen Hauptarguments eröffnet die Darstellung der civitas terrena in den ersten zehn Büchern einen Zugang zur Kenntnis der antiken Geschichte. In der französischen Übersetzung versieht Raoul de Presles genau diesen Aspekt dieser Kapitel mit einer Erläuterung, während er für die folgenden von diesem Vorhaben explizit absieht. Auch enthielten viele Kopien der Vernakularversion nur diese zehn Bücher. (Monfrin, ibid., S. 131 – 170, S. 140 f.) . . .).“ Die gentilhombres diskutieren eben ihre ,Welt‘ und das ist: die civitas terrena, die ersten zehn Bücher, nicht die civitas Dei, auch wenn Augustinus dies noch nicht ahnen konnte. Die Kultur des Mittelalters ist eben doch eine Kultur der Civitas Dei, weil e contrario gezeigt werden kann, dass die Ritter in den Büchern der civitas terrena ihren Referenzpunkt fanden.

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tologischen Erwartungen der Zeloten enttäuschen musste, ist von Ihm gerade eine politische Applizierung ausgeschlossen, und integraler Teil Seiner unendlichen Liebe ist die Abweisung jedweder politischen Konsequenz, als Befreiung vom politischen Virus gedacht. „Widersteht nicht dem Bösen“ (Mt 5,39) und „Liebt eure Feinde“ (Mt 5,44) sind Maximen, die keine Aufgabe des Widerstandrechts intendieren, sondern radikal apolitisch oder besser ausserpolitisch gemeint sind.71 Es begab sich aber zu jener Zeit, dass es zwei Experten für politische Theologie gab: Augustus und Jesus. Augustus, der weise Politiker, mag wohl das mos maiorum gefährdet gesehen haben, konnte aber nicht zurück, wollte statt dessen sozialtechnologisch den Kaiserkult etablieren, wes behufs der ,Friedenskaiser‘ 2000 Bücher konkurrierender Sekten in Rom verbrennen liess72. Die Vorstellung der ,Politischen Theologie‘ scheint hier so normal und alltäglich zu sein, dass man auf seine Bildung wohl nicht hat verfallen können. Dagegen Jesus, dessen ,Sekte‘ natürlich in Konkurrenz zu den 2000 anderen Sekten des römischen Imperiums stand, Jesus, der nichts schreibt, stumm bleibt und nur, auf Taubenfüssen, sagt, leise: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“73 Dadurch wird eine politische Theologie ausgehebelt und eine scharfe Trennlinie zwischen den Christen und den anderen Sekten markiert. Und: es greifen die Massnahmen Augusti nicht mehr. Man kann dem ,unpolitischen‘ Jesus nicht mit politischen Mitteln beikommen. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Und das ist das Logion eines Gottes. Obwohl Kaiserkult und jesuanische Politik in Hinsicht auf die Sektenlandschaft ähnliche Antworten sind, können diese Antworten doch nicht disparater sein und stehen zudem in einem feindlichen Konkurrenzverhältnis. Den ungleichen Kampf konnte Augustus nicht gewinnen: er wollte Gott werden, war aber Kaiser; Jesus war Gott, wollte aber nicht Kaiser werden – ein unglaubliches Souveränitätsgefälle. Es ist nicht das Inoffensive, das die Imitatio Christi zu leiten hätte, nicht das Muckerhafte und Eckensteherische, das Nietzsche in der Psychologie des Erlösers zu brandmarken wohl nötig hatte, Jesus ist nicht, wie Nietzsche glaubte, ein Idiot, Jesus ist vielmehr ein Feind der politischen Öffentlichkeit, ein „Berg- See- und Wiesen-Prediger“74 vielleicht, dessen erste Tugend das Unprätentiöse ist und bei dem man nicht weiss, ob er bei aller Offenbarung, bei aller öffentlichen Verkündigung, ein Privatmann bleibt, einer, der gegen das Politische und ihre Öffentlichkeit immer reserviert blieb, einer, der kein Gerede, sondern Gleichnisse von sich gab und der den Repräsentanten der politischen Öffentlichkeit, Pilatus, auf die Frage: 71 Treffend Tertullian: „es ist uns nichts fremder als die Politik“ (nec ulla magis res aliena quam publica (Apol. 38)), auch zitiert in Dibelius, Martin: Rom und die Christen im ersten Jahrhundert, S. 36 f. 72 Diesen Hinweis verdanke ich einer Mitschrift der Vorlesung meines Lehrers Jürgen von Ungern-Sternberg. 73 Das Logion ist in seiner Unmissverständlichkeit nicht zu überbieten: „Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, daß ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt.“ Joh, 18, 36. 74 Nietzsche, Antichrist 31., KSA 6, 203.

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„Also bist du doch ein König?“, ratlos zurücklässt, als er ihm sagt: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.“ (Joh 18,37)75 Pilatus, der römische Aristoteliker, kann diese Aussage nicht in die politische Sprache und die Sprache der politischen Öffentlichkeit rückübersetzen und stammelt nur noch: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38). Vor Pilatus und Herodes, den Jesus nicht zufällig einen „Fuchs“ genannt hatte (Lk 13,32), zu schweigen, als König der Juden, dort, wo Er sein Königtum hätte begründen können, keine Apologie und keine Reichstheologie – das ist ganz und gar nicht debil und inoffensiv, sondern die radikalste Absage an die Politik, die die politische Kultur je gesehen hat und die antike Kultur aus den Angeln hebt. Der Gott ist nicht intersubjektiv, er ist Ich durch und durch und schielt nie und niemals auf andere, auch nicht dann, wenn er uns liebt. Wenn Gott auf einen Aristoteliker trifft, treffen die Wahrheit und die Selbstgerechtigkeit des guten Lebens aufeinander, und das führt zu Asymmetrien und mehr. Statt Öffentlichkeit gibt es Offenbarung, statt Bücher den Heiligen Geist und statt politischer Rede auf dem Forum die Bergpredigt. Natürlich war Jesus damit ein Revoluzzer und also Vorläufer aller Revoluzzertypen. Im Unterschied zu diesen war aber die Freiheit, die Er meinte, nicht die Freiheit, die im politischen Kampf zu realisieren wäre, sondern eine grundsätzliche Freiheit von Politik. Denn wer sich auf den politischen Diskurs einlässt, um ihn loszuwerden, ihn zu durchdringen, hinter sich zu lassen und zu überwinden, ergibt sich zunächst der politischen Grammatik, die Herr wird und dialektische Ebenensprünge nach sich zieht, die man nie wieder los wird. Die Grandezza von Jesus liegt gerade in seiner radikalen Reserve gegenüber dem Politischen, und das ist eine Revoluzzerreserve, die die politische Grammatik schlichtweg verneint. Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Über das Verhältnis der Christen und des Neuen Testaments zur Politik schreibt Ottmann: „Das Hauptinteresse des Christen gilt dem Jenseits und dem jenseitigen Heil. Politik wird wie alles irdische Leben zum bloss Vorläufigen und Vorletzten. 75 Ganz ähnlich antwortet Jesus im Synedrium auf die Frage des Hohepriesters, ob er der Messias sei, wobei die Antwort sich je nach Synoptiker anders anlässt. Matthäus kolportiert Jesu Antwort (Mt 26,64): „Du hast es gesagt; doch ich sage euch, von nun an werdet ihr sehen ,den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft‘ (Ps 110,1) und ,kommen auf den Wolken des Himmels‘ (Dan 7,13)“, Lukas berichtet (Lk 22,67): „Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich es euch sage, glaubt ihr nicht. Wenn ich aber frage, antwortet ihr nicht.“ Das Herrenwort bei Markus ist dagegen eindeutiger und verzichtet auf die „Scheu Jesu, sich zum Messiastitel zu bekennen“ (Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. II / 1. Die Römer (2002), S. 207): „Jesus aber sprach: Ich bin es, und sehen werdet ihr ,den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft‘ (Ps 110,1) und ,kommen auf den Wolken des Himmels‘ (Dan 7,13).“ (Mk 14,62). Grundsätzlich ist aber der Einschätzung Ottmanns zuzustimmen, dass Jesu „ganz gezielt die politische Messiashoffnung enttäuschen wollte.“ (ibid.) Die Dramaturgie des Neuen Testaments kreist um die Frage: ,Bist Du?‘ und der Antwort ,Ich bin es‘, ohne dass eine begriffliche Konkretion vorgenommen wird.

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Ein letztes Ziel des Handelns kann Politik nicht mehr sein. [ . . . ] Im NT selbst findet sich jedoch keine eindeutige Lehre über das Verhältnis des Christentums zu Rom und zu den Caesaren. Die Politik der römischen Philosophen und Redner ist für die Evangelisten sowieso ohne jeglichen Belang.“76 Damit sollte die Politik der Christen als einer Distanz zur Politik klar benannt sein, und man kann die Theorie Carl Schmitts von der complexio oppositorum77 nur als eine grandiose intellektuelle Fehlleistung interpretieren, die, was die auf Repräsentation und zölibatäre Bürokratie basierende Kirche betrifft, vielleicht trägt, aber für die Problematik von christlicher Politik überhaupt in die Irre führen muss. Die Abstinenz von Politik muss den Christen erst einmal dazu führen, sich nicht mit Politik zu beschäftigen, sodann aber, wenn er zur Wahl oder zu politischer Entscheidung gezwungen ist, die Politik und den Politiker unterstützen, der ihn, den Christen, in seiner Abstinenz und Abkehr sein lässt, der den Christen nicht in die politische Logik zwingt; das können, müssen aber nicht family values, beispielsweise familienfreundliche, meistens konservative, erdnahe und ähnliche Ziele sein, die unterstützenswert sind, aber, auch das kann der Christ, bei weiterer Politisierung kann der Christ sogar in die Politik gehen und von der Sozialrevolution bis zum Tyrannenmord alles vollbringen, was eine vorgängige Politisierung der Lebensbereiche und der etwa durch staatlichen Terror lädierten ganz und gar ausserpolitischen Privatsphäre, als einer gegenüber dem politischen Virus gänzlich unbeteiligt nicht befallenen Sphäre, ungeschehen macht. Ich gebe ein anderes Beispiel: Den Kirchenzehnt zu entrichten, ist eine gerechte Abgabe, die in Ordnung ist und unterhalb der Schwelle einer christlichen Politik liegt; für den Staat aber das halbe Jahr tätig sein, das halbe Leben, ist, bei entsprechender Abgaben- und Steuernlast, eine Alimentierung des Politischen, die oberhalb der Schwelle christlicher Politik liegt und gegen die christliche Politik rebellieren muss. Die politische Radikalisierung des Christen vollzieht sich also analog zu einer vorgefundenen gesellschaftlichen Politisierung, die ihn zu erfassen droht. Ziel jeder christlichen Politik muss aber sein, und das darf nie vergessen gehen, aus der Politik und speziell aus dem Politischen auszusteigen. Christliche Politik, die politisiert, hat versagt, christliche Politiker, die nicht aufhören können, haben sich selbst verfehlt. Wer für oder schlimmer noch „von“ Politik lebt, mag wohl, wie Max Weber wollte, „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmass“78 besitzen und dem Ethos seiner „Stellenjägerpartei“79 (516) abhold Ottmann, ibid., S. 202. „Altes und neues Testament gelten nebeneinander, Marcions Entweder-Oder ist hier mit einem Sowohl-als-auch beantwortet. Dem jüdischen Monotheismus und seiner absoluten Transzendenz sind in der Lehre von der Trinität so viele Elemente einer Immanenz Gottes beigefügt, dass auch hier manche Vermittlungen denkbar sind, und wegen ihrer Heiligenverehrung haben französische Atheisten und deutsche Metaphysiker, die im 19. Jahrhundert den Polytheismus wieder entdeckten, die Kirche belobigt, weil sie darin ein gesundes Heidentum zu finden glaubten.“ Schmitt, Carl: Römischer Katholizismus und politische Form (1923, 2 1925, 1984), S. 12 f. 78 Weber, Max: Politik als Beruf (1918 / 19, 1988), S. 545. 79 Weber, ibid., S. 516. 76 77

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sein – „immer muss irgendein Glaube da sein“80 –, als christlicher Politiker kommt jedoch noch ein Moment hinzu, bei der die Antithese von Gesinnungs- und Verantwortungsethik in einer höheren Synthese aufgeht. Das ist die prinzipielle Desinvoltura gegenüber dem Politischen und der Politik selbst. —*— Paulus begriff, welcher politische Sprengstoff im ausserpolitischen Reich Gottes liegen konnte und so jonglieren seine Briefe immer in der Zwiespältigkeit von extramundan basierter Staatsfrömmigkeit („Seid untertan der Obrigkeit“ Röm 13 oder Regentenfürbitte 1.Tim 2,1 – 3, in den Petrusbriefen etwa 1.Petr 2,13) und der Aufzucht Neuer Revolutionäre, die in Christo (Gal 3, Phil 3, Kol 3, Hebr, insbesondere 8 – 10) sind. Die apokalyptische Naherwartung (etwa 1.Kor 15, 1Thess) verschärft sich politisch bis zur clausula Petri („Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ Apg 5,29) und zur Apotheose der Kritik an politischer Herrschaft, ja an Politik schlechthin: der Johannesoffenbarung, die die Bilder des Höllensturzes und des Endkampfes jenseits aller staatlichen Gemarkungen ansetzt. Die romkritischste Schrift aus dem Jahre 95 schildert allegorisch die „Dämonie der Macht“ (G. Ritter), bzw. die Dämonisierung der Macht, die Potentaten wie Nero, den (oder einen der) Träger der Zahl 666, nach oben spült81. Christen können also auch ganz anders, können, stärker und mächtiger als jede andere Kultur, jede andere Religion, auf Politik herabsehen und sie auf eine extreme Art verteufeln, doch würde es sich lohnen, auch bei Paulus noch das Unwohlsein gegenüber Politik stärker herauszustellen – schliesslich sind selbst im Römerbrief die Untertöne gegenüber der Politik deutlich zu vernehmen, etwa, wenn dem Staatsgehorsam „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt“ (Röm 13, 1) der Satz vorhergeht: „Laß dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse Weber, ibid., S. 548. „12,17 Und der Drache wurde zornig über die Frau und ging hin, zu kämpfen gegen die übrigen von ihrem Geschlecht, die Gottes Gebote halten und haben das Zeugnis Jesu. 18 Und er trat an den Strand des Meeres. 13, 1 Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen. 2 Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Panther und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie ein Löwenrachen. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Thron und große Macht. 3 Und ich sah eines seiner Häupter, als wäre es tödlich verwundet, und seine tödliche Wunde wurde heil. Und die ganze Erde wunderte sich über das Tier, 4 und sie beteten den Drachen an, weil er dem Tier die Macht gab, und beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich, und wer kann mit ihm kämpfen?“ (Offb 12,17 – 13,4) Interessant ist hier, wie der Drache (Rom) ans Meer tritt, dieses quasi als mare nostrum erobert, sodann dem Tier (dem römischen Imperator) als imperialistischer Leviathan die Macht gibt, an Land zu gehen und göttliche Verehrung reklamieren zu lassen. Eine bessere Kritik an maritimen Hegemonialmächten, die zwecks Aufrechterhaltung der Hegemonie politische Kunst und Technik in Vollendung voraussetzen, ist nie mehr geschrieben worden. Die Schrift ist bezeichnenderweise in neuerer Zeit als Kritik am totalitären Staat gelesen worden, vgl. Cullmann, Oscar: Der Staat im Neuen Testament (1953). 80 81

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durch das Gute!“ (Röm 12, 21)82, was auch bedeuten kann: wir besiegen das Böse, die exousia, durch das Gute, indem wir uns Liebkind machen und unbehelligt, eben unpolitisch leben. Wir sind so ausserpolitisch, dass wir sogar der Obrigkeit untertan sind: diese Lesart wäre zu erwägen. Ich möchte behaupten, dass trotz aller missionarischen Politik, die bei Paulus zu finden ist, die grundsätzliche Ablehnung des Politischen, wie sie der Herr formuliert hat, nicht zurückgenommen wird. Und die Apokalypse bleibt eben eine Apokalypse, und selbst wenn man sie politisch liest, ist sie kein politischer Traktat, sondern ein eschatologisches Lehrstück, in das die Politik als Störfeuer einbricht und als teuflisch bekämpft wird. Niemals kann die Offenbarung zur Gänze in die Sprache der Politik übersetzt werden und niemals kann mit ihr politisch gerechtet werden, niemals wird es einen politischen Kompromiss mit ihr geben. —*— Wenn Augustinus 22 Bücher über den Gottesstaat schreibt, spürt man noch allenthalben ein Unwohlsein, einen neuen Staat und eine neue Politik anzuempfehlen, wenn doch alle Reiche, vor allem das Römische Reich, nichts anderes als „grosse Räuberbanden“ sind – nach innen pflegen sie einen pactus societatis, unterscheiden sich aber damit nicht von der Piraterie, weil doch alle an Bereicherung nach aussen partizipieren83. Politik ist direkte Folge der Erbsünde, und nicht zufällig steht am Anfang der Staatengründung der Brudermord Kains (der den ersten Staat gründet) an Abel, oder der Mord von Romulus an Remus, wobei in der geschichtlichen Situation der Machtübernahme des Christentums es nicht mehr um eine Verteufelung Roms zu tun war84, sondern nur um ein Zurechtstutzen des politischen Roms85. 82 Zusammengezogen auch bei Barth, Karl: Der Römerbrief (19222, 151999), S. 500 ff. Barth spricht in der Exegese vom „Nicht-Handeln“ (S. 502), bezieht das aber ausschliesslich auf den „revolutionären Mensch“. 83 Gegen die Staatsdefinition des Cicero gerichtet, der Eintracht und Gerechtigkeit als wesentliche Aufgaben und Definition ansah, wobei für einen römischen ,Staatsmann‘ der Herrschaftsanspruch nach aussen wohl nicht gesondert betrachtet werden musste; ehrlicher die Staatsdefinition des Aristoteles: „Alles, was Staat heisst, ist ersichtlich eine Art von Gemeinschaft, und jede Gemeinschaft bildet sich und besteht zu dem Zweck, irgendein Gut zu erlangen.“ Der Pirat und der Staatsmann, stehen derselben Art von Unternehmung vor, geschieden nur durch die Grösse der Unternehmung, gemäss Augustinus’ Anekdote. Vgl. auch Scholz, Heinrich: Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. Ein Kommentar zu Augustins De civitate Dei (1911) und Gigon, Olof: Cicero und Aristoteles (1959), S. 143 – 162. 84 Was von Kurt Flasch („Demgegenüber arbeitete Augustin die gewalttätigen, unvernünftigen Züge des römischen Imperiums heraus, ohne Rom nun andererseits extrem negativ, als das Tier aus dem Abgrund, zu beurteilen“, Flasch, Kurt: Augustin: Einführung in sein Denken (1980), S. 392) und anderen betont wird. Joseph Kardinal Ratzinger (Ratzinger, Joseph Kardinal: Herkunft und Sinn der Civitas-Lehre Augustins. In: Augustinus Magister (1954), S. 972 f.) hat den civitas-Begriff in der patristischen Exegese alttestamentlicher JerusalemStellen verwurzelt gesehen und übersetzt Civitas deswegen mit Polis, weil das „Wesen der Gottes-Polis“ im dieser Welt letztlich fremden Leib-des-Herrn-Haftigkeit der konkreten Kirche bestünde, die, gegen Kamlah, nicht eschatologisch, sondern nur „sakramental-ekklesiologisch“ (ibid., S. 979) zu nennen sei.

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„Was ich aber von diesem Volk und diesem Staat gesagt habe, gilt auch von dem der Ägypter und jenem ersten Babylon der Assyrer, solange sie in ihren Staaten kleine oder grosse Reiche bildeten, sowie von jeder anderen der mancherlei Völkerschaften, die ich noch nennen oder ins Auge fassen könnte. Denn dem Staat der Gottlosen fehlt nun einmal die wahre Gerechtigkeit, da er dem Gebote Gottes, nur ihm allein Opfer darzubringen, nicht gehorcht, und da deshalb auch in ihm der Geist nicht über den Leib und die Vernunft nicht über die Leidenschaften herrscht, wie Recht und Gewissen es fordern.“86

Einstweilen nimmt man mit dem Frieden hienieden Vorlieb, um ein „ruhiges und stilles Leben“ zu führen, das ist die christliche Botschaft an die Politiker des Tages: „Denn solange die beiden Staaten vermischt sind, bedienen wir uns des Friedens Babylons. Zwar wird das Gottesvolk durch den Glauben von Babylon befreit, doch muß es einstweilen noch bei ihm als Pilgrim weilen. Deswegen ermahnte auch der Apostel die Kirche, für seine Könige und Würdenträger zu beten, und fügte hinzu: ,Auf daß wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Liebe.‘“87

Statt Politik getrieben, wird Gericht gehalten, an jenem Tag des Jüngsten Gerichts, auf den die Gemeinschaft der Kinder Gottes zusteuert, ob nun aufgeregt prädestinatorisch wie bei Augustinus, oder stoisch und mit mehr Freiheit wie bei Pelagius – das Prinzip ist dasselbe. Augustinus bemüht sich, die eigentlich feindlichen Korporationen von civitas terrena und civitas Dei in Einklang, oder wie Dolf Sternberger vorgeschlagen hat, in Koexistenz88 zu bringen, und es braucht wohl dazu eine ausgeklügelte Friedenstheorie, aber für den Gang der geschichtlichen Ereignisse bleibt bestimmend, dass die beiden Bereiche eine Epoche lang Probleme miteinander hatten und systematisch das Prinzip der Scheidung auch andere Bereiche durchdrang89. Politische Theologie war zwar nicht erledigt90, aber zumindest prinzipiell geschieden und gehegt. Die Spannungen dieser Konzeption resultierte natürlich daraus, dass auf das verheissene Gericht irgendwie gebaut werden 85 „Im Vergleich zum platonischen Staatsentwurf ist Augustins Rede vom Gottesstaat ein Rückzug aus der Politik.“ (Flasch, ibid., S. 399). Noch schärfer Troeltsch, der vom „absolut unpolitischen Charakter dieser christlichen Politik“ (Troeltsch, ibid., S. 31) spricht. 86 Augustinus, Vom Gottesstaat, XIX, 24. 87 Augustinus, ibid., XIX, 26. 88 Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, ibid., S. 339. 89 Etwa in der Hierarchienlehre des Pseudo-Dionysius, dem Weltbild des Cosmas Indikopleustes, oder im Ausspruch des Hrabanus von Mainz (780 – 856): „Magistratum politicum ab hominis esse, cum ab ipso deo habeat originem“ (zit. Sternberger, ibid., S. 38), noch in anthropologischen Traktaten Hildegard von Bingens, in der Divina comedia usw. 90 Wie Erik Peterson (Peterson, Erik: Der Monotheismus als politisches Problem; ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum (1935), S. 99 f.) gegen Carl Schmitt (Schmitt, Carl: Politische Theologie II (1970, 31990)) behauptete. Man denke nur an die zwei Körper des Königs, wie sie Kantorowicz in seiner vielgerühmten Schrift exemplifizierte. Es bleibt ganz allgemein die Frage, die auch Kantorowicz Buch nicht entscheidet, wie autonom die beiden Körper des Königs bereits geworden sind; – dass ein Zusammenhang besteht, ist durch Christus, aber auch durch die biblisch-christliche ZweiSchwerter-Lehre uns mitgegeben.

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konnte, und es mag sein, dass der Kat-echon (der Aufhalter von 1.Thess 2,6 – 7), wie Carl Schmitt meint91, dem Mittelalter dauernd bewusst gewesen ist (Augustinus diskutiert den Aufhalter civ. Dei XX, 19, kommt aber nicht zu einem eindeutigen Ergebnis, ausser, dass Jesus dann kommt, wenn er kommt und man sich, getreu Paulus, bereit halten solle), aber eine Kultur auf eine blosse Aussicht gründen, ist prekär und bleibt prekär. Das Mittelalter ist aber, als Kultur, der Triumph des Ruralen über die Stadt. Für uns Heutigen, Wissenschaftlichen, Arbeitsteiligen, Verstädterten kann nichts plausibel machen, wie das Prinzip Stadt einmal unterliegen konnte und wie es in Zukunft unterliegen könnte, gerade angesichts des Menschen, des angeblich geselligen und politischen Tierchens, das auf triebhaftes Sich-Aneinanderdrängen aus ist oder zu sein scheint. Wann hätten sich die Bürger der antiken Polis je träumen lassen, dass ihre Kultur vor einer nichtstädtischen überwölbt hätte werden können. Nun muss man eben sagen, dass eine derart durchpolitisierte und durchsportisierte Gesellschaft wie die antike eine gewisse Alternativenlosigkeit zu ihrer Durchpolitisierung, Durchsportisierung erreicht hatte, die bei aller Offenheit, auf eine geschlossene Gesellschaft, eine im Grunde hermetische Gesellschaft, eben die durchgängig politisierte, sportisierte hinausläuft. Ein Protest, eine Alternative zu dieser Durchpolitisierung kann und konnte nur auf einen Protest, eine Alternative zur Stadt hinauslaufen – der Triumph des Ruralen ist so gesehen ein Triumph über die Politik selbst. Wollte man also alle Attribute des Mittelalters zusammen nehmen und auf ihre Politikferne und Politikkritik hin befragen, müsste man wohl sagen, dass das Mittelalter Politikkritik ist, durch und durch, und nichts anderes, etwa durch die Stilbildung der mönchischen, nichtpolitischen, nichtsportiven Tugenden: silentium und solitudino, etwa durch die mittelalterliche antipolitische Rechtsunsicherheit, etwa durch den Primat der antiöffentlichen Mündlichkeit vor der Schriftlichkeit, etwa durch Siedlungsbau um Kirchen statt um Märkte und Paläste. Es wäre dem sicherlich breiter nachzugehen und eine Mikrogeschichte der Politikferne im Mittelalter zu schreiben, zwischen den Zeilen, in den Ritterturnieren, im Ordo der Falkenjagd, dem Itinerar des Kaisers, der Kunst und Musik, bis in die pseudo-dionysische Sozialordnung oder die isidorisch geprägte Sprache hinein. Die Wirtschaft des Mittelalters ist noch ganz geprägt von antiken Vorstellungen und daher vom Haus, nicht vom Markt bestimmt, allerdings erweitert um die christlich-jüdische Aufwertung des Arbeitens selbst. Die Kaufleute sind noch allerlei Diffamierungen und Verdikten ausgesetzt und immer auf das justum pretium verwiesen, immer unter Wucherverdacht stehend. „Auch haben sie trotz des ihre Kultur kennzeichnenden hohen Masses an Schriftlichkeit keine theoretische Durchdringung ihrer Tätigkeit, kein abstraktes Wissen vom Handel entwickelt: die von Kaufleuten für Kaufleute geschriebenen Handbücher und ,Kaufmannsspiegel‘

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91 Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Ius publicum europaeum (1950, 1988).

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blieben auf das Praktische beschränkt.“92 Nicht nur die Ritter, auch die Kaufleute verbleiben in der Sphäre der Civitas terrena, ohne ihre Grenze in Frage zu stellen. Auch in der frühneuzeitlichen Hausväterliteratur, in bekennenden Titeln wie der Oeconomia Christiana93 oder Luthers vier Sermones gegen den Wucher ist der Zusammenhang noch greifbar. —*— Die Reiche-Theorien Joachims können durchaus noch intraaugustinisch verstanden werden, nur vollzieht sich hier eine Verweltlichung der geistigen Reiche, in der errechnet werden kann, in welchem konkreten Jahr der Umschlag vom Reich des Sohnes zum Reich des Heiligen Geistes vonstatten gehen wird. Dementsprechend fiel es Dante nicht schwer, den Novus Dux mit Heinrich VII., oder Cola di Rienzo mit sich selbst, gleichzusetzen. Innerhalb der Grenzen der geschiedenen Sphären konnte sich zudem eine Rearistotelisierung breit machen, da der weltliche wie der geistliche-geistige Bereich Eigenständigkeit (societates perfectae), zumal durch den Reformdiskus, für sich beanspruchen mochten. Umgekehrt konnte jetzt auch die weltliche Welt vergeistlicht werden, und nach Dante, Monarchia, ist der Kaiser dem Papst nicht mehr untertan, weil er ebenso göttliches Recht reklamieren darf. Schon bei Thomas besass der Papst nur noch den Primat, wenn es ums Seelenheil geht, ansonsten er zur potestas indirecta verurteilt ist. Die übernatürliche Ordnung hebt die Natur nicht auf, sondern setzt sie voraus: so kommt es durch den Neuimport aristotelischer Theoremata zur klammheimlichen ,Wiedervernatürlichung‘ der Politik. Zwar geht es nicht mehr um das gute Leben als Zweck der Polis, sondern neu um das gute Leben auf Erden, und um die Erlangung des ewigen Lebens, aber die angedachte Humanitas vollendet sich dank der Naturteleologie des Menschen in der Stadt. Und „Dante weist zuerst nach, dass es überhaupt ein Ziel der menschlichen Gattung gibt; er behauptet dann, dass dieses Ziel in einer Tätigkeit bestehen muss; drittens enthüllt er, worin diese Tätigkeit besteht“94 – der Ausformung einer kollektiven Vernunftgemeinschaft, die geradezu als neue civitas Dei herhalten kann. Es gibt nun zwei Ziele der Menschheit: das irdische Glück und die ewige Seligkeit, analog zu Vernunft und Offenbarung, Kaiser und Papst, doch beanspruchen beide Ziele nun eigene Dignität, eigene Autarkie. Dass hier noch die alte Zweiteilung zwischen spirituell und zeitlich ganz lebendig ist, liegt auf der Hand, aber es sind aristotelische Vorstellung von autarker Perfektion, die die beiden Sphären zunehmend voneinander ,emanzipieren‘. Die Ritter der Civitas terrena sterben aus oder verkommen zu Hofleuten und Gentilhombres, Ehrenkodex um des Ehrenkodex willen, die Kaufleute dagegen fahren auf dem „alles legitimierenden Schlagwort des ,gemeinen Nutzens‘, der seine moralische und materielle, 92 Oexle, Otto: Artikel Wirtschaft. III.– In: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7 (1992), S. 546. 93 Menius, Justus: Oeconomia Christiana / dat ys von Christliker hußholdinge (1529). 94 Imbach, Ruedi: Die politische Dimension der Vernunft bei Dante. In: Höffe, Der Mensch – ein politisches Tier (1992), S. 33.

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allgemein rechtliche und speziell wirtschaftliche Seite hatte.“ Geld und Handel konnten sich im ,perfekten‘ Bereich der Weltlichkeit austoben und den ersten Globalisierer, Jakob Fugger, hervorbringen, Jakob Fugger, dem die Maxime zugeschrieben wird, er wolle „gewinnen, dieweil er könne“.95 —*— Es ist erstaunlich, dass nach dem Wegfall der antiantiken Kritik durch christliche Autoren sofort eine Technik der Politik obenauf kommt, als ob der Damm nun gebrochen sei und man mit gutem Gewissen dort weitermachen könne, wo die Antike aufgehört hat. Es wird nun Zeit, die Autoren, an Hand derer wir die Genese der modernen Politik durchgenommen haben, auf die Thematik hin zu befragen, wie sie mit der christlichen Kritik an der Politik, mit der Politiknegierung Jesu und den daraus abgeleiteten beiden Civitates umgehen. Die ,Wiedervernatürlichung‘ der Politik musste ja im christlichen Rahmenwerk vor sich gehen und so ist es kein Wunder, dass Machiavell den italienischen Stadtstaaten zugehörte, jene societates perfectae, die unter dem Deckmantel der civitas terrena sich als civitas Dei fühlen. Und dazu gehört ein Cesare Borgia genau gleich. Die neuen politischen Theorien konnten nun in den abgeschotteten und abgeschirmten Bereichen der perfekten Sozietäten wildern und in ihnen Binnenpolitik ausdenken, ohne dass noch nach Anschlussmöglichkeit verlangt werden musste. Der „Begründer der neuzeitlichen Lehre von der Staatsräson“96 konnte deshalb die weitergehende Abschirmung der Bereiche vornehmen, privat und öffentlich radikal trennen, so aber in den eigenständigen Räumen eigene Gesetzlichkeiten angeben, etwa in der öffentlichen Sphäre die sogenannte ,politische Vernunft‘, also erforderlichenfalls trickreich, verschlagen, hinterhältig, böse sein. Die ewige Abfolge der Staatsformen konnte dann rein analytisch diagnostiziert werden, ohne die privaten Menschen oder die Götter in den Blick zu bekommen97. Die Zivilreligionen, die Machiavelli, Discorsi I, 11 – 15 diskutiert, werden diskutiert, weil Herrschaft etwas mit Selbstbindung der Regierten zu tun hat und daher so etwas wie einen Eid, bzw. die Treue zum Eid voraussetzt, welches wiederum das Göttliche, weil am besten, ganz instrumentell, tauglich für Sakralisierung und Sanktionierung des Eides, ins Spiel bringt. Die luhmannsch anmutende Trennung der Bereiche kann zwar Interdependenzen angeben, etwa den Zusammenhang von Religion und Volksbewaffnung98, aber ohne Hierarchisierung der Systeme. Kom95 Burkhardt, Johannes: Artikel Wirtschaft. IV.-VIII.– In: Geschichtliche Grundbegriffe (1992), S. 559 f. 96 Ulfig, Alexander: Vorwort. In: Machiavelli, Hauptwerke (2000), S. 9. 97 „[ . . . ] denn die Monarchie wird leicht Tyrannei, die Aristokratie leicht Oligarchie, die Demokratie verwandelt sich leicht in Anarchie. Führt also der Gründer eines Gemeinwesens eine der erstgenannten Regierungsformen ein, so ist es nur für kurze Zeit, weil kein irdisches Mittel verhindern kann, dass sie nicht infolge der Ähnlichkeit, die in diesem Falle die Tugend und das Laster haben, in die ihr entgegengesetzte ausartet.“ (Machiavelli, Hauptwerke, S. 32 f.). 98 Religion instrumentalisiert Machiavelli zu einem volkszähmenden Werkzeug: „weil, wo Religion ist, ein Volk leicht bewaffnet werden kann, wo aber Waffen sind und keine Reli-

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men Gott und Welt ins Treffen, wenn Interdikt das weltliche Florenz bedroht, lobt Max Weber, Politik als Beruf, „lässt Machiavelli an einer schönen Stelle, irre ich nicht,: der Florentiner Geschichten, einen seiner Helden jene Bürger preisen, denen die Grösse der Vaterstadt höher stand als das Heil ihrer Seele.“99 Die weltgeschichtliche Tat Machiavells besteht in der Entdeckung und Erzeugung des politischen Profis. Eine ungeheure Professionalisierung durch Spezialisierung, eine sagenhafte Verwissenschaftlichung durch die Geburt des Spezialisten entsteht. Wenn der Principe die folgenden Jahrhunderte hindurch als Fürstenspiegel gelesen und zur Aufzucht abendländischer Thronprätendenten herangezogen wurde, dass noch der junge Friedrich einen ,aufgeklärteren‘ Antimachiavell folgen lassen zu müssen vermeinte, war dies nicht eine Folge davon, dass der Principe eine Anleitung zum ,machiavellistischen‘ Ränkeschmied ist, sondern Handlungsanweisungen für einen Politiker in unserem, neuzeitlichem Sinne100 bereithält – wo die Ränke wohl auch einen beträchtlichen Teil ausmachen. Die Neue Wissenschaft der Politik weiss mit dem Sakralen, ausser fürs Kalkül, nichts anzufangen, so dass Machiavelli die politische Instinktlosigkeit der Kurie geisseln kann, weil sie in ihrem ,Fach‘ gerade politisch versagt habe. Das Spirituelle wird eine Kategorie des Politischen, nicht umgekehrt. „Erstens verlor dieses Land durch das schlechte Beispiel des römischen Hofes alle Gottesfurcht und alle Religion, was unzählige Übelstände und Unordnungen zur Folge hat, weil ebenso, wie sich dort, wo Religion ist, alles Gute voraussetzen lässt, auch wo sie fehlt, das Gegenteil vorauszusetzen ist. Wir Italiener verdanken also der Kirche und den Priestern erstens, dass wir ohne Religion und böse sind; wir verdanken ihr aber zweitens etwas noch Entscheidenderes, was die Ursache unseres Verfalles ist; ich meine, dass die Kirche unser Land in Spaltung erhalten hat und noch hält [ . . . ]“101.

Es entsteht der blinde Fleck der Politik: Der Einbruch des Legitimierenden, Göttlichen, Sakralen, Teleologischen in Staat und Gesellschaft wird nicht mehr verstanden und kommt gleich einem Wunder von ausserhalb. Daher wird ein Leviathan des Thomas Hobbes, als eine Antwort des politischen Profis auf den ,ungion, letztere sich nur schwer einführen lässt“ (Machiavelli, ibid., S. 62). Besser gesagt, beschreibt er, wie die Religion instrumentalisiert wird. Sein Ratschlag: „Die Fürsten oder Republiken, welche sich unverdorben erhalten wollen, müssen vor allem die Zeremonien der Religion rein und in Ehrfurcht erhalten.“ (ibid., S. 64). 99 Weber, Max: Politik als Beruf (1918 / 19, 1998), S. 558. 100 Machiavell ist der Prototyp des Realisten, weil „erforderlichenfalls“ „Gebrauch“ von allerlei Taten, guten oder bösen, gemacht wird: „Und viele haben sich Republiken und Monarchien zusammenphantasiert, die nie existiert haben. Es ist ein so außerordentlicher Unterschied zwischen der Art, wie man wirklich lebt und wie man leben sollte, dass alle, welche bloß darauf sehen, was geschehen sollte, und nicht auf das, was wirklich geschieht, eher ihren Untergang als ihre Erhaltung erleben. Es ist daher unvermeidlich, dass ein Mann, der überall rein moralisch handeln will, unter so vielen anderen, die nicht so handeln, früher oder später zugrunde gehen muss. Es ist also notwendig, dass ein Fürst, der sich behaupten will, auch lernen müsse, nicht gut handeln zu können, um erforderlichenfalls hiervon Gebrauch zu machen.“ (Machiavelli, ibid., S. 447). 101 Machiavelli, ibid., S. 66.

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professionellen‘ Konfessionskrieg, nötig, daher werden Versuche nötig, Legitimation aus sich selbst zu beziehen, etwa, seit Descartes, aus der Hoffnung auf einen prinzipiierenden Subjektkern, daher, wie in den Revolutionen des 18. Jahrhunderts, werden die Fiktionen des ,Menschengeschlechts‘ nötig, daher, auch, die Konjunktur von Freiheit und Gleichheit, verstanden als selbstreferentielle Diskurse, daher die Trunkenheit des 19. Jahrhunderts, wenn es um Entfremdung geht, Entfremdung begriffen als höchste Form der Möglichkeit von Selbstlegitimation und gleichzeitiger Entfernung von jeglicher Selbstlegitimation, dialektisch aufgeschaukelt bis zu Phantasien über einen nichtentfremdeten Gott, eine nichtentfremdete Arbeiterklasse und, als Peripetie und Anagnorisis, den nieentfremdeten Gottmenschen: den mit der Lehre der Wiederkunft bewaffneten Übermenschen.102 —*— Die Neuzeit könnte jedoch nicht erzählt werden ohne einen Hinweis auf den Skeptizismus, der doch seinerzeit – hinsichtlich der Politik – in der Zwei-ReicheLehre103 seinen Ausdruck gefunden hatte, und zwar gerade dadurch, dass man der weltlichen Sphäre skeptisch gegenüberstand. Das hat in der Konsequenz dazu geführt, dass die Kirche des Mittelalters einen Semipelagianismus verfocht104, also 102 Dass der Übermensch an der Schwelle zur Moderne erscheint, ist für liberale und kommunitaristische Denker wie MacIntyre und Habermas immer noch eine bittere Pille zu schlucken. MacIntyre prognostiziert aufgrund des Verlusts der Tugend und der babylonischen Sprachverwirrung: „Und wir können deshalb damit rechnen, daß liberale, individualistische Gesellschaften von Zeit zu Zeit ,grosse Menschen‘ hervorbringen. Leider!“ (MacIntyre, Alasdair: Verlust der Tugend (1981, dt. 1995), S. 344), hofft dann aber auf einen „zweifelsohne völlig anderen heiligen Benedikt“ (S. 350). Zwar ist der Übermensch nicht identisch mit dem grossen Menschen („Niemals noch gab es einen Übermenschen. Nackt sah ich Beide, den grössten und den kleinsten Menschen“ Nietzsche, Zarathustra IV. 4., KSA 4, 117), aber zumindest auf dem Weg zu ihm und aus der liberalen-kommunitaristischen Perspektive, von MacIntyre aus gesehen, mit diesem identisch. Und Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne (1988, 31991) lässt zwar mit Nietzsche die Subjektphilosophie dekonstruieren, versteht den „kommenden Gott“ (S. 108, 113 f., 119) aber jeweils als den aus dem frühen Nietzsche her bekannten Dionysos, dem Repräsentanten des Anderen der Vernunft. Der Begriff des Übermenschen fällt erst gar nicht. 103 Systematisch hervorragend die Darstellung von Duchrow, Ulrich: Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zwei-Reiche-Lehre (1980). Aus der Erfahrung der Entdeckung der Zwei-Reiche-Lehre hat sich dann Augustins Denken verschärft. 104 Dazu demnächst: Sommer, Andreas Urs: Das Ende der antiken Anthropologie. Augustinus und Julianus von Eclanum. Vortrag zum Habilitationskolloquium am 21. Januar 2004, aus dem man folgern müsste, dass die Kirche sich eines Semijulianismus bedient. Statt völliger Korruption hat die Kirche seit je her dem Menschen nur eine Verwundung, Schwächung oder Trübung seiner Natur festgestellt (so das Tridentinische Dogma), so dass ein Zusammenhang mit antiker Anthropologie und antiker Skepsis bestehen bleibt. Julian gelinge es gar, so Sommer, „jene Synthese der heidnisch-antiken Philosophie und der christlichen Religion, an der Augustin in den 390er Jahren gerade gescheitert ist“ (S. 12), durchzuführen und so etwas wie Kirche überhaupt erst zu begründen. „In der Logik [der Augustinischen, M.S.] Prädestinationsdoktrin ist genau genommen für eine Kirche als Heilsanstalt ebensowenig Platz wie in einem individualethisch verstandenen Pelagianismus, reicht doch offensichtlich

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etwa in Gnadendingen offiziell die Verderbtheit des Menschen verkündete, dieses aber gleichzeitig in der Praxis der Liturgie und des Katechismus immer wieder mit viel Skepsis gebrochen hat. Eine Skepsis, die der Skepsis gegenüber der Politik korrespondiert. Diese Korrespondenz geht in der Neuzeit verloren. Der Verlust der katholischen Skepsis durch das Säurebad des Protestantismus bzw. das Säurebad der reformatio in caput et membris, der ,devotio moderna‘, führt, auch nach dem ,reformatorischen‘ Tridentinum, zum nicht mehr katholischen Neostoizismus, der eine Nachahmung des ursprünglichen katholischen Skeptizismus ist und immer unter der Fuchtel der Naturwissenschaft steht,– nicht unter der Knute der weltlichkritischen Kirche. Die Skepsis gegen die Weltlichkeit verkehrt sich in der Neuzeit zu einer Skepsis gegenüber der Dualität von geistlich-weltlich – damit richtet sich der neuzeitliche Skeptizismus direkt gegen jede Hegungsversuche der Politik und ist für die Entfesselung der Politik mitverantwortlich. Das Leibnizsche auch skeptische Programm, wie er es in der Praefatio der Theodizee entfaltet, stellt nicht zufällig Zeremonien und Dogmen (als äusserliche, förmliche Gottesverehrung) der „echten Frömmigkeit“105 entgegen, auch wenn der Politiker Leibniz nach allen Seiten offen ist, die Frage aber entsteht, ob er auch nach Oben offen sein will106. Leibniz, der Politiker, der Diplomat, der Mann des Ausgleichs, hat in seiner Theodizee, so ziemlich alles und jedes vermittelt, was zu vermitteln war – unglaublich gebildet und in der Herangehensweise sozusagen enzyklopädisch, als Position irgendwo zwischen Augsburger Konfession, Katholizität, Jansenismus, Port Royal, Descartes und Pierre Bayle, aber in einem Punkt unverrückbar und klar und distinkt und das ist: in der Perspicuitas der öffentlichen Gesprächigkeit, der ,Veröffentlichkeit‘ aller theologischen, konfessionellen und philosophischen Haupt- und Nebenschwierigkeiten. Der Ausgleich der Theodizee wird nötig, weil eine klare Distinktion mit arbeitsteiligen Zuständigkeiten, wie sie in der Entsprechung von göttlichem und weltlichem Reich vorläge, nicht mehr vorliegt107. Die beste aller Welten ist die beste aller dieser Welten, nicht jener Welten, die entsprechende Zugehörigkeit mitnichten aus, um der Erlösung teilhaftig zu werden. Da setzt denn auch die kirchliche, „semipelagianische“ Nivellierung des Augustinismus ein.“ (S. 16). 105 Leibniz, ibid., I, Praefatio, S. 3. 106 Was dubios wird, wenn er über die Wunder sagt: „Aber man muss beachten, dass die Wunder, die in der Welt geschehen, ebenfalls in dieser Welt, diese im Zustand der reinen Möglichkeit betrachtet, als möglich enthalten und vorgestellt waren, und dass Gott, der sie seitdem bewirkt hat, damals, als er diese Welt wählte, auch beschloss, sie zu bewirken.“ (Leibniz, ibid., I, 1. Teil, § 54, S. 285 f.). 107 Die Verstörung, die von Politik ausgehen kann, ist mit diesem besten aller Götter entsorgt. Es genügt, zu sehen, wie das „Ungestüme“ des Menschen von Leibniz ,behandelt‘ wird. „Aber (so sagt Herr Bayle) Gott hat den freien Willen der der Sünde fähigen Geschöpfen gegeben, ohne dass diese ihn um diese Gnade gebeten hätten; und der, welcher ein solches Geschenk macht, wird für das Unglück, das er denen bereitet, die sich dessen bedienen, verantwortlicher sein, als wenn er es nur dem Ungestüm ihrer Bitten gewährt hätte. Aber das Ungestüm der Bitten hat bei Gott gar kein Gewicht: er weiss besser, was wir brauchen und gewährt nur das, was mit dem Ganzen in Einklang ist.“ (Leibniz, ibid., II, § 120., S. 397) Ist

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m. a. W.: diese Welt wird jener Welt angeglichen und hält zu jener Welt allenfalls noch deswegen Kontakt, weil ihr höchstens ein Quentchen zu jener Vollkommenheit noch fehlt. Leibniz: „Indessen zweifelt der heilige Augustinus – so wenig wie Herr Bayle – nicht daran, dass die Lösung, die man wünscht, schon hier auf Erden gefunden werden könne“108. Die Theodizee ist also recht eigentlich eine Mundodizee109. Und über die Mundodizee wird Gott gerechtfertigt; er hat also an ihrer annähernden Perfektion teil: Die beste aller Welten – das ist ein Schlaraffenland für Politiker, die in dieser, der besten, Welt daheim sind. Und weiter: Wenn das die beste aller Welten ist, müsste man dies nicht ausposaunen? Die Theodizee der Zeitung entsteht. So ist das mit der Säkularisierung, wenn man nach Bayle und mit Bayle auf ein paar tausend veröffentlichten Seiten bewiesen bekommen hat, dass es keine vernünftige Rede von Gott geben kann, dann ist das der neue Gott: die paar tausend veröffentlichten Seiten – aus dem Dictionnaire folgt kein Agnostizismus, sondern der Glaube an Publizität, an Gelehrsamkeit – an moderne Wissenschaft. Wie gläubig Bayle persönlich im einzelnen gewesen und wie dialektisch und modern seine Theologie auch immer sei, spielt, wenn man die pyrrhonistische Theorie der radikalen Veröffentlichungschance mit eindenkt, keine Rolle. Mit der diktionarischen Disgregation des Wissens werden die beiden augustinischen Civitates jedenfalls in eine Unzahl Civitates gespalten, die nicht mehr korrespondieren können. Die Fussnoten gehen auf die Wunder; Wunder müssen belegt werden – das ist die neue Methode, die neue Anforderung post Bayle. Moderne Skeptiker wie Bayle oder Feuerbach sind aber keine Skeptiker, wenn es um die Abweisung des katholischen oder auch des jesuanischen Skeptizismus geht. Bayle ist, vertrauen wir Feuerbach, ein Skeptiker, aber „Bayle ist kein dogmatischer Skeptiker – er ist auch Skeptiker gegen den Skeptizismus –,“110 Bayle ist aber vor allem ein Polemiker. Da, wo er loslässt und auf seinen Feind zugeht, ist er Polemiker und nichts als Polemiker, nämlich da, wo es gegen den Katholizismus geht. Das geistliche Reich wird durch die Skeptiker beseitigt und ersetzt durch eine atheistische Gesellschaft, bei der sich das Problem des politikkritischen Reiches erst gar nicht mehr stellt. Bayle und Feuerbach sähen einem Staat von Atheisten mit Interesse entgegen: „Dieser Satz [dass der Komet nur den Abergläubischen bestärke, M.S.] führte ihn auf die in seiner Zeit großen Anstoß erregende Behauptung, daß der Atheismus kein größeres Übel sei als der Polytheismus, überhaupt die Idolatrie oder der Aberglaube, und diese Behauptung wieder auf die berüchtigten Sätze, daß der Atheisdas „Ungestüme“ bei Bayle wenigstens noch eine menschlich-allzumenschliche Benehmen, mit dem sich der Sündige seinem Gott nähern kann (was von Bayle distanziert kommentiert wird), so hat das „Ungestüm“ bei Gott resp. Leibniz „gar kein Gewicht“. 108 Leibniz, Theodizee, ibid., Discours de la conformité, § 87., S. 203. 109 Leibniz’ Antwort auf die konfessionelle Gespaltenheit scheint, so gelesen, mit Ideen John Lockes und des politikentfesselnden common sense zu kongruieren, allerdings gegeben von der anderen, theologischen Seite: „man richtet alle seine Absichten auf das Gemeinwohl, das von dem Ruhm Gottes nicht verschieden ist“ (Leibniz, Theodizee, ibid., Praefatio, S. 9). 110 Feuerbach, ibid., S. 228.

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mus nicht notwendig mit Immoralismus verbunden sei, daß selbst an sich ein Staat recht gut aus Atheisten bestehen könnte . . .“111 Es macht dem Skeptizismus unsäglichen Spass, die profansten Gedanken über die christliche Ehe, die christlichen Wunder, die christlichen Anthropomorphismen in der Theologie und dergleichen immerfort zu äussern, weil er diese Gedanken, ob nun skeptisch oder junghegelianisch, zurückführen kann, zurückführen kann auf Menschlich, Allzumenschliches – da ist und bleibt die Verheiratung Luthers und die Keuschheit des Christen, bei Bayle und bei Feuerbach, ein Thema. Auf der einen Seite habe Gott Absichten, Pläne, Gründe, Ratschläge und Leidenschaften, andererseits verstecke sich die Theologie dann wieder hinter dem unerforschlichen Ratschluß, der absoluten Unbestimmbarkeit Gottes usw. Dazu Feuerbach: „Das mendacium [die Lüge], die pia fraus [der fromme Betrug] ist daher die Basis der Theologie, und die Extreme des niedrigsten Anthropomorphismus einerseits und des Nihilismus der Begriffslosigkeit andererseits sind die Gegensätze, zwischen welchen die Theologie von jeher hin und her geschwankt ist.“112 Und über die geistige Situation der Zeit des Pierre Bayle heisst es: „Da gab es eine Astrotheologie, eine Lithotheologie, eine Petinotheologie, eine Insektotheologie“113, um die allzumenschliche Verkommenheit der Theologie zu geisseln. Und natürlich gerät das Christentum in dieser Lesart selber unter Nihilismusverdacht: „Es ist gewiss, dass die Heiden nie gekommen sind zur Erkenntnis der wahren Lehre, nämlich dass wir aus nichts gemacht sind, dass selbst in jedem Augenblick unsre Existenz aus dem Nichts herausgezogen wird.“114 Das Nichts wird jedoch von Feuerbach nicht negativ bewertet, sondern als Stachel zur Philosophie umfunktionalisiert: „Nur wo der Mensch den Glauben verliert, wo er sich ausleert, wo er nichts in sich hat, nur in dieser penia, in dieser Not, entspringt ein philosophisches Bedürfnis . . .“115 Die Philosophie wird vom Skeptizismus für eine götter- und kirchenlose Gesellschaft missbraucht, in der der Mensch, der Philosoph werden muss, leben können soll. Von einer Politikkritik, von einer Politikferne keine Spur, keine Regung, kein Platz mehr. Platz findet aber der für den neuzeitlichen Skeptizismus wichtige Deus malignus, auf den wiederum die Leibnizsche Theodizee reagiert. Der Deus malignus des Descartes ist die Konsequenz des Pyrrhonismus, wenn man nicht genau weiss. Wenn man nicht genau weiss, wie das so ist mit Gott und Gott post Pyrrhon auch ein Deus malignus sein könnte. Es entbehrt nicht der Dialektik, dass Leibniz, der beste Advokat des besten Gottes gegen Ende in der Öffentlichkeit als Gottesleugner angeprangert war, womit sich der Kreis des Skeptizismus schliesst. Wenn der alte Leibniz in Hannover per Diasyrmus „Lövenix, d.i. welcher nicht glaubte“ gerufen wurde – „offenbar deswegen nur, weil er wenig zur Kirche ging“, wie Feuer111 112 113 114 115

Feuerbach, ibid., S. 58. Feuerbach, ibid., S. 334 f. Feuerbach, ibid., S. 42. Feuerbach, ibid., S. 222. Feuerbach, ibid., S. 232.

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bach spottet116, hat die vox Dei offensichtlich gut verstanden: Wie soll man an den Gott der Theodizee glauben und wieso, bitte, soll man wegen des Gottes der Theodizee in die Kirche gehen? Und in welche? —*— Der Denker aus dem Zeitalter des dreissigjährigen Krieges hatte das Aufeinandertreffen der Götter sehr nahe erlebt und denkt aus einer Minimalposition der Gewährleistung staatlicher Rechtssicherheit her: über die Strasse gehen können, etc.: und hier hat der Staat dann die Legitimationsfunktion Gottes übernommen: nämlich Dauer und Überwölbung mitmenschlichen Zusammenlebens zu gewährleisten. Es war das Problem, zu viel Gott zu haben, zu viele Götter zu haben, nicht das Problem, zu wenig oder gar keinen Gott zu haben: daher brechen wir nicht leichtfertig den Stab über die götterlosen Theoretiker. Es ist aber festzuhalten, dass die Lösung der Götterkonkurrenz bei Hobbes immer ausserpolitisch-politisch versucht wird, noch da, wo der Souverän eigentlich Gott verpflichtet wäre. Nach Reformation und konfessionellen Bürgerkriegen schien es keine Parallelisierung der weltlichen Kräfte der Politik mit den geistlichen Kräften zwecks Eindämmung der politischen Dynamik mehr zu geben, es musste wohl eine vertikale Hegung der Politik versucht werden: oben der Souverän, der die Politik verbietet, und unten die Angst des Individuums, das in den Naturzustand zu fallen droht: das Prinzip des Naturrechts ist nichts anderes als die Verklammerung von Angst und Herrschaft nach dem Verlust der civitas Dei. Der Leviathan ist die neuzeitliche Antwort auf die augustinische Konzeption, weil auch hier eine Zweiteilung von Weltlichem und Göttlichem das Werk durchzieht117, wobei das christlich-ekklesiastische CommonWealth der geistlichen Spekulation zwar den Grundsatz ,Jesus is the Christ‘ beherzigt118, aber sonst durch und durch aus Bibel- und Papstkritik besteht und die Feuerbach, ibid., S. 79. Ein verdienter Verlag hat sich ohne Erklärung erdreistet, den Leviathan, jedenfalls die ersten beiden (von vier) Bücher, herauszugeben, unter sorgsamer Aussparung des dritten und des vierten Buches, weil offenbar nur die politischen, nicht aber die geistlichen Bücher von Interesse seien. (Hobbes, Leviathan. Erster und Zweiter Teil, hrsg. von Malte Dießelhorst (lat. 1668, 21980), basierend auf der deutschen Übersetzung von Tidow (Hobbes, Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hrsg. von MayerTasch. (1965), nur Teil I und II). Ebenso auch schon bei den Ausgaben von Kirk (Hobbes, Leviathan, part I. Introduced by Russel Kirk (1956), nur Teil I, Schneider (Hobbes, Leviathan, parts one and two. With an introd. by Herbert Schneider (1958), nur Teil I und II. Über die verschiedenen Ausgaben informiert Willms, Bernhard: Der Weg des Leviathan. Die Hobbes-Forschung von 1968 – 1978 (1979), S. 22 f., 186, erhellend, über Authentizität der Erstdrucke Macpherson in der Einleitung der Penguin Book-Ausgabe des Leviathan (1651, 1985), S. 67 – 70. 118 „Das unum necessarium, der einzige Glaubensartikel, den die Schrift für die Errettung schlechthin voraussetzt, lautet: Jesus ist der Christus.“ (Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Kap. 43, S. 450. Vgl. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen (1927, 31963, 19913). Hinweise, Anmerkung zu den Seiten 59 / 66, 121 f. (mit dem berühmten Systemkristall), aber auch Schmitt, Carl: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols (1938, 21982). 116 117

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„vollendete Reformation“119 bedeutet. Das geistliche Reich besteht hier durchaus, zumindest in „blossen Worten“120, parallel fort, wird aber nach den Bedürfnissen des Neuen Gottes, des Leviathan, zurechtgestutzt, insofern ergibt sich eine gleichzeitige Neutralisierung und Retheologisierung. Es ist zwar richtig, wenn Kodalle schreibt: „Ohne die theologische Komponente bräche Hobbes’ Staatskonstruktion in sich zusammen“121, aber diese Theoremata sind vor sozialtechnologischen Missverständnissen weder gefeit noch geschützt. Augustinus und die Zwei-ReicheLehre kommen bei Kodalle nicht vor. Die Frage, die sich bei den Ausführungen Weiß122, der den Mensch, wie gesehen, machinal begreifen will, stellt, ist nur die, ob das irgend etwas bringt. Dass sich der Mensch dem machinalen Wesen des Staates anbequemen soll und sich als rational verfasster Kybernaut verstehen soll, kann wohl Brüche in der Kohärenz der Hobbesschen Theorie ex post zukleistern, aber vollendeter Nihilismus ist das trotz alledem allemal. Der Systemfunktionalismus hat nicht zufällig Theologieengineering nötig, an den niemand glaubt und an den wohl auch niemand glauben soll. Und Baruzzi macht die Politikferne der Kirche der Kirche zum Vorwurf und begrüsst, dass auf den Trümmern des Gottesstaates der Leviathan errichtet werde: „Im Gegenteil entzieht sich die Kirche der menschlichen Zeit gerade dann, wenn es an der Zeit wäre, mitten in ihr dabei zu sein. Die Politikwissenschaft muß einsehen, daß Politik ohne die Kirche getan werden muß. Die Politik muß es besser machen. Politik als Wissenschaft bedeutet für Hobbes, daß ein Staat ohne Kirche auskommen muß und auch kann. Das Können vermittelt die Wissenschaft. Der Leviathan ist der Menschenstaat, der auf den Trümmern des Gottesstaates errichtet werden muß (vgl. Strauss, Naturrecht, 181).“123 Die Wunder werden wahr, weil es der Staat befiehlt; so etwa das Sakrament der Eucharistie; – erklärt sich der Staat gegen die Wunder, hören sie auf, Wunder zu sein124. Das 119 Leider nicht näher ausgeführt in Schmitt, Carl: Die vollendete Reformation, Bemerkungen und Hinweise zu neuen Leviathan-Interpretationen. In: Der Staat (1965), 4. Bd., S. 51 – 69, der sich dort unter anderem mit der These von Barion auseinandersetzt, Hobbes Lehre von der (staatlichen) Souveränität sei nichts anderes als ein Gegenstück zu den hierokratischen Herrschaftsansprüchen, wie sie Johannes von Salisbury oder Bonifaz VIII. in der Bulle Unam Sanctam (1302) formuliert haben. Ob die Formel des Jesuschristus wirklich transzendenzermöglichend sei, soll hier nicht entschieden sein. 120 „Denn diese Unterscheidung von zeitlicher und geistlicher Gewalt besteht aus blossen Worten. Wenn die Gewalt mit einer anderen, indirekten Gewalt geteilt wird, so ist sie tatsächlich und in jeder Hinsicht gefährlich geteilt, wie wenn sie mit einer direkten geteilt wird.“ (Hobbes, Leviathan, XXXXII, S. 439). Der potestas indirecta wird vorgeworfen, politisch zu sein, ohne politisch sein zu wollen, wobei offensichtlich der Leviathan bestimmt, was politisch ist und was nicht. Im Grunde soll die indirekte Macht der Kirche erfolgreich konkurrenziert werden durch die indirekte Macht der juristischen Personen, die aber den Leviathan, das ist seine Tragödie, zur Strecke bringen werden. 121 Kodalle, Klaus-Michael: Wahrheit und System: Studien zum Verhältnis von Theologie und Staatsphilosophie bei Thomas Hobbes (1972), S. 59. 122 Weiß, Ulrich: Das philosophische System von Thomas Hobbes (1980). 123 Baruzzi, Arno: Thomas Hobbes: Strukturelle Einheit von Körper und Methode (1979), S. 75.

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Ockhamsche Messer, mit dem Hobbes das Christentum traktiert und zwischen dem Notwendigen und dem Hinreichenden der christlichen Religion unterscheidet, kann vielleicht das die angelsächsischen Autoren wie Warrender125, Hood126 oder Kantianer interessierende Problem der ,moral obligation‘ (warum der Untertan dem Souverän gehorchen soll) mit der Formel des Jesuschristus lösen, aber nicht einen positivistischen (Rechts-)Staat verhindern, dem man nur noch ein Lippenbekenntnis schuldet (wie es Schmitt127 richtig sieht) und, schlimmer noch, einer lustigen klandestinen Politisierung aller Lebensbereiche Vorschub leistet, die der Leviathan nicht mehr sehen und nicht mehr hindern kann, weil sie deutlich unter der Minimalformel des Jesuschristus bleibt. Wenn die höchste Macht, von der es heisst, non est super terram potestas quae conparetur ei (Hiob 41, 24, siehe auch das aufschlussreiche Frontispiz des Leviathan, das von Schmitt diskutiert wird128), 124 Wunder sind nichts als Zeichen und entbergen lediglich „etwas Ungewöhnliches“, etwa wenn ein Pferd sprechen könnte (Hobbes, Leviathan, XXXVII, S. 334). An sie kann zwar individuell geglaubt werden, aber wenn sie bekannt werden müssen, „muss sich die private Vernunft der öffentlichen unterwerfen“ (340). 125 Warrender, Howard: The political philosophy of Hobbes: his theory of obligation (1957). Siehe weiter oben. 126 Hood, Francis: The divine politics of Thomas Hobbes: an interpretation of Leviathan (1964). Siehe dazu auch Kapitel II. 2. Nach Hood beruht die Hobbessche Staatsphilosophie auf religiösen Vorstellungen, die als solche nicht wissenschaftlich erkannt werden können und sogar: „The submission of a man’s will to the will of another is a religious concept of which there can be no natural knowledge“ (S. 116). Ulrich Weiß nennt das Buch Hoods ein Kuriosum, das Hobbes auf den Rang eines essentiell christlichen, an der Heiligen Schrift orientierten Epigonen mittelalterlichen Denkens zurückzustufen scheint (Weiß, ibid., S. 14). Als Beleg dafür sind die Bemerkungen Hoods zu verstehen, es gäbe „nothing that is original in Hobbes’s moral thought“ (S. 23); „scripture was the only source of Hobbes’s moral convictions“ (S. 4); „Hobbes’s morality is traditional and Christian“ (S. 13). Er suche auch Hobbes’ Wissenschaft auf ein religiöses Fundament zu stellen: „Despite Hobbes’s increasing absorption in science his view of the world, and of man’s estate, remained fundamentally a religious one.“ (S. 40) Doch selbst diese Zuversicht kann ihm das Eingeständnis nicht ersparen, dass das christliche Moraldenken und Wissenschaft zumindest in Teilen unüberbrückbar bleibe (S. 299 f.). Schliesslich zeichnet Hood von Hobbes „das Bild eines christlich-protestantischen Denkers“ (Kodalle, ibid., S. 17), der als radikaler Vertreter der Prädestinationsdoktrin erscheint (Hood, ibid., S. 8). Hoods Hobbes ist harmonisch: „There was for Hobbes no conflict between science and religion.“ Kodalle spricht vom „Verzicht, die Spannung zwischen formaler, dezisionistischer Staatsvernunft und substantieller Wahrheit voll ernst zu nehmen“ (Kodalle, ibid., S. 18). Um die bekannte Widersprüchlichkeit Hobbes zu umgehen, wertet Hood Hobbes’ Psychologie als psychologischdeterministisch und nicht als moralisch-egoistisch (ibid.). Das wichtige Ziel Hoods ist nachzuweisen, dass Hobbes ein „religiöser Moralist“ war, doch eine Antwort auf „die Frage nach der Notwendigkeit der religiösen substantiellen Wahrheit für die politische Philosophie“ (ibid.), wie Kodalle meint, ist in der Tat vergebens zu suchen. 127 Schmitt, Carl: Leviathan (1938; 21982) und Schmitt, Carl: Die vollendete Reformation (1965). 128 Schmitt, ibid., S. 25 ff. Des weiteren Brandt, Reinhart: Das Titelblatt des Leviathan (1987). Titelbilder philosophischer Hauptwerke, auch das des Leviathan, sind Gegenstand eines instruktiven Seminars von Henning Ottmann gewesen.

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dekretiert, dass es nur ein unum necessarium gebe und alles andere ist von der Macht aus gesehen ohne Belang, dann werden die Millionen Untertanen und die Tausenden von Korporationen sämtliche zu kleinen atomaren indirekten Gewalten, die jede für sich nicht in den Blick des Leviathan geraten, aber alle zusammen – wie beim Prinzip Markt, wie beim Prinzip Naturrecht – doch grössere Gewalt haben, sofern sie alle Gewaltinteressenten, also Politiker, sind. Womit sie Politiker werden müssen. Ganz anders argumentiert Shirley Letwin, wenn sie Hobbes als einen eminent christlichen Denker hinstellt. Hobbes vollende die jüdisch-christliche Vorstellung von der totalen Andersartigkeit des Schöpfers, indem er sie von der antiken Kosmosidee trenne und den Menschen auf dieser Erde von seinem Zweigeteiltsein, durch das radikale Wegrücken der göttlichen Hälfte, befreie; dem Gotte sein Himmelreich, dem Menschen seine Rationalität – ohne Vermittlung. Das jüdisch-jesuanische Christentum sei dergestalt mit dem Materialismus vereinbar. Solange der Gott unter den Menschen nicht erscheint, „gebe es keine natürlich-normative Unter- oder Überordnung zwischen ihnen“129, solange das Himmelreich nicht nahe sei, gelte es, das uns übertragene Pfund, gemäss Lk 19,11 – 27, hienieden zu mehren, unbeschadet späterer Sanktion. Wer hier und jetzt habe, dem wird später auch noch gegeben; wer aber ängstlich sein Licht unter den Scheffel stellt, um sich eine weisse Weste zu bewahren und das Übertragene nicht mehre, dem wird auch dieses noch genommen. Der Mensch muss sich hier in dieser Welt vertragen, welches ihm als rationales, selbstbestimmtes Wesen aufgetragen sei; daraus resultiere die Politik. „Though God may have commanded us to love one another, our recognition of that injunction and our readiness to obey it are a consequence, not the foundation, of civilization“. 130 Es mag wohl in der einen oder anderen jesuanischen Perikope eine unaufgeregte Sachdienlichkeit, eine bodenständige Einfalt geben, um dem Volk im Gleichnis zu sagen, was der Inhalt der christlichen Botschaft ist, aber die Parabel vom anvertrauten Pfund will uns nicht dazu anhalten, Spekulationsgewinne einzustreichen oder im Komfort des Sankt-Nimmerleinstages zu wirtschaften; statt dessen soll Kleinmütigkeit angeprangert sein, soll das Abschneiden der Hinwendung auf eine Jenseitigkeit bekämpft sein, soll die Beharrlichkeit in der Beziehung zum künftigen und präsenten, jenseitigen Gott anempfohlen sein – als Lehre für die Ungeduldigen, die heute bereits das Himmelreich erwarten. Es ist nicht unbedingt das paulinische Seid wachsam!, das hier gefordert ist, doch wollte man aus dem Gleichnis einen kategorischen Imperativ deduzieren, kann dieser nur Nicht verzagen! lauten, jederzeit zugleich, aber bis auf Widerruf. Die Trennung weltlicher und geistlicher Bereich mag in der jüdischen Tradition stark sein, aber ausgerechnet das christliche Erlösungswerk versöhnt Himmel und Erde, solange der Mensch den Primat des Himmels anerkennt. Reine Diesseitigkeit führt eben zu Typen, die eher in den Himmel kommen, als ein Kamel durchs Nadelöhr. Und das 129 130

Willms, ibid., S. 127. Letwin, Shirley: Hobbes and Christianity (1976), S. 16.

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Herrenwort, ob weltliche oder geistliche / geistige Existenz vorzuziehen sei, entscheidet ein für allemal: Nicht die tägliche Plackerei, gemäss Genesis die gerechte Strafe des Lapsus, sondern das Zuhören am Fusse des Salvador ist das, was Ihm lieb ist. Nicht Marta, sondern Maria. „Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“ (Lk 10,42) Marta, die plackt, „Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen“ und klagt, „Herr, fragst du nicht danach, daß mich meine Schwester läßt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie mir helfen soll!“ (Lk 10, 40), wird vom Herrn in die Schranken gewiesen. Jesus sagt: „Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“ (Lk 10,41;42) Etwas näher am Zentrum der Problematik scheint mir die Arbeit von Peters131 zu sein, der seine Interpretation im Spannungsfeld der Sätze, dass das Reich Christi nicht von dieser Welt, aber Jesus der Christus ist, ansiedelt. Das bedeutet für Peters, dass es Aufgabe des Leviathan sein muss, diese zentralen Theologoumena und Theoremata festzuhalten und institutionell mit Wahrheitsanspruch allein durchzusetzen, bis dass der Herr erscheine. Das geistliche Reich wird zeitlich nach hinten verschoben, so dass der Leviathan der Repräsentant auf Erden sein kann und den Dualismus bestehen lässt aber beherrschen kann. Das mag in die Systematik des Leviathan tief einsteigen, auch wenn der textliche Befund schon gezeigt hat, dass es mit einem geistlichen Reich und einem Dualismus irgendwelcher Art vorbei ist.132 Es könnte schon zumindest in der Konsequenz der Ausführungen Hobbes liegen, dass der Leviathan quasi zum Stellvertreter wird, und die Peterssche Argumentation für den heilsgeschichtlich verfassten Leviathan ist ja auch in etwa diegleiche, die die Kirche gibt, wenn sie ihre Aufgabe umreisst – nämlich bis zum Ende auszuharren. Der Staat würde so aber selber zu einer eschatologischen Figur, zu einem Aufhalter vielleicht, und würde selber zu einem Gegenstand der Peters, Richard: Hobbes (1956). Zwar gibt es auch bei Hobbes die Parusie Christi und den Höllenpfuhl, aber aus der Aussicht auf die noch nicht gekommene Church triumphant, wie Hobbes immer wieder gegen Katholiken und radikale Presbyterianer verkündet, lasse sich keine Hoffnung, vor allem keine politisch ausschlachtbare Hoffnung ziehen: „For though the Scripture be clear for a universal resurrection, yet we do not read that to any of the reprobate is promised an eternal life“ (Hobbes, Leviathan (1651, 1985), Kap. XXXVIII, Penguin Books, S. 489). Wie Pocock zeigt, gebe es für Hobbes drei christliche Zeiten: 1. Die Vize-Regentschaft von Moses und seinen Nachfolgern bis zum Bruch des Bundesvertrags, 2. Die Zeit der Ankunft des Heilands und die Errichtung eines Neuen Bundes mit Konstatin und 3. die Zeit der Herrschaft von Jesus Christus nach dem Jüngsten Gericht (Pocock, John: Time, History and Eschatology in the Thought of Thomas Hobbes (1970)). Metzger, Hans-Dieter: Thomas Hobbes und die Englische Revolution (1991), spricht sogar davon, dass Hobbes die „antike Kreisvorstellung“ der immer wiederkehrenden Abfolge von Staaten und Naturzuständen „und die christliche Fortschrittsvorstellung so versöhnt, dass die Aussicht auf das Jenseits möglich wurde, ohne dass sie für das Diesseits störend wirken konnte“ (S. 231) Das Hobbessche Paradies ist aber durch die Methode der resolutio hindurch wahrscheinlich etwas entblättert worden und kommt für antikirchliche Agitation noch in Betracht, aber als Minimaltranszendentium jedenfalls nicht mehr fürs Sehnen und Verlangen. Auf diese Versöhnung kann ein Christ auch verzichten. 131 132

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Verehrung und der Anbetung werden können – eine von Hobbes wohl (hoffentlich) nicht intendierte Möglichkeit. Was geschieht, wenn dieser Staat entsteht oder vergeht, wird dann eine eschatologische Frage, die Hobbes gerade ausschliessen will. Und der Universalismus der Eschatologie passt schlecht zu dem in Staatsgrenzen fest umrissenen Leviathan, der ja umgeben ist von anderen Leviathanen, die permanent in eschatologische Konflikte mit den anderen Leviathanen kommen müssten, unlösbare Konflikte. Man verlöre nach aussen das, was man nach innen eben gewonnen hat. Anders und besser gruppiert Willms zur Formel des Jesuschristus das Postulat, dass der „Christ dem bürgerlichen Souverän unterworfen sein müsse“133, denn dadurch wird dem Projekt des Leviathan, den christlichen Dualismus durch resolutio auf den Kern zurückzubuchstabieren und das Tor für Transzendenz offen zu halten, die eigentliche Öffnung aber dem deshalb gehorsamen Untertan zu überlassen, besser Rechnung getragen, als bei der Retheologisierung und Resakralisierung, die Peters’ Interpretation nach sich zöge. Eine christliche Interpretation des Leviathan hat nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Hand gelegen, insbesondere für kompromittierte Philosophen wie Kurt Schilling, der aber auf einen wichtigen Aspekt eines christlich lesbaren Hobbes aufmerksam macht und die Zwei-Reiche-Lehre von Ihrer Friedenstheorie her liest und diese im Leviathan ausgebildet sieht. Der Friede bei Hobbes sei nicht nur ein Friede um des Frieden willens und den Nachtwächterstaat bedeute, sondern ein Frieden wozu: zu einer Sittlichkeit, die ohne eine christliche Sittlichkeit nicht denkbar sei und die Etablierung des Friedensreiches auf Erden, als Ermöglichung eines durch das spirituelle Reich verbürgten christlichen Traums, theoretisch versuche134. Es fragt sich bei Hobbes allerdings, ob der durch den Leviathan erfolgte immerwährende Friedenszustand nicht an die Stelle der jenseitigen Friedensverheissung gesetzt wird und den Glauben im Leviathan, bis auf die Formel des Jesuschristus, obsolet macht. Man darf Thomas Hobbes nicht leichtfertig für einen Agnostiker oder Atheisten halten, da er die Balance wenigstens versucht und er, wenn er Theologie und Politik gegeneinander und miteinander antreten lässt, weiss, wovon er redet, aber die Verzweifelung über den konfessionellen Bürgerkrieg, den Behemoth, treibt ihn in die moderne Ermächtigung des Staates135. Hatten die Griechen die Politik ersinnen 133 Weiß, Ulrich: Hobbes’ Rationalismus: Aspekte der neueren Hobbes-Rezeption (1978), S. 194 f., Fussnote 68, zu Willms, Bernhard: Die Antwort des Leviathan. Thomas Hobbes’ politische Theorie (1970). 134 Schilling, Kurt: Naturrecht, Staat und Christentum bei Hobbes (1948), S. 286 ff. 135 Glover, God and Thomas Hobbes (1960) spricht vom „atheism by consequence“, deren Begründungen er gruppiert: 1. „He [Hobbes, M.S.] aimed to destroy Christianity and the bible by an elaborate reductio ad absurdum“. 2. „He cluttered his works with theistic suggestions and pronouncements in order to protect himself from persecution for the atheistic basis of his politics and mechanics“. 3. „He sought to support his political views by appeal to the religious beliefs of his readers.“ Willms, Bernhard: Von der Vermessung des Leviathan II (1967), S. 226, ist ganz der Ansicht Glovers, wenn er schreibt: „Mit Recht destruiert Glover jedes einzelne dieser drei Argument“, ohne die Gründe anzugeben, mit welchen Argumenten

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müssen, weil ihre Expansion Götterkämpfe heraufbeschwor, die nicht mehr, oder nur noch tragisch zu lösen waren, und Jesus Christus als Remedium den Einen trinitarischen Gott als ausserpolitische Instanz verkündet (wobei die politisierten Römer diesen unprätentiösen ,König der Juden‘ nur politisch verstehen konnten und folglich als politischen Aufrührer hinrichteten), die Väter diesen Gott dann weltgeschichtlich durchgesetzt, so stellte sich für Hobbes bei der Ansicht des Kampfes um den Einen Gott die Frage neu und antwortete wie weiland die Griechen mit einer Verschärfung des Politischen, die den weltanschaulich neutralen Staat gebar. Diesem Staat korrespondieren seine Untertanen, und es bewahrheitet sich der schöne Satz: wie der Herre so’s Gescherre: Der Mensch, den der Leviathan voraussetzt, ist zunächst aller Eigenschaften bar (wie McNeilly zeigt136) und wird lediglich durch seinen Selbstbezug charakterisiert, „von allen Festlegungen gelöst (was auch dem methodischen Schritt der ,resolutio‘ entspräche), ein dynamisches Zentrum reiner Möglichkeiten. In dieser formalen Reduktion ist der Kern des ,homo politicus‘ zu sehen, seine eigentliche ,conditio‘ ist der Naturzustand.“137 Aus der Sichtweise des Nihilisten kann der Leviathan eben auch ,vermessen‘ werden und er kann in ihm leben: Dem Nihilisten sein nihilistischer Staat: mit ,Recht auf alles‘ ausgestattet und gebrochen nur durch den Obernihilisten, den Rechtsetzer, den Leviathan, soll nun Politik gehegt sein: dass dabei immer nur wieder mehr Politik herausschaut, konnte bereits gezeigt werden, aber dass dieser Staat der Mensch ins Makrotische gewendet ist, ist erstaunlich, bleibt erstaunlich und setzt eine wechselseitige Verstärkung, eine Pädagogik, eine Volkserziehung in Gang und voraus, die aus dem gläubigen Volk ein Volk von Leviathan-Anbetern, gezeigt auf dem Frontispiz, macht, ein Volk von Götzenanbetern, die sich im Grunde selber anbeten, die reif werden müssen für Politik und Nihilismus. Natürlich ist der Staat, den Hobbes konzipiert, nicht wirklich weltanschaulich neutral oder überkonfessionell. Der Hauptvorwurf, dass es zu diesem Bürgerkrieg kommen konnte, geht an die Adresse der Katholiken, nicht an die der radikalen Puritaner138. Sein Staat ist zunächst ein antikatholischer Staat, jedenfalls ein antidies geschieht. Ich denke allerdings, dass diese Gruppierung immer noch um die Hobbesschen Intentionen kreisen und nicht vom Autor selber abstrahieren, so dass auch ein ,atheism by consequence‘ in diesem Sinne nicht ausgeräumt ist. Natürlich wollte Hobbes das Christentum nicht ,zerstören‘, aber von der Methode der resolutio oder reductio ist Hobbes in der Tat nicht abgerückt, so dass eben nur noch die Formel des Jesuschristus übrig bleibt und auch nur dieses vom Leviathan gedeckt wird. Ob das dann eine reductio ad absurdum ist, ist allerdings eine Frage, die gar nicht eindeutig beantwortet werden kann. Aber genau das ist doch die Kerkaporta für den ,gefährlichen Pyrrhonismus‘ – der Leviathan kann doch, so wie er über den Menschen thront und die Politik aus seinem Reich vertrieben hat, gar nicht mehr sehen, ob Interpreten ins Land kommen, die die Formel des Jesuschristus ad absurdum führen und den Nihilismus in Gang setzen. 136 McNeilly, Frederic: The Anatomy of Leviathan (1968). 137 Willms, ibid., S. 135. 138 Die katholischen Prediger sind die in der Bibel prophezeiten falschen Prediger, die „durch Verleumdung der Regierung in einen Aufstand hineinführen können“ (Hobbes, Leviathan, XXXVI, S. 333). Auch wenn die Presbyterianer und Puritaner den weltlich-geistlichen

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papistischer Staat, ein Staat, der jeden Dualismus von zeitlich und geistlich verbietet und wahrscheinlich sogar verfolgt. „Der Kampf gegen das von der römischen Papstkirche erstrebte ,Reich der Finsternis‘, die Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit, ist, wie Leo Strauß feststellt, der eigentliche Sinn der politischen Theorie des Hobbes. Das trifft zu.“139 Ein Anglikanismus oder ein Gallikanismus als Formen vom Leviathan geduldeten Staatskirchentums könnte zwar als katholische Spielart noch drin liegen, aber alles, was auch nur im entferntesten nach Zwei-Reiche-Lehre aussieht, hat in Hobbes’ Staat, aber ebenso in allen anderen weltanschaulich ,neutralen‘ Staaten keinen Platz. Und die weltanschauliche Neutralität zieht in der Regel eine Ermächtigung der Politik nach sich, die an die Stelle Gottes gesetzt wird. Wer möchte einem Vertreter des liberalen Staates erklären, dass man einen Vorbehalt, einen grundsätzlichen Vorbehalt gegen Politik, gegen die Herrschaft von Politik, gegen das gegenwärtige politische System, ja sogar gegen diesen Staat hat, ohne Gefahr zu laufen, danach als Staatsfeind zu gelten? So sind denn auch die mannigfachen präliberalen Elemente im Leviathan: Widerstandsrecht, Freiheit, wo das Gesetz schweigt, Wirtschaftsliberalismus, Trennung von confessio und fides, an die Mechanik geknüpft, dass der unterhalb des Leviathans mögliche Politisierungsschub nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Der Leviathan schafft eben nicht nur die Leerstelle für den individuellen Gewissensvorbehalt, sondern auch noch die Leerstelle für das Eindringen politischer Parteien, sogar, wie oben zitiert, die Leerstelle für den „gefährlichen Pyrrhonismus“ (Rousseau). In gewisser Hinsicht hat Rousseau mit der Warnung vor dem anhebenden, gesellschaftlichen Wertrelativismus und –skeptizismus die Problematik des Leviathan noch schärfer gesehen als Schmitt mit dem Verdacht des individuellen Gewissensvorbehalts. Wie auch immer: Die Umwertung aller Werte ist bei Hobbes damit erreicht, dass er das Diktum, das Sein Reich nicht von dieser Welt sei, in der Richtung uminterpretiert, dass es keinen geistlichen Staat (natürlich vor allem keinen päpstlichen Staat) auf Erden geben solle140. Das Reich Gottes meine immer Gegensatz pflegen und auch unter das Verdikt des Leviathan kommen müssen, atmet doch der ganze Leviathan Antipapismus und vor allem eine Abrechnung mit den Lehren von Bellarmin – Puritaner und Presbyterianer sind politisch verwerfliche Sekten, aber als Sekten nicht das eigentliche Ziel der Hobbesschen Angriffe. 139 Schmitt, Carl: Leviathan, ibid., S. 21. Die Papstkirche 1938 als ,Reich der Finsternis‘ zu titulieren, auch wenn es nur ein Zitat ist, ist angesichts des real existierenden ,Reiches der Finsternis‘ 1938 eher frivol. Da der Leviathan hier ins Recht gesetzt wird, gegen seine Ausgestaltung durch die ,Partei‘, kann nicht erkannt werden, was an der Vernichtung der Papstkirche skandalös sein würde. In der konkreten geschichtlichen Situation des Jahres 1938 ist ja auch eine neuerliche Christenverfolgung, wie sie der Judenvernichtung gefolgt wäre, im Bereich des Möglichen. Ob Schmitt dazu mit seinem Leviathan eine liebedienerische Theorie und eine Theologie anbieten wollte, um seinen geliebten Staat und seinen Legistenberuf zu retten, kann leider, nach dem Kotau von 1933 / 34, nicht gänzlich ausgeschlossen werden. 140 Hobbes, Leviathan, XXXXII, S. 442. Ebenso dient es zur Abweisung des päpstlichen Anspruchs auf (weltliche und sogar geistliche) Gerichtsbarkeit (ibid., S. 434). Auch die Zwei-Schwerter-Lehre wird aus dem antirömischen Affekt abgewiesen; diese sei „ein mutwilliges Beleidigen der Fürste, die in Mode kam, nachdem sich die Päpste ihrer Grösse so sicher geworden waren, dass sie alle christlichen Könige verachteten.“ (Hobbes, Leviathan,

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(politisches) Königreich, sagt Hobbes141, und man frägt sich, ob Jesus nachträglich damit nicht doch zu einem Zeloten gemacht wird, den die Römer und die Juden legal und politisch korrekt verfolgten. Wenn wir Hobbes glauben und wenn also das Reich Christi doch von dieser Welt ist, dann haben ihn die Juden und die Römer doch legal und legitim hingerichtet: das ist die Ohrfeige, die Hobbes dem Herrn zufügt, und es hat mehr als 350 Jahre gedauert, bis dieses Stück Unverschämtheit ruchbar geworden ist. Das Argument des Offenbartseins des Christentums wird von Hobbes so stark gemacht, dass nur noch der „Weg der natürlichen Vernunft“142 übrig bleibt. Der Neue Christliche Staat fordert das radikal Offenbartsein der Religion – jenseits der Offenbarung ist nichts und jenseits des offenbarten Wortes ist nichts, an was noch geglaubt werden darf. So präludiert das staatlich geforderte Offenbartsein das Prinzip der Öffentlichkeit; die Form der Offenbarung ist eine ganz und gar nominalistische Offenbarung, wo es bei niemanden mehr klick macht und etwas offenbar wird im Sinne der Existenzeröffnung; wo also die Offenbarung offenbart wird, ohne dass es noch offenbar wird. Eine solche Offenbarung kann ohne Reibungsverluste zur Öffentlichkeit umgruppiert werden und bestimmt deren Form. Was früher heilig war, heisst heute öffentlich. „Aus dieser wörtlichen Auslegung des Begriffs Königreich Gottes ergibt sich auch die richtige Auslegung des Wortes heilig. Denn dieses Wort entspricht in bezug auf das Königreich Gottes dem, was in bezug auf menschliche Königreiche öffentlich oder des Königs genannt wird.“143 Das Christentum wird von Hobbes auf die jüdische Quelle zurückbuchstabiert, weil hier der direkte Zusammenhang zwischen Religion und Priesterherrschaft noch bestehe. Statt eines Repräsentanten denkt Hobbes bei seinem Souverän an einen Priesterherrscher, einen Moses144, natürlich einen bürgerlichen Moses. Die Formel ,Jesus is the Christ‘ ist dann auch nicht nur ein überkonfessioneller MiniXXXXIV, S. 475). Und die Kuppelinschrift des Petersdoms: „Tu es Petrus et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam“ (Mt 16, 18) sei nur ein Wortspiel, das kein päpstliches Vicariat begründe, sondern lediglich den reinen Christusglauben meine. Den Gipfel der typisch pragmatischen Frechheit leistet sich Hobbes, wenn er das Herrenwort, man solle nicht zwei Herren dienen (Mt 6, 24; Lk 16, 13), in dem Sinne verstanden haben will (Hobbes, Leviathan, XXXXII, S. 430), dass man nicht dem Souverän und dem Papst gleichzeitig untertan sein könne, man den Souverän als alleinigen Herrn vorzuziehen habe, aber mit keiner Silbe erwähnt, dass Jesus zwischen Gott und dem Mammon zu wählen aufgegeben hat und mit Sicherheit nicht befohlen hat, diesem und der Weltlichkeit untertan zu sein. 141 Hobbes, Leviathan, XXXV, S. 312; 316. 142 Hobbes, Leviathan, XXXII, S. 287. 143 Hobbes, Leviathan, XXXV, 35, S. 317. 144 Hobbes, Leviathan, XXXXII, S. 428; 444. Interessanterweise gibt es gerade in der Hobbes-Locke-Gesellschaft per se, der nordamerikanischen Gesellschaft, eine starke Affinität zum Judentum, jedenfalls eine geistige Verwandtschaft zum Judentum. Diese Wahlverwandtschaft muss notwendigerweise entstehen, wenn eine christliche Politik nicht mehr augustinisch-jesuanisch begründet wird und jede Form von Rom erbittert von sich weist. Es ergibt sich wie von selbst das Ressentiment im Aufbau der politischen Moral.

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malkonsens, sondern eine Formel, die dem souveränen Moses zur Verfügung steht. Das einfache ,Jesus is the Christ‘ wird dem Papst und den Katholiken entgegengeschleudert, um den Dualismus von weltlich und geistlich zu torpedieren. Die Formel ,Jesus is the Christ‘ hat vielleicht gar nichts mit Jesus zu tun und vielleicht auch nichts mit Christus, dafür um so mehr mit der Errichtung eines monistischen monarchischen Prinzips, bei der das Gleichheitszeichen Semantikträger ist und gleichzeitig Macht und Machtlegitimierung bedeutet. Dieser Christus ist ein Christus ohne Transsubstantiation145, ohne Transzendenz, ohne Weihung; es gibt nichts Göttliches in dieser Welt, wohl aber Gott und seinen Sohn. Das ist ein sehr mundaner Christus, der dem Jesus sehr ähnlich ist und als geradezu jüdischer Messias wiederkommen wird. Anders nuanciert, hätte Hobbes eigentlich nicht sagen dürfen, ,Jesus is the Christ‘, sondern hätte sagen müssen: ,Jesus is the Messiah‘: denn dieser Titel bleibt übrig bei einem Christus ohne Christologie. Vor der Formel ,Jesus is the Christ‘ galt die Formel ,Moses ist der Stellvertreter‘146, aber ob auch dies Transzendenzoffenheit bedeutet, kann bezweifelt werden und wirft ein schiefes Licht auf die angebliche Transzendenzformel des Jesuschristus. Die Existenz des heiligen Geistes ist dann eher zufällig147 und nicht mehr notwendig – damit geht Hobbes hinter das trinitarische Dogma zurück, ja hinter das Neue Testament. Es bleibt bei einem NT ohne den heiligen Geist, ergo der Schleifung des Unterschieds zwischen Altem und Neuem Testament – das Neue Testament ist nicht neu und das Alte nicht mehr alt. Wer AT und NT absolut gleichwertig behandelt und ausgewogen aus ihnen zitiert, ohne zu klären, was denn neu am Neuen Testament ist, handelt sich automatisch ein israelitisches Christentum ein, ein Übergewicht des AT über dem NT. Es wäre lieb, wenn die Darstellung der Hobbesschen Trinität durch Warner148 Recht behielte, derzufolge dem Souverän keineswegs, weil er Nachfolger Christi sei, gehorcht werden müsse; der Souverän müsse sich schliesslich in der Nachfolge Abrahams und des Gesetzes verstehen, Christus aber sei die Wahrheit, nicht das Gesetz, doch kommt es leider dem Leviathan zu, die Wunder als Wunder zu deklarieren und die Deutung des Jesuschristus, die Deutung der Wahrheit zu monopolisieren. Einer Ermächtigungsgeschichte der kirchlich-politischen Macht (nacheinander werden die Institute des Presbyters, des Bischofs, des Papstes geschaffen), so Hobbes, könne eine Entmächtigungsgeschichte gegenübergestellt werden: durch Königin Elisabeth die Loslösung von Rom, gefolgt von der Beseitigung des Episkopats, Hobbes, Leviathan, XXXXIV, S. 469 ff. Hobbes, Leviathan, XXXVII, S. 339. 147 Hobbes, Leviathan (1651, 1985), Kap. XXXXII, S. 522 f.: „For so God the Father, as represented by Moses, is one person; and as represented by His Son, another person; and as represented by the Apostles, and by the doctors that taught by authority from them derived, is a third person; and yet every person here is the person of one and the same God.“ Der Heilige Geist ist also mit dem Geist der Aposteln identisch bzw. wird identitär repräsentiert. Und übrigens, „by the way, that by the Holy Ghost is not meant the third person in the Trinity, but the gifts necessary to the pastoral office“. 148 Warner, D.: Hobbes’s Interpretation of the Doctrine of the Trinity (1968 / 69). 145 146

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schliesslich der Presbyter und nun sei der Zustand des Urchristentums, eine neue Unmittelbarkeit wieder möglich und man sei Peter, Paul und Apollo wieder unvergleichlich näher149. Der Machttheoretiker Hobbes wird Machiavelli ähnlich, wenn er zwölf und mehr Gründe angibt, wie die päpstliche Kirche ihre Macht gegen den staatlichen Souverän sichert und gesichert hat150. Es bleibt aber bei einer Machtanalyse der Papstkirche, und wenn auch die Presbyterianer unter Loyalitätsverdacht geraten, dann nur, weil sie an einer Zweiteilung der Welt in zeitlich und geistlich, also quasi am katholischen Prinzip, weiterhin festhalten. Damit geraten sie sozusagen unter Gespensterverdacht, so wie ja auch der Anspruch des Bischofs von Rom, Stellvertreter Christi zu sein, einer „Gespenstergeschichte“ gleichkomme, eine Geschichte von Gespenstern, die Streiche, „die sie nachts vollbringen“151, zum Inhalt haben. Hobbes erinnert an die alte englische Mythologie, derzufolge die Gespenster einen König, genannt Oberon, erkoren haben, welcher „in der Schrift Beelzebub“ heisse und sich natürlich trefflich auf den Papst, der zu allem Übel auch noch die ,Gespenstersprache‘ Latein152 spreche, applizieren lässt. Es kann also von einer überkonfessionellen oder einer weltanschaulich neutralen Überzeugung des Staates keine Rede sein, wenn Hobbes suggeriert, dass der Papst ein Beelzebub, ein König der Teufel, sei153. Der Hobbes-Staat ist vielleicht dann überkonfessionell, wenn vorgängig sämtliche katholischen Überzeugungen kassiert worden sind. Gebrandmarkt wird das Katholische an sich, also die Vorstellung, dass das Reich Gottes in der Kirche durch die Erlösungstat Christi bereits begonnen habe und in ihr fortlebe, oder was für Hobbes dasselbe ist: gebrandmarkt wird das Katholische in uns, als katholischer Affekt und Gefühl, das es auszumerzen und zu therapieren gilt. Die letzten Sätze aus dem Leviathan machen noch einmal völlig klar, worum es Hobbes geht: „Denn nicht nur der römische Klerus behauptet, das Reich Gottes sei von dieser Welt und er habe darin eine Macht, die sich von der des bürgerlichen Staates unterscheide. Und dies ist alles, was ich über die Lehre von der Politik zu sagen habe. Nach einem Rückblick werde ich es gerne dem Urteil meines Landes anvertrauen.“154 Es ging also um Politik im Leviathan und es ging um die Abweisung aller Zwei-Reiche-Lehren, um nichts anderes. Die Brüche in Hobbes Werk resultieren daraus, dass er eine antipolitische Politik entwirft – also Politikmonopol beim Souverän zur Hegung der Politik als politisches Mittel –, die zwischen den Zeilen einem Eiertanz gleicht und der jeweiligen politischen Situation adaptiert werden kann – mit einigen wenigen Pinselstrichen kann aus einer Suada für Cromwell (englische Ausgabe von 1651) ein Plädoyer für den englischen König (lateinische Ausgabe von Hobbes, Leviathan, XXXXVII, S. 530. Hobbes, Leviathan, XXXXVII, S. 526 ff. 151 Hobbes, Leviathan, XXXXVII, S. 531. 152 Hobbes, Leviathan, ibid., S. 531 f. 153 Hobbes, Leviathan, XXXXVI, S. 523. Gegenüber der Lutherischen Insinuation, dass der Papst der Antichrist sei, immerhin ein kleiner Aufstieg oder auch Abstieg, je nachdem, wie man es sieht. 154 Hobbes, Leviathan, XXXXVII, S. 533. 149 150

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1668) werden – das nenne ich antipolitische Politik, die in den politischen Raum zurückschlägt und zur Verschärfung der Politik beiträgt. Nur unterhalb seiner Sehschwelle ist der Leviathan offen, offen für eine falsche Transzendenz, offen für eine Politisierung – das ist der blinde Fleck des Thomas Hobbes. Der ungeheure Hass auf die ,geistliche‘ (im Gegensatz zur weltlichen) Legitimierung der Souveränität ist nichts anderes als der antirömische Affekt, und in jeder neuzeitlich-modernen Souveränitätsvorstellung schwingt noch ein bisschen dieses Affekts mit. Möglicherweise hatte auch das Lutherische und Cromwellsche Bild des Papstes als des Antichristen einen gnostischen Dualismus nach sich gezogen, der sozusagen päpstliche Antipäpste nötig machte – aber diese päpstlichen Antipäpste sind ja gerade die Souveräne. Von hier aus wird die Vorstellung plausibel, dass der Leviathan, wie es Orwin prägnant formuliert, ein Sündenbock sei155, aber was soll man darauf anderes sagen als: selber schuld. Auf dem Boden der vertrauten Idee der staatlichen Souveränität west also womöglich untergründig ein apokalyptisches Moment, ebenso ein gnostisches Moment, aber mit Sicherheit der antirömische Affekt. Es ist nicht von ungefähr, dass der Katholizismus im Leviathan als ,Reich der Finsternis‘ beschimpft wird und mit einer Analyse des Erkenntnisinteresses traktiert wird, die die Etablierung päpstlicher Macht im frühen Christentum aufzeigt, immer unter der ciceronianischen Fragestellung „cui bono?“156, wer macht den Profit? —*— Die letzte Engführung von Theologie und Politik hat dann Spinoza in seinem theologisch-politischen Traktat versucht, wobei man nicht sagen kann, dass sich da noch etwas entspreche. Statt dessen besteht der Traktat zu grossen Teilen aus Kritik am alten Testament (dazu allgemeine Religionskritik, Kritik des Aberglaubens, Kritik der Wunder, Kritik der Schrift an sich selbst, Kritik an der Schrift, Kritik an der Prophetie etc.157) als Desavouierung einer theologischen Konvergenz mit dem Gebilde eines Staates und zu geringem Teil aus der bekannten Hobbes-Adaption einer staatlich gelenkten Zivilreligion unter Vorbehalt des individuellen Gewissens158. Die Brüche in Spinozas Philosophie haben zu der Vermutung geführt, dass Orwin, Clifford: On the Sovereign Authorization (1975), S. 43. Hobbes, Leviathan, XXXXVII, S. 525 ff. 157 Über die Kritikstufen erhellend Strauss, Leo: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas theologisch-politischem Traktat (1931, 21981), S. 194 ff. 158 „[ . . . ] Vorher will ich noch zeigen, dass die Religion Rechtskraft erlangt nur durch den Beschluss derer, denen das Recht zu befehlen zusteht, und dass Gott kein besonderes Reich unter den Menschen hat, es sei denn durch die Inhaber der Regierungsgewalt, und ferner, dass der religiöse Kult und die Ausübung der Frömmigkeit sich nach dem Frieden und dem Nutzen des Staates richten und demgemäss auch nur von den höchsten Gewalten bestimmt werden müssen, die deshalb auch Ausleger sein müssen. Ich spreche ausdrücklich nur von der Ausübung der Frömmigkeit und vom äusseren religiösen Kult, nicht von der Frömmigkeit selbst und dem innerlichen Gottesdienst oder den Mitteln, die den Geist innerlich bereit machen, Gott von ganzem Herzen zu verehren. Denn der innerliche Gottesdienst und die 155 156

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Spinoza neben der sichtbaren exoterischen eine eigentlich esoterische Lehre vertrete. Es darf schliesslich nicht vergessen gehen, dass Spinoza quer zwischen allen Stühlen bereits im zarten Alter von 24 von der jüdischen Gemeinde zu Amsterdam 1656 exkommuniziert und anathematisiert war159. Die Einheitlichkeit der Religionstheorie sei, so vermutet Samely160, durch die Systematik der für das Phänomen zuständigen imaginatio, des Vorstellungsvermögens, gegeben, die mit dem fragmentarischen, verworrenen menschlichen Geist gut leben könne und damit auch das Problem der Historizität heiliger Texte und deren nur allfälliger Authentizität löse. Damit sei dem unscharfen Phänomen Religion, dem unscharfen Phänomen Liebe, usw., begrifflich Rechnung getragen und eine Esoterik nicht mehr notwendig. Spinozas Aufklärung bestehe darin, dass er mit seinen Begriffen selbst noch katholische Dogmen161 in anderer, spinozistischer Begrifflichkeit reformulieren könne und sie formal im Recht sein lasse, aber mit neuer untergeschobener Begrifflichkeit anders aussehen lasse. So besehen sind die Stellen verräterisch, an denen Spinoza die liberalsäkulare Methode Methode sein lässt und ernst wird. Statt des Hobbesschen Furors gegen die Lehre von den beiden Reichen kennt Spinoza nur noch einen desinteressierten Spott: „Übrigens will ich mich nicht bei den Gründen aufhalten, die die Gegner gebrauchen, um das geistliche Recht vom bürgerlichen Recht zu trennen, und mit denen sie ihre Behauptung stützen, dass nur dieses den höchsten Gewalten, jenes aber der gesamten Kirche zustehe. Ihre Gründe sind so armselig, dass sie eine Widerlegung gar nicht verdienen.“162

Es folgt dann aber doch der Hinweis auf Moses und die bei Mose angeblich vorhandene Möglichkeit der Revokation geistlicher Macht bei nichtautomatischer Frömmigkeit selbst gehören (wie ich am Schluss des 7. Kapitels gezeigt habe) zum Recht jedes einzelnen, das sich auf einen anderen nicht übertragen lässt.“ (Spinoza, Baruch de: Theologisch-politischer Traktat (1670, 1994), Kap. XIX, S. 285 f.). Der wahre Appell der Kampfschrift Spinozas läuft darauf hinaus, die Gedankenfreiheit des Individuums gegenüber der staatlichen und kirchlichen Gewalt zu verteidigen. Dies diktiert ihm auch die Definition des Zwecks des Staates, der „nicht ist zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann [ . . . ] Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.“ (Spinoza, ibid., Kap. XX, S. 301). Und gemeint wird nicht die Handlungsfreiheit, weil Individuen im Staat nur begrenzt frei handeln können, sondern die Gedankenfreiheit, „denn niemand kann sein natürliches Recht oder seine Fähigkeit, frei zu schließen und über alles zu urteilen, auf einen anderen übertragen noch kann er zu einer solchen Übertragung gezwungen werden (Spinoza, ibid., Kap. XX, S. 299). Dazu Schmitt, Leviathan, ibid., S. 86 ff. 159 Über die politischen und psychologischen Aspekte zeitgenössischer Frontstellungen Feuer, Lewis: Spinoza and the rise of Liberalism (1987). 160 Samely, Alexander: Spinozas Theorie der Religion (1993). 161 Samely, Spinozas Theorie der Religion, ibid. 162 Spinoza, ibid., Kap. XIX, S. 292.

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Prolongation des geistlichen Mandats. Dass sich der Papst auf das Amt berufe und auch im Mittelalter durchgefochten habe, habe nur dazu geführt, dass er nach und nach „alle Könige unter seiner Macht“ hatte, unanfechtbar durch „Feuer und Schwert“, bis erst die „Geistlichkeit mit der Feder“ die päpstliche Macht habe brechen können und noch einmal die Notwendigkeit dokumentiert sei, dass die höchste Gewalt auch die höchste Autorität in Sachen ,Feder‘ sein müsse163. Die Unterschiede zu Hobbes sind jedoch bezeichnend. Aus ähnlichen Vorstellungen über das Naturrecht und einen gemeinschaftlichen Vertrag wie Hobbes ausgegangen, schliesst Spinoza nicht auf die Bösartigkeit des Menschen, obwohl er nicht den Tatbestand verneint, dass der Staat gerade wegen des nicht vernunftgeleiteten affektiven Leben der vielen erforderlich sei. Für ihn ist der Hobbessche „sterbliche Gott“, der Leviathan, keine Gottheit, sondern ein unvermeidlicher Tribut einer anderen Gottheit, der Freiheit, insbesondere der Gedankenfreiheit. Die Übertragung aller natürlichen Rechte und Freiheiten an den Souverän, wie es Hobbes (ausser dem Lebensrecht) verlangt, wird von Spinoza abgelehnt, weil es der staatlichen Willkür Tür und Tor öffnen würde. „Denn nie wird einer seine Macht und folglich auch sein Recht so auf einen anderen übertragen können, dass er aufhörte Mensch zu sein, und niemals wird es eine höchste Gewalt geben, die alles so ausführen könnte, wie sie will ( . . . ). Wenn freilich die Menschen so ihres natürlichen Rechtes beraubt werden können, dass sie fortan nichts gegen den Willen derer vermöchten, die das höchste Recht sich vorbehalten haben, dann dürften diese in der Tat ungestraft ihren Untertanen gegenüber in der gewalttätigsten Weise regieren, was doch wohl niemandem in den Sinn kommen wird. Man muss darum zugeben, dass jeder sich vieles von seinem Rechte zurückbehält und dass dieses daher bloß von seinem Willen abhängt und nicht von dem eines anderen.“164

Spinoza übertrumpft Machiavelli dadurch, dass auch die Untertanen nun die Schliche der Politiker begreifen lernen und mit ihnen in politicis konkurrieren können165; dadurch wird der Volkskörper aber selber zu einem Heer an Politikern und politischen Spezialisten, wie man es seit dem Zeitalter der Revolutionen bis in unsere Tage beobachten kann. Wenn aber alle Bürger Politiker, wenn alle radikal Spinoza, ibid., Kap. XIX, S. 294. Spinoza, ibid., Kap. XVII, S. 248 f. 165 Wer nicht Politiker ist, wird belächelt, weil er die politische Grammatik nicht beherrscht. „Nur ein Tor, der das Recht der höchsten Gewalten nicht kennt, wird sich auf die Worte und Versprechungen dessen verlassen, der die höchste Gewalt in Händen hat und das Recht, zu tun was er will, und dem das Wohl und der Nutzen seiner Regierung höchstes Gesetz sein muss.“ Es scheint sogar eine Solidarität zwischen Regierenden und Regierten über die Instrumentalisierung der politischen Kunst zu geben. „Wenn man außerdem die Frömmigkeit und die Religion in Betracht zieht, so wird man finden, dass der Inhaber der Regierungsgewalt geradezu ein Verbrechen begehen würde, wollte er zum Schaden seiner Regierung Versprechungen halten. Sobald er etwas versprochen hat, von dem er einsieht, dass es seiner Regierung Schaden bringt, so darf er es nicht halten; sonst bricht er seinen Untertanen die Treu, zu der er doch in erster Linie verpflichtet ist und die zu halten in der Regel heilig versprochen wird.“ (Spinoza, ibid., S. 242). 163 164

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steuerungskompetent werden, werden die Götter obsolet (bis sie sich aus dem Off wiedermelden), mit der Gefahr, dass das Politische kein Korrektiv mehr kennt und letztlich eine Frage der Verschärfung wird. Spinozas Denkweg ist der einer zunehmenden Politisierung, ausgehend von der ethischen Fragestellung der Ethica, deren Fertigstellung er für den Tractatus Theologico-Politicus unterbricht, bis zum unvollendet gebliebenen Tractatus Politicus, der aber auch ohne die ethische Fragestellung nicht verstanden werden kann. „Das Unternehmen der Ethica besteht darin, unter diesen Bedingungen [Anbindung an das Sein der göttlichen Substanz, M.S.] den Anspruch der Vernunft, Führerin des menschlichen Lebens zu sein, zu rechtfertigen. Die Untersuchungen zur Politik gehen hingegen davon aus, dass sich dieser Anspruch unter den Bedingungen der menschlichen Verfassung nicht realisieren lässt. Diesen Ausgangspunkt haben beide Traktate gemein.“166 Der Mensch ist an seine potentia gebunden und durch sie gerechtfertigt; Selbstbeschränkung und staatliche Fremdbeschränkung gehen nie so weit, dass die Freiheit der potentia auf Null reduziert werden könnte. Das respektiert der Staat nicht nur, sondern befördert es. „Der Staat, der Äusserungen, die dem je eigenen subjektiven Belieben entspringen, einzuschränken hat, wird deshalb in seiner optimalen Form das Nachdenken eines jeden Individuums über das, was das Beste für die Erhaltung des eigenen Selbst ist, nicht unterdrücken, weil es die Bedingung ist, unter der er sich selbst erhält.“167 Die vernünftig sich Selbsterhaltenden bilden eine Korporation, die Staat ist. Die neurotische Energie der je eigenen potentia zum esse perseverandi wird umgelenkt in vernünftige Energie, die den Staat beseelt – ein Staat von Vernünftigen entsteht, die nach aussen gleiche ,Interessen‘ haben müssen. Im Innern des Staates herrscht aber nicht Friedhofsruhe, wie bei Hobbes, sondern, dem Motto des Tractatus Theologico-Politicus zufolge, die Freiheit zu philosophieren, vor allem in bezug auf den Staat und in bezug auf die als Frömmigkeit zu verstehende Religion. Diese Freiheit des Philosophierens ist eigentlich eine Freiheit des Politisierens. „Die Freiheit der Meinung zuzugestehen, ist ein Zugeständnis an menschliche Individuen, die wesentlich durch Meinen gekennzeichnet sind.“168 Der Schritt vom Meinen zur Meinungsmache ist nur ein kleiner, und in der Freiheit zu philosophieren ist nicht so sehr der introvertierte Gewissensvorhalt der Bürger eingemeisselt, sondern eher der extrovertierte Gebrauch des Meinens in der anonymen Öffentlichkeit. „Doch steht der Staat, unter diese Perspektive gebracht, in einem Bezug zu den Menschen, der nicht schon mit deren Selbstverständnis zur Deckung gelangt. Er unterscheidet zwischen dem Meinen und einem dem Meinen gemässen Handeln und muss diese Unterscheidung den Individuen selber zumuten. Weil die Meinung als bloss private irrig sein kann und dann das ihr entsprechende Handeln Ausdruck jener Privatwillkür ist, gegen die der Staat sich etabliert, kann der Staat die Freiheit, gemäss der je eigenen Einschätzung auch zu handeln, nicht zugestehen, will er sich 166 167 168

Bartuschat, Wolfgang: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 225. Bartuschat, ibid., S. 250. Bartuschat, ibid., S. 259.

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nicht selbst als Staat auflösen.“169 Das Machen ist bei Spinoza noch gehegt durch eine hobbessche, kardinale Unterscheidung zum Meinen, was aber, wenn man das Freiheitsmoment der je eigenen legitimen Macht hinzunimmt, zum Machen der Meinung innerhalb des Rechts führt; Gesetze fungieren dann als Leitplanken der Meinungsentäusserung. Im späten Tractatus Politicus, als dem ,politischsten‘ der Traktate, wird dann der Frage nachgegangen, wie Regierungen, insbesondere vernünftige Regierungen, errichtet und wie sie stabil gehalten werden können. „Für das Erreichen der Stabilität des Staates kommt es unter dieser Voraussetzung nicht darauf an, dass die Untertanen tatsächlich an der Regierung partizipieren, sondern allein darauf, dass die Gesetzgeber auf die Individuen, gegen die sie nichts vermögen, sich so beziehen, dass diese meinen, an der staatlichen Macht zu partizipieren.“ 170 Die politischen Profis, die an der Spitze des Staates stehen, haben das machiavellische Monopol für überlegene politische Ränke verloren und werden nun von Abertausenden politischen Profis, den Bürgern, gemessen und verfolgt, steigen dann aber zu sekundär überlegenen politischen Profis wieder auf, weil sie nun auf der Ebene der Meinungen die politisierten Bürger steuern können. „Ein Aufbegehren der Individuen gegen den Staat ist dadurch zu vermeiden, dass der Staatsmann die Menschen nimmt, wie sie faktisch in ihren affektiven Äusserungen sind, d. h. wie sie sich in der Form inadäquaten Erkennens selbst verstehen. Hierfür müssen die Staatsmänner nicht weise (sapientes) sein, sondern schlau (callidi, I, 2), nicht Philosophen, sondern verschlagene Taktiker und eben deshalb von Theorie befreite Taktiker.“171 Der ,von der Theorie befreite Taktiker‘ verbürgt die Stabilität des Staates unter der Prämisse einer Solidarität im Meinen, aber er verbürgt dadurch noch lange nicht die Stabilität des Staates überhaupt und erst recht nicht die Stabilität des Spinoza am Herzen liegenden und eigentlich intendierten vernünftigen Staates. „Wer meint, die Masse oder die mit dem Geschäft der Politik Beauftragten könnten dahin gebracht werden, allein nach der Vorschrift der Vernunft (,ex solo rationis praescriptio‘) zu leben, ist ein Träumer oder Märchenerzähler (Tractatus Politicus, I, 5).“172 Aus dem Primat des Ethischen ist nicht zufällig ein Primat des Politischen geworden, weil die Freiheit des Philosophierens als einer Freiheit der Entäusserung der je eigenen potentia das allein gemeinsam Verbindende ist und immer nur eine „Quasi-Einheit“ der Bewusstseine, keine „wirkliche Einheit“173 bewirkt. Die Freiheit des Philosophierens und des Politisierens ergibt sich ganz eigentlich aus der Abweisung eines eigenen geistlichen, göttlichen Reiches, die es dem Staat, als Deutungsmonopolist, erlaubt, das öffentliche Meinen zu gewähren. Dies wird vorbereitet durch die Kritik an Priesterherrschaft überhaupt, durch die Kritik an der Vermengung von weltlich und geistlich, wie es Spinoza stellvertretend am 169 170 171 172 173

Bartuschat, ibid. Bartuschat, ibid., S. 267. Bartuschat, ibid., S. 268. Bartuschat, ibid., S. 276. Bartuschat, ibid., S. 273.

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Beispiel der jüdischen Hierokratie im 18. Kapitel des Tractatus Theologico-Politicus entwickelt. Die „täglich neuen Bestimmungen über die Zeremonien, den Glauben und über alle möglichen Dinge“174, die die Priester des zweiten Reiches, als den Hohepriestern auch weltliche Macht gegeben war, erliessen, mussten, zwecks Errichtung der hohepriesterlichen Macht, hinsichtlich des Volkes proskynetisch, liebedienerisch sein: „Man sieht, wie gefährlich es ist, rein spekulative Dinge dem göttlichen Recht zu unterstellen und Gesetze über Meinungen zu geben, über die die Leute gewöhnlich streiten oder doch streiten können. Denn dort liegt eine Gewaltherrschaft vor, wo Meinungen, die zum unveräusserlichen Recht eines jeden gehören, als Verbrechen gelten. Wo dies der Fall ist, da herrscht geradezu die Wut des Volkes.“175

Damit also die Meinungen, die zum „unveräusserlichen Recht“ eines jeden gehören, geäussert werden können, dürfen die Gegenstände des Streits nicht im autonomen göttlichen Bereich angesiedelt sein, ansonsten sich hier eine unheilige Allianz zwischen Priesterschaft und Mob ergeben könnte. Das unveräusserliche Recht auf freie Meinungsäusserung soll also, gemäss Spinoza, über jede Form einer Zwei-Reiche-Lehre triumphieren und ist jeder Anbindung an das Göttliche vorgeordnet. Die freie Meinungsäusserung ersetzt gleichsam die civitas Dei. Die Freiheit des Politisierens ersetzt das geistliche Reich und führt zu einem starken Nihilismusverdacht dieser Konstruktion, allerdings noch gehegt von einem weltanschaulich nichtneutralen Staat. —*— Jetzt muss auch der Parallelcharakter der zwei Abhandlungen Lockes interessieren, und, in einem zweiten Schritt, die Stellung Lockes zur Theologie seiner Zeit, sein vermeintliches Latitudinariertum. Man könnte sagen, dass die beiden Abhandlungen sich entsprechen, insofern in der ersten Abhandlung die Auseinandersetzung mit einer anscheinend christlichen Fundierung der Regierung gesucht wird, wohingegen die zweite Abhandlung die unchristlichen modernen Theorien untersucht. Wie die erste Abhandlung den Büchern drei und vier des Leviathan (und damit dem ersten Teil von De civitate Dei) korrespondiert, korrespondiert die zweite Abhandlung den ersten beiden Büchern (und damit dem zweiten Teil von De civitate Dei, der civitas terrena). Der Unterschied besteht darin, dass Hobbes bei Politik anfängt und in der Theologie endet, Locke umgekehrt in der Politik endet, in der Praxis, bei den Interessenten. Dabei kennen wir heute den Zweck der Abhandlungen: die Restitution des Katholizismus sollte mit Hilfe von Lockes Pamphlet verhindert werden.176 Dabei kam ihm zupass, dass die gängigen Legitimierungen Spinoza, ibid., Kap. XVIII, S. 277. Spinoza, ibid., Kap. XVIII, S. 281. 176 „Im Jahre 1679 nach England zurückgekehrt, wo inzwischen seinem Freunde und Gönner Shaftesbury für eine kurze Spanne das politische Glück wieder hold war, wurde auch Locke erneut in den Strudel der Politik gezogen. Shaftesbury kämpfte darum, die Thronfolge eines Katholiken, insbesondere des Herzogs von York, zu verhindern und benötigte dabei Lockes Hilfe. Zu jener Zeit machte Sir Robert Filmer mehr und mehr von sich reden. Die 174 175

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des Absolutismus sich auf ein alttestamentarisches Christentum stützten und eine Zwei-Reiche-Theorie (mit sich allenfalls daraus ergebenden Widerstandsrecht) ausser acht liessen. Auch wenn es für Locke noch selbstverständlich scheint, zwischen „heiliger“ und „weltlicher“ Geschichte zu unterscheiden177, meint die ,heilige‘ Geschichte bezeichnenderweise die Begebenheiten des AT, nicht die des NT. Filmer hatte die königliche Würde und Herrschaft aus der Genitur Adams zu legitimieren versucht und sich in einfache Widersprüche verstrickt, bei denen es Locke nicht schwergefallen ist, ihn als Pappkamerad zu missbrauchen. Vaterschaft als politisches Prinzip könne nicht aus Adam deduziert werden: „Denn entweder geht die Herrschaft, die Adam über die ganze Welt besaß, nur auf den ältesten Sohn über, dann kann es auch nur einen einzigen Erben geben, wie unser Autor [Filmer, M.S.], S. 19 (60 / 61), sagt; oder sie geht rechtlich auf alle Söhne gleichmäßig über, dann hat sie jeder Familienvater genausogut wie die drei Söhne Noahs. Man kann es halten, wie man will, es vernichtet die Regierungen und Königreiche, die es gegenwärtig auf der Welt gibt.“ 178

Locke sieht richtig, dass die ,israelitische‘, genetische Legitimierung der (absoluten) Souveränität nicht taugt und zur Zerstörung aller Königtümer führen muss. Die zweite Abhandlung findet ihr Heil in der Offensive: weg mit der Legitimierung der Könige, her mit den Verträgen. Torys stützten sich auf seine Herleitung des göttlichen Rechts der Könige und auf seine These, daß nach göttlicher Vorschrift jeweils der nächste männliche Erbe des Königs zur Thronfolge berechtigt sei. Diese Lehre galt es im Kampf gegen die Thronfolge des Herzogs von York zu widerlegen, und es hat den Anschein, als hätte Shaftesbury Locke hiermit beauftragt. Früher wurde in der Literatur überwiegend die Ansicht vertreten, daß Locke seine ,Zwei Abhandlungen über die Regierung‘ zur Rechtfertigung der ,Glorious Revolution‘ geschrieben habe, also in dem kurzen Zeitraum zwischen seiner Rückkehr im Februar 1689 aus seinem holländischen Exil und dem Erscheinen der ,Abhandlungen‘ zu Beginn des Jahres 1690. Diese Annahme ist aller Wahrscheinlichkeit nach falsch. Peter Laslett, dem wir eine unvergleichliche Ausgabe der ,Zwei Abhandlungen‘ verdanken, hat überzeugend dargelegt, daß ihre Entstehungsgeschichte bis ins Jahr 1679 zurückreicht und daß sie als Pamphlet gegen die Royalisten und einen ihrer bedeutendsten Wortführer, nämlich Filmer, gerichtet waren.“ (Euchner, Walter: Einleitung [zu Lockes, Zwei Abhandlungen über die Regierung], S. 20 f.). Mittlerweile ist diese These noch insofern radikalisiert worden, als dass Locke, wie Ashcraft, Richard: Revolutionary Politics and Locke’s ,Two Treatises of Government‘ (1986) und zusammenfassend in Locke’s Two Treatises of Government (1987), zeigt, zu dieser Zeit nicht allein Ghostwriter Shaftesburys sein mochte, sondern, während des Rye House Plot (1683) und der Mommouth Rebellion (1685), die Verschwörung zur Ermordung des Königs und seines Bruders mitbefehligte. Die Diskussion der an Ashcraft anschliessenden Diskussion und eine richtige systematische, nicht nur historische Exegese der beiden Treatises bei Brocker, Manfred: Die Grundlegung des liberalen Verfassungsstaates. Von den Levellern zu John Locke (1995), S. 13 f. und passim. 177 „Denn sowohl in der heiligen wie auch in der weltlichen Geschichte gibt es für nichts so viele Beispiele wie dafür, daß die Menschen sich selbst und ihren Gehorsam der Rechtsprechung, unter der sie geboren waren, und der Familie oder der Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen waren, entzogen und an anderen Orten neue Regierungen errichteten.“ (Locke, Zwei Abhandlungen, S. 273 (II, 8; § 115). 178 Locke, ibid., S. 179 (I, 11, § 142).

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Ebenso leicht kann Locke die priesterliche Weihe des Souveräns delegitimieren: Wenn Erb- und Wahlkönigreiche als aus der Vaterschaft entstanden gedacht sind (wie bei Filmer der Fall), müsste dies dazu geführt haben, dass die Väter auch gleichzeitig Priester gewesen wären. „Wenn dieses Argument richtig sein soll, so müsste es ebensogut beweisen, dass alle Fürsten, ja überhaupt nur Fürsten, Priester sein müssten“179: Es würde sich bei Filmers Argumenten, gemäss Locke, eine derart starke Herrschaft von Haus und Staat ergeben, von Herrschaft über privat und öffentlich, also eine Art aristotelisches ,Vollkönigtum‘ (Politik IV, 14), dass immer eine Hierokratie sich von selbst ergäbe, bei der eine Kurie unnötig würde: eine antikatholische aber auch eine antianglikanische Spitze. Vom NT aber auch hier keine Spur. Der zweite Körper des Königs scheint bei Filmer aber auch bei Locke entfernt worden zu sein; demnach kann sich die Frage nach dem konkreten Souverän, dem gehorcht werden soll, stellen: „Mir nützt es nichts, wenn ich weiß, daß es eine solche väterliche Gewalt gibt, der ich gehorchen muß und zu gehorchen bereit bin, wenn ich unter den vielen Prätendenten nicht auch gleichzeitig die Person kenne, die rechtmäßig damit bekleidet und ausgestattet ist.“180

Der Monarch scheint für Locke, entgegen seiner eigenen Theorie, kein Repräsentationsorgan zu sein, sondern ein Mensch: „Aber ich möchte diejenigen, die einen solchen Einwand machen, doch bitten, sich einmal daran zu erinnern, daß auch absolute Monarchen nur Menschen sind.“181

Filmer (1588 – 1643), dessen Patriarcha einiges vor dem Leviathan geschrieben worden war182 und der sich nicht wehren konnte, weil er bereits tot war, hatte einen Staat konstruiert, der eine Familie darstellte, das Prinzip Vaterschaft repräsentierte und Karl I. als Erben Adams beschrieb. Ob die Legitimation aus Adam eine notwendige oder nur hinreichende Bedingung für seinen Ansatz ist, ist nicht klar, wird aber beständig von Locke suggeriert. Erst mit der bedeutsamen Arbeit von John Neville Figgis, The Divine Right of Kings (1896), ist der Theorie Filmers und seiner Vorläufer Gerechtigkeit widerfahren183. Figgis liest die Patriarcha Filmers als einen Versuch, das Prinzip Erbschaft staatstheoretisch und rational zu verankern. Bedenkt man, welche Auswirkungen die Nachfolgefrage etwa für das Haus Habsburg und ihrem gescheiterten Versuch, die ,Pragmatische Sanktion‘ international absegnen zu lassen, gehabt hat, hätte ja tatsächlich eine Rationalisierung von Erbschaft zu einem entwickelten Prinzip eine Locke, ibid., S. 247 (II, 6; § 76). Locke, ibid., S. 162 (I, 11; § 119). 181 Locke, ibid., S. 207 (II, 2, § 12). 182 Filmers politische Traktate sind 1648 – 1653 herausgekommen, allerdings fehlte dabei noch eine Ausgabe der Patriarcha, die dann im Zuge der zweiten Ausgabe (1679 / 80) neuediert wurde. Die Entstehungszeit der Patriarcha reicht in die 40er Jahre zurück. 183 Programmatisch heisst es dort: „That the doctrine [des Divine Right of Kings, M.S.] is absurd, when judged from the standpoint of modern political thought, is a statement that requires neither proof nor exposition.“ (Figgis, John Neville, ibid., S. 1). 179 180

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grössere Friedensstiftung im ius publicum europaeum herbeiführen müssen, als dies der neutrale Leviathan oder die Vertragstheorie gehabt hat. Dies wird durch den Erfolg der ersten Abhandlung verdeckt. Dort gibt es immer den stillschweigenden Gegensatz Erbfolge vs. Vertrag, so als ob die Abfolge christlicher Könige nicht auch in einer Wahl (freilich der Grossen des Reiches) entschieden worden wäre. Statt des Prinzips Vater, so Locke, solle das Prinzip Eigentum regieren: „Der Unterschied zwischen Eigentum und Vaterschaft ist ebenso groß wie der zwischen einem Gutsbesitzer und einem Vater von Kindern.“184

Der ,Vater‘ wird entmachtet, weil die Achse Väter – König gebrochen werden soll zugunsten der Achse Eigentümer – Interessengruppen. Auf Robinsons (oder auch Sancho Pansas185) Insel – der eigentlich kinderlosen Insel – gibt es kein Prinzip Vaterschaft, der Rebell Robinson ist entgegen den Wünschen und Verboten des Vaters dort, er regiert die Insel über das Eigentumsmonopol. Eine Synopse von Two Treatises und Robinson Crusoe bringt es an den Tag: „So the sketch of the island in the two parts of Robinson Crusoe encapsulates Locke’s ideas of the proper formation of a political community. It starts off with a dramatised ,state of nature‘, constructed in Hobbesian terms, then evolves gradually through compact and contract to a working commonwealth, god-fearing and industrious. The main ideological thrust of the book lies in the Defoe’s dismantling of patriarchal authority. [ . . . ] By literalizing Locke’s model, Defoe legitimizes its ideological function.“186

Und das Gesetz wird von der Bindung zum heiligen Gesetz entkoppelt; mehr noch: Gesetze sind keine Hemmnisse mehr, sondern nur noch Leitplanken der entkoppelten ,Agenten‘: „For law, in its true notion, is not so much the limitation as the direction of a free and intelligent Agent to his proper interest, and prescribes no further than is for the general Good of those under that law“187.

Ein Gesetz ist dann nicht mehr eine ,Gehorsamserzwingungschance‘, sondern nur noch eine ,Gehorsamschance‘. Die Bindungskraft der Gesetze – dass Gesetze gelten – resultiert nicht mehr aus der Derivation der Heiligung, dem Sakrosankten, sondern aus der Interessenlage des freien und intelligenten Bürgers; in einer Locke-Gesellschaft wird dann der Stromausfall in New York ein kleines Problem, weil es schwierig werden könnte, die Motivation dafür zu gewinnen, aus diesem Locke, ibid., S. 125 (I, 7; § 73). „Und wenn Don Quixote seinen Schilderträger gelehrt hätte, durch höchste Gewalt zu regieren, so würde unser Autor auf Sancho Pansas Insel einen höchst loyalen Untertanen abgegeben und in einer solchen Regierung unbedingt eine Ehrenstelle verdient haben.“ (Locke, ibid., S. 132 (I, 8; § 79). 186 Bell, Ian: King Crusoe: Locke’s political theory in Robinson Crusoe (1988), S. 36. 187 Locke, Political Writings. The second Treatise of Government. Penguin books (1690, 1993), S. 288 f. (II, 6; § 57). Siehe auch: Veci Rodriguez, Francisco: La política secularizadora de John Locke.– Diss., Universidad de Barcelona, 1993. 184 185

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Zustand, in den man sich pragmatisch einrichten kann, wieder zu verlassen. Ganz im Gegenteil scheint es so zu sein, als ob die Menschen nach New York ziehen wollen, jedenfalls wollen sie aus dem Stande der Unschuld, – dem Naturzustande, –, ausbrechen und es gibt das Recht, aus dem ,Paradies‘ des Naturzustandes permanent auszubrechen und Eigentum sein eigen zu nennen. In der Aneignungslust verbirgt sich der selbstermächtigte Abfall von Gott – man wird nicht mehr aus dem Paradiese expulsiert, weil man den Lapsus begangen hat, sondern verlässt aus eigenem Antrieb die Gemeinschaft mit Gott und überlässt sich willfährig dem eigenen Trieb, das ist: dem Arbeitstrieb – die Arbeit wird als neuer Fetisch inthronisiert, zur Betäubung religiöser Gefühle; man ist zur Arbeit berufen und hat das Paradies in sich. Die Stelle aus Ps 115, 16 (,Die Erde hat er den Menschenkindern gegeben‘), die Locke zitiert188, verleiht nicht jemandem Rechte, sondern allen, und allen gehört alles, zwecks gemeinsamer Ausbeutung. Und die Konsekration der Arbeit wird durch einen Vertrag begründet, durch den die Menschen Nutzniesser des göttlichen Eigentums werden, ohne Ihm etwas zu schulden: „Doch ich will mich bemühen darzustellen, wie Menschen zu einem Eigentum an einzelnen Teilen dessen gelangen konnten, was Gott der Menschheit gemeinsam gegeben hat, und das ohne einen ausdrücklichen Vertrag mit allen anderen Menschen.“189

Immer wieder beweist Locke190 in der ersten Abhandlung, dass mit dem ,jüdischen‘ Gott Filmers und seiner Nachfolge kein Vertrag und kein Staat zu gewinnen sei; dabei entgeht ihm, dass im Grunde aber um so strahlender die jesuanisch basierte Politik hervorleuchten müsste, schon weil die Zinsperikope römische und jüdische Grundlegungen von Politik zurückweist. Im judifizierten Christentum ist Christus aber nicht mehr der transsubstantiierte und transfigurierte Jesus, der apolitisch und dessen Reich nicht von dieser Welt ist, sondern hauptsächlich der Herr, der sakrosankt ist und dessen Name, staatlich geschützt, genauso wenig geschändet werden darf wie der Name Gottes; – in geradezu socinianischer Tradition verschmelzen Christus und Gottvater zu einer Person; vom Heiligen Geist ist sowieso keine Rede mehr. Aber diese Differenz von Gottvater und Gottessohn scheint bei Locke schon ganz verloren zu sein, und ebenso verloren ist die Differenz vom Gottessohn zur Politik. Die christliche Legitimation der Herrschaft über eine (britische) Insel, die los von Rom ist, ist natürlich ein Problem, da der Einbezug Christi in die Politik wie von selbst eine Zweiteilung der Politik ergibt, eine Zweiteilung mit einem weltlichem und einem geistlichen Oberhaupt, einer Art Papst, der nicht personalidentisch mit dem König ist. Im anglikanischen, antipapistischen England blieb einem Theoretiker wie Filmer vielleicht nur die ,israelitische‘ Lösung übrig, wodurch die modernen Theoretiker, wie Locke, leichtes Spiel hatten. Aber das ist nur die QuitLocke, ibid., S. 90 (I, 4; § 31). Locke, ibid., S. 216 (II, 5; § 25). 190 Etwa I, 4: ,Adams Rechtsanspruch auf Souveränität durch Schenkung. Gen. 1, 28‘ (Locke, ibid., S. 82 ff.). 188 189

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tung für die Apostaten. Man kann an Filmer und Locke jedenfalls lernen, dass eine christliche Begründung der Herrschaft und der Politik, die das geistliche Rom nicht anzuerkennen bereit ist, nicht funktioniert. Locke jedenfalls, der ,vorsichtige‘ Locke, musste vorsichtig sein, denn wie handelt man, was empfiehlt man, wenn politische Steuerungskunst sich gänzlich an die Stelle Gottes setzen will und unsicher und indifferent wird – Vorsicht! nach allen Seiten. Neben der systematischen Problematik der ersten Abhandlung hat sich die Forschung breiter mit den Theologoumena in Lockes Denken und seinen Schriften auseinandergesetzt. Bei Locke findet sich auch eine Art Averroismus (oder meinetwegen auch Socinianismus), den man bei Kant und der ganzen Aufklärung findet und der sich denkerisch nicht mehr bis zur Trinität erheben kann, sondern einen ewigen Gott, einen sohn- und geistlosen Gott, einen in der Hauptsache Schöpfergott postuliert. Aufgrund der anonym erschienen Treatises konnte aber die zeitgenössische Theologie sich nicht mehr zeitlebens mit Locke auseinandersetzen und musste sich mit dem Essay begnügen. Der Briefwechsel191 mit dem Bischof von Worcester, dem Right Reverend Edward, Edward Stillingfleet, lese ich als eine der vielen Scharaden von Locke, in der kein Wort über Filmer oder Inhalte der Treatises verlautbart. Das Verwirrende der Auseinandersetzung besteht darin, dass „less radical variants of Locke’s ideas were developed in the 1690s and 1700s by latitudinarian divines, notably John Tillotson, archbishop of Canterbury and Gilbert Burnet, the bishop of Salisbury.“192 In der Locke-Stillingfleet-Kontroverse um die Glaubenswahrheiten des Christentums geht es nicht um den Sohn und seinen Vorbehalt gegen die Politik, es geht eher um den Heiligen Geist, dessen Status prekär wird, wenn nur durch sensation und reflection des Individuums Evidenz entsteht193 und der Geist Gottes zu einer zwar aber nur höchstwahrscheinlichen immateriellen Substanz herabsinkt194. Es geht um Gott als denkendes Wesen, als Person, die nicht nach den Prinzipien von sensation und reflection funktioniert und dadurch unwahrscheinlich zu werden droht. Der Bischof von Worcester moniert, dass Lockes „proof of an infinite spiri191 Die Briefe Lockes füllen den vierten Band der Works of John Locke, in der Ausgabe von 1823 (Reprint Aalen 1963). Der erste Brief wurde in Oates am 7. Jan. 1696 / 97 (S. 1 – 96) verfasst, Lockes Reply (auf Stillingfleets Antwort) datiert vom 29. Juni 1697, geschrieben in London (S. 97 – 185), Lockes Answer to remarks, sind ohne Datum und Ortsangabe, (S. 186 – 190), und schliesslich endet die Auseinandersetzung mit Lockes Reply to [Stillingfleets] 2nd letter, Oates, 4. Mai 1698 (S. 191 – 498). Unglücklicherweise sind die Briefe des Bischofs nicht abgedruckt. Diese nun verfügbar in: Schwitzgebel, Gottfried: Edward Stillingfleet als Kritiker der Ideenlehre John Lockes (2000).– Beinhaltet „The objections against the Trinity in point of reason answer’d“ [Kapitel 10 von „A discourse in vindication of the doctrine of the Trinity“] (S. 140 – 168) – „The Bishop of Worcester’s Answer to Mr. Locke’s letter . . .“ (S. 169 – 224) – „The Bishop of Worcester’s Answer to Mr. Locke’s second letter . . .“ (S. 225 – 248). 192 Young, Brian: ibid., S. 28. 193 Locke, Works, ibid., S. 22. 194 Locke, Works, ibid., S. 33.

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tual Being is not placed upon ideas“195, wodurch Gott alternativ ein Fall der sensation, des Erlebens, der Sinne, oder der rationalen nachträglichen Konstruktion, der reflection, zu werden droht und nicht mehr als unmittelbar evident gedacht und geglaubt werden könne. Ob damit die Frage nach den Wundern wieder virulent wird, ob Gott damit ins Wahrscheinliche / Unwahrscheinliche und Unwirkliche, ins Off abgedrängt wird, ob der ,sensationelle‘ Gott ein Fall des individuellen ,Interesses‘ wird und damit ein Zusammenhang zwischen Essay und Treatises besteht, ist dann uninteressant, wenn lediglich hieraus ersichtlich wird, dass sich der Bischof und der Freidenker zunächst über den ,Geist‘ Gottes auseinandersetzen, über den Essay, nicht über die Treatises, nicht über Jesus und seine politische Botschaft. Andere Theoremata des Essays werden debattiert. In der Diskussion um die ,Natur‘ der Person, seine ,Substanz‘, etwa geht es um den Zusammenhang und den Zusammenhalt von immaterieller göttlicher Seele im Menschen und des ,Geistes‘ des trinitarischen Gottes. Dieser Zusammenhang geht verloren, wie dies der Right Reverend Edward gut bemerkt, aber von Locke kasuistisch bestritten wird, weil er das Problem nicht sehen will.196 Stillingfleet, des öfteren, wirft dem Locke vor197, dass er zwar der Seele Unsterblichkeit und Immaterialität als absolut wahrscheinlich annehme, aber zwischen Wahrscheinlichkeit und Gewissheit doch immer ein kardinaler Unterschied bestünde und Gewissheit letztlich zu Wahrscheinlichkeit herabsänke, worauf Locke, christlicher als der Christ, triumphiert und verkündet: um so nötiger haben wir die Offenbarung, die das Wahrscheinliche zur Gewissheit bringt. Die Heilige Schrift verkommt dadurch aber zu einem Pappkameraden, den man nötig hat, zu einer Notdurft für Skeptiker und es ist nie ganz sicher, ob sich dieser bedürftige Denker nicht immer ein bisschen lustig macht und die ,Hilfe‘ der Offenbarung dort heranzieht, wo es ihm in den Kram passt. Es ist eben nicht zu unterscheiden, ob Locke ganz in Baylescher Tradition extra schwache Argumente für die Glaubenswahrheiten des Christentums findet und sich also lustig über sie macht oder es ernst mit diesem seinem Glauben meint. Die Strategie Lockes wiederholt sich auf alle Fälle, je und je übertragen auf die strittigen Themen198. Ob die Seele materiell oder immateriell ist, kann Locke nicht entscheiden, es bleibt beim universellen Skeptizismus, der ein sacrificium intellectus (von Stillingfleet) verlangt, auf dass die Offenbarung um so nötiger werde,– Locke benützt seinen Skeptizismus für die Vorschule der Offenbarungsnotwendigkeit, und das erinnert Locke, Works, ibid., S. 49. Locke, Works, ibid., S. 150 – 184. Dazu Senoo, Goko: Rokku-Stiringufrito ronso [Locke-Stillingfleet controversy]. – Osaka-fu Suita-shi: Kansai Daigaku Keizai Seiji Kenkyujo, Heisei 11 [1999] – III..– (Kenkyu sosho; dai 110-satsu). 197 Wie ein Exzerpt des Bischofbriefes im Brief Lockes erhellt, Locke, Works, ibid., S. 493. 198 Unterscheidung Natur und Person ab S. 66 ff., in: Works of John Locke, Bd. IV., Auferstehung der Toten, S. 303, Trinität, Inkarnation S. 302, 334 ff., Logik, Mathematik, syllogistische Verfahren S. 368 ff., Zeit und Sukzession S. 414, Licht S. 416, Rolle der Vernunft gegenüber der Offenbarung S. 481 und so weiter. Durch seine immergleiche Argumentation wird die Kontroverse mit Stillingfleet etwas langatmig, wozu der Stil Lockes das Seine beiträgt. 195 196

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an einen christlichen Manichäismus, der durch die Nacht des Skeptizismus gehen muss, um zum Licht des besseren Christentums zu gelangen. Locke unterscheidet „certainty of faith“ und „certainty of knowledge“199, um den Vorwurf zu hintertreiben, seine Gewissheit, die er anbietet, unterminiere die „articles of Christian faith“200, wobei der Glaube es niemals zu Gewissheit bringen solle, denn „Bring it to certainty, and it ceases to be faith“201, Gewissheit also als manichäischer Widerpart des Glaubens, aus einer skeptischen Position heraus202, verstanden, und das bringt ihm logischerweise den Vorwurf der „Tendency to Skepticism“203 ein, der, im 17. Jahrhundert geäussert, etwa den Status des Gnosisverdachts unserer Tage besitzt, allerdings haarscharf neben der proskribierten Häresie liegt. In bester pyrrhonischer Tradition stellt sich Locke indifferent unwissend, Locke mit ungezügelter Abnuentia: „I do not understand“204, und weicht auch nur durch allerlei billige Philologie und den Nachweis, dasselbe wie der Autor, Toland, nicht wörtlich gesagt zu haben, der Anschuldigung aus, mit dem im Lockeschen Geist soeben erschienenen Traktat Christianity not mysterious etwas zu tun zu haben, ein Nachweis, der eben nicht systematisch gelingen will205. Locke bestreitet permanent die Wirkung seines Essays und verbleibt erbsenzählerisch im eigenen System, am Buchstaben, statt am Geist. So weist er die Vorwürfe Stillingfleets, er stelle das Credo zur Disposition, Punkt für Punkt mit immer denselben Argumenten zurück206. Locke musste zwangsläufig mit der herrschenden Nomenklatur der anglikanischen Kirche, die sich gerade in der ,glorious‘ revolution, trotz vorgängiger passive obedience, als staatstragend bewährt und systematisch Oberwasser bekommen hatte, kollidieren. „One important aspect of High Church propaganda was a passionate reaffirmation of the concept that the church was the state, and the state the church, that politics were religious and religion political.“ So beschreibt John Kenyon die historische Lage in den 1690er Jahren und darüber hinaus207. Und auch wenn die Anglikaner von Haus aus einen Skeptizismus, weil romkritisch-antidogmatisch, vertraten, wenn auch gemildert, weil wiederum doch hierarchisch-dogmatisch organisiert, musste ein Denker wie Locke, der tolerante und christlich-verLocke, ibid., S. 146. Locke, ibid., S. 145. 201 Locke, ibid., S. 147. 202 Locke geht getreu seiner Theorie nicht davon aus, dass Vernunft und Glaube nicht aus der Erfahrung direkt entspringen und daher eine Verstandesleistung notwendig sei, die denselben Grad an Gewissheit, wie sie die Erfahrung zu verbürgen scheint, nicht bieten könne: „the only way to attain this certainty is by comparing these ideas together, which excludes all certainty of faith or reason, where we cannot have such clear and distinct ideas“ (Locke, ibid., S. 101). 203 Locke, ibid., S. 191, aber auch S. 357 ff. und passim. 204 Locke, ibid., S. 260. 205 Locke, passim, etwa S. 102 / 103. 206 Locke, ibid., Bd. IV, S. 301 ff. 207 Kenyon, ibid., S. 86. 199 200

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nünftige Locke, wohl Latitudinarier, einem Dictionary des 18. Jahrhunderts zufolge „one that takes too great a liberty in point of religion“208, sein, und somit einer zu grossen Vernunftbegeisterung, eines gnadentheologisch verdächtig-milden Pelagianismus und der Laxheit in liturgicis anhängen209. Um die Brisanz des Themas zu ersehen, genügt ein Wort James II., der die Konversion zum Katholizismus damit begründet hatte, dass die römisch katholische Kirche die einzige Kirche seiner Zeit sei, die das Konzept der Unfehlbarkeit überhaupt noch lehre und verteidige, die Aufgabe dieses Konzepts aber die Tür zu „atheism and infidelity“ öffne, „and to Socinians and Latitudinarians who doubted of everything“210, oder es genügt die Beobachtung Henry Mores, eines ,Platonists‘ aus Cambridge, derzufolge man mittlerweile, 1665, dem Teufel nachsage, Latitudinarier zu sein. Nach der Auskunft von Griffin gehört vor allem der Bischof von Worcester, Stillingfleet, in den Kreis der jüngeren Latitudinarier 211 (zusammen mit John Tillotson, später Erzbischof von Canterbury, seinem Nachfolger, Thomas Tenison, Simon Patrick, später Bischof von Ely, William Lloyd, später Bischof von St. Asaph, Lichfield, Coventry und Worcester und anderen) und so hätte man denn in der Kontroverse mit Locke einen Binnendiskurs vor sich, eine Auseinandersetzung eines Latitudinarier mit einem Latitudinarier, aber das ist nur das Ergebnis der schon im 17. Jahrhunderts recht verworrenen Feindbezeichnung ,Latitudinarian‘, und diese Verwirrung legt sich auch nicht, wenn die von Griffin vorgeschlagene Unterteilung des klein- und grossgeschriebenen Begriffs in latitudinarian, als (historisches) Mitglied der Gruppe und Latitudinarian, als technische Beschreibung des Inhalts212, gilt und Locke, der Latitudinarian, mit Stillingfleet, dem latitudinarian, aneinander gerät. Die extensive Forschung zum Phänomen der Latitudinarier im 17. Jahrhundert213, ob die Cambridge ,Platonists‘ oder die Oxforder, ob die Soci208 Griffin, Martin: Latitudinarianism in the seventeenth-century Church of England (1992), S. 10. 209 Die geistesgeschichtlichen und kirchenpolitischen Frontlinien des Latitudinarianismus, wir entschuldigen uns für den Begriff, sind eingehend dargestellt bei Martin Griffin, ibid., die Definition desselben S. 3 ff., insbesondere S. 8 f. Ursprünglich waren es die Cambridge Platonists der 1650er Jahre, die mit allen konnten und sich den Namen der „men of latitude“ einhandelten. „From the beginning, the term ,Latitudinarian‘, or its occasional early variant ,Latitude-Man‘, denoted heterodoxy or religious laxity.“ Griffin, ibid., S. 5. 210 James II. an Prinzessin Anne, auf die Frage, warum er konvertiert sei. Zitiert nach Griffin, ibid., S. 6. 211 Stillingfleet hatte die Vernunftreligion des Latitudinarianismus 1662 (Origines Sacrae, or a Rational Account of the Grounds of Christian Faith, as to the Truth and Divine Authority of the Scriptures, London) erschöpfend zusammengefasst und muss daher als einer ihrer Köpfe gelten. 212 Griffin, ibid., S. 11. 213 Vgl. Aarsheff, Hans: From Locke to Saussure: Essay on the Study of Language and Intellectual History; Ashcraft, Richard: Revolutionary Politics and Locke’s ,Two Treatises of Government‘ (1982), Hill, Christopher: The World Turned Upside Down: Radical Ideas during the English Revolution (1973, 1975); Jacob, James und Margaret: The Anglican Origins of Modern Society: The Metaphysical Foundations of the Whig Constitution (1980);

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nianer, die Arminianer oder doch ein Einfluss der Theologie Isaac Newtons oder doch Spinoza der Gruppe ihr Profile gab, kann hier abgeschnitten werden, da es genügt, den Angriff, den Locke gegen die Wunder214 führt, auch auf alle andere Bereiche des christlichen Glaubens zu übertragen. So wie sich die Theorie von der Praxis der Politik löst, so löst sich auch der ,Glaube‘ Lockes, sein christlicher Glaube, von seinen Taten, sprich seinen Essays und Treatises, seinen Werken – die Confessio, die Locke dem Bischof of Worcester ablegt, scheint ganz glaubens,gewiss‘, nur hat das mit Lockes Politik und seiner intendierten Wirkung nichts mehr zu tun, muss auch nichts, Locke zufolge, zu tun haben. Ob Locke gläubig war oder nicht, ist völlig unerheblich, auch dann, wenn er in der Epistola und der Reasonabless of Christianity den Atheisten keine Toleranz zubilligt. Der schleichend beginnende Nihilismus besteht bei Locke darin, dass er Politik nötig hat, nicht sein persönlicher Glaube, sondern sein Denken; er muss etwas innerweltlich-innerstaatlich organisieren, ohne die Hilfe einer Parallele in diibus in Anspruch zu nehmen, und es ist kein Wunder, dass er auch die Offenbarungsnotwendigkeit, nach der das epistemologisch skeptisch zugerichtete Individuum lechzt, und auf die er sich in der Kontroverse mit Stillingfleet immer geflissentlich berief, in den Treatises nicht einbaut215, es also nicht mehr zu einer systematischen Verbindung von Religion und Politik, von oben und unten, kommt. Kroll, Richard (Hrsg.): Philosophy, Science, and Religion in England, 1640 – 1700 (1992); Trevor-Roper, Hugh: Catholics, Anglicans and Puritans: Seventeenth Century Essay (1989); Shapiro, Barbara: Latitudinarianism and Science in Seventeenth-Century England; Probability and Certainty in Seventeenth-Century England: A Study of the Relationship Between Natural Science, Religion, History, Law, and Literature (1974). Basal weiterhin die Studie von Colie, Rosalie: Light and Enlightenment. A Study of the Cambridge Platonists and the Dutch Arminians (1957), die den Verbindungen der holländischen und englischen Theologie nachgeht und den Grund dieser Richtungen in den Schwierigkeiten des kalvinistischen Rigorismus und den Schroffheiten der Dordrechter Synode (1618 / 19) hervorhebt. Die von ihnen postulierte Freiheit des Willens machte sie, obwohl eher lutheranisch inspiriert, in den Augen der protestantischen Scharfmacher als der Laxheit, also des ,Römertums‘ verdächtig und so ist es denn kein Wunder, wenn Figuren wie Grotius, der England 1613 besucht (S. 15), sich in die Exaktheit der Wissenschaft flüchten, als Surrogat des Rigorismus. Klassisch zudem Cassirer, Ernst: Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932, engl. 1953, 21970). 214 Worcester, Elwood: The Religious Opinions of John Locke (1876), S. 33, wertet die Verunglaubwürdigung des Wunder-Rezipienten als „one of the most cautious and most destructive attacks on miracles ever attempted“ und auch wenn das von Spinoza und anderen gilt, ist doch der Lockesche epistemologische Vorbehalt wieder ein Einbruch des Soziologischen, der Gruppenautorität, die politische Dynamik sofort in sich trägt. Griffin, ibid., S. 108 – 110, diskutiert die Locke-Stillingfleet-Kontroverse und den durch Locke eingeläuteten Untergang des Latitudinarianismus vorwiegend aus der rein erkenntnistheoretischen-logischen Perspektive. 215 Die beiden einzigen Male, in denen im zweiten Treatise von ,revelation‘ die Rede ist, weist beides Mal auf den ersten Treatise zurück, einmal auf den bereits im ersten Treatise geführten Beweis der gleichberechtigten Eltern, (II, 52 (Of Parental Power)), das andere Mal, bezeichnenderweise in Anführungszeichen, (II, 24 (Of Property)) auf die von Gott Adam und den Nachfolgern übertragene Nutzniessung der gesamten Erde zwecks Ressourcenausbeutung. Argumentationsstrategisch ist aber der erste Treatise ein Prolegomenon der Verunglaub-

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Diese Lücke macht den Weg frei für allerlei Intersubjektivitäten, da nun eine Anbindung in der Horizontalen versucht werden muss, wenn schon der Weg der Vertikalen verbaut ist. Hatte Hobbes noch eine Gesellschaft von Individuen, homo homini lupus, gesehen und deren Verbindung über eine vermittelnde, ÜberdrüberInstanz, den von Gott gewollten (und wohl gesandten) Leviathan, konstruiert, gibt es beim Treatises-Locke noch etwas dazwischen und das Kennwort der Locke-Gesellschaft muss homines homini homines (et homines hominibus homines) lauten: die Menschen sind dem und den Menschen Menschen – also für die Menschen ist sowohl der einzelne Mensch als auch die vielen Menschen kein je und je einzelner Mensch, sondern sind immer Teil der Menschen, niemals Individuen, sondern immer sozial eingebunden, sind immer Gruppenmenschen und Parteigänger: Zwischen Locke und Gott steht die Partei oder besser: die Politik, eine Politik freilich, die schon unter den Augen des Politischen steht und das Individuum vollständig von Gott abkanzelt, nicht weil das Lockes ,Glaube‘ wäre, sondern weil es in der Konsequenz, in der Theoriemechanik liegt. —*— Viele Denker könnten hier noch vorgeführt werden, vieles und Vielzuviel vollzieht sich im 18. und 19. Jahrhundert; der Einfachheit halber sei aber gesagt, dass es weitere Versuche zum jesuanisch gespeisten Aufeinanderbezug von imperium und sacerdotium nicht mehr im klassischen Sinne gegeben hat, und deshalb reicht nur noch ein Hinweis auf Rousseau. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis das schlechte Gewissen der modernen Theoretiker verflog und der politische Atheismus sich unverblümt und gewissenlos, nichtmystifikatorisch, nichtskeptisch, anpries. Schon die ersten beiden Diskurse bringen einen Wilden ins Spiel, der einerseits vorrational, vorgesellschaftlich, vorreligiös oder besser nichthochreligiös ist und in dem Moment verroht und ,fällt‘, in dem er „durch äussere Einwirkungen aus seiner Bahn geworfen, und dazu gezwungen [wird], die in ihm bislang schlummernden (potentiellen) Eigenschaften zu entwickeln; er verwandelt sich in den ,bösen‘ (méchant) Naturmenschen, wie ihn Hobbes beschrieben hat, und diese Verwandlung entspricht dem christlichen Begriff des ,Falls‘.“216 Dieser Fall ist jedoch nicht begleitet von der Verheissung ,eritis sicut Deus‘ und erst recht nicht von einer Erlösung in Christo, sondern von einer Verheissung ,eritis sicut Homo‘ und der Erlösung in politicis. Natürlich lehre „die Erfahrung, dass von allen christlichen Sekten die protestantische als die weiseste und sanfteste auch die friedfertigste und sowürdigung alles dessen, was Offenbarung ist und so behandeln die Orte, an denen im ersten Treatise von der ,Revelation‘ die Rede ist (I, 16; I, 53, I, 60; I, 166) Filmers Theorien unter dem skeptischen Auspicium, dass man dessen ,Revelation‘ schon gar keinen Glauben zollen könne. Es wird also mit dem Begriff der ,Revelation‘ im zweiten Treatise operiert, nachdem man sich dessen Grund im ersten Treatise selber unter den Füssen entzogen hatte und wer diese kunstvolle Selbstaufhebungsfigur, diese pyrrhonische Technik durchschaut, wird die Rede von Lockes ,Glauben‘ inskünftig als „grenzwertig“ (Bretzinger) empfinden. 216 Fetscher, ibid., S. 34.

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zialste sei“, und noch natürlicher ist am besten überhaupt auf christliche Inhalte zu verzichten, denn die neue Zivilreligion kann nur die politisch ,korrekten‘, also die politisch instrumentalisierbaren Inhalte anerkennen, z. B. das künftige Leben nach dem Tod: „In jedem Staat, der von seinen Gliedern das Opfer ihres Lebens verlangen kann, ist derjenige, der nicht an ein künftiges Leben glaubt, entweder ein Feigling oder ein Narr“217. Dazu bemerkt Fetscher: „Die Hoffnung auf ein Leben im Jenseits ist es vor allem, die der Staat benötigt, wenn sein Bürger opferfreudige Verteidiger ihres Vaterlandes sein sollen, und hierzu dient ihm die Religion!“218 Die Entfremdung des modernen Menschen, die Rousseau sieht und die ihn zu der pädagogischen und politischen Forderung greifen lässt, dass ein Mensch immer mit sich in völliger Übereinstimmung sein müsse – „alle sozialen Institutionen, die den Menschen in Widerspruch mit sich selbst setzen, taugen nichts“219 –, lastet er erstaunlicherweise dem Christentum220 und insbesondere dem Katholizismus an, weil das Dienen zweier Herren, dem weltlichen und dem geistlichen, zu einer ungesunden Schizophrenie führe. Als ob das Christentum und vor allem der Katholizismus für die moderne Entfremdung verantwortlich wäre! „Wahnsinn, Barbarei, Ignoranz, . . .“ hat Maurras 1912 zu Recht über Rousseau gesagt, „es war die Zeit, in der innerhalb der französischen Grenzen das 7. oder 8. Jahrhundert der modernen Kultur heranreifte.“ 221 Das, was Entfremdung ist, hat mit der Parallelität von Himmlisch und Weltlich nichts zu tun, hat im Gegenteil etwas zu tun mit aus protestantischem Geist gebürtiger Arbeitsteilung, hat etwas zu tun mit Selbstentfremdung des neuzeitlichen kartesischen Subjekts, das den Riss zwischen res cogitans und res extensae spürt, hat etwas zu tun mit der Inthronisiertheit von anonymer, interdependenter, intersubjektiver Öffentlichkeit, die, man weiss nicht wie, ins Innere kommt, hat aber mit der Anbindung an Oben, mit der Anbindung an eine himmlische Sphäre wie gesagt nichts zu tun. Rousseau missbraucht das drängende gesellschaftliche und kulturelle Problem der Entfremdung, um seinen Feind, das Christentum, bekämpfen zu können, und das erinnert an Brunnenvergiftungsargumente und Vergleichbares, um den Gegner zu diffamieren. Spätestens mit Rousseau, der begreift, in welchem Spannungsfeld der Christ lebt, kommt eine ungeheure Aggressivität gegen die christlich fundierte Politik auf: 217 Première Version du Contrat Social (entstanden 1754, zweite Fassung 1758, Erstdruck Amsterdam 1762), IV, 8, Vaughen I, S. 501. 218 Fetscher, ibid., S. 189. 219 Rousseau, ibid., IV, 8, S. 146. [„Tout ce qui rompt l’unité sociale ne vaut rien; toutes les institutions qui mettent l’homme en contradiction avec lui-même ne valent rien.“] Dasselbe im Emile oder auch im Fragment ,Sur le bonheur public‘ von 1762, gemäss Spaemann, Robert: Rousseau – Bürger ohne Vaterland (1980, 1992), S. 23. 220 Darüber instruktiv der Habilitationsvortrag von Robert Spaemann: Natürliche Existenz und politische Existenz bei Rousseau. In: Spaemann, Rousseau – Bürger ohne Vaterland, ibid. 221 Zitiert nach Spaemann, ibid., S. 15.

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„In diese Verhältnisse hinein kam Jesus, um ein geistiges Reich auf Erden zu errichten; dies hatte durch die Trennung des theologischen Systems vom politischen, zur Folge, daß der Staat aufhörte, einer zu sein, und verursachte die inneren Spaltungen, die nie aufgehört haben, Unruhe unter den christlichen Völkern zu stiften.“222

Der Autor der Volonté générale als einer monolithischen Öffentlichkeit kann mit dieser Unruhe merkwürdiger- aber bezeichnenderweise nicht leben. Den Christen sei eine Unfähigkeit zur Vergesellschaftung eigen, wodurch sie aus der Kategorie des menschlichen Geschlechts fallen (?!): „Man sagt uns, daß ein wahrhaft christliches Volk die vollkommenste Gesellschaft bilden würde, die man sich vorstellen kann. Ich sehe bei dieser Annahme nur eine große Schwierigkeit: sie besteht darin, daß eine Gesellschaft von wahren Christen keine Gesellschaft von Menschen mehr wäre.“223

Sind dann die Christen iustes hostes und hors la loi zu stellen? Jedenfalls ist die Möglichkeit eines Kulturkampfes, den der ,weltanschaulich neutrale‘ Staat gegen den jesuanisch gestimmten Staatsvorbehalt der Katholiken führt, hier schon gegeben. Rousseau diskutiert im Kapitel IV, 8224 sogar die jesuanische Reserve gegen die Politik und macht als Staatsanwalt der Politik mit Kollektivsingular darauf aufmerksam, dass „das Vaterland des Christen nicht von dieser Welt [ist]“225, und diese Staatsgefährdung der Volonté générale, diese Gefährdung der öffentlichen Sicherheit muss die Gemeinschaft des Contrat ,social‘ erbarmungslos verfolgen, ganz so, wie die durchpolitisierte Antike diese Ausserpolitik verfolgen musste. Oder aus anderer Perspektive gesagt: Die Christentumskritik, wie man sie hier vernimmt und wie sie von Nietzsche in gleichen aber schrilleren Tönen angestimmt 222 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, ibid., S. 143. Dazu Strauss: „Sein [Rousseaus] Begriff des Ganzen erforderte es jedoch, worauf Spinoza hingewiesen hatte, dass der Dualismus von Naturzustand und bürgerlicher Gesellschaft oder der Dualismus zwischen der natürlichen Welt und der Welt des Menschen auf den Monismus der natürlichen Welt reduziert werde [ . . . ].“ (Strauss, Naturrecht und Geschichte, ibid., S. 284). Spinoza öffnet mithin also nicht nur die Kerkaporta des Gewissensvor(be)halts, wie Carl Schmitt ihm vorwarf, sondern schliesst den Dualismus von weltlichem und geistlichem Reich, welches als eine weit radikalere Tat anzusehen ist. 223 Rousseau, ibid., S. 147. 224 Masson, La Religion de J. J. Rousseau (1916), ibid., diskutiert im zweiten Band ,La hProfession de Foii de Jean-Jacques‘, S. 178 – 205 dieses Kapitel, will aber apologetisch zu dem Schluss kommen, dass etwa die „l’obligation civile ne peut finalement se légitimer que par Dieu“ (S. 183), dass also die Zivilreligion, ähnlich wie die des Hobbes, sich nur auf die Pflichten gegenüber dem Staat bezögen und nicht den Glauben des Individuums tangierten. Dem ist leider entgegenzuhalten, dass es Rousseau, wie Spaemann, s. o., gezeigt hat, um den ganzen Menschen, um den nichtentfremdeten Menschen geht und daher diese kasuistische Unterteilung, die noch eben bei Hobbes funktioniert, bei Rousseau eben nicht funktioniert. Es geht Rousseau tatsächlich darum, den Staatsbürgerglauben an die Stelle des christlichen Glaubens zu setzen – statt des prinzipiell antipolitischen Glaubens den prinzipiell politischen, und so will Rousseau auf das Gewissen eines jeden Menschen losgehen und diesen von innen umgestalten. 225 Rousseau, ibid., S. 148.

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wird, ist – interessanterweise – nicht zufällig aus den modernen politischen Theorien, aus der entfesselten Politik, aus dem Politischen gebürtig226. —*— Aus dieser Warte kann jetzt schon getrost auf Nietzsche vorgeblendet werden, denn es sind wohl noch Jahrzehnte vergangen, grundsätzlich andere Erwägungen zu den beiden Reichen und zu der jesuanischen Abkehr von der Politik aber nicht mehr geäussert worden. Es ist nicht von ungefähr, dass sich der nihilistische Kern der Politik schliesslich dort entschält, wo der aller Bindungen freie Mensch, der Übermensch, erscheint, der nach und nach sein Gesicht als Vollblutpolitiker offenbart, und nicht von ungefähr ist die einzige Bindung des Übermenschen, sein Glaube an die Wiederkunft, selber einer ungeheuren und inhärenten Politisierung unterworfen. Nicht jedoch die gesamte Metaphysik oder die abendländische Geschichte der Metaphysik als Geschichte des Denkens läuft auf Nihilismus hinaus. Wer wollte die Mönche des Mittelalters hier rubrifizieren? Nur die spezifisch politische Denkbewegung trägt diesen Makel, aber leider: das abendländische Denken ist durchdrungen von der Möglichkeit, von der Energie der Politik. Es ist für unseren Kulturkreis kein Wunder, dass Fragen nach Sein oder Nichtsein, nach existentieller Nichtung oder Nichtnichtung im ,Begriff‘ des Politischen auftauchen – dort, wo andere Kulturkreise diese Fragen nicht verorten. ,Sein oder Nichtsein‘ ist dergestalt die Frage eines zweifelnden Politikers, die Frage des modernen, des politischen Menschen: Hamlet. Politik ist ihrem Wesen nach nihilistisch – nach dem Ende aller Theorien, Ideologien und Träume bleibt (möglicherweise?) nur sie übrig – die Kunst des Machbaren, von Machern für Macher. Alles das aber ist doch immer wieder nur Nihilismus. Ohne es zu wissen, ist die Politik irgendwie am Ende. Sie ist dort geendet, wo sie hergekommen ist – im Nihil. Aber was machen wir mit einer Sphäre, einem System, das noch nicht weiss, dass es betriebsblind gegenüber seinen eigenen Betrieb ist und Pertubanzen aller Art bei der bevorstehenden Implosion evoziert?

226 Dabei bemerkt Nietzsche nicht, wie christentumskritisch Rousseau bereits ist. Die Auseinandersetzung Nietzsches mit Rousseau läuft hauptsächlich über den Rousseauismus, über die Mitleidsmoral und die beiden Diskurse, die Nietzsche heftig kritisiert. Vgl. dazu: Wuthenow, Ralf-Rainer: Die grosse Inversion. Jean-Jacques Rousseau im Denken Nietzsche (1989), S. 61 ff.

V. Politikentlastungspolitik Dass Politik nach Entlastung, Entlastung von Politik lechzt, ist gezeigt worden.1 Dass es damit nichts ist, hat seinen Grund. Die Politik ist ihrem Wesen nach nihilistisch und kann darum ihre Entlastung nicht zulassen, sondern nur betreiben. Es ist schön, zu lesen, dass Religion Politik entlasten könne, wie es Ottmann an einer entscheidenden Stelle formuliert: „Hinter Zivilreligion muß Religion stehen, wenn sie der Aufgabe, Konsens und Integration zu stiften, gerecht werden soll. Ansonsten kann Zivilreligion selbst ein Einfallstor für säkularisierte Heilslehren und Ideologien sein. Umgekehrt ist es eine der großen Leistungen der Religion für die Politik, daß Religion Politikentlastung sein kann. Religion entlastet den Staat von absoluten Ansprüchen, sie entlastet von Ersatzreligionen und innerweltlichen Heilslehren. Sie entlastet Politik von dem, was diese nicht leisten kann, und sie entlastet sie von dem, was, wenn sie es zu leisten versucht, in die Katastrophe führt.“2

Aber die Frage ist ja, ob Politik sich Politikentlastung gefallen lässt und wie diese Politikentlastung sich aus der Perspektive der Politik anfühlt. Politikentlastung gefällt der Politik, aber es gefällt ihr auch nicht. Es kommt zu einer scheinbaren contradictio in adjecto, der Politikentlastungspolitik. Sie ist das aktivische Verlangen nach einer Passivität, die übertüncht wird von Aktivität und nicht mehr zurück kann. Entlastung wird nicht gegeben. Man hat Politik gerufen und Politik bekommen und ward sie nicht mehr los. Um es mit einer congeminatio verborum zu sagen: Politikentlastung findet nicht statt, weil Politikentlastung Politikentlastungspolitik bleibt. Zur Politikentlastung gehört die neuzeitliche Geschichte der politischen Theorie, weil nach dem Verlust der Anbindung an die civitas Dei neue Anbindungen gesucht werden, die ausserpolitisch sind, aber zu neuer und vermehrter Politisierung führen. Die Geschichte der politischen Theorie und politischen Praxis in Neuzeit und Moderne ist die Geschichte der Genese von Öffentlichkeit, von öffentlichem Dissens, von öffentlich streitenden Parteiungen und von öffentlich streitenden Parteiungen im Staatsverband, ist die Geschichte des Einbezugs ursprünglich politikfremder Felder in die Politik, ist der Versuch der Politikentlastung. Der Wille zur Politikentlastung regt sich auch dort, wo die Politik durch die Herrschaft der Öko1 Den Begriff der Politikentlastung entlehne ich der grundlegenden Arbeit von Henning Ottmann: Politik und Religion im modernen Staat. In: Politik und Politeia. Formen und Probleme politischer Ordnung. Festgabe für Jürgen Gebhardt zum 65. Geburtstag (2000), S. 99 – 108. Die nachstehenden Gedanken verstehen sich als eine Weiterführung (und Verschärfung) dieses Ansatzes. 2 Ottmann, ibid., S. 100 f.

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V. Politikentlastungspolitik

nomie oder der Assekuranz obsolet gemacht werden soll. Klassische Politikentlastungsstratagemata beinhalteten darüber hinaus nur zu oft die Beruhigung innerer Gegensätze durch Expansion nach aussen. Mithin ist der Nationalismus, aber auch der Sport, eine Form der Politikentlastung, insofern er als Nationalgefühl kleinster gemeinsamer Nenner der Bürger ist und ungeheuer politisiert werden kann. Es ist kein Wunder, wenn ein führender Soziologe, Ulrich Beck, in der heutigen Situation eine Neuerfindung der Politik fordert, die auf dem Rücken der Subpolitik – politische Folgen nichtpolitischer Akte – zu errichten sei: „Politik bestimmt – eröffnet, ermächtigt – Politik. Diese Möglichkeit einer Politik der Politik, einer Erfindung des Politischen nach seinem ,bewiesenen‘ Ende gilt es aufzudecken und auszuleuchten.“3 Gegen den „Satz Nietzsches: ,Nihilismus ist ein Glücksgefühl‘“ (den Nietzsche allerdings nie geschrieben hat) und einer Ästhetisierung nach (und wohl mit) dem Nihilismus (der auch im Begriff der Erlebnisgesellschaft noch anwesend sei), empfiehlt Beck eine ,Kunst der Moderne‘, die nach erfolgreicher ,Rationalitätsreform‘ „eine reflexive Modernisierung meint“4 und „reflexive Politik“ unterfüttert. „Gemeint ist eine Renaissance des Politischen, die – um ein Bild von Fichte aufzugreifen – ,sich selbst setzt‘: aus Aktivität ihre Aktivität entwickelt und entfaltet, sich sozusagen am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Eingefahrenen zieht.“5 „Das Aufregende [ . . . ] liegt darin, daß [ . . . ] das Politische auch im Durchgang durch das Private, sozusagen hintenherum, erreicht wird bzw. einbricht.“6 Das mag in der Tat aufregend und ein Symptom dafür sein, dass das Politische in einem nie gekannten Ausmasse in das Private eingedrungen ist – ein weiteres Indiz für das Bedürfnis nach Politikentlastung. So wie die moderne Soziologie nicht mehr deswegen lesenswert ist, weil sie eine Analyse über die Gesellschaft liefert, sondern nur noch, weil sie deren Symptom ist und mittelbar etwas über den Zustand der Gesellschaft aussagt, so notwendig wird eine Politikentlastung als eine Entlastung auch von Soziologie. Und eine Entlastung von der Neuerfindung der Politik. Nun ist das Prinzip der Politikentlastung, das in der neuzeitlichen Geschichte allerorten angetroffen worden ist und zu jeweilig grösserer Politisierung führt, ein Prinzip, das hinsichtlich der Wahl der politikentlastenden Instanz indifferent ist. Deswegen ist es sinnvoll, die gegenwärtigen Tendenzen der Politikentlastung und die Reaktion der Politik, insbesondere der staatlichen Politik durchzugehen.

1. Moderne Politikentlastung – ein Geschäft Der Begriff der neuzeitlichen Politik setze den Begriff des Staates voraus. Das mag fürchterlich richtig sein. Der Staat, als kältestes aller Ungeheuer, schützt als 3 Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung (1993), S. 157. 4 Beck, ibid., S. 193 ff. 5 Beck, ibid., S. 207 ff. 6 Beck, ibid., S. 235.

1. Moderne Politikentlastung – ein Geschäft

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anonyme öffentliche Instanz eine Sphäre, die Sphäre des Politischen, die schon längst an ihr Ende gekommen wäre7, wäre nicht der Schutz des Staates. So gesehen fungiert der Staat als schützende um nicht zu sagen hemmende Macht, in welcher Politik und Politikentlastung und Politikentlastungspolitik jederzeit zugleich ihre fröhlichen Urständ feiern können. Auch der Ruf des Liberalismus ,Weniger Staat‘ führte in der Konsequenz zu grösserer Legitimität des Staates, weil bislang nur der Staat weniger Staat durchsetzen konnte, weil auch der politische Ruf nach weniger Staat zu grösserer Politisierung bzw. zur Politisierung nichtstaatlicher Bereiche führte. Wie gesehen, gehört es zur Logik der Politikentlastung, dass die entlastenden Instanzen frech sind. Nun begibt es sich aber in unserer Zeit, dass 1. der Neoliberalismus Ernst macht mit seiner eigenen Maxime a) weil er sich weltpolitisch durchgesetzt hat und politische Gegenrede nicht mehr erwartet b) weil es nunmehr Alternativen zum Staat gibt – im Gestalt von privaten Bewachungsgesellschaften, Privatschulen, privater Vorsorge, privaten Autobahnen, privaten Elektrizitätsgesellschaften etc. und dass 2. der Staat unter Globalisierungsbedingungen und Privatisierungsbedingungen unter Druck gerät, weil Staaten unter Konkurrenzdruck schlank sein und sich der Rosskur des New public management und dergleichen unterziehen müssen und weil endlich 3. der Schwund von Staat und Politik wechselseitig alternierend vonstatten geht – Politikentlastungspolitik managt unter den Regeln ihrer Kunst allerhand Privatisierungen, um den Staat schlanker zu machen; einen schlanken Staat, der seinerseits nicht nur mit anderen Staaten und der Sphäre des Politischen handelt, sondern mittlerweile mit privaten (Venter, Soros, Gates) und juristischen Personen (Multis). Geht es um die Arbeitsplätze, verwischen sich die Grenzen von Staat und Politik: Steuerminderungen, Subventionen, Infrastruktur-Rahmenbedingungen usw. werden gratis konzediert – was dann auf der Einnahmenseite die Löcher reisst, die den schlanken Staat zum schwachen Staat machen und die Politik entmündigt. Auch diese Dynamik ist nur eine Folge der Anmassung der Politik, für alles zuständig zu sein und sich dies in den Grenzen des Staates auch noch sanktionslos leisten zu können. Es droht durch die Globalisierung und Privatisierung jedoch bereits das nächste Ungemach, dass nämlich die Politik sich gesamthaft statt der Kirche lieber der Wirtschaft unterstellt. Das würde aber alles nur noch schlimmer ma7 Das ist eine luhmannsche Fragestellung, die aber noch nicht hinreichend untersucht ist. Es genügt ja nicht, das politische System als gleichrangig mit den anderen Sozialsystemen zu beschreiben, den Primat des Politischen als „heute empirisch unhaltbar“ (Angehrn, Emil: Ortsbestimmungen des Politischen. Neuere Literatur zu Thomas Hobbes (1990), in seiner Besprechung von Willms, Bernhard: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan (1987), S. 10) zu deklarieren und die Interaktionen aussen- und binnensystemischer Entitäten mit unscharfen Begriffen wie Pertubanz abzutun. Ohne Phänomenologie der Binnensysteme bleibt die Metatheorie blind, folgenlos und nur ein Spielball für die ausgemachte und allein hier interessierende Dialektik von Ausserpolitik und Politik als Prolegomenon des schleichend sich vollendenden Nihilismus‘ der Politik und aller an sie angeschlossenen Subsysteme – und das sind leider wir.

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chen – nur noch Machertum und zwar im Gegensatz zur Politik ohne Kontrolle und Abfederung. Man wird den Markt, das kälteste aller Ungeheuer, als Kontrollinstanz nicht im Ernst in Erwägung ziehen. In den Zeiten, in denen alle guten Willens sind, so ausserordentlich guten Willens, des besten Willens geradezu, treten geschichtliche Entwicklungen noch unverblümter ein, noch brutaler, weil sie auf dem Rücken der Wohlmeinenden, hinter deren Rücken, geschehen. Dadurch können grandiose Aufhalterfiguren ihren Stellenwert verlieren. Es liegt dies zwar schon in der folgerichtigen Kausalkette des noch lange nicht an sein Ende gekommenen Nihilismus, aber immerhin sind in diesem Text die Zusammenhänge klar erkannt und benannt, so dass der knirschenden Mechanik etwas entgegengesetzt oder ihre Entwicklung umgebogen werden kann. Es spielt schon eine Rolle, ob wir die Sphäre des Politischen retten, indem wir sie wieder an Gott und die Kirche anbinden, oder man wartet, bis Privatisierung und Globalisierung solcherart voranschreiten, bis Coca-Cola seine erste Nuklearwaffe erhält, um Pepsi auszuschalten. Für den Kapitalismus muss die Sphäre der Politik seit jeher ein Ärgernis gewesen sein; wenn diese sich im Rückzug befindet, wittert jener Morgenluft. Die feindliche Übernahme der Politik durch den Kapitalismus würde sich im Rahmen seiner Logik vollziehen und müsste die Schleifung nationaler Grenzen und staatlicher Organe nach sich ziehen. Das Vorhandensein der Politik und des Staates nach zwei drei Jahrhunderten konnte der ungeduldige Marxismus nur mit dem Zusammenschluss von staatlicher Macht mit der Macht der Multis und Theorien über Staatsmonokapitalismus erklären, aber zu früh: ein allfälliges Joint venture von Staat und Wirtschaft ist nur Zufall und Teil einer geschichtlichen Epoche. Das Auseinandergehen und das Erwachsen in Kontrahenten ist dagegen eher das natürliche Ende und kristallisiert sich nicht sofort. Innerhalb des Systems des Kapitalismus bilden sich Dichotomien von Politik und Religion aus, die näher zu begutachten wären, etwa die politischen Kämpfe innerhalb der Unternehmen, die Zunahme politischer Auseinandersetzungen gegen oben hin, die verstärkte Politisierung der Projekte usw., oder, religionskompensatorisch, die Unternehmensziele, an die geglaubt werden soll, das Unternehmensethos usw. – nun wäre zu fragen, ob in solchen Subebenen eine Politikentlastungspolitik auszumachen ist und inwiefern diese Subprozesse mit den gesellschaftlichen Superprozessen interagieren. Es ist schwierig auszumachen, ob in den Unternehmen dasselbe Spiel der Politik, der Politikentlastung und der Politikentlastungspolitik zum Tragen kommt. Man könnte etwa in dem Rückgang der Firmenpatriarchen und dem Rückgang des verschleiernden Umgangs mit Unternehmensdaten eine Transparenz ausmachen, die dem Prinzip der anonymen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts entspricht. Man könnte hierher auch die vielfältigen Börsengänge oder die geänderten Bilanzierungsvorschriften subsumieren, die vielen Firmen das Genick brechen, weil sie mit dieser neonhellen Öffentlichkeit nicht umgehen können. Auch die Übernahmeschlachten und Management Buyouts können als eine Einübung in den Dissens in der Firmenkultur und als Verheiratung der auf Firmengeheimnissen basierenden Erfolge mit dem Prinzip Öffentlichkeit aufgefasst wer-

2. Die vier Gewalten

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den. Ob es auch innerhalb der Geschäfte zur Politikentlastung im eigentlichen Sinne kommen wird, ist noch nicht absehbar, da ihr Entwicklungsstand derjenigen der Politik des 18. Jahrhunderts entspricht. Es sprechen jedoch gewichtige Gründe dagegen, dass die Mechanik der Politik die Wirtschaft auf denselben Stand zu bringen in der Lage ist, wie dies der öffentlich-dissentische Parteienstaat präsentiert. Wie das so ist mit geschichtlichen Entwicklungen, stellt sich bald eine Dialektik ein, und es begibt sich, dass der Politik, auf der Suche nach entlastenden Instanzen, schon willige Vollstrecker begierig die Entlastung aus der Hand zu nehmen sich in Anschlag bringen. Das menschliche Genom zu entschlüsseln – ein Projekt der Menschheit, sprich der Regierungen, sprich der Politik – ist dann mit weitem Vorsprung Herrn Venter gelungen, durchaus mit politikentlastenden, nämlich pekuniären Interessen verbunden, aber so war’s der Politik dann wieder nicht recht und Bill Clinton und Tony Blair sind dann mediengerecht gegen diese Gefahr warnend aufgetreten, namentlich auf Herrn Venter hinweisend. Dass der Mensch einst der Firma von Herrn Venter gehören würde und in der Konsequenz Abitur- oder Promotionsprüfungen vor dem Bevollmächtigten der Firma abgelegt werden müssen, usw., griffe allerdings recht einschneidend in das Politikfeld ein und würde eine vollendete Synthese aus Nietzsche (seinem Übermenschen und etwaiger Briefe über den Humanismus, Elmauer Reden etc. pp.) und einem radikalisierten Neoliberalismus bedeuten, bei dem die klassische politische Sphäre wohl nichts mehr zu sagen hätte. Dass dies die Politik nie zulassen wird, ist Teil der Politikentlastungspolitik. Teil dieser Politikentlastungspolitik ist es aber auch, und dies macht die Dialektik aus, dass die Entlastung von nihilistischen Umgruppierern wahrgenommen wird, die die in ihrem Wesen nihilistische Politik nur beerbt. Das Wesen von Herr Venters Firma ist nur der stetige Wurmfortsatz des Wesens der Politik selbst. Auch hier wäre die Politik gut beraten und sozusagen klug, einen richtigen Politikentlaster zu wählen bzw. ihren Rückzug in geordneten Bahnen einzuleiten. Bis dahin muss gefragt werden: Welche Reaktionen des politischen Systems auf die Aktionen der selbsternannten Politikentlaster sind bislang auszumachen und wie reagiert das politische System auf seine eigene Politikentlastungspolitik?

2. Die vier Gewalten Das gegenwärtige politische System mit seiner ihm eigenen Mischung der klaren Scheidung von Politikern und politisierten Nicht-Politikern (den ,Wählern‘, dem ,Wahlvolk‘) ist verwunderlich, denn es fällt auf, dass das Gefälle von Erwartungen, Hoffnungen und Wünschen an das Berufspolitikertum in einem grotesken Verhältnis zur politischen Gestaltungsfähigkeit und –willigkeit steht, umgekehrt die classe politique das Wahlvolk draussen im Lande zunehmend als reine Vorteilsnehmer empfindet, wobei die Zyklen von Repulsion und Attraktion dieser wechselseitigen, angekündigten Entfremdungschronik durch Wahlrituale bestimmt sind. Bestrebungen, Politikentlastung zu ,gewähren‘, sind dadurch vorprogrammiert, aber selten erfolgreich.

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V. Politikentlastungspolitik

Politikverdrossenheit heisst das auf der anderen Seite. Die Ansinnungen an die Politik werden aufgegeben und schlagen um in Enttäuschung, wahlweise in Gefühle von null Bock und no future oder aber in Technolustigkeit und politikferne Spassparaden. Was früher das Hadern mit Gott war, wird zu einer Erwartungshaltung an die Macher, an die Politiker, die beide Seiten enttäuschen muss. Dies führt zu der allseits beobachteten Verlagerung der Macht hin zu den Medien, den Dolmetschern zwischen Wählern und Gewählten. Hierbei ist immer zu fragen, ob eine Machtverschiebung schon derart weit fortgeschritten ist, dass sich die Systemgrenzen auflösen oder innerhalb der Systeme Subsysteme endogene Pertubanzen hervorrufen, die auf eine Abspaltung oder Autonomie der Subsysteme hinauslaufen. Sicher ist es sinnvoll, die Gewalten des Staates und der Politik einzeln zu beleuchten und ihrem inhärenten Nihilismus auf die Spur zu kommen. —*— Die herkömmliche Kritik an der ersten Gewalt, wie sie Schmitt8, Habermas9 oder Lenin10 und die Nazis11 formulierten, dergestalt das Parlament seinem Prinzip untreu werden muss und zur ,Quasselbude‘ verkommt, ist weiterhin in Kraft, soll hier aber nicht im einzelnen nachgezeichnet werden. Die Problemlage ist aber zumindest insofern eine andere geworden, als dass dem bemängelten ,ewigen Gespräch‘ des Parlamentarismus heute längst keine Zeit mehr gegeben würde. Die erste Gewalt unterliegt mittlerweile einem Entscheidungsterror in einer Welt der permanent abverlangten Entscheidung, Entscheidung ohne Diskussion, der Macherund Zuständigkeitswahn ohne Unterlass produziert. Das Parlament wird Gesetzgebungs- und Beschlussorgan, ohne noch Diskussionsforum der vernünftigen Balancierung zu sein. Damit geht der Verlust der Öffentlichkeit einher, weil der Charakter der parlamentarischen Öffentlichkeit nicht mehr Schritt halten kann mit dem 8 Zentraler Gesichtspunkt in Schmitts Text ist die Abirrung vom Prinzip des Parlamentarismus: „Grosse politische und wirtschaftliche Entscheidungen, in denen heute das Schicksal der Menschen liegt, sind nicht mehr (wenn sie es jemals gewesen sein sollten) das Ergebnis der Balancierung der Meinungen in öffentlicher Rede und Gegenrede und nicht das Resultat parlamentarischer Debatten“, wobei in der ,Vorbemerkung‘ von 1926 das Problem der Massendemokratie hinzukommt: „Die Lage des Parlamentarismus ist heute so kritisch, weil die Entwicklung der modernen Massendemokratie die argumentierende öffentliche Diskussion zu einer leeren Formalität gemacht hat.“ (Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923; 21926; 71991), S. 62 und S. 10). 9 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962), ibid., insbesondere S. 305 ff.: „Vor der erweiterten Öffentlichkeit werden die Verhandlungen selbst zur Show stilisiert.“ (S. 307). 10 Etwas unreflektiert, aber auf der Ebene der Taktik sehr wirkungsvoll, die Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Boykott, natürlich mit der Präferenz des aktiven Boykotts und der am dialektischen Materialismus geschulten Quintessenz: „Nieder mit der Duma!“ Lenin, Werke, Bd. 10, S. 88. Die Taktik hinsichtlich des Parlaments überblicksmässig im Register zu W.I. Lenin, Werke, Bd. 1, S. 445 f. 11 Neben einer geradezu Leninschen Taktik, auf legalem Wege an die Macht zu gelangen, gesellt sich eine Kritik an der ,Quasselbude‘, die burleske und karnevaleske Elemente enthält und auch noch das Prinzip Rede selbst in Frage stellt.

2. Die vier Gewalten

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Charakter des Prinzips anonymer und virtueller Öffentlichkeit. Die spezifische Öffentlichkeit des Parlaments ist immer noch an die Idee des Forums gebunden, sei dies nun die Agora oder die Versammlung unter der Dorflinde. Diese Öffentlichkeit ist aber der unter Medienbedingungen veränderten Lebenswelt der Vertretenen entfremdet; noch die Sternstunden des Parlaments dringen nicht mehr in diese Neue Öffentlichkeit. Ebenso herkömmlich sind im Grunde die Hinweise auf die neuen Möglichkeiten der politischen Mitwirkung der Demokraten im elektronischen Dorf, wo sich direkte Demokratie ,machen‘ liesse und der uralte Traum der Teilnahme und Teilhabe aller an der Landsgemeinde Realität werden könnte. Damit wäre mit Sicherheit die Herrschaft der Demoskopie gebrochen und die Vertelegenisierung der Politik zumindest in Frage gestellt. Welche Auswirkungen dieses in concreto hätte, insbesondere für das Konzept der modernen Demokratie, das ja mit der schweigenden Mehrheit und der niemals irrenden Volonté générale operiert, kann hier nicht ernsthaft erwogen werden; es würde aber jede Form der Repräsentation sprengen und jede bisher erdachte Herrschaftsform delegitimieren können, wenn alle permanent an den Entscheidungen teilnehmen könnten. Es würde also nicht der schlanke Staat des eGovernment werden, sondern das Machertum nicht nur der Macher, sondern aller. Was hindert dann noch die allabendliche Abstimmung? Wer führt dann noch die Diskussionen? Alle werden für alles zuständig, ein Greuel. Diese Phantasien bewegen sich aber in der klassischen Demokratietheorie und fördern einmal wieder die Politisierung über eine ausserpolitische Politikentlastung. Im Rahmen meiner Analyse interessieren aber hier eher die verunsicherten Politiker, die parlamentarische Entscheidungen nicht mehr selbstbewusst durchkämpfen, sondern in vorauseilendem Gehorsam das Urteil aus Karlsruhe, die Ukas der europäischen Kommission, fraktionsdisziplinarische oder sonstige (also lobbyistische) Gründe abwarten, bis eine parlamentarische Diskussion sich überhaupt lohnt. Damit ist der Parlamentarier selber kein Gewissensmensch mehr, sondern ein Fisch, der im Interdependenzennetz zappelt und nach Politikentlastung verlangt, aber so verlangt, dass er es nicht weiss – hier zeigt sich das Wesen des Nihilismus im Wesen der Politik dann deutlich. Die unverblümte Forderung nach 18% als politisches Programm, wie sie, in der Fortführung der Tradition Burkes, nicht nur, als Partei, von den taktischen Zielen und den Interessen seiner Klientel zu abstrahieren, sondern auch noch von allen Zielen überhaupt, die FDP im bundesrepublikanischen Wahlkampf des Jahres 2002 aufgestellt hat12 oder das konturlose Agieren des sozialistischen Kandidaten bei den französischen Präsidentschaftswahlen desselben Jahres (welches seine Abstrafung 12 Ein politischer Denker wie Jürgen W. Möllemann, der das ,Projekt 18‘ aus der Taufe hob, also der Forderung nach 18% Wähleranteil (die Forderung gerichtet an die Wähler), muss als Vollender der geistigen Linie von Locke, Burke und Max Weber gelten, insofern Locke den Typus des Parteimenschen inaugurierte, Burke ihn von seinen und des Wählers Interessen ,emanzipierte‘ und Max Weber den um Macht und nichts als Macht sich bewerbenden, mit seinen Gesinnungen taktisch jonglierenden Verantwortungsethiker fand.

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V. Politikentlastungspolitik

zur Folge hatte und ihn noch hinter Le Pen plazierte) oder der Wandel der Grünen von der Partei der Bürger- und Basisdemokratie zur telegen-disziplinierten Parteitagspartei (und die Liste liesse sich beliebig verlängern), sind nur Symptome einer zunehmenden Offenlegung des nihilistischen Wesens der Politik, die mittlerweile den Willen zur Macht als Fortschritt verkauft, ein Nihilismus, der aber mittlerweile auch von Wählerseite erwartet zu werden scheint. Das sind Wechselspiele von Politikentlastung und Politikbelastung, die auch noch bei Politikverdrossenheit zunehmende Politisierung nach sich zieht. Natürlich ist nicht jede Programmlosigkeit ein Anzeichen für Nihilismus, aber wenn dies verstärktes Machertum nach sich zieht, dann schon. Denn Machertum, das hatten wir anfangs gesehen, führt zu automatischen autorlosen Zerstörungen, zu unschuldig-schuldiger, tragischer Zerstörung. Dass die politischen Diskussionen im Parlament meist um die Frage des Machens und des Verschuldens von Unterlassungssünden gehen, dass in Rede und Gegenrede ein gegenseitiges Anstacheln zum Machen eingeübt wird, dass die Generaldebatte und -abrechnung mit der Regierung immer anlässlich der Fiskalpolitik, der Vorstellung des Bundeshaushalts vor sich geht, daran hat man sich gewöhnt. Eine Soziologie des Parlaments würde unter ihren Mitgliedern zur Hauptsache Lehrer und Juristen ausmachen – also soziale Gruppen, die für den Nihilismus und für alle Spielarten der Sozialtechnologie besonders anfällig sind. Erschreckender ist jedoch der Umstand, dass auch die christlichen Parteien ihre Anbindung an Oben verloren zu haben scheinen und sich heute als Partei der Mittelstandsvereinigung gerieren. Wer spricht heute noch vom Gott der Präambel? Welcher Parlamentarier hat zuletzt das Wort Gott in den Mund genommen, ja wann wurde Jesus das letztemal im Parlament erwähnt? Und wann wurde das letzte Mal Politik selbst beargwöhnt und als Ganzes abgelehnt? —*— Nicht besser steht es um die zweite Gewalt. Das ist nicht weiter verwunderlich, weil das Wesen der zweiten Gewalt sowieso aus Machen und nichts ausserdem besteht. Interessant sind dann nur die Momente, die diese Mechanik noch verstärken bzw. alternativlos machen. Die mannigfachen Verpflichtungen, in die die Regierungen heute eingebunden sind, stellen ein Rahmenwerk dar, das ein Regieren im Sinne des Aktivischen eigentlich unmöglich macht. Aber dies wird nur eine Herausforderung an die Macher, trotzdem etwas zu machen. Umgekehrt sind es dieselben vertraglichen Verpflichtungen, die dauernde Reformen und damit ständige Gesetzesnovellierung oder sonstige Anstrengungen nach sich ziehen. Wo die Regierung noch Spielraum hat, etwa bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, werden Pläne über Pläne erarbeitet, Bündnisse für Arbeit geschlossen, Eingriffe in die Tarifautonomie vorgenommen – was dann mit dem Eingeständnis endet, dass die Arbeitsämter in Zukunft auch private Stellenvermittler miteinbeziehen sollen: wieder einer dieser falschen Politisierungen der bis anhin ohne den direkten Eingriff der Politik auskommenden Arbeitsmarktpolitik, die wie von selbst zur Politikentlastung führt, aber nur grössere Politisierung nach sich zieht.

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Gleiche Tendenzen sind bei der allmählichen Privatisierung des Militärs auszumachen. Nur die Söldnerarmee sei für den Einsatz in internationalen Gefilden tauglich, nur die Etablierung allerlei Spezialverbände könne vor dem globalen Terrorismus schützen, nicht die Bürgerarmee. Dadurch wird das Militär natürlich einer Indienstnahme durch die (globale und nationale) Politik unterworfen, die von angeblichen Bedrohungen legitimiert wird. Nun ist diese ,Militärentlastung‘ in Gang gekommen. Auch nach innen sind Entlastungen auszumachen, am ehesten im Polizeibereich. Die Zahl der bei privaten Bewachungsgesellschaften Beschäftigten ist heute grösser als die der beamteten Polizisten, in USA kommen auf einen Polizisten bereits drei Securitates. An neuralgischen Stellen, etwa im Bahnhofsbereich, schieben jede Menge Uniformierte Dienst – Polizisten sind bald keine mehr darunter. Daneben hebt die Zusammenarbeit der Polizei mit Geheimdiensten, Interpol, Militär usw. die klassische Trennung von Innenpolitik und Aussenpolitik auf; auch dies eine Folge des Nihilismus, da das Machertum zwischen innen und aussen nicht zu unterscheiden weiss. Die Vernetzung von Polizei und Firmensicherheit löst die Trennung von öffentlich-rechtlich und privat. Es ist nicht einzusehen, warum es in Zukunft nicht wieder Saalschutz und Schutzstaffeln und Prätorianergarden und der ihnen eigenen Probleme wie Zugang zum Machthaber geben solle. Nicht einmal nach der Kriegserklärung der USA an den internationalen Terrorismus konnte der Vorschlag im Senat Zustimmung finden, inskünftig wieder vermehrt staatliche Stellen mit der Kontrolle auf den Flughäfen zu betrauen. Es bleibt bei der Privatisierung, sprich Politikentlastung, die allen möglichen neuen Herren zugute kommen kann. —*— An erster Stelle der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Politikentlastungspolitik steht jedoch die Einschaltung der dritten Gewalt und hier insbesondere des Bundesverfassungsgerichts. Auch wenn die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit durchaus nicht neu ist, wird doch die Vorstellung eines ,Reichsgerichts als Hüter der Verfassung‘ erst dann akut, wenn das politische System entweder keine Entscheidung mehr herbeiführen kann oder die Entscheidung die Sache nicht entscheidet. Das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit ergibt sich auch noch an anderer Stelle, schon früh durch das, was das Prinzip von Gewaltenteilung selbst ist, durch Folgeprobleme, wie das der Anfänglichkeit von Demokratie, die natürlich nicht die natürliche Herrschaftsform ist und eine Verfassung nötig hat, eine geschriebene Verfassung und also einen Schreiberling, einen législateur. Der législateur ist auch nur ein Mensch und gibt der Volksherrschaft ein Gepräge, das über die Volksherrschaft nicht so bestimmen darf, dass das Volk sich unterordnen müsste, jedenfalls idealerweise nicht. Des weiteren ist das Problem der Schriftlichkeit von Herrschaft, die eigentlich nicht schriftlich ist, aber zur Herrschaftssicherung und Herrschaftsbeschränkung nicht anders als schriftlich sein kann, von der Jurisprudenz und deren höchstem Repräsentant, dem Verfassungsgericht, zu lösen. Herrschaft soll durch Text nicht eingeschränkt sein, soll aber durch Text eingeschränkt sein –

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das ist so paradox wie die Volksherrschaft über das Volk und kann zu noch paradoxeren Schlüssen führen, derzufolge es ja nur der Text sein kann, der den nichttextlichen Willen des Volkes auszudrücken in der Lage sei und weiter, wie Chief Justice Black in Brachylogie formuliert hat: „Where conflicting values exist in the field of individual liberties protected by the Constitution, that document settles the conflict . . .“13 Das Dilemma von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, von Buchstabe und Geist, kann nach dieser Lesart, wie so oft in unserer Kultur, nur vom Text gelöst werden, und so ist denn die Genese der Verfassungsgerichtsbarkeit in das Jahr 1803 zu datieren, als Chief Justice Marshall in dem berühmten Fall Marbury vs. Madison zum Text zurückgeht, „to make his case“14. Die Urteilsbegründung referenziert den Text: „the particular phraseology of the Constitution of the United States confirms and strengthens the principle supposed to be essential to all written constitutions, that a law repugnant to the constitution is void“ und dass es dem obersten Gericht obliege, dies festzustellen. Weiter: Das Volk, das herrscht, darf sich nicht untertan sein, was zu der Amphibolie und Schizophrenie führt, dass eigentlich alle herrschen und niemand niemandes Untertan ist, dass also Herrschaft selber unmöglich wird, eigentlich, streng genommen, Anarchie herrschen müsste und doch eine Verfassung dieser Volksherrschaft Herrschaft gibt, die auch noch zu schützen ist. Es mag sein, dass die Volonté générale ein guter Hilfsgriff ist, um die Unmöglichkeit von Herrschaft aller über alle doch zu denken, aber auch das ist nur Text, der die Frage in der Wirklichkeit aufwirft: quis interpretabitur. Nun überträgt das Volk seine Herrschaft verschiedenen Instanzen, etwa der gewählten Regierung oder dem Verfassungsgeber, und benötigt eine Instanz, die die Herrschaftsübertragung überwacht und den Streit der Instanzen schlichtet, gerade dann, wenn die Instanz nur durch Majorz oder Proporz ihre Herrschaft begründet. So konnte auch die Verfassungsgerichtsbarkeit in der noch Supreme Court-losen USA unter Berufung auf das Volk entstehen, obwohl die Verfassung eine Verfassungsgerichtsbarkeit nicht im eigentlichen Sinne kennt, Chief Justice Marshall aber den Ausführungen Hamiltons folgen konnte: „it only supposes, that the power of the people is superior to both; and that where the will of the legislature, declared in its statutes, stands in opposition to that of the people, declared in the Constitution, the judges ought to be governed by the latter rather than the former.“15 Die Vorstellung der bloss ausgleichenden dritten Gewalt als einer Gewalt ohne eigentliche Gewalt ist so alt wie die moderne Demokratie und reicht zurück bis zu ihrer klassischen Formulierung, derzufolge die dritte Gewalt en quelque façon nul16 sei, oder, wollte man die Federalist Papers zitieren: „The judiciary, on the 13 Justice Black, The Bill of Rights (1960). Zitiert nach Bickel, Alexander: Least Dangerous Branch (1962, 21986), S. 86. 14 Bickel, ibid. Der Fall ist berühmt und würde, wenn er heute eine sichtbare Repräsentation hätte, zu einer „tourist attraction“. Bickel, S. 74. 15 Hamilton, 78th Federalist Papers: The Judges as Guardians of the Constitution (1787 / 1788).

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contrary, has no influence over either the sword or the purse; no direction either of the strength or of the wealth of the society; and can take no active resolution whatever. It may truly be said to have neither force nor will, but merely judgement . . .“17 Daher resultiert auch die Einschätzung des Verfassungsgerichts als „least dangerous branch“, doch gilt diese Betrachtung nur für die Beziehung der Gewalten untereinander, nur für die ursprüngliche Idee Montesquieus: „Le pouvoir arrête le pouvoir“. Nimmt man das Volk hinzu und die Problematik von Herrschaftsübertragung überhaupt, ändert sich das schlagartig, und so ist es kein Wunder, dass die Entstehung der Verfassungsgerichtsbarkeit dem Fall Marbury vs. Madison zugrundeliegt, also 1803 gegen den amtierenden Aussenminister geführt wurde. Da es Aufgabe des Parlaments als Repräsentationsorgan des Volkes ist, den Willen des Volkes vollständig zu repräsentieren, kann dem Verfassungsgericht, wenn es sich anschickt, den Willen des Volkes in der Verfassung zu ermitteln, eine nicht nur gewaltenteilungsüberwachende Funktion sondern eine quasi-parlamentarische innewohnen. Damit kann es in Konkurrenz zum Parlament treten, ja sogar, wie Bickel kritisiert, undemokratisch sein18, etwa wenn der Volkswille nicht mehr ungeteilt im Repräsentationsorgan, sondern in zwei Gewalten lokalisiert wäre, und dementsprechend, wie Bickel schlussfolgert, deswegen das Verfassungsgericht noch morgen vom Parlament aufgelöst werden könne: „This being so, Congress could change it all tomorrow.“19 Dadurch ist der Akt der Etablierung des Verfassungsgerichts als „usurpation“20 bezeichnet und, dagegen, als „strong medicine“21 empfohlen worden, dass das Verfassungsgericht sich auf seine in der Verfassung beschriebene Aufgabe der Kontrolle der Teilung der Gewalten konzentrieren möge, sich also der Normenkontrolle versage. Die dritte Gewalt ist in dieser Hinsicht an die Volonté générale sehr direkt angeschlossen und durch die im Unterschied zu den anderen Gewalten viel engere Beziehung zum Gemeinwillen auch besonders legitimiert, gerade wenn der Gegensatz von Bundesstaat vs. Zentralbehörde (wie weiland 1803) hinzukommt, – und diese besondere Legitimation führt zu einem Spezialistentum, wenn es um Legitimation überhaupt geht. Dies prädestiniert die Jurisprudenz und ihre Speerspitze, das Verfassungsgericht, für Politiktranszendenz irgendwie zuständig zu sein. Das Problem hierbei: Das Verfassungsgericht ist zu eindeutig an die Verfassung und an Montesquieu, De l’esprit des lois (1748, 21992), XI, 6. Diskutiert etwa in Schmitt, Carl: Die Diktatur (1921, 21928, 1994), S. 103 ff., in der Verfassungslehre (1928, 81993), insbesondere S. 75 f.Anm., S. 184 f., S. 195 ff., S. 237, Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 97 f. 17 Hamilton, ibid. 18 Bickel, ibid., S. 17, bezüglich der „Counter-Majoritarian Difficulty“ des „judicial review“. 19 Bickel, ibid., S. 14. 20 Bickel, ibid., S. 15. 21 Bickels Kommentar zu den Empfehlungen des Judge Learned Hand in dessen Holmes Lectures an der Harvard Law School, 1958. Bickel, ibid., S. 48. 16

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das Volk gekettet, als dass es gegen das Volk einer transzendenten Idee oder einem realen Gott gehorchen dürfte. Es scheidet en quelque façon aus, obwohl es sich, jedenfalls in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit, dauernd in letzte Fragen einmischt und weil in der Verfassungskonstruktion einer Demokratie es für letzte Fragen keine andere Instanz geben kann, schon weil die nächste Legislaturperiode auch noch den besten interfraktionellen Beschluss zur Makulatur werden lassen kann. Das Dilemma in dieser Konstruktion: Das Verfassungsgericht muss in letzter Instanz über letzte Fragen entscheiden, die letzten Endes in Einklang mit der letzten Instanz, dem Volk, nicht Gott, stehen müssen. Jurisprudenz und Verfassungsgericht, Gewaltenteilung und letzte Instanz: dadurch ist die Funktion dessen umschrieben, was man Konservierung des Politischen oder auch Konservierung der Politisierung nennen könnte, also die Lizenzerteilung an die classe politique, auf einander loszuschlagen, bis dass das BVG sie scheide, bis dass das BVG die Partei verbiete, die Schiedsrichterfunktion, die den Kampf am Leben erhält, die Lizenzerteilung an die zweite Gewalt, den Einsatz nach Massgabe von Politik zu erlauben, bis dass das BVG es stoppe, der vierten Gewalt, bis an die Schwelle des Erlaubten zu senden, schliesslich den Bürgern eine Teilnahme an allen diesen Politisierungen ermöglichen, die Gewalten insgesamt zurückzubinden, um den Bürgern das Einstimmen in den Chor des Willens zur Macht, in den grossen Diskurs der Politik zu gewähren, um also, an allen Orten, die Dynamik des Politischen nicht nur erträglich zu machen, sondern auch am Leben zu erhalten und gedeihen zu lassen – das ist die Idee der dritten Gewalt, die ihren würdigen Abschluss im Verfassungsgericht findet, das nicht nur ein Gericht für die Verfassung ist, sondern gleichzeitig auch noch das höchste Gericht, der Gipfel des Instanzenweges, der Hüter der dritten Gewalt. Dadurch beginnt auch die Praxis des BVG systematisch zu interessieren. Es ist schon früh bemerkt worden, dass eine politische Entscheidung, die an eine vermeintlich politikexemte Instanz übertragen wird, diese Instanz selber zunehmend politisiert.22 Natürlich ist dieser Sachverhalt durch die Auswahl hervorragender Männer und Frauen in der Praxis lange zu kaschieren gewesen, aber jede Entwicklung ist vor Systematik nicht gefeit und die Frage bleibt: „Which values, among adequately neutral and general ones, qualify as sufficiently important or fundamental or whathaveyou to be vindicated by the Court against other values affirmed by legislative acts? And how is the Court to evolve and apply them?“23 Diese Wertediskussion sei nur, so Bickel, durch einen pragmatisch-nützlichen, kleinsten gemeinsamen Nenner, durch ein Prinzip ohne Prinzipienreiterei, zu lösen, der durch das Prinzip der Vernünftigkeit angegeben werden könne und dazu führt, dass ein 22 Schmitt, Carl: Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929). „Eine Instanz, die im Sommer 1927 über die Verfassungsmäßigkeit des damaligen, lebhaft umstrittenen Reichsschulgesetzentwurfes entschieden hätte, würde dem Art. 146 RVerf. erst seinen Inhalt gegeben und die Schulfrage maßgebend entschieden haben. Wenn hier ein Gerichtshof entscheidet, ist er offenbar Gesetzgeber in hochpolitischer Funktion.“ S. 82. 23 Bickel, ibid., S. 55.

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Verfassungsgericht Gesetze und Gewalten danach zu beurteilen habe, ob es hinsichtlich der Verfassung widervernünftig sei. Auch wenn das Urteil ein einziges Urteil ist und dies den Ruf begründet, dass das höchste Gericht, weil es, wie es Judge Stone nannte, Gelegenheit und genügend Zeit biete zum „second thought“, eine „highly effective educational institution“24 sei, kommt doch das Urteil durch eine ,Findung‘ zustande, die an den Willensbildungsprozess des Parlaments erinnert und Mutmassungen über Fraktionen innerhalb des höchsten Gerichts erlaubt, die seinen Status zum Miniparlament hinabdrücken können. Die Fluktuation ist indes gering und das Gremium ob seines Alters eher gesellschaftlich überwundenen Problematiken entsprungen. Aber ob die Verfassung lebt und daher das Verfassungsgericht prinzipiell auf Amendements25 hinausläuft oder eher konservativ gestimmt und gegen jede Form von Staatsintervention, gegen jeden New Deal gestimmt ist, ist eben die Frage, die von der Praxis der Rechtsprechung direkt in die Politik des Gerichts, mittelbar in die Politik selber führt. Carl Schmitt hat trotz einiger Bedenken die Verfassungsgerichtsbarkeit insgesamt gutgeheissen. Seine Einschätzung sei hier in extenso zitiert, weil sie eine an den Begriff des Politischen anschliessende Systematik entfaltet, die durch das legalistische Nazisystem eines Besseren belehrt wurde. „Die deutsche Rechtspraxis hat seit der berühmten Entscheidung des Reichsgerichts vom 4. November 1925 (RGZ. Bd. 111, S. 322) das richterliche Prüfungsrecht bejaht, nachdem vorher schon andere höchste Gerichte ihre Prüfungszuständigkeit angenommen hatten (vgl. Giese, S. 210, ferner Reichsversorgungsgericht, 21. Oktober 1924, Bd. IV, S. 168; 30. Juli 1925, Bd. V, S. 95). Diese Entscheidungen stützen sich auf die Erwägung, daß der Richter ein Gesetz, welches ,der Verfassung‘ widerspricht, nicht anwenden darf, weil es materiell ungültig ist; ein einfaches Gesetz kann sich nicht über ,die Verfassung‘ hinwegsetzen. Das Reichsgericht sagt in der Entsch. RGZ. Bd. 111, S. 322: daß der Richter dem Gesetz unterworfen ist, ,schließt nicht aus, daß einem Reichsgesetz oder einzelnen seiner Bestimmungen vom Richter die Gültigkeit insoweit aberkannt werden kann, als sie mit anderen vom Richter zu beachtenden Vorschriften, die ihnen vorgehen, in Widerspruch stehen. Das ist der Fall, wenn ein Gesetz einem in der Reichsverfassung aufgestellten Rechtssatz widerspricht und bei seinem Erlaß die durch Art. 76 RV. für eine Verfassungsänderung vorgeschriebenen Erfordernisse nicht vorgelegen haben.‘ Dann folgt der interessante Satz: ,Da die Reichsverfassung selbst keine Vorschrift enthält, nach der die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze dem Richter entzogen und einer bestimmten anderen Stelle übertragen wäre, muß das Recht und die Pflicht des Richters, die Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen zu prüfen, anerkannt werden.‘ Eine derartige Begründung umgeht die eigentliche Schwierigkeit. Daraus, daß verfassungsgesetzlich keine andere Stelle für die Nachprüfung bestimmt ist, folgt keineswegs, daß es die Gerichte sind, die ein solches Prüfungsrecht haben und Zweifelsfälle maßgebend entscheiden. Die Frage ist auch hier: Wer entscheidet? Sie ist durch die Begründung, welche das Reichsgericht gegeben hat, nicht beantwortet. Man kann sagen, daß jede staatliche Stelle diese Prüfung Bickel, ibid., S. 26. Eine Diskussion der Amendements in Hinsicht auf die Politik des Supreme Courts in Bickel, ibid., S. 86 ff. 24 25

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für sich vorzunehmen hat und daß, wenn innerhalb eines Ressorts ein formell ordnungsmäßiger Staatsakt ergangen ist, nur ausnahmsweise die Nichtigkeit des fehlerhaften Staatsaktes angenommen und ebenso ausnahmsweise, sei es von einer Behörde, sei es von einem einzelnen, geltend gemacht werden kann. Auf den Zusammenhang mit diesem Problem hat W. Jellinek mit Recht hingewiesen. Es genügt also nicht, die materielle Rechtswidrigkeit eines verfassungsgesetzwidrigen Gesetzes zu betonen. Es handelt sich bei solchen formell korrekten Gesetzen doch gewöhnlich um Fälle, in denen die Verfassungsgesetzwidrigkeit zweifelhaft sein kann; eine offenbare Verletzung des klaren Wortlauts einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung wird eine einfache Reichstagsmehrheit kaum wagen. Wenn es sich aber um die Entscheidung von Zweifelsfällen handelt, so ändert sich das ganze Problem, und es läßt sich nicht mehr damit lösen, daß man die Ungültigkeit zweifellos ,verfassungswidriger‘ Gesetze geltend macht; denn die Frage ist nicht, ob verfassungswidrige Gesetze ungültig sind, das versteht sich von selbst, sondern es fragt sich, wer den Zweifel über Verfassungsmäßigkeit oder Nichtverfassungsmäßigkeit eines Gesetzes entscheidet; wer also zuständig ist, diese eigenartige Entscheidung zu treffen, und ob die für den Erlaß von Gesetzen zuständige Behörde im Rahmen ihrer Zuständigkeit den Zweifel entscheidet, wie das im allgemeinen jede zuständige Behörde tut; oder ob die Gerichte für die Entscheidung solcher Zweifel zuständig sind. Diese Frage ist nicht damit erledigt, daß man sagt, die Verfassung bestimme keine andere Stelle und infolgedessen seien die Gerichte zuständig. Trotzdem möchte ich die richterliche Prüfungszuständigkeit hinsichtlich der Verfassungsgesetzlichkeit einfacher Gesetze bejahen, weil nämlich das Prinzip der Gewaltenunterscheidung trotzdem gewahrt bleibt. Denn es liegt keine Einwirkung der Justiz auf die Legislative vor. Die Justiz ist überhaupt nicht in der Lage, in gleicher Weise wie die anderen staatlichen Tätigkeiten ,einzuwirken und einzugreifen‘. Sie ist an das Gesetz gebunden, und auch wenn sie den Zweifel über die Gültigkeit eines Gesetzes entscheidet, geht sie aus der reinen Normativität nicht heraus; sie hemmt, aber sie befiehlt nicht. Sie ist nicht eine ,Gewalt‘ wie die andern Gewalten; das bedeutet es wohl, wenn Montesquieu sagt, sie sei ,en quelque façon nulle‘. Aus diesem Grunde würde ich in der richterlichen Nachprüfung der Gültigkeit von Gesetzen keine Verletzung des rechtsstaatlichen Prinzips der Gewaltenunterscheidung sehen, weil es überhaupt an einem ,Eingriff‘ im eigentlichen Sinne fehlt; (zu dieser Frage vor allem das oben S. 137 zitierte Buch von F. Morstein Marx, Variationen über richterliche Zuständigkeit zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des Gesetzes, Berlin 1927).“26

26 Schmitt, Carl: Verfassungslehre (1928, 1993), S. 195 f. Auch später noch optiert Schmitt vor allem für die „tatbestandsmässige Subsumtion“ (Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, 1929 / 1958, 1985, S. 90) als Aufgabe eines Verfassungsgerichts, das von der Normsetzung der Gesetzgebung abhängig sei, weil es sonst einer zweiten Kammer, einem House of Lords, ähnlich werde. Ein Verfassungsgericht, das ex tunc ein Gesetz für verfassungswidrig erklären könne, wie dies das Bonner Grundgesetz vorsehe, entziehe die „für jedes Gemeinwesen wesentliche Vermutung der Gültigkeit von Gesetzen den Boden“ und stelle „eine der wichtigsten Prämien auf den legalen Machtbesitz in Frage“. „Die darin enthaltene Desavouierung aller an der Gesetzgebung beteiligten Instanzen erstreckt sich auch auf die Regierung, insbesondere das Justizministerium, auf den Rechtsausschuß, des Parlaments und alle Stellen, welche die Veröffentlichung des vernichteten Gesetzes bewirkt haben. Das legt dann die Frage nahe, ob es nicht sinnvoller wäre, einen solchen Hüter der Verfassung vor der Veröffentlichung von Gesetzen um seine Meinung zu fragen“ (S. 106).

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Es ist wahr, „eine offenbare Verletzung des klaren Wortlauts einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung wird eine einfache Reichstagsmehrheit kaum wagen“ und Hitler hat es auch nicht gewagt, illegal zu operieren, nicht einmal auf dem Höhepunkt seiner Macht, aber die Frage über Verfassungskonformität konnte jedenfalls in der Endphase der Weimarer Demokratie nicht mehr von der Sphäre des Politischen getrennt werden und die Frage quis iudicabit? war in der Weimarer Verfassung hinsichtlich des Reichsgerichts jedenfalls nicht so eindeutig verankert, dass das Reichsgericht das Reichsstatthaltergesetz oder die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat hätte als „materiell ungültig“ erklären lassen können. Der Denkfehler Schmitts, der dann durch die bundesrepublikanischen Verfassungsväter korrigiert wurde, liegt gerade darin, dass in Zeiten der Krise die Frage der Entscheidung zur Lähmung führen kann und einem Verfassungsgericht die Macht der Entscheidung konzediert werden müsste, jenseits reiner Prüfungszuständigkeit. Das Verfassungsgericht dürfte jedoch in dieser Logik nur in Ausnahmefällen das Recht auf politische Entscheidung für sich reklamieren – eine Politisierung des Gerichts würde aus dem Gericht ein Kabinett machen und peinliche Fragen nicht so sehr über sein Verhältnis zu den anderen Gewalten sondern zur Volksherrschaft allgemein aufwerfen. Die Rechtssprechung sieht diese Gefahr natürlich auch, wozu das Bundesverfassungsgericht sich verschiedener Mittel bedienen kann, etwa Nichtzulassung und Zurückweisung an die zuständigen Gerichte, Nichteintreten, aber auch sonst vermeidet das höchste Gericht eine Politisierung durch eine Praxis, die der alten Tugend der óïöñïóøíå, der Besonnenheit Rechnung tragen soll. Dennoch ist es dem juristischen Denken an sich fremd, nicht zusta¨ndig zu sein – dies ist dann tatsa¨chlich der Ausnahmefall. Natu¨rlich werden vor dem BVG nur ein sehr geringer Prozentsatz aller Eingaben u¨berhaupt zugelassen, aber das bedeutet dann in der Praxis nicht, dass hierfu¨r die Gerichte nicht generell zusta¨ndig sind, sondern lediglich, dass nicht das ho¨chste Gericht, sondern ein niederes Gericht, zusta¨ndig ist und dass der Instanzenweg ha¨tte vollsta¨ndig ausgekostet werden mu¨ssen, bevor das Verfassungsgericht Zulassung erteilt. Daher werden auch niedere Gerichte mit Zumutungen der Politikentlastung zunehmend konfrontiert oder fu¨hlen sich fu¨r diese Zumutungen jedenfalls zusta¨ndig. Die deutsche Rechtschreibreform27 ist dafür vielleicht das beste Beispiel. Die zweite Gewalt bemächtigt sich in Form der Kultusministerkonferenz28 der Sprache 27 Wie miserabel die Neuregelung ist, zeigt sich erst, seit Bertelsmann und Duden versucht haben, sie in Wörterbüchern umzusetzen. Von den etwa 10’000 Unterschieden seien hier nur sieben genannt: ,wohlbekannt‘, ,wohlgemeint‘, ,wohltemperiert‘ und ,wohlverwahrt‘ werden laut Bertelsmann zusammen, laut Duden auseinander geschrieben, bei ,wohlgetan‘, ,wohltuend‘ und ,wohlunterrichtet‘ ist es umgekehrt. Die ,Reform‘ führt darüber hinaus zur Tilgung philosophischer Wörter. Statt ,dasein‘ steht da inskünftig ,da sein‘ geschrieben. Denn wie der (Bertelsmann) Wahrig Deutsche Rechtschreibung definiert: „Fügungen mit sein werden im Infinitiv, Partizip und am Ende eines Nebensatzes generell getrennt geschrieben: Bsp.: Er konnte noch nicht da sein.“ Um ein Beispiel zu geben, sei Hiob 7, 21 in der Übersetzung D. Martin Luthers zitiert: „Und warum vergibst du mir meine Missetat nicht und nimmst

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des deutschen Volkes und setzt diesen Planungswahn dann erst mit Hilfe der dritten Gewalt und insbesondere des BVG durch. Man reibt sich immer noch die Augen und fragt sich, wie das geschehen konnte. Nachdem die 3. Orthographische Konferenz im November 1994 die neuen Regelungen abschliessend beraten hatte, war es das Bundesverfassungsgericht, das die vorauseilende Einführung der Reform (die erst zum 1. August 1998 in Kraft treten sollte) durch die ersten zehn Bundesländer noch hätte stoppen können, es nahm die Entscheidung jedoch nicht an, so dass das Abkommen am 1. Juli 1996 in Wien unterzeichnet werden konnte und die Länder im August 1996 zum fait accomplit schritten. Im Verlaufe des Jahres 97 begannen sich dann niedere Gerichte für die deutsche Sprache, für das Machen von Politikentlastung zuständig zu fühlen29. Doch so hatte die Politik die Politikentlastung auch wieder nicht gemeint; es nicht weg meine Sünde? Denn nun werde ich mich in die Erde legen; und wenn man mich morgen suchet, werde ich nicht dasein.“ Daraus ist mittlerweile geworden: „Denn nun werde ich mich in die Erde legen; und wenn man mich morgen suchet, werde ich nicht da sein.“ Hiob stirbt also im bereinigten Bertelsmann-Deutsch nicht mehr, sondern ist einfach weg, nicht da. ,Non subsistam‘, gemäss Vulgata, ,ich bleibe nicht am Leben‘, ist jetzt also in der ,Bertelsmann-Bibel‘ substituiert und die Übersetzungsleistung Luthers destruiert. 28 Am 1. Juli 1996 wurde in Wien von den deutschsprachigen Ländern ein Abkommen unterzeichnet, die deutsche Rechtschreibung zu ändern. Von deutscher Seite unterzeichnen der Präsident der Kultusministerkonferenz, Reck, und im Auftrag des Bundesinnenministers dessen Staatssekretär Lintner. Das Abkommen wurde in Wien unterzeichnet, weil die Anregung, die Rechtschreibung zu reformieren, von Österreich ausgegangen war. 1983 hatte sich Österreich offiziell an die anderen deutschsprachigen Länder gewandt und angefragt, ob es nicht an der Zeit sei, die 1901 beschlossene und 1902 in Kraft gesetzte Rechtschreibung zu überarbeiten. Einen Tag nach der Wiener Absichtserklärung erscheint das Bertelsmann-Rechtschreibwörterbuch, das der Verlag auch an alle 40 000 deutschen Schulen verschickt. Der neue Duden, dessen Privileg durch die Neuregelung aufgehoben ist, kommt Ende August heraus. Im Laufe der nächsten vier Jahre übernimmt er wieder die Marktführerschaft. 29 Die Chronik einer angekündigten Bundesverfassungsgerichtsentscheidung: 17. März 97: Das VG Schleswig (Schleswig-Holstein) lehnt den Antrag von Eltern auf Stopp der Reform ab. 29. Juli 97: Das VG Wiesbaden untersagt auf Antrag eines Vaters aus Hessen vorläufig die weitere Umsetzung der Reform für dessen beide Söhne. 30. Juli 97: Das VG Weimar (Thüringen) weist die Klage einer Mutter ab. 4. Aug. 97: Das VG in Mainz (RheinlandPfalz) entscheidet im Sinne der Kultusminister. 7. Aug. 97: Das VG Hannover (Niedersachsen) stoppt in einem Einzelfall die Reform vorläufig. 11. Aug. 97: Das VG Gelsenkirchen (Nordrhein-Westfalen) entscheidet ebenfalls im Sinne von Reformgegnern. 13. Aug. 97: Das schleswig-holsteinische OVG in Schleswig weist die Beschwerde der Eltern gegen den Spruch vom 17. März 97 zurück. 18. Aug. 97: Das VG Dresden (Sachsen) gibt dem Eilantrag eines Rechtsanwalts zur Aussetzung der Reform statt. 25. Aug. 97: Das VG Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern) weist den Eilantrag von Eltern gegen die neuen Rechtschreibregeln zurück. 28. Aug. 97: VG Hamburg untersagt der Schulbehörde der Hansestadt in einem Eilverfahren, eine zehnjährige Gymnasialschülerin nach den neuen Regeln zu unterrichten. 29. Aug. 97: Das VG Hamburg gibt einem weiteren Eilantrag von Eltern zweier Kinder statt: Sie dürfen vorläufig an einer Gesamtschule nicht nach den neuen Regeln unterrichtet werden. 1. Sept. 97: Das VG Hamburg lehnt eine Eilentscheidung über die Rechtschreibreform im Fall einer Zweitkläßlerin ab, da das Kind noch nicht betroffen sei. 2. Sept. 97: Das VG Freiburg lehnt den Eilantrag eines Vaters ab, die Einführung der Rechtschreibreform vorerst zu

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kam zur Politikentlastungspolitik. Politiker aller Couleur begannen sich durch den stürmischen Protest plötzlich zuständig zu fühlen und vermissten allenthalben die Einschaltung der Parlamente. Diese waren jedoch wohlweislich aussen vor gelassen worden30. Es begann die obligatorische Igelstellung der Politiker, bis dass das BVG entscheide31. Doch im März 1998 wird auch die erste Gewalt mutig: Der Deutsche Bundestag spricht sich gegen die Reform aus: „Die Sprache gehört dem Volk.“ Der vom Bundestag beschlossene interfraktionelle Gruppenantrag hat keine rechtlichen Konsequenzen für die Kultusministerkonferenz. Allerdings fordert der Bundestag, dass die Neuregelung nicht ohne Überarbeitung und Wiedervorlage in die Amtssprache zumal der Bundesbehörden eingeführt werde. Alte und neue Bundesregierung setzen sich über diesen Plenarbeschluss hinweg. Am 14. Juli 1998 endlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Karlsruhe attestiert den Kultusministern, dass sie eine Reform verordnen dürfen, ohne dazu parlamentarisch ermächtigt zu sein. Damit gibt die dritte Gewalt der zweiten Gewalt das Placet, sich über die erste Gewalt, die vierte Gewalt und die Stimme des Volkes32 zu erheben: stoppen. 5. Sept. 97: Der VGH in Kassel gibt in zweiter Instanz grünes Licht für die neuen Rechtschreibregeln in Hessen. 10. Sept. 97: Das bayerische VG München lehnt einen Eilantrag des Reformkritikers Friedrich Denk gegen die Rechtschreibreform ab. 7. Okt. 97: Das OVG Greifswald gibt in zweiter Instanz grünes Licht für die neuen Regeln. 17. Okt. 97: Das Lüneburger OVG stoppt die Rechtschreibreform für Niedersachsen in einem Einzelfall. Drei Tage später setzt mit Niedersachsen erstmals ein Bundesland die vorzeitige Einführung der neuen Schreibregeln bis zu einer endgültigen Klärung aus. 21. Okt. 97: Das Hamburger OVG erklärt die Reform in zweiter Instanz für zulässig. 3. Nov. 97: Das Sächsische Oberverwaltungsgericht in Bautzen bestätigt die Ablehnung durch das VG Dresden. 7. Nov. 97: Das VG Potsdam lehnt eine Einzelklage gegen die Reform ab. 12. Nov. 97: Das OVG in Münster lehnt zwei Eilanträge von Eltern gegen die neuen Regeln ab. Damit werden zwei erstinstanzliche Beschlüsse des Verwaltungsgerichts in Gelsenkirchen revidiert. Mit dem Urteil des Oberverwaltungsgerichtes in Münster liegen jetzt 21 Gerichtsentscheidungen zur Rechtschreibreform vor. Sechs Oberverwaltungsgerichte (OVG) sowie der Verwaltungsgerichtshof in Kassel (VGH) als zweite Instanzen und 14 Verwaltungsgerichte (VG) haben sich bisher mit der rechtlichen Zulässigkeit der neuen Schreibregeln beschäftigt. Vor den Verwaltungsgerichten steht es 7:7 für die Reform. In zweiter Instanz entschieden bislang fünf Gerichte für die neuen Regeln, zwei dagegen. 30 So der bayrische Kultusminister Zehetmair bereits am 29. November 1995 in der ,Rheinischen Post‘: „Es gibt aber auch die Diskussion darüber, ob die Landtage in die Entscheidung mit einbezogen werden müssen. Wenn das der Fall ist, wird die Reform – da bin ich mir sicher – nicht stattfinden“. 31 Gerhard Schröder, damals niedersächsischer Ministerpräsident, hat die Rechtschreibreform in Niedersachsen stoppen lassen, da das OVG Lüneburg negativ urteilte. „Nach Angaben des Kultusministeriums in Hannover würden die Schüler dann wieder nach den alten Regeln unterrichtet werden, bis bundesweit eine endgültige Klärung erreicht worden sei.“ (Hamburger Abendblatt 29. Aug. 97, S. 4, Nürnberger Zeitung 30. Aug. 97, S. 4). „Der Ministerpräsident will das Thema nicht als Behinderung in seinem Landtagswahlkampf haben, heißt es aus seiner Umgebung. [ . . . ] Schröder muß die Debatte um die Reform zunehmend als Belastung empfunden haben.“ (General-Anzeiger, Bonn, 21. Okt. 97, S. 2). 32 Am eindeutigsten in Schleswig-Holstein, nachdem dort im September 1998 bei einem Volksentscheid die Einführung der neuen Regeln mit klarer Mehrheit abgelehnt, im September 1999 aber per Landtagsbeschluss einstimmig wieder eingeführt worden war.

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nebst dem sind, als Resultat der Rechtschreibreform, auch die niederen Gerichte Kampfstätten der Politikentlastungspolitik geworden. In den Anmerkungen zum Urteil des BundesVerfassungsGerichts vom 14. 7. 1998 – 1 BvR 1640 / 97 bemerkt Wolfgang Roth Zur Verfassungswidrigkeit der Rechtschreibreform treffend: „In Grundrechte darf nur eingegriffen werden, wenn dies im Interesse der Grundrechte anderer oder zum Wohle der Allgemeinheit erfolgt. Ohne einen solchen legitimen Eingriffszweck darf der Staat keinerlei Eingriff vornehmen, unabhängig davon, wie schwer die Beeinträchtigung wiegt.“ Doch hatte das BVG damit argumentiert, dass die Rechtschreibreform „quantitativ und qualitativ nicht besonders ins Gewicht“ falle. „In der Tat sieht das BVerfG das legitimierende Eingriffsziel vor allem in dem Gemeinwohlbelang, ,das Erlernen richtigen Schreibens durch Vereinfachung der Rechtschreibregeln und Schreibweisen zu erleichtern‘: ,Nach den Eindrücken, die der Senat in den mündlichen Verhandlungen gewonnen hat, besteht kein Anlaß, die von der Einschätzungsprärogative des [zuständigen] Ministeriums getragene Prognose in Frage zu stellen, auf der Grundlage der neuen Rechtschreibregeln lasse sich das richtige Schreiben der deutschen Sprache leichter erlernen‘.“33 In Wirklichkeit geht es aber den Reformern um Menschheitsbeglückung par ordre de mufti und um eine Sprache für die von Nietzsche vorhergesagten ,letzten Menschen‘: „Um was es bei der Rechtschreibreform in Wirklichkeit geht, ist durchaus offen bekannt geworden: ,Ziel ist nicht nur die Vereinheitlichung und Verständlichkeit der Regeln, sondern es soll auch der Überbewertung der Rechtschreibung in Gesellschaft und Schule entgegengetreten werden: Sie hat in der Vergangenheit zahllosen Menschen Angst und Schrecken eingejagt und sie oftmals am Schreiben gehindert. Die communis opinio ging im Einzelfall so weit, Rechtschreibleistung und Intelligenz gleichzusetzen; im Umkehrschluss hieß das, dass jener dumm sei, der Kommaregeln oder Groß- und Kleinschreibung nicht beherrsche. Damit soll jetzt ein Ende sein‘“.34 Mit der Aussicht auf dieses Ende würden die ,letzten Menschen‘, denen die Sprache mund- und handgerecht gemacht worden war, sagen: „,Ehemals war alle Welt irre‘ – sagen die Feinsten und blinzeln.“35 Es geht also um die ganze Sprache des ganzen Volkes und daher nicht nur um einen für Kinder und Schulpflichtige getroffenen Kultusministerentscheid. Wenn schon der Bundestag davon spricht, dass die Sprache dem „ganzen Volk“ gehöre, sind alle Schmittischen Warnungen vor einem Verfassungsgericht, das sich in politische Streitigkeiten einmische, berechtigt, hält man sich auch vor Augen, dass nach Meinung des BVG das ,Gehören‘ „keine Zuordnung im Rechtssinne zum Ausdruck“ bringe. Dazu Roth: 33 Roth, Wolfgang: Zur Verfassungswidrigkeit der Rechtschreibreform. Anmerkungen zum Urteil des BundesVerfassungsGerichts vom 14. 7. 1998 (1999), S 258. 34 Roth, ibid., S. 260. Das Zitat stammt vom Praeceptor der Reform, dem von Bertelsmann alimentierten Prof. Götze, in: Die neue deutsche Rechtschreibung, Bertelsmann Lexikon Verlag (1996), S. 21. 35 Nietzsche, Zarathustra, KSA 4, 20.

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Das ist nicht richtig. Daß die Sprache dem Volk „gehört“, ist ersichtlich in dem Sinne gemeint, daß dem Volk die alleinige und den Staat ausschließende Bestimmungsbefugnis über die Sprache zustehe, und bringt damit sehr wohl eine rechtliche Zuordnung zum Ausdruck. Das BVerfG mag zwar der Ansicht sein, eine solche ausschließliche Sprachkompetenz des Volkes sei nicht gegeben. Das hätte es aber begründen müssen, und nicht einfach mit seiner der Bedeutung der Entschließung immerhin des Bundestages kaum in angemessener Weise Rechnung tragenden Bemerkung übergehen dürfen, der Begriff des „Gehörens“ bringe überhaupt keine rechtliche Zuordnung „zum Ausdruck“.36

Im Grundsatz argumentiert das BVG sogar damit, dass dem „Grundgesetz nicht die Vorstellung zugrunde [läge], daß sich jede vom Staat ergriffene Maßnahme auf eine verfassungsrechtliche Ermächtigung zurückführen lassen müsse. [ . . . ] Ein Regelungsverbot kann sich unter diesen Umständen nicht schon aus einer fehlenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung, sondern nur aus den verfassungsrechtlichen Schranken staatlicher Entscheidungen ergeben“37. Dagegen lässt sich allerdings zu recht anführen, dass „diese Doktrin nicht unbedenklich“ ist. Denn: „Dem Staat kommt schon aus dieser allgemeinen Erwägung heraus im Unterschied zum Bürger keine allgemeine Handlungsfreiheit zu, alles tun zu dürfen, was nicht verboten ist.“38 Problematisch ist ferner die Ansicht des BVerfG, die Rechtschreibreform könne allein durch die Länder beschlossen werden. Denn angesichts der „faktischen Breitenwirkung“ und der weit über die Schule hinausgehenden Zielrichtungen der Reform ist die Zuständigkeit der Länder für das Schulwesen von vornherein kein ausreichender Kompetenztitel. Vielmehr wäre – eine staatliche Sprachreformkompetenz unterstellt – eine (zusätzliche) Bundeskompetenz kraft Natur der Sache anzunehmen. Dies ergibt sich schon daraus, daß die Sprache bei allem Streit um den völker- bzw. staatsrechtlichen Begriff des „Volkes“ ein wesentliches Identitätsmerkmal des Volkes darstellt. Für den sich über das deutsche Volk definierenden (vgl. Präambel GG) Gesamtstaat Bundesrepublik Deutschland kommt der deutschen Sprache zentrale Bedeutung zu. Namentlich stellt die Beherrschung der deutschen Sprache ein wesentliches und nur in Ausnahmefällen verzichtbares Kriterium zur Beurteilung der deutschen Volkszugehörigkeit nach Art. 116 Abs. 1 GG dar; ferner sind Kenntnisse der deutschen Sprache ein wesentliches Kriterium bei der Ermessensentscheidung über die Einbürgerung nach § 8 RuStAG. Deutsch ist verfassungsrechtlich Staatssprache und auch auf der Ebene des einfachen Bundesgesetzes – § 184 GVG („Die Gerichtssprache ist deutsch.“), § 23 Abs. 1 BVwVfG („Die Amtssprache ist deutsch.“) – ausdrücklich als maßgebliche Sprache vorgeschrieben. Da die deutsche Sprache hiernach einen wichtigen Anknüpfungsgegenstand für das Grundgesetz sowie die Gerichts- und Amtssprache darstellt, kann den Ländern keine Vollmacht zukommen, sie ohne Zustimmung des Bundes zu ändern.39

Damit wird also die Einschätzung der Rechtschreibreform als „quantitativ und qualitativ nicht besonders ins Gewicht“ fallend, illusorisch, gerade wenn den Re36 37 38 39

Roth, ibid. BVG, BayVBl. 1998, 626 / 627, zitiert in Roth, ibid. Roth, ibid. Roth, ibid., S. 262.

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formern damit Tür und Tor geöffnet wird, per „Salami-Taktik“ die ebenso, laut Verfassungsgericht ja ,unwesentlichen‘ Reformschritte auf dem Erlasswege zu vollziehen. Damit ist der „Keiser“ also noch nicht vom Tisch und das Bedauern der Sprachreformer: „So bleibt die deutsche Sprache auch in Zukunft die einzige Sprache auf der Welt, in der Substantive in der Satzmitte mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben werden“40, wird zur Drohung, den Aristokratismus der historischen Schule im Rahmen jeweils ganz ,unwesentlicher‘ Reformen durch die Hintertür doch noch einzuführen und mit Jakob Grimm, allen Übelständen abhelfend, zu jubeln: „es wäre fast allen übelständen abgeholfen, wenn sich, in der hauptsache, zu dem mhd. brauch zurückkehren ließe, wodurch auch die scheidewand zwischen gegenwart und vorzeit weggerissen und das lebendige studium unseres alterthums unsäglich gefördert würde.“41

Die Einführung des Mittelhochdeutschen würde in der Tat fast alle Probleme, nicht nur in der Schweiz, sondern überhaupt weltweit alle Übelstände, die die Menschheit drücken, beseitigen, gewiss, doch darf darüber die surreale Rechenoperation nicht vergessen gehen, wieviel ,unwesentliche‘ Reformen dafür nötig wären. Der Antibarbarus solcher Reformen käme natürlich aus dem Hause Bertelsmann. Geradezu verräterisch ist die Begründung des Bundesverfassungsgerichts, ab wann denn ein ,wesentlicher‘ Eingriff von seiten des Staates vorliege. Die Anmassung des BVG, die Wesentlichkeit staatlicher Eingriffe jedesmal selber zu bestimmen, führt zur Festlegung einer Messlatte, deren Höhe sich nach keinen in der Verfassung festgelegten Bestimmungen richtet: „Kein Argument gegen die Bejahung der Wesentlichkeit kann der vom BVerfG betonte Umstand sein, daß ,Schriftbild und Lesbarkeit von Texten durch die neuen Regeln und Schreibweisen kaum, zumindest nicht in dem Maße beeinträchtigt [werden], daß darunter ernstlich Verständlichkeit und Verständlichkeit litten‘ und daß ,schriftliche Kommunikation . . . deshalb weiterhin möglich‘ ist. Denn das BVerfG kann wohl nicht ernsthaft behaupten, hoheitliche Eingriffe in die Sprache wären erst dann „wesentlich“ und parlamentarisch-gesetzlich abzusegnen, wenn sie die Kommunikation zwischen „Altschreibern“ und „Neuschreibern“ tatsächlich „ernstlich“ beeinträchtigten oder die schriftliche Kommunikation gar unmöglich machten. Solche Eingriffe sind nämlich unter keinen denkbaren Umständen jemals zulässig.“42

Im Ergebnis hält Roth fest: Im Ergebnis ist somit festzuhalten, daß sich weder im geschriebenen noch im ungeschriebenen Verfassungsrecht eine Kompetenznorm nachweisen läßt, die die Reform der vorstaatlich entstandenen und sich im gesellschaftlichen Bereich entwickelnden Schriftsprache als eine legitime Staatsaufgabe erscheinen ließe.43 Götze, ibid. Jakob Grimm zit. nach Scheuringer, Herrmann: Geschichte der deutschen Rechtschreibung (1996), S. 62. 42 Roth, ibid., S. 264. 40 41

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Der an sich rechtsfreie Raum der Sprache des Volkes ist in der Tat, so Roth, „grundrechtssensibel“ und beschneidet bei staatlicher Einmischung einen „wichtigen Bereich unmittelbarer Volkskompetenz“44, wobei die Wesentlichkeit oder Unwesentlichkeit des Eingriffs durch die Reform sich nicht präjudizieren lasse, aber genau das ist der Punkt des politischen Hasard, den das BVG spielt. Mit der Rechtschreibreform wird va banque gespielt, so oder so. Setzt sie sich nicht durch, wird eine ganze, neu unterrichtete Generation irritiert bleiben, wenn es um ihre Schriftsprache geht. Setzt sie sich aber durch, werden die drei, vier lebenden Generationen bezüglich der Richtigkeit ihres Schreibens irritiert. Die dritte Möglichkeit bestünde natürlich in der Irritierung aller Generationen, wenn sich etwa die Libertinage der Internetrechtschreibung mit der verkorksten Rechtschreibreform paaren würde. Möglicherweise nehmen sich auch die willigen Neuen Politikentlaster (und Justizentlaster) in der Gestalt von Pharmafirmen dem Problem an und erledigen die Legasthenie durch Zuschnitt von Chromosom 15. Grundsätzlich handelt es sich, umgemünzt in die hier allein interessierenden Kategorien, bei der Rechtschreibreform um einen staatlichen Versuch, Politikentlastung zu betreiben, nämlich die Frage der Rechtschreibung unbedeutsam werden zu lassen und die gehänselten Kinder vor dem Doofsein zu bewahren, auch wenn sie falsch schreiben. Dass diese Politikentlastung nur mit Politikentlastungspolitik zu haben ist, die in Wirklichkeit Politisierungsschübe und neue Belastungen nach sich zieht, konnte gezeigt werden. Das BVG hat aber im Schlamassel um die Rechtschreibreform gottlob nicht nur an Ansehen verloren, sondern auch die Tür geöffnet, seine Macht zu beschneiden und es in wichtigen Fragen unter eine transzendent-kompetente Kuratel zu stellen. Man erspare sich an dieser Stelle ähnliche Geschichten, etwa hinsichtlich § 218, und beleuchte auch die Entwicklungen in anderen Ländern nicht45, sondern blende einmal in das Innere des BVG, in seine Innenansicht. Grundsätzlich soll es ja die politischen Entscheidungen des Gesetzgebers, wo nötig, korrigieren, also Gesetze auf ihre Verfassungskonformität hin beurteilen. Das Bundesverfassungsgericht wird, so die richtige Umschreibung, angerufen, das heisst, es soll via Grundsatzentscheidungen den Geist der Verfassung oberhalb der politischen Parteien garantieren, oberhalb, damit unterhalb die politischen Parteien weiterhin den politischen Kampf führen können; Gerichte vermitteln den Ausgleich, damit sie ebenfalls den Streitenden einen Verbleib im Konzept der Intersubjektivitäten ermöglichen – die politische Sphäre soll nur abgefedert, nicht herausgefordert werden. Roth, ibid., S. 262. Roth, ibid., S. 264. 45 Es gibt momentan fünfzig elektronisch zu erreichende Verfassungsgerichte, so dass man nicht mehr von einem bundesrepublikanischen oder US-amerikanischen Sonderweg sprechen kann, sich also die Verfassungsgerichtsbarkeit weltweit durchzusetzen beginnt oder bereits durchgesetzt ist. Vergleichend dazu: Rogowski, Ralf / Gawron, Thomas (Hrsg.): Constitutional Courts in Comparison. – The U. S. Supreme Court and the German Federal Constitutional Court (2001). 43 44

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Aufgrund des Wesens der Politik, ihres Wesens, ihrer permanenten Wiederkehr und ihres Willens zur Entlastung, interpretiert das BVG seine Rolle aber offensiv, im Sinne des letzten Wortes nicht oberhalb der Politik, sondern nur allzuoft als vermehrt politische Instanz. Die Überlastung der Rechtspflege durch die Entlastungsabsichten der Politik führt in der Konsequenz zu einer Rechtsentfremdung und zu einer Gereiztheit in der Judikatur, die schlecht noch zu verbergen ist. Der Politikentlastung folgt eine Judikaturbelastung, die wiederum eine Judikaturentlastung nach sich ziehen müsste und vermutlich eine Judikaturentlastungsjudikatur hervorbringt. Die Politik ist, wie man sieht, eine heisse Kartoffel, die gerne eine Heimstatt hätte, aber den Instanzen, die sich ihrer Hegung anheischig machen, nur die Finger verbrennt; Politik ist ein Thema für Dichter, Theologen und Philosophen, aber kein Thema, das man billigerweise von Juristen gelöst zu bekommen vermeinen könnte. In moderner demokratischer Tradition ergibt sich wie von selbst, dass diese politische, die jurisdiktionelle Macht Teil der virtuellen Öffentlichkeit wird, und so hat nicht von ungefähr ein bundesdeutsches Nachrichtenmagazin die Präsidentin des Verfassungsgerichts über „die politische Macht des Bundesverfassungsgerichts“ befragt – ironisch, verräterisch, ironisch-verräterisch „Das letzte Wort“ übertitelt46. Das Selbstverständnis der Präsidentin strotzt, so dass die zur Schau gestellte Bescheidenheit um so lichtvoller, als captatio benevolentiae, wirkt und Erfahrungen mit Politik und Medien voraussetzt. „SPIEGEL: Frau Präsidentin, ein Entwurf für die Gedenkmünze zum 50. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts (BVG) zeigt einen Tempel aus drei Säulen, mit einem Giebel drüber. Die Säulen sind die Staatsgewalten, der Giebel, das ist Ihr Gericht. Wäre das nicht ein kleines bisschen größenwahnsinnig? Limbach: Einige Preisrichter der Auswahljury waren von dem Entwurf begeistert. Aber ich habe darauf hingewiesen, dass das Bild in der Öffentlichkeit als Anmaßung empfunden werden könnte. SPIEGEL: Das Karlsruher Gericht als Schlussstein der Demokratie, als Instanz über den Gewalten, irgendetwas ist ja trotzdem dran – oder? Limbach: Ich denke, in einer Hinsicht ist das Bild richtig: Das Bundesverfassungsgericht hat in Fragen der Grundrechtsinterpretation tatsachlich das letzte Wort.“47

Nach dem Eingeständnis, tatsächlich das letzte Wort zu haben, fragt sich natürlich, wie weit eine „Grundrechtsinterpretation“ geht und ob eine Grundrechtsinter46 Mit Jutta Limbach, bis März 2002 Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. In: Der SPIEGEL 40 / 2001, S. 62 ff. 47 Die Bescheidenheit geht so weit, das eigene Irren der höchsten Instanz einzugestehen. „Limbach: [ . . . ] Auch wir können irren. Am Bundesverfassungsgericht arbeiten Menschen. Deshalb muss der Gesetzgeber auch in einer bereits entschiedenen Frage einen neuen Anlauf machen können, auf dass die Entscheidungen des Gerichts revidiert werden können; allerdings neue Einsichten vorausgesetzt.“ (ibid., S. 66). Wie dieses pragmatische oder sozusagen popperianische Wahrheitsverständnis mit dem Recht des ,letzen Wortes‘ zusammengedacht werden soll, muss dahingestellt bleiben, kommt aber theologisch oder philosophiegeschichtlich dem Deus malignus des Descartes, des Gottes, dem man nicht vertrauen kann, weil er allzeit foppt, sehr nahe.

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pretation, die die politische Sphäre ersetzt, eine demokratisch nicht legitimierbare Kabinettspolitik der acht Richter nach sich zieht: „SPIEGEL: Das Problem ist doch, dass die wirklich strittigen Fragen nicht in den demokratischen Gremien, sondern in Klausur von acht Richtern entschieden werden.“ Die Argumentationsstrategie der Präsidentin hinsichtlich ihres Legitimitätsproblems macht auf der einen Seite Anleihen bei den Verfassungsvätern und deren schmittischen Dezisionismus48, auf der anderen Seite gibt es die den Verfassungsvätern so nicht bekannte ,Rechtsgewinnung‘ oder ,Rechtsfortbildung‘, die die verstärkten Eingriffe in das Politische rechtfertige49. Aber ob nun Legitimität aus alt oder aus neu, ob sozusagen katholisch oder reformiert, „die Wirkung ist manchmal fatal:“ „SPIEGEL: Da stellt sich 50 Jahre nach der Gründung des Gerichts der Chef der größten Parlamentsfraktion, Peter Struck, hin und erklärt allen Ernstes, er werde zum Streit um die Rentenbesteuerung nichts sagen, bevor nicht Karlsruhe in der Sache entschieden habe. Wie steht es um so ein Parlament?“ Das BVG wird also durchaus von der Politik in diese Rolle gedrängt. Es soll zur Entlastung der Politik beitragen; es ist diese Entlastung, die beide Seiten, Politik und Gericht, verstehen; hier sprechen sie dieselbe Sprache:

48 „Limbach: Sie müssen sehen, dass das eine sehr durchdachte Entscheidung der Mütter and Väter unserer Verfassung war, das Gericht auch als eine Art Schiedsrichter bei Konflikten zwischen Gremien der Politik entscheiden zu lassen. Es ist eine Stärke unseres Rechtssystems, dass wir auf diese Weise Kontroversen zu Ende bringen. Als wir die Awacs-Entscheidung getroffen haben, hat mich beeindruckt, mit welcher Bewunderung der französische ,Express‘ schrieb, welch eine Fülle von politischen Instanzen diese Bundesrepublik kenne, die bei politischen Kontroversen zum Schluss immer eine Entscheidung oder einen Kompromiss zu Stande brächten.“ (ibid., S. 62). 49 „SPIEGEL: Richter machen Politik – ist das die Gewaltenteilung des Grundgesetzes? Limbach: Nein. Mir ging es um wertende Elemente der Rechtsgewinnung. Gerade deswegen müssen wir uns jedes Mal fragen: Ist das eine so grundlegende Entscheidung, dass wir uns besser zurückhalten und diese Wertentscheidung den Gesetzgeber treffen lassen?“ (ibid., S. 64). Oder auch etwas später im Interview: „SPIEGEL: Frau Präsidentin, Sie stapeln tief. In Wahrheit hat doch das Gericht seit den sechziger Jahren dem Gesetzgeber in grundlegenden Entscheidungen immer wieder Beine gemacht: Karlsruhe hat die Grundrechte zur ,objektiven Wertordnung‘ erhoben und dem Parlament aufgegeben, diese Werte als Ziele seiner Politik zu verwirklichen – natürlich unter Kontrolle Ihres Gerichts. Limbach: Ich gebe Ihnen zu, dass es diese große Weichenstellung gab, die für die Fortbildung des gesamten Rechts maßgebend war und die ich nicht missen möchte. Sie hat dazu geführt, dass sich das Strafrecht rechtsstaatlich und dass sich das Zivilrecht sozialstaatlich fortentwickelt hat. SPIEGEL: Die große politische Linie wurde also doch in Karlsruhe geprägt. Limbach: Ja, ist es denn kein Positivum, dass heute jede Vorschrift der Gesetze im Licht der Grundrechte interpretiert werden muss? SPIEGEL: Tatsächlich haben die Karlsruher Urteile bis ins Detail das Mietrecht oder das Verbraucherschutzrecht geprägt, oft sehr zum Ärger der Richterkollegen bei den eigentlich zuständigen Zivilgerichten. Nun mag die Karlsruher Republik viel gerechter und sozialer als die Berliner sein – dennoch wäre es Sache der Wähler gewesen, das Verhalten des Gesetzgebers zu honorieren oder sich einen andern zu suchen. Limbach: Die Verfassungsrichter hätten natürlich die Hände in den Schoß legen und warten können, was passiert. Aber ohne diese rechtsfortbildende Rechtsprechung hätte sich die Bundesrepublik nicht zu diesem Sozialstaat entwickelt, die sie schließlich geworden ist.“ (ibid., S. 66).

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„SPIEGEL: Politische Entscheidungen sind viel leichter in der Karlsruher Klausur zu treffen als im Gewitter der Mediendemokratie und unter dem Druck von Wahlterminen. Es gibt Kollegen von Ihnen, die deswegen behaupten, in Karlsruhe seien Reformen besser durchsetzbar als in Berlin. Limbach: Es steht mir als Richterin des Bundesverfassungsgerichts nicht an, etwas über die Wirksamkeit oder vermeintliche Kurzatmigkeit der Politik zu sagen. Aber es gibt gelegentlich durchaus unpopuläre Entscheidungen, bei denen wir in die Bresche springen können. Ich denke an Entscheidungen wie die zur Vermögensteuer oder Erbschaftsteuer, wo seit über einem Jahrzehnt klar war, dass die Bemessungsgrundlagen gegen den Gleichheitssatz verstoßen. Das war ein Problemkomplex, wo sich die Politik nicht aufraffen konnte, eine unpopuläre Entscheidung zu treffen. Da war unser Urteil ein Entlastungsakt.“

Ach so. Ein Entlastungsakt. Wenn praktisches Denken Denken im Hinblick auf einen Termin ist, wie es Leo Strauss (s. o.) anhand der Lektüre Burkes formuliert, wird das praktische Denken der Politik bei immer kürzeren Entscheidungszeiten praktisch unmöglich. Karlsruhe ist eingebunden in den Macherwahn der Politik und kann dort noch etwas ausrichten, wo Politik keine Zeit oder keine Kraft mehr hat. Damit verkommt Karlsruhe aber zu einer politischen Instanz, die beim Versagen der Politik aus Termindruck automatisch ins Spiel kommt. „SPIEGEL: Sollten sie nicht in Zukunft öfter dem Wähler das Urteil über gesetzgeberisches Versagen überlassen? Limbach: Ich bin nicht bereit hier von „Versagen“ zu sprechen. Sie sehen ja, was der Bundestag gegenwärtig für Aufgaben vor sich hat. Der unter dem Eindruck der Globalisierung stehende Gesetzgeber hechelt mit heraushängender Zunge seinen Problemen hinterher, ohne dass die Abgeordneten im Mindesten faul sind.“

Das BVG übernimmt also eine wichtige Rolle in der Globalisierung Deutschlands. Das Problem ist dann, dass Karlsruhe dieser Rolle erliegt und Zahlen redet. „SPIEGEL: Immer häufiger werden in Urteilen konkrete Grenzsätze und Prozentzahlen genannt, so als ob sich so etwas aus dem Grundgesetz ableiten ließe. Limbach: Was wollen Sie machen, wenn Ihnen konkrete Zahlen vorgelegt werden, Prozentsätze, mit denen besteuert wird? Dann müssen Sie darauf einlassen und auch Zahlen reden. Wie sollen sie anders Bescheid geben, ob früheren Entscheidungen in der Gesetzgebung gefolgt worden ist oder nicht?“

Statt über den Parteien und Gewalten zu thronen, lässt sich der erste und zweite Senat also darauf ein, über konkrete Zahlen zu urteilen – ein Kniefall vor den Ansinnungen der Politik, so dass sich Zuständigkeitswahn der Juristen und Macherwahn der Politik wechselseitig zu beglücken beginnen. „Limbach: Als wir beispielsweise über den Euro oder über Länderfinanzausgleich zu entscheiden hatten, war mit unser Hauptproblem: Was ist eigentlich unsere Aufgabe als Gericht?“50 50 Diese Art von Politikentlastung scheint der politischen Sphäre dann doch wieder unzumutbar zu werden. „SPIEGEL: [ . . . ] Da beschließen acht Richter familienpolitische Wohltaten im Einkommensteuerrecht – und der Bundeshaushalt gerät aus den Fugen. Erst vor ein paar Tagen hat sich auch Bundeskanzler Schröder über milliardenteure Urteile aus Karlsruhe beschwert: Das Gericht solle sich auch mal fragen, woher das Geld kommen solle, und das nicht nur bei ihm abladen. Limbach: Das wäre nicht geschehen, wenn der Staat der Aufgabe, die Familien zu fördern, nachgekommen wäre. Sie und auch der Herr Bundeskanzler dürfen

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Wo die Zuständigkeit aufhört? Niemand weiss es. Das Gericht beantwortet die Frage über seinen Zuständigkeitsbereich dankenswerterweise gleich selbst51. Dass es dann vermehrt zu politischer Macht kommt und das problematisch ist, muss sogar einem Richter des BVG klar werden: „Limbach: Machtfülle ist stets problematisch und verlangt kritische Selbstkontrolle.“ Dies ist aber nur insofern ein systematisches Argument, als dass die institutionelle Macht der ,rechtfortgebildeten‘ und ,rechtsgewonnenen‘ Gerichtsinstanz von acht Aufhaltern besetzt sein müsste, die sich selber kontrollieren; ob sie das tun, ist in diesem Zusammenhang unwichtig, da es hier genügt, gezeigt zu haben, dass die Jurisprudenz von sich aus gegen das Politische und die Macht nicht resistent ist, ihr fehlt eben die Anbindung, die Anbindung an eine politikresistente Parallelwelt, die nicht zu korrumpieren ist. Man wünschte sich einen Pilatus in die erste Kammer, der wenigstens noch fragen konnte: Was ist Wahrheit? und keine Antwort gab. Es steht zu befürchten, dass diese Frage, was Wahrheit sei, auch von Karlsruhe nicht beantwortet werden kann, Karlsruhe sich aber trotzdem für zuständig erklärt, diese Frage nicht abweist und ,im Namen des Volkes‘ entscheidet. Stärkere Beachtung sollte in Zukunft auch die Beziehung von dritter und vierter Gewalt erfahren. Der Tanz der Macht, wie ihn diese ,hohen‘ Repräsentanten im öffentlichen Gespräch zelebrieren 52, lief bislang auf eine wechselseitige Verstärberuhigt davon ausgehen, dass beide Senate bei den Entscheidungen durchaus auch die finanziellen Folgewirkungen im Kopf hatten: Bei seinen Familienbeschlüssen oder auch bei der Entscheidung zur Pflegeversicherung hat das Gericht auch in Rechnung gestellt – wir sind ja kompetent besetzt –, dass es Umschichtungsmöglichkeiten im Haushalt gibt, die den Prioritäten des Grundgesetzes besser gerecht werden.“ (ibid., S. 68). Nach der Gefühlslage der Politik soll Politikentlastung also Politikentlastungspolitik bleiben. Das kann aber nun auch das politisierte Verfassungsgericht für sich reklamieren. Dass die Budgetkontrolle der Legislative beschnitten wird, kommt einer Hoheitsverletzung gleich, die sich zwangsläufig ergeben muss, wenn die Judikatur ,praktisch‘ wird. Ob es im Rahmen der ,Rechtsfortbildung‘ zu einer kommissarischen Jurikratie kommt, die auch Kommandogewalt über militärische und polizeiliche Ränge miteinschliesst, wird sich zeigen müssen. 51 „SPIEGEL: Das Gericht kann selbst abschließend über die Grenze seiner Entscheidungsmacht befinden. Da ist es natürlich leicht, Grenzüberschreitungen zu bestreiten. Limbach: Ich leugne solche Grenzkonflikte nicht.“ (ibid., S. 64). 52 Die vierte Gewalt bietet der dritten Gewalt öffentlichen Raum zur Selbstdarstellung. Aufgefordert, die Kritik an der dritten Gewalt zu mässigen, antwortet die vierte mit „Gern.“ Handkehrum verbittet die vierte sich Eingriffe in ihr Hoheitsgebiet, hat aber bislang, jedenfalls der SPIEGEL, von der ,Einmischung‘ nur profitiert. „Limbach: [ . . . ] Ihre Kritik in Ehren, aber können nicht einmal etwas über Leistungen dieses Gerichts für Deutschland sagen? SPIEGEL: Gern. Wir als Journalisten haben dem Gericht besonders viel zu verdanken. Ohne die Karlsruher Rechtsprechung zur Medienfreiheit gäbe es in Deutschland weder investigativen Journalismus noch halbwegs brauchbare Fernsehprogramme. Limbach: Da sind wir einer Meinung. SPIEGEL: Nun ist das ganze Medienwesen allerdings ein Bereich, aus dem die anderen Staatsgewalten sich ohnehin so weit wie möglich herauszuhalten haben. Wenn das Verfassungsgericht in dieser staatsfreien Lücke politisch gestaltet, ist das etwas anderes, als wenn es sich beispielsweise in den Staatshaushalt einmischt, ohne die politische Gesamtverantwortung zu übernehmen.“ (ibid., S. 66). Für die bundesrepublikanische Geschichte ist das Nachrichtenmagazin ,Der SPIEGEL‘ wichtig gewesen, weil es ein Gefühl

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kung hinaus; ob das so bleibt, wird ausgemacht, wenn dritte und vierte Gewalt einmal miteinander kollidieren. Systematisch gesehen müsste sich aber die dritte Gewalt dem Prinzip Öffentlichkeit – das konnte schon bei dem prinzipiell in der Demokratietheorie nicht gehegten und eingebauten Prinzip der Öffentlichkeit (siehe Rousseau) gesehen werden – beugen. Die Telegenisierung der Anhörungen und Verfahren hat bereits vor Jahren in den Vereinigten Staaten begonnen und beschert dort einen Typus des Juristen, der über schauspielerische Fähigkeiten verfügt. Ähnliche Portierungen ins Fernsehen sind auch in einem Rechtssystem ohne grand jury möglich (wie die durchaus boomenden Gerichtssendungen in Deutschland beweisen). —*— Die vierte Gewalt ist noch nicht in die klassische Demokratietheorie eingebaut worden. Dort erscheint sie als öffentliche Meinung53 oder auch als Öffentlichkeit. Die vierte Gewalt hält jedoch diesen Ort besetzt und offenbart eine Dialektik der Politik, die das Wesen der Politik zeigt. Vor allem ist das Prinzip der Gewaltenteilung noch nicht auf die vierte Gewalt übertragen worden. In der Demokratietheorie klafft eine Lücke, wenn es um die Einbindung der öffentlichen Gewalt geht; die Demokratietheorie hört hier auf. Trotz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und den umfangreichen Gesetzessammlungen wurden bislang nur Richtlinien erlassen, in denen sich die Presse grundsätzlich frei bewegen kann. Das Verhältnis von öffentlich-rechtlichen zu privaten Sendern ist beispielsweise bis ins Detail geregelt, aber die politische Macht der vierten Gewalt ist nicht mit den anderen Mächten balanciert. Historisch gesehen hat man die Medien nur als Medien verstanden, die für Beseitigung absolutistischer Ansprüche und die Etablierung der Gewaltenteilung vonnöten waren. Man hat den Eindruck, dass alle politischen Gewalten mit der vierten Gewalt kungeln müssen und die Virtualisierung der Öffentlichkeit als Herrschaft anonymer Interdependenz selbst zum politischen System gehört. Jede Kritik im Rahmen des gegenwärtigen demokratischen Systems muss notwendigerweise eine öffentliche Kritik sein, und so wie das politische System sich selbst verstärkt und noch der ausserpolitische und antipolitische Ansatz ins Politische zurückschlägt und zu grösserer Politisierung führt, so muss auch die vierte Gewalt von dieser Rückschlagsresistenz profitieren. Mittlerweile wird die Kritik an den Medien zu einem Medienereignis. Mittlerweile sind das Parlament und die Regierung und die Justiz auf die Medien angewiesen. Mittlerweile ist beim System Presse so etwas wie ein Selbstbewusstsein, ein Systemkern mit für Politik hat erzeugen können, indem es aus den politischen Ereignissen einen Roman gemacht hat. Der Eingang der Politik ins Gefühl, wie ihn der SPIEGEL anstrebt, ist der Intention Beethovens, Politik (die Freiheit) ins Gefühl zu bringen, zu vergleichen. Das scheint von Karlsruhe mit Wohlwollen gesehen zu werden. 53 Childs, Harwood: Public Opinion: Nature, Formation, and Role (1965), besitzt das Verdienst, 50 verschiedene Definitionen der öffentlichen Meinung zusammenzustellen und damit die Demokratietheorie vor ein Problem zu stellen, das ihr vielleicht noch nicht selbst bewusst ist.

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Selbstzuschreibungskompetenz, auszumachen – man lässt fühlen, dass man Medienkritik nicht gerne hört, man lässt Politiker und Minister und Juristen fühlen, dass man Macht hat. Hierher gehörte eine waschechte Systemtheorie, die möglicherweise für eine Demokratietheorie im Sinne der checks and balances gebraucht werden könnte.54 Doch wird, so oder so, die vierte Gewalt immer nur das Prinzip der Intersubjektivität gigantisch verstärken und bereitet bei der Hegung der Politik sicher das grösste Problem. Doch interagiert die vierte Gewalt zunächst direkt mit den Bürgern. Deren Nöte werden als Interessen von Interessengruppen redimensioniert dargestellt – in Features und Themenbeiträgen, Specials, Kommentaren, usw., die komplementär von Hofberichterstattern – Nachrichten, Nachrichten, Nachrichten – aus politischen Glaskästen beantwortet werden. Die vierte Gewalt institutionalisiert den Umgang mit Erwartungen, eine Institutionalisierung, die in eine der politischen Sphäre und Klasse verständlichen Sprache übersetzt wird und auch den Adressaten von Politik lehrt, seine Hoffnungen, Wünsche, Ansinnungen, Erwartungen in der Sprache von Politik – also als Interesse – zu reformulieren. Durch die Monopolisierung der Interaktion von Politik und Lebenswelten nach Massgabe politischer Sprachen in der vierten Gewalt neigt die Darstellung der Interaktion zum schablonenhaften Schematismus – unabhängig davon, dass die Interaktion selbst starker Ritualisierung unterworfen ist. Noch bei dramatischen Revolutionen bleibt es bei den 20 Uhr-Nachrichten, daran ändern auch Sondersendungen nichts, und ob sich Nachrichtensprecher, die die Niederschlagung der Volksaufständen anmoderieren müssen, sich im nachhinein übergeben (wie geschehen in Rumänien55), ändert nichts daran, dass die „Herrschaft der Journale“, die Hegel noch gefeiert hatte, vollumfänglich wurde – vollumfänglich ohne Alternative – weil politische Klasse und politisierte Nichtpolitiker / Lebensweltler nicht anders kommunizieren können. Das Bewusstsein über diesen Sachverhalt soll nun aber zunächst nicht zu der den Nachrichtensendungen gebührenden Traurigkeit hinführen, sondern erst die Erkenntnis über das Wesen der Politik schärfen. Ob Einschaltquoten oder Zustimmungsquoten zu politischen Entscheidungen gemessen werden – es ist stets dieselbe Semantik, die nun in potenzierter Form durch Meinungsforschungsinstitute erhoben, in das politische Feld zurückschlagen: gemittelte Interessen, die sich der Politik nach deren eigens aufgestellten Gesetzen und Sprachen verständlich machen, wobei es immer um den Zugang zum Megaphon geht, das 54 Von den vielen Publikationen zum Thema sei hier etwa zu nennen der Sammelband Maresch, Rudolf (Hrsg.): Medien und Öffentlichkeit. Positionierungen – Symptome – Simulationsbrüche (1996). Oder auch: Spangenberg, Peter: Stabilität und Entgrenzung von Wirklichkeiten. Systemtheoretische Überlegungen zu Funktion und Leistung der Massenmedien.– In: Schmidt, Siegfried Literaturwissenschaft und Systemtheorie (1993). Sokratisch behutsam und mit einer hübschen Diskursanalyse des TV-Talks aufwartend Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien (2002). Allgemein zur Medienethik das Standardwerk von Schütz, Martin: Journalistische Tugenden. Leitplanken einer Standesethik (2003). 55 Weibel, Peter: Von der Bürokratie zur Telekratie. Rumänien im Fernsehen (1990).

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diese Sprache verstärkt. Auch wenn sich jedoch die mögliche Verselbständigung der Presse und damit ihre politische Macht immer mehr bemerkbar macht, darf doch nicht übersehen werden, dass ihr Nährboden und Ermöglichungsgrund im Wesen der Politik selbst liegt – und dieses Wesen ist durch und durch nihilistisch, woraus erhellt, dass die Kommunikationsstruktur ebenso nihilistisch ist. Nun gibt es einen Repräsentanten, der all den Nihilismus der Politik, ihres Atheismus, ihres Veröffentlichungstriebs, ihres Selbstermächtigungswahns, usw., am besten ausdrückt, einer, dem die zweite Natur zur ersten geworden ist, einen, dem Beruf Berufung ist und der nicht mehr nur Repräsentant, sondern gleichsam ihr Typ ist: das ist der Korrespondent, genauer der Fernseh-Korrespondent. Er horcht an den Türen der Macht und posaunt hinaus, vieltausendfach verstärkt, was sich im Hofstaat der Selbstermächtiger so zugetragen hat, und als Mix der Meinungen der Selbstermächtiger kommt es zu etwas, was das Credo des Korrespondenten ist, sein Glaube sozusagen: das ist seine ,Einschätzung‘, dann sogar, bei ausreichender Sendezeit, sein Kommentar. Der, der den Götterlosen auf den Leim gegangen ist und Teil ihres Paradigmas ward, schätzt nun die Lage ein, unter besonderer Berücksichtigung seines Glaubens und der Erwartungen seiner Klientel; aber wer ist das? Das sind leider nicht die Menschen, die es anginge, sondern zunächst die Politikerkaste als primärer Adressat und dann die Menschen vor den Schirmen, die an den Politikdiskurs glauben und in ihn vernarrt sind. Die Steifigkeit und der vollendete Nihilismus des ,internationalen Frühschoppens‘ ist zwar zugunsten lockerer Berichterstattung von uns gegangen, aber es bleibt eben lockerer Nihilismus zurück. Wahrscheinlich droht uns ein entspannter und pragmatischer Nihilismus, der mit sich selbst kokettiert. Einen ersten Vorgeschmack liefert uns die Aufmotzung des Wetterberichts zu einer eigenen Sendung. Welche Bedeutung hat der Wetterbericht? Ist das das Abarbeiten von Lebenswelt und somit das ,gerechte Werk‘ der Medienhunde? Ist das die Anbindung an Oben, dasjenige, was vom Himmel noch daherkommt? Es scheint so. Das Schicksal wird hier zum Interesse. Das Schicksal wird zum Interesse am guten Wetter, jedenfalls zum Interesse am Wissen, welches Wetter morgen herrscht. Ein weltumspannendes Satellitennetz und die leistungsfähigsten Supercomputer liefern Bilder und Daten, um die morgige und unversehrte Erfahrungswelt mit der virtuellen Öffentlichkeit der anonymen Interdependenzen zu verschmelzen und einzugemeinden. Am Ende der Nachrichten plaziert, kommt es dem Schlusssegen gleich, der die Politisierung der Menschen, die an die Nachrichten angeschlossen waren, an ein falsches ,Oben‘ anbindet. Der unpolitische, ausserpolitische, antipolitische Wetterbericht ist so gesehen eine höchst politische Angelegenheit, insonderheiten, wenn durch ihn Lebenswelt und politisiertes Dasein qua öffentliche vierte Gewalt miteinander verwoben sind. Nimmt man noch die vom Menschen gemachten Klimaschwankungen hinzu, spiegelt sich der Mensch, indem er sich selbst, seinen Taten, beim Wetterbericht zuschaut und die virtuelle Öffentlichkeit als Betäuber dieses götterlosen Sachverhalts nötig hat. Das Barbarische des Wetterberichts liegt gerade darin, dass es die Leistung von Hochreligion

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zuschanden macht. Waren es Blitz und Donner, die auf Zeus, den Herrscher über der Götterkomödie, deuteten, oder der Regenbogen, der den Bund Jahwes mit den Menschen repräsentierte, oder der Regen, der in Gestalt von Chac, dem Regengott, darniederprasselt, oder der Sonnenschein, der als aztekischer Sonnengott, als Idee des Guten bei Platon, oder als Sol invictus, schien –, immer war es eine ,Überformung‘, die aus Mannigfaltigkeit und Unwägbarkeit, korrespondierend der Unwägbarkeit menschlicher Existenz, einen einheitlichen Sinn, eine ,einheitliche Feldtheorie‘ hervorzauberte, der das ,Wetter‘ überwand. Das ist heute anders. Heute ist das Wetter nicht mehr zu überwinden. Nicht mehr zu ,überformen‘. Der Mensch, als ,Autor‘ des Wetters, ist dem Wetter untertan, der Mensch ist sich selber untertan und die Medien zelebrieren diese ,Stufe des Geistes‘. —*— Die Betrachtungen über die vier Gewalten reklamieren keinen Anspruch auf Vollständigkeit und schon gar nicht auf höhere Wissenschaftlichkeit – sie sind jedoch dazu angetan, etwas zu zeigen, etwas zu verdeutlichen. In der Gewichtung der vier Gewalten und ihrer Gewalt, ihrer Macht hinsichtlich der Politisierung von Gesellschaft und Kultur mag die Prognose nicht unbegründet sein, dass die Rangordnung der Gewalten sich verschiebt und die anonyme Öffentlichkeit, als quasi vierte Gewalt, den Spitzenplatz einnehmen wird, vielleicht gefolgt von der an Entscheidungsmacht zunehmenden dritten jurisdiktionellen Gewalt, den dann folgenden Politikern der Legislative und am Schluss, den reinen Ausführenden der ehemals zweiten Gewalt. Aber das ist eine Prognose, die in der systematischen Konsequenz des Nihilismus der Politik liegt und in der geschichtlichen Entwicklung jederzeit im Zickzack erreicht werden könnte – ausser, es gäbe eine Remedur der Politik.

3. Politik und Lebenswelt Wie am Ende der Spätantike sind die Verweigerer gegen das Prinzip der Öffentlichkeit eigentlich in einer starken Position – es ist nicht einzusehen, warum das Institut des Klosters nicht wieder Zulauf erhalten soll. Dennoch sind die Möglichkeiten des Refugiums heute ,dank‘ der Herrschaft der Strahlen begrenzt. Wenn es keine Klöster mehr gibt, müssen es wohl die nicht unbedingt pietistisch gestimmten ,Stillen im Lande‘ sein56, die angesichts des ubiquitären Fernsehens sich verweigern, wobei der Vorteil der Klostermauern als Stärke der Gemeinschaft gegen das Fernsehen unübersehbar bliebe. Diese Gedanken sind Teil einer notwendigen Daseinsanalyse des Lebens in einem politisierten und öffentlichen Raum, die aber hier nur mit wenigen Pinselstri56 Zur Geschichte des Pietismus bemerkenswert, aber ohne Applikation auf unsere Welt, zuletzt noch: Lehmann, Hartmut (Hrsg.): Glaubenswelt und Lebenswelten. Geschichte des Pietismus, Bd. 4 (2004).

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chen ausgeführt werden. Dabei sind die schizophrenen Versuche der Politik, Politikentlastungspolitik zu machen, von besonderem Interesse. Die Einmischungen des Staates sind nebst denen des Fernsehens die Bereiche, wo unsere Lebenswelt auf das Unangenehmste tangiert ist und daher wenige Bemerkungen verdienen. —*— Ein Wort etwa zur Ehe. Nach dem Kampf der Sphäre der Politik mit der Sphäre der Religion um die Heiligung und Juridifizierung der menschlichen Bande ist lange die Errungenschaft der Zivilehe (auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes 1875 von Bismarck erlassen) gefeiert worden, was wohl als eine der ungeheuersten Anmaßungen des Staates zu gelten hat, aber nie – man denke nur an die Trauungen auf den Standesämtern – richtig funktioniert hat. Statt des Rückzugs der Politik aus diesem Bereich führte dies in der Konsequenz zu anderen Stilblüten, die sich der Unfähigkeit der intramundanen, nihilistischen Politik zur Sakralisierung verdanken: die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe und die Gleichstellung verheirateter mit nichtverheirateten Familien. Gleichstellung meint dabei natürlich immer steuerliche Gleichstellung und Gleichstellung vor dem Gesetz, also dem staatlichen Gesetz. Angesichts dieser Vorstellung und des Standesbeamten vor sich, muss die Frage erlaubt sein, was das Ja im Standesamt taugt und wert ist – die Antwort lautet: eigentlich nichts. Natürlich sind nicht alle menschlichen Bande so fest, dass ein kirchliches Jawort nicht auch eine Belastung, dem immer weniger Menschen gewachsen sind, darstellte: aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Zivilehe auf Widerruf gestiftet ist, gestiftet vom Staat, der seinen Bürgern immer weniger vorschreiben will, was das Ja noch bedeutet. Der es aber auch immer weniger erklären kann, was das Ja bedeutet. Wenn das Ja nichts mehr bedeutet, bedeutet es eigentlich nein. Will man ein anderes Beispiel der Politikentlastung, sehe man nur die Einführung des bundesrepublikanischen Rentensystems 1957 mit der irrigen Begrifflichkeit eines ,Generationenvertrags‘, der in Wirklichkeit die Zerschlagung der Familien durch staatliche statt familiäre Sicherstellung der Altersruhe bedeutet. Seit dem langsamen aber nicht mehr aufzuhaltenden Bankrott wird nun der Beitragszahler angehalten, seine Rente – zusätzlich – vermehrt privat zu finanzieren. Ebenso, dazu begleitend, werden durch Pflegeversicherungen spitalexterne Dienste, in der Regel wenigstens noch konfessionell gebunden, angeboten und eine Rückführung des Staates, in Wahrheit eine Entlastung der Politik, betrieben. Ob es dadurch zu einer Refamiliarisierung kommt, wird sich erst zeigen müssen – die Entwicklung könnte aber genausogut zu einer lediglich höheren Belastung der ,Beitragszahler‘ kommen, ohne dass sich in der Substanz etwas änderte, oder, was auch denkbar wäre: Es könnte womöglich zu einer Refamiliarisierung der unteren Lohngruppen kommen und einer noch stärkeren Defamiliarisierung der oberen Lohngruppen. Oder es bleibt, so wie es ist: Familie ist etwas, was man sich leisten kann. Andere Beispiele staatlicher Eingriffe und der nihilistischen MachenmachenDialektik von Politikentlastungspolitik könnten Bände füllen. Einen Kommentar

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zur staatlichen Teilnahme am Scheidungsprozess scheint mir aus Gründen der Scham nicht indiziert. Ebenso versage man sich Betrachtungen über Geburts- und Namensrecht, schon gar nicht möchte man staatliche Bestattungsrituale auf ihren inhärenten Nihilismus untersuchen. Die politischen Definitionen, wann Leben entsteht, was das ist und wie es zu schützen sei, entziehen sich sozusagen von selbst der Diskussion. Embryonenschutz oder Stammzellengesetz bleiben besser ganz aussen vor. An der Gentech-Debatte sich zu beteiligen, fällt einem am besten gar nicht ein. Denn wie das laufen wird, ist absehbar: Die Argumente werden im Diskurs ein schwindelerregendes Niveau und sophistische Unterscheidungen reproduktiven vs. therapeutischen Klonens erreichen, bis er, der Diskurs, in völliger Abhängigkeit von der Praxis, wie das Kaninchen vor der Schlange, in Paralyse erstirbt. Damit ist die Gentech-Debatte nur eine ,Anwendung‘ der auf dem Primat der Praxis basierenden Naturwissenschaft, die das Ethos ihrer Praxis aus dem Totlaufen von Diskursen speist. Jedes Argument in dieser Debatte ist ein falsches Argument; in Tat und Wahrheit lässt sich die Gentech-Debatte nur in der Praxis lösen – indem man das Machen, vor allem die Logik des Machens verhindert. Man muss sozusagen das Machen beseitigen, um zum Denken Platz zu bekommen. Ähnliches wäre zu sagen über die ,Sache‘ mit der pränatalen Diagnostik, der Euthanasie und der Menschenzucht im Menschenpark. Die Liste der Eingriffe der Politik und des Staates in die Lebenswelt liesse sich beliebig verlängern, soll aber der Forschung anheimgestellt werden und nur noch in den Feldern Bildung und Sport kurz beleuchtet werden. —*— Die Aufzucht der Kinder ist der Politikentlastungspolitik unterworfen. Die Aufzucht ,mündiger Bürger‘, sprich: politisierter Nihilisten leuchtet als Ethos über unseren Bildungsanstalten. Die Freiheit vom Staat, wie sie Humboldt in den Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1791 / 92) für die Bildung des Menschen fordert, soll den Menschen integer machen und aus der Politik des Staates nehmen: „Gewiß ist es wohltätig, wenn die Verhältnisse des Menschen und des Bürgers soviel als möglich zusammenfallen; aber es bleibt dies doch nur alsdann, wenn das des Bürgers so wenig eigentümliche Eigenschaften fordert, daß sich die natürliche Gestalt des Menschen, ohne etwas aufzuopfern, erhalten kann [ . . . ]. Ganz und gar aber hört es auf, heilsam zu sein, wenn der Mensch dem Bürger geopfert wird. [ . . . ]. Daher müßte, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müßte dann in den Staat treten und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen.“57

Die Freiheit des Menschen soll, Humboldt sagt es, überall vorangehen, aber diese Freiheit birgt eine Dialektik in sich, die aus den freiheitlich gesinnten Menschen freiheitlich gesinnte Interessenten machen – wache Politiker, die ihre Frei57 Humboldt, Alexander von: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1791 / 92, 1851, 2002), VI., S. 32.

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heit sorgsam hüten. Die ausserpolitische Freiheit der ausserpolitischen Bildung kommt ins Treffen mit der Politik und führt zu politischer Freiheit zur politischen Bildung; der Staat entdeckt, dass ihm die integeren Gebildeten gut tun, und die integeren Gebildeten kommen unter die Knute der permanenten Bildung, der Bildungsanforderung. Das Resultat hundert Jahre nach Humboldt beschreibt Nietzsche: „Die nur zu häufige Ausbeutung dieser Jahre durch den Staat, der sich möglichst bald brauchbare Beamte heranziehn und sich ihrer unbedingten Fügsamkeit durch übermäßig anstrengende Examina versichern will, war durchaus von unsrer Bildung in weitester Entfernung geblieben“58. Nach der Kritik Nietzsches an diesen Verbildungsanstalten und der Prognose des „Bildungsgeheimniß“59, dass es den riesigen Bildungsbetrieb nur zur Aufzucht ganz weniger wirklich Gebildeter, und dann, später, zur Züchtung des Übermenschen gäbe, waren es dann die Erfahrungen der faschistoiden Übermenschen und der Möglichkeit von staatlich totaler Bildung in grossem Massstab, welches die Massenbildung der zweiten Jahrhunderthälfte (des 20. Jh.) bewirkte. Bildung wurde eine Sache der Parteiendemokratie und insbesondere eine Sache der Sozialdemokratie; gleichzeitig verlängerte sich permanent der Bildungsgang des Menschen. An den bekannten Auswüchsen von Überregulierung, Massenuni, Gesamtschule, reformierte Oberstufe, Lehrerschwemme usw. und der heute sichtbaren Folgewirkung: Verrottung der Schulen, Infarkt der Unis und Verdummung der Schüler leiden heute immer mehr und immer länger. Die Absenkung des Niveaus verdankt sich einer unheiligen Allianz von SPD-regierten Bundesländern, Neuen Schnellbleichelehrkräften und götterlosgezüchteten Abiturienten auf etwelchen Bildungswegen. Wie man es auch dreht und wendet: das Ziel dieser Bildungsmisere war die gesellschaftliche Aufzucht von ,mündigen Bürgern‘ nach Massgabe der Politik – statt Gedichte auswendig lernen waren Sozialwissenschaften angesagt, statt Griechisch und Latein wurde das Sportabitur Usus. Eigentlich hat man nicht einmal im Religionsunterricht über Gott geredet. Das soll kein Lamento über die Bildungsmisere sein, sondern nur aufzeigen, dass die ständig gestiegenen Anforderungen an immer mehr Menschen zur Politisierung des einzelnen Menschen führen sollte. Das ist die Kehrseite der Humboldtschen Idee der Freiheit zur Bildung. Die Gegenbewegung gegen diese Art von Bildung verstand sich von Anfang an als Politikentlastung. Ab einem gewissen Zeitpunkt waren Privatschulen wieder en vogue; Privatschulen, die keine Eliteinternate, sondern vielfach konfessionell getragen waren, der Not gehorchend Tugend wieder zu Ansehen bringen und der Verrottung der Schulen, die der Zerrüttung der Lehrer korrespondiert, aufhalten wollten. Privatschulen waren und sind wichtige Politikentlastungsorte. Sie unterliegen aber der Politikentlastungspolitik insofern, als sie weiterhin die kultusministeriellen Erlasse und den Primat des ,mündigen Bürgers‘ umsetzen helfen sollen. Währenddessen hat die ganz ausserpolitische Globalisierung der Bildung zu einer Bil58 Nietzsche, Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, (6 (5) Vorträge gehalten 1872), KSA 1, 664. 59 Nietzsche, ibid., KSA 1, 665.

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dungskonkurrenz der Staaten geführt und die Bildung wieder zu einem Objekt gesamtstaatlicher Politik gemacht – der staatskritisch gedachte Föderalismus der Bildung schwindet dahin. Bildung ist etwas, in das staatlicherseits wieder in-vestiert wird. Auch die Binnenperspektive der Schulen verdient Aufmerksamkeit. Für Schüler besteht Bildung aus Wissensaufnahme und Wissensabfrage. In einer zunehmend nihilisierten und durchpolitisierten Gesellschaft verlagert sich die Wissensaufnahme aber zur Wissensbewaffnung der konkurrierenden Interessenten, das Wissen zur Wissensmunition und die Prüfung zu einer inquisitorischen Visitation auf Herz und Nieren. Jede Prüfung der Wissensinhalte wird in einer transzendenzlosen Gesellschaft zu einer Prüfung des transzendenzlos gedachten und gefühlten Gewissens – weil das Individuum aus Wissen und nur noch aus Wissen besteht. Dann bekommt auch die Notengebung eine neue Dimension: man überlege: sehr gut, gut, befriedigend, ausreichend, mangelhaft, ungenügend – Das ist in einer transzendenzlosen Gesellschaft eine erbarmungslose Notengebung, die noch schlimmer wird, wenn man sie durch Euphemismen ersetzt. Es ist schon richtig, dass auch Humboldt gegen die transzendenzlose Bildung angedacht hat und die integere Persönlichkeit vorgestellt hat, aber diese integere Person ruht lediglich in sich selbst und schöpft die Kraft aus sich, nicht aus Gott. Die amerikanische Prüfung des multiple choice hat dann eine Entlastung der Prüfungssituation sein wollen, insofern reine Wissensverarbeitung abgefragt wird – ohne Ansehen der Person und mit grösserer Wissenschance – aber diese verfahrensrationale Prüfung bleibt trotzdem eine Stresssituation, weil das Traumatische einer ,Prüfung‘ bestehen bleibt und durch die Neutralität der Verfahrensrationalität nur gesteigert wird. Denn „der Prüfling träumt trotzdem“ (Pchelin). Bildung bemisst sich heute, in der nihilistisch gefärbten Gesellschaft, am Diplom, und die Anzahl ergatterter Diplome steigert den Wert des Menschen – da versteht sich von selbst, dass ein Diplom selbst zu einem Wert geworden ist, der vom Kapitalismus beschafft werden kann. Damit ist der bildungslose diplomierte Mensch möglich. Zum Leben in der Prüfungssituation, zu der die durchnihilisierte durchpolitisierte Gesellschaft zwingt, gehört ebenso die Okkupation dieses Ausschnitts der Lebenswelt durch die vierte Gewalt in Form von Internalisierungsspielen. Die Wissensgesellschaft wird in den multiple choice-Sendungen dargestellt; hier wird Wissen abgefragt und in Geld konvertiert, um die Konvertibilität von Wissen und Geld überhaupt einzuüben. Das Entlastende der Auswahlmöglichkeit unter wenigen Antworten wird konterkariert durch die Belastung, mit jeder richtigen Antwort um mehr Geld zu spielen – jede Entlastung bringt neue Belastung. Das Wissen des Menschen ist aber schon kein Wissen im Sinne des aktiven Wissens mehr, sondern ein Halb- und Dreiviertel-Wissens, das mit Wissen eigentlich nichts zu tun hat. Allerlei Joker und Helfer und die Auswahl der Fragen, deren Antwort im passiven Wissensschatz angesiedelt sind, machen den Kandidaten und die Prüflinge daheim zu richtigen Mitspielern im Wissensquiz und zu richtigen Nihilisten, denen das Wissen zu einer zweidimensionalen Wissensscheibe ge-

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worden ist – ohne Tiefendimension, ohne Höhendimension. Das Credo dieser Wissensspieler, denen das Wissen, irgendwelches Wissen, absolut gleich verteilt, aber gewinnbringend ist, müsste lauten: Nichts ist wahr, nichts ist erlaubt, aber nicht alles ist umsonst. —*— Dies ist auch das Credo der Symbiose von Wissen und Sport in der durchpolitisierten anonymen Öffentlichkeit. Es genügt hinsichtlich des Zusammenhangs von Politik und Sport, von Antike und Neuzeit, sich vor Augen zu führen, dass noch die Römer unter Bildung das Lesen- und das Schwimmenkönnen mitverstanden haben, dass dagegen das Mittelalter bezeichnenderweise eine schwimmerlose Kultur ist und das Wasser dämonisiert blieb und dass die Wiederentdeckung des Schwimmens im frühen 18. Jahrhundert natürlich durch die Engländer, die Seeschäumer, vollzogen wurde, dass aber die Herrschaft über das Wasser auf die Amerikaner, auch im Schwimmen, bald überging. Im Unterschied zur Antike besteht der dialektische Fortschritt wohl darin, dass in der Moderne ein Schwimmsport entsteht, der auch für die Seewesen der Antike, die Griechen, noch plus ultra gelegen hat. Eine Geschichte des Schwimmens ist eine Geschichte der Politik, ein Beweis für den Willen zur Götterdämmerung, ein Beweis für den Nihilismus der Politik und immer noch ein Indiz für den Zusammenhang von menschengemachter Selbstbehauptungs- und Steuerungskunst auf fremdem, göttlichem Terrain. Wer würde vermuten, dass das ganz ausserpolitische Schwimmen eine Chiffre für das Wesen der Politik ist? Wer würde vermuten, dass die Alltäglichkeit des Sports unsere Lebenswelt vergiftet? Mit Politik vergiftet. Der Sport hat den Anspruch der Politikentlastung, ist aber durch und durch von Politisierung durchdrungen und gehorcht der Grammatik der Politikentlastungspolitik. Man konnte sehen, wie sich Historismus und Nihilismus die Hand reichen, um den Nationalismus los zu lassen, und dann sind die Statistiker bei der Sportberichterstattung nicht weit. Die christliche Kritik am Sportkult dagegen, wie sie Tertullian in De spectaculis entwickelt, prangert gerade das Vorhandensein von Sportfunktionären, staatlich geförderten Gladiatorenschulen und die Verquickung von Sport und Politik, von Sport und Religion, an, wobei ein historistischer Sport, der heute wirklich ist, noch ausserhalb der Betrachtungen Tertullians liegen musste. Dass der Himmelslohn der Christen in um so grösseren Spektakel bestünde und die Christenverfolger nun ihrerseits in der Fegefeuerarena gequält würden, beweist nur, wie spektakelsüchtig die römische Gesellschaft geworden war, dass noch die Aufpflanzung des Christentums in der sportisierten Gesellschaft ohne den Sport undenkbar war. In der Konsequenz hat Tertullian aber den Sport überwunden, weil er ihm eine Jenseitigkeit umgürtete, die den Sport hienieden dauerhaft in die Niederlage trieb.

VI. Epilog: Hegung der Politik Es hat nicht an Versuchen gefehlt, das Politische zu bändigen. Das scheint zwar ausser Mode gekommen zu sein. Aber es gilt ja doch, das Politische, das Aktivische der Politik, zu bändigen. Niemand aber vermag anzugeben, wie sehr das Politische die Politik schon verdeckt; niemand weiss, ob Politik, das Insgesamt von Tun und Denken, nicht schon vollständig aufgesogen ist vom Machen, vom Politischen. Daher geht es auch um eine Bändigung nicht nur des Politischen, sondern der Politik allgemein. Nachdem das Wesen der Politik offenbar wurde, zeigt sich, überraschend, dass das Politische und die Politik Gegensätze sein können und dass das Problem der Politik das des Nihilismus ist. Man mag den Versuch zur Politikdomptur einen unverzeihlichen Fehltritt ins Politische nennen, und natürlich bleibt die anfängliche Angst vor jeder Tat bestehen, und doch darf man die Augen nicht davor verschließen, dass die Ansinnung und die Anstiftung zur Hegung der Politik aus der oben vorgenommenen Analyse der nihilistischen Verfasstheit der Politik streng folgt – das Waschen der Hände in Unschuld kommt dann nicht mehr in Betracht. Vieles muss aber angedeutet bleiben. Die Verabschiedung des Politischen muss behutsam vor sich gehen. Vielleicht wäre das der Gipfel aller jeden Politik, im Moment ihrer systemischen Implosion noch den Thronprätendenten zu wählen, mit aller der der Politik möglichen politischen Klugheit. Man solle ja auch der Politik danken für alles Geleistete (und allerlei Spiele und Feste ersinnen, um ihrer Vergangenheit zu gedenken), zum ersten; zum zweiten muss der Politik gesagt werden, dass es ja nicht so schlimm ist, wenn sie einmal beiseite tritt. Es ist zu vermitteln, dass die Politik gegen Gott und gegen Kirche angetreten ist, einiges bewirkt hat, aber dass es so berühmt auch nicht gewesen ist, was in Neuzeit und Antike erreicht wurde und dass die Politik jetzt pragmatisch werde und mit hinteren Plätzen vorlieb nehmen solle – es ist ja nicht so schlimm. Wir haben das gewollt, die hellste Helle und das inwendige Sonnenfeuer, auch die Herrschaft des Menschen und die Verdämmerung der Götter, die Eigensteuerung des sozialen Systems – aber nun haben wir es gesehen, beruhigen wir uns, es war nicht so erbaulich, und jetzt sollten wir zu einer bewährten dualen Verfasstheit der Welt zurückkehren. Der Ausflug war nett, vielleicht etwas erschreckend, und die Frage ist die nach dem Ausgang aus dem selbstverschuldeten Labyrinth. Handeln könnten Politiker jetzt, vor der feindlichen Übernahme seitens multinationaler Unternehmen, vor der sich stetig steigernden Politikentlastung durch Politikentlastungspolitik. Der Versuch der Politik, sich gleichsam selbst zu hegen, kann nur zum Scheitern verurteilt sein und führt in der Konsequenz zur Politisierung aller Lebensbereiche, auch dort, wo sie nichts verloren hat. Vielleicht kann nunmehr

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die Politik, wenn sie wirklich klug ist, einmal vor sich selbst schützen; das wäre ihre vornehmste Aufgabe. Die Politik, die nach dem Umsorgen durch die transzendente Instanz noch möglich wäre, wäre dann nicht mehr die Kunst des Machbaren. Politik – die Kunst des Machbaren – bedarf einer Definition, einer Grenzziehung, was das Machbare ist. Ist es das Machbare, das Mögliche, das Noch mögliche, der Kompromiss, der kleinste gemeinsame Nenner, oder ist es das Machbare als Primat des Handelns und des Aktionismus, des Machens um jeden Preis, des Machens statt des Kompromisses, des krampfhaften Suchens neuer Handlungsalternativen, weil man die Kunst des Kompromisses nicht mehr beherrscht? Da also, wie gezeigt, das Machbare nur noch das Machbare ist, fragt man sich, ob Politik, statt einer Kunst des Machbaren lieber eine Kunst des Schicklichen werden sollte. Und natürlich bestimmt die Politik das, was schicklich ist, das, was sich frommt, nicht selbst – dafür wäre eine transzendente Instanz nötig. Die unheilige Allianz von Politik und Philosophie gilt es jedenfalls zu beenden. Philosophie soll sich abseits halten und der Politik durch intensive Reflexion keine falsche Weihe bescheren, die sie, die Politik, nicht verdient. Die Philosophie sollte sich doch lieber einmal bei der Kirche entschuldigen, für begangenes Unrecht. Für das, was die Philosophie hochtrabend ,Aufklärung‘ genannt hat. Und in Wirklichkeit totale Herrschaft der Politik bedeutete. Die vorgeschlagene Rechristianisierung der Politik verdankt sich jedenfalls den kommunitaristischen Diskussionensergebnissen, ohne wieder in das Fahrwasser tugendhafter Aristotelik und damit der Politik selbst geraten zu müssen. Die Defizite der liberalen Vertragstheorie, des Utilitarismus und einer Minimax-Gerechtigkeit haben nur dazu geführt, dass klar wurde, dass die Existenz eines Vertrags, wie sehr in meinem, in jedem oder im Interesse der Schwächsten auch immer geschlossen, noch lange nicht heisst, dass man sich auch jenseits des Vertrags oder ,auftragsbezogener‘ Lebensabschnitte noch verträgt. Es sollte vielmehr die Möglichkeit der Bedingungen geklärt sein, unter denen den Menschen nicht bewusst wird, warum sie sich ,vertragen‘, und zwar ohne den Vertragsschluss, wie weiland Kant und Rousseau, zur Verschlusssache erklären zu müssen, damit er nicht in den Streit der Meinungen ergo in die Politik gerate. Der Bund Gottes mit den Menschen sorgt für diesen Vertrag, bei dem es um das Vertragen geht; und Rom ist das Prinzip des Vertragens, da es genau gleich mit dem Moment der Ferne operiert. Zwar ist Rom ewig und ewig da, aber auch so weit weg: im Gegensatz zum Vertrag nicht als Hirngespinst, als Chimäre oder als Nutzenkalkül, sondern als konkret erlebbares und erreichbares Ziel. Gottvertrauen kann eine sich vertragende Gesellschaft gründen, aber dieses Gottvertrauen kann nicht schon wieder atomistisch-individuell gedacht sein, sondern muss sichtbar sein, also dem Prinzip der Repräsentation gehorchen. Der individuelle direkte Draht nach Oben produziert masslose Gesinnungstäter, und es darf in Zeiten der Ökumene nicht zu viel verlangt sein, dass Reformierte, Protestanten, Lutheraner, Freikirchler, Quäker, Mennoniten, usw. ihren Frieden mit dem Papst und dem Petersdom machen und sich dem Stellvertreter unterstellen. Es geht schliesslich um ein gemeinsames christliches Anliegen, um die

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Hegung der Politik, die nur gemeinsam gelingen kann, gemeinsam nur mit einer entpolitisierten Kirche, mit einer einzigen Kirche, die unam sanctam catholicam et apostolicam ist, nicht mit einem Weltkirchenbund. Die Kirchenspaltung kann ja nicht überwunden werden, indem das Papstamt verschwindet und die Kirche sich dann in eine Milliarde Kirchen spaltet. Die Einheit der Kirche, sprich: die Akzeptanz des Papstes, ist allerdings ein grosses Opfer, das geschätzt werden muss und geradezu nach einer ,katholischen‘ Lösung schreit, die allen Gläubigen genügend Platz gibt. Der Souveränität Gottes würde die Souveränität des Papstes korrespondieren, eines Papstes, der derart souverän ist, dass er eben nicht über den Ausnahmezustand entscheiden muss und niemals auch nur annähernd in den Geruch des Kommissars kommt. Mit dieser Souveränität liesse es sich leben, mit dieser Souveränität liesse es sich auch untereinander vertragen. Die Offensichtlichkeit der Herrschaft biete Platz für allerlei indirekte Gewalten, die in kleinem oder grossem Massstab repräsentiert werden können, eine Stimme haben und gleichzeitig Gelegenheit bekommen, ihr ,Interesse‘ zu transzendieren. Es kann aber nur mit Volltranszendenz gelingen, nicht mit Halbtranszendenz, nicht mit Sozialtechnologie, nicht mit auch nur dem Anflug eines Weberianismus. —*— Das Ammenmärchen, dass die Leistung der neuzeitlichen Politik im weltanschaulich neutralen Staatsverband bestünde, der unlösbare Theologoumena der Konfessionen beruhigt und gehegt habe und so unsere Kultur zu Frieden und Wohlstand gebracht habe, darüber kann aufgeklärt werden. Cuius regio – eius religio, Ethos und Glaube des Fürsten sind entscheidend, nicht die Neutralität des Staates; das ist die Formel noch von Augsburg und Münster, die Formel des (westfälischen) Friedens. Und auch der englische Bürgerkrieg wurde nicht durch Hobbes und seinen Leviathan beendet. Nein, beendet wurde er durch die Rückkehr Charles II., weil Cromwell und die Epigonen an ihr Ende gekommen waren, sich totgelaufen hatten. Wo ist da der weltanschaulich neutrale Staat? Die Panik der Engländer beseelt auch heute noch ihr Glaube – dass ein Popish Plot eine Monsterbürokratie im Innern des freien Walfisches errichten würde. Ausgerechnet im Lande des Leviathan, des angeblich ach so neutralen, weltanschaulich neutralen Staates, darf jedoch der Souverän kein Katholik sein. „I do solemnly swear, and in the presence of God profess, testify and declare that I am a faithful Protestant, and that I will according to the true intent of the enactments which secure the Protestant succession to the Throne of my Realm, uphold and maintain the said enactments to the best of my power, according to the law.“1 1 Dabei handelt es sich um die 1910 modernisierte, den katholischen Untertanen ,zugestandene‘ Fassung, die den älteren Krönungseid, der von 1689 an gültigen King’s Protestant Declaration, ersetzt. Zur Erbauung sei noch der ursprüngliche Eid als kleine Aufmerksamkeit beigegeben: „I, [name], by the grace of God King (or Queen) of England, Scotland and Ireland, Defender of the Faith, do solemnly and sincerely in the presence of God, profess, testify, and declare, that I do believe that in the Sacrament of the Lord’s Supper there is not any Transubstantiation of the elements of bread and wine into the Body and Blood of Christ

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VI. Epilog: Hegung der Politik

Was wie der Krönungseid Heinrich VIII. tönt, ist in Tat und Wahrheit das beeidete Versprechen, das Elisabeth II. 1953 abgelegt hat. Ist das neutral? Wo ist in Frankreich, wo ist hier Neutralität des Staates, wo im Edikt von Nantes, wo in dessen Aufhebung, wo in der Bartholomäusnacht, wo in der französischen Revolution? Auch hier ist der ,neutrale‘ Staat entstanden, als die konfessionelle Spaltung längst überwunden war. Und wo war in Russland, selbst im Russland des Staatssozialismus, wo war hier, wo Religion unterdrückt wurde, Neutralität? Ist nicht der Zar Garant für Schirm und Schutz der orthodoxen Kirche? Da gab’s keine Neutralität. Und ab Lenin und Stalin, mit Beginn des ,modernen‘ Staates in Russland, gibt es erst recht keine Neutralität mehr. Und wo, bitte schön, soll denn die Neutralität des Staates in den Vereinigten Staaten, wenn es um Religionsdinge geht, sein, trotz des pursuit of happiness, dem unverbrüchlichen Recht auf die eigene Façon in Glückseligkeitsdingen, wo ist diese Neutralität in Gods own country, wenn doch die Neutralität nach innen erkauft ist durch die Parteinahme für happiness in der Aussenpolitik, sogar im imperialistischen Programm, wenn alle, die ganze Welt, absehen soll von Religion, um happy zu werden? Ist das nicht das Programm der Gutmenschen, die so gut sind, dass sie ihren Glauben, sogar den Glauben an ihre Gutheit, jederzeit transzendieren können, also nur noch aus Gutheit, und nichts ausserdem, bestehen (ein radikal protestantisches Programm). Zweifelsohne ist diese Gutheit exportierbar und die Glücksverheissung an die ganze Welt eine Verheissung an die Welt, gut zu sein. Neutral? Warum, zum Schluss, verhindert der angeblich so neutrale Staat nicht die Umzüge von Portadown, wo ist das Ende des irischen Bürgerkriegs, nachdem der neutrale Staat dort seit Urzeiten herrscht? Ist nicht der irische Waffenstillstand ein Werk von Politikern, die angebunden waren an ihr ,Oben‘? Die Liste der Länder und Geschichten konfessioneller Schwierigkeiten liesse sich beliebig verlängern, ohne dass jemals ein Leviathan durch seine Neutralität einen konfessionellen Bürgerkrieg beendet hätte, ganz zu schweigen von seiner Unfähigkeit, statt den Krieg zu beenden auch noch Frieden zu stiften. Viele innere Gegensätze hat der Staat neuzeitlicher Prägung verhindern helfen, vor allem natürlich, warum wohl, politische Gegensätze, ausgerechnet der konfessionelle Gegensatz zählt nicht dazu. Die Leistung des Staates, die ich sehe: seine Langsamkeit. Niemals die schnelle Gerechtigkeit, die schnelle Beförderung, auch dann nicht, wenn, wie vor dem Tribunal der Räuberbande, andere längst geurteilt hätten. Das at or after the consecration thereof by any person whatsoever: and that the invocation or adoration of the Virgin Mary or any other Saint, and the Sacrifice of the Mass, as they are now used in the Church of Rome, are superstitious and idolatrous. And I do solemnly in the presence of God profess, testify, and declare that I do make this declaration, and every part thereof, in the plain and ordinary sense of the words read unto me, as they are commonly understood by English Protestants, without any such dispensation from any person or authority or person whatsoever, or without thinking that I am or can be acquitted before God or man, or absolved of this declaration or any part thereof, although the Pope, or any other person or persons, or power whatsoever, should dispense with or annul the same or declare that it was null and void from the beginning.“ Catholic Encyclopaedia, Artikel The Royal Declaration.

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ist Thomas Hobbes zu danken und der Deckelung, der Austreibung des Politischen, der Austreibung des prinzipiell immer schneller werdenden Politischen durch das Konzept der Souveränität, die alle Zeit der Welt hat. Und das ist eine Souveränität, die auch summa potestas ist, aber nicht nur: sie ist nicht nur die Höchste aller Mächte und daher unendlich beteiligt und interessiert, sondern vor allem souverän im Sinne des Unbeteiligtseins und des Nichtinteressiertseins – und so gesehen hat der Staat sehr viel Zeit, eigentlich. Der Wert des Staates liegt also in seiner Verbürgung des Rechts durch Zeitdehnung – in seiner rechtlichen Neutralität mithin. Es sind jeweils hervorragende Männer und Frauen mit einem Gespür auch für Theologie, für ein theologisches Gespräch, die den religiösen Frieden bringen, den Frieden des Glaubens, nicht die wertneutralen Beamten des Verwaltungsstaates. Und aus der Unterordnung der Politik unter das, was Kirche ist, zu folgern, dass man damit in das Zeitalter der Religionskriege zurückfalle, ist nur Greuelpropaganda derer, die das nachplappern, was Hobbes sagt. Um des Friedens willen ist es aber wichtig, dass die Versorgungsansprüche der Politikerkaste in einer allfälligen Transformation jederzeit gewahrt bleiben und als wohlerworbene Beamtenrechte garantiert sein müssen; eine Frühverrentung kommt in den Bereich des Möglichen. —*— Nach dem Fall der Berliner Mauer neigt sich das Zeitalter der Revolutionen, aber auch der Reformationen dem Ende entgegen – mit dem Untergang des letzten utopischen Staats der allzeit Bessermenschen ist zweifellos das Ende der Reformation da; eine fünfhundertjährige Epoche hinterlässt nach ihrem Ableben eine Friedensdividende, die mit dem feierlichen Wiedereinzug der geistlichen Überwölbung der Politik einen schönen Schlussstein finden würde. So wie die Antike weitergeführt wird in Neuzeit und Moderne, hinsichtlich der Politisierung, so wird das Mittelalter weitergeführt nach dem Fall der Mauer – die Freiheitsidee und die Reformation und die Herrschaft der Politik sind und sollen vorbei sein. 1989 ist die Geschichte nicht vorbei – das wäre billiger Journalismus, aber 1989 ist zumindest Epochenwechsel. Dass hierbei die Epoche der Reformation zu Ende gegangen ist, hat nur noch niemand bemerkt. Natürlich besteht die Aufgabe des Papstes nun darin – nachdem er den Osten zivilisiert hat –, auch eine entsprechende Zivilisierung der sich im radikalen Kapitalismus verzehrenden Bessermenschen des Westens einzuleiten. Das ist freilich eine herkulische Aufgabe, die aber ins 21. Jahrhundert gehört. Um die Aufgabe zu ermessen, ist Leistung und Reputation des Katholizismus in der jüngeren Geschichte abzuschätzen. Das 20. Jahrhundert gilt, in seiner ersten Hälfte, als das Jahrhundert des Nihilismus und, in der zweiten Hälfte, seiner vermeintlichen Überwindung. Die Amerikaner mussten sich jedenfalls weiland 1945 die Augen reiben und feststellen, dass fast sämtliche Lebensbereiche vom Virus des Politischen, vom Virus des Nationalsozialismus befallen waren und insbesondere die preussischen Lutheraner mit ihrer systemaffirmativen Staatsfrömmigkeit dem Virus komplett ausgeliefert waren und jederzeit zu den Stützen dieser Gesellschaft gehörten. Dieses Erschrecken vor dem

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vollständigen Versagen des Protestantismus und insbesondere des Lutheranertums hat zum Stuttgarter Schuldbekenntnis, aber auch zu den Reflexionen Gustav Radbruchs geführt2, aber noch mehr, noch schärfer, zu der grossen Abrechnung mit dem teuflischen Wesen der Reformation, wie ihn uns Thomas Mann als Deutung der deutschen Katastrophe in seinem Dr. Faustus zu lesen aufgegeben hat. Nach 1945 hat sich in der Tat der staatskritische Katholizismus, vor allem gegen den staatsfrommen Protestantismus, als Sieger gefühlt. Das ist wohl auch von Briten und Amerikanern so gesehen worden. Als die Suche in der Stunde Null begann und nach unbefallenen, resistenten Korporationen und Menschen gesucht wurde, wurde allenfalls noch der rheinische Karneval, also der rheinische Katholizismus, gefunden, der sich eine innere Reserve gegen den totalitär-staatlichen Zwang zur Politisierung bewahrt hatte, natürlich in Hinweis auf die Civitas Dei, gepaart mit dieser spezifischen katholisch-skeptischen Volksfrömmigkeit. Die Geburt der Bundesrepublik aus dem Geiste des rheinischen Katholizismus konnte vor sich gehen. Die grosse Leistung der Zurückdrängung des Politischen war begonnen und setzte sich in einer mehr oder minder heiligen Allianz mit Währungsreform und amerikanischen Buona sera Signorina, Buona sera-Schlagern ununterbrochen bis in die späten 50er Jahre fort. Es sollte jedoch nicht lange dauern, bis die hässliche Fratze der eben noch völlig sich selbst disqualifizierenden und disqualifizierten und durch die widerstandslose Beförderung aller Nazischandtaten komplett kompromittierten ,Guten und Gerechten‘ wieder obenauf kam und zeitgleich mit der Rückführung der Kriegsgefangenen und der Entlassung der letzten braunen Insassen das Prinzip des Evangelischen in Form des Theaterstücks ,Der Stellvertreter‘ (Hochhuth) seine fröhlichen Ur2 Als Radbruchsche Formel wird die These Gustav Radbruchs bezeichnet, wonach sich der Richter im Konflikt zwischen positivem (gesetztem) Recht und Gerechtigkeit unter bestimmten Umständen gegen das Gesetz für die Gerechtigkeit entscheiden müsse. Eine derartige Ausnahmesituation sei dann und nur dann gegeben, wenn der „Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“ oder „wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde“. Im Fall der Verleugnung der Gerechtigkeit entbehre das Gesetz überhaupt der Rechtsnatur. Die Radbruchsche Formel wurde von Radbruch erstmals im Jahre 1946 im Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ in der Süddeutschen Juristenzeitung (SJZ 1946, S. 105 ff.) veröffentlicht. In der Gesamtausgabe findet man den Aufsatz in Bd. 3, S. 83. Berühmt geworden sind die „Fünf Minuten Rechtsphilosophie“, die in der Ausgabe der Rhein Neckar Zeitung vom 5. September 1945 erscheinen sind und die Naturrechtsrenaissance nach dem zweiten Weltkrieg begründet haben. Ähnliche Überlegungen sind dem Katholizismus seit je her etwa durch den Hl. Thomas, S.th., Quaestio LX, a.5 und viele andere vertraut. Die Radbruchsche Formel hat mehrfach Eingang in die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gefunden: Urteil vom 12. Juli 1951 (Erschiessung eines Deserteurs durch Angehörige des Volkssturms in den letzten Tagen des 2. Weltkriegs), Urteil vom 3. November 1992 (Strafbarkeit des Schusswaffengebrauchs an der innerdeutschen Grenze), Urteil vom 20. März 1995 (Tötungshandlungen an der innerdeutschen Grenze), Urteil vom 5. Juli 1995 (Rechtsbeugung durch DDR-Arbeitsrichter), Urteil vom 15. September 1995 (Rechtsbeugung durch Strafrichter und Staatsanwälte der DDR).

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ständ‘ feierte. Die Führer der 68er, insbesondere die Mitglieder der späteren Roten Armee Fraktion, kommen allesamt aus dem evangelischen Elternhaus und sind durch die ungeheure Möglichkeit, den Holocaust dem Schweigen des Papstes anzulasten, wie elektrisiert. Endlich wieder der antirömische Affekt und endlich wieder, zeitgleich, o Wunder, kommt es zur Politisierung, zur ,Bewegung‘, die noch einem Adorno das Blut in den Adern gefrieren lässt. Man darf von einem investigativen Historienschriftsteller eines Sensations- und Enthüllungsstücks natürlich nicht erwarten, geistige Zusammenhänge zu begreifen, aber es ist doch kein Zufall, dass der Papst, der ,Stellvertreter‘, als Politiker und nur als Politiker gesehen wird, der eben in einer restlos politisierten Zeit als Politiker versagt habe – ob die Kirche, die ihre Erfahrungen mit dem weltanschaulich ,neutralen‘ Staat ja bereits unter Bismarck und Napoleon gemacht hatte, in Gefahr war und ihre Dignität, die auf dem Gegensatz zur civitas terrena gründet, oder vielleicht sogar ihre Existenz, hätte verspielen können, ist Hochhuth völlig egal. Wie glücklich oder unglücklich der Papst nun auch im einzelnen agiert hat, interessiert am anderen Ort vielleicht schon, festzuhalten bleibt dagegen, dass es in den 60er Jahren zu einer Beweislastumkehr kommt: Statt der willfährigen evangelischen Mitläufer und Vollstrecker kommt einmal mehr der Papst und die Katholiken, die dem politischen Virus gegenüber feind und dadurch auch irgendwie unterlegen sind, unter Verdacht, unter politischen Verdacht, wie sich von selbst versteht. Nach dem Totlaufen der 68er-Bewegung mögen die 80er-Jahre mit Prince, Madonna, Michael Jackson und ihrem totalen Hedonismus eine erneute Zurückdrängung des Politischen gebracht haben, allerdings auf bereits hohem politisiertem Niveau. Es ergeben sich heute aufschaukelnde Dialektiken von Politisierung und Ausserpolitik, von der niemand angeben kann, was sie zeitigen. In der konkreten geschichtlichen Situation mit der durch den Mauerfall möglichen Friedensdividende könnte jedoch, wie gesagt, auch die Epoche von Reformation und Politisierung an ein Ende gekommen sein, das durch eine neue Hegung gekennzeichnet wäre, wie sie das christliche Mittelalter schon einmal erfolgreich, wenn auch mit kulturellen, nicht technischen Mitteln, versucht hat. Es mag sein, dass mit dem Mauerfall – sichtbar im ersten Golfkrieg und dem Sieg Berlusconis über die Justiz – auch ein neuer ,Strukturwandel‘ der Öffentlichkeit einhergegangen ist, der das Prinzip der Anonymität dieser Öffentlichkeit aushebelt und zur Steuerung freigibt. Öffentlichkeit behält den anonymen Zug – insofern auch weiterhin die Einschalt- und sonstige Zustimmungs- und Ablehnungsquoten die Handlungen der Akteure leiten –, angereichert nun aber durch eine neue Steuerungskunst, neue manipulative Techniken, mit Pressesprechern, Öffentlichkeitsarbeitern, Bild-Redaktionen bewaffnet, die das Prinzip der Akklamation, das aus der antiken Form der Forumsöffentlichkeit bekannt ist, aktualisieren. Das scheint eine Öffentlichkeit zu werden, die sowohl fraktal-dispers, kritisch, anonym bleibt, aber gleichzeitig den alten Typus von Öffentlichkeit, der akklamativ, personal, intentional ist, dialektisch vermittelt: ein kritisch-akklamativer Öffentlichkeitstypus entsteht, der mit chaotischen Selbstwidersprüchlichkei-

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ten und bunter Mannigfaltigkeit dennoch eine entwickelte Form von direkter Lenkung möglich macht – natürlich im Spannungsfeld von Politik und Ausserpolitik. —*— Wir müssen also, wie gesagt, das System der Politik in ein anderes System überführen, und ich wünschte mir die Hegung der Politik durch eine die Sphäre des Politischen beargwöhnende Instanz. Gerade nachdem die Kirche sich depolitisiert hat, kann sie zur Hegung der ihr nun ,entfremdeten‘ Sphäre des Politischen taugen. Dazu taugen kann sicherlich nicht der grassierende Ökonomismus, die Privatwirtschaft, die Globalisierung und wie die Benennungen auch immer heissen mögen, allein weil sie alles andere als gefeit gegen den Virus des Politischen sind. Das Vaticanum II und seine Absage an die Politik könnte so auch als Chance für die Politik sich begreifen lernen. Die Beargwöhnung der Politik und des Politischen soll ein Kriterium sein, wenn es um die Bewertung der Politikresistenz geht; es geht hier nicht um Friede Freude Eierkuchen oder um Friedhofsruhe à la Hobbes, nicht um eine Rückkehr ins Mittelalter und einen Papst als Kaiser; es geht darum, dass Dissens in der Politik möglich wird, ohne die Hegung nur im Bereich der Öffentlichkeit geschehen zu lassen und Dissens nur durch Inkaufnahme von steigendem Nihilismus möglich zu machen; es geht darum, dass sich Politik reibt an einer ihr fremden Sphäre, die ihr Vorgaben machen kann, ohne von ihr eingemeindet zu werden. Wir brauchen, systemtheoretisch gesprochen, ein Aussen der Politik, das aber nicht permanent in die Politik hineinfällt und diese verschärft, sondern ein Aussen, das stabil und eigenbewusst und resistent ist gegen den politischen Virus – in der 2500jährigen Geschichte hat sich nur die christliche, katholische Kirche als (nahezu) resistent erwiesen, alle anderen Instanzen haben jämmerlich versagt. Dafür sorgt auch das Dogma der Trinität, das einen Rest an Geheimnis, einen Rest an Unerklärlichkeit für sich behält und sich dagegen verwahrt, gänzlich in die Sprache der Politik übersetzt zu werden. Solange die Hegung kommt, können unterhalb von ihr jede klassische Regierungsform, ob Demokratie, ob Aristokratie, ob Monarchie, ob Mischverfassung oder nicht, beibehalten werden. Es geht, wollte man es liberal-rortyanisch einkleiden, um den Vorrang der Demokratie vor der Politik, um das Behüten der Einwohner vor der Krake Politik, oder, falls man Demokratie und Politik ineins setzen wollte, sogar um den Vorrang des menschlichen Zusammenlebens vor der Demokratie, wobei dieser Vorrang auch auf Monarchie, Aristokratie usw. portiert werden kann. —*— Bei der Transformation der politischen Sphäre in den gehegten Bereich mag es Transformationsprobleme geben, und wie die Macht der Traumfabrik Hollywood und des Fernsehens gebrochen wird, wird wohl ein paar kreative Köpfe und diplomierte Organisatoren beschäftigen – möglicherweise könnte das ein Projekt für ein Joint-venture von Food- und Pharmaindustrie sein. Und wie das System des Sports, welches das politische System legitimiert, von der Politik zu entkoppeln wäre, wird

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wohl die noch grössere Frage sein. Es mögen vielleicht katholische Laien, also nichtinteressierte Dritte sein, die bei der Transformation wichtige Dienste leisten und die Kirche von Korruptionsvorwürfen frei halten. Das Unterstellen der Politik darf nicht von der Kirche initiiert werden – hier gäbe es verdienstvolle Aufgaben auch für eine Politiker-Task Force. Der Leidensdruck kommt jedenfalls nicht von der Kirche, die nicht verfolgt ist und sich im modernen Staat ganz gut eingerichtet hat, der Leidensdruck kommt von der Politik, die an ihr Ende gekommen ist, aber sich ob ihres Endes mit immer neuem Machertum betäubt, eines Tages aber aufwachen wird. Aber das sind Fragen und Probleme, die ihre Zeit brauchen und in dieser Konkretion nicht hierhin gehören. Aus der Politik lernt man jedenfalls das Konzept von checks and balances und ich frage, warum dieses Konzept nicht insgesamt auf das Politische appliziert wird? Es würde darum gehen, das Politische insgesamt der Kirche zu unterstellen. Ich denke hier zunächst an staatliche Politik, die der ,Hort‘ des Politischen ist, insofern hier das Politische am meisten von der Politik, also von der Hegung durch einen 20%-Rest an Transzendenzanbindung, ,emanzipiert‘ ist. Sicherlich darf auch der Macherwahn von Biozentren, Abtreibungskliniken und Sterbehelfern sich an eine hegende Instanz wenden, was aber zu einer Überforderung der transzendenten Instanz Kirche nicht führen darf – die eben nicht ganz von dieser Welt ist. Und nicht private Konversion ist hier gefragt, sondern Unterstellung der Politik im allgemeinen. Damit meine ich etwas mehr als eine Verfassungspräambel. Damit meine ich etwa die Möglichkeit, dass ein Verfassungsgericht Rom anrufen kann, wenn es nicht weiterweiss oder die Streitsache jenseits des Prinzips Volkssouveränität oder der Verfassung liegen sollte. Versorgungsansprüche, steuerliche Vorteile aus Ehegattensplitting, Beamtenbesoldung und Angestelltenvergütung, Entscheidungsstrukturen im Unternehmen und Arbeitnehmerinteressen, Fragen innergewerkschaftlicher Demokratie und dergleichen sind Sachen, die von Rom natürlich nicht zur Entscheidung angenommen würden. Wenn es aber existentiell wird, wenn Fragen über Leben und Tod, über Familie und Kinder und Alte, über Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, Mutterschutz und Schulrecht entschieden werden müssen, ist nicht einzusehen, warum ,das letzte Wort‘ immer ,Im Namen des Volkes‘ beginnt und mit der Klausel ,Diese Entscheidung ist unanfechtbar‘ endet. Es möchte den Verfassungsgerichten überlassen sein, den Grad an Transzendenz zu bestimmen und die daraus folgende Einflussnahme Roms zu justieren. Und vielleicht beschränkt sich das Wort aus Rom auch auf eine Mahnung oder einen Ratschlag. Aber eine Mitsprache Roms in existentialis wäre eine willkommene Verfassungsgerichtsentlastung, eine Entlastung der für Transzendenz weder ausgebildeten noch kompetenten Richter, die, allerdings, Rom nicht in den Strudel der Politik ziehen dürfen. Dass die Politik bei der Kirche einen Unterstand finden kann, setzt eben eine entpolitisierte Kirche voraus. Das ,aggiornamento‘, der ,update‘ der römischen Kirche und ihre Absage an die Politik ist so verstanden gar keine Anbiederung an die Forderungen des Tages und der Tagespolitik und damit auch keine glückliche Fügung, von der unsere Argumentation profitiert, sondern einfach Bedingung der

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Möglichkeit der Hegung der Politik. Andere Religionsgemeinschaften haben diese Depolitisierung noch vor sich und kommen deshalb hier nicht in Betracht. Wir haben zum Glück erlebt, dass der Untergang eines Systems friedlich sein kann und eine Selbstaufgabe, ein Beschluss zur Selbstauflösung, immer machbar ist – gebe Gott, dass dem so sein wird.

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Sachwortverzeichnis Absolutismus 20, 52, 53, 139, 156, 258 aggiornamento 313 Agnostizismus 239 Allmächtigen 12, 114 Amendement 283 Anbetung 246 Anerkennungstierchen 122 Anglikanismus 248 Annihilation 12, 203 Anthropologie 65, 221, 237 Antichrist 11, 180, 190, 191, 200, 227, 251, 252 Antipolitik 104, 202 antipolitisch 10, 58, 159, 192, 202, 233, 251, 269, 296, 298 antirömisch 248, 252, 311 Apokalypse 231 apolis 21 apolitisch 21, 58, 170, 227, 261 Apostel 192, 232, 250 Arbeitsgesellschaften 122 Arbeitslosigkeit 278 Armada 206 Assekuranz 272 assekuriert 155 astynomos 212 Ataraxie 37, 45 Atheismus 13, 15, 44, 49, 57, 126, 158, 239, 267, 298 Atheist 36, 73, 75, 86, 229, 239, 240, 246, 266 atheistisch 15, 49, 58, 126, 239 Athen 18, 87, 204, 205, 207, 210, 211, 212, 213, 225 athenisch 208, 210, 211, 212, 213, 214, 216 Aufhalter 130, 198, 215, 233, 245, 295 Aufhalterfiguren 274 Aufhaltergestalt 151 Aufhalterinstanzen 151 Aufhalterlosigkeit 151

Ausnahme 69, 203 Ausnahmefall 105, 285, 289 Ausnahmerecht 191 Ausnahmezustand 113, 114, 122, 126, 307 Ausserpolitik 18, 21, 58, 61, 63, 81, 124, 134, 157, 160, 165, 169, 269, 273, 311, 312 Ausserpolitiker 134 ausserpolitisch 10, 19, 20, 21, 22, 52, 56, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 66, 67, 76, 77, 79, 81, 82, 85, 86, 87, 95, 102, 104, 105, 116, 122, 123, 135, 150, 153, 159, 167, 169, 171, 173, 187, 202, 209, 227, 229, 230, 231, 241, 247, 271, 277, 296, 298, 302, 304 Ausserpolitisierung 102, 157 Averroismus 262 aztekisch 299 Bankrott 172, 300 Bartholomäusnacht 136, 308 Bastille 157 Beamte 302, 309 Beamtenbesoldung 313 Beamtenrechte 309 Behemoth 65, 69, 72, 112, 246 Beichtgeheimnis 140 Bergpredigt 228 Berufspolitikertum 275 Besitzindividualismus 56, 106, 107, 120 Besitzindividualisten 120 Besonnenheit 285 Bessermenschen 309 Bestattung 210 Bestattungsrituale 301 Bewachungsgesellschaften 273, 279 Bewusstseingeschichtsgeschichte 170 Bewusstseinsindustrie 9 Bewusstseinsphilosophie 170 Bia 75, 212

342

Sachwortverzeichnis

Defamiliarisierung 300 Dekonstruktion 75 Deo 41 Desinvoltura 18, 230 Dezisionismus 293 Differentialrechnung 41 Distributionsgerechtigkeit 57 Dünnhäutigkeit 158 durchnihilisiert 171, 303 durchpolitisiert 63, 117, 135, 190, 233, 269, 303, 304 Durchpolitisierung 233 durchsportisiert 233 Durchsportisierung 233

Empfängnis 173 Endkampf 202, 230 Endomorphine 167 Engel 59 entlasten 271, 273, 275, 303 Entlastung 271, 272, 275, 279, 292, 300, 303, 313 Entlastungsabsichten 292 Entlastungsakt 294 Ephorat 93, 193 erhaben 39, 60, 133, 160, 182, 193 Erhabenheit 160, 161, 171, 208 Erinnyen 208 Eris 14 Erlebnisgesellschaft 272 Erlösung 12, 42, 203, 238, 267 Erlösungstat 251 Erlösungswerk 244 Ermächtigungsgeschichte 250 Eroika 166 Ersatzreligion 153, 271 Eschatologie 73, 246 Eschatologiezusammenhang 151 eschatologisch 18, 75, 151, 227, 231, 246 Europa 62, 144, 155, 158, 197, 198 Europäer 33 europäisch 15, 22, 32, 105, 147, 152, 198, 277 Europameisterschaften 171 Euthanasie 301 Evangelium 165 Ewigkeit 47, 149, 162, 175, 178, 190, 198, 199 Existentialien 61 exkommuniziert 253 Experimentalpragmatismus 183 extramundan 230

egal 15, 103, 150, 197, 311 egalitär 57, 101 Egalitarismus 194 eGovernment 277 Ehegattensplitting 313 Eigenzeit 164 Einschaltquoten 297 Eintracht 133, 231 Einwohnerzahl 103

Fama 91, 135, 141, 143 Familie 63, 73, 114, 156, 207, 258, 259, 294, 300, 313 Faschismus 104 Faschismusvorwurf 90 Fegefeuer 78 Fegefeuerarena 304 Fernsehen 92, 296, 297, 298, 299, 300, 312 Fernsehwellen 104

Bibel 38, 60, 75, 241, 247, 286 Biker 16 Bildungsgeheimniß 302 Biologismus 222 Breitensport 171 Bürgerkrieg 58, 59, 69, 71, 78, 79, 83, 110, 112, 135, 241, 246, 247, 307, 308 Cartesianismus 43 Censor 92, 93 Censoramt 92, 93 Chac 299 Christ 9, 12, 18, 48, 74, 75, 149, 227, 229, 230, 240, 241, 245, 246, 249, 268, 269, 304, 307 Christentum 11, 12, 18, 48, 140, 172, 192, 200, 225, 229, 231, 240, 243, 246, 247, 249, 252, 258, 261, 262, 264, 268, 304 Christlichkeit 172 Christologie 250 Christus 16, 18, 32, 50, 72, 227, 230, 247, 249, 250, 251, 261, 267

228, 263, 186, 244, 263,

245,

293,

245,

182,

191,

Sachwortverzeichnis Fidelio 167 Föderalismus 303 Frankreich 19, 80, 81, 86, 93, 144, 154, 155, 156, 308 Freizeitindustrie 149 Frühschoppen 298 Frühverrentung 309 Gallikanismus 248 Gehorsamschance 260 Gehorsamserzwingungschance 260 Geistlichkeit 254 Gelehrtenrepublik 38, 51, 82, 83, 136, 155 Generationenvertrag 300 Geschichtsgeschichte 170 Geschichtsschreibung 14, 167 Geschichtszeichen 136, 161 Geschichtszeichenverwaltern 161 Gespenstersprache 251 Gespensterverdacht 251 Gesprächsabbruch 31 Gestaltungswahn 20 Gilgamesch 11 Gleichnis 178, 227, 244 Globalisierung 273, 274, 294, 302, 312 Gnosisverdachts 264 gnostisch 12, 13, 180, 252 Gnostizismus 9 Gott 10, 12, 14, 15, 16, 24, 29, 30, 34, 37, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 47, 49, 50, 57, 58, 60, 67, 70, 72, 73, 74, 75, 76, 105, 116, 122, 129, 130, 158, 167, 188, 189, 194, 204, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 223, 224, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 244, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 254, 261, 262, 263, 266, 267, 274, 276, 278, 282, 292, 302, 303, 305, 306, 307, 314 Götter 10, 15, 17, 104, 135, 157, 189, 203, 204, 206, 207, 208, 213, 214, 215, 216, 235, 238, 241, 255, 305 Götterdämmerung 15, 208, 225, 304 Götterkonkurrenz 241 götterlos 21, 58, 60, 82, 189, 214, 216, 241, 298, 302 Göttersprüche 213 Gottesersatz 78 Gottesfurcht 236

343

gotteskompensatorischen 215 Gottesleugner 216, 240 Gottessohn 261 Gottesstaat 231, 232, 242 Gottesverehrung 238 Gutmenschen 308 Halbtranszendenz 307 Häresie 264 Hegelianismus 23 hegelsch 62, 168 Herrenwort 228, 245, 249 Herrenzynismus 50 Herrschaftsform 277, 279 Herrschaftsübertragung 280, 281 hesiodsch 14, 17, 204 Hierarchie 158, 171, 199, 216 Hierarchiengedanke 186 Hierarchienlehre 193, 232 hierarchisch 215, 264 Hierarchisierung 235 Hierokratie 222, 257, 259 Himmel 102, 135, 169, 182, 214, 223, 228, 244, 298 Himmelreich 244 Himmelslohn 304 himmlisch 18, 268 Hiobbesbotschaften 76 Historismus 22, 159, 170, 171, 304 historistisch 22, 130, 162, 165, 166, 170, 171, 304 hochpolitisch 52, 66 Hochreligion 298 Hochzeit 14 Hoffräulein 56 Hollywood 312 homerisch 29, 217 horror 49 Hugenotten 144 Humanismus 191, 224, 275 Hybris 15, 27, 30, 197, 203, 204, 205, 207, 208, 211, 212, 213 hypsopolis 21 Ideengeschichte 22, 37 Ideologie 14, 80, 150, 270, 271 Idole 50 Imitatio 16, 32, 227

344

Sachwortverzeichnis

Immaculata 173 Immaterialität 263 Immoralismus 188, 240 Individuum 16, 60, 62, 69, 70, 89, 91, 98, 106, 108, 110, 115, 116, 117, 121, 123, 141, 156, 164, 190, 220, 241, 253, 255, 262, 266, 267, 269, 303 Infinitesimalrechnung 41 Inflation 38 Ingeschichtsnahme 162 innerweltlich 13, 16, 266, 271 Insektotheologie 240 Interdependenzennetz 277 Internetrechtschreibung 291 isidorisch 233 Isosthenie 33, 34 Itinerar 188, 233 Jansenismus 47, 238 jesuanisch 226, 227, 239, 244, 249, 261, 267, 269, 270 Jesuiten 81, 141 Jetztpolitiker 191 Johannesevangelium 12 Johannesoffenbarung 230 Journaille 136 Journal 85, 144, 145, 146, 297 Journalismus 34, 79, 142, 295, 309 Journalist 22, 34, 35, 126, 137, 146, 161, 295 Judikatur 292, 295 Judikaturbelastung 292 Judikaturentlastung 292 Judikaturentlastungsjudikatur 292 Junghegelianer 36, 172 junghegelianisch 240 Jurisprudenz 41, 279, 281, 282, 295 Justizentlaster 291 Kaffeehaus 143 Kaiser 18, 166, 173, 226, 227, 233, 234, 312 Kaiserkrönung 166 Kalendermann 208 Kameralwissenschaftlers 138 Kampfbegriff 80, 81, 164 Kampfschrift 39, 253 Kantianer 74, 243 kantianisch 172, 177, 189

Kantianismus 75 Kantischen 161 Kapitalismus 106, 146, 148, 274, 309 Kaputtschlagen 197 Karneval 310 Kartoffel 292 Kasuistik 47 kasuistisch 40, 263 Katholik 125, 173, 245, 247, 250, 257, 269, 307, 311 katholisch 45, 140, 151, 172, 173, 238, 239, 247, 248, 251, 253, 265, 293, 307, 310, 312, 313 Katholizismus 172, 173, 229, 239, 252, 257, 265, 268, 309, 310 Katholizität 238 Keuschheit 240 Kirche 34, 49, 50, 52, 81, 140, 216, 229, 231, 232, 233, 236, 237, 238, 240, 241, 242, 245, 251, 253, 264, 273, 274, 305, 306, 307, 308, 309, 311, 312, 313 Kirchenväter 225 Kirchenzehnt 229 Klartext 84 Kleinschreibung 288 Kleinstaaterei 154 Kloster 173, 299 Klostermauern 299 Klüngelgemeinschaft 131 Kohlenstoffeinheiten 16 Kolonialismus 19 Kommunismus 21 Kommunitarismus 9, 24, 196 Konfession 74, 238, 307 konfessionell 19, 33, 44, 45, 51, 58, 71, 117, 136, 140, 146, 238, 239, 241, 246, 300, 302, 308 Konformität 43, 142 König 33, 52, 60, 79, 80, 82, 93, 95, 119, 120, 124, 132, 133, 173, 194, 228, 232, 247, 248, 249, 251, 254, 258, 260, 261 Königin 17, 148, 250 Königreich 41, 120, 156, 249, 258 Königsidee 217 konstitutionell 96, 132 Konsum 109, 181 Konsumgüter 149 Kontingenzbewusstsein 88

Sachwortverzeichnis Kontrateleologie 178 Kontroverstheologie 44 Konversion 146, 265, 313 Kybernaut 207, 242 Kybernetik 65 kybernetisch 65, 206 Labyrinth 305 Lagersystem 202 Landmacht 206 Landsgemeinde 277 Langsamkeit 308 Lapsus 245, 261 Laterankonzil 225 Latitudinarier 107, 262, 265 Latitudinariertum 257 Lebenswelt 22, 23, 24, 277, 297, 298, 299, 300, 301, 303, 304 Lebensweltler 297 lebensweltlich 63, 73 Legalität 129, 191, 214 Lehrerschwemme 302 Leidensverwindung 178 Leistungssport 171 Liberalismus 53, 60, 72, 77, 100, 104, 108, 180, 181, 273 Libertinage 291 Linkshegelianismus 169 Lourdes 173 Louvre 199 Lutheraner 306, 309 Lutheranertum 310 lutherisch 252 Macher 29, 37, 270, 276, 277, 278 Macherschaften 29 Machertum 23, 274, 277, 278, 279, 313 Macherwahn 21, 31, 276, 294, 313 machiavellisch 31, 33, 54, 55, 173, 236, 256 Maelstrom 199 Mäeutik 46 Majestät 124 Makedonen 219 makedonisch 225 Makrogeschichte 23 Manichäern 12 manichäisch 148, 264 Manichäismus 264

345

Marxismus 72, 274 Marxist 109 marxistisch 68, 72, 73 Maschinenpark 16 Massenuni 302 masslose 306 masslosen 210 Masslosigkeit 31 Materialismus 244, 276 Mauerfall 311 Maxime 160, 176, 189, 217, 227, 235, 273 Maximenmoral 177 Mazedone 225 Mazedonier 217 mazedonisch 225 Medien 142, 276, 292, 296, 297, 299 Medienabstinenz 76 Medienbedingungen 102, 277 Mediendemokratie 294 Medienhunde 298 Medienkritik 297 Meeresstille 45, 47 Menschenpark 301 Menschenparks 16 Menschenzucht 301 Merkantilismus 109 Messiah 250 Messias 228, 250 Metöken 120 Mikrogeschichte 156, 233 Minimax 306 Mischmensch 22 Mischverfassung 78, 312 Mission 44, 192 Missionsbefehl 192 Mitleid 21, 86, 208 Mitleidsgedanke 86 Mitleidskonzeption 102 mitleidsvoll 208 Mitleidsvorstellung 86 Mob 157, 257 Moll 137, 146 Monarch 92, 119, 133, 151, 156, 219, 225, 234, 235, 236, 259, 312 monetär 109 monetarisiert 155 monistisch 9, 87, 250 Montanisten 12

346

Sachwortverzeichnis

Moralismus 188 Moralphilosophie 19, 67, 68, 145 multinationaler 305 Mündlichkeit 143, 233, 280 Mundodizee 51, 239 Musik 166, 167, 171, 223, 233 Musikdramatiker 167 Mutterschutz 313 Myofibrillen 167 nachmetaphysisch 16, 188, 201 nachmoralisch 188 nachpolitisch 188 Naherwartung 230 Nationalchauvinist 167 Nationaldress 171 Nationalgefühl 272 Nationalismus 22, 102, 104, 133, 135, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 165, 272, 304 Nationalismuszusammenhang 154 Nationalist 152, 153 Nationalsozialismus 309 Nationalsozialisten 202 Naturgesetz 58, 67, 87, 189 Naturrecht 21, 52, 56, 57, 58, 59, 60, 74, 78, 82, 87, 88, 106, 107, 110, 113, 119, 121, 122, 126, 127, 128, 129, 131, 133, 165, 221, 241, 244, 246, 254, 269 naturrechtlich 64, 89, 90, 126, 129, 139 naturrechtsbegründend 57 Naturrechtslehre 64, 121, 221 Naturwissenschaft 50, 64, 67, 238, 301 Naturwissenschaften 57, 58, 185 naturwissenschaftliche 49 naturwissenschaftlichen 44, 48, 67 Nazi 180 Nazis 202, 276 Nazischandtaten 310 Nazisystem 283 Neandertal 30 Neoaristotelismus 24 Neoliberalismus 273, 275 Neoliberalisten 109 neonhellen 274 Neopyrrhonismus 44 Neoskeptizismus 21 Neoskeptizisten 37 Neostoizismus 21, 238

Neukantianismus 15 Nichtpolitiker 98, 297 nichtpolitisch 19, 233, 272 Nichts 10, 12, 13, 14, 17, 46, 48, 49, 184, 198, 200, 240, 304 Nichtung 270 Nihil 15, 270 Nihilisierung 10, 23 Nihilismus 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 22, 23, 24, 30, 65, 77, 123, 181, 182, 186, 187, 189, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 207, 214, 222, 225, 240, 242, 247, 266, 270, 272, 273, 274, 276, 277, 278, 279, 298, 299, 301, 304, 305, 309, 312 Nihilismusbegriff 17 Nihilismusbekämpfung 183 Nihilismusdefinition 15 nihilismuspositiv 31, 186 Nihilismusüberwindung 14, 50, 197, 222 Nihilismusverdacht 10, 15, 196, 201, 240, 257 Nihilist 14, 17, 19, 247, 301, 303 nihilistisch 10, 12, 14, 15, 17, 19, 22, 23, 24, 104, 181, 195, 196, 200, 201, 247, 270, 271, 275, 278, 298, 300, 303, 305 Nimmerleinstages 244 Nirgendwo 98, 122, 215 Nomos 16, 17, 106, 115, 207, 212, 233 Obernihilisten 247 Obligationenrecht 54 Öffentlichkeitsdiktatur 84, 100 Öffentlichkeitsfanatismus 77 Öffentlichkeitsprinzip 95 Ökumene 306 Opfer 85, 173, 211, 214, 216, 232, 268, 307 Ordo 201, 233 Ostrakismos 204, 205, 215 Pamphletistik 45, 79, 143, 144 Papiergeld 149 Papst 16, 18, 226, 234, 249, 250, 251, 252, 254, 261, 306, 307, 309, 311, 312 Papstamt 307 Papstkirche 226, 248, 251 päpstlich 248, 249, 251, 252, 254 Paradox 50, 88, 101, 214, 280 Paradoxienniveau 88

Sachwortverzeichnis Paretoregel 29 Parlament 79, 92, 115, 119, 124, 132, 144, 276, 278, 281, 283, 284, 287, 296 Parlamentarier 132, 134, 277, 278 parlamentarisch 116, 276, 277, 281, 290 Parlamentarismus 202, 276 Parteienapotheose 135 Parteiendemokratie 100, 156, 302 Parteienparlamentarismus 101, 132 Parteienstaat 275 Parteipolitik 133 parteipolitisch 21, 124, 125 Partylord 131 Parusie 199, 245 Parzellenbesitzer 106 Patriotismus 150, 151, 155 Pelagianismus 237, 265 Pepsi 274 Perfektionsphantasien 32 Pertubanzen 270, 276 Petersdom 306 Pfingstbotschaft 192 Pfingsten 192 Pfingsterlebnis 192 Pfingstfest 192 Pfingstgebot 140 pfingstlichen 192 Pflichtenschwund 60 Pharmafirmen 291 Pharmaindustrie 312 Phratrien 204 Phronesis 218, 224 phronetisch 219 Planungswahn 286 Plenarbeschluss 287 Pleonexieautomatismus 16 Poiesis 218 Policraticus 71, 79 Politie 196, 219 Politikbelastung 278 politikentfesselt 225 politikentlastend 272, 275 Politikentlaster 275, 291 Politikentlastung 23, 271, 272, 273, 275, 277, 278, 279, 285, 286, 291, 294, 295, 300, 302, 304, 305

134, 293,

287,

274, 292,

347

Politikentlastungsorte 302 Politikentlastungspolitik 23, 271, 273, 274, 275, 279, 288, 291, 295, 300, 301, 302, 304, 305 Politikentlastungsstratagemata 272 politikferne 23, 124, 174, 233, 240, 242, 276 politikfremd 271 Politikgefühl 159, 161, 163, 165, 167, 169, 171, 173 Politikkritik 88, 233, 240 Politikmonopol 195, 251 Politikmüdigkeit 102 Politiknegierung 235 politikresistent 295 Politikresistenz 312 politiktranszendent 174, 205, 281 Polizei 279 Polizeiaufgebot 171 Polizeibereich 279 polizeilich 121, 295 Polizey 138 Polytheismus 229, 239 Pornokratie 16 Portadown 308 Positivismus 21 Prädestination 124 prädestinatorisch 232 Pragmatismus 123, 131 Praktischwerdenkönnen 104 Prärogative 89, 118 Präskription 189 Prätorianergarden 279 Prediger 45, 140, 227, 247 Predigtamt 140 Presse 77, 79, 85, 126, 132, 134, 135, 142, 143, 144, 146, 150, 154, 296, 298 Pressekontext 135 Pressesprecher 311 Pressezensur 93 Profipolitiker 134 Protektionismus 109 Protestant 45, 106, 140, 306, 307, 308 protestantisch 40, 106, 115, 140, 146, 172, 187, 243, 266, 267, 268, 308 Protestantismus 172, 200, 238, 310 Psychoanalyse 176, 183, 185, 191 psychopolitische 208 Publifizierung 104

348

Sachwortverzeichnis

Puritaner 13, 78, 247, 248 Puritanismus 73 Pyrrhoniker 36, 38, 49, 50 pyrrhonisch 34, 36, 37, 45, 50, 52, 98, 99, 200, 264, 267 Pyrrhonismus 37, 39, 44, 45, 47, 48, 49, 50, 52, 82, 88, 93, 240, 247, 248 Pyrrhonist 36, 46, 47, 49, 86, 88 Pyrrhonistik 45 pyrrhonistisch 45, 47, 48, 83, 239 Quintessenz 37, 118, 202, 276 Quivives 208 Radiowellen 104 Ränke 33, 42, 51, 52, 56, 134, 173, 236, 256 Ränkementor 116 Ränkeschmied 54, 203, 236 Ränkespiel 116 Ranküne 51, 56 Rassengesetze 131, 202 rastlos 16, 17 Rationalismus 39, 43, 52, 77, 246 Ratlosigkeit 34 Raubtierkapitalist 109 Rearistotelisierung 234 Recht 15, 20, 31, 36, 57, 59, 60, 62, 63, 64, 68, 71, 72, 78, 89, 90, 91, 95, 98, 108, 110, 111, 113, 115, 119, 121, 124, 127, 128, 131, 139, 159, 160, 168, 182, 207, 212, 213, 218, 221, 232, 234, 247, 248, 250, 252, 253, 254, 256, 257, 258, 261, 268, 283, 285, 292, 293, 308, 309, 310 Rechtschreibreform 285, 286, 287, 288, 289, 291 Rechtsgewinnung 293 Rechtssetzung 63 Rechtssicherheit 63, 116, 119, 120, 156, 157, 241 Refamiliarisierung 300 Reformation 32, 52, 54, 56, 61, 72, 116, 125, 136, 138, 241, 242, 243, 309, 310, 311 Reformationitis 45 reformatorisch 14, 36, 50, 79, 117, 136, 140, 238 Reformdiskurs 234 Reformierte 306

Regelungskunst 23 Regenbogen 299 Regengott 299 Regierungskunst 28 Reich 18, 21, 42, 60, 63, 66, 80, 99, 105, 120, 134, 180, 184, 190, 217, 225, 226, 227, 228, 230, 231, 232, 234, 237, 238, 239, 242, 245, 246, 247, 248, 249, 251, 252, 253, 256, 257, 258, 260, 261, 269, 270, 273, 282 Reichsidee 225 Reichsstatthaltergesetz 285 Reichstheologie 228 Religionsgründer 184 Religionskriege 309 Resakralisierung 246 Revolutionsoper 167 Rockwallfahrt 173 Rom 16, 18, 87, 125, 227, 229, 230, 231, 249, 250, 261, 262, 306, 308, 313 Römerbrief 230, 231 römisch 17, 18, 71, 99, 125, 129, 130, 138, 139, 141, 156, 190, 227, 228, 229, 230, 231, 236, 248, 251, 261, 265, 304, 313 römischrechtlich 139 rückschlagresistent 167 Rückschlagsresistenz 296 Saalschutz 279 Sacerdotium 18 sakral 63, 236 Sakrament 242 sakrosankt 46, 113, 260, 261 Sakrosanz 124 Säkularisierungstheorie 20 Schattenreich 19 Schauspieler 97, 140 Scheidung 232, 275 Scherbengericht 204 Schlaraffenland 239 Schlusssegen 298 Schöpfer 56, 67, 114, 244 Schöpfergott 12, 262 Schutzflehende 208 Schwarmverhalten 76 Schweigespirale 98, 142 schwimmen 135, 206, 304 Schwimmenkönnen 304

Sachwortverzeichnis schwimmerlos 304 Schwimmsport 304 Seeschäumer 304 Seewesen 205, 206, 304 Seinsvergessenheit 10 Selbstbehauptung 165 Selbstermächtiger 298 Selbstermächtigung 15, 77 Selbstermächtigungswahn 298 Selbstgerechtigkeit 228 Selbstherrlichkeit 216 Selbstlegitimation 237 Selbstwidersprüchlichkeiten 312 Selbstzuschreibungskompetenz 297 Seligkeit 190, 234 Semipelagianismus 237 Sensualismus 43 Setzungsfetischismus 16 Siliziumeinheiten 16 Sisyphos 217 Sisyphus 17 Sittenschriftsteller 146 Sittlichkeit 21, 34, 91, 93, 168, 207, 246 Skepsis 34, 36, 37, 45, 49, 50, 75, 182, 237, 238 Skeptiker 24, 35, 36, 46, 48, 83, 87, 88, 239, 263 Skeptizismus 15, 21, 34, 35, 37, 38, 39, 45, 47, 48, 51, 52, 57, 75, 82, 83, 86, 101, 237, 238, 239, 240, 263, 264 Skeptizismusschub 57 Snowboarder 16 Socinianer 266 Socinianismus 262 Sold 113, 114 Solidarität 164, 180, 206, 254, 256 Sonnengott 299 Sonntag 16 Sophist 11, 213, 214, 225 Sophrosyne 45 Souverän 19, 20, 33, 54, 55, 56, 59, 60, 67, 69, 75, 78, 84, 91, 94, 96, 114, 119, 120, 122, 132, 139, 150, 156, 241, 243 246, 249, 251, 252, 254, 259, 307 Souveränität 20, 71, 78, 79, 81, 113, 119, 122, 150, 227, 242, 252, 258, 261, 307, 309 Sozialdemokratie 302

349

Sozialismus 175 Sozialistengesetzgebung 173 Sozialtechnologie 278, 307 sozialtechnologisch 227, 242 Sozialwissenschaften 302 Soziologie 136, 142, 143, 170, 272, 278 soziologiesemantisch 141 soziologisch 14, 16, 22, 75, 123, 142 Sparta 129, 210 Spass 152, 240 Spektakel 214, 304 spektakelsüchtig 304 spektakulär 143 spirituell 76, 173, 234, 236, 246 spitalexterne 300 Sport 22, 159, 170, 171, 173, 272, 301, 304, 312 Sportabitur 302 Sportbegeisterten 171 Sportberichterstattung 304 Sporterfolg 171 Sportfunktionären 171, 304 sportisiert 233, 304 Sportkult 304 Sportler 171 Sportleregoisten 171 Sportseite 170 Sportteil 170 Staatsentstehung 78, 95 Staatsentstehungstheorie 109 Staatsmacht 58 Staatsmonokapitalismus 274 Staatsreligiosentum 204 Staatsschiff 205, 206 Staatsschiffsteuer 206 Staatssozialismus 308 Standesamt 300 Sterbehelfer 313 Steuerungskompetenzenagglomeration 214 Steuerungskunst 10, 207, 212, 262, 304, 311 Stoa 45 Stochastik 184 stoisch 232 Stromausfall 110, 165, 260 Subjekt 12, 55, 61, 70, 163, 165, 181, 195, 268 Subjektifizierung 162 Subjektivität 13, 73, 74

350

Sachwortverzeichnis

Subpolitik 272 Sukzession 96, 263 Summepiskopus 140 Sünde 39, 140, 238, 286 Superpolitik 194 Superpolitiker 194 Surrogat 95, 153, 266 Symbiose 304 systemaffirmativ 213, 309 Systemaffirmität 95 Systemtheorie 23, 136, 223, 297 Szepter 59 Tagespolitik 126, 170, 190, 209, 210, 313 Taktik 28, 63, 73, 111, 123, 173, 276, 290 Taktiker 63, 256 taktisch 157, 191, 202, 277 Tarifautonomie 278 Täufer 188 Techne 218 Technolustigkeit 276 Telegenisierung 296 Teleologie 201, 223 teleologisch 174, 201, 222, 236 Terrorismus 279 thalassokratische 205 Theater 94, 97, 208, 209, 210 Theaterdonnergott 47 theistisch 49, 64, 74 Theokratie 216, 222 Theologe 31, 292 Theologicopolitica 76 theologicopolitisch 76 Theologie 10, 11, 16, 20, 36, 42, 57, 59, 65, 72, 73, 74, 75, 76, 109, 119, 172, 216, 223, 226, 227, 232, 239, 240, 242, 246, 248, 252, 257, 262, 266, 309 Theologieengineering 242 Theologiepolitiker 191 Theologopolitico 64, 72, 75 Theoriedesign 123 Theoriefeindschaft 134 Theorielastigkeit 125, 129 theorielos 123, 135 Theorielosigkeit 135, 144 Thetensolidarität 206 Thomismus 127 Timokratie 18

Tonsetzerdichter 166 Topik 217 Tory 131, 137, 145, 148, 149, 258 Totalitarismus 9, 110 Totalitarismusverdacht 77 Transformationsprobleme 312 Translatio 152 Transsubstantiation 250 transzendent 28, 124, 174, 195, 215, 282, 291, 306, 313 Transzendental 170 Transzendentalphilosophie 9 Transzendentien 123, 150, 151, 153 Transzendenz 30, 67, 74, 123, 129, 229, 246, 250, 252, 313 Transzendenzanbindung 313 Transzendenzformel 250 transzendenzlos 303 Transzendenzoffenheit 250 Traumfabrik 312 Traumzeit 207 Traurigkeit 297 Treue 235 Tridentinum 238 Triebabfuhr 208 trinitarisch 247, 250, 263 Trinität 34, 229, 250, 262, 263, 312 Tugend 17, 37, 43, 47, 81, 86, 126, 156, 159, 165, 188, 196, 216, 218, 224, 225, 227, 233, 235, 237, 285, 302 Tugendterror 81, 86, 125 Türkenfatalismus 34, 124 Tyrann 120, 181, 212 Tyrannei 119, 219, 235 Tyrannen 120 Tyrannenmord 229 tyrannisch 90, 213

225,

153,

133, 219, 297,

Überforderung 313 Überlastung 292 Übermensch 176, 177, 188, 195, 237, 270, 275, 302 Übertragung 54, 70, 90, 91, 106, 128, 162, 195, 253, 254 Überwindung 9, 10, 11, 12, 14, 15, 21, 23, 175, 182, 191, 198, 309 Überwölbung 116, 241, 309

Sachwortverzeichnis Überwölbungschance 168 Umgruppierung 20, 80, 117, 133, 201 Unbeteiligtsein 309 unchristlich 257 Uneindeutigkeit 222 Unendlichkeit 38 Unentschiedenheit 50 Unfehlbarkeit 265 Unfehlbarkeitsdogma 173 Ungerechtigkeit 89, 152 Universalismus 165, 246 Universität 108 Universum 12, 43, 57, 88, 127, 136 unpolitisch 9, 19, 20, 21, 53, 57, 58, 79, 80, 118, 154, 170, 171, 180, 227, 231, 232, 298 Unsterblichkeit 216, 263 Unsystematik 180 Untätigkeit 96 Unternehmensethos 274 Unternehmensziele 274 Unverbrüchlichkeit 158 Unverfügbare 20 Unversehrtheit 110, 165 Unwägbarkeit 42, 299 Urbanität 179 Urchristentum 251 Utilitarismus 21, 213, 306 Utopie 20, 21, 105 utopischen 20, 309 Utopist 181 Vanitas 61 Vanitasvorstellung 32, 47 Vater 12, 72, 82, 105, 113, 114, 115, 236, 260, 286 Vaticanum 312 Verderbtheit 238 Verfassung 57, 93, 117, 121, 126, 129, 133, 144, 148, 156, 196, 203, 209, 216, 219, 220, 222, 223, 255, 279, 281, 282, 283, 284, 285, 290, 291, 301, 313 Verfassungsgeber 280 Verfassungsgeist 93 Verfassungsgerichtsbarkeit 279, 280, 283, 291

192,

130, 212, 280, 293,

281,

351

Verfassungsgerichtsentlastung 313 Verfassungspräambel 313 Verfügbarmachung 138 Vergesellschaftung 112, 190, 269 Verheissung 165, 267, 308 Verkündigung 196, 227 Veröffentlichkeit 238 Veröffentlichungstrieb 298 Verrechtlichungen 63 Verrechtlichungsprozesse 62 Verselbständigung 298 Versicherung 149, 150, 151, 153, 157, 295, 300 Versöhnung 169, 170, 200, 245 Versonnenheit 205 Vertelegenisierung 277 vertragstheoretisch 21, 129 Vertragstheorie 71, 73, 78, 260, 306 Verwissenschaftlichung 179, 236 Virtualisierung 98, 296 virtuell 78, 97, 100, 277, 292, 298 Vitalismus 183 Volksfrömmigkeit 310 Vollblutpolitiker 134, 270 Volltranszendenz 307 vorpolitisch 56 Vorteilsnahme 89 Vorteilsnehmer 275 Wahrheitsskeptizismus 183 wahrheitsskeptizistisch 179 Wahrscheinlichkeitsdoktrin 41 Wahrscheinlichkeitsrechnung 41 Waldgänger 16 Weberianismus 307 weltanschaulich 83, 173, 200, 247, 248, 251, 257, 269, 307, 311 Weltanschauung 183 Weltaufteilung 77 Weltelf 170 Weltgeschichte 73, 231 weltgeschichtlich 151, 236, 247 Weltgewandtheit 47 weltpolitisch 273 Weltverhältnis 67 Weltverneinung 12 Weltvernichtung 11, 13 Werte 11, 75, 174, 181, 248, 293

352

Sachwortverzeichnis

Wertediskussion 282 Wertekanon 102 Wertekonflikt 194 Wertnihilismus 17 Wertrelativismus 83, 248 Widerspruchsgedanke 200 Wirtschaftsliberalismus 248 Wirtschaftspolitik 152 Wissensakkumulation 163 Wissensbewaffnung 303 Wissensmunition 303 Wissensquiz 303 Wunder 12, 135, 236, 238, 239, 242, 243, 250, 252, 263, 266, 311 Würdenträger 232

Zeitlichkeit 68, 73 Zeitung 104, 137, 138, 141, 143, 144, 145, 147, 148, 153, 239, 287, 310 zeitungslesend 153 Zeitungsnachrichten 144 Zeitvorstellungen 174 Zeloten 227, 249 Zentrum 173 Zerstörung 14, 15, 17, 258 Zerstörungslust 198, 199 Zinsperikope 261 Zivilehe 300 Zivilisation 13, 21, 78, 105 Zivilisationskritiker 84 Zivilreligion 216, 235, 252, 268, 269, 271 zurückbuchstabieren 246, 249

Personenverzeichnis Abel, Günter 178 Abel (Bruder Kains) 231 Abraham 250 Achill 17, 137, 203 Ackerman, Terrence 68 Adam 258, 259, 261 Adams, John 150 Adams, Robert 40, 41 Agamben, Giorgio 69 Aischylos 205, 206, 207, 208, 210 Albrecht, Christoph 157 Albritton, Robert 66 Alexander der Grosse 219, 224 Alkaios 205 Altenstein, Freiherr von 168 Amann, Heinz 53, 72 Andreas-Salomé, Lou 176 Angehrn, Emil 11, 23, 24, 52, 63, 273 Ansell-Pearson, Keith 180, 181 Apollo 38, 251 Arendt, Dieter 12, 13 Arendt, Hannah 85, 86, 160 Aristoteles 12, 18, 19, 55, 57, 61, 62, 66, 79, 107, 129, 187, 204, 208, 212, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 231 Ashcraft, Richard 63, 69, 107, 123, 258, 265 Augustinus, Aurelius 12, 226, 231, 232, 233, 237, 239, 242 Augustus 18, 160, 227 Aylmer, Gerald 107 Bacon, Francis 17, 50, 51, 108 Baeumler, Alfred 179, 180 Balázs, Zontán 121 Baracho, José Alfredo de Oliveira 110 Barry, Brian 68 Bartuschat, Wolfgang 255, 256 Baruzzi, Arno 242 Baumhauer, Otto 12

Beackon, Steve 68 Beck, Ulrich 272 Becker, Oscar 178 Beethoven, Ludwig van 166, 167, 171, 296 Bell, Ian 260 Bellarmin, Roberto Francesco Romolo Kardinal 45, 71, 248 Benz, Ernst 15 Berlusconi, Silvio 311 Bickel, Alexander 280, 281, 282, 283 Bien, Günter 219 Bismarck, Otto von 172, 173, 187, 300, 311 Blair, Tony 275 Blumenberg, Hans 12, 176 Bodin, Jean 139 Bolingbroke, Henry St. John Viscount 133, 145, 147, 148 Bosse, Heinrich 155, 159 Bost, Hubert 35 Boswell, James 85 Brandt, Reinhart 243 Braun, Dietrich 52, 71, 72, 73 Breen, Tymothy 150, 151, 153 Bretzinger, Bettina 267 Brewer, John 132 Brocker, Manfred 258 Browne, Stephen 132 Browning, Christopher 200 Bryant, Donald 132 Buchheim, Thomas 11 Büchner, Georg 13 Burckhardt, Jakob 199, 210 Burkhardt, Johannes 235 Butterfield, Herbert 148 Campbell, Blair 68 Cassirer, Ernst 85, 266 Cavendish, William Earl of Devonshire 73 Chapman, John 77 Chiara Skirl 24

354

Personenverzeichnis

Childs, Harwood 296 Choulguine, Alexandre 82 Cicero, Marcus Tullius 31, 56, 57, 70, 79, 84, 99, 100, 126, 129, 130, 231, 252 Classen, Carl 12 Clinton, Bill 275 Clive, Megan 73 Colie, Rosalie 266 Colley, Linda 153 Conway, Daniel 180, 181 Cooper, John 221, 222 Cottret, Bernard 148 Cromwell, Oliver 81, 251, 252, 307 Croquette, Bernard 48 Cullmann, Oscar 230

Feuerbach, Ludwig 35, 36, 42, 43, 239, 240, 241 Fichte, Johann Gottlieb 13, 17, 22, 159, 162, 163, 164, 165, 166, 272 Fiebig, Hans 58, 59 Figgis, John 259 Fink, Gonthier-Louis 155, 156 Flasch, Kurt 231, 232 Förster, Winfried 73, 177 Förster-Nietzsche, Elisabeth 177 Franklin, Benjamin 22, 152 Freeman, Michael 127, 130, 131 Freund, Julien 61, 68, 69 Friedmann, Georges 40 Fugger, Jakob 235

Dante Alighieri 234 Darwin, Charles 169 De Fouw, Arie 226 De Winter, Patrick 226 Deane, Herbert 226 Debae, Marguerite 226 Defoe, Daniel 22, 107, 136, 137, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 260 Degering, Klaus 137, 144, 145 Demokrit 213 Derathé, Robert 77, 88 Descartes, René 12, 13, 40, 48, 49, 51, 57, 88, 237, 238, 240, 292 Dibelius, Martin 227 Dionysius 193, 232 Dionysos 173, 197, 209, 237 Dippel, Horst 152, 156 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 14 Duchrow, Ulrich 237 Dudley, John 218, 219 Dunn, John 107

Ganochaud, Colette 77, 92, 93, 94 Garotti, Loris Ricci 113 Gauthier, David 71 Gerhardt, Volker 160 Giese, Fritz 180, 283 Gigon, Olof 231 Gildin, Hilail 93 Glover, Willis 246 Gomperz, Heinrich 11 Gorgias 11 Gossman, Lionel 35 Gough, John 113 Goyard-Fabre, Simone 62, 63 Graeser, Andreas 12 Grafton, Anthony 33, 38 Gray, Robert 66 Greenleaf, William 59, 76 Griffin, Martin 265, 266 Grimm, Jakob 290 Groethuysen, Bernhard 88 Gustl, Leutnant 158

Ellis, Desmond 75 Enzensberger, Hans Magnus 9 Euchner, Walter 106, 121, 258 Eva 114 Ewald, Oscar 48, 177 Faguet, Émile 88 Fetscher, Iring 12, 77, 87, 90, 104, 267, 268 Feuer, Lewis 253, 254

Habermas, Jürgen 78, 79, 80, 81, 86, 91, 141, 143, 144, 237, 276 Hacking, Ian 40 Hahn, Manfred 164 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 14, 21, 22, 130, 136, 137, 151, 166, 167, 168, 169, 170, 172, 207, 297 Heidegger, Martin 10, 11 Heideking, Jürgen 154 Heine, Heinrich 9, 158

Personenverzeichnis Hennis, Wilhelm 93 Hepburn, Ronald 75 Herbert, Gary 68, 85, 148, 172, 226, 241 Herder, Johann Gottfried 162 Hermosa Andujar, Antonio 120 Herodes 228 Herodot 205, 210 Herzen, Alexander 14 Hill, Christopher 136, 265 Hiob 11, 76, 243, 285, 286 Hochhuth, Rolf 310 Höffe, Otfried 53, 234 Hölscher, Lucian 138, 139, 140, 141 Homer 12, 16, 17, 29, 31, 142, 166, 203, 211 Hood, Francis 52, 243 Horatius Flaccus, Quintus 205 Horneffer, Ernst 177, 210 Humboldt, Wilhelm von 301, 303 Imbach, Ruedi 234 Iselin, Isaac 162 Jacob, James 265 Jacob, Margaret 107 Jacobi, Friedrich Heinrich 13 Jaeger, Werner 224 Janke, Wolfgang 39, 40 Jaumann, Herbert 85 Jefferson, Thomas 154 Jellinek, Georg 284 Jesus 18, 50, 74, 75, 191, 192, 214, 226, 227, 228, 233, 241, 245, 247, 249, 250, 261, 263, 269, 278 Joachim von Fiore 234 Jonas, Hans 12 Josephus, Flavius 38 Jouvenel, Bertrand de 89 Kamp, Andreas 218, 219, 222 Kant, Immanuel 13, 14, 15, 22, 40, 65, 90, 136, 139, 149, 156, 159, 160, 161, 162, 166, 172, 181, 262, 306 Karneades 40, 45 Kassandra 211 Katharina, Zarin 155 Kelsen, Hans 219 Kendall, Willmore 110 Kenyon, John 108, 124, 264 Kersting, Wolfgang 77

355

Kierkegaard, Soren 172 King, Preston 131, 133, 260, 307 Kirk, Russell 131, 241 Kleisthenes 204 Klemperer, Victor 35, 202 Klopstock, Friedrich Gottlieb 155 Kluge, Alexander 91 Kodalle, Klaus-Michael 52, 73, 74, 75, 242, 243 Kopernikus, Nikolaus 60 Koselleck, Reinhart 19, 20, 78, 80, 81, 83, 141, 143, 144 Kott, Jan 146 Kramnick, Isaac 148 Kroll, Richard 266 Kronauer, Wolfgang 86 Kubin, Alfred 207 Kuhn, Elisabeth 198 Kuhn, Helmut 14 Kullmann, Wolfgang 221 Labrousse, Elisabeth 35 Lacouture, Jean 44 Lamprecht, Sterling Power 113 Lanson, Gustave 88 Laslett, Peter 108, 110, 113, 258 Laursen, John 160 Lee, Jin-Woo 195, 196 Lehmann, Hartmut 299 Lehmann, Johannes 97 Leites, Edmund 107 Lemaire, Claudine 226 Lenin, Wladimir Iljitsch 276, 308 Leopold, Großherzog Leopold II. von Toskana 156 Letwin, Shirley 244 Letwin, William 72 Lidell, Henry George 212 Limbach, Jutta 292, 293, 294, 295 Lips, Julius 53 Lloyd 149, 265 Lock, Frederick 126, 132, 133 Lopata, Benjamin 72 Löwith, Karl 172, 177, 178, 180 Luhmann, Niklas 136, 235 Luther, D. Martin 88, 140, 183, 234, 240, 285 Lykurg 129

356

Personenverzeichnis

Macaree, David 146 Machiavelli, Niccolo 18, 23, 31, 32, 37, 51, 52, 55, 83, 96, 98, 100, 101, 116, 134, 173, 235, 236, 251, 254 MacIntyre, Alasdair 24, 237 Maclean, Alexander 113 Macpherson, Crawford 56, 63, 68, 72, 76, 106, 107, 108, 109, 241 Madison, James 280, 281 Magnus, Bernd 176, 177 Mandeville, Bernard de 133 Mansfield, Harvey 71 Marcion 12 Maria 173 Maritain, Jacques 88 Marquard, Odo 24 Marta und Maria 245 Marti, Urs 181 Marx, Karl 162, 172, 200, 284 Masson, Pierre 88, 269 Maurras, Charles 268 McNeilly, Frederic 247 Meier, Christian 15, 17, 25, 27, 29, 203, 205, 206, 208, 209, 211, 213 Metzger, Hans-Dieter 245 Micunovic, Dragoljub 121 Miethke, Jürgen 12 Miller, David 107 Missner, Marshall 66 Monfrin, Jacques 226 Montaigne, Michel de 44, 45, 46, 47, 48, 50, 79, 98 Montesquieu, Charles de Secondat 281, 284 Mori, Gianluca 36, 37 Mornet, Daniel 33 Moses 12, 245, 249, 250, 253 Mourgeon, Jacques 53 Müller-Lauter, Wolfgang 181 Muralt, André de 12 Murrin, John 151 Napoleon Bonaparte 103, 149, 157, 166, 173, 188, 311 Negt, Oskar 91 Nero 230 Newman, Gerald 151 Newton, Isaac 149 Noah 258

Noelle-Naumann, Elisabeth 98, 122, 142, 157, 158 Oakeshott, Michael 53, 67 Ockham, Wilhelm 12, 243 Odysseus 203 Oexle, Otto 234 Orwin, Clifford 252 Ottmann, Henning 12, 14, 17, 24, 29, 31, 59, 63, 176, 178, 180, 181, 198, 203, 204, 205, 211, 217, 218, 219, 220, 221, 223, 224, 225, 228, 229, 243, 271 Overbeck, Franz 172 Owen, David 180, 181 Paeschke, Renate 53 Palmer, Robert 156 Parkinson, Gerald 40 Parry, Geraint 68 Parsons, John 75 Pascal, Blaise 45, 47, 48, 49, 50, 51, 87 Payne, William 145, 146 Pchelin, Nikolai 24, 303 Pelagius 232 Perikles 36, 205, 209, 213 Peters, Richard 245 Peterson, Erik 232 Phrynichos 210 Pitkin, Hanna 71 Platon 11, 18, 44, 53, 57, 120, 191, 205, 212, 214, 215, 216, 217, 221, 222, 224, 225, 299 Pocock, John 73, 107, 108, 123, 149, 245 Pöggeler, Otto 11, 14 Polin, Raymond 59, 63, 113 Popper, Karl 224 Pöttker, Horst 142 Prezioso, Faustino 12 Putallaz, François-Xaver 12 Raaflaub, Kurt 207, 211 Radbruch, Gustav 310 Raffel, Michael 44 Ratzinger, Joseph Kardinal 231 Rauschning, Herrmann 11 Redwood, John 72, 73 Reid, Christopher 131, 132 Richter, Emanuel 77

Personenverzeichnis Riedel, Manfred 198 Ritzel, Wolfgang 88 Robbins, Caroline 107, 133 Robespierre, Maximilien 86, 166 Robinson Crusoe 105, 106, 137, 146, 260 Röd, Wolfgang 59, 64 Rogowski, Ralf 291 Ross, Edward 121 Roth, Wolfgang 288, 289, 290, 291 Sabine, George 110 Salkever, Stephen 88 Salomo 45 Samely, Alexander 253 Sartori, Giovanni 77 Savigny, Friedrich Karl von 169 Schaeder, Hildegard 14 Schäffle, Albert 142 Schalk, Fritz 80 Scheuringer, Hermann 290 Schiller, Friedrich 165, 166 Schilling, Kurt 246 Schlegel, Friedrich 165 Schmale, Wolfgang 157 Schmidt-Brüggemann, Wilhelm 48, 49 Schmitt, Carl 13, 16, 20, 24, 30, 36, 52, 53, 61, 63, 71, 72, 75, 76, 80, 82, 119, 160, 166, 207, 229, 232, 233, 241, 242, 243, 248, 253, 269, 276, 281, 282, 283, 284, 288, 293 Schnädelbach, Herbert 172 Schneider, Wolfgang 218, 219 Scholtz, Gerhard 161, 162, 165, 168 Scholz, Heinrich 231 Schonhorn, Manuel 146 Schopenhauer, Arthur 13 Schröder, Winfried 85, 287, 294 Schuhmann, Karl 52 Schütz, Martin 24, 297 Schwanitz, Dietrich 146, 148, 149 Schwitzgebel, Gottfried 262 Senoo, Goko 263 Sextus Empiricus 36, 37 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of 106, 257 Shakespeare, William 136 Shapiro, Barbara 266 Shklar, Judith 77, 88

357

Simmel, Georg 177, 178 Skinner, Burrhus Frederic 68 Skirl, Miguel 170, 178, 202 Sokrates 12, 17, 46, 82, 188, 191, 203, 211, 214 Sommer, Andreas Urs 24, 33, 34, 35, 44, 136, 137, 148, 191, 194, 200, 202, 282 Sonnenfels, Joseph von 138 Soros, George 273 Spaemann, Robert 268, 269 Spangenberg, Peter 297 Spinoza, Baruch de 13, 36, 40, 87, 252, 253, 254, 256, 257, 266, 269 Stalin, Josef 308 Stein, Ludwig 40 Sterchi, Bernhard 24, 226 Sternberger, Dolf 24, 160, 222, 232 Stillingfleet, Edward 262, 263, 264, 265, 266 Stirner, Max 13 Strauss, Leo 24, 56, 57, 58, 59, 61, 63, 66, 76, 82, 87, 88, 106, 110, 119, 121, 122, 126, 127, 128, 129, 131, 133, 134, 203, 218, 242, 252, 269, 294 Suarez, Francisco 107 Süß, Theobald 13 Süßenberger, Claus 85, 86 Sutherland, James 145, 146 Swift, Jonathan 137, 147 Sykora, Gerda 24 Sykora, Roberto 24 Taine, Hippolyte 157 Talmon, Jacob 77 Taylor, Alfred 59, 74, 75 Tenison, Thomas 265 Tertullian, Quintus Septimius Florens 225, 227, 304 Themistokles 205, 210 Theodektes 210 Theodora 16 Theognis 205 Theramenes 219 Theseus 210 Theunissen, Michael 11 Tholen, Georg Christoph 297 Thompson, Martyn 107

358

Personenverzeichnis

Thukydides 213, 219, 224 Thurnher, Eugen 14 Tocqueville, Alexis de 154 Tönnies, Ferdinand 53, 61, 142 Topazio, Virgil 88 Toulmin, Stephen 149 Trevelyan, George Macaulay 137 Trevor-Roper, Hugh 56, 266 Troeltsch, Ernst 226, 232 Tully, James 106, 107, 109, 118 Van Gelder, Enno 226 Vaughn, Charles 110, 113 Vaughn, Karen 107, 109, 113, 118, 123 Veci Rodriguez, Francisco 260 Venter, John Craig 273, 275 Vergilius Maro, Publius 135, 143 Vialatoux, Joseph 53 Viano, Carlo 113 Villey, Michel 62 Vlastos, Gregory 204 Voßler, Otto 82 Voegelin, Eric 13, 24, 221 Vollrath, Ernst 159 Voltaire, François Marie Arouet 84, 85, 88, 153, 155 Vossenkuhl, Wilhelm 12

Wagner, Richard 167 Wahl, Jean 88 Waldmann, Theodor 57 Walpole, Sir Robert, 1. Earl of Oxford 148 Wandruszka, Adam 147 Warrender, Howard 59, 62, 63, 67, 68, 74, 76, 243 Weber, Max 9, 106, 151, 229, 230, 236, 277 Wehler, Hans-Ulrich 154 Weiß, Ulrich 52, 59, 65, 66, 242, 246 Weibel, Peter 297 Weinberger, Jerry 67, 68 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 38, 174 Willard, Charity 226 Willms, Bernhard 52, 57, 59, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 241, 244, 246, 247, 273 Woodfield, Richard 75 Worcester, Elwood 262, 265, 266 Wuthenow, Ralf-Rainer 270 Xenophon 57 Yolton, John 113, 117 Young, Brian 108, 262 Zagorin, Perez 148 Zittel, Claus 181