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German Pages 270 [280] Year 1963
EMANUEL
HIRSCH
DAS W E S E N DES REFORMATORISCHEN C H R I S T E N T U M S
EMANUEL HIRSCH
Das Wesen des reformatorischen Christentums
1963
W A L T E R D E G R U Y T E R & CO • B E R L I N VORMALS G. J. G D S C H E N ' S C H E VERLAGSHANDLUNG • J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHANDLUNG • GEORG REIMER • KARL J.TRÜBNER • VEITic COMP.
© 1 9 6 3 by Verlag Walter de Gruyter & C o . , Berlin 30 (Printed in Germany) Archiv-Nr. 3 7 7 7 6 3 1 Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Satz und Druck: Otto von Holten, Berlin 3 o
Vorrede
Diese Darlegung des Wesens des reformatorischen Christentums ist nicht f ü r Zwecke der konfessionellen Auseinandersetzung bestimmt, welche nach des Verfassers Urteil ohnehin zu den überflüssigen Dingen gehört. Das Buch will allein der innerevangelischen Verständigung über Wesen und Grundlagen des reformatorischen Glaubens dienen. Es will den evangelischen Christen heute den gegenwärtigen Sinn und die gegenwärtige Bedeutung der Reformation Martin Luthers zum Bewußtsein bringen, ohne dabei in orthodoxistische Repristination verklungener theologischer Streitigkeiten zu verfallen. Die ungeheure geschichtliche Leistung der Reformation besteht darin, daß sie jene Bedrohung des lauteren Glaubens an das Evangelium von Jesus Christus, die in der geschichtlichen Verdichtung der christlichen Religion zu einem universalen, rechtlich, kultisch und dogmatisch durchorganisierten Kirchentum liegt, entdeckt hat. Die Reformatoren haben daher geurteilt, daß der Glaube an das Evangelium sich nur dann rein und ursprünglich werde erhalten lassen, wenn man ihn mit Verwahrungen und Abgrenzungen wider die ihm durch seine kirchliche Einleibung bedrängenden Verführungen und Verirrungen umhege. Jeder Blick in die Geschichte der Kirchentümer bestätigt dies Urteil. Evangelischer Glaube steht und fällt damit, daß er sich durch Erinnerung an die reformatorischen Verwahrungen dagegen schützt, von seiner eignen kirchlichen Einleibung zur Untreue wider das Evangelium gebracht zu werden und so das innere Recht und die innere Wahrheit, welche dem Kirchenbruch Dr. Martin Luthers zugrunde liegen, zu verspielen. Da die menschliche Geschichte und somit auch die der evangelischen Kirchentümer im ständigen lebendigen Werden und Sichwandeln begriffen ist, kann solcher Aufgabe aber nicht durch einfache Wiederholung der Aussagen des sechzehnten Jahrhunderts genügt werden. Ebenso wie der evangelische Glaube selbst müssen sich auch die von ihm unabtrennlichen Verwahrungen immer wieder neu gebären zu neuer Einsicht und Gestalt.
Es wäre dem Verfasser lieb gewesen, wenn ein andrer, ein Jüngerer, sich der so bezeichneten Aufgabe unterzogen hätte. Indes, er weiß von niemand, der bereit wäre, es mit ernsthafter evangelischer Entschlossenheit zu tun. E r sieht im Gegenteil, wie einerseits die Bedrohung der evangelischen Kirdientümer durch eine dem Papstkirchentum günstige Weltlage und anderseits die verwirrte Ideologie der ökumenischen Bewegung unter den evangelischen Christen das Bewußtsein von dem unbedingten Wahrheitsrecht des reformatorischen Glaubens als des strengen Hüters ursprünglicher christlicher Lauterkeit und Reinheit untergraben. Der Menschen, welche den heiligen Gewissenszwang noch verstehen, als Jünger Jesu und Diener des Evangeliums eben zu den herben und dem religiös-kirchlichen Trieb widersprechenden Aussagen des reformatorischen Christentumsverständnisses J a zu sagen, werden immer weniger. Verdunkelte sich aber diese heilige Nötigung des Gewissens den evangelischen Christen, so wären die evangelischen Kirchentümer in ihr Sterbezeitalter eingetreten. Ein kalt die Weltlage durchrechnender Verstand müßte im Bereich der westlichen Halbkugel wohl schon heute den Zusammenschluß aller Kirchentümer unter dem Papst befürworten, ganz gleich, daß dies ohne Annahme des Tridentinums und des Vaticanums durch alle Christen nicht zu bewerkstelligen wäre. Gibt es kein aus den Tiefen des Glaubens an Jesus Christus geborenes Nein zu diesem Wege, so wird er auch gegangen werden. Es ist eigentlich meine Absicht gewesen, meine um das siebzigste Lebensjahr herum geschriebene ,,Zwiesprache auf dem Wege zu G o t t " das letzte unmittelbar in den theologischen und erbaulichen Bereich greifende Zeugnis des persönlichen Glaubens sein zu lassen. Nunmehr zwingt mir N o t des H e r zens und Gewissens noch diese Darstellung des Wesens des reformatorischen Christentums ab. Wohin die gestreuten Samenkörner fallen, und was aus ihnen wächst und wird, wie könnte ich es wissen? Indes, wer da allein unter der Bürgschaft eines Erfolges bereit wäre, zu gehen und seinen Samen zu streuen, wäre der als Jünger Jesu nicht im voraus gerichtet? Göttingen
E. Hirsch
Inhalt
Seite
1. Der Widerstrelt zwischen Evangelisch und Katholisch und die Einheit der Christenheit . . . .
i
2. Das überlehrmäßige Gepräge des Grundwiderstreits zwischen evangelischem und katholischem Verständnis des christlichen Glaubens . . . .
2$
3. Die Rechtfertigung allein aus dem Glauben und die Beichtbuße
50
4. Die Gleichzeitigkeit des Glaubens mit Jesus dem Gekreuzigten und das Sakrament des Altars . .
75
5. Evangelische Freiheit und Papstgewalt
. . . .
105
6. Die wahre Gemeinde der Heiligen und der Heiligendienst
133
7. Tod und Ewigkeit
163
8. Die Vollmacht des Geistes und das Bestehende
.
189
9. Die Selbstbegrenzung des reformatorischen Christentums
216
10. Predigt, Andacht, Gebet
242
i. Der Widerstreit
zwischen Evangelisch
und die Einheit der
und
Katholisch
Christenheit
A. Joh. 1 7 läßt der vierte Evangelist Jesus in der heiligen Nacht des Abschieds von den Jüngern ein feierliches Gebet von. hoher dichterischer Schönheit sprechen für die Einheit der Christenheit. Die Christen sollen in Glaube, Liebe und Gebet ebenso innerlich miteinander Eines sein, wie er, Jesus, es mit seinem Vater ist. Es ist ein Mißbrauch und Unverstand, wenn man wie häufig geschieht - in diesem hohenpriesterlichen Gebet den Gedanken einer einheitlich verfaßten und aufgebauten, in Lehre, Gottesdienst und Rechtsordnung gleichmäßig gestalteten Weltkirche finden will. Dergleichen hat es zur Zeit der Entstehung des vierten Evangeliums, auch wenn man diese erst mehrere Menschenalter nach dem Tode Jesu geschehen sein läßt, nicht gegeben. Nicht an die Einheit einer Kirche in diesem Sinne, sondern an die Einigkeit und innerliche Verbundenheit einer Christenheit, die in vielen selbständigen und unabhängigen, einander zum Teil gar nicht kennenden, jedenfalls sehr verschiedenartig ausgeprägten Gemeinden sich darstellt, hat der vierte Evangelist gedacht. Immerhin ist klar, daß auch mit einer christlichen Einheit in diesem innerlichen, geisthaften Sinne der Widerstreit von einander verdammenden, unter Umständen einander verfolgenden und unterdrückenden Kirchentümern sich nicht verträgt. Die endlosen Kirdienbrüche, Ketzerverfemungen und Ketzerverfolgungen, welche die Geschichte der christlichen Kirchentümer zeigt, tun zum mindesten so viel dar, daß die Einheit der Christenheit im Sinne des hohenpriesterlichen Gebets nie anders als in einem tief unter den Kirchentümern verborgenen wesenhaften Grunde Wirklichkeit gewesen ist. Daß daran je etwas sich ändern werde, ist nicht anzunehmen. Die Kirchentümer stammen nicht aus dem Evangelium von J e sus Christus. Sie sind vielmehr stets Erzeugnisse des vom Evangelium angerührten Menschengeistes und Menschenwillens, verschiedenfarbig und veränderlich, wie eben Menschengeist und Menschenwille es sind. D a nun aber das Evangelium allein von solchen Kirdientümern durch die Menschheitsgeschichte getragen werden kann, werden Mannigfaltigkeit, Veränderlichkeit
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und aus alledem sich ergebender Widerstreit der Kirchentümer wohl unentrinnlich zur Art der christlichen Religion als Geschichtsgestalt gehören. Die abendländische Kirchenspaltung, welche den Gegensatz der Papstkirche und der evangelischen Kirchentümer hervorgebracht hat, ist vielleicht das einschneidendste, aber durchaus nicht das einzige Beispiel für dies in der Kirchengeschichte waltende Gesetz. Diese Einsicht entbindet keinen Christen von der Gewissensfrage, ob er nicht vielleicht berufen sei, gemeinsam mit andern an der Überwindung einer von ihm vorgefundenen, Unfriede stiftenden kirchlichen Zerspaltenheit zu arbeiten. Es scheint eine schäbige Bequemlichkeit zu sein, sidi mit dem allgemeinen Bewußtsein der verborgenen Einheit aller wahrhaft Christgläubigen zu begnügen und den Widerstreit der doch zweifellos irgendwie durch menschlichen Wahn oder menschliche Schuld getrennten Kirchentümer als unabänderlich hinzunehmen. Heute vor allem haben viele Christen das Gefühl, daß die geistige Gesamtlage der Menschheit zu einem friedlichen Zusammenschluß aller Christen und Kirchentümer dränge. Die im Wesentlichen dem christlichen Bereich zugehörenden Menschen der europäisch-amerikanischen Kultur erleben in zwiefacher Beziehung eine Bedrohung der von ihnen getragenen christlich geprägten Humanität. Einmal, es ist seit dem ersten Weltkriege nicht mehr sicher, ob sie gegen die übrigen Völker und Kulturen die geistige und politische Führung der Menschheit werden behaupten können. Vermöchten sie dies aber nicht, würden etwa die andern Völkerschaften und Kulturen sich ihrer Führung gänzlich entziehen, so wäre es bei deren zahlenmäßiger Überlegenheit nicht sicher, ob die anscheinend im Werden begriffene einheitliche Menschheit eine christliche Prägung empfangen oder sich erhalten wird. Unter solchen Umständen scheint ein häuslicher Streit zwischen den verschiedenen in der europäischamerikanischen Welt sich vorfindenden Kirchentümern christlicher Art ein selbstmörderischer Wahnsinn zu sein. Man denke doch nur an die Aufgabe, die zahlenmäßig schwachen christlichen Kirchentümer unter den fremden Völkern und Kulturen vorm Untertauchen in neue christlich-heidnische Mischreligionen zu bewahren. Selbst diese einfache Aufgabe scheint unlösbar zu werden, wenn das europäisch-amerikanische Christentum ein bunter Wirrwarr der Kirchentümer, Bekenntnisse und
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Gottesdienste bleibt. Sodann aber, auch innerhalb des europäisch-amerikanischen Bereichs ist eine schwere Krise im Verhältnis des Christlichen und des Menschlichen wahrzunehmen. Unsre Wissenschaft, Technik, Gesellschaftsordnung ist getragen von einem neuen, der alten christlich-abendländischen Metaphysik und Ethik fremden Weltbilde. Wir sind allesamt, auch soweit wir persönlich Christen sind, von den Auswirkungen dieses neuen Weltbildes erreicht. Wir denken gleichsam in weiten Bereichen unsers natürlichen Daseins aus den neuen diesseitig-positivistischen und skeptischen Leitgesichtspunkten für das Verständnis des menschlichen Lebens. Kein Wunder, daß die christlichen Kirchentümer praktisch von den Menschen als eine Weltanschauungsgruppe neben andern empfunden werden. Sie sind gleichsam gezwungen, um den freiwilligen Beitritt der Einzelnen zu ihrer Weltanschauungsgruppe zu werben. Sie haben allesamt den neuen Typus des christlich-kirchlichen Werbefachmanns und Bewegungs- und Gruppenleiters erzeugt. Zu den Pflichten der beamteten Diener der Kirche gehört es heute, in unruhiger Betriebsamkeit werbend und ihre Firma empfehlend von Haus zu Haus zu laufen, wie dies früher nur Hausierer und Geschäftsreisende taten. Auch von dieser Lage her erscheint es unsinnig, wenn die christlichen Kirchentümer in sich befehdende Gruppen auseinanderfallen. Schon heute gibt es gemeinsame Belange der Vertreter der christlichen Weltanschauungsbranche, welche, vor allem auf dem politisch-parlamentarischen Gebiet, zu organisatorischen Zusammenschlüssen führen. Da erscheint es als das einzig Zweckmäßige und Vernünftige, in allen einander trennenden Fragen die zugespitzten Gegensätze abzubauen und die gemeinsame „Botschaft der Kirchen an die Welt" über den Streit und Unterschied der einzelnen Sonderbotschaften zu stellen. Man mag als kühler Beobachter seiner Zeit ein wenig lächeln über den frommen Jargon, welcher zum lyrischen Verbrämen der so bestehenden sehr nüchternen Entwicklungsrichtungen benutzt wird. Daß die Lage, welche heute zwischen dem Christlichen und dem Menschlichen sich gebildet hat, zwangsläufig solche Betrachtungen erzeugt, wird man gleichwohl zugestehn müssen. Da das Streben nach größerer oder innigerer Einheit der Christenheit hoffnungslos zwischen glaubensmäßig-christlicher und verstandesmäßig-weltlicher Begründung zu taumeln
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scheint, wird es erlaubt sein, ihm vorerst mit einer kühlen Frage zu begegnen, welche vom Standort evangelischer Selbstbehauptung aus sich aufdrängt. Man denkt seitens der ökumenischen Bewegung an eine wirksam in die kirchlichen Bereiche hineingreifende Einheit in Amt, Verfassung, Lehre, Gottesdienst, und selbstverständlich soll dabei die Papstkirche einbezogen werden. Nun ist die Papstkirche jedem einzelnen evangelischen Kirchentum an Macht, Zahl und innerer Festigkeit weit überlegen und kann ihrer Art nach nicht daran denken, ihr äußeres oder inneres Gesicht andern Kirchen zuliebe zu ändern. Sie kann sich nur eine einzige Art der Verwirklichung kirchlicher Einheit vorstellen: die Rückkehr der evangelischen Kirchentümer unter die Botmäßigkeit des Papsttums. Sofern einzelne Vertreter der Papstkirche bei sogenannten „ökumenischen Gesprächen" diese ihnen unabdinglich scheinende Rückkehr unter das Papsttum mehr im Hintergrunde lassen, dürfte man wohl von Vogelfängerei sprechen. Man wird ihnen dies Verhalten sogar kaum ganz verübeln, sintemal die Papstkirche an sich deutlich genug gesprochen hat, die evangelischen Unterhändler also Bescheid wissen könnten. Eine Rückkehr unter den Papst bedeutet aber - was für Zugeständnisse in wenig wichtigen Äußerlichkeiten auch gemacht werden würden - unweigerlich eine Beugung unter die Lehren des tridentinischen und vatikanischen Konzils, also die Anerkennung von päpstlicher Unfehlbarkeit, Meßopfer, Heiligendienst, Transsubstantiationslehre, Mönchtum und so fort, dazu denn die grundsätzliche Anerkennung der kirchlichen Jurisdiktion des Papsttums über alle Christen. Man sieht ja auch, wie die Anhänger der kirchlichen Einheit unter den Evangelischen vorsichtig, Schritt um Schritt, in diesen Dingen sich dem Dogma und Kultus der Papstkirche anpassen. Freilich bedienen sie sich bei solcher Anpassung geschickt unklarer Formeln und Redewendungen, welche in der Kunst der Zweideutigkeit, die man sowohl reformatorisch wie päpstlich auslegen kann, geradezu Bewunderungswürdiges leisten. Indes, sollte wirklich ein einziger von den Klügeren unter ihnen darüber im Zweifel sein, daß beim Vollzug der Rüdekehr unter den Papst die antireformatorische Auslegung dieser Formeln und Redensarten die einzig zulässige würde, daß sie also die einfachen unter den evangelischen Christen praktisch hinters Licht führen? Was sie wirklich tun, läuft also darauf hinaus,
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daß sie listig ihre Anhänger an katholische Kultformen und katholische Frömmigkeitspflege gewöhnen. Man darf sich auch darauf verlassen, daß ein Großteil der so Umgewöhnten, wenn es zur Entscheidung kommt, die päpstliche Ausdeutung des ihnen Andressierten als eine kleine, im Grunde gleichgiltige Zugabe stumpf hinnehmen würden. Die Spaltung zwischen den evangelischen Kirdientümern und der Papstkirche ließe sich also nur überwinden durch völlige Preisgabe des reformatorischen Christentums. Daß vielleicht den evangelischen Christen, die sich auf diesen Weg einlassen, aus Gründen der Humanität - man verzeihe das derbe Gleichnis, welches lediglich wahr ist - der reformatorische Schwanz stückweise abgeschnitten würde, änderte am Endergebnis der Entwicklung nichts. Wer gewissensmäßig nicht in der Lage ist, die reformatorischen Grundlagen des Christentumsverständnisses ehrlich als Irrtümer aufzugeben, das heißt, Luthers Werk als eine Sünde, einen Frevel zu verwerfen, der wird zu jeder, auch der leisesten Annäherung an eine Einheit mit der Papstkirche Nein sagen müssen. Das Entweder/Oder ist klar gestellt, und die sich über es verblenden, fallen der falschen Seite der Entscheidung rettungslos zum Opfer. So zwingt uns gerade die Art der Papstkirche, die bei aller taktischen Verschleierung letztlich doch an der Verdammung des reformatorischen Christentums festhält, in den Ernst der Wahrheits- und Gewissensfrage hinein. Es kommt letztlich allein darauf an, ob der Glaube an das Evangelium das Nein Luthers zu Lehre, Gottesdienst und Verfassung der Papstkirdie unentrinnlich macht oder nicht. Als Melanchthon aus Angst vor den schweren Folgen eines Kirchenbruchs in Gefahr war, das evangelische Bekenntnis zu verdunkeln, machte Luther mit heiligem Ernst geltend, es gehe zwischen der Reformation und dem Papstchristentum um die Entscheidung zwischen Christus und Belial. In seinen schmalkaldischen Artikeln vollends erklärt Luther, er wolle lieber seinen Leib zu Asche brennen lassen, ehe daß er einen Messeknecht - das heißt Meßpriester ein Sühnopfer für sich darbringen und ihn damit an die Stelle sich drängen lasse, die allein dem gekreuzigten Herrn und Heiland gebühre. Es schaudert ihn vor dem Heiligsten des Papstchristentums, vor dem Meßopfer, wie vor einem Abfall vom Evangelium. Die Begriffe heilig und unheilig, göttlich und wi-
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dergöttlich kehren sich somit im reformatorischen Christentum und im Papstchristentum widereinander. Was dem einen Teil Frömmigkeit und Gottesdienst ist, das wird dem andern Teil zu Frevel und falschem Dienst. Auf beiden Seiten hat man so letzte schneidende Schärfe des Urteils walten lassen. Man stand vor dem Unentrinnlichen, daß hier ein abgrundtiefer Gegensatz aufgebrochen war und man Nein sagen mußte zu dem, was dem andern im Gewissen aus Gott geheiligt war. Es wäre nicht recht, hier nach Art intellektueller Verstandesmenschen von Überspitztheiten und Übertriebenheiten zu sprechen. Das reformatorische Nein zum Meßopfer hat viele evangelische Männer Frankreichs unter Ludwig dem Vierzehnten dahin gebracht, sich auf den Galeeren des Königs zu Schanden machen zu lassen. Ihre Frauen und Töchter aber hielten es für ihre heilige Glaubenspflicht, die Schindereien von Zwangsbekehrungslagern oder das Hinsiechen in Zuchthäusern zu erdulden. Dergleichen nimmt kein Mensch um einiger Übertriebenheiten und Maßlosigkeiten willen auf sich. Für einen evangelischen Christen heißt die Frage somit: haben Luther und das reformatorische Christentum mit einem Glauben an das Evangelium, welcher das Herz und Gewissen zur Verneinung des Papstchristentums und seines Gottesdienstes zwang, die Wahrheit auf ihrer Seite oder nicht? Entweder, das reformatorisdie Christentum ist als sündiger Abfall vom christlichen Glauben zu verurteilen, oder aber jedes Bestreben zu einer Vereinigung mit dem Papstchristentum ist aufzugeben. Ein Drittes gibt es nicht. Man kann ein im Irrtum gefangenes christliches Gewissen ehren und mit Luther wissen, daß unter der Schale falschen Glaubens und Dienstes sich ein davon nicht wesentlich versehrtes frommes Herz zu bergen vermag. Es geht nicht um die Verurteilung einzelner Frommer im Papstkirchentum. Es geht darum, ob wir unser reformatorisches Glaubensverständnis des Evangeliums aufopfern, austilgen dürfen um der kirchlichen Einheit willen. Man kann sich dessen als eines furchtbaren Frevels weigern und dennoch wissen von der unter dem Zwiespalt menschlichen Wahns versteckten letzten Einheit aller dem Evangelium Glaubenden, mögen diese sich auch im Bereich des sichtbaren Glaubens und Dienstes noch so sehr mit hartem gewissensmäßigen Nein gegenüberstehen. Daß die Aufopferung der kirchlichen Einheit um des eigenen
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Glaubensverständnisses des Evangeliums willen nicht wider das Neue Testament ist, kann uns Paulus lehren. Paulus hat gewiß davon gewußt, daß gläubige Christen in Christus allzumal Einer sind, sie seien nun Juden oder Hellenen, Sklaven oder Freie, Mann oder Weib. Er hat auch in schweren, die christliche Lebensordnung betreffenden Fragen zu gegenseitiger Liebe und Eintracht allen Unterschieden zum Trotz gemahnt, sogar mit großer Selbstlosigkeit und Verzichtbereitschaft hinsichtlich des von seinem Gewissen für das Richtige Gehaltenen. Auch Unterschiede individueller Lehrweise hat er hingenommen und sollte damit heute herrschsüchtigen Theologen ein Beispiel sein. Jedoch den Judenchristen gegenüber, welche den ans Evangelium Glaubenden mindestens erhebliche Teile des mosaischen Gesetzes, voran die Beschneidung, auflegen wollten, hat er das alle Gemeinschaft zerschneidende Anathema, das heißt den Bannfluch, für seine Christenpflicht gehalten. Er scheut sich auch nicht, über sie mit scharfen Scheltworten herzufahren, sie sogar Hunde zu nennen. Als Petrus mit diesen von ihm für Irrlehrer und Verführer gehaltenen und als Scheinbrüder gekennzeichneten judenchristlichen Lehrern sich einläßt und mosaische Speisegebote, die er schon hatte fahren lassen, wieder einzuhalten beginnt, vollzieht Paulus in der Gemeindeversammlung den feierlichen Bruch auch mit ihm. Er spricht von der Verdammlichkeit des Tuns des Petrus, wirft ihm vor, daß er Christus zu einem Sündendiener mache. Außer Augustin, Luther und der modernen historisch-kritischen Theologie haben sich wenige christliche Lehrer eingestehen mögen, daß die Freiheit des Glaubens an das Evangelium von Paulus hat errungen werden müssen, indem er den feierlichen Bruch mit dem ersten Auferstehungszeugen vollzog, welcher im Evangelium der Fels heißt, auf den Christus seine Gemeinde baut. Man sage nicht, es seien dazumal andre Zeiten gewesen, und in der heutigen Krisenlage der christlichen Religion gehörten eben alle Christen eng zueinander wider die arge, Christus und Gott entfremdete Welt. Ich möchte meinen: für jedes Kalkül solcher Art haben Paulus und seine judenchristlichen Gegner, erst recht denn Paulus und Petrus, eng zusammengehört wider die ganze Welt des heidnischen Götzendienstes rundum, und christliche Einigkeit wäre damals unter heidnischer Obrigkeit und unter dem H a ß der das Christentum verfolgenden damaligen Judenschaft ein
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recht dringliches Bedürfnis gewesen. Sind nicht Paulus, Petrus u n d die Judenchristen alle drei Vertreter eines christusgläubigen ethischen Monotheismus, der sozusagen gemeinsame Interessen wider Heidenschaft u n d Judenschaft zu vertreten hat? Sie h ä t ten z u m Behuf des schnelleren Sieges Christi über die Welt einen V e r b a n d mit gegenseitiger Stützung a u f b a u e n sollen, w o bei sicherlich sehr leicht eine K o o r d i n a t i o n der Botschaft u n d des Kultbetriebs sich h ä t t e erreichen lassen. Nach alledem nötigt die heutige kritische Lage der christlidien Kirchentümer aller F ä r b u n g zu nichts a n d e r m als zu ernster Selbstbesinnung u n d P r ü f u n g hinsichtlich des Grundwesens des reformatorischen Christentums. H a t die tiefe Scheide zwischen heilig u n d unheilig, göttlich u n d gottwidrig, welche f ü r das Bewußtsein sowohl Luthers wie der Altgläubigen im R e f o r m a t i o n s j a h r h u n d e r t bestand, noch heute Giltigkeit? J a oder Nein? Je nachdem, wie m a n a n t w o r t e t , w i r d man nachher handeln müssen. D a m i t ist die letzte Aufgabe, welche diese kleine Schrift sich stellt, bezeichnet. Sie versucht, das Wesen des reformatorischen Christentums neu zu erfassen u n d damit jedem evangelischen Christen die Mittel in die H a n d zu geben, deren er zur inneren Klarheit über die Zerspaltung der europäisch-amerikanischen Christenheit b e d a r f .
B. U r s p r u n g , K r a f t u n d M a ß des reformatorischen E v a n geliums ist ein Tiefenschichterlebnis des H e r z e n s oder Gewissens am Evangelium. Es hat sich ausgesprochen in einer verschärften, alle theologischen u n d kirchlichen Einebnungen beseitigenden N e u f o r m u n g der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben u n d einem daraus gew o n n e n e n neuen tieferen Verständnis der Geschichte von Jesu Leiden, Sterben und Auferstehn. Von diesem Einsatz her ist es polemisch geworden wider die ganze v o r g e f u n d e n e sakrament a l - w e r k h a f t e Frömmigkeit des mittelalterlichen Christentums mit ihren zahllosen Elementen vorchristlicher Religion, u n d zugleich damit wider die priesterliche, theologische u n d juridische kirchliche Institution autoritären Gepräges, welche diesen christlich durchformten Synkretismus leidlich in O r d n u n g hielt. Dieser Vorgang h a t durch allerlei Verwicklungen hindurch zu der neuen reformatorischen Theologie u n d den
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neuen reformatorischen Kirchentümern geführt. Die Neubildungen zeigen von Anfang an ihr reicheres Leben durch eine weitaus größere Freiheit und Beweglichkeit der Formen und Gedanken. Die geistigen Bewegungen der abendländischen Menschheit sowie die Individualitäten großer Persönlichkeiten finden in den neuen Kirchentümern ein freieres Feld des sich Auswirkens als in der sich wider die Reformation verschließenden Papstkirche. Daher fällt die Führung im europäisch-amerikanischen Völker- und Kulturkreise gerade in dem Augenblick, da seine weltgeschichtliche Stunde schlägt, denjenigen Völkern und Ländern zu, welche sich der Neugestaltung des christlichen Glaubens erschließen. Ihre überzeugende Wucht hat die reformatorische Erneuerung und Verwandlung des Christentums gewonnen, indem sie sich als verjüngende Rückkehr zur Einfachheit, Ursprünglichkeit und Tiefe des ersten, des neutestamentlichen Christentums verstand. So stellten denn die neuen Theologien und Kirchentümer die von den Evangelien und Paulus her ausgelegte heilige Schrift als Gottes Wort über sich. Sie wollten nichts sein als die aus dem lauteren Wort Gottes in Lehre, Gottesdienst und Frömmigkeit gereinigte und verjüngte wahre Christenheit oder Gotteskirche. Dabei waren sie sich dessen bewußt, in freier menschlicher Vernünftigkeit dem Glauben an das Evangelium mit ihren Lehren und Ordnungen einen menschlichen Geschichtsleib zu schaffen und hielten die Gewissen ihrer Glieder an, in christlicher Freiheit die erneuerten Theologien und Kirchenordnungen mit dem in den Herzen sidi anzündenden Glauben an das göttliche Wort immer neu zu messen. Sie unterschieden also das Evangelium oder Gotteswort, das in der heiligen Schrift bezeugt und niedergelegt war, grundsätzlich von den darauf gebauten Lehren und Ordnungen, und eben dies ward ihnen zum Jungbrunnen ihrer K r a f t und Lebendigkeit. Ewige göttliche Wahrheit und unruhig wogende menschlich-vernünftige Vielgestaltigkeit verbanden sich in ihnen auf eine in der Geschichte der christlichen Religion und Kirche bis dahin nicht gekannte Weise. Die Schilderung zeigt durch sich selbst, daß das reformatorisdie Christentum von Anfang an in einem seltsamen Zweiklange sein Wesen und Leben hat. Es ist geboren aus einer Ehe von freier Vernünftigkeit und tief sich beugendem heiligem
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Gewissensernst. Nicht umsonst hat sich Luther in Worms 1 5 2 1 zugleich auf Vernunft und Gewissen berufen, die ihm zusammen den einen wahren Sinn des Wortes Gottes zeigen. E r stellt einerseits die grammatisch-historische Auslegung der Bibel als eines menschlich-geschichtlichen Dokuments ganz im Sinne der ihn mitformenden humanistischen Bewegung wider eine autoritativ gebundene kirchliche Auslegung, welche der Bibel nach Willkür Sinn und Gesicht zurecht knetet. E r ist davon überzeugt, daß die einzelnen Worte der Bibel, wenn man sie natürlich-vernünftig nach dem Sinn der Sprache auslegt, einen eindeutigen und unter sich einhelligen Sinn haben, und er hält es f ü r Frevel und Unehrerbietigkeit, ja Ungehorsam gegen Gottes Sichbezeugen, wenn man an diesem natürlich-geschichtlichen Sinn herumkünstelt und deutelt. Anderseits aber liegt ihm die sinngebende Mitte aller Schriftauslegung in der geheimnisvoll tiefen Begegnung des Herzens und Gewissens mit dem Gott des Evangeliums. Die ewige göttliche Wahrheit in der Schrift leuchtet nur dem Herzen und Gewissen auf, welchem der heilige Geist den persönlichen Glauben an die seligmachende, das Irdische mit dem Ewigen durchdringende Wahrheit des Evangeliums von Gottes Gnade in Jesus Christus anzündet. In der f ü r ihn selbstverständlichen, sich ihm ganz ohne Kunst machenden Zusammengehörigkeit der natürlichen geschichtlichen Erkenntnis des biblischen Worts mit dem vom heiligen Geist gewirkten Glauben, der das Evangelium v o n Gottes Liebe zum Lebensgrund empfängt, findet Luther den Mut und die Vollmacht zum reformatorischen K a m p f wider das entartete Christentum der spätmittelalterlichen Papstkirche. Sowohl der nüchtern am Schriftbuchstaben nachrechnende menschliche Verstand, welcher die neuen Aussagen mit dem Althergebrachten vergleicht, wie auch die tief umgetriebene fromme Innerlichkeit, welche allein nach dem H e i l der Seele fragt und von Gottes Ansehen geschüttelt und bewegt wird, sind von ihm aufgerufen. Das Wort Gottes, das E v a n gelium, ist beides: äußeres geschichtlich eingeleibtes Menschenwort und inneres geist- und ewigkeitserfülltes Sichbezeugen des lebendigen Gottes im Herzen. Indem man es nach seinen beiden Seiten hin ehrt, ist der Grund zur kirchlichen Neugestaltung gelegt. Die
Auswirkungen
dieser zugleich eine wissenschaftlich
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objektive Erkenntnis gründenden wie persönlidi-innerlidi aneignenden Schriftauslegung Luthers sind ebenso zwiesinnig wie sie selbst. Einerseits wird und bleibt sie der tragende Rückhalt des gesamten reformatorischen Christentumsverständnisses und der auf dieses sich aufbauenden evangelischen Kirchentümer. Anderseits ist sie der große Anfang jener geistigen Revolution, mit welcher zu Anfang der Neuzeit die abendländische Völkerfamilie auf allen Gebieten des Lebens und Erkennens sich wider Autorität und Überlieferung zu freier, rein sachgebundcner Selbständigkeit und Eigenständigkeit des Denkens und Wollens erhoben hat. Was Luther zuerst an der Bibel vollbracht hat und immer noch tiefer und besser zu vollbringen lehrte, ist heute mindestens im deutschen geistigen Bereich zur selbstverständlichen Kunst des Sprachmeisters und Geschichtsmeisters geworden. Man arbeitet sich durch Eindringen in die eigentümliche Begrifflichkeit und Geschichtlichkeit eines aus früheren Zeiten stammenden Schriftwerks mit nie rastendem Willen an das ihm zugrunde liegende, in ihm sich ausdrückende Erlebnis der Sache heran, und so wird vergangenes geschichtliches Leben gegenwärtig und dem Verstehen unmittelbar nahe gebracht. Die Fremdsetzung durch sprachlich-geschichtliche Beobachtung und die Aneignung in Gleichzeitigkeit des innerlichsten Erlebens und Nacherlebens werden die beiden Pole, deren vibrierende Spannung den Geist und die Seele öffnet für das ewig Gegenwärtige in allem menschlichen Denken und Leben. Indem das reformatorische Christentum das einzelne Herz und Gewissen durch alle kirchliche Vermittlung hindurchzubrechen lehrt und es zu einem sich hingebenden eigenen gegenwärtigen Erleben vor allem Jesu auf seinem Gang in den Tod und nicht minder des Paulus in seinem Kampf für die Freiheit des Christusglaubens anleitet, gründet sich eine neue Einheit des Geschichtlichen und des Ewigen, die für alle Denk- und Lebensbereiche fruchtbar wird. Indes, diese allgemeine geistesgeschichtliche Auswirkung der reformatorischen Anschauung von der Art, wie uns die Schrift zum Worte Gottes wird, hat teuer bezahlt werden müssen. Eben sie hat sich dem Bedürfnis, mit Hilfe der neuen freien Schriftauslegung den neuen Kirchentümern einen festen bestimmenden Rückhalt zu geben, hemmend in den Weg gestellt. Es ist nötig, auf diesen Punkt die Aufmerksamkeit zu
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richten, wenn man sich die Gewissensfrage nadi dem zwingenden Recht des reformatorischen Christentumsverständnisses stellt. Luther hat, indem er die Schrift als das jedem Einzelnen sich innerlich erschließende Gotteswort den Händen der kirchlichen Autoritäten entwand, unahnend zwei wesentliche Voraussetzungen seines reformatorischen Werks zerstören helfen. Erst nach seinem Tode hat sich gezeigt, wie auch an seinem Werk das Gesetz alles geschichtlichen Tuns sich vollstreckte, nach welchem wir neben den Wirkungen, die wir beabsichtigen, stets auch andre unbeabsichtigte, vor denen wir vielleicht gar erschrecken, auslösen. Einmal, Luther setzte ebenso wie alle seine Zeitgenossen voraus, daß die Bibel als das Buch des heiligen Geistes, das Buch, in welchem Gott den irrenden Menschen seine ewige Wahrheit offenbart, eine jedes Gewissen selbstverständlich bindende Geltung besitze. Ohne diese Voraussetzung oder - setzen wir der Deutlichkeit halben das Fremdwort ein - Prämisse von der Göttlichkeit der heiligen Schrift hätte der reformatorische Kampf gar nicht geführt werden können. Die Anknüpfung allein an dies allem Bewußtsein Gemeinsame verlieh dem reformatorischen Kampf wider das entartete Kirchentum die überzeugende Wucht. Nun hat sich aber unter uns gezeigt, daß es ein Widerspruch ist, einem Schriftwerk diese autoritäre Sonderstellung wunderhafter Art zuzuschreiben und es dann doch wie ein gewöhnliches menschliches Buch, das sich in seinem Sinn auf natürliche freie Weise erschließt, jedermann zu eignem Urteil in die H a n d zu geben. Ein heiliges Buch, das gleichsam ein aus dem Himmel auf die Menschenerde niedergesenktes Mysterium ist, fordert der inneren Logik der Sache nach auch Mystagogen und Seelenführer und Priester für seine Auslegung. Indem die Bibel dem natürlichen Verstände zur Erforschung ihres Sinns und Gehalts mit letzter Folgerichtigkeit überantwortet wurde, forderte man die Geister gleichsam auf, sie doch ja wie ein andres menschliches Buch zu behandeln. Dies mußte sich um so entschiedener auswirken, je mehr die neue tiefe Auslegungskunst sich auch andern Schriftwerken gegenüber als ein echter Schlüssel zum Verständnis erwies. Gut gehen konnte dies nur so lange, als den auf das Erlebnis der Sache gerichteten Sinn des Bibellesers der Inhalt der heiligen Schrift durch seine
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Wahrheitstiefe hinnahm und überzeugte. Es erwies sidi, daß dies nur bei einem Teil der Leser wirklich geschah. Bei den andern zerstörte sich durch die Aufforderung zum schlichten natürlichen Verstehen die Selbstverständlichkeit der Voraussetzung, daß der Bibel als dem Buch des heiligen Geistes, dem Buch der Wunderoffenbarung schon vor allem inneren Ergriffen- und Überzeugtwerden Beugung und Gehorsam gebühre. Ein Geschehen solcher Art wie der Sturz der Bibel aus der sie im voraus heiligenden autoritativen Prämisse verläuft langsam, dafür aber mit Unerbittlichkeit. Es hat etwa zwei Jahrhunderte von der Reformation an gewährt, daß der neuen europäischen Bildung die Prämisse von der Göttlichkeit der Bibel zu einer Sonderbarkeit wurde, welche ebenso willkürlich und zweifelhaft zu sein schien wie der Anspruch des Papstkirchentums auf eine göttliche Autorität ihrer priesterlichjuridischen Institution. Vielleicht wäre bei dem uralt-heiligen Gepräge des wunderhaften Bibelglaubens der Vorgang noch langsamer zum Ziele gelangt, wenn nicht die zweite von Luther nicht erwartete Folge seines Rückgriffs auf die frei ausgelegte Bibel noch verhängnisvoller gewesen wäre und der Krise eine unerhörte Schärfe verliehen hätte. Luther hielt dafür, daß die heilige Schrift bei redlicher unbefangener Auslegung allenthalben eindeutig, hell und klar spreche, ein Zweifel über den Sinn einer Schriftstelle somit nirgends möglich sei. Außerdem war er des Glaubens, daß die Bibel als das eine Buch des heiligen Geistes allenthalben mit sich übereinstimme, allenthalben den einen Gott und den einen Weg des Glaubens und Gehorsams durch den Tod hinein ins ewige Leben bezeuge. Es wurde ihm nicht leicht, diese aus der Prämisse vom göttlichen Ursprung der heiligen Schrift sich ergebenden Urteile angesichts des von ihm selbst beobachteten überschwenglich reichen Inhalts beider Testamente festzuhalten. Er half sich, indem er die Offenbarung Gottes an uns unter die widereinander gekehrte Spannungseinheit von Gesetz und Evangelium stellte und so gleichsam kontrapunktisch verstand. Überdies vermochte er es infolge seiner auf die Tiefe des Gewissenserlebnisses gerichteten Art des Umgangs mit der Bibel, alle Außenwerke der biblischen Berichte und Aussagen als unwesentlich an den Rand zu schieben. Dadurch gewann
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die einheitliche biblische Offenbarung die Zweipoligkeit eines zwischen Gegensätzen pendelnden tiefen und bewegten Lebens, und zugleich wurde dem Herzen und Gewissen des frommen Bibellesers die Freiheit gewährt, durch Sammlung auf das Wesentliche, auf die Begegnung zwischen Gott und dem Herzen, sich aller äußerlichen Fragen als gleichgiltig zu entledigen. Die von Luther entbundene neue evangelische Schriftauslegung zeigte jedoch schon ziemlich früh, daß diese Hilfen nicht ausreichten, um der Bibel das Gepräge eines einheitlichen, allenthalben wesentlich das Gleiche sagenden Offenbarungsbuchs zu erhalten. Es ergaben sich vielmehr folgende unüberwindliche Schwierigkeiten. Erstens, die Einheitlichkeit der heiligen Schrift oder auch nur des neuen Testaments läßt sich mit Hilfe der Auslegungsleitsätze Luthers nur halten, wenn man dem Unwesentlichen, auf das es nicht ankommt, einen geradezu ungeheuerlichen Umfang gibt. Die lehrmäßige Reflexionsgestalt, welche die neutestamentlichen Schriftsteller ihrer Darlegung des Christusglaubens geben, ist nicht auf einen Nenner zu bringen. Auch in für die christlichen Kirchentümer sehr wichtigen Lehren, zum Beispiel in der Frage der Prädestination, finden sich bei unbefangener Auslegung im neuen Testament entgegengesetzte Meinungen. Rechnet man gar zum wesentlichen Teil der neutestamentlichen Botschaft auch die Aussagen über das alte Testament und die Auslegungen alttestamentlicher Geschichten und Worte, so muß man neben erheblichen Unterschieden im Einzelnen auch grobe Irrtümer und grobe Fehlauslegungen feststellen, sobald man unbefangen natürlich versteht. Aber selbst wenn man sich auf die Darlegung der Geschichte Jesu begrenzt, ist es nicht möglich, schreiende Widersprüche zu verkennen und dem Einfluß von Mythus und Legende sowie dem Glauben der ersten Gemeinde erhebliche Umformung der Geschichte Jesu zuzuschreiben. Geht man dann zurück zum alten Testament, so dürfte für natürlichen Sinn nicht zu leugnen sein, daß es in vielem Entscheidenden ganz andre Auffassungen von den Wegen Gottes mit den Menschen hat als das neue Testament, und daß es von Märchen, Mythen und zurückgebliebenen Vorstellungen aus längst vergangenen Epochen der Menschheitsgeschichte erfüllt ist. Mit alledem zerbricht die Vorstellung von der Bibel als einem einheitlichen göttlichen
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OfFenbarungsbuch im unmittelbaren Sinne. Man muß schon die Unterscheidung des Unwesentlichen und Wesentlichen weiterbilden und klar der vergänglichen, wandelbaren und widerspruchsvollen menschlichgeschichtlichen Außenseite der Bibel den darin verborgenen wahrhaften Kern gegenüberstellen, also den Satz, welchen Paulus von seiner Lehre sagt, daß wir den Schatz des Evangeliums nur in irdenen Gefäßen haben, unbefangen auf die Bibel anwenden. Tut man dies aber, so ist der sichere Rückhalt, welchen die Reformatoren des sechzehnten Jahrhunderts an der heiligen Schrift hatten, zerbrochen. Vor allem der Gedanke einer an der heiligen Schrift objektiv lehrmäßig nachzuweisenden Reinheit der kirchlichen Bekenntnisse bedarf einer grundstürzenden Umbildung. Für einfache, nach festen Maßstäben begehrende Christen entsteht, wenn sie dies begreifen, das Gefühl, daß sie auf Moorgrund wandeln. Damit ist jedoch, zweitens die bei der Anwendung von Luthers Auslegungsgrundsätzen sich ergebende Zerstörung der Autorität der Bibel oder auch nur des neuen Testaments noch nicht erschöpft. Die Bibel und auch das neue Testament sind noch nicht einmal in dem Sinne Träger einer einheitlichen Botschaft an das Gewissen, daß man bei der strengsten Beschränkung auf den letzten wesentlichen Gehalt allenthalben die gleiche geisthafte Predigt des Evangeliums finden könnte. Luther selbst hat einige neutestamentliche Schriften, darunter so schöne und tiefe wie den Jakobusbrief und den Hebräerbrief, aus dem eigentlichen neuen Testament herausnehmen und in den Anhang verweisen müssen. Auch bei der gewandtesten Auslegungskunst und der größten Freiheit dem bloß Lehrmäßigen gegenüber bieten sie einige das Evangelium verdunkelnde Aussagen. Die reformatorischen Kirchen sind ihm da entweder gar nicht gefolgt oder haben doch - so die deutschen lutherischen Kirchen - seine Kühnheit allmählich eingeebnet und schließlich ganz als eine an einem frommen Christen tragbare Schwäche beurteilt. In Wahrheit steht nun die Sache noch weit ernster, als Luther gesehen hat. Nicht nur in den von ihm in den Anhang gewiesenen Schriften, vielmehr vielfach durch das neue Testament hin, finden sich Stellen und Worte, welche vom Letzten in Jesus und von der paulinischen Auslegung des Evangeliums abführen. Evangelischer Glaube kann heute die
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Bibel - nehmen wir das alte Testament hinzu, so verschärft sich das Bewußtsein von den letztlich unterchristlichen Elementen der heiligen Schrift erheblich - nur noch so lesen, daß er mit wachem Sinne urteilt über das ihm Mitgeteilte, ob es w i r k lich dem Evangelium gemäß sei oder nicht. Niemand wird zum Beispiel das Wort über die Verschnittenen Matth. 1 9 , 1 2 lesen können, ohne sich klar zu machen, daß hier ein aus dem entschiedenen Essenertum zur christlichen Gemeinde hinübergekommener Mann Jesus eine des Evangeliums nicht würdige Empfehlung einer aus der Religionsgeschichte häufig belegbaren und auch ins jüdische Sektierertum eingedrungenen Praktik angedichtet hat. Wer solche Urteile vermeiden will, ist o f t zu halsbrecherischen Auslegungskunststücken gezwungen, die eines wahrhaftigen Menschen Widerwillen erregen. Der letzte Sinn der Darlegung des Unheils, welches durch folgerichtige Weiterbildung des reformatorischen Schriftprinzips über das evangelische Christentum gekommen ist, dürfte deutlich sein auch ohne viele Worte. Die frei sich erzeugende Einheit von Vernunft und Gewissen, welche die reformatorische Berufung auf die natürlich und zugleich tiefernst ausgelegte heilige Schrift getragen hat, ist f ü r uns nicht mehr in dem alten Sinne da. Damit hat unser evangelisches Christentumsverständnis seinen Rückhalt wider das Papstkirchentum eingebüßt. Wollen wir zu den altevangelischen Aussagen, etwa in der Gestalt, die sie bei Luther oder den unmittelbar auf ihn sich berufenden Kirchen haben, den Rückweg nehmen, so verwandelt sich der evangelische Glaube uns unversehens in etwas durchaus Unreformatorisches, Unevangelisches. Wir müssen dann erstens mit krampfhafter Anstrengung die im sechzehnten Jahrhundert von selbst vorhanden gewesene Autorität der heiligen Schrift zu einem namens der christlichen Kirche den christlichen Gewissen auferlegten Gesetz erheben. Damit wären w i r denn formell in der gleichen Lage wie das Papstkirchentum. Unsere Kirchentümer verlangten von den Gewissen grundlose Unterwerfung unter eine von ihnen aufgestellte Prämisse gesetzlicher Art. Es ist nur folgerichtig, wenn die heute diesen Weg gehenden evangelischen Theologen auch ihre Predigt unter den Gedanken einer autoritativen Mitteilung stellen, welcher die Hörer sich zu unterwerfen haben bei G e f a h r der Seligkeit. Die freiere Humanität aber wird dann
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wohl so urteilen wie Lessing und der junge Schelling. Sie wird die Bibelknechtschaft noch für unerträglicher halten als die Bindung unter einen so vornehmen und eine so große Institution mit Klugheit leitenden Herrn, wie der Papst es ist. Doch das ist noch nicht alles. Mit der krampfhaften Wiederaufrichtung des alten Glaubens an das Gottesbuch und Offenbarungsbuch ergäbe sich zweitens die Notwendigkeit, auch die Auslegung der Bibel autoritativ zu binden, und mit aller Kunst erfahrenen Kirchenregiments die Gemeinden wider eine freie unbefangene Auslegung der heiligen Schrift abzuschirmen. Eine vor wenig mehr als einem Menschenalter von einer deutschen lutherischen Kirche herausgegebene Anleitung für den Konfirmandenunterricht hat mit Betonung den Satz aufgestellt: „Die Bibel ist das Buch der Kirche." Der Satz wurde dahin erläutert, daß der Christ die Bibel allein aus der Hand der organisierten Kirche empfange und sich sinngemäß von dieser unterrichten lassen müsse über Bedeutung und Sinn der biblischen Botschaft. Damit war denn, mit kaum noch sichtbarem Vorbehalt, die Stellung der Papstkirche wieder erreicht, welche die Gewissen der Getauften an die kirchliche Auslegung der Bibel bindet. Es ist schwer vorzustellen, wie evangelische Kirchenmänner es bei solcher Aufnahme einer katholischen These noch rechtfertigen wollen, daß Luther die Bibel entschlossen und frei gegen die Lehre der Kirche, die ihn getauft und erzogen hatte, ausgelegt hat. Man sieht: die Rüdekehr zum altreformatorischen Standpunkt kann heute nichts bedeuten als geradezu die völlige Preisgabe der von der Reformation behaupteten Freiheit des christlichen Gewissens von allen Lehren, Gesetzen und Geboten der verfaßten Kirchentümer. Soll das der Weg sein, so wird gesunder natürlidier Verstand den abgekürzten geraden Weg nach Rom als ehrlicher, folgerichtiger und auch bequemer vorziehen. Wenn nun die Rückkehr zum altreformatorischen Schriftprinzip vermöge ihrer autoritativen Entstellung und Verfälschung aller reformatorischen Aussagen sich praktisch als getarnte Preisgabe der Reformation erweist, so bleibt allen vom Evangelium Luthers angerührten Gewissen nur eine Möglichkeit. Sie müssen in den Zerstörungen des alten Bibelglaubens, welche durch die Reformation wider Willen angerichtet worden sind, die folgerichtige Weiterentwicklung der reformato-
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risdien Grundsätze für die Auslegung der heiligen Schrift erschauernd ehren und dann auf diesem Boden sich die Frage nach dem Wesen des Christentums noch einmal mit dem Ernst echten Gottsuchens stellen. Dies ist der Standpunkt der tieferen Gestalt des Neuprotestantismus. Allein wenn von ihm her ein den Herzen und Gewissen einleuchtendes, sie innerlich bezwingendes J a zum Wesenskern des reformatorischen Christentumsverständnisses sich erringen läßt, wird noch eine echte christliche Selbstbehauptung der evangelischen Kirchentümer wider den Anspruch der Papstkirche, daß sie die wahre eine Kirche Christi auf Erden sei, möglich sein. Damit wären wir wiederum bei der von diesem Buch zu lösenden Aufgabe angelangt. Sie hat nunmehr die nähere Bestimmung erfahren, daß heute allein vom redlich neuprotestantischen Standpunkt aus ein J a zum Wesenskern des reformatorischen Christentums gewonnen werden kann.
C. Zwei Abgrenzungen hat diese Einleitung bisher vollzogen: die wider eine die Gewissensfrage nach der Wahrheit des Evangeliums umschiffende Aufopferung des reformatorischen Christentums an eine Wiedervereinigung mit dem Papstkirchentum, und die wider eine die Nöte und Schwierigkeiten des reformatorischen Christentums verleugnende autoritative Erneuerung des Altprotestantismus, die an ihrer inneren Widersprüchlichkeit sterben müßte. Beide Male ist die Abgrenzung mit Hilfe einer vorläufigen Vergegenwärtigung der geschichtlichen Grundart des reformatorischen Christentums vollzogen worden. Dies Verfahren soll nun auch beibehalten werden bei der dritten notwendigen Abgrenzung, der wider die verstandesmäßig aufgeklärte, den tieferen christlichen Inhalten kühl gegenüberstehende Spielart des Neuprotestantismus, die man am besten als humane Bildungsreligion mit christlichen Symbolen bezeichnen könnte. Man soll der mühseligen kritischen Arbeit, welche während der letzten Jahrhunderte im Bereich der protestantischen Kirchen der Verstand auf dem Felde der Bibelwissenschaft, Dogmengeschichte und theologischen Lehrbildung geleistet hat, die gebührende Ehre nicht versagen. Es handelt sich um den stillen, gewissenhafte Kleinarbeit nicht scheuenden Fleiß ganzer Ge-
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schlechter von emsigen Gelehrten. Wo immer man als Geistesgeschichtler Gelegenheit hat, von dem hier Geschafften Kenntnis zu nehmen, packt einen bewundernde Ehrfurcht. Wir zehren allesamt von den Früchten dieser Arbeit. N u r Unwissenheit kann sie vergessen wollen, und nur Feigheit, welche vor der Wahrheit flüchtet, wird sie in die Nacht des Beschweigens versenken. Die grammatisch-historische Auslegung, welche die Reformatoren im geistigen Bunde mit dem Humanismus auf die Schrift angewandt haben, ist hier weiter entwickelt w o r den zur historisch-kritischen Interpretation. Man erfaßt mit H i l f e der Sprachgeschichte, Religionsgeschichte, Kulturgeschichte, Dogmengeschichte, Literaturgeschichte die biblischen Urkunden bis in die feinste Abschattung hinein, beläßt ihnen allenthalben die E r d f a r b e ihres örtlichen und zeitlichen E n t stehens und holt so eine alttestamentliche und neutestamentliche Religionsgeschichte mit einer ungeahnten Fülle individueller Geschichtsgestalten aus dem Dunkel der Vergangenheit ans Tageslicht. Die naiven Möglichkeiten, biblische Aussagen in gegenwärtige kirchliche Lehre umzusetzen, sind dadurch f ü r den Kundigen - und jeder Theologe, der da will, könnte kundig sein - vernichtet worden. An ihre Stelle tritt die durch dogmengeschichtlichen Vergleich neu erarbeitete Geschichte der Wandlungen und Entwicklungen der theologischen und kirchlichen Lehrbegriffe von der biblisdien Zeit an durch die verschiedenen Epochen der Christentumsgeschichte hindurch bis zum heutigen Tage. Auch hier löst sich eine bloß eingebildete Einheit christlicher Lehre auf in einen ganzen Reigen lebendiger Geistes- und Geschichtsgestalten. Endlich hat dann dieser kritische Verstand die christliche und kirchliche Lehre mit H i l f e der f ü r uns zwingend gewordenen Einsichten neuerer Philosophie und Wissenschaft zu durchläutern gesucht. Er zielt dabei auf Aussagen, in denen menschliche Wahrhaftigkeit und christlich frommer Glaube zur inneren Einheit einer zugleich wissenschaftlichen wie moralisch-religiös reifen Ansicht von Gott, Welt und Mensch sich verbinden. Dabei hat er mit H i l f e von Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Novalis* Fragmenten und Hegels Religionsphilosophie es gelernt und zur allgemeinen Fähigkeit erhoben, Mythen, Kulthandlungen und religiöse Lehren als bildlichen Ausdruck f ü r die Erkenntnis des Unendlichen und Ewigen zu lesen, die
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dem gewöhnlichen Begreifen sidi entzieht. Dies hat denn zahlreichen neuprotestantischen Denkern neue Möglichkeit zum Verstehen und bedingten Bejahen alter christlicher Lehrtümer erschlossen. Was auf diese Weise entstanden ist, darf man nicht unterschätzen. Die evangelische Frömmigkeit ist auf dem Boden dieser Verstandesarbeit umgewandelt worden zu einem vornehmen und durchgeistigten Bewußtsein von dem unentbehrlichen ethisch-religiösen Grunde aller tieferen Humanität und von der human befreienden Geistesgewalt der christlichen Religion als eines unersetzlichen Ferments unsrer europäischamerikanischen Kultur. Bezeichnend ist das Verhältnis dieser neuchristlichen Bildungsreligion zu Jesus Christus. Sie hat zwei - übrigens einander nicht sicher ausschließende - Möglichkeiten, ihn zu verstehen. Einerseits kann sie ihn ehren als den großen sittlichreligiösen Lehrer des Menschengeschlechts, der wegen seiner Bejahung des Leidens und seiner Tiefe des Ewigkeitsglaubens Sokrates und Confucius, mit denen er an sich zusammengehört, gleichsam noch übertrifft. Anderseits kann sie ihn, unter freiem Anschluß an das christliche Dogma der Menschwerdung der zweiten Person der Dreieinigkeit, auch nehmen als ein tiefsinniges Symbol der wesentlichen Einheit des Göttlichen und des Menschlichen. Sie vermag es dann andächtig zu preisen, daß mit diesem Symbol der Wahn aller alten Religion, die angstweckende Fremdheit Gottes zum Menschen, hinweggenommen sei. Auch dem Geheimnis der Passionsfrömmigkeit ist diese zweite Betrachtung in gewissem Umfange erschlossen. Jesus kann ihr unter der Christusidee zum tiefen Wahrzeichen dafür werden, daß der Weg zum wahren Leben immer durch den Tod, der Weg zur echten Seligkeit des religiösen Bewußtseins immer durch die Angst und den Schmerz geht. Die tiefste Möglichkeit dieses Symbolismus der Bildungsreligion ist wohl in Hegels Religionsphilosophie Wirklichkeit geworden. Indes, so gewiß diese Bildungsreligion das beste Teil ihres Besitzes dem reformatorischen Christentum verdankt: die Ferne zur reformatorischen Erneuerung der ursprünglichen christlichen Religion bleibt groß. Sie kann nicht als echte Neuwerdung des reformatorischen Glaubens unter veränderter geistiger Lage gelten. Sie bringt zusammenfassend Voraussetzungen zum Bewußtsein, denen jede neuprotestantische Be-
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lebung und Verjüngung des reformatorischen Christentums genügen muß. Für das Letzte, Persönlichste in Luthers Wiederentdeckung des Evangeliums aber ist sie blind. Sie meint dem Personhaften in Ethos und Religion gerecht zu werden, indem sie der Freiheit und Innerlichkeit der geistigen Individualität im Aneignen und Abwandeln der Elemente dieser Bildungsreligion jeden Spielraum gönnt und viel Sinn für das Moment origineller Selbstdarstellung ethischen und religiösen Erlebens entwickelt. Jedoch sie gleitet vorüber an dem eigentlichen Wunder der christlichen Gotteserfahrung in Glaube und Gewissen, durch welche nach reformatorischer Anschauung der Mensch erst wahrhaft Person wird. Von den beiden Polen des reformatorischen Grunderlebnisses ist das Tiefengeschehen im Gewissen, dadurch der persönliche Glaube geboren wird und die Schrift erst wirklich zum unmittelbar erlebten gegenwärtigen Gotteswort an den Einzelnen sich wandelt, nicht mitgenommen. Es ist hier nun nötig, diese kritische Aussage wider die Bildungsreligion genauer zu entfalten. Allein so kann klar werden, daß es noch eine ganz andre Weise des Neuprotestantismus gibt, welche im letzten verborgenen Geheimnis christlicher Gemeinschaft mit Gott als lebendiges Weiterleben des reformatorischen Glaubens gelten darf. Zwei Grenzerlebnisse sind es, welche gebildeterem Sinn noch heute Anlaß werden, von Gott zu sprechen: die Rätselhaftigkeit allverfügender Schicksalsmacht und das Geheimnis eines alles tragenden geistigen Lebensgrundes. In der Bildungsreligion pflegt man den ersten Grenzgedanken dem zweiten einund unterzuordnen und also den Hochreligionen, voran dem Christentum, Bilder und Handlungen zu entnehmen, mit denen das Geheimnis des geistigen Lebensgrundes für die Deutung und Verklärung des menschlichen Daseins fruchtbar gemacht wird. Auch wenn dabei etwa dem Kultus einer Kirche ein Raum innerhalb des Gesellschaftsganzen zugestanden wird, wird man solche Bildungsreligion schwerlich als mehr nehmen dürfen denn als eine vornehme Spielart der Weltanschauung postreligiöser Prägung. Wie denn auch viele Vertreter dieser Haltung heimlich glauben, daß das Zeitalter der Hochreligionen im Vergehen sei. Der Mangel des Neuprotestantismus, so wie er bloße Bildungsreligion wird, wäre demnach, daß er im Grunde nichts als eine vornehme Welt-
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anschauung ist, welche dem Christlich-Religiösen als einer Bildungsmacht Wertschätzung entgegenbringt und das Absterben der durchgeistigteren Kirchengestaltungen als eine Verarmung, vielleicht sogar Gefährdung der Humanität bedauern würde. Nun ist für wirklich lebendigen christlichen Glauben Gott sicherlich auch rätselhafte Schidksalsgewalt und geheimnisreicher geistiger Lebensgrund. Aber das sind denn doch nur vordergründliche Gewährungen des Göttlichen. Für den christlich Glaubenden ist Er, der durch diese allgemeinen Bekundungen sich erahnen läßt, wesentlich erst da, wo er dem Herzen und Gewissen des einzelnen Menschen erschütternd sich naht, wo er der Seele wird zu Ruf und Frage und Möglichkeit eines die Grenzen des irdischen Daseins zersprengenden höheren Lebens, wo er dem Einzelnen das verborgene Personsein und Personwerden in ewiger erst durch den Tod hindurch sich vollendender Gotteskindschaft auftut. In der krisenhaften Möglichkeit eines solchen Rufs wird Gott als der mit dem einzelnen Menschen zu tun Habende in einem der Bildungsreligion unzugänglichen Sinne eine zu Tode versehrende und zum Leben neugebärende unbegreifliche Heiligkeit und Liebe, unheimlich und beseligend, lähmend und neuschaffend, im Vernichten und im Steigern und Erhöhen ein lebendiges Wunder, welches als echte Ewigkeit hineinbricht in die Enge eines kleinen erd- und geschichtsgebundenen menschlichen Einzellebens. Daß Gott wirklich dies dem Herzen und Gewissen ist, das ist jenes Tiefenschichterlebnis, in welchem die verborgene Hoheit und Gewalt des reformatorischen Glaubens an das Evangelium sich gründet. In der neuprotestantischen Bildungsreligion ist dieser Ursprung des reformatorischen Christentums gleichsam zugedeckt oder verflüchtigt. Man begreift wohl, daß bei Luther irgend etwas von dieser Art geschehen ist, auch, daß es immer wieder Fromme gegeben hat, die darin mit Luther sich eins zu wissen meinten. Man ist auch - wie es für Vertreter einer Bildungsreligion sich schickt - viel zu gebildet, um dergleichen nicht als eine gewissen Individualitäten gemäße Spielart des religiösen Lebens gelten zu lassen. Man gesteht sogar zu, daß daraus der Bildungsreligion je und dann - neben einigen beunruhigenden Verzerrungen - auch schöne und ansprechende Bereicherungen ihrer Bilder und Formen erwachsen
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können. Aber daß hier die letzte entscheidende Wurzel des reformatorisdien Christentums liege, wird man nicht gerne einräumen. In Wahrheit jedoch geht es hier um Sein oder Nichtsein des reformatorisdien Christentums. Was man auch vom Christentum in der Papstkirche Herbes sagen möge: davon, daß Gott nicht bloß Schicksalsmacht und geistiger Lebensgrund, sondern eine an der Person und Seele des Einzelnen w a l tende ewige Wundermacht und der Quellort unbegreiflichen inneren Geschehens ist, weiß man dort. Wenn der Neuprotestantismus dies Geheimnis echter persönlicher Gläubigkeit und Frömmigkeit fahren läßt, so müßte letzten Endes die Papstkirche die einzige Trägerin christlichen Glaubens und Lebens in der Menschheit werden. Die Vertreter der Bildungsreligion müßten es dann lernen, ihre christliche Symbolik auf den Kultus und die Frömmigkeit der Papstkirche umzustellen und hätten sich überdies zu einigen zeremoniellen Anbequemungen an das Kirchenwesen herbeizulassen. Noch von einem andern Punkte her läßt sich diese Abgrenzung eines echten religiös ernsten und tiefen Neuprotestantismus wider neuprotestantische Bildungsreligion vorläufig veranschaulichen. Das in der Oster-Pfingst-Erfahrung sich gebärende junge Christentum hat das Wunderliche an sich, daß es eine enthusiastische Religion ist, welche eine intellektuell zwar niedrig stehende, an Zucht und Ernst der Frömmigkeit aber unvergleichlich starke monotheistische Gesetzesreligion zum Muttergrunde hat. Der wesentliche Gehalt dieses urchristlidien Enthusiasmus aber ist, daß Jesus, der um seines Evangeliums willen Ausgestoßene und Gekreuzigte, wider alle Logik sowohl des Gesetzesdienstes wie gnostischer Mystagogie, dennoch Gottes Heiliger ist, welcher als eine die Grenzen des todverfallenen zeitlichen Lebens zersprengende Ewigkeitsmacht den Herzen und Gewissen seiner Gläubigen mit sie hinnehmender und sie in Kinder Gottes verwandelnder Gewalt gegenwärtig wird. Auch hier handelt es sich um eine Tiefenschichterfahrung, welche die Bande der vorgefundenen Religion zerbersten läßt, indem sie die einzelne Innerlichkeit als persönlich ergriffen auf die Grenzscheide zwischen Zeit und Ewigkeit stellt und sie dadurch von Grund auf verwandelt, sie unter eine neue Weise des Glaubens und Gehorsams treten heißt. Es war die schwere Aufgabe der Träger des aus diesem urchristlichen Erlebnis erwach-
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senden Kirchentums, diesem in Geist und Gewissen dem Ewigen gehörenden persönlichen Glauben, der keine andre Bindung als Jesus Christus den Herrn kannte, eine dem Gedanken und der Rechenschaft und der Zucht und Ordnung die nötige Ehre gebende Geschichtsgestalt anzubilden. Die von uns am reformatorischen Christentum und Kirchentum wahrgenommene Einbettung des Ewigen ins Menschliche ist mit aller ihrer Zwiegestalt unentrinnlich für jede Gestaltung der christlichen R e ligion, welche sich den wahren innerlichen Sinn des mit Jesus gleichzeitig machenden urchristliciien Lebens im Geist erhalten will. Es ist eine Verderbnis des Christentums, wenn der kirchliche Geschichtsleib der christlichen Religion seine Menschlichkeit und seine rein dienende Stellung vergißt und sich zum Herrn der in Christus unmittelbar zu Gott seienden freien einzelnen Gläubigen macht. Das Christentum sinkt dadurch zu einer monotheistischen Gesetzesreligion mit mystischen und intellektuellen Korrekturen herab. Es ist aber auch eine Verderbnis des Christentums, wenn man die Befreiung von Wahn und Knechtschaft einer wieder vergesetzlichten und verkirchlichten Weise des christlichen Glaubens dazu gebrauchen will, die Tiefe des urchristlichen Gewissenserlebnisses loszuwerden, und also den lebendigen Gott aus einem die Seelen und Herzen umpflügenden Wunderwillen zu Schicksalsmacht und geistigem Lebensgrund verblassen läßt. Zwischen diesen beiden Verderbnissen hindurch geht der Weg des echten reformatorischen Glaubens, in seiner neuprotestantischen Gestalt ebenso wie in seiner nicht mehr allgemein erneuerbaren altprotestantischen. Nur wenn das reformatorische Kirchentum noch die K r a f t und Vollmacht hat, bei der ihm auferlegten Wandlung zum Neuprotestantismus sich diesen echten Sinn der reformatorischen Verjüngung des Christentums zu seinem ursprünglichen Wesen hin zu bewahren, lohnt es, daß wir den durch die Reformation veranlaßten Bruch der abendländischen christlichen Einheit weiterhin klaffen lassen, obwohl er der Wirkung des christlichen Glaubens auf die ihm fremder und fremder werdende Menschheit Eintrag tut.
2. Das überlehrmäßige Gepräge des Grundwiderstreits zwischen evangelischem und katholischem Verständnis des christlichen Glaubens
A. Als 1530 einige evangelische Fürsten und Städte die von ihnen eigenmächtig vorgenommene Kirchenverbesserung vor Kaiser und Reich verantworten sollten, legten sie unter der Berufung auf ihr christliches Gewissen jene Schrift vor, welche unter dem Namen des Augsburgischen Bekenntnisses in der evangelischen Kirdiengeschichte zu schicksalhafter Bedeutung gekommen ist. Im ersten Teil dieses Bekenntnisses entwickeln 21 Artikel die Lehrbestimmungen, welche in dem erneuerten Kirchenwesen die Richtschnur abgeben sollen. Im zweiten Teil werden unter sieben Artikeln die Mißbräudie des alten Kirchenwesens besprochen, welche dieser Richtschnur gemäß abzutun waren. Damit werden Reinigung der Lehre und Abstellung von Mißbräuchen allenthalben, weit über Deutschland hinaus, die Gesichtspunkte, unter denen die Kirchenerneuerung von Freund wie Feind aufgefaßt wird. Sintemal nun das, was als Brauch oder Mißbrauch zu gelten hat, von der Lehre her sich ergeben sollte, erscheint der Gegensatz der neuen Kirchentümer wider das alte entscheidend als Lehrgegensatz. Dies ist nun auch ganz der geschichtlichen Art der christlichen Kirche und Theologie gemäß. Von den Apologeten des zweiten Jahrhunderts unsrer Zeitrechnung an ist theologische Darlegung der offenbarten Lehre der als natürlich geltende Ausdruck des christlichen Wahrheitsbewußtseins gewesen. Das geschichtliche Verhältnis von Theologie und Philosophie im Abendland beruht ganz auf dieser Selbstauffassung der christlichen Kirche. Die unermeßliche Bedeutung, welche Geist, Bildung, Reflexion im abendländischen Geschichts- und Völkerkreise gewonnen haben, wäre nie entstanden ohne die Zusammenschmelzung des Evangeliums mit dem hellenischen Erbe, wie sie sich in dieser Ausdeutung der christlichen Wahrheit als Lehre ausdrückt. Nun hat diese Ausprägung des göttlichen Worts in theologisch genauer Kirchenlehre schon im Reformationsjahrhundert selbst einige Verwirrung gestiftet. Der Gegensatz des Evangeliums wider den alten Glauben zersplittert sich dadurch in eine
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große Fülle von Einzelfragen, und die einfachen Grundantworten auf diese Einzelfragen lösen sich auf in eine Kette von fein abgeschatteten, mit großer begrifflicher Kunst zurechtmodellierten Begriffsbestimmungen, welche die beiden entgegengesetzten Pole in fast unmerklicher Bewegung ineinander übergehen lassen. Wenn dann noch eine an sich achtbare Friedensliebe die Verwahrungen und Abgrenzungen, die zu einer Lehraussage sorgsamerer Art nun einmal gehören, unterdrückte, so bedurfte es sehr großer Sachkunde und sehr starken Glaubensernstes, um in dem Gewirr der Bestimmungen und Sätze noch wesentliche Gewissensgegensätze ausgedrückt zu finden. Dazu mußte sich der Ausdruck des Grundwiderstreits unweigerlich verheddern mit den Unterschieden theologischer Individualitäten, welcher auf dem Gebiet des neuen Kirchenwesens naturund sachgemäß einen gewissen Raum beanspruchte. Rechte Lehre kann dem Gewissen, welches von Natur auf das Einfache und Wesentliche gerichtet ist, immerhin helfen, den Glauben an das ihm entgegentretende Wort Gottes durchzuklären. Sie kann es jedoch nur dann, wenn sie dienende Magd bleibt und nicht mit dem Entscheidenden, dem Evangelium, sich verwechselt. Den früh sich zeigenden Mißlichkeiten zum Trotz durfte die Auffassung der kirchlichen Entzweiung unter dem Leitgesichtspunkt von Lehrartikeln im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert wohl für sich in Anspruch nehmen, die dem Zeitbewußtsein natürliche zu sein. Der Widerstreit zwischen dem neuen wissenschaftlichen und dem alt überlieferten christlichen Weltbilde hatte für das allgemeine Bewußtsein noch kaum etwas zu sagen, so daß die theologischen und kirchlichen Auseinandersetzungen davon unberührt zu bleiben schienen. Das geschichtliche Bewußtsein war noch so schwach entwickelt, daß nur wenige etwas von der Unmöglichkeit des Verfahrens ahnten, Sätze aus uralten Urkunden in rein logischer Interpretation als Beweismittel in gegenwärtigem Meinungsstreit zu verwenden. Vor allem aber: das geistige Leben stand noch so überwiegend unter der Herrschaft der gelehrten Stände, daß saubere Begrifflichkeit und logische Begründung, dazu Feinheit der Abschattung, kurz Lehrmäßigkeit nach den Maßstäben der Wissenschaft Grundelemente jeden geistigen Verkehrs und jeder geistigen Auseinandersetzung waren. Auf deutschem geistigen Gebiet hat wohl erst die Lächerlichkeit des orthodoxen
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Versuchs, die pietistische Bewegung als eine Anhäufung von nicht viel unter dreihundert Einzelketzereien aufzufassen, dem allgemeinen Bewußtsein deutlicher gemacht, daß da in dem Verfahren der Kontroverstheologie ein Fehler stecken müsse. Von da an aber läuft denn unter uns der Prozeß, in welchem die Auffassung kirchlicher Unterschiede unter dem Gesichtspunkt von Lehrartikeln ihre überzeugende Kraft verloren hat. Für uns heute ist das Verhältnis zur lehrmäßigen Erfassung kirchlicher Gegensätze durch zwei Tatsachen bestimmt. Einmal, seit der französischen Revolution hat der gelehrte Stand die führende Stellung im allgemeinen geistigen Leben verloren. Auch die sogenannten Gebildeten sind heute ohne eigentlichen Sinn für begriffliche Sauberkeit, gewissenhafte genaue Durdiprägung und sorgsam überlegte Begründung der sie bestimmenden Überzeugungen. Der Geschmack der Masse am groben Schlagwort, abgekürzter Stellungnahme und triebgeladener Scheinbegründung verdirbt selbst den Frommen und Ernsten die Bereitschaft zum geduldigen Aufnehmen und Nachverstehen feinziselierter, den Gedanken und seinen Gegensatz sorgsam bestimmender Lehraussagen. Jeder theologische Lehrer weiß, welch eine harte Mühe es kostet, Theologiestudenten von heute zum feinen und geduldigen Verstehen der Lehrauseinandersetzungen des sechzehnten Jahrhunderts anzuleiten, so daß sie die hinter den Formeln liegenden lebendigen Gewissensfragen und -entscheidungen in ihrer Gewichtigkeit vernehmen. Damit daß man ihnen bloß einen fanatischen Eifer für einige Stichworte und Schulformeln altertümlichen Gepräges beibrächte, hätte man sie ja noch unter das Niveau der Handwerksgesellen und Bauernmägde des sechzehnten Jahrhunderts hinuntergedrückt. Zweitens aber, wir haben das Verhältnis von Lehre und Lebensgestalt tiefer zu durchschauen gelernt. Wir wissen: überall da, wo es um das Verhältnis zum Unendlichen, Ewigen geht, wird die Wahrheit lebendig allein in einer geisthaften, tief innerlichen Einsicht des Gemüts, welche in Lehrbegriff und Lehraussage lediglich hinausgespiegelt wird als ein flimmernder Reflex. Der Unterschied in Glaube und Gottesdienst ist wesentlich und ursprünglich ein Unterschied des im Ganzen einer geschichtlichen Lebensgestalt sich ausdrückenden Geistes und Lebens. Die mit dazu gehörigen Lehren sind nur ein Moment im Ganzen der vom Glauben regierten Lebens-
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gestalt. Die Hingabe an die Lehrartikel im sechzehnten Jahrhundert verstehen wir als eine jener Zeit eigentümliche, heute nicht mehr bestehende sehr enge Koppelung von Geist und Lehre. Was von den Vätern des reformatorischen Glaubens dabei letztlich gemeint wurde, müssen wir uns erst klar machen, indem wir von der erscheinenden Gestalt einschließlich der lehrmäßigen Fassung uns zurücktasten zu dem im verborgenen Grunde des Gewissens mächtigen Geiste und Leben. Nach dem, was wir heute allein noch Lehre nennen können, ist somit der Grundgegensatz zwischen reformatorischem und altem Christentumsverständnis nur dann echt und wirklich scheidend, wenn er überlehrmäßiges Gepräge hat. Dies Überlehrmäßige an ihm herauszufinden ist die hier aller wirklichen Erkenntnis aufgeladene Mühe. Wen diese Mühe zu hart dünkt, den darf man wohl daran erinnern, daß Luther jedem, der da persönlich Christ werden wollte, eine ähnliche Mühe auferlegt hat. Er hat gern unterschieden zwischen dem geschichtlichen und dem aneignenden Glauben. Besonders da, wo er auf Karfreitag und Ostern zu sprechen kommt, erinnert er an diesen Unterschied. Geschichtlicher Glaube ist ihm dabei ein Begriffszeichen, welches den gesamten Inbegriff von Dogma und Heilsgeschichte - beides als eine für ihn untrennliche Einheit genommen - meint. Man könnte sagen, der geschichtliche Glaube umfasse für Luther den gesamten Inhalt des Apostolikums, oder auch, er umfasse die Heilstatsachen von Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten in der Beleuchtung, die sie im gemeinchristlichen Dogma empfangen. Wer diesen geschichtlichen Glauben als objektive Tatsache hinnimmt, ihn für selbstverständlich wahr hält, sich wohl gar wundert, wie einer so dreist sein könne, an diesen Heilstatsachen zu zweifeln, der hätte heute eine Geisteshaltung, die ihn gegen das allgemein menschliche Bewußtsein unterscheidet und nicht jedermann selbstverständlich wäre. Dazumal jedoch dachte er eben nur, was so die meisten, ja beinahe alle Menschen dachten im abendländischen Geschichtskreise. Und nun meint Luther, daß die Hinnahme dieses gemeinchristlichen Lehrinhalts noch nicht wahrhaft zum Christen mache. Es komme darauf an, daß einem in diesem Lehrinhalt mit seiner zweifellosen objektiven Wahrheit das Evangelium zur gegenwärtigen Macht an Herz und Gewissen
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werde. Das Evangelium müsse einem durch die Erschütterung von Zorn und Gericht hindurch zum persönlichen Trauen auf die in Christus sich erschließende heilige göttliche Gnade und Liebe werden, so daß man vom objektiven geschichtlichen Glauben zum persönlich aneignenden Glauben fortschreite. Erst dieser aneignende Glaube mache wahrhaft zum Christen und Gotteskinde. Luthers Unterscheidung zwischen geschichtlichem und aneignendem Glauben entspricht somit genau der zwischen dem offenbaren, durch die Vernunft erfaßbaren Inhalt der heiligen Schrift an Lehren und Heilstatsachen einerseits, dem tiefverborgenen, allein vom Geist im Herzen angezündeten Inhalt der heiligen Schrift als des uns persönlich gegenwärtig werdenden Wortes Gottes anderseits. Luther hat gewußt, daß der wahrhafte Glaube sich nicht auf den Lehrgehalt als solchen bezieht, sondern auf die ewige göttliche Wahrheit, welche mit dem - nach Luther auch beim besten Willen des Predigers immer noch mangelhaften - Lehrinhalt zum Herzen hin sucht. Hier zeigt sich tatsächlich ein wesensmäßiger Unterschied zwischen dem Glaubensbegriff Luthers und dem der evangelischen Durchschnittstheologen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, darunter zum Beispiel Melanchthons. Alle evangelischen Theologen wissen, daß vom christlichen Glauben eine persönliche Überzeugung, welche auch das Innere des Gemüts bestimmt, unabtrennlich ist. Reines blankes Teilhaben am Kirchenglauben ohne solch ein persönliches Moment tut es nach keinem altevangelischen Lehrer, er sei sonst ein noch so starrer Orthodoxist. Aber da ist ein Unterschied. Für Melanchthon ist das persönliche Moment am Glauben zweifellos nichts als der Trost und der Halt, welche von einem inneren Anteilhaben an einem Gemeingute innerhalb jeder sittlich-religiösen Gemeinschaft oder Gesellschaft ausgehn. Die einzelnen Glieder dieses Zirkels der Berufenen, welchen man Kirche nennt, sind sich des schönen Gehalts der ihnen in der kirchlichen Schul- und Erziehungsgemeinschaft zum Glauben mitgeteilten Lehre dankbar bewußt und empfinden ihn als ihr kostbarstes Gut im Leben und im Sterben. Luther hingegen meint es ein wenig anders. Er hält das Gemeingut des lehrend mitteilbaren Kirchenglaubens nur für den Boden eines tieferen Ereignisses, eines persönlichen Hindurchbrechens der einzelnen Seele, des einzelnen Herzens
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zur Gemeinschaft mit dem ewigen Gott, für den Boden also eines durchaus eigenständigen verborgenen Geschehens zwischen der einzelnen Seele und dem sich ihr gegenwärtig machenden Gott. Man braucht Luther nicht erst zu sagen, wie hochgespannt diese Vorstellung vom aneignenden Glauben als dem einzigen echten persönlichen Christsein ist. Er hat es mit Beben gespürt und gewußt, daß unter den vielen braven und sozusagen auch überzeugten Hörern kirchlicher Predigt und Gliedern kirchlichen Unterrichts nicht allzu viele sind, in denen das Wunder dieses persönlichen Durchbruchs lebt. Dennoch hat er so gedacht und gesprochen, wie angegeben ist. Nicht die orthodoxen Lehrer, sondern Spener, Francke, Zinzendorf, Sdileiermacher, welche allesamt von diesem Hindurchbrechen durch den Kirchenglauben zum eigenen Erfahren des in Zorn und Gnaden zum Herzen sprechenden Gottes wissen, sind hier seine echten Schüler. So ist der geistgewirkte Glaube für Luther das Ja, mit welchem Herz und Gewissen die Gewalt des in seinem Wort gegenwärtig an ihnen handelnden ewigen Gottes erleiden. Wer so denkt, dem müssen sich an einem im Wort Gottes gegründeten Glaubensartikel - andre Glaubensartikel gibt es für Luther nicht - der die Herzens- und Gewissensmacht übende Sinngehalt und die kunstmäßige Fassung dieses Sinngehalts durch Theologie und Kirche irgendwie auch unterscheiden. Sieht man sich nun Luthers Lehrweise daraufhin an, so entdeckt man leicht dreierlei. Erstens, er hat an der überlieferten Theologie eine Umschichtung des Wichtigen vorgenommen, welche erstaunlich ist. Die altheiligen kirchlichen Lehren, Dreieinigkeit und Christologie, schrumpfen zu bloßen Voraussetzungen zusammen, welche in einer alle theologische Kunst unter sich lassenden sehr vereinfachten Gestalt gegeben werden. Nur im theologischen Meinungsstreit läßt Luther einen gelegentlich spüren, daß er hier ein in den spitzigsten überlieferten Feinheiten sich auskennender Fachmann mit sehr eigentümlichen Gedanken ist. Im Gegensatz dazu wachsen bei ihm alle Aussagen, welche die Glaubenserfahrung im Zusammenhang des inneren Lebens durdisiditig machen, unerhört an Umfang, Feinheit, Genauigkeit. Zweitens erzieht Luther den bei ihm Lernenden dazu, den Ausdruck für Gottes Handeln am Herzen durch Gesetz und
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Evangelium möglichst reich und lebendig und beweglich zu gestalten und sich des überschwenglich Geheimnisvollen, des nur in Antinomien und Paradoxien Erfaßbaren am göttlichen Wort bewußt zu werden und zu bleiben. Er gehört zu jenen Denkern, welche jeden Augenblick vom Mittelpunkt her das Ganze zu erfassen suchen und den sich bietenden Ausdrude je nach dem Zusammenhang abwandeln. Bekanntlich bedürfen solche Denker stets einer sehr großen inneren Klarheit und Bestimmtheit, weil sie die Kleinstützen des Schulmanns und Logikers verschmähen. Drittens ersetzt sich bei Luther die dem Zeitalter gemäße Art des Schriftbeweises häufig genug durch eine Besinnung darauf, ob eine bestimmte Lehre, ein bestimmter Brauch dem Glauben, welcher im Evangelium Gottes lebendige Gunst erfährt und allein auf die göttliche Huld und Liebe in Christus traut, förderlich oder schädlich sind. Wider das Meßopfer argumentiert er in den Schmalkaldischen Artikeln so: wenn er sein Vertrauen auf die Gnade des für ihn den Kreuzestod erleidenden Christus setze und darin Frieden und Gerechtigkeit im Gottesverhältnis empfange, so könne ihm das Opferwerk des Meßpriesters nichts für sein Verhältnis zu Gott bedeuten, ja, noch mehr, er müsse einem Herzen, welches seine Gewißheit von Gottes Huld und Liebe auf das Werk des Opferpriesters in der Messe gründe, Abgötterei vorwerfen. Für den schlichten Sinn, welcher durch das ihm hie wie dort Entgegentretende hindurch nach dem ewigen Gott fragt, werden der Gekreuzigte und der Meßpriester zwei einander ausschließende Wege zum Frieden Gottes. In Golgatha wird der Friede von Gott selbst umsonst aus Gnaden geschenkt, in der Messe durch ein menschlich-priesterliches Tun werkhaft beschafft. Luther hat die Meßtheorien besser und genauer gekannt als selbst viele Meßpriester. Er hat also auch von den lehrmäßigen Verknüpfungen zwischen Golgatha und dem Meßopfer gewußt. Indem er die überlehrmäßige Frage nach dem Träger der zum Gewissen sprechenden göttlichen Gegenwart stellt, entsteht das unausweichliche Entweder /Oder zwischen dem Gekreuzigten und dem Meßpriester, zwischen Golgatha und der menschlichen Opferveranstaltung. Auf dem Regensburger Reichstag 1541 gelang es unter der kurzsichtigen und ängstlichen Leitung der evangelischen Vertreter, bei den Unionsverhandlungen in nahezu allen Lehr-
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p u n k t e n F o r m e l n z u leimen, mit denen beide Parteien sich a b finden konnten. B e i m M e ß o p f e r jedoch brach es auseinander. D e r K a i s e r v e r a n l a ß t e eine G e s a n d t s c h a f t an L u t h e r m i t der F r a g e , o b sich nicht auch hier eine Eintrachtsformel finden lasse, d a m a n s o g a r in der Rechtfertigungslehre einig g e w o r d e n sei. Luthers A n t w o r t lautete schlicht d a h i n : wenn m a n sich über die Messe nicht einigen könne, so beweise dies, d a ß m a n in der Rechtfertigungslehre gleichfalls uneinig sei. D e u t e t sich in dieser A n t w o r t nicht an, d a ß L u t h e r einen überlehrmäßigen M a ß s t a b f ü r den Ausdruck des E v a n g e l i u m s im M e d i u m des begrifflichen Denkens hatte? E s d ü r f t e somit v o n L u t h e r her rechtmäßig sein, den wesentlichen G e h a l t u n d Geist des reformatorischen G e g e n s a t z e s w i der das v o r g e f u n d e n e V e r s t ä n d n i s des christlichen G l a u b e n s a u f einem neuen, die alten L e h r f o r m e l n hinter sich lassenden W e g e z u erfassen.
B. D i e endliche V e r s t ä n d i g k e i t unsers Zeitalters ist so toll a u f praktisch h a n t i e r b a r e R e g e l n u n d G e s e t z e f e s t g e p r ä g t e r A r t versessen, d a ß ihr die V o r s t e l l u n g v o n einer überlehrmäßigen Wahrheit, die a u f v e r b o r g e n e innerliche Weise das G r u n d v e r hältnis eines H e r z e n s u n d Gewissens z u G o t t bestimmt, durchaus f r e m d u n d s o n d e r b a r scheint. E s ist nötig, d a s , w o r a u f es a n k o m m t , z u veranschaulichen u n d einzuüben. D a z u bietet sich nun d a s berühmteste Stüde alt-evangelischen G l a u b e n s z e u g n i s ses, Luthers E r k l ä r u n g der drei A r t i k e l des alten christlichen T a u f b e k e n n t n i s s e s im Kleinen Katechismus. D a s an sich gegen E n d e des zweiten christlichen J a h r h u n d e r t s in R o m entstandene sogenannte A p o s t o l i k u m ist nicht in seiner ursprünglichen, sondern in einer durch Z u s ä t z e erweiterten G e s t a l t v o n der abendländischen Kirche a u f b e w a h r t w o r d e n . L u t h e r h a t es so genommen, w i e er es im lebendigen Brauche f a n d . N u r bei einem besonders späten Z u s a t z , „ C o m m u n i o s a n e t o r u m , G e meinschaft der H e i l i g e n " , welcher der Sicherung des H e i l i g e n u n d Reliquiendienstes dienen sollte, hat er durch E i n s e t z u n g des Ausdrucks „ G e m e i n d e der H e i l i g e n " die D e u t u n g auf den urchristlichen G e d a n k e n einer verborgenen inneren V e r b u n d e n heit aller w a h r h a f t C h r i s t g l ä u b i g e n sichergestellt u n d den so verstandenen Begriff unter dem N a m e n der „ C h r i s t e n h e i t " z u m
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Herzpunkte seiner Erklärung des dritten Artikels gemacht. Wir sagen heute in der Regel nicht mehr wie er „Gemeinde der Heiligen", sondern sind zu dem älteren Ausdruck zurückgekehrt. Aber seine Zurechtdeutung des im ursprünglich gemeinten Sinn für evangelische Christen unerträglichen Ausdrucks haben wir beibehalten, oft ohne Ahnung, was wir hier seiner Freiheit verdanken. Indes wichtiger als diese Einzelheit ist die Art, wie Luther das Apostolikum im Ganzen behandelt hat. Nach der zu seiner Zeit üblichen Legende war das Bekenntnis von den zwölf Aposteln gemeinsam verfaßt worden, indem jeder der Reihe nach ein Teilstück sprach, und demgemäß gliederte man es auch in zwölf Artikel, welche nun sozusagen die zwölf Grundaussagen des christlichen Glaubens aneinander reihten. Luther schob die Legende beiseite und stellte die ursprüngliche Teilung in drei Artikel wieder her. Ein Blick in einen heutigen katholischen Katechismus zeigt, wie schon dieser kleine Griff den Sinn des Ganzen vertieft und verlebendigt. Bei der Zerstückung in die zwölf Artikel der Legende und des katholischen Katechismus geht die Ursprünglichkeit des Sinns, welche dem Apostolikum einen so feinen seelenhaften Duft verleiht, verloren. Indes auch diese Rückkehr zum Alten erschöpft die Eigenheit von Luthers Behandlung des alten Taufbekenntnisses nicht. Die drei langen Sätze, welche das Apostolikum erklären, sdimelzen die vielen Einzelheiten, welche vom Bekenntnis erwähnt werden, zusammen in drei schlichte, das Ganze des Gottesverhältnisses aussprechende Grundaussagen eines frommen christlichen Herzens. Der geschichtlich-dogmatische Glaube ist umgesetzt in den aneignenden persönlichen Glauben, was den auf handgreifliche dogmatische Objektivitäten versessenen Geistlichen und Religionslehrern und -lehrerinnen beim Unterricht immer die ärgerlichsten Schwierigkeiten macht. Nach der ausdrücklichen Angabe Luthers ist der kleine Katediismus an sich bestimmt für den schlichten christlichen Hausvater, welcher seine Familie und sein Gesinde in die Hauptstücke des christlichen Glaubens und Dienstes hineinbilden und hineinerziehen will. Als die ihn in seinem eigenen christlich glaubenden Herzen regierende Wahrheit spricht dieser denen, die er lehrt und erzieht, die Erklärungen vor. Indem sie das Gesagte hinnehmen, verstehen, lernen und aneignen, werden
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sie und er in der Einheit eines Glaubens, Erkennens und Dienens miteinander verbunden zu einer im Letzten und Heiligsten sich einigenden Hausgemeinde. Für Evangelische unter katholischer Obrigkeit ist dies betende Sichvergegenwärtigen des Katechismus neben dem Singen eines evangelischen Liedes die wesentliche religiöse Übung gewesen, die selbst bei den dürftigsten Bildungsverhältnissen möglich war und auch durch das polizeiliche Wegnehmen der sonntäglich vorgelesenen Bibeln und Postillen nicht vernichtet werden konnte. Man sieht an der Erklärung des ersten Artikels - ebenso wie etwa an der der vierten Bitte des Unservaters - , daß Luther den so mit den Seinen den Katechismus andächtig sich vergegenwärtigenden Hausvater sich als kleinen Handwerksmann oder Ackerbürger oder kleinen Bauern denkt. An ihm, wenn er die Erklärung des ersten Artikels betet, erleben Weib, Kinder und Gesinde, wie er alles, was er hat, Gesundheit, Leben, irdisches Gut und Nahrung, Segnungen und Behütungen in Not und Gefahr, als Gottes Tun und Walten an ihm, dem Unwürdigen empfindet und bei allem Nichtfehlen von Not und Plage doch immer noch meint, seinem Herrn und Vater danken und dienen zu sollen. Wenn nun schon er, der ihnen gegenüber doch ein gebietender und mächtiger Walter über Leben und Geschick ist, solches von sich bekennt: wie leicht und natürlich macht es sich da für sie, die Geringeren, in den gehorchenden Stand hinein Gebeugten, mit der gleichen wehrlosen, vertrauenden, kein eigenes Recht kennenden Übergabe an den ewigen Gott, Schöpfer und Vater zu leben in Demut und Dankbarkeit. Die Schwierigkeiten, welche heutigen Geistlichen und Lehrern in einer äußerlich ganz anders gewordenen Gesellschaft Luthers Erklärung des ersten Artikels bereitet, entstehen rein dadurch, daß das Stück aus seinem natürlichen Boden losgerissen werden mußte und in rein abstrakter, situationsloser Lehrmäßigkeit naturgemäß für die meisten es lernenden Kinder tolle objektive Unrichtigkeiten enthält. So wie Luther die drei Artikel erklärt, übersetzen sie sich also ganz in die sich gegenwärtige Subjektivität frommer christlicher Gläubigkeit. Christlich gläubiger Sinn spricht in seiner ihm unmittelbar gegebenen besonderen Lage vor andern die ihm im christlichen Glauben gewährte Gründung seines Denkens und Lebens in Gottes Wort, Werk und Willen so schlicht
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und rückhaltlos aus, daß er bis in die Wurzeln seines persönlichen Seins und Wesens durchsichtig wird und nidits ihm Wichtiges und ihn Bestimmendes vergessen ist. A m einfachsten gewahrt man die Eigenheit dieser Auslegung, indem man im ersten Artikel die Verwandlung der objektiven metaphysischdogmatischen Lehre von der Schöpfung in das unmittelbare gegenwärtige Erleben und Bekennen der Kreatürlichkeit und des mit ihr gegebnen persönlichen Gottesverhältnisses beachtet. Wenn man die Polemik des Neuprotestanten Schleiermadier in seinen Reden über die Religion wider die Verfälschung echter frommer Aussagen zu objektiven metaphysischen Kunstlehren auf die Lehre von der Schöpfung anwenden möchte und diese also in ihre unmittelbar dem Geiste gegenwärtige Wahrheit rückzuübersetzen versucht, so kommt man bei Ernst und Gründlichkeit und einiger persönlicher Tiefe und Leidenschaft ungefähr bei Luthers Erklärung des ersten Artikels an. Daß dabei die Lage des diesen Artikel Betenden audi zufällige individuelle Züge enthält, die bei andern Betenden sich entsprechend verschieben, wird nichts als die Probe auf die Echtheit der U m setzung. Und nun bedenke man, daß Luther bei seiner Predigt über die Schöpfungsgeschichte mit den Worten begonnen hat, man müsse diese lesen als Zeugnis von einem gegenwärtig heute Geschehenden, das uns unser Leben und Sdiicksal, so wie sie eben jetzt sind, erwirkt. Soll dies alles im Ernst gelten, so wird wohl der ganze Streit zwischen altprotestantischer und neuprotestantischer Theologie und Reflexion um die mythischen und phantastischen Momente einer zeitlichen Weltschöpfung belanglos. Allein dies scheint wichtig, ob der einzelne Mensch sich selbst mit seinem Leben und Geschick als unbegreiflich und geheimnisvoll von Gott gewirkt und empfangen verstehen kann in einer ihm Dankbarkeit und Demut weckenden Abhängigkeit von Gott. Luther ist in seiner Erklärung des ersten A r tikels von Mythos und Metaphysik zurückgegangen zu einem überlehrmäßigen Glauben, in welchem Gott mir, mir in meiner Einzelnheit und Bedingtheit, zu dem an mir als Schöpfer und Vater Waltenden wird. Irgendwelche Gedanken lehrhafter A r t mag man damit verbinden, so oder so. Doch nicht diese Ausformungen der Reflexion, sondern eine an unserm Geiste mächtige überbegriffliche Wahrheit ist das Entscheidende, und in diesem mögen sich solche, deren kunstmäßige Lehren und
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Reflexionen voneinander abweichen, sehr wohl einig sein. Es leuchtet nun ohne viel Auseinandersetzung ein, daß Luther auch in den beiden andern Artikeln diesen Rückgang auf das Persönliche und Gegenwärtige, auf das den Glaubenden und Bekennenden unmittelbar Meinende und Bestimmende vollzogen hat. Wir dürfen gleich das für unsre Betrachtung Entscheidende hervorheben. Diese Erklärungen des christlichen Glaubens sollen doch nach Luthers Meinung rein und klar den reformatorischen Glauben ausdrücken, der für ihn allein der rechte christliche Glaube ist. Das heißt aber: für Luther ist hinter den schlichten Worten in einer überlehrmäßigen Tiefe das ganze leidenschaftliche Nein zu den Entartungen und Verderbnissen des papistischen Christentums und Kirchentums verborgen. Wer die Erklärungen der drei Artikel im Sinne Luthers mit christlichem Ernst betet, ist damit von Kirchenhörigkeit, Beichtbuße im überlieferten Sinne, Meßopfer, Mönchtum, frommem Sonderwerk und Heiligenanrufen wie von zahllosen andern Betätigungen der Frömmigkeit im Papismus für immer geschieden. Im Verständnis des christlichen Glaubens, wie es vom zweiten Hauptstück des Kleinen Katechismus ausgesprochen wird, - ach wie wenige evangelische Theologen und Christen wissen das - ist der Widerspruch der Reformation gegen das Verständnis des Christentums in dem vom Papsttum regierten Teil der abendländischen Christenheit schneidend scharf enthalten. Erst indem man dies sieht, wird einem das Überlehrmäßige des Grundunterschieds zwischen beiden Kirchentümern klar. Nimmt man die Gedanken und Urteile, in denen Luthers Erklärung des ersten Artikels den Glaubenden und Bekennenden seine Abhängigkeit von Gottes Schaffen und Walten aussprechen läßt, bloß obenhin auf, so könnte man wohl meinen, daß man sich hier auf einem allgemein religiösen Felde bewege, welches in human-philosophischer, heidnischer, jüdischer, römisch-katholischer und evangelischer Betrachtung des göttlichen Tuns am Menschen sich ziemlich gleich ausnehme. In der Tat ist nun Luther auch der Meinung, daß es aller Religion wesentlich sei, sich Gottes als des Gebers alles Guten, des Brunnens alles Guts zu versehen und betend, bittend, dankend, lobend ihm als einem solchen zu nahen. Er meint ausdrücklich, daß ein solches Sichbeziehen auf das göttliche Schaffen und Walten das dem
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Gottesglauben und der Abgötterei Gemeinsame sei. Erst innerhalb dieses Allgemeinen tun die Unterschiede sich auf. So muß man denn mit geschärften Sinnen die Worte aufnehmen - etwa so, wie ein rechter Beter sie sich aneignet - um die Tiefe zu gewahren, in welcher sie Ausdruck reinen und lauteren Glaubens an das Evangelium sind. Tut man dies aber, so brechen in den Worten die Unterschiede nicht nur gegen heidnische und jüdische, sondern auch gegen papistische Frömmigkeit auf. Einmal, der Glaubende und Bekennende spricht in dieser Erklärung des ersten Artikels seine Abhängigkeit vom Schaffen und Walten des Allmächtigen so entschieden aus, daß sein Glauben und Frommsein reines unbedingtes Gotterleiden ist, freilich ein stilles und demütiges und dankbar sich ergebendes Gotterleiden, jedoch ein unbedingtes. N u r die Worte der Bergpredigt wider alles Sorgen und Fragen, welche uns die Lilie und den Vogel als Beispiele soldien unbedingten Gotterleidens vorhalten, haben eine ähnliche Ausschließlichkeit und Rückhaltlosigkeit. Sofern das menschliche Wirken und Arbeiten mitgenommen ist, wird es empfunden als Wirkemöglichkeit, die vom Allmächtigen gewährt und von seinem Alleinwirken getragen ist. Sodann aber, das, was der Allmächtige auf solche Weise am Menschen tut, hat seinen Quell und Grund in freier Güte, die reines Schenken ist. Es sei nun viel oder wenig, das man empfange an Leben, Gut und Wirkemöglichkeit: es ist immer und ganz unverdient, ist in keiner Weise als Lohn, Vergeltung oder dergleichen zu verstehen. Der hier Glaubende und Bekennende hat zu dem, was er ist und hat und vermag, ebenso wenig getan als Lilie und Vogel. Eben weil dem so ist, werden die Unterschiede im Empfangenen so belanglos, daß ihrer gar nicht gedacht wird. Was Gott auch gebe, er ist die freie Güte, der gegenüber man beschämt dasteht. Nimmt man beide Seiten zusammen, so ist alles Gesetz, humanes wie heidnisdies wie jüdisches wie katholisch-frommes, aus dem Verhältnis zum Schöpfer, Vater und Allwalter ausgeschieden. Fromm sein heißt, sich so entschieden als rein Gott Erleidenden, rein aus Gott Empfangenden wissen, daß aller Gedanke der Gesetzesreligion, man könne sich bei Gott etwas erwerben, und Gott sei in seinem Tun und Handeln an uns ein Vergeltender, ins Nichts versinkt. Christus ist des Gesetzes Ende. Indem der in allen Begegnungen des Lebens an uns handelnde, uns immerdar neu er-
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schaffende Gott als Vater geglaubt und empfangen wird, haben wir es in den Widerfahrnissen des Lebens, ja in unserm eigenen kreatürlidien Sein und Wesen allein mit dem Gott des Evangeliums zu tun, der nichts als schenkende Liebe ist. Etwas wissen freilich auch Humanität, Heidentum und Judentum und die mit Gesetzesdienst und Gesetzesglauben vermischte Gestalt des katholischen Christentums von Gottes Güte und Liebe und Gnade. Allein im reinen, christlichen Glauben aber, wie die Reformation ihn erneuert, ist das Verhältnis zu Gott so ganz aufs Evangelium gestellt, daß Gott uns auch als der heilige Herr und Wirker alles uns widerfahrenden Weltgeschehens nichts als der uns liebende Vater Jesu Christi ist. Auch Luther weiß von Gottes Zorn und Gesetz und Vergeltung. Der Beschluß des ersten Hauptstücks über die zehn Gebote zeigt es. Er weiß auch, wie natürlich die Erfahrungen des Weltlaufs dem menschlichen Sinn eine Deutung nach der Logik der Gesetzesreligion aufzudrängen scheinen. Auch dies ist ihm bekannt, daß eine Mischung vom Glauben an das Evangelium mit dem Gesetzesdienst und Gesetzes- und Vergeltungsglauben dem Christen oft als das Vernünftigste erscheint. Nimmt sie sich nicht wirklich aus wie ein Ausgleich der tieferen Erkenntnis des Evangeliums mit den Bedürfnissen der Vernunft, denen einer Religion heidnisch-jüdischer Art und ebenso denn mit den Neigungen alltäglicher Kirchlichkeit? Aber eben dies ist nun die überlehrmäßige Tiefe von Luthers Erklärung des ersten Artikels, daß von ihm her jedes Hineinsinken in den Gesetzesglauben und Gesetzesdienst oder das Vermischen des Gesetzesglaubens und Gesetzesdienstes mit dem Evangelium Verunreinigung, Verdunkelung des Christusglaubens wird. Wunderlich und zugleich wundervoll ist es, wie Luther hier die Verwahrung des Glaubens an das Evangelium wider alle unterchristliche Frömmigkeit innerhalb und außerhalb der christlichen Kirchen ohne jedes polemische Wort so deutlich zu machen weiß, daß die Freiheit des gläubigen christlichen Gewissens von der Welt und dem Gesetz mit leuchtender Klarheit dasteht. Die Erklärung des ersten Artikels läßt den ganzen Psalter in dessen ursprünglichem Sinn und auch einen erheblichen Teil des Gesangbuchs tief unter sich. Beim zweiten Artikel des Apostolikums weiß der Kenner der Geschichte der Taufbekenntnisse, daß der ursprüngliche
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Herzpunkt hier eine an Philipp. 2 anschließende Aussage gewesen ist: Jesus der Gekreuzigte und Erhöhte ist der Herr des gläubigen Christen geworden, indem er in erlösender Liebe mit dem freiwilligen Gang durch den T o d sich uns gleichgemacht und die ihm Glaubenden aus der Knechtschaft unter Sünde, Tod und Teufel herausgerissen und zur Freiheit der Kinder Gottes erhoben hat. Man hat es oft bewundert, wie Luther in seiner Erklärung aus dem mit vielen Einzelaussagen aufgefüllten Artikel dies Herzstück herausgefühlt und zum alleinigen Inhalt der Glaubensaussage gemacht hat, welche in der Subjektivität persönlicher Vergegenwärtigung Jesus den Gekreuzigten und Erhöhten als unmittelbar am Herzen waltenden Herrn und Heiland preist. Die Rückübersetzung eines mit mancherlei prekären geschichtlichen Behauptungen durchsetzten Lehrstücks in die Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit der Glaubenserfahrung ist von vollendeter Meisterschaft. Wiederum aber ist dies nur Vorbedingung und noch nicht Wesenskern der tiefen Überlehrmäßigkeit, welche Luthers Erklärung des zweiten Artikels als Ausdruck streng evangelischen Glaubens hat. Die Gedanken und Bilder, mit denen Luther den Glauben an den Herrn und Erlöser beschreibt, können bei ihrem neutestamentlichen Gepräge leicht als schlicht gemeinchristlich aufgefaßt werden. Der gesammelte Ernst persönlicher Vergegenwärtigung aber läßt in ihnen die tiefe Scheidung des lauteren und strengen Glaubens an das Evangelium wider alle unentschiedenen kirchlichen Mischbildungen aufbrechen. Einmal, der Glaubende und Bekennende spricht nicht die Vorstellung einer heilsgeschichtlichen Erlösungstat, welche der gefallenen Menschheit zugute komme, aus, sondern bekennt sich selber als einen von Jesus Christus aus Gottverlorenheit und Sünden- und Todesverknechtung unbegreiflich Erlösten, Befreiten, und so wird der Erlösungsglaube mit seinem Kontrast zum Träger des ganzen übersinnlichen Gottesverhältnisses in allen seinen Regungen. Gott wird im Glauben an Jesus rein und ganz der Gott des Evangeliums, welcher durch seine den Einzelnen persönlich greifende vergebende Liebe jeden Augenblick ewige Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit in dem verlorenen, ihm fremd Gewordenen schafft. Allein aus dieser Tiefe der Erlösung vermag ein solcher vom Gesetz befreiter Glaube an den Schöpfer
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und Erhalter, wie die Erklärung des ersten Artikels ihn ausspricht, zum Lebensgrunde zu werden. Das Austilgen des Gesetzesglaubens und -dienstes aus der Gemeinschaft mit Gott in Christus erhält seine Befestigung. Sodann aber, diese Erlösung vollbringt Jesus der Gekreuzigte und Erhöhte in der einzelnen Seele mit der unmittelbaren Nähe und Gegenwart seines Gangs durch den Kreuzestod hin zum Leben beim Vater. Er tritt als der Befreier zum christlichen Gottesverhältnis unmittelbar dem Einzelnen als der Herr gegenüber. Der Gang des Christenherzens durch den Tod zum Leben in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit - ein Gang, der jetzt heute immerfort schon geschieht, also erfahrene Wirklichkeit des Glaubens ist er ist Gleichgestalt mit dem Gange, welchen der Herr dieses Herzens durch den Tod zum Vater getan. Nichts, nichts schiebt sich in diese Unmittelbarkeit der Gemeinschaft zwischen dem Herrn Jesus und den durch ihn auf dem Wege der Erlösung Getragenen ein. Was es an Vermittlungen geben mag, ist nur zufällig und gleichgiltig und insofern vergessen, wenn man vom Wesentlichen des Glaubens im Gottesverhältnis spricht. Damit entfallen nicht nur die Zwischenschaltungen der Gesetzesreligion, sondern mit ihnen - als ihnen im Wesentlichen gleichsinnig - auch die der kirchlichen Lehre, der kirchlichen Ordnung und des kirchlichen Gottesdienstes. Ebenso wie die Erklärung des ersten Artikels enthält audi die des zweiten, im überlehrmäßigen Ernst des auf Gott gerichteten Glaubens verstanden, ein Hinausnehmen des Glaubens an das Evangelium aus allen nodi so heiligen Lehren, Gesetzen, Geboten und Vermittlungen. Die urchristliche Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott, welche uns Heutigen leicht als gar zu enthusiastisch erscheint, ist mit Entschiedenheit wiederhergestellt. Man darf auch hier an Schleiermacher erinnern. Er hat gesagt, das evangelische Christentumsverständnis unterscheide sich so vom katholischen, daß es das Verhältnis zur Kirche durch den Glauben an Christus bedingt sein lassse, das katholische dagegen umgekehrt das Verhältnis zu Christus durch das zur gegebnen Kirche. Die Formel darf als richtige Ausdeutung des zum zweiten Artikel von Luther Gesagten gelten. Hinzugefügt ist hier nur die Erinnerung an die Scheidung, welche Luthers Verständnis des Glaubens an das Evangelium wider allen Gesetzesglauben und Gesetzesdienst setzt.
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Gehen wir nun über zur Erklärung des dritten Artikels, so sehen wir sofort, daß sie die letzte heimliche Tür verriegelt, durch welche Gesetzesglaube und Gesetzesdienst sich in das Verständnis des christlichen Glaubens einschleichen könnten. Man könnte fragen: was muß der Mensch tun oder an sich tun lassen, damit ihn Jesus als sein Herr in K r a f t seiner Kreuzigung und Erhöhung Anteil haben lasse an der Freiheit und Seligkeit einer Gotteskindschaft im Glauben? Die Erklärung des dritten Artikels antwortet: der Glaube an das Evangelium, der uns dies alles zum Lebensgrunde macht, ist des heiligen Geistes eigenes Wunderwerk am Herzen. Gott selbst durch seinen Geist macht sich im Evangelium dem einzelnen Herzen und Gewissen vernehmlich als rufende, erleuchtende, den Glauben wekkende und erhaltende heilige Stimme. Die Menschen mit ihrer Vernunft und K r a f t vermögen im Entscheidenden nichts. Damit ist sowohl der moralische wie der sakramentale Zugang zum Evangelium verneint zugunsten eines verborgenen gnadenhaften Gerührt- und Überzeugtwerdens in der nach Gott fragenden Innerlichkeit. Die entscheidenden Kategorien sind die der urchristlichen Ostererfahrung, wenn man diese alles äußerlich Wunderhaften entkleidet und sie auf das Zeugnis des göttlichen Geistes an Geist und Gewissen des Mensdien zurückführt. Es ist genau die gleiche Anschauung von der Entstehung des Glaubens, welche von Luther 1520 in der Auslegung des Magnifikats ausgesprochen ist. Allein in der Erinnerung daran, daß der Geist durchs Evangelium, welches ja verkündet werden muß, uns ruft, klingt die menschlich-geschichtliche Vermittlung an. Auf daß es ja kein Mißverständnis gebe, ist der Begriff der Kirche ersetzt worden durch den der Christenheit, den der Verbundenheit aller innerlich die gleiche Schenkung des Glaubens durch den Geist Erfahrenden. Wir bleiben nicht einsam, wenn Gottes Geist uns so zu seinen Kindern macht, sondern gehören nun mit denen zusammen, an denen er durch alle Räume und Zeiten hin das Gleiche tut. Letzter Sinn des uns Widerfahrenden aber ist die Vollendung ins ewige Leben hinein. Das Gottesverhältnis, das im Evangelium unter der Herrschaft Christi durch den Geist uns aufgeschlossen wird, ist ein die Zeit Zersprengendes, ist Ewigkeit, die sich durch den Tod vollenden wird zum reinen Leben in und aus Gott. Man hat es bemerkenswert gefunden, daß Luther von der
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Auferstehung des Fleisches, dem jüngsten Gericht und der Verdammung der Gottlosen in die Hölle - die doch allesamt zum Hausrat seines religiös-mythischen Weltbildes gehören - in seiner Erklärung keine Silbe sagt. Die einzige Deutung ist, daß verdammendes Gericht und Hölle ihm nicht wesentliche Bestandteile des Glaubens an das Evangelium sind, sondern ebenso wie Gesetz, Zorn und dergleichen dem „fremden Werk" Gottes zugehören, durch das wir zum Glauben an das Evangelium bereitet werden. Im Glauben an das Evangelium ist für die, welche im Glauben Gott erschlossen sind - Gott allein da als liebender Vater, als aus Sünde und Tod errettender Herr und Erlöser und als uns im Glauben anzündender und der Ewigkeit entgegenführender heiligender Geist. Er ist so für uns da, daß alle menschlich-geschichtlichen Vermittlungen, einschließlich der kirchlichen, wie ins Nichts sinken vor der Gegenwart des uns ihm erschließenden Dreieinigen selbst. Diese Ausschließlichkeit des Glaubens ans Evangelium als der uns die Ewigkeit zum Lebensgrunde machenden Macht ist das Wesentliche am reformatorischen Christentumsverständnis und setzt den Grundunterschied zum Christentumsverständnis innerhalb der Papstkirche, welches eine Mischung christlicher Elemente mit Gedanken und Übungen, sei es des moralischen sei es des sakramentalen Typus des Gesetzesglaubens und -dienstes, in sich hegt und pflegt. Ist dieser überlehrmäßige Hintergrund von Luthers Erklärung der drei Artikel verstanden, so bekommt die Frage nach einem neuprotestantischen Ja zum Glauben der Reformation ein andres Gesicht. Die Kritik aufgeklärter Verständigkeit geht nicht auf die Herzaussagen in Luthers Erklärung, sondern allein auf den in diesen gedeuteten historisch-dogmatischen Stoff des alten Taufbekenntnisses. Eine unveränderte Übernahme des im Apostolikum hingebreiteten dogmatischen und historischen Stoffs ordnet noch in keiner Weise dem reformatorischen Christentum zu, wenn sie sich dem letzten unerbittlichen Ernst von Luthers Ausläuterung des Glaubens ans Evangelium verschließt. Umgekehrt aber läßt sich durchaus die Möglichkeit denken, daß die freie kritische Umwandlung des dogmatischhistorischen Geschichtsleibes der christlichen Religion den Weg zur inneren Einheit mit den Herzaussagen Luthers nicht zuschüttete, sondern gerade neu auftäte.
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C. Man hat nach dem Gesagten an einer altprotestantischen Aussage, welche den Gegensatz des reformatorischen Christentumsverständnisses gegen das altgläubige in sich enthält, zwei Seiten zu unterscheiden. Sie ist einesteils Wiedergabe von in der christlichen Kirche überliefertem dogmatischen oder historischen Stoff, oft in vereinfachter oder berichtigter Fassung, wie sie aus tieferer oder reinerer Einsicht sich ergibt, oft auch mit nur unwesentlichen Abweichungen. Sie ist andernteils eine von unerbittlichem Glaubensernst getragene Aussage über das vom Evangelium gesetzte Verhältnis von Gott und Herz im Widerspiel zu den Verzerrungen und Entstellungen des echt christlichen Verhältnisses dieser beiden. Darin hat sie eine eigentümliche verborgene Energie und Sinntiefe, welche sich am leichtesten erschließt, wenn man sich die Verwahrungen und Verneinungen wider die Pseudomorphosen klar macht, die in Theologie und Kirche und Frömmigkeit so leicht das echt Christliche zudecken. Die Umsetzung solcher altprotestantischen Aussagen in eine Gestalt, die unsrer neuprotestantischen Art gemäß und darum für uns wahrhaftig ist, wird sich stets auf die beiden Seiten beziehen müssen. Einesteils ist der aufgenommene dogmatische und historische Stoff mit unbarmherziger kritischer Wahrhaftigkeit genau so zu untersuchen und zu prüfen, wie wir dies mit den geistigen Erzeugnissen aller Religionen tun. Mythus, Legende, überholtes altes Weltbild, überholte alte Wissenschaft haben für uns dadurch, daß sie Teile des überlieferten dogmatischen und historischen Stoffs christlicher Theologie und Kirche geworden sind, keinerlei unser Gewissen und Denken bindende Giltigkeit mehr. Wir unterscheiden an ihnen, mit möglichst geschärfter Feinfühligkeit des Verstehens, den zufälligen Stoff an Bildern und Vorstellungen und den in diesem Stoff sich ausdrückenden Sinn. Allein der letztere kann uns zur Gewissensfrage werden, kann von uns betrachtet werden als dem christlichen Glauben wesentlich und durch alle Zeiten hindurch eigen. Man kann diese Durchleuchtung des überlieferten dogmatischen und historischen Stoffs religionskritisch nennen. Insofern wäre denn das unsrer Wahrhaftigkeit schicksalhaft aufgezwungene J a zur religionskritischen Haltung dem Dogma und der Historie gegenüber, in denen der christliche Glaube seine Einleibung gefunden, auch eine Aufdeckung des Vergänglichen am Altprotestantismus.
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Hier entsteht sogar der Schein, als ob Altprotestantismus und päpstliches Kirchentum einander näher seien als Altprotestantismus und Neuprotestantismus. Doch dies alles wäre nur der eine Teil unsrer Bemühung um altprotestantische Aussagen. Der andre Teil bezieht sich auf die Aufdeckung der überlehrmäßigen Glaubenstiefe mit ihren schweren ernsten Verwahrungen und ihrem auf unser religiöses Gewissen eindringenden Vergegenwärtigen des Evangeliums. Hier zerstört sich jeder Schein, als ob Altprotestantismus und Papstkirchentum in letzter Gemeinsamkeit stünden. Wenn es diesen eigentlichen reformatorischen Auslegungen des Evangeliums gelingen sollte, einen religionskritisch eingestellten Neuprotestanten wirklich in seinem Gottesverhältnis zu bestimmen, so wäre die echte Gemeinsamkeit zwischen Altprotestantismus und Neuprotestantismus im reformatorischen Glauben an das ursprüngliche lautere Evangelium eine schlichte Tatsache. Nun ist ohne viel Worte klar, daß der wirkliche Vollzug dieses zweiseitigen Verfahrens vor eine schwere Frage stellt. Es kommt darauf an, wie sich die religionskritische Bearbeitung und das Eindringen in die letzte Sinntiefe des Evangeliums bestimmt zueinander verhalten. Daß sie unmittelbar miteinander sich spannen, vor allem für schlichten einfachen Sinn, braucht nicht erst gesagt zu werden. Wenn Luther singt: Das ew'ge Licht geht da herein, Gibt der Welt ein' neuen Sdiein, Es leucht' wohl mitten in der Nacht Und uns des Lichtes Kinder macht, so ist für ihn dieser herrliche Vers umhegt und getragen vom Mythus des aus dem Himmel gekommenen ewigen Sohnes Gottes und von der Legende der Jungfrauengeburt. In welchem Sinne ist nun der Vers noch wahr, wenn Mythus und Legende als Dichtungen vergangener Zeiten ihre gegenständliche Richtigkeit verlieren? Manche von solchen Unhelligkeiten, welche das Gefühl verwirren, lassen sich leicht durchklären, manche nur schwer. Ein Bewußtsein von der veränderten geistigen Formation läßt sich auf keinen Fall auflösen: es ist da, muß da sein, soll sogar da sein. Wäre dies Erlebnis der Spannung zwischen dem religionskritischen und dem der Glaubenstiefe des Evangeliums sich erschließenden Bewußtsein aber das einzige, so dürfte neuprotestantische Aneignung des reformatorischen Christen-
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tumsverständnisses w o h l als eine Frömmigkeitsgestalt gelten, die n u r wenigen zugänglich ist. H i e r t r ä g t nun die Einsicht in die überlehrmäßige W a h r h e i t des reformatorischen Christentumsverständnisses eine wesentliche Frucht. In ihrem Licht erweisen sich jenseits der zweifellos v o r h a n d e n e n vordergründlichen S p a n n u n g Religionskritik u n d Glaubensvertiefung als einander r u f e n d , zueinander gehörend. Es zeigt sich in einem U m f a n g e , der erstaunlich ist, d a ß die Religionskritik am überlieferten dogmatischen u n d historischen Stoff gerade diejenigen Stücke wegätzt, welche dem lauteren Wesen des Evangeliums ohnehin im Letzten nicht gemäß sind. Wie dies gemeint ist, m u ß in den Darlegungen des Buchs an vielfältigen Einzelheiten klar werden. Es handelt sich um etwas, das gerade in der bestimmten lebendigen Bewegung des H e r zens u n d Geistes w a h r g e n o m m e n u n d e r f a h r e n sein will. N u r vorläufig, nur vorbereitend können Beispiele u n d Hinweise dem G e d a n k e n das Befremdliche, Überspitzte abstreifen, das er auf den ersten Blick zu haben scheint. Betrachten wir noch einmal Luthers Weihnachtspsalm „Gelobet seist du, Jesu Christ". Religionskritische Einsicht macht zweierlei unwidersprechlich klar. Einmal, der M y t h u s v o n der G e b u r t des göttlichen Wesens aus einer Menschenjungfrau ist allgemeines G u t jener Religionen, die in den Bereich der bildh a f t e n Vorstellung u n d des t r ä u m e n d e n Gedankens sich erheben. Auch sonst, z u m Beispiel im Buddhismus, ist dabei edlerer, das Grobsinnliche unter sich lassender Sinn am Werke. Z u d e m läßt sich zwingend nachweisen, d a ß die J u n g f r a u e n geburt im Christentum eine erst im zweiten Menschenalter nach Jesu T o d e auftauchende Legende ist, welche ältere natürlichere Vorstellungen v e r d r ä n g t hat. Was aber die allgemeinere V o r stellung des auf die E r d e niedersteigenden u n d Menschengestalt annehmenden hohen Gottwesens anlangt, so ist auch sie längst v o r dem Christentum in unzähligen Religionen nachweisbar, somit keineswegs eigentümlich christlich. Auch steht es wiederum außer Zweifel, d a ß diese Vorstellung in der ersten Gemeinde nicht v o r h a n d e n gewesen ist u n d keineswegs auf die Urapostel zurückgeführt werden k a n n . N u n braucht man gewiß nicht mit der blinden A r t v o n Religionskritik zu folgern, Luthers ganzes Weihnachtslied sei nichts als ein gleichgiltiges Exempel f ü r die beseligenden Empfindungen, welche der
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M y t h u s v o m göttlichen Heilbringer auf tausendfache Weise in Menschen f r ü h e r e r Geschiditsalter ausgelöst habe, u n d dabei u n ter U m s t ä n d e n wohlwollend hinzuzufügen, d a ß Luthers künstlerische K r a f t im Malen der rettenden Liebe der menschwerdenden G o t t h e i t recht groß sei. Klarere religionskritische Einsicht w i r d in alledem bloß die U m r a h m u n g des eigentlich Wichtigen erblicken, w i r d also in der Legende und dem Mythus, die hier Jesus dargebracht werden, eine Entsprechung zu dem G o l d , Weihrauch u n d M y r r h e n finden, mit denen die Weisen aus dem M o r g e n l a n d dem K i n d in der K r i p p e ihre Verehrung bezeugt haben sollen. D a ß mit Jesus, gerade mit Jesus die göttliche Liebe, das göttliche Licht zu uns kommen, d a ß Jesus mit seinem Wege durch Niedrigkeit und A r m u t hin zur Ausstoßung als Gottloser u n d zur Kreuzigung die G e g e n w a r t der erlösenden Liebe des Ewigen im E r d e n d u n k e l sei, dies w i r d durch Luther der sinntragende K e r n des Weihnachtsbildes v o m K i n d in der Krippe. Das Lied will nichts anderes aussagen als den H e r r e n namen im Sinne der E r k l ä r u n g des z. Artikels. So kehrte denn auch dem ernsteren Religionskritiker der Blick zurück zur Wahrheitstiefe des Evangeliums von Jesus, die hinter den aus a n d e r n Religionen geliehenen u n d nur reiner u n d ernster a n gewendeten Bildern und Vorstellungen sich bergen. Indes, soll das nun gelten: wie w i r d man d a n n dem E i n w a n d begegnen, d a ß solch ein Glaube an Jesus den Gekreuzigten doch erst durch die Legende u n d den M y t h u s von Weihnachten die rechte Stützung u n d Bewährung empfange? D a ß also bei der religionskritischen Auflösung der Glaube an Jesus u n d das Evangelium völlig über bodenlosem Abgrunde schwebe? F ü r den, welcher der alten Umhegung u n d G r ü n d u n g des Glaubens an Jesus den Gekreuzigten gewohnt ist, erscheint die S p a n n u n g ungeheuerlich. In W a h r h e i t aber - nur wer w a g t es, die W a h r heit zu schauen? - ist die Umhegung und Begründung ein gaukelnder Trug, dessen Zerstörung dem lauteren Glauben rein ans Evangelium nur förderlich ist. Z u den wesentlichen Aussagen reformatorischen Glaubens gehört es, d a ß G o t t in einem abgründlichen T r a u e n u n d Wagen des H e r z e n s wider allen Schein gefunden werden will, anders gewendet, d a ß es eine unmittelbare Kenntlichkeit u n d Verbürgtheit u n d G r e i f b a r k e i t des Göttlichen christlich nicht gibt. Es geht u m das U n e r h ö r t e , d a ß Jesus uns gerade als der A n -
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gefochtene, Leidende, von menschlidier Frömmigkeit Geschändete, Ausgestoßene zum Träger unsrer Gemeinschaft mit Gott wird. Auch die Weihnachtsgeschichte hat Luther dieser Einsicht eingeordnet. E r malt sie mit allen Mitteln der Einbildungskraft stets in der Richtung aus, daß hier die göttliche Herrlichkeit unter der Knechtsgestalt verborgen sei und nur vom Glauben, der ins Verborgene schaut, erkannt werde. Die glänzenden Erscheinungen der Engel sind f ü r ihn da kein Einwand. E r weiß, daß das Glänzende, Wunderhafte, Erstaunliche o f t nur ein Teufelstrug ist, und betont es mehr als einmal, daß Satan in der Versuchungsgeschichte wie ein herrlicher, von Gott gesandter Engel vor Jesus gestanden habe. Luther weiß also auch: Weder die Angaben des Engels über die ohne Zutun des Joseph geschehene Mutterschaft Marias noch die Worte der Engel an die Hirten ergeben eine unmittelbare Kenntlichkeit und V e r bürgtheit und Greifbarkeit dafür, daß Jesus ein Jungfrauensohn und daß er der vom Himmel herabkommende Gottessohn sei. Dies bleiben ihm verborgene heilige Geheimnisse, die nur dem Glauben ans Evangelium gegenwärtig nah und Träger der uns suchenden göttlichen Liebe sind. Man darf getrost sagen: weder das Dogma von der Menschwerdung des ewigen Gottessohns noch die Historie von der Jungfrauengeburt sind f ü r Luther erzeugender Grund des Glaubens an Jesus oder, um den Ausdruck einzusetzen, des Weihnachtsglaubens. Sie sind ihm die helfenden Gedanken, die dem Glauben an Jesus, dem Weihnachtsglauben Gestalt und Wort geben. E r ringt bei seinen Weihnachtspredigten mit leidenschaftlichem Ernst darum, daß dem Hörer der Glaube an Jesus, der Glaube ans Evangelium nicht untergehe in dem äußerlichen Glauben an die Wundermäre von dem im Jungfrauensohn menschgewordenen Gott. Man mag gern Erbarmen haben mit jener Einfalt, welche des Wahns von einer unmittelbaren Kenntlichkeit, Verbürgtheit und Greifbarkeit des Göttlichen bedarf, um dem Evangelium glauben zu können. Man wird solche Einfalt, soweit sie es nodi mit Wahrhaftigkeit kann, und soweit sie aufs Richten der andern verzichtet, es gerne gönnen, daß sie auf den Krücken des Wahns von objektiver Kenntlichkeit und Verbürgtheit des Glaubens an Jesus den Weg ins Gottesreich sucht. N u r dies dürfte ein geistig klarer, denkender Sinn nicht leugnen, daß von der dogmatischen und historischen Wundermäre des Weih-
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nachtsfestes auch eine das Evangelium und den Glauben an Jesus verdunkelnde Wirkung ausgeht. Die religionskritische Zerstörung der unmittelbaren Kenntlichkeit, Verbürgtheit und Greifbarkeit der göttlichen Hoheit Jesu nimmt einen falschen Schein fort von der Begegnung des Herzens und Gewissens mit Jesus. Sie zwingt gleichsam hinein in das Lausdien des Glaubens, der auf das Verborgene sich richtet. Sie madit den wirklichen Jesus, so wie er ist, den angefochtenen Boten des Evangeliums, der seinen Gang zum Kreuz als den ihm von seinem Vater bereiteten Weg der Vollendung empfängt, zum Träger der göttlichen Liebe, welche im wagenden Glauben erkannt sein will, welche ihre Hoheit rein der Innerlichkeit erschließt durch wehrlose unscheinbare Menschlichkeit hindurch. Solch einem Glauben, der in Geist und Wahrheit anbeten will und nichts als Geist und Wahrheit empfangen will im Gottesverhältnis, macht die religionskritische Einsicht es gleichsam leicht. Sie nimmt alles von Jesus und dem Evangelium fort, danach nur heidnische oder jüdische Frömmigkeit trachtet. Wenn nun das reformatorische Christentumsverständnis dasjenige ist, welches alle Vermengungen des christlichen Glaubens mit Elementen vorchristlicher oder sich untreu werdender christlicher Religion ausläutern will, so kann es zuletzt und zutiefst durch rechte Religionskritik nur gewinnen. Was eine solche Religionskritik am neutestamentlichen Zeugnis als Gebilde vergangener vorchristlicher Religion und vergangenen vorchristlichen Denkens über Gott und Mensch ausscheiden lehrt, das ist in Wahrheit nur das schmerzhaft zu tragende Anteilhaben des geschichtlichen Christentums an niederer Art menschlichen Frommseins und Gottesdienstes. Es gibt in der Tat eine Gleichgerichtetheit von Religionskritik und Hingabe an das Evangelium im Evangelium, und auf ihr beruht die Möglichkeit und H o f f n u n g aller neuprotestantischen Erneuerung des reformatorischen Glaubens. Wichtige Aufgabe einer heutigen Darstellung des reformatorischen Christentumsverständnisses ist darum auch die Aufdeckung des tief im reformatorischen Glauben angelegten Strebens, an der geschichtlichen Erscheinung des Christentums das w a h r h a f t Christliche und das dem christlichen Glauben nur gleichsam auf seinem Geschichtswege Angeflogene zu unterscheiden. Es genügt nicht, die Gleichgerichtetheit von Religionskritik, die sich selbst versteht, u n d refor-
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matorischer Rückkehr zum editen und ursprünglichen Christenglauben allgemein zu behaupten. Es muß bestimmt und genau durchgeführt werden an allen für das evangelische Christentum wichtigen Bestimmungen christlichen Denkens und Lebens und Erkennens.
j.
Die Rechtfertigung
allein aus dem
Glauben
und die Beichtbuße
A. Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubet, der ist gerecht. Mit diesen Worten, Rom. 10,4, hat Paulus das Neue, Unerhörte, Überschwengliche, das durch Jesus vom ewigen Gott her den Gläubigen zuteil wird, nach seinem Unterschiede gegen allen heidnischen und jüdischen Glauben und Dienst in eine alles sagende Formel zu fassen gesucht. Geredit im Sinne der - durch den Gerichts- und Auferstehungsglauben der persischen Religion vertieften - spätjüdischen Frömmigkeit ist der, welcher nach den Maßstäben des göttlichen Gesetzes untadelig ist, darum im jüngsten Gerichte besteht und als Glied in die Gemeinde des ewigen Gottesreiches eingeht. Für Paulus und Luther sind Worte wie fromm, heilig, Gott wohlgefällig so sinnverwandt mit geredit, daß sie in vielen Aussagen damit vertauscht werden können. Wenn nun nach Paulus ohne des Gesetzes Werke, rein durch den Glauben an Christus, der Mensch diese Gerechtigkeit oder Heiligkeit oder Gottgefälligkeit erlangt, so sind damit der Gesetzes- und Vergeltungsglaube der damaligen jüdischen Frömmigkeit und der Glaube an die in Jesus uns geschenkte volle Gotteskindschaft mit der schroffsten nur denkbaren Entgegensetzung widereinander gestellt. Die zwei Wege zur Gerechtigkeit, die im jüdischen Gesetzesdienst und im Glauben an Christus sich auftun, schließen einander aus. Wer den einen geht, dem muß der andre als gottlos gelten, und umgekehrt. Dies paulinische Entweder/Oder erneuert Luther, indem er die Rechtfertigung allein aus dem Glauben wider die Glauben und Werk vermengende Frömmigkeit der Papstkirdie stellt. Er hat den Brief, in welchem Paulus die Entgegensetzung am reinsten und entschiedensten durchführt und Judentum und Heidentum gemeinsam als Verknechtung unter die kosmischen Gewalten dem freimachenden Glauben an Christus gegenüberstellt, den Galaterbrief, scherzend sein angetrautes Eheweib genannt. Alle menschlich-geschichtlichen Dinge haben ihre zwei Seiten. Es war ein genialer G r i f f , als Paulus die Freiheit und Gotteskindschaft rein im Glauben an Christus als die wahre Gerech-
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tigkeit wider die todverfallene Knechtschaft des Götzendienstes und Gesetzesdienstes stellte und dies durch den Gegensatz der in Christus erneuerten Menschheit wider die der Sünde und dem Tode dienstbare außerdiristliche Adamsmenschheit veranschaulichte. Indes, die Formel, daß der Glaube an Christus die wahre und die ganze Gerechtigkeit sei, enthält ein Paradoxon. Sie füllt einen der Gesetzesreligion eigentümlichen moralischjuridischen Begriff mit neuem Sinn. Gerechtigkeit ist an sich ihrem Wesen nach etwas, das durch untadelige Beachtung des Gesetzes erworben und dann im letzten Gerichte vom Weltenrichter dem sein Urteil erwartenden Menschen feierlich zugesprochen wird. Wenn nun Christus das Ende des Gesetzes und mein Glaube an ihn eine mich schon gegenwärtig in die ganze Freiheit der Gotteskindschaft stellende Gerechtigkeit ist, so geschieht mit dem Begriff der Gerechtigkeit eine im Sinne Hegels dialektisch zu nennende Verwandlung. Gewiß, Gerechtigkeit bleibt dasjenige, darin ich vor Gott als meinem Herrn und Richter im Gericht bestehen werde, und insofern darf man sagen, daß ihr eine Beziehung auf die Gottesbegegnung am Ende aller Dinge wesentlich ist. Zugleich aber ist Gerechtigkeit mir in Glaube und Gotteskindschaft schon ganz und unwiderruflich geschenkt. Ich bin rein durch den Glauben an Jesus schon gerecht und heilig geworden. Die wahre Gerechtigkeit bedeutet nunmehr, erstens, ein verändertes Verhältnis des Herzens, der inneren Lebendigkeit zu Gott. Der Glaube an Christus gibt eine überschwengliche Zuversicht, einen unbegreiflichen Freimut zu Gott. Der Mensch hört nicht auf, die unter dem Druck der Zeitlichkeit auf ihre ewige Vollendung harrende Kreatur zu sein. Aber sein Gott ist ihm der Vater geworden, den er aus der Tiefe eines in ihm rufenden Geistes heraus „Abba" nennt, so wie Jesus es getan. Er hat an der Gottessohnschaft Jesu, wie er hier auf Erden den Weg durch Leid und Tod zum Vater ging, teil. Er ist schon in der Ewigkeit, weil er mit Jesus lebt, weil er an Christus Anteil hat. Damit verwandeln sich alle Bestimmungen jüdischer Frömmigkeit. Daß Gott der Richter ist, das ist in diesem Glauben an Christus ebensowenig eine die Gemeinschaft mit ihm bestimmende Tatsache w i e in Luthers Erklärung des ersten Artikels. In dieser Fassung des Gottesverhältnisses wird der Glaube, d a ß Jesus schon gekommen ist, daß die alte Weltzeit für den Chri-
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sten schon vergangen ist, zum neuen Leben in Geist und Wahrheit, und dies neue Leben ist die konkrete Gestalt der wahren Gerechtigkeit. Damit wäre denn auch das Zweite fast schon gesagt. Die wahre Gerechtigkeit, welche der Glaube an Christus ist, bedeutet eine völlige Veränderung des Lebens in der Welt. Die kosmischen Gewalten - zu denen außer Angst, Trübsal, Irrgeist, Teufel, Sünde und Tod auch das Gesetz gehört - haben keine Macht mehr am Herzen. Der Glaubende gehört in Christus so sehr dem neuen ewigen Leben an, daß die ihn zuletzt bestimmende Gewalt allein der ewige göttliche Geist ist, welcher Gotteskindschaft und wahre Gerechtigkeit in einem ist. Allen Bedrohungen und Verführungen setzt er die überwindende K r a f t des im Glauben ihm aufgehenden Lebens entgegen. Christus, dem er glaubt, wird ihm zum tiefsten ihn Bewegenden. So gebiert sich ein freies wagendes Entscheiden, ein Urteilen über alles aus der Liebe heraus, welche Gott ist. Einem heidnisch Erzogenen wird solche Art der Innerlichkeit unverständlich erscheinen, einem jüdisch Erzogenen gesetzlos, und doch ist sie Reinheit, Gehorsam, Zucht auf eine eigene Weise. Sie ist wirklich ein Wandel in der Gerechtigkeit, ein Leben im Geist. So wie Paulus dies alles sagt und erlebt, ist es bedingt durch den Augenblick des ersten Anfangs der Kirche. Die OsterPfingst-Erfahrung als anhebende Wiederkunft Christi und das Ende aller Dinge als Vollendung der angehobenen Wiederkunft Christi sind gleichsam nur durch ein scheinbares, in Wahrheit auch sehr kurzes Intervall getrennt, so daß das ganze Leben und Denken im Lichte der schon hereingebrochenen Ewigkeit steht. Das Leben in der Zeitlichkeit sammelt sich in dem einen Punkte des tangentialen Angerührtseins von der Ewigkeit des göttlichen Reichs, und alle für das Verhältnis zu Gott wichtigen Begriffe stehen einträchtig miteinander in diesem einen Punkt. Was mußte aus den Aussagen des Paulus werden, wenn nun die Zeitlichkeit sich auseinanderzog und die Ewigkeit des Gottesreichs wie eine mit ihr mitwandernde, über sie hingleitende Sonne sich ausnahm? Der Gott, welcher in Christus dem Glaubenden seinen Geist und sein Leben als die wahre Gerechtigkeit schenkt, und der Gott, vor dessen letztem Gericht es mit der so empfangenen Gerechtigkeit zu bestehen gilt, sie traten für die Kirche und ihre Theologie, wie für das
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einzelne christliche Gewissen, weit auseinander. Der Weg, welcher zwischen dem Punkt des Empfangs der Rechtfertigungsgnade und dem andern Punkt des Rechenschaftgebens im Gericht Gottes lag, schien die Hauptsache zu werden. Auf diesen Weg fielen nun zwei Lichter, das Gnadenlicht gleichsam von rückwärts her, das Licht des Gerichts, in dem es zu bestehen galt, von vorne her, gerade in die Augen des Gewissens. Theologie und Kirche schienen ganz folgerichtig zu sein, wenn sie nun eine zwielichtige Betrachtung des Christenlebens aufbauten. Das christliche Gewissen mußte es lernen, den Glauben an die Rechtfertigungsgnade, in welchem das eigentümlich Christliche weiterlebte, auszugleichen mit dem Ernst der Gesetzeszucht, in welchem das Erbteil der jüdischen Gesetzesreligion als sittigende und vertiefende Macht unter Einbau von Jesu vereinfachenden und vertiefenden Geboten nach ihm griff. Im Abendland vollzog der Ausgleich sich mit Hilfe der augustinischen Rechtfertigungslehre, in einer vermoralisierten und versakramentalisierten Gestalt. So wurde die christliche Religion zu einem Mischgebilde zwischen Paulinismus und Kirchengesetzlichkeit. Die Tatsache, daß dabei der Begriff der Gerechtigkeit immerhin eine gnadenhafte Seite behielt, verdeckte für die Träger des christlichen Kirchentums das, was hier geschehen war. Zudem hatten Mönchtum und Mystik einen großen Reichtum ethisch-religiöser Erfahrung und Reflexion errungen, welchem wohl gerade die Zwielichtigkeit des Ganzen seine Fülle und Tiefe gab. Ein Teil dieses Reichtums war dadurch, daß die ursprünglich mönchische Beichte auf die in der Welt lebenden Christen übergriff, zum christlichen Gemeingut geworden. In dieser Lage wagte die Reformation Luthers den Versuch, Paulus zu erneuern. Unmittelbar ließ sich die punktuale, das ganze Erdenleben in den Augenblick des Hereinbruchs der Ewigkeit zusammendrängende Art des Paulinismus nicht wiederherstellen. D a gab es denn nur eine Möglichkeit. Es galt das ganze gemischt gnadenhaft-gesetzliche Halbwesen der christlichen Frömmigkeit unter das gleiche harsche Nein des Evangeliums zu stellen, welches Paulus über heidnischen und jüdischen Dienst gesprochen hatte. Die Rechtfertigung allein aus dem Glauben an Christus, der das Ende des Gesetzes ist, mußte aus dem einen großen Augenblick des Empfangens des neuen gnadenhaften ewigkeits-
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erfüllten Gottesverhältnisses heraus sich, ebenso wie das Erdenleben selbst, verwandeln in ein sich gleichsam lang hinziehendes, immer neu geschehendes Leben und Erleben der zum Herzen kommenden befreienden wahren Christusgerechtigkeit. Sie mußte zu einem immerfort aus Christus neu Gerechtfertigtwerden als der ständigen Form alles Denkens, Lebens und Wirkens umgestaltet werden. So wurde sie die göttliche Wunder- oder Gnadentat, in der wir unser ganzes Leben lang atmen und da sind. Sie verwandelte unser inneres Leben in den ständigen Transitus, Übergang, von Zeit zu Ewigkeit, von Angst und Zorn in Seligkeit und Gnade, von Gesetzes- und Sündenknechtung in Freiheit und Kindschaft und Gottgehören. Damit wurde der ganze Weg von dem einen Punkt zu dem andern, als den man nun das Christenleben auffaßte, aus dem Zwielicht zwischen Gnade und Gesetz herausgenommen und unter das eine Licht der Glaubensgerechtigkeit gestellt. Die Echtheit dieser Erneuerung des Paulinismus zeigt sich darin, daß die Spannungen und Paradoxien der paulinischen Lehre sich in neuer Gestalt wiederholen. Man kann darauf achten, daß nun im reformatorischen Glauben der Übergang von Zeit zu Ewigkeit, von Sündigkeit zu Gerechtigkeit, von Tod zu Leben die Dauerform des christlichen Lebens vor und aus Gott wird. Alsdann darf man die heute beliebte Formel Luthers in ihrer Wucht und Wahrheit als entscheidend bezeichnen: nach dem reformatorischen Glauben sind wir unser Leben lang zugleich Sünder und Gerechte. Damit ist der seltsam geheimnisvolle Sinn, den bei Paulus die wahre Gerechtigkeit hat, noch um ein Erhebliches geschärft. Man kann aber auch darauf achten, daß ebenso wie bei Paulus der Kern der Glaubensgerechtigkeit das neue Gottesverhältnis ist, kraft dessen wir Gott nicht mehr scheuen, sondern ihn lieben, mit andern Worten also, die Freiheit und Zuversicht eines von Gotteskindschaft umfangenen Gewissens. Alsdann wird zum bezeichnendsten Ausdruck der Glaubensgerechtigkeit als einer immer neu erlebten göttlichen Wundergabe, daß wir aus der Gewalt des göttlichen Geistes immerfort ein neues, ein frommes Herz empfangen, welches in Liebe zu Gott und zum Guten entzündet wird. Die Glaubensgerechtigkeit empfangen heißt dann in ein Leben treten, in welchem kraft der göttlichen Liebe aus dem Erdenkinde immer mehr ein Kind Gottes wird. Das Auf und Nieder dieses
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Wegs der Herzensverwandlung aber, das Hin und Her zwischen Anfechtung und Seligkeit, Flucht vor Gott und tiefer und ernster Hinfliehen zu ihm, es wird nicht zum moralischen Streben: wie könnte es das bei der Grundansicht von der Rechtfertigung? Es ist vielmehr nichts als die Form, unter weldier erlebt wird, daß des Menschen Werk und Tun nichts ist und die sidi selbst mit ihrem Leben schenkende Gnade Gottes in Christus alles. Die beiden Ausdrücke, unter deren Herrschaft Luthers Beschreibung des Lebens in der Glaubensgerechtigkeit steht, sind schon in sich voll von tiefer Widerspannung, und vollends das Verhältnis der Widerspannung, in welchem sie zueinander stehen, ist noch dunkler und unbegreiflicher. So wird gleichsam dreimal ins Bewußtsein eingedrückt, daß in der Glaubensgerechtigkeit Ewiges und Zeitliches, Göttliches und Menschliches auf eine jedem lehrmäßigen Begreifen sich letztlich entziehende Weise zur Einheit zusammengeschlossen sind. Eben diese unendlich paradoxe, der lehrmäßigen Ausformung Schwierigkeit über Schwierigkeit bietende Wundertiefe des lutherischen Rechtfertigungsglaubens aber war das geschichtlich Vollmächtige. Von ihr her ließ sich einerseits das paulinische Nein wider alle unterchristliche und vorchristliche Frömmigkeit wieder erwecken und gegen die theologische und kirchliche Mischreligion des Spätmittelalters kehren. Anderseits konnte doch der seelische Reichtum, welcher seit Augustin in den abendländischen Klöstern durch eine den Geist und die Seele durchknetende Pflege und Entfaltung der frommen Innerlichkeit errungen war, dem sich verjüngenden christlichen Glauben erhalten bleiben. Keine noch so sorgsame Beschreibung der Gewissenserfahrung und Gotteserfahrung und keine noch so durchreflektierte sittlich-religiöse Selbstanalyse brauchte verloren gegeben zu werden, weil sie unmittelbar in die paulinischen Aussagen über Herz, Glaube und Geist nicht eingeordnet war. Die neuen Formen, in denen der Rechtfertigungsglaube zur tragenden Form und Gestalt eines unfaßlich vielfarbigen und durchziselierten inneren Lebens tauglich wurde, konnten die ganze Fülle in sich aufnehmen und sie dennoch von allen Einschlägen heidnischer und jüdischer Frömmigkeit befreien. Allein weil diese Aufgabe gelöst werden konnte, gelang es der Reformation, die Rückkehr zum ursprünglichen lauteren Christusglau-
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ben zu vollenden, ohne die in den Zeiten der Frömmigkeitsmischung errungene höhere geistige und seelische Kultur preiszugeben. Im Gegenteil erwies sich nun der reformatorische Rechtfertigungsglaube als eine vollmächtige Überführung dieses geistigen und seelischen Reichtums an die neue abendländische Weltlichkeit, und wurde so der geborene Träger der geistig und seelisch reichsten Gestalt inneren Lebens, welche die Menschheit bisher zu verwirklichen vermocht. Der Preis, der dabei gezahlt werden mußte, versteht sich fast von selbst. Die tiefen, den Paulinismus unter sich lassenden Widerspannungen des reformatorischen Jas zur Glaubensgerechtigkeit machten es fast unmöglich, eine schulmäßig einheitliche Rechtfertigungslehre herauszubilden, welche den überlehrmäßigen Grundeinsichten und Zielen der Reformation wirklich bis ins Letzte gemäß war. Sowohl Melanchthon wie Calvin haben bei ihren Versuchen, eine brauchbare theologische Schullehre von der Rechtfertigung auf dem neuen Boden zu erarbeiten, unendlich viel von Luthers letzten Absichten unmittelbar unausgedrückt lassen müssen. Auch die Versuche andrer Zeitgenossen, es besser zu machen denn sie, zeigen, daß, wenn man auf Luthers genialische Freiheit von allem Formelwesen sich nicht einlassen wollte, die Aufgabe auf rein lehrmäßige Weise nicht lösbar war. Geht man dann vollends weiter zu den Kunstfabrikaten der orthodoxen altevangelischen Lehrer und den Vereinfachungen und Verflachungen der auf sie folgenden Geschlechter, so begreift man, daß rein lehrmäßig hier kaum etwas andres möglich ist, als Kontrollformeln zu entwickeln, an denen der Theologe von Fach alle von ihm über das Gottesverhältnis getanen Aussagen überprüfen kann auf ihre reformatorische Lauterkeit und auf ihr Verhältnis zu den radikalen paulinischen Ausschließungen niederen Glaubens und Dienstes. Einem neuen echten und großen Verständnis des reformatorischen Christentums ist mit soldien nur für Fachleute voll brauchbaren Kontrollformeln wenig gedient. Das hier Gesagte wird den Nichtfachleuten ein reineres und klareres Bild von dem, was mit der Rechtfertigung allein aus Glauben gemeint ist, geben, als die Entwicklung etwa einer neuen verbesserten Kontrollformel. Die Theologen sind sich wohl nicht darüber klar gewesen, wie sonderbar in unsrer heutigen, die alte naive Metaphysik der Gotteslehre belächelnden Zeit solche Fragen
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klingen wie die, ob das göttliche Rechtfertigungsurteil analytisch oder synthetisch zu verstehen sei, und ob die Aussage, die Rechtfertigung allein aus dem Glauben setze einen forensischen Begriff von der göttlichen Rechtfertigungstat voraus, wirklich dem Tatbestand des göttlichen Handelns im Schenken der Christusgnade gemäß sei. Nur wer gebildet genug ist, hypothetisch die alte naive Gottesmetaphysik zugrunde zu legen und von ihr aus solche Formeln denkend zu verstehen, wird das Pütjern und Feilen und Tifteln der Theologen an einer möglichst sauber durchgeführten Rechtfertigungslehre, die doch ein göttliches Tun umschreiben möchte, nicht schnurrig finden. Wie in aller Welt aber auf solche wunderlichen Kunstprodukte das Recht zur Fortführung der abendländischen Kirchenspaltung gegründet werden könnte, wird der Nichtfachmann niemals begreifen.
B. Als Bindeglied zwischen dem Empfang der Rechtfertigungsgnade, der ursprünglich in der Taufe geschehen sein sollte, und einem Sterben, das sich der Gnade Gottes in Christus beim Empfangen des endgiltigen Richtspruchs trösten konnte, hatte sich im mittelalterlichen Christentum das Sakrament der Beichtbuße herausgebildet. Es war somit praktisch die Form geworden, welche das Leben des Christen sittlich-religiös trug und bestimmte. Bis auf den heutigen Tag ist es der maßgebliche Träger der für das päpstliche Kirchentum entscheidenden Mischung von Gnadenreligion und Gesetzesreligion geblieben. Die Rechtfertigung allein aus dem Glauben, wie sie reformatorisch gemeint ist, darf einfach bezeichnet werden als die das Sakrament der Beichtbuße ersetzende neue Lebensform der christlichen Frömmigkeit, also als das an die Stelle der Beichtbuße tretende alles durchpulsende Herz des evangelischen Gottesverhältnisses. Das Suchen von R a t oder Trost beim Seelsorger ist im Sinne der Reformation, auch wenn es mit Herzenserschließung sich verknüpft, etwas völlig andres als die Beichtbuße. Nicht nur, daß nach den Reformatoren der Seelsorger oder Tröster kein Geistlicher zu sein braucht, und daß die Herzenserschließung jenseits aller Regeln und Gesetze rein durch das Bedürfnis des Hilfesuchenden bestimmt ist: Voraussetzung eines solchen Suchens von Rat und Trost ist eben die von Gesetz und Werk
Rechtfertigung und Beichtbuße freimachende Glaubensgerechtigkeit, welche aller Christen gemeinsame Lebensform im Umgang mit Gott ist. Die Vollmacht des um Rat und Trost Angegangenen ist da, wo sie sich zeigt, allein die verborgene Vollmacht des göttlichen Geistes, welcher des christlichen Gewissens und Glaubens einziger Rater und Tröster ist. Mit andern Worten: sie ist die Vollmacht des sich frei ins Herz hineinsagenden lebendigen Wortes Gottes, welches rein zufällig sich eines christlichen Bruders oder einer christlichen Schwester als Werkzeug bedient. Auch in solchen Fällen hat der evangelische Christ es ganz allein mit dem lebendigen Gott zu tun, welcher dem Gewissen im Glauben gegenwärtig wird als freimachende ewige Liebe. In der Beichtbuße der Papstkirche hingegen ist der Priester als Herr und Gebieter gedacht, dessen Spruch der Einzelne unterworfen ist. Der Gang zur Beichte ist gesetzliche Pflicht, welche genau geregelt ist. Ebenso ist kirchengesetzlich genau vorgeschrieben, was gebeichtet werden muß, wenn Beichte und Losspruch bei Gott giltig sein sollen. Eben dies, daß die Beichtbuße in solchem Sinne vernichtet ist, daß Christus das Ende des die Beichtbuße regelnden Kirchengesetzes ebenso ist wie das aller andern Gesetze, macht das Wesen des evangelischen Rechtfertigungsglaubens aus. Die Frömmigkeit der Beichtbuße und die des reformatorischen Rechtfertigungsglaubens haben gewisse Gemeinsamkeiten. Sie lassen dem einzelnen Menschen die Frage nach seinem Verhältnis zum Göttlichen und Ewigen zur ernsten Gewissenssache werden, und sie erziehen dazu, aus der Gnade Jesu Christi eine Möglichkeit des inneren Lebens mit und aus dem heiligen Gott zu entnehmen. In der Frömmigkeit der Beichtbuße aber ist dies Leben der Seele in einen harten Schnürleib gepreßt. Das Herz bedarf des Bewußtseins vorschriftsmäßig erfüllter Reueund Beichtpflicht gemäß feststehenden kirchlichen Regeln. Es verläßt sich auf den magischen Zuspruch göttlicher Vergebung und die magische Zuerteilung neuer Christusgnade durch den das Sakrament vollziehenden priesterlichen Beichtvater, der seine ihm von Gott durch Papst und Kirche gegebene Amtsgewalt richtig gebraucht. Doch nein, nicht ganz verläßt sich das Herz darauf. Da bleiben noch langwierige zeitliche Sündenstrafen, Fegfeuerstrafen zurück. So bedarf es auch der Meßopfergnaden, der frommen verdienstlichen Werke, die man sei-
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ber nach kirchlichen Regeln vollbringt oder gemäß kirchlicher Ordnung aus dem Schatz kirchlicher Güter und Frömmigkeit und Werkheiligkeit empfängt. Der reformatorische Rechtfertigungsglaube nimmt alle diese Stützen und Krücken des Glaubens an die Gnade Gottes im Evangelium fort. Priester und Kirchentum, die Liebe der Liebsten und Frömmsten, Gesetze, Regeln und Bräuche und Meinungen, alle eigene Leistung und Tüchtigkeit und was sonst immer es sein möge, darauf ein Herz und Gewissen sich stützen möchte, sie bleiben an der Schwelle des Allerheiligsten, in welchem eine Innerlichkeit, ein Gewissen vor Gott steht, zurück. Der Vorhang fällt nieder, sie sind nicht mehr da, und in der verborgenen Stille dieser Einsamkeit, wirklich an der Schwelle von Zeit und Ewigkeit, empfängt der seiner Unwürdigkeit und Armut sich Bewußte, vor dem Heiligen in sein Nichts, seine Schuld Sinkende mit gläubiger Verwunderung über das von ihm selbst nicht Verstandene die Liebe des Vaters Jesu Christi als den einzigen Grund seines Lebens hin durch diese Welt. Dies mag wohl heut stärker, morgen schwächer innerlich vergegenwärtigt werden, ist aber dem letzten Wesen nach ein ständiges verborgenes inneres Geschehen, ist wie Luther es nennen kann - ein negotium perpetuum. Die glaubenschaffende Macht des reinen Evangeliums ist groß. Es kann gut sein, daß auch unter den der Beichtbuße sich Unterwerfenden durch ein Wunder göttlicher Bewahrung und Behütung ein Leben rein im Rechtfertigungsglauben sich gebiert, an welchem das Verkehrte, Verführende, das Gnade und Werk, Freiheit und Knechtschaft Mischende keine Macht hat. Bei denen, welchen dies widerfährt, wird man getrost davon sprechen dürfen, daß sie, ohne es selbst zu ahnen, im reformatorischen Glauben stehen. Luther hat gemeint, jeder fromme Mönch ergebe sich, wenn es mit ihm zum Sterben komme, rein und lauter, allen Tand seiner Kirche und seiner Möncherei fahren lassend, dem Glauben ans Evangelium. Umgekehrt weiß jeder evangelisch Glaubende von den schauerlichen Zerrbildungen, zu denen in verkehrten Herzen das reformatorische Evangelium geführt hat. Jedoch, nicht darauf kommt es hier an. Die Aufgabe ist, die durchaus unterschiedliche, ja hart gegensätzliche Art des Menschseins und Christseins zu verstehen, die sich da entwickeln, wo die Frömmigkeit der Beichtbuße und die Frömmigkeit des reformatorischen Rechtfertigungsglaubens
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sich folgerichtig und klar dem eigenen inneren Wesen und Gesetz gemäß entfalten. Man kann den Gegensatz im Verständnis des Menschlichen und Christlichen, den es zu beschreiben gilt, vereinfachend unter drei Gesichtspunkte zusammenfassen. Einmal, die Frömmigkeit der Beichtbuße formt Menschen, denen es Bedürfnis ist, in den letzten und höchsten Fragen des menschlichen Lebens, voran denn in denen des Gewissens und des Verhältnisses zu Gott, auf eine allgemeine als giltig sich behauptende Ordnung, Einrichtung und Korporation sidi zu verlassen und durch sie Wahrheit, Gewißheit und Wegweisung zu empfangen. Das sind denn Menschen und Fromme, welche rein geistig ethisch nur als wohleingebettete und wohlbehütete Glieder einer societas humana, und christlich-glaubend nur als mit der societas christiana in Harmonie befindliche Kirchenchristen zu leben vermögen. Sie bedürfen der Zustimmung der Repräsentanten beider Sozietäten, wenn sie nicht schwindlig werden sollen. Sie halten die Abhängigkeit, die sie der letzten subjektiven Verantwortung enthebt, für den Boden jener Vollmacht und Bewegungsfreiheit, die allein ihnen begehrenswert scheinen. Auch in den Fragen des verborgenen Ringens um das Gute und des heimlichen Umgangs mit Gott ist ihnen Beugung, Pietät, Umfangensein von menschlichen Bürgschaften, Aussagen und Richtweisungen das allein des Menschen und des Christen Würdige. Die Frömmigkeit des reformatorischen Rechtfertigungsglaubens hingegen formt Menschen und Christen, über welche da, wo es um Gott und das Gewissen, das Heilige und das Gute geht, selbst das menschlich und kirchlich hoch Angesehene und sicher Bestehende, keine entscheidende Macht hat. Gegebene heilige Anschauungen und Bräuche und Einrichtungen und Gebote, selbst dann, wenn sie in Gefühl und Erinnerung verwurzelt sind, bedeuten ihnen, wo nach dem Wahren und Ewigen gefragt wird, letztlich nichts, da sie ihnen neben Gott und dem Evangelium letztlich nichts bedeuten dürfen. Menschen dieser Art können in der societas humana an ihrem großen oder kleinen Platz tüchtige, fügsame und dienstbereite Glieder sein. Aber sie sind es aus einer den andern unheimlidien verborgenen Tiefe der Freiheit und Unabhängigkeit heraus, an welche Reden, Locken, Mahnen, Drohen und so fort der andern nicht zu rühren vermag. Sie werden darum auch je und dann, wenn ihre
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Stunde kommt, zum Quellort neuer menschlicher Taten und Gedanken. Ebenso können solche Menschen und Fromme lange Träger des Friedens und der Liebe innerhalb gestalteter christlicher Gesellschaft oder Gemeinschaft sein und stumm, allein zu Gott flehend, die Last und Schande ihrer Kirche stehen lassen, weil ihnen die Vollmacht nicht gegeben ist, der Verkehrtheit zu steuern. Aber Grund und Form ihres Glaubens und Lebens mit Gott ist ihnen ihre societas diristiana oder Kirche nicht, sondern eher nur eine Gestalt dieser vergänglichen Welt, die man eben durchzuleiden hat. Im Kleinen und Unscheinbaren aber bricht für den mit feinerem Blick Begabten aus den verborgenen Gründen ihres Christseins immerdar Neues und Ursprüngliches, nämlich Glaube und Liebe gemäß dem Evangelium, in die Verhältnisse, unter denen sie stehen, hinein, vielen ein Anstoß, andern aber ein Gruß vom Ewigen, welcher seine bestehende Christenheit doch nicht ganz verlassen hat. Dies wären die beiden Formungen des Menschseins und Christseins, die unter dem Gesichtspunkt des inneren Eigenstands vor Gott hier von der Beichtbuße, dort vom reformatorischen Rechtfertigungsglauben ausgehen. Bezieht man sie nun auf die ursprünglichen oder auch nur auf die großen Gestalten des lebendigen christlichen Glaubens, so ist die Frage, welche von beiden die reiner und strenger christliche sei, wie von selbst beantwortet. D a der Christ nach Paulus in und aus Christus lebt, widerspricht es weder dem Geist des Paulus noch dem der Reformation, zuerst den Blick auf Jesus von Nazareth selber zu richten. Von allen menschlichen Einzelgängern in der Religionsgeschichte, welche die Pietät gegen ein Heiliges zerbrechen, ist Jesus der Härteste, Unerbittlichste, Rücksichtsloseste. Sein Zug von Cäsarea Philippi durch Galiläa nach Jerusalem ist von dem entschlossenen Willen getragen, die dem Evangelium Nein sagenden Führer, Lehrer und Frommen der jüdischen Kirche - der höchststehenden kirchlichen Gemeinschaft damals nach der Weise der Gesetzesreligion - vor die letzte Frage zu stellen. Und er weiß es mit vor Gott bebender Unerbittlichkeit: Sie werden die Gottwidrigkeit ihres Glaubens und Dienstes offenbaren, indem sie ihn, des Vaters Sohn, den Träger des Evangeliums, aus der Kirche ausstoßen und den Römern als einen Aufrührer und Gottlosen zur Schande des Kreuzestodes überliefern. Jesus ist der Zerbrecher und Entblößer
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der Kirche geworden, in der er aufgewachsen war, ist es geworden rein aus der inneren Freiheit und Vollmacht und ewigkeitserfüllten Hoheit seines Sohnesgehorsams heraus. Das vierte Evangelium erzählt von ihm, daß er die ihm Glaubenden von der jüdischen Kirche scheidet und hinausführt in eine neue geisthafte Gemeinschaft, in welcher jeder Einzelne unmittelbar Gott gehört dank dem Werk des Hirten. Es braucht kaum erst gesagt zu werden: Wenn diese Deutung von Jesu Zug in den Tod verkehrt wäre, so wäre Paulus mit seiner Gleichstellung von Heidentum und Judentum als zwei Weisen der Knechtschaft und Gottesferne ein Frevler, gerade in dem von Luther so geliebten Galaterbrief. Als Luther an dem erbitterten Widerhall, den seine 9$ Thesen fanden, spürte, daß er dem Bann und der Ausstoßung aus der Kirche kaum entgehen werde, stellte er sich die Frage, wie ein christliches Gewissen sich wider kirchlichen Bann und kirchliche Bannandrohung verhalten solle. Seine Antwort ist: es kommt allein auf das an, was solch einem Gewissen innerlich als wahr und von Gott geboten gewiß ist. Hält es sich darnach und leidet also den kirchlichen Bann und also auch - dies war damals die zu vermutende Folge - den Tod, so wird es selig, allen Bannflüchen der Kirche zum Trotz. Beugt es sich aus Scheu vor der heiligen Autorität und den Warnungen und Drohungen aller Geistlichen unter den kirchlichen Spruch, konformiert es sich, so ist es ewig von Gott geschieden. Erst als Luther dies mit schwerem Grübelsinn entdeckte, gebar sich der reformatorische Rechtfertigungsglaube in seinem ganzen Ernst. Die Beiditbuße verlor ihre Gewalt über das in Christus von allem Gesetz der Kirche befreite Gewissen. Luther gewann so die Freiheit der Gotteskindschaft oder Gottessohnschaft - die beiden Ausdrücke fallen bei Paulus nodi zusammen —, welche sein Herr Christus und sein Lehrer Paulus zum Lebensgrunde hatten. Er gewann sie aus der Vollmacht des in Christus sich ihm schenkenden Vaters. So wurde er der erste fromme Christ, der die menschliche und religiöse Formung durch den Rechtfertigungsglauben mit der Macht des sich neu in die Welt gebärenden Ursprünglichen kund tat. Wie nahe diese Erneuerung des Ursprünglichen dem Nein des Paulus zur Gesetzesfrömmigkeit steht, wird daran klar, daß die Beichtbuße das Sakrament einer sich gnadenhaft tünchenden Gesetzesreligion ist.
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Soviel vom ersten Leitpunkte. Der zweite betrifft die Art des Sünden- oder Schuldbewußtseins, zu welchem Beichtbuße und reformatorischer Rechtfertigungsglaube den Einzelnen bilden und erziehen. Eine der kirchlichen Anordnung gemäße Reue und Beichte ist nur dann möglich, wenn der der Beichtbuße sich unterziehende Kirchenchrist an Hand der kirchlich geregelten und erklärten Gebote - es sind neben den zehn Geboten vom Sinai auch fünf rein kirchliche wie der Besuch der sonntäglichen Messe darunter, die gleichfalls sub gravi verpflichten - sein Leben und seinen Wandel seit der letzten Beichte überprüft. Nur so kann er sich die schweren Sünden, welche den Verlust der heiligmachenden Gnade und damit die Hölle mit sich bringen, mit hinreichender Sicherheit ins Gedächtnis rufen. Auf diese schweren - moralischen wie kultischen - Verstöße bezieht sich die eigentliche Beichtpflicht, und von ihnen hat der Beichtende den priesterlichen Losspruch nötig, wenn er sich nicht als von Gott geschieden und der Hölle verfallen fühlen soll. Dahingegen darf er die leichten Sünden, welche bloß zeitliche Strafen, Fegfeuerstrafen, bringen, aus dem Beichtmaterial ausscheiden. Mit diesem wird er, ebenso wie mit den als Rest der schweren Sünden bleibenden zeitlichen Sündenstrafen, ohne Beichte fertig durch helfende Gnaden und fromme Werke. Man sieht, hier wird erzogen zum genauen Rechnen mit Sündenquanten und Strafquanten. Es entsteht eine empirisch-vernünftige Einschätzung der eigenen sittlichen Qualität und eine empirisch-vernünftige Bemühung, diese teils durch Gnade, teils durch Werk aufzubessern und einem Mindesterfordernis anzugleichen. Der Gott aber, mit dem man dabei zu tun hat, arbeitet für einen Frommen solcher Art wie ein klug seine Wirkungen beredinender Erzieher, welcher Liebenswürdigkeit und Güte mit einem genau nachrechnenden sittlich-moralischen Ernst verbindet und letztlich mit der furchtbarsten Drohung, der mit der Höllenstrafe, den Menschen in Zucht und Bewegung hält. Gewiß darf man diesem moralisch-juridischen System nicht vorwerfen, daß hinter den die Breite der Aufmerksamkeit hinnehmenden Bedingungen und gerechneten Messungen und Überlegungen der Ernst des Unbedingten gänzlich fehle. Bringt doch ein einziges unentschuldigtes absichtliches Versäumen des sonntäglichen Meßbesuches, wenn nicht eine Beichte oder ein letzter Notersatz für die Beichte im Sterbefall
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die Sache in Ordnung bringen, unweigerlich in die Hölle. Daß hier aber zu einer redinenden Moral und einem rechnenden Umgang mit Gott erzogen wird, läßt sich nicht leugnen. Paulus, welchem Christus das Ende jedes Gesetzes im Gottesverhältnis ist, hätte sich von dieser Art ethisch-religiöser Erziehung entsetzt abgewandt. Der reformatorische Rechtfertigungsglaube sammelt dem gegenüber den ganzen Blick des Menschen auf einen einzigen Punkt. Man vergegenwärtige sich Luthers Lied „Aus tiefer Not schrei ich zu dir" oder auch Paul Gerhardts „O Welt, sieh hier dein Leben". Die beiden Lieder, vor allem das erste, sagen alles, was vom Sünden- und Schuldbewußtsein des im reformatorischen Rechtfertigungsglauben Stehenden überhaupt gesagt werden kann. Sünden- oder Schuldbewußtsein ist hier rein und lauter das Gefühl des unendlichen Abstands von dem unendlich heiligen und unendlich guten Gott, welcher die Seele in erbarmender Liebe seines Umgangs, seiner Gemeinschaft gewürdigt hat. In diesem unendlichen, rein in der Subjektivität des einzelnen Gewissens seine Wahrheit und sein Recht habenden Sünden- oder Schuldgefühl sind Erinnerungen an einzelne Versündigungen - solche, die ohne Rücksicht auf kirchliche Regeln am subjektiven Gewissen frei ihre Macht üben - allermeist nur wirksam wie Klänge oder Farben in einem Gesamtgebilde. Alles ist hier anders als in der Frömmigkeit, welche durch die Beichtbuße bestimmt wird. Der Gedanke an künftige Sündenstrafen in Hölle oder Fegfeuer, zu deren Vermeidung man etwas tun müsse, ist meist auch nicht von fern gegenwärtig. Sünden- und Schuldbewußtsein wird rein in sich, als jetzt im Herzen und Gewissen wogende Macht, zu einer innerlich erfahrenen Trennung und Ferne von dem ewigen Gott und Vater, aus dessen Liebe und Güte und Heiligkeit man täglich zu leben hat. Die einzige Frage ist, ob man denn in Kraft des Evangeliums ihm dennoch, allem erlebten scheidenden Abstand zum Trotz, trauen, ihm dennoch sich frei zu ergeben vermöge im Glauben, und die Antwort auf diese Frage muß sich innerlich aus dem Geiste Jesu in einem gebären. Nur eine Sehnsucht, nur ein Wille ist da als lebendiger Grund des persönlichen Seins: das Wunder der Gnade zu empfangen, welche das von Gott geschieden sich fühlende Herz wieder Gott in die Hand legt, daß er ihm Leben und Seligkeit und Gerechtigkeit sei. Geschieht es, so ist man
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wiederum bei dem, weicher einen im Ganzen rein macht, welcher die Unreinigkeiten und Unlauterkeiten und verkehrten Regungen, die in einem wogen, ausglühen und ausläutern wird mit seiner Göttlichkeit und Ewigkeit zu der Zeit, da er es für gut hält. Dies heißt ohne des Gesetzes Werke allein durdi den Glauben fort und fort die Gottesgerechtigkeit empfangen, in der Jesu Vater unser Vater wird kraft der Einheit des Geistes. Menschen, welche innerlich auf diese Weise im rechtfertigenden Glauben den Weg vom Sündenbewußtsein zum Getragensein durch die Liebe Gottes gehen, kennen jene zur Beichtbuße gehörende rechnende Sittlichkeit und Frömmigkeit nicht. Sie haben eine überquellende innere Lebendigkeit im Verhältnis zu Gott und zum Guten, welche fruchtbar macht im Wagen des Neuen und Ungewöhnlichen, im Erträumen und Erahnen besonderer Wege des Herzens. Sie verachten kleine Sonderleistungen, in denen man sich gefällt oder angeblich sein Konto bei Gott verbessert, sie gehören als Personen ganz und unbedingt dem Werden und Sichvollbringen aufs Ewige zu. Es bedeutet ein Neuerwachen der Geisthaftigkeit urchristlidier Religion, wenn eine christliche Gemeinschaft solche Menschen bilden und erziehen kann. Zugleich aber bedeutet es auch ein Jungwerden und Lebendigwerden natürlicher menschlicher Schaffensmacht und Innerlichkeit. Alle großen Persönlichkeiten des evangelischen Christentums zeigen das Gepräge, welches von dieser aufs Ganze und Unbedingte sich richtenden Art der Herzensbildung ausgeht. Tun des Guten um des Guten willen gibt es nur in Herzen, denen die innere Hölle eines mit Gott entzweiten Gemüts die echte und die wahre Hölle ist. Noch unter einem dritten Gesichtspunkte kann man sich den Wesensunterschied zwischen der Frömmigkeit der Beichtbuße und der Frömmigkeit des rechtfertigenden Glaubens im reformatorischen Sinne klarmachen. Eben weil die Frömmigkeit der Beichtbuße auf kirchlich geregelten und gebundenen Wegen läuft, bedarf sie des Sicherheitsventils frommer Werkhaftigkeit. Sie hält es für die Höhe des Christenstandes, nadi kirdilichem Rat freiwillig für Gott etwas zu tun. Der reformatorische Rechtfertigungsglaube mit seiner Erziehung zur inneren Eigenständigkeit und freien Lebendigkeit hingegen bildet die Menschen zum Gotterleiden. Es zeigt sich hier eine wunderliche Überkreuzung. Der reformatorisdie Glaube ist an sich der weit-
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aus tiefer umbrechende Herzenspflug und entbindet darum audi die größere Dynamik aller inneren Kräfte. Diese Dynamik aber fährt hinein in den freien, kirchlich nicht regulierten Eigenstand der so geprägten Menschen und entlädt sich auf dem Felde des allgemein Menschlichen. Fromme Sonderwerke, mit denen man sich etwas bei Gott erwürbe, sind geradezu verneint. Was aber zwischen Gott und dem Herzen nach der inneren Bewegung des rechtfertigenden Glaubens geschieht, ist wesentlich ein Erfahren der unbedingten Gewalt des Ewigen über das Innere. Es handelt sich um ein Hörsamwerden, Fühlsamwerden, Bewegtwerden durch das Ewige und Göttliche, um ein Stillehalten, ein Lernen, ein Empfangen. Wohingegen in der Frömmigkeit, zu welcher die Beichtbuße erzieht, die Selbstbetätigungen und Selbstgestaltungen, natürlich solche gemäß kirchlicher Regel, das ethisch und religiös Entscheidende sind. So wird die Kirche der Beichtbuße mit ihrem vielfältigen Gängeln der Gewissen zur Lehrerin der Willensfreiheit, die gerade auch im Bereich des frommen Lebens viel, ja Entscheidendes bedeutet. Hingegen wird die Kirche, welche dem Menschen die Last auflegt, sich im Glauben unmittelbar auf eigne Rechnung und Gefahr dem Gott des Evangeliums zu lassen, zur Lehrerin der Wahrheit, daß im Verhältnis zu Gott und im Durchleben des Geheimnisses der Ewigkeit der freie Wille nichts ist. Fromm sein ist nichts als innerlich bejahtes Gotterleiden. Nun ist an sich klar, daß frommes kirchliches Sonderwerk dem Gesetzesdienst, Gotterleiden dem Glauben ans Evangelium zugeordnet ist, daß somit auch hier das Reformatorische die Erneuerung des Ursprünglichen ist. Indes bedarf es da noch einer Näherbestimmung. Es gibt ein schwärmendes Gotterleiden, und dies findet sich fast in jeder geschichtlichen Religion. Man nennt es wohl auch Ekstase, Enthusiasmus. Zu der geschichtlichen Erscheinung des ursprünglichen Christentums gehören solche ekstatischen und enthusiastischen Erfahrungen. Der Bruch der harten Bande des strengsten Gesetzesdienstes, den je die Welt gesehen, der altsynagogalen Frömmigkeit, durdi den befreienden Glauben an Jesus als den aus Gottes Macht lebendigen Bringer des Reichs ist, wie die Oster-Pfingst-Erfahrung bezeugt, unter der Form ekstatischer oder enthusiastischer Erscheinungen geschehen, und man begreift gut, daß dies anders kaum hätte sein können. Nun hat das mittelalterliche Christen-
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tum im verschwiegenen Abseits der Klöster einen Raum für Pflege des Ekstatischen und Enthusiastischen ausgespart, jenen Seelen zugute, welche die Bande der kirchlichen Gesetzesreligion freiwillig trugen, sich aber durch heimliche höhere Seelenerfahrungen zu verinnigen suchten. Luther kannte diesen Weg aus eigener Erfahrung. Dennoch hat er, als er den Rechtfertigungsglauben mit seinem Sichhinbreiten des Herzens vor dem Walten des ewigen Gottes zum allgemeinen Christenwege machte, sich davor gehütet, etwas von jenem ekstatischen oder enthusiastischen Gotterleiden in die Erneuerung der Frömmigkeit hineinzunehmen. Das Gotterleiden, das nach ihm zum lebendigen Umgang mit dem Gott des Evangeliums im Glauben gehört, ist rein personhafter, geisthafter Art, ist ganz durchdrungen und durchleuchtet vom Umgang des Gewissens mit dem uns als Person anredenden, wahrhaft zu uns sprechenden Wort. Man kann Luthers Verhalten leicht damit erklären, daß der Weg der Ekstase und des Enthusiasmus nur scheinbar Gotteszwang, Gotterleiden sind, daß wir Gott allein da wahrhaft erleiden, wo er Macht übt an unserm Wahrheitsbewußtsein, unserm Gewissen, wo er uns in unserm Sinn und Geist, - da wo wir wir selbst sind, - seinem Sinn und Geist erschließt. Ekstase und Enthusiasmus sind allermeist nichts als verkappte Werkerei, und sie werden es sicher, wo der Mensch nach ihnen begehrt und sie mit Künsten ruft. Für Christen ist das wahre Bild des seinen Gott erleidenden Herzens Jesus von Nazareth auf seinem Gange zum Kreuz. Nichts aber ist erschütternder zu sehen, als daß Jesus in seinem Sohnesgehorsam, der ihm keine Wahl ließ, der ihn in Glauben und Geist darein band, den unbegreiflichen Weg des Vaters mit sich tathaft zu erleiden, ein frei und still und besonnen in sich Gekehrter geblieben ist, ein Mensch, der wahrhaft er selbst war, ohne jede Spur verzückten Wesens, zu Geist ausgeglühte Innerlichkeit des Personseins und Menschseins, helle kühle Bewußtheit und Durchsichtigkeit und Klarheit auf einem Wege, welcher doch jedes Begreifen sprengt. Diese Art des Gotterleidens ist uns im reformatorischen Christentum zum Maß gesetzt. So bezeugt sich hier, daß Luther auch am ursprünglichen Christentum das Wesentliche und das Augenblicksbedingte unterschieden hat. Wesentlich im letzten Sinne ist nur er, Jesus selbst.
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C. Nur mittelbar und wie von ferne ist in das bisher über den Rechtfertigungsglauben Gesagte die Erinnerung an unsre heutige neuprotestantische Lage hineingeklungen, so modern die auf alle technischen Einzelheiten der Lehre verzichtende Art der Deutung auch sein mag. Für das nunmehr Nachzuholende ist die zweckmäßigste Vorbereitung die Frage, ob denn wohl auch bei Zurückstellung alles Kunstmäßigen die Rechtfertigung allein aus dem Glauben noch heute geeignet sei, sinntragende Form eines ganz auf sich gestellten frommen inneren Lebens zu bleiben. Die Zeiten sind für immer vorüber, da Handwerksburschen mit Ernst und Verständnis ins Wandern hinein sangen: „Es ist das Heil uns kommen her von Gnad und lauter Güte. Die Werke helfen nimmermehr . . Man hat im neunzehnten Jahrhundert sehr oft den reformatorischen Rechtfertigungsglauben als die autonome und eben als autonome dem modernen Bewußtsein wahrhaft gemäße Gestalt der christlichen Religion gefeiert. Nun kann Autonomie allerdings heißen, daß allein Gottes mich lebendig von sich überführendes, mir frei den Glauben anzündendes Wort mich innerlich regieren soll, daß also menschliche Lehren und Gebote, welche von großen machtvollen Einrichtungen und öffentliches Ansehen besitzenden altheiligen Stiftungen getragen werden, keine zwingende Gewalt über mein Gewissen haben. In diesem Sinne wäre reformatorisches Christentum in der Tat autonome Religion, und Luthers Erklärung vor Kaiser und Reich in Worms hätte als Durchbruch der christlichen Autonomie in unsrer abendländischen Welt zu gelten. Aber hat es sich nun nicht als eine der vielen Einbildungen des neunzehnten Jahrhunderts erwiesen, daß die Menschen wirklich ein Bedürfnis nach religiöser Autonomie in diesem Sinne haben? Ein Bedürfnis nach begrenzter Meinungsfreiheit besteht allerdings. Man wünscht, ungeschoren zu bleiben, wenn man eine Wahl zwischen verschiedenen als anständig und zulässig anerkannten Gruppenansichten nach persönlichem Geschmack vollzieht. Dies aber ist ganz etwas andres als die schwere Last echter christlicher Autonomie, den Weg zum ewigen Leben als ein einzelnes Gewissen zu gehen, das weder durch die Kirche noch durch eine große Zahl sich gedeckt weiß. Die innere Freiheit und Eigenständigkeit des Gottesverhältnisses, um die es im reformatorischen Rechtfertigungsglauben
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geht, bedeutet für die meisten Menschen heute wohl eine Überforderung der Innerlichkeit, des Gemüts. Es gehört zu ihr eine gesammelte Einkehr in sich selbst als Lebensgewohnheit, eine Bereitschaft, sich selber in den letzten Gründen des persönlichen Lebens gegenwärtig zu sein. Kierkegaard nennt den Hauptfeind eines solchen Glaubens die Zerstreuung, die Ablenkung von sich selbst. Man hat vom deutschen Volke gesagt, daß es mehr Eigenbrötler, Querköpfe und in sich gekehrte Träumer hervorgebracht habe als andre. Der Reichtum an eigentümlichen Denkern, Forschern und Dichtern, den es in den letzten J a h r hunderten gehabt, er beruht sicherlich hierauf. Die Wurzel jedoch dieser unsrer Eigenheit ist die Macht, welche der lutherische Rechtfertigungsglaube über Wille und Gemüt und Sinn auch der einfachen Menschen unter uns so lange gehabt hat. Es ist sehr zu fragen, ob nicht mit dem Schwinden religiös verwurzelter Innerlichkeit und Gewissenhaftigkeit unter uns auch diese deutsche Eigenheit sich abschwächen wird. Die harte Anspannung des Berufslebens, die Ablenkung der Aufmerksamkeit und des Denkens nach außen, wie sie zum Leben heute gehören, stehen in einem natürlichen Widerstreit mit der Kehre nach innen, mit dem Leben in der Verborgenheit des Herzens, wie sie vom Rechtfertigungsglauben unabtrennlich sind. Der Rechtfertigungsglaube mutet dem Einzelnen an, daß er tiefste Demut und größte Zuversicht, strengste Selbstbeurteilung und stärksten Unabhängigkeitssinn miteinander verbinde. Das Herz soll wissen, daß es vor Gott ein Nichts, eine in Schuld und Unreinheit gefangene Kreatur ist, und soll es dennoch auf Gottes Güte und Verzeihung wagen, soll dennoch unbekümmert um allen Widerspruch der Welt unerschütterlich seines Glaubens leben. Die Selbstgefälligkeit und Einbildung wird ihm genommen. Aber da, wo die Eitelsten und Hochfahrendsten sich gern hinter der allgemeinen Meinung verkriechen, soll es für sich allein stehen und aus dem Verborgenen, das ihm zum Gericht wird, die Kraft holen, es selbst zu sein. „Ich bin nicht allein, mit mir ist die Wahrheit", hat Luther zu Beginn seines großen Kampfes gesagt, und fühlte sich doch als einer, der aus tiefer Not zu Gott rufen mußte und nicht bestehen konnte, wenn Gott ihn ansah in heiliger Strenge. Daß aus solcher inneren Widerspannung das Größte sich gebären kann, daß Menschen, die im Grunde ihres Gewissens so vor Gott leben, unver-
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gleichliche Vollmacht des Herzens und Geistes gewinnen, zeigt wahrlich nicht bloß Luther. Aber - ist nicht alle unsre Erziehung heute darauf gerichtet, in beiden Richtungen das Gegenteil zum Normal-Menschlichen zu machen? Sie bildet heran zu einem flachen, sich in seinem kleinen Recht und kleinen Können wiegenden Mut oder Trotz und zugleich zu einer Biegsamkeit und Fügsamkeit dem Allgemeinen gegenüber. Die durchschnittliche Humanität heute strebt einem Individualismus zu, welcher im Wesentlichen unbedingt auf alles Eingängertum verzichtet, abgesehen davon aber sich unbedingt berechtigt fühlt in seiner des tieferen Gehalts entbehrenden, zufälligen Einzelnheit und Besonderheit. Man kann die so entstandene Lage zwiefach ansehen. Entweder, man hält ein Christentum reformatorischer Art heute für immer weniger zeitgemäß, immer weniger zu verwirklichen. Oder, man sieht, daß die gesamte moderne Humanität vor die Hunde gehen muß, wenn der christliche Glaube nicht neu die reformatorische Macht gewinnt, solche echten Einzelnen zu erwecken, die deshalb Eigenstand und Schaffensmut und Geisteskraft haben, weil sie als Einzelne vor Gott zugleich von sich frei und doch ewig in sich gegründet sind. Noch von einem andern Ausgangspunkt her läßt sich das Verhältnis echten reformatorischen Glaubens zur Lage heute betrachten. Der große Umbruch in der Weltanschauung einerseits, die Entstehung eines rein weltlichen, selbst in seiner allgemein ethischen Prägung äußerst fragwürdigen öffentlichen Lebens anderseits, sie scheinen Christentum und Kirche darauf hinzudrängen, sidi als Gruppenmadit zu formieren und so wenigstens durch die einer Gruppenmacht offen stehenden Wirkmöglichkeiten dem Ethischen und dem Christlichen einen gewissen Raum zu gewinnen oder besser zu retten. Dem entspricht recht gut die Frömmigkeit der Beichtbuße, welche den Einzelnen lehrt, daß er in seinem Gottesverhältnis, seinem Christenstande von der Kirche das Entscheidende immer wieder zu empfangen hat. Die Kirche lehrt ihn, Christ sein heiße unter der Leitung durch die Kirche den Weg durch die Welt in die Ewigkeit gehen. Die Frömmigkeit des Rechtfertigungsglaubens hingegen - ganz gleich, daß sie meist aus Geist und Leben eines geformten Kirchentums an den Einzelnen herankommen mag, - lehrt es den Menschen, daß ihm im Letzten, im Leben als Gottes Kind, Einsamkeit und Selbstverantwortlichkeit auch
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den Mitchristen, auch der Kirdie gegenüber, auferlegt ist. Evangelisches Kirchentum, wenn es echt und streng ist, begrenzt sich dem Einzelnen gegenüber auf eine dienende Rolle. Es weiß, daß nicht die Gotteskinder von der Kirche leben, sondern die Kirche von den Gotteskindern, die in ihr das verborgene Leben der editen Jünger Jesu weitertragen und allem ihrem Formen-, Lehr- und Gottesdienstwesen erst eine echte Beziehung zur Wahrheit leihen. Dadurch rückt nun die Betätigung der Kirchentümer als Öffentlichkeitsmacht, welche die ethischen, religiösen und christlichen „Weltanschauungsbelange" vertritt, in ein recht zweideutiges Licht. Zartere christliche Gerwissen müssen an dem hier sich auftuenden Betrieb schwer tragen. Zu viel Irreführung hinsichtlich des Einen, das not tut, geht davon aus. Mit Genugtuung können Gegner des reformatorischen Christentums feststellen, daß die gesamten evangelischen Kirchentümer heute mit ihrem Bestreben, sich zur Öffentlichkeitsmacht und Gruppenmacht umzubilden, sich einer katholisierenden Pseudomorphose unterziehen. Es werden der Christen mehr, welche meinen: wenn das Christentum unter den modernen Verhältnissen denn doch nur als kirchlich durchgebildete Gruppenmacht und Öffentlichkeitsmacht weiter leben könne, so sei jene Gestalt des Kirchentums vorzuziehen, bei welcher diese Formung stilecht und den Grundlagen der frommen Erziehung gemäß sei. Die kirchlichen Pseudomorphosen des evangelischen Christentums erscheinen ihnen als jene Untreue gegen das eigene innere Gesetz, welche man bei allen sterbenden geschichtlichen Erscheinungen beobachten kann. Indes, Kirchen sind immer vielschichtige und vieldeutige Gebilde, und auch im Papstkirchentum fehlt es nicht an Folgewidrigkeiten, welche durch geschichtliche Lagen bedingt sind. Mag es darum mit der Unvermeidlichkeit jener zweitrangigen evangelischen Pseudomorphosen stehen wie es w i l l : je auffallender sie in Erscheinung treten, um so dringlicher wird es, sich ein von ihnen unabhängiges Herz zu bewahren, falls das reformatorische Christentum nicht vergehen soll. Die in der Rechtfertigung allein aus dem Glauben liegende Selbstbegrenzung der Kirdie dem glaubenden Jünger Jesu, dem glaubenden Einzelnen gegenüber, sie muß heute mehr denn je ins allgemeine evangelische Bewußtsein gehoben werden. Viele unter uns dringen heute darauf, daß die evangelischen Kirchen in die ent-
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stellende Maske einer weltweiten Organisation f ü r christlichen Kult- und Erziehungsbetrieb gemäß protestantischem Dogma hineinkriechen und dabei sogar Interessengemeinschaften mit andern Organisationen f ü r ähnlichen Betrieb gemäß antiprotestantischem Dogma eingehen. Eben deshalb müssen wir allen evangelischen Christen das Wesensfremde, Störende dieser Maske einprägen und sie lehren, daß Christus aller frommen Gesetze, auch aller Kirchengesetze Ende ist. Was äußerlich auch werde, Lebensnerv des reformatorischen Christentums ist die Predigt, daß man in Christus nur mit einem unmittelbar auf die freie, ewige Gnade gerichteten Glauben gerecht werden kann, welcher allen Anhängern von Gesetzesdienst, auch von christlichem Gesetzesdienst, als anstößig gilt. Dies darf noch unter einen weiteren Gesichtspunkt gestellt werden. Jedem Kenner der menschlichen Religionsgeschichte ist der Begriff des religionsgeschichtlichen Todes bekannt. Es ist so manche mächtige und eigentümliche Religion in der Menschheitsgeschichte aufgesprungen, welche bei ihrem Gang durch die Völker und Zeiten sich mit Antrieben und Formen andrer, ihr fremder Religionen bis zur Unkenntlichkeit durchmischt und dadurch ihre echte Eigenheit nahezu eingebüßt hat. Die Religion Zarathustras, die auch f ü r die Vorgeschichte des Evangeliums nicht ohne Bedeutung ist, darf in ihren heute bestehenden Resten wohl als das erschütterndste Beispiel gelten. Auch vom Islam und vom Buddhismus aber muß man es sagen. D a ß auch das Christentum wider diese Gefahr nicht gefeit ist, zeigt die abessinische Kirche, die ein evangelisch Glaubender nur noch mit Selbstüberwindung christlich nennen wird. Eine Entstehung neuer großer christlich-heidnischer Mischgebilde, die sich christlich nennen werden, rückt auf dem südafrikanischen und dem indisch-malayischen Gebiet in bedrohliche Nähe. Wähnen wir nun aber bloß nicht, daß wir christlichen Abendländer vor der Erscheinung eines im religionsgeschichtlichen Tode erstorbenen, unwahr mit dem N a m e n Christi prangenden Kirchentums gesichert seien. Der religionsgeschichtliche Tod würde im abendländischen Christentum ein andres Gesicht haben als dort, wo er durch Vermischung mit niederem Aberglauben eingetreten ist oder einzutreten droht. Unsre Form des Aberglaubens ist der Glaube an das ethisch-religiöse Recht der Mehrheit, der Assoziation und Organisation. Anders gewandt: unsre Form des
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Aberglaubens ist, daß Gesellschaft und Kirdie geistig-seelisch zu einem Reiche Gottes zusammenschmelzen können. Wir träumen davon, daß Jesus Christus endgiltig gesiegt haben würde, wenn es uns gelänge, eine demokratische Weltkultur mit mächtigen und hochangesehenen, hocheinflußreidien Kirchentümern zu errichten. Es ist wohl eine unwidersprechliche Einsicht, daß zu Beginn des Reformationsjahrhunderts das abendländische Kirchentum hart am Rande des religionsgeschichtlichen Todes gestanden hat. Das christliche Kirchenwesen mit seinen glänzenden, ja prunkenden Einrichtungen, mit seinem unruhigen, allem echten sittlichen Gefühl widersprechenden Betriebe war in Begriff, zu einem toten gleichgiltigen Generalnenner für eine von den stärksten weltlichen Antrieben erfüllte Völkersozietät zu werden, die eben zur Welteroberung antreten wollte. Dabei gönnte dies Kirchenwesen unter der Bedingung kultischer Reverenz und wirtschaftlicher Spendebereitschaft allem, was sich regte, - darunter nicht nur dem wirtschaftlichen und politischen Pioniertum, sondern auch freier weltlicher Skepsis und endlichethisch-bürgerlicher Menschenbildung, - in sich freien Raum. Es war dabei, sich eine Allerweltsseele zuzulegen. Luthers R e formation mit ihrer Erweckung des ursprünglichen Christentums hat den so drohenden religionsgeschichtlichen Tod des Christusglaubens noch einmal verhindert, unmittelbar in den von ihr ergriffenen Gebieten, mittelbar nach dem Gesetz der Rückwirkung auch in den Bereichen des sich neuformierenden Papstkirchentums. Heute nun, in andrer Lage, erweist sich, daß die Aufgabe des reformatorischen Glaubens, die christliche Religion vorm religionsgeschichtlichen Tode zu retten, mit dem im sechzehnten Jahrhundert Geschehenen nicht einfürallemal vollbracht worden ist. Der Lebensborn des christlichen Glaubens ist und bleibt die Vollmacht Jesu des Gekreuzigten, den Einzelnen in der innerlichsten Tiefe und Verborgenheit des Gewissens hinauszureißen in die Begegnung unmittelbar mit dem lebendigen Gott des Evangeliums an der Grenze von Zeit und Ewigkeit. An dieser Grenze wird der Glaubende ein rein Gott Empfangender, rein Gott Erleidender und ist damit Sohn Gottes und Erbe des ewigen Lebens geworden. Ginge dieser Jünger des seine Kirdie zerbrechenden Jesus von Nazareth unter im Kirchenchristen,
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sei es dem Kirchenchristen der Beichtbuße, sei es in dem noch geringeren Kirchentagschristen und Vereinschristen oder K u l t christen, so wäre das Christentum den religionsgeschichtlichen Tod gestorben. Die Macht des Glaubens ans Evangelium wäre alsdann der Scheinmacht des Glaubens an die Kirchenstiftung erlegen. Die Mumifizierung der christlichen Religion wäre vollendet, und es käme nicht viel darauf an, unter welchen Formen der christliche Teil der Menschheitsgeschichte, - der Teil der Menschheitsgeschichte, in welcher es noch einen Glauben an ihn, der das Ende alles Gesetzes und der Verneiner aller sich unbedingt setzenden religiösen Gemeinschaft gewesen ist, - zuende ginge. Ein Fortbestehen des Namens Jesu wäre kein Schutz wider solch ein Ende. W a r u m sollte der bloße N a m e Jesu gefeit sein wider das Schicksal, welches jenem um Gott sich verzehrend mühenden indischen Prinzen, den wir Buddha nennen, getroffen hat, daß er als Götze auf den Altären von Gemeinschaften steht, die seinem wesentlichen Willen widersprechen? So wird gerade die Erwägung, wie unpraktisch der reformatorische Rechtfertigungsglaube sich heute im Zeitalter der siegreichen protestantischen Pseudomorphosen ausnimmt, zum Zeichen f ü r die unentrinnliche geschichtliche Verkettung von Glaube an Jesus von Nazareth und reformatorischem Rechtfertigungsglauben.
4. Die Gleichzeitigkeit des Glaubens mit Jesus dem Gekreuzigten und das Sakrament des Altars
A. Wenn ein Irdisches, Vergängliches unbegreiflich hinnehmend sich mit der Hoheit und Macht des Ewigen, Göttlichen in den ergriffenen frommen Sinn hineinspiegelt, so spricht der Religionswissenschaftler vom Erlebnis des Heiligen. Ein so sich bekundendes Heiliges mag bei näherer Besinnung ahnungsschwer sein oder albern, echt oder unecht, tief oder flach, selig oder versehrend, adelnd oder entehrend. Es kann zum Unheimlichen werden, darwider weltliche Verständigkeit sich wehrt, und zum Dämon, der mit dem Schein des Göttlichen den frommen Sinn dem w a h r h a f t Heiligen zu entführen trachtet. Soviel ist g e w i ß : wer nie und nirgends vom lebendigen Hauch eines Heiligen, gleichviel welcher Art, angerührt worden ist, dem ist das Geheimnis ursprünglicher Religion unbekannt geblieben. Die großen Menschen Gottes sind meist die vom Erlebnis des Heiligen am tiefsten Versehrbaren, oft die vom Widerstreit eines alten und eines ihnen neu aufgehenden Heiligen Zerrissenen. Die Neuentdeckung des Evangeliums durch Luther ist in solch einem das Herz zerreißenden Streit geschehen. Am Anfang seines Weges steht jenes lange in ihm schwelende furchtbare Gottesgrauen, das bei seiner Primiz hervorbrach, als der heiligste Augenblick des Meßopferdienstes nahte und er die Opfergebete des Canon missae zu lesen hatte. Dies Grauen wurde der ungebeten mit ihm gehende, stets neu sich meldende Gast, der Einpeitscher seiner Gewissensangst. N u r ein tieferes, wahreres Heiliges, die Liebe des heiligen Gottes zu dem seine Schuld Fühlenden, welche in Jesus dem Gekreuzigten uns nahe wird, w a r stark genug, jenes zu Tode versehrende furchtbare Grauen zu überwinden. In den niederen Religionen, auch wenn sie sich zu Volksreligionen durchgestalten, fehlt dem Erlebnis des Heiligen sinngebende und sinntragende Gewalt. Das Wirre, Vielfarbige und Launische, das zwischen Alltäglichkeit und Maßlosigkeit Taumelnde hindert das Entstehen einer bestimmten Herzmitte des frommen Lebens. Anders in den geschichtlich durchgeprägten Stiftungsreligionen, deren Glieder sich in einer Gemeinschaft
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des Denkens, Wollens und Erlebens verbunden wissen. Sie haben, wenigstens solange der religionsgeschichtliche Tod sie nicht ereilt, eine alles belebende und bestimmende Herzmitte. Nur wer an dieser Anteil hat, weiß sich wahrhaft als dazugehörig. Diese Herzmitte ist nie bloß als Gedanke oder Gebot da. Sie schmilzt zusammen mit bestimmtem Erleben eines Gestalt besitzenden Heiligen und gewinnt daran erst die ihr eigentümliche Gewalt, sowohl dem gemeinsamen Gottesdienst wie der persönlichen Frömmigkeit den Geist und die Seele zu verleihen. Das Vorherrschen eines bestimmten heiligen Zeichens, so im Buddhismus das der Buddhastatue und im Christentum das des Crucifixus, wird dem Religionswissenschaftler zum Wink, wo in einer geschichtlich klar geprägten Religion das tiefste, das eigentliche, das mit der Herzmitte des Glaubens und Dienstes untrennlich zusammengehörende Heilige zu suchen sei. Zweifellos hat der christliche Glaube und Dienst bei seinem Gang durch die Völker und Zeiten sich oft genug mit Elementen außerchristlicher Volksreligion angereichert. Wo das geschehen ist, hat auch in ihm das Erlebnis des Heiligen eine verwirrende Vielfarbigkeit gewonnen. Sicherlich ist zum Beispiel die Marienfrömmigkeit im volkhaften Katholizismus, unbeschadet aller theologischen Klauseln, eine Gefährdung der herrschenden Stellung des Christusglaubens. Dennoch bleibt wohl allenthalben in Gottesdienst und Frömmigkeit der christlichen Kirchentümer das in der Mitte stehende Heilige, mit welchem die Hoheit des Göttlichen sich am tiefsten und machtvollsten zu vernehmen gibt, eine Art von Vergegenwärtigung des Herrn Jesus Christus. Freilich, das ist eine sehr allgemeine und weitschichtige Bestimmung, die da eine Fülle der unterschiedlichsten Verwirklichungen unter sich faßt. Der Gegensatz von Papstkirchentum und Reformation liegt innerhalb ihrer und hört darum doch nicht auf, einen bitteren Widerstreit über heilig und unheilig zwischen den beiden Gestaltungen christlichen Kirchentums aufzureißen. Das ursprüngliche und erste Erlebnis des Heiligen im christlichen Glauben ist die Oster-Pfingst-Erfahrung, in welcher die christliche Religion sich gebar. Jesus von Nazareth, der den Schandtod am Kreuz Gestorbene, wird wider alle Einsprüche des alten Glaubens und Dienstes einem Kreise von Menschen unbegreiflich geheimnisvoll und machtvoll gegenwärtig als der
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lebendige Herr und Geist, und damit bricht Ewigkeit sieghaft herein über die dem Gesetz und Tod verknechtete Zeitlichkeit. Der bestimmte geschichtliche Mensch, welcher, seinem himmlischen Vater gehorsam, das Evangelium verkündigte und dafür Schmach und Tod erlitt, und der Herr über Leben und Tod, welcher seinen Gläubigen nahe ist und ihnen mit des Geistes Sturmgewalt das ewige Gottesreich auftut, sie sind in diesem Urerlebnis Einer und Derselbe, der Heilige Gottes. Was mußte das für die Religion oder Gemeinde oder Kirche bedeuten, die aus solchem Anfang sich gebar zu ihrem Wege hin durch Welt und Zeit? Zwei Heiligtümer sehen wir sie festhalten, als die ersten Stürme und Verzückungen verfliegen. Das eine ist die evangelische Geschichte mit ihrem Bericht über Jesu Wort und Weg auf Erden, deren Höhe und Ziel, das Heiligtum im Heiligtum, zweifellos die Passionsgeschichte mit dem Ausblick auf das Ostererlebnis ist. Das andre ist eine Feier gemeinsamen Brotbrechens, in der man den himmlischen Herrn gegenwärtig glaubt. Diese Feier steigert sich - ursprünglich allein einmal jährlich am Passahtage, dann durch des Paulus Zutun allsonntäglich und allgemein - zur Vergegenwärtigung des letzten Mahls, welches der den Weg durch den Tod in die Herrlichkeit Gehende mit den Seinen gehalten hat. In dieser Steigerung weht noch ein Hauch der ursprünglichen Oster-Pfingst-Erfahrung mit ihrer Verschmelzung des den Tod erleidenden geschichtlichen Menschensohns und des gegenwärtigen lebendigen Herrn. Die beiden so der Gemeinde gegebenen und ihr den Gottesdienst bestimmenden Heiligtümer scheinen nun tief in das Leben des Einzelnen hinein. Das Bedenken und Erinnern der evangelischen Geschichte einerseits und das Einswerden mit Jesus im Beten seines eignen Gebets zu seinem himmlischen Vater anderseits werden die beiden Eckpfeiler der persönlichen christlichen Frömmigkeit. Die klarste Vorstellung von der Gestalt, welche das christliche Heilige so unmittelbar nach dem Verblassen der ersten stürmischen Oster-Pfingst-Erfahrung annahm, wird uns vom vierten Evangelium gewährt, einer in ihrer Urgestalt wohl kurz vor dem Ende des ersten Jahrhunderts entstandenen Schrift. Wir haben da in ihr eine dichterisch meditative Vergegenwärtigung der evangelischen Geschichte nach ihrem für den Glauben des Verfassers wesentlichen Kern. Die leuchtende
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göttliche Klarheit und Herrlichkeit des österlichen Herrn über Leben und Tod scheint diesem Glauben hindurch durch Wort und Wandel und Geschichte des seinen Erdengang tuenden Jesus von Nazareth, und damit strömen die beiden Seiten des ursprünglichen Erlebnisses ineinander. Aber der wesentliche Gehalt des geschichtlichen Menschen Jesus wird in diesem traumhaft schönen Lichte nicht verflüchtigt, sondern zum Übereindringlichen gestaltet. Jesus bleibt der Verneiner und Zerbrecher des jüdischen Gesetzesglaubens und -dienstes, ja, er ist es noch viel entscheidender. Er bleibt der leidend und wehrlos das Widersprechen der Menschen Erduldende, ja, er wird es auf geradezu unerhört durchsichtige Weise, weil er eben darin als Träger göttlicher Hoheit und Gewalt sichtbar wird. Er bleibt der von den Jüngern Unverstandene, der ihnen noch enthüllt werden muß, und ist doch schon mit seinem Wort und seinem Geist ihr Lebensbrot, ihr Lebensborn, so wie die Gemeinde es in der Eucharistiefeier sich vergegenwärtigt. Jesus, der am Kreuz Erhöhte, in gläubiger Vergegenwärtigung vom Herzen erkannt als der zum Vater Erhöhte, welcher dem ihn so Erkennenden der Weg zum Vater unmittelbar ist: das ist das christliche Erleben des Heiligen. Dies waren die Anfänge. Für einen geisthaften, rein und still in sein Ursprüngliches gekehrten Glauben war so gewiß ein echtes Erlebnis des Heiligen gegeben, in welchem die Herzmitte der christlichen Religion der Träger des göttlichen Naheseins wurde. Anschaulich und wie von selbst schloß sich die johanneische Durchleuchtung von Jesu Wort und Geschichte zusammen mit dem eucharistischen Dankgebet des Gottesdienstes, welches Gottes große Wundertat durch Jesu Erniedrigung und Erhöhung lobpreisend vor die Gemüter stellte, und ebenso mit dem in Jesu Namen geschehenden persönlichen Gebet des Einzelnen zum Vater im Himmel. Indes, die Geisthaftigkeit und Innerlichkeit, die ein Heiliges solcher Art dem Sursum corda der Anbetung des gegenwärtig werdenden Ewigen aufprägt, kann dem Glauben und Dienst einer durch die Völker und Zeiten wandernden großen Gemeinschaft wohl schwer erhalten bleiben. Obwohl immer wieder besondere Gottesmänner aufstanden als Streiter und Rufer, nahm die Geschichte der christlichen Frömmigkeit sozusagen naturnotwendig eine abwärts gehende Richtung. Im sechzehnten Jahrhundert war - von dem
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Schlinggewächs des Heiligen zweiter, dritter, vierter, fünfter Ordnung noch ganz abgesehen - an die Stelle der Gott nahebringenden unmittelbaren Gewalt des Christusbildes eine dreigestaltige kultische Versinnlichung und Vergegenständlichung getreten. Jesus von Nazareth hatte sich gewandelt zum eucharistischen Christus des Meßopfers und Altarsakraments. Der Priester verwandelt bei der Meßopferhandlung durch Rezitierung der Einsetzungsworte Brot und Wein - auf eine Weise, welche ungläubiger Verstand zauberisch nennen müßte - in Christi Leib und Blut. Dieser Augenblick der Wandlung ist bei aller Unscheinbarkeit für den Gläubigen von unermeßlicher Heiligkeit. Die zur Anbetung hochgehobne Hostie ist der leibhaft wieder auf die Erde gekommene, seinen Gläubigen räumlich nahe Herrgott selbst geworden. Da die Hostie im Sakramentshäuschen als Sanctissimum verwahrt wird, so bleibt er auch in seinem Kirchenhause wohnen, es sei denn, daß man ihn, wie etwa bei Fronleichnam, in Prozession umherträgt. Wer beim Augenblick der Wandlung oder auch bei einem stillen Kirchenbesuch zum Sanctissimum betet, der darf ein Gefühl von der Nähe der Gottheit haben, das nicht erst durch meditative Versenkung erzeugt werden muß: das Sanctissimum ist greifbar gegenständlich da, und das Sanctissimum ist Jesus Christus selbst, des göttlichen Vaters ewiger Sohn. Eine tägliche Visitatio sanctissimi ist in der Gegenreformation eine beliebte Betätigung katholischer Frömmigkeit geworden. Stärker noch als sie wirkt auf das Gemüt das Zugegensein bei der mit der Wandlung sich verknüpfenden Opferhandlung. Der Gott von Golgatha gestattet es dem Meßpriester durch ein abbildliches Opfer, welches zugleich ein volles und richtiges Opfer an Gott ist, das Opfer von Golgatha vor den Gläubigen zu erneuern. Damit wird die Sündensühne den vielen Verschuldungen und Befleckungen der Christenheit gegenüber wirksam und frisch erhalten bei Gott. Die Gleichzeitigkeit mit dem Opferakt von Golgatha beruht daher nicht darauf, daß dieser durch innerliche Sammlung vergegenwärtigt w i r d : dies wäre, wo es geschieht, ein Hinzukommendes. Nein, sie beruht darauf, daß ein richtiger, mit Golgatha mysteriös identischer Opferakt neu vollzogen wird, daß dieser Opferakt auch für Gott etwas bedeutet, daß er eine Fülle von Gnade durch das Tun des Priesters hindurch neu von Gott her einströmen läßt in die dessen
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bedürfende schuldige Christenheit. Zu diesen Momenten tritt dann endlich noch die Nießung des leibhaft zu Hostie gewordenen Gottes in der Kommunion. Solche Nießung ist an sich nicht nötig, um die unerhörten Gnadenwirkungen des Sakraments des Altars sonst zu empfangen. Wenn sie aber geschieht, so steht sie unter der Vorstellung, daß man eben den Gott leibhaft genieße, den man beim Hochheben der Monstranz angebetet hat, und der als Sanctissimum im Kirchenhause wohnt und die Gebete seiner Gläubigen aus nächster Nähe hört. Das religionskritische Urteil über dies Sakrament des Altars ist klar. Hier sind Mittel und Verfahren außerchristlicher heidnischer wie jüdischer Religion der Absicht dienstbar gemacht worden, Jesus als den, welcher zugleich der den Kreuzestod Sterbende und der lebendige Herr ist, in Gottesdienst und Frömmigkeit zum Träger des uns die Nähe Gottes gewährenden Heiligen werden zu lassen. Vielleicht ist es auch frommem Sinn möglich, durch das Fremdartige, nicht eigentümlich Christliche dieser Mittel noch hindurchzudringen zu Jesus selbst. An sich aber sind hier die Mittel das Beherrschende und Sinntragende geworden. Sie überwuchern das, dem sie dienen sollen. Nicht Jesus selbst ist hier noch Träger der heiligen göttlichen Gegenwart, sondern dreierlei: das priesterliche Opferwerk mit seinen Gott versöhnenden gnadenvollen Wirkungen, die Hostie als gegenwärtige Gottheit, die leibhafte Gottesnießung. Vielleicht vermöchte skeptisch aufklärerischer Sinn es sogar zu bewundern, wie hier ein feines abgezogenes Destillat aus aller menschlichen Religionsgeschichte überhaupt eine der Menge noch verständliche und doch gleichsam schon vergeistigte Weise des Gottesdienstes und der Frömmigkeit geschaffen habe, welche immerhin eine gewisse Beziehung des Gemüts zu den tiefen Ideen des Evangeliums herstelle. Es ließe sich wohl auch nicht ohne Recht behaupten, daß es unter den gebildeteren Anhängern der Papstkirche viele gebe, die sich durch einen aufgeklärten Symbolismus mit dem Sakrament des Altars zurechtfinden und trotz der Bedenklichkeit ihrer Anschauung, solange sie nicht Laut geben, von der Kirche geduldet werden. In Wahrheit wird damit der für evangelischen Glauben erschreckende Tatbestand eher verhüllt. Man muß ihn religionswissenschaftlich schon so ausdrücken, daß hier Jesus von Nazareth nur noch als Kultsymbol weiterlebt. Die Meinung vieler moderner Reli-
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gionsphilosophen, daß Jesus als geschichtlicher Mensch gleichgiltig sei, daß er allein als Reizmittel zur Bildung der Christusmythe und als Träger der christlichen Gestalt kultischer Einkleidung des Erlebnisses des Heiligen Bedeutung habe, darf sich auf nichts so überzeugend stützen wie auf das Sakrament des Altars. Verachtung von dem, was rein nach des Verstandes Maßstab Aberglaube ist, findet sich bei Luther allein niedrigen, possenhaften, gaukelnden Erscheinungen gegenüber, nie jedoch da, w o das Verkehrte, dem christlichen Glauben nicht Gemäße sich mit dem Wahn, heilig und göttlich zu sein, tief ins Gemüt gesenkt hat. Nichts ist Luther dem gegenüber, was mit dem Sakrament des Altars zusammenhängt, fremder als Religionsspott oder die hochfahrende Entrüstung, mit welcher rationalistische Monotheisten über Götzendienerisches herfallen. Es entspricht dem Wesen des reformatorischen Christentums, alles mit dem Sakrament des Altars Zusammenhängende rein vom Glauben ans Evangelium her zu messen. So allein ist es auch des tiefen Ernstes einer Bewegung würdig, welche das Ursprüngliche, Reine, Echte im christlichen Glauben und Dienst wieder zu Ehren bringen will. Verfährt man aber derart, so wird die Kritik im christlichen Sinne gerade unerbittlich schneidende Schärfe gewinnen. Luther stellt fest: Erstens, der Meßpriester handelt nicht als Bote des Evangeliums, als Prediger, welcher den H ö rern den Christus Jesus, der des Gesetzes Ende ist, vor H e r z und Gewissen stellt. Vielmehr, er ist ein einen heiligen Dienst nach Gebot einer Ordnung vollziehender Priester. Er tut wenn er es ernst meint und sein Gemüt in die Sache gibt mit gesammelter Andacht - ein unerhört gewaltiges Werk, versöhnt durch sein das O p f e r von Golgatha erneuerndes abbildliches O p f e r , das doch ein ganzes verdienstliches Opferwerk ist, aufs neue den schwelenden göttlichen Zorn und erschafft durch das Sprechen der Einsetzungsworte das Sanctissimum als leibhaft gegenwärtigen Gott. Das Verhängnisschwere an solchem Tun ist dies: je andächtiger und frömmer und verzehrender es geschieht - die verzehrende Andacht, mit welcher gerade junge Priester sich an dies Mysterium hingeben, kann ungeheuerlich sein - , um so deutlicher tritt das Werkhafte ans Licht. In der Tat, im Meßopfer wird das Einzige, das es christlich gibt, das Wort des Evangeliums von der umsonst sich schenkenden gött-
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liehen Liebe, die alles Werk verneint und allein dem Glauben ruft, umgewandelt zum menschlichen Werk, welches die Gnade und die Nähe Gottes erringt, beschafft. Zweitens aber entdeckt Luther, daß im Meßgottesdienst, auch wenn man auf die teilnehmende Gemeinde achtet, gerade der schreiende Widerspruch zum Evangelium Wirklichkeit wird. Als Sakrament gehört nach römischer Lehre die Messe zu den sogenannten „Sakramenten der Lebendigen". Niemand darf kommunizieren als allein der, welcher sich bewußt ist, dank giltiger Beichtbuße von Todsünden frei zu sein. Wer eine ungebeiditete Todsünde auf der Seele hat, somit zu den geistlich Erstorbenen gehört, beginge mit der Kommunion die furchtbarste aller Sünden, die des Gottesraubs. Er erwürbe sich somit noch einmal mehr die Hölle. Auch sonst aber können die in der Messe beschafften göttlichen Gnaden unmittelbar nur dem lebendige Gemeinschaft mit Gott gewähren, der die rechtfertigende, heiligmachende Gnade schon hat. Allerhöchstens mittelbar, sofern ihn der Eindruck der Messe etwa bewegt, in sich zu gehn und durch die Beichtbuße wieder mit Gott in Ordnung zu kommen, könnte ihm die Messe von Segen sein, die jetzt im Wesentlichen wie das Geschehen einer fremdgewordenen Gemeinschaft an ihm vorüberrauscht. So wird die Meßgemeinde geradezu erzogen, es sich einzuprägen, daß die gnädige und helfende Nähe Gottes, die im Meßgottesdienst beschafft wird, den Frommen und Bekehrten bestimmt ist, nicht aber eigentlich den von Gott durch Todsünde sich geschieden Wissenden. Auch hier also ist die Logik der Werkfrömmigkeit die übergeordnete. Faßt man beide Punkte zusammen, so darf, so muß man nach Luther sagen: alles, was zum Sakrament des Altars gehört, ist im letzten Ernst dem Glauben ans Evangelium schnurstracks zuwider. Die Mittel, mit denen hier versucht wird, Jesus als den Gekreuzigten und den lebendigen Herrn zu vergegenwärtigen, sind dem Zweck so zuwider, daß alles ins Gegenteil umschlägt. Der Christus, unter dessen Macht und Hoheit der Meßgottesdienst und das Altarsakrament stehn, hat nur noch den Namen gemein mit Jesus von Nazareth, welcher der Frömmigkeit des Gesetzesglaubens und Werkdienstes im Namen seines Vaters das Nein gesprochen hat. Um das Wesen des reformatorischen Christentums zu verstehen, muß man in sich die Tiefe des schlichten Glaubens-
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ernstes, mit dem Luther die Frömmigkeit des Meßopfers und Altarsakraments zerbricht, erschauernd nacherleben. Was hier geschieht, kann nur so ausgedrückt werden: Luther wendet das Nein wider Heidentum und Judentum, welches Paulus namens des Glaubens ans Evangelium gesprochen, auf Meßopfer und Altarsakrament an. E r stellt das von ihm vorgefundene höchste Heilige der Christenheit dem heidnischen und jüdischen Glauben und Dienst völlig gleich. Grübeleien über das Meßopfer hat er schon in sich getragen, als er in den Anfängen des Thesenstreits stand: die Vorlesung über den Hebräerbrief bezeugt es. Aber erst im dritten J a h r e des Thesenstreits, mit dem Sermon vom neuen Testament 1 5 2 0 , ist er zur entscheidenden, kein Ausweichen mehr kennenden Klarheit darüber vorgedrungen, daß Meßopfer und Altarsakrament eine unbegreifliche Umkehrung des Evangeliums, des Testaments Christi seien. Dieser Durchbruch, welcher das Entweder-Oder scharf ausspricht und die Kirchenspaltung erst wirklich unvermeidlich gemacht hat, ist nun verbunden mit neuen kühnen Aussagen über den Glauben ans Evangelium, die Luther vorher in so vollendeter K l a r heit nicht getan hat. In dem gleichen Sermon vom neuen Testament, der entscheidend mit dem Christus des Meßdienstes bricht, findet sich der Satz, daß das Evangelium des neuen Testaments Verheißung, nichts als bedingungslose Verheißung der ganzen göttlichen Gnade und H u l d an den Glaubenden ist, daß somit Verheißung und Glaube den ganzen Christenstand in allen seinen Regungen umfassen und andres nicht neben sich dulden. Damit erst w a r das Evangelium mit so voller Majestät auf den Thron gesetzt, daß es zum Gericht über alles ihm Widersprechende werden konnte. Noch schärfer und bestimmter tritt das, was so in Luther sich vollendet, in einem anderen Satze heraus, den er im gleichen J a h r e 1 5 2 0 mit dem Sermon von den guten Werken an den Tag gegeben hat. In seiner ersten Erklärung des Paulus hatte Luther wohl dem Satze, daß der Glaube ans Evangelium die ganze Gottesgerechtigkeit und Christus somit das Ende des Gesetzes sei, alle erdenkliche Ehre getan, ihn reich und tief zu entfalten gewußt. Aber Luther ließ doch damals im Grundsatz noch eine höhere Stufe der Frömmigkeit über den Glauben hinaus bestehen: die mystische Liebe zu Gott, welche erst die w i r k liche und ganze Erfüllung des ersten Gebotes sei. D e r Glaube
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ans Evangelium war gekoppelt mit dem demütigen Bewußtsein, doch nodi nidit ganze und echte Liebe zu Gott, nodi nicht ganze Erfüllung des ersten Gebots zu sein. Dies macht die tiefe Sdiwermut des frühen Rechtfertigungsglaubens Luthers aus: die Liebe zu Gott über alle Dinge haben wir erst dann, wenn uns das irdische Herz zerspringt und wir ganz eingehen in die Ewigkeit. Nun jedoch im Sermon von den guten Werken, also im gleichen Jahre mit dem Sermon vom neuen Testament, vergeht dem Reformator diese Folgewidrigkeit. Er hat es drei Jahre lang eingeübt, mit dem Mut des Gewissens wider alle alten heiligen Überlieferungen seiner Kirche zu dem ihm zwingend ins Herz Gegebnen zu stehen. Er hat audh die Fröhlichkeit und Seligkeit eines Glaubens, der wider eine ganze Welt, wider alles sich heilig und göttlich Nennende zum Evangelium von Jesus Christus zu stehen vermag, in sich erfahren. Er ist frei geworden. Nun sagt er es kühn und folgerichtig: der Glaube ans Evangelium selber ist die ganze Frömmigkeit, der ganze Gottesdienst. Er ist selber die Liebe zu Gott über alle Dinge, neben der es Höheres nicht gibt im Verhältnis des Einzelnen zu Gott. Er ist die Erfüllung des ersten Gebots rein und vollständig. Eben, indem Luther diesen Satz wagt, diesen Satz als die einzige ernsthafte Verkündigung des Evangeliums versteht, fällt über die Messe und das Sakrament des Altars die Entscheidung. Sie müssen fallen, wenn der Glaube ans Evangelium das Ein und Alles sein und bleiben soll. Einen Gott, einen Christus, ein Sakrament, die erst dem von Sünde schon Gereinigten sich richtig auftun, die nur mit der Andacht werkhafter Frömmigkeit hingenommen werden können, sie sind wider Jesus, den Boten des Gottes, welcher dem Sünder ganz und ohne Vorbehalt sein Leben und seine Liebe schenkt. Es ist durchaus folgerichtig, daß die formelle Vollendung der Lehre von Evangelium und Glaube und der Bruch mit dem Erlebnis des Heiligen, wie die Papstkirche es pflegt, in einen und den gleichen Augenblick fallen. Luther ist mit dieser Vollendung seiner Neuentdeckung des Evangeliums an eine Markscheide gelangt, von der ihm in den Jahren seines Werdegangs noch nichts geahnt hatte. Für uns Heutige ist es wohl nötig, die so aufgedeckten Zusammenhänge noch zu vertiefen durdi einen Blick auf die gleichzeitige Klärung von Luthers Verhältnis zur Mystik. Es beste-
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hen tief versteckte geschichtliche Beziehungen zwisdien dem eucharistischen Christus des Altars und der Messe einerseits, mystischer Frömmigkeitspflege anderseits. Bekanntlich hat das Papsttum alle Versuche von Theologen, das Verhältnis von Brot und Wein im Meßgottesdienst zu Christi Leib und Blut auf eine geisthaftere, innigere Weise zu deuten, mit der Gewalt seiner Autorität niedergebrochen und dann endlich 1 2 1 5 in Verbindung mit einem ökumenischen Konzil die Wandlungslehre in ihrer härtesten und anstößigsten Gestalt zum zwingenden Dogma erhoben. Erst die letzten drei Jahrhunderte vor Luther sind es, in denen das Papstchristentum unwiderruflich das Christentum des Meßopfers und Altarsakraments im geschilderten Sinne geworden ist. Man kann die Auswirkungen dieses Ereignisses in vielem verfolgen. Es zeigt sich aber in der Geschichte der diristlichen Frömmigkeit, solange sie nicht ganz tot und erstorben ist, ein eigentümliches Gesetz. Jeder fremde und bedrohliche Wandel in Gottesdienst und Frömmigkeit bringt in seltsamer Zwiesinnigkeit auch eine Bewegung des Gemüts hervor, welche ihn zu beriditigen sucht. Die letzten Jahrhunderte vor der Reformation sind nicht nur die der endgiltigen Verkehrung des Glaubens ans Evangelium in werkhafte Frömmigkeit. Sie erzeugen zugleich eine Tiefe und Innerlichkeit mystischer Bewegung, wie sie vorher im christlichen Abendland unbekannt gewesen ist. Es wird dem Geschichtsschreiber der christlichen Religion wohl nichts übrig bleiben, als darin den Versuch zu erkennen, mit dem einzelne fromme Theologen und Seelenführer den erstickenden Griff eines sich versinnlichenden und ins Kultische übersetzenden Dienstes umzuwandeln suchen in eine neue Tiefe der Gottinnigkeit. Man stellt die Erscheinungen, um die es hier geht, dar unter den Titeln der deutschen und der romanischen Mystik. In ihrer kühnsten Form leitet solche Mystik dazu an, das ganze Ich zu zertrümmern, die ganze Person aufzuopfern in einer Selbstvernichtigung gegen Gott, bei der alles Denken, Fühlen, Wollen vergeht. In dem durch diese Aufopferung und Vernichtigung zu einem leeren Gefäß gewordenen Menschen gebiert sidi alsdann von neuem der in das irdische Nichts hinabsteigende ewige Gottessohn. Da wo diese Frömmigkeit sich auf Maria bezieht, wird die Jungfrau, welche den Herrn leibhaft in ihre Niedrigkeit hinein empfangen hat, zum Urbilde der mystisch in Gott
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sich verzehrenden und so gerade mit Gott begnadeten Liebe des Frommen. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß dies alles in die subjektive Frömmigkeit übersetzte Motive des Meßopferdienstes und Altarsakraments sind. Auch darin besteht Gemeinsamkeit mit der Frömmigkeit und dem Gottesdienst des Altarsakraments, daß solche mystischen Wege nur von denen gegangen werden dürfen, welche durch die Bcichtbuße zu den von Todsünde Reinen gehören und überdies tadellos sind im Gehorsam gegen die Kirche. Das Beste an diesen Mystikern ist, daß sie auch die evangelischen Geschichten als Sinnbilder ihres Frömmigkeitsweges in ihre Meditationen einbeziehen. Es gehört mit zu dem Ernsten und Tiefen in Luthers Zerbrechen des eudiaristischen Christus des Meßopfers, daß zugleich damit auch die durch diesen entzündete mystische Frömmigkeit als dem Glauben ans Evangelium zuwider abgetan worden ist. Es konnte nicht anders sein, wenn das Evangelium alles und der Glaube ohne alle Werkhaftigkeit der ganze Umgang, die ganze Gemeinschaft mit Gott werden sollte.
B. Es scheint ein geheimnisvoller Vorgang, wie da der Glaube an das Evangelium im Reformator langsam das Ganze und Entscheidende wird, die ganze Frömmigkeit in die Begegnung mit Gott innerhalb Herz und Gewissen hineinzieht, den Reichtum mystischer und mönchischer Erfahrung in sich hinein verzehrt und endlich das eigentliche Heilige der vorgefundenen Kirche, den Christus des Meßopfers und Altarsakraments als dem Evangelium des neuen Testaments zuwider von sich stößt. Die orthodoxen Protestanten spredien hier wohl davon, daß die Autorität des Bibelworts bei Luther die verkehrten Setzungen der kirchlichen Autorität zerbrochen hätte. Die freier Denkenden aber meinen hier die Geburtsstunde einer rein in geisthafter Innerlichkeit lebenden Gewissensreligion erkennen zu dürfen. Beide sagen etwas Richtiges. Doch selbst wenn man versuchte, ihre Antworten zusammenzutun zu einer einzigen, täte man dem Vorgang nicht genug. Anhänger des Papstkirchentums, deren Gemüt am Erlebnis des Heiligen im Meßgottesdienst haftet, haben früher, wo sie ihr Empfinden noch unbefangener ausdrückten, von einem unheimlichen zerstörenden Geist gesprochen, welcher Luther von Stufe zu Stufe weiter
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getrieben habe, bis er schließlich am A l t a r selber sich vergriff. Audi sie sehen gleichsam etwas Richtiges. N u r muß man dann eben sagen, daß dieser Unheimliche, Mächtige kein andrer gewesen ist denn Jesus Christus selbst, so wie die Evangelien des neuen Testaments ihn uns zeigen. D a v o n ist nun näher zu sprechen. Die letzte bewegende K r a f t der Reformation ist ein neues Aufbrechen und Durchbrechen der persönlichen Macht und G e walt Jesu von Nazareth selbst über Herz und Gewissen der Gründer und Träger des reformatorischen Glaubens und Dienstes. D a ß Luther selbst es so gesehen, ist bekannt. Seine Gewißheit, daß das reformatorische Christentum von den dem alten Kirchenturm dienenden Mächten nicht verschlungen werden könne, ist allein die gewesen, daß Jesus Christus das Feld behalten müsse. Ursprünglich hatte Luther in den Anfechtungen und Ängsten seines Gewissens als einzige Möglichkeit des Lebens und A t mens die totale religiöse Resignation der romanischen Mystik geübt. Als er nun etwa 1 5 1 3 bei der Meditation über R o m . 1 , 1 7 das paulinische Evangelium mit seinem Nein zu allem Gesetzesglauben und Gesetzesdienst wiederentdeckte, geschah dies in der Form, daß Jesus Christus selbst uns von Gott zu unsrer Gerechtigkeit vor, in und aus Gott geschenkt sei. Der rein aus dem Empfangen der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit lebende Glaube, der selber nichts ist und hat, wird in der H i n gabe an Jesus Christus zu Umgang und Gemeinschaft mit Gott. W o nun f a n d er diesen zu uns kommenden, uns zu unserm Leben mit Gott werdenden Christus? Auf das Innerliche, das Persönliche, das Gegenwärtige, das Subjektive kam es an. Jesus Christus mußte in Person mit seinem Glauben, seinem Gottesverhältnis, wie er sie als Mensch gelebt, Seele, Gewissen und Gemüt umfangen. E r mußte die Seele des Glaubenden in seine eigne Seele hineinziehen, mußte im Glaubenden der Betende, der sich Gott Ergebende, der unter Gottes heiligem und verborgenem Willen Leidende werden. N u n waren nach alter christlicher Überlieferung die Psalmen als Gebete Christi in seiner Gottmenschheit, das heißt auf seinem Erdenwege, gedeutet worden. Luther nahm diese Deutung auf, führte sie mit verbissenster Folgerichtigkeit durch und lebte sich in zweijährigem inneren Ringen immer tiefer in den Psalter ein, der ihm zum Gebet Jesu Christi in seinen hier unter Sünde und Leid durch
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die Welt gehenden Gläubigen geworden war. Abwegigeres, Verschrobeneres, aber auch Tieferes als diese seine erste Psalmenauslegung läßt sich schwerlich denken. Sie nimmt sich bei flüchtigem Blick wie ein gelehrtes Anhäufen aller wichtigen Aussagen aus der mehr als tausendjährigen christlichen Psalmenauslegung und Psalmenumdeutung aus, bei dem auch die Anfänge des Humanismus und Hebraismus nicht vergessen sind. Dabei geht es Luther vor allem um die subjektiven Zeugnisse der Christen und Theologen vor ihm über das, was ihnen Jesus Christus in Herz, Gemüt und Gewissen bedeutet habe. Dies alles wird unter dem angegebenen zugleich christologischen und persönlichen Leitgesichtspunkt durchdrungen, gesichtet und dem nach Rom. 1 , 1 7 sich verstehenden Glauben untergeben. Ein nicht rastender Wille zum Letzten und Einfachen, zur Erkenntnis Jesu Christi und des Evangeliums klärt sich mit unendlicher Mühsal durch. Luther glüht die ganzen Schlacken der überlieferten theologischen und erbaulichen Schriftstellerei aus und schmilzt so aus der Mischreligion, zu welcher das Christentum allenthalben geworden war, die dem Evangelium und dem Paulinismus gemäßen echten und ursprünglichen Elemente aus. Er dringt durch die entstellten und vermengten unreinen Nachwirkungen Jesu und des Evangeliums hindurch zu dem lebendigen Herrn, welcher auch in ihnen irgendwie noch mächtig gewesen war. Er nähert sich Jesus Christus somit auf einem Umwege seltsamster Art. Leidenschaft aber und gesammelter Ernst vermögen viel. Die in der Tiefe der Gewissensanfechtung gewonnene paulinische Grunderkenntnis und die Einfalt des hingegebenen Gemüts waren mächtiger als der Wust theologischer und kirchlicher Künsteleien. Hinzu kam, daß bei der gewählten Fragestellung die kirchlichen und theologischen Außenwerke, vor allem denn Beichte, Messe, Verdienste, Lehrtifteleien ohne frommen Sinn von selbst immer unwichtiger und schattenhafter wurden. Am Ende dieser mühseligen Durchwanderung der Psalmen ist Luther, fast ohne es zu wissen, zu einem schlicht in der Welt der neutestamentlichen Frömmigkeit lebenden Christen geworden. Der geistige und seelische und reflexionsmäßige Erwerb der Christentumsgeschichte hat ihm einzig dazu geholfen, den Kern der neutestamentlichen Frömmigkeit auf eine neue, reflektiertere innerlichere Art zu sagen, zu verstehen, zu erleben.
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Allerdings, eine zwiefache Dunkelheit war noch geblieben. Sie mußte aufgelichtet werden, wenn wirklich die lebendige Macht Jesu über Luthers Seele und Geist sich vollenden sollte. Einmal, bei diesem Wirtschaften mit einem den Wortsinn überbietenden geistlichen Sinn des Psalters konnte wohl eine innere Lösung von dem sonst in Theologie und Kirche als wesentlich Geltenden sich bilden, aber kein klar reflektiertes Bewußtsein des Unterschiedes zwischen der neutestamentlichen und der gegenwärtigen kirchlichen Theologie. Es fehlte Luther noch an den kritischen Einsichten in die Notwendigkeit grundstürzender theologischer und kirchlicher Reformen. Hier half ihm weiter der Übergang von der Psalmenauslegung zu der des Römer-, Galater- und Hebräerbriefs. Der Zwang zu eindeutiger Begrifflichkeit formte den Glauben ans Evangelium durch zu einer alles umdenkenden neuen vereinfachten Theologie und lieferte so die Grundlage zu den Resolutionen des Thesenstreits bis hin zu der völligen Zerstörung des überlieferten Sakramentsbegriffs und des Meßopferdienstes 1520. Dabei erhebt sidi auch von Phil. 2 und Hebr. 12 her ein neues tieferes Christusbild, welches das der Psalmenvorlesung unter sich läßt. Indem der Mensch Jesus in seiner Erniedrigung und der lebendige Herr in seiner göttlichen Hoheit sich inniger durchdringen, gewinnt die sich unser annehmende und zu sich emporziehende göttliche Liebe in der Christusgestalt neue Lebendigkeit, und erst damit wird der Paulinismus zum Gericht über die scholastische Theologie der Kirche. Eines freilich fehlt diesem paulinischen Christusbild. Eis war ebenso wenig wie das aus der Psalmenauslegung mit den konkreten Einzelheiten der evangelischen Geschichte durchdrungen. Dieser zweiten Dunkelheit nun wurde dadurch abgeholfen, daß Luther unter eine unmittelbare, ihm so vorher nicht widerfahrene Wirkung der Evangelien trat. So wurde das aus Paulus aufgenommene Christusbild mit einer überquellenden Fülle reichen Lebens gesegnet. Der erste Anlaß dazu ist wohl gewesen, daß Luther die Pflicht zufiel, sonntags in der Stadtkirche zu predigen. Es war damals Brauch, auch wenn man sich zum Hauptgegei stände der Predigt einen andern besonderen Gegenstand wählte, auf jeden Fall auch eine Auslegung des Sonntagsevangeliums zu geben. Die uns aus der Zeit zwischen 1 5 1 6 und 1520 erhaltenen Bruchstücke dieser Predigtauslegungen
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zeigen uns zum ersten M a l e einen Luther, welcher sich meditativ in die evangelische Geschichte, d. h. f ü r ihn in die Begegnung J e s u des H e r r n mit den Menschen vertieft. Ziemlich schnell w i r d ihm dabei diese Begegnung J e s u mit den Personen der evangelischen Geschichte zum ewigen, in Gleichzeitigkeit erlebten Bilde der Begegnung des Gottes des Evangeliums mit dem H e r z e n und Gewissen des Einzelnen. Es ist ein neues Schauen J e s u in Geist und Glaube, das dem Luther des Thesenstreits H e r z und Z u n g e löst. Den reinsten Ausdruck findet das N e u e dann in den Evangelienpredigten des A d v e n t s - , Weihnachts- und Fastenteils der Kirchenpostille. H i n t e r alledem aber steht, dem G a n z e n den Abschluß gebend, ein unendlich tiefer Eindruck des vierten Evangeliums, v o n dem Luther in B r i e f e n Rechenschaft gegeben hat. D a s 4. E v a n g e l i u m w i r d ihm zum Schlüssel seines gesamten Verständnisses der evangelischen G e schichte. Weil es sich hier zum Teil um weniger bekannte Tatsachen handelt, w a r es nötig, umständlich v o m Werden des Christusglaubens in Luther zu sprechen. M i t der dies Werden abschließenden Wirkung des vierten Evangeliums auf Luther erreichen w i r nun die Stelle, an welcher die zusammenfassende Sinndeutung des Begebnisses sich w i e v o n selber macht. Indem das vierte E v a n g e l i u m den ans K r e u z Erhöhten und den zum lebendigen H e r r n Erhöhten als den einen T r ä g e r des Evangeliums v o n der Freiheit der Gotteskindschaft zu schauen wußte, hat es seinerzeit in der christlichen Frühgeschichte denen, welche nicht mehr „sehen" konnten, d. h. nicht mehr an der Oster-PfingstE r f a h r u n g Anteil hatten, mit einem sich dem Glauben gegenw ä r t i g machenden Bilde das eigentümlich christliche Erlebnis des Heiligen erhalten. Nichts bezeugt deutlicher, w i e echt der reformatorische Durchbrach das Ursprüngliche erneuert, als daß diese Stellung und Bedeutung des vierten Evangeliums wiederkehrt. Es w i r d zum vollendeten Ausdruck des an Jesus v o n N a z a r e t h sich neu entzündenden Erlebnisses des Heiligen, aus dem heraus Luther den vorgefundenen Glauben und Dienst zerbrochen hat. M a n darf somit nicht sagen, daß Luther das in Messe und A l t a r s a k r a m e n t gegebne Erlebnis gegenwärtiger heiliger Gottesnähe zertrümmert und dann den P l a t z leer gelassen hätte. D e r Jesus der evangelischen Geschichte, in meditativer Gleichzeitigkeit erlebt und im Glauben u m f a n g e n , unter
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Leitung durch das vierte Evangelium zu einem einheitlichen Bilde zusammengefaßt, er bemächtigt sich Luthers, u n d dies echte ursprüngliche Heilige des christlichen Glaubens u n d D i e n stes n i m m t ihn so mit Beschlag, d a ß er das verkehrte, durch heidnisch-jüdische Einflüsse verdunkelte Heilige des überlieferten Kirchentums, das Heilige des Meßopfers u n d A l t a r s a k r a ments, a b t u n k a n n , nein, a b t u n m u ß . N e b e n dem im Glauben d e m Gewissen gleichzeitig werdenden Jesus ist kein R a u m mehr f ü r das Heilige des eucharistischen Christus. Danach darf m a n den tiefgreifenden Wesensunterschied z w i schen evangelischer und katholischer Frömmigkeit auch so ausdrücken: in reformatorischem Glauben t r i t t Jesus Christus selbst, so wie er aus den Evangelien vergegenwärtigt werden k a n n , a n die Stelle des eucharistischen Christus u n d w i r d so der T r ä g e r der Rechtfertigung ohne des Gesetzes W e r k e allein aus dem Glauben. Sowohl der Meßpriester wie der an der Messe teilnehmende Christ, welcher zum Sanctissimum betet, sind in eine höchstens mystisch aufgelockerte w e r k h a f t e Frömmigkeit hineingestoßen. I m Gegensatz dazu zerstört die Vergegenwärtigung des Jesus der Evangelien, wenn sie unter dem Lichte der johanneischen Aussagen ihren festen Sinn gewinnt, jede M ö g lichkeit der Werkgerechtigkeit. Dieser Jesus ist der H e r r der G n a d e , welcher sein N e i n zur Gesetzesreligion durch den G a n g z u m Kreuze t a t h a f t u n d unwiderruflich bekundet. E r w i r d z u m Erlebnis des Heiligen, welches dem Rechtfertigungsglauben seine Andacht u n d Fülle gibt, u n d in u n d mit diesem G l a u b e n unmittelbare Begegnung des H e r z e n s u n d Gewissens mit dem lebendigen G o t t gewährt. So w ä r e es denn das Wesen des reformatorischen Christentums, d a ß in ihm das kirchlich-kultisch-sakramentliche Heilige sich verzehrt u n d hinschwindet vor der unmittelbar sprechenden lebendigen gegenwärtigen Gewalt des Jesus der Evangelien. M a n k a n n den H i n d u r c h b r u d i z u m Ursprünglichen des ersten, durch Fremdeinflüsse noch nicht herunternivellierten Christentums a m leichtesten erkennen an der Erneuerung des H e r r e n namens in Luthers E r k l ä r u n g des zweiten Artikels. Nicht als Teilhaber am göttlichen Weltregiment u n d nicht als Stifter der Kirche u n d ihrer gemischt gesetzlidi-gnadenhaften H ü t e r ist er der H e r r , sondern als der unmittelbare T r ä g e r u n d Gestalter unsrer allerpersönlichsten Gemeinschaft mit G o t t . E r will der
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nach Gott suchenden Seele des Einzelnen die dem Glauben rufende ewige Herzens- und Gewissensmacht sein, in deren Erkennen und Erfahren alle Stimmen der Menschen und der Welt, einschließlich derer der Kirche und ihrer Gottesdienste, verblassen und versinken. Darum ist der evangelische Gottesdienst seinem Wesen nach Vergegenwärtigung Jesu als des lebendigen Evangeliums selbst. Sein Höhepunkt als gemeinsame Feier liegt im Gebet des Herrn, mit welchem unsre Seele hin durch die Gebetsworte Jesu emporgetragen wird zum Vater. Hier werden er und die Gläubigen eines in der Gottessohnschaft oder Gotteskindschaft des Glaubens, welche jenseits des Gesetzes reines Empfangen des mit Jesu Wort, Bild und Geschichte uns heilig nahenden Ewigen ist. Der höchste Feiertag aber einer so ihr Heiliges erlebenden Verbundenheit der Herzen wird ebenso folgerichtig der Charfreitag sein, wie der des katholischen Glaubens und Dienstes der Fronleichnamstag mit seinem Umtragen der Hostie. Vielleicht erscheint es dem und jenem bedenklich, daß diese Darstellung des reformatorischen Glaubensverhältnisses unmittelbar zu Jesus dem Herrn Kierkegaards Formel von der Gleichzeitigkeit des Glaubens mit Jesus dem Erniedrigten und Gekreuzigten einführt und so rein und ausschließlich diesen zum Träger der göttlichen Gnade macht. Darauf gibt es eine Antwort: die lutherische Abendmahlsfeier. Freilich muß man sich hier über den überholten Gelehrtenstreit des sechzehnten Jahrhunderts um die Auslegung der Einsetzungsworte ins Uberlehrmäßige erheben und vor allem die skurrilen Weiterbildungen von Luthers Sätzen in den Extravaganzen der lutherischen Orthodoxie vergessen. Nur dann versteht man, was Luther in Wahrheit getan und gemeint hat. Der schlichte Grundsatz, von dem Luther ausgeht, lautet: man muß von allen kirchlichen Lehren, Überlieferungen und Gesetzen zurückgehn auf die von diesen zugedeckte und verfälschte Einsetzung der Abendmahlsfeier durch Jesus selbst. Es kommt auf nichts an als auf seinen, des Testators, Willen. E r ist uns bei der Abendmahlsfeier mit seinf m Wort, seiner Erklärung der Gegenwärtige, Bestimmende, genau so, wie er es beim letzten Mahle den Jüngern gegenüber gewesen. Ebenso wie diese hörten, glaubten und empfingen, ebenso sollen es wir. Und was ist nun sein, des Testators, Wort und Wille? Luther glaubt der
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geschichtlichen Wirklichkeit am nächsten zu sein, wenn er sich an den Bericht Pauli 1. K o r . 11, 23-25 hält und ihn leicht aus Matthäus ergänzt. A n diesen Worten unterscheidet er einerseits das in ihnen ausgedrückte Testament selbst, und anderseits das darauf gedrückte Siegel. D a s Testament ist die eine Verheißung, das eine W o r t des Evangeliums: Jesus Christus ist den Sündern, die ihm glauben, mit seinem G a n g durch den T o d zum Leben Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit. Dies ergibt gegen die Kommunion in der katholischen Messe den schneidend scharfen Unterschied, daß das Abendmahl nicht die Reinen, sondern die Sünder, die Verlorenen zu Gaste lädt. Ebenso wie bei seinem ganzen öffentlichen Wirken ist Jesus auch beim letzten Mahle der, welcher nicht den Frommen, sondern den Sündern die Gemeinschaft des Reichs gewährt, die Liebe des Vaters auftut. Insofern ist die Abendmahlsfeier der gesammeltste Ausdruck des Evangeliums von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben. Sie beschließt in sich das ganze Nein, welches Jesus im K a m p f mit dem Pharisäismus zum Gesetzesglauben und Gesetzesdienst gesprochen und am T a g e nach dem letzten M a h l mit seinem Tode besiegelt hat. Sie ist schlichte Gegenwart Jesu v o n N a z a r e t h mit dem Ganzen seines Lebens und Sterbens. Soviel von der Verheißung, dem Testament, dem Wesentlichen beim Abendmahl. D a s Siegel aber kann dann nichts andres sein, als daß auf diese Verheißung die endgiltige, jeden einzelnen persönlich meinende Bestätigung gedrückt w i r d . Es ist der Mangel der Predigt v o m Evangelium, daß sie ein W o r t an viele ist, über viele dahinrauscht, also ein Schein-Objektives, Schein-Allgemeines hat. Sie ist insofern dem nicht gemäß, daß der Glaube erst als persönlich aneignender echter ganzer Glaube ist. Nach Luther w i r d nun, indem zum H ö r e n des Testaments mit dem O h r die N i e ß u n g v o n Brot und Wein mit dem M u n d e hinzutritt, dieser Mangel aufgehoben. D a b e i legt nach seinem Verständnis der Einsetzungsworte Jesus in die an sich rein als Zeichen dienende N i e ß u n g v o n Brot und Wein ein wundertiefes Geheimnis hinein. Jesus erklärt, daß er selber mit seinem Leibe und Blute f ü r alle Zeiten und Geschlechter unter dem Brot und Wein gegenwärtig sein und von den Nießenden empfangen werden wolle. Indem Brot und Wein durch dies G e heimnis als ein Zeichen sonderlicher A r t sich darstellen, werden sie nicht etwa die Gabe der Verheißung selbst. Sie bleiben bloß
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das Siegel. Aber die tiefe Bedeutung dieses Siegels ist die Verinnigung des Verhältnisses zu Jesus, dem gekreuzigten H e r r n . Er ist dem Glauben als Träger der heiligen Gottesliebe so nahe, daß alle Scheiden, nicht nur des Raums und der Zeit, sondern auch des Abstands zwischen Jesus und dem, welchem er zu Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit wird, aufgehoben werden in das Nichts. So verstanden wird das Abendmahl zum Erfahren der Gleichzeitigkeit mit Jesus auf seinem Wege durch den Tod zum Vater. Es nimmt uns gleichsam mit hinein in die heilige Nacht, da er verraten w a r d und sich selbst mit seinem Leben den Seinen zum Leben in und bei Gott zu machen begehrte. Die Einsetzungsworte werden so lebendige Worte Jesu zu jedem Einzelnen, der da glaubt. J e mehr man über die Art nachdenkt, mit der Luther so zum Abendmahl in seinem ursprünglichen Sinn sich hinwendet, um so deutlicher wird es, daß hier das Nein des reformatorischen Christentums zum eucharistischen Christus des Meßaltars seine Vollendung findet. N u n steht hinsichtlich des rein Lehrmäßigen sicherlich fest, daß Luthers Auslegung der Einsetzungsworte schwere geschichtliche Fehler enthält. Die von ihm zugrunde gelegte paulinische Fassung dieser Worte steht der ältesten und echtesten Überlieferung recht fern. Vor allem aber fehlte es damals an derjenigen Kenntnis der aramäischen Sprache, dank deren wir in dem rätselhaften „Das ist mein Leib" eine am äußeren Ausdruck haftende Fehlübersetzung erkennen. Die Worte Jesu heißen richtig übersetzt: „Das bin ich selbst". Wir werden somit das Siegel oder Zeichen im Abendmahl einfach dahin bestimmen müssen, daß Jesus das von ihm gebrochene und den Jüngern gereichte Brot als Gleichnis seines Todes nimmt. Er hat den Jüngern mit dem Brechen des Brots seinen Tod angekündigt und dabei das Hinreichen des gebrochnen Brots zur Nießung als Ausdruck d a f ü r verstanden, daß er ihnen im Sterben mit seiner Liebe nahe bleibt, ja, erst recht nahe wird. Für einen auf das Überlehrmäßige Achtenden bedeuten diese Berichtigungen Luthers keinen wesentlichen Unterschied. Sie führen lediglich seine Erneuerung des ursprünglichen Abendmahls auf eine neue, seinen Grundsätzen gemäße Weise durch. Am besten hat den überlehrmäßigen Sinn der reformatorischen Erneuerung des Abendmahls Schleiermacher getroffen. Er sagt, die wahre Gegenwart Christi beim Abendmahl sei die des lebendigen H e r r n ,
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nicht in den Elementen sondern in der ganzen Feier. Jesus, der den Tod für die Seinen aus Gottes Hand Nehmende, wird uns dadurch zum unendlich nahen Träger des Heiligen, daß seine Abschiedsworte in jener heiligen Nacht zu Worten an uns werden und uns hineinnehmen in die Gemeinschaft mit dem ewigen Vater. Alles andre, das evangelische Theologen um diesen Kern noch herumgesponnen haben, ist dem Bereich des Unwesentlichen zugehörig. Es ist den Rosen zu vergleichen, welche frommer Sinn um das Kreuz des Herrn schlingen möchte.
C. Wir haben uns eben nebenher daran erinnern müssen, daß die neutestamentliche Überlieferung von Jesu letztem Mahl mehrschichtig ist und selbst bei den Einsetzungsworten oder Abschiedsworten Jesu große Unterschiede zeigt. Ein ähnliches Schicksal hängt nun für neuprotestantische kritische Wahrhaftigkeit allenthalben über unserm Wissen von Jesus. Er wird uns hinter und in der evangelischen Überlieferung gleichsam nur in den gebrochenen Strahlen sichtbar, welche von den ihn widerspiegelnden Seelen der ersten Gläubigen aufgefangen worden sind. Der Gelehrte rechnet mit vielem Scharfsinn die Strahlenbrechungen durch, und der schlichte fromme Leser tastet sich, von seinem Gefühl geleitet, durch das Verwirrende und Beirrende hin zu Jesu Wort und Geschichte. Beide versuchen wohl auch voneinander zu lernen. D a und dort finden sich gelehrter Scharfsinn und schlichte Frömmigkeit in einem Menschen so zusammen, daß Kritik und Glaube einander zu freundlichen Helfern werden. So und so aber: es gehört für jeden, der sich den Tatsachen nicht verschließt, heute viel Sammlung, Ernst und Mühe des Fragens, des Sehens, des sich Hingebens dazu, in den Evangelien der Gestalt Jesu zu begegnen. Hier liegt eine der Schwierigkeiten, mit denen die neuprotestantische Gestalt des reformatorischen Christentums zu kämpfen hat. Kann denn wirklich ein Jesus, den wir gleichsam durch Nebel hindurch erst suchen und finden müssen, uns zum gegenwärtigen Träger des Erlebnisses des Heiligen werden, in welchem der Ewige selbst uns nahe ist? Es kommt für die Antwort auf dies Bedenken alles darauf an, zwei Dinge nicht zu verwechseln. Eine in allen Einzelheiten genaue sachliche Erkenntnis, deren Feststellungen Zweifel und
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Unklarheit nirgends übrig lassen, ist uns bei vielen Menschen des vergangenen geschichtlichen Lebens nur bedingt und brudistückhaft gegönnt, und gleichwohl können wir von ihnen einen starken, uns persönlich bestimmenden Eindruck empfangen. Wir vermögen in der Gleichzeitigkeit einer echten persönlichen Begegnung wahrhaftig eines Menschen inne zu werden, ihn in seinem Denken und Wollen, seinem Erleiden Gottes und des Schicksals und der andern Menschen gegenwärtig nah zu erleben und zu verstehen, ohne daß wir uns doch als Geschichtsforscher mit ihm zu schaffen gemacht hätten. Oft haben wir dabei noch nicht einmal ein sicheres und begründetes Urteil, in welchem Umfange die diesen Menschen widerspiegelnden Worte und Geschichten vom Dichten und Raunen der Erinnerung zurechtgeformt worden sind. Wäre Jesus Träger von Geboten einer Gesetzesreligion, oder stünde und fiele er mit der nachprüfbaren Verläßlichkeit bestimmter über ihn erzählter wunderhafter Tatsachen, so dürften wir uns freilich solch einer persönlichen Begegnung mit ihm durch das Medium der evangelischen Spiegelreflexe hindurch nicht getrösten. Es käme dann alles darauf an, genau zu kontrollieren, ob dies oder jenes religiöse Gesetz wirklich von ihm stamme, ob dies oder jenes Wunder wirklich geschehen sei. Träger des Evangeliums dagegen, welcher uns in seine Gemeinschaft mit seinem Vater hineinnimmt und die im Glauben zu ergreifende Liebe Gottes zu unserm Lebensgrunde macht, ist Jesus rein als der lebendige Mensch, dessen Seele und Gesicht den von ihm überlieferten Worten und Geschichten ein so unvergeßlich individuelles Gepräge gibt. Nicht mit dem Außen, sondern mit dem Innen seines Worts und seiner Geschichte wird er nach reformatorischem Glauben als Gottes zu uns kommendes Herz unser Herr. Die Abwandlungen des Worts Jesu und die legendären oder mythischen Ergänzungen seines Worts und seiner Geschichte stellen also dem auf das Wesentliche sich sammelnden Sinn nur eine einzige Aufgabe: die, sie vom echten Kern des Worts und der Geschichte Jesu her zu beurteilen. Sie sind in sich verschiedenen Geistes. Einige wie die Weihnachtsgeschichte und das Evangelium von den zehn Aussätzigen sind, wenn man das Märchenhafte als Gleichnis zu lesen vermag, reine wundertiefe Bilder des Evangeliums, an denen nichts Beirrendes mächtig ist. In andern Stücken freilich ist da und dort der Geist niederer,
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v o m E v a n g e l i u m verneinter A r t des Gottesglaubens zu spüren. Luther, der sie f ü r geschichtlich halten mußte, stand hier v o r der Mühsal der Umdeutung und Zurechtrückung v o m echten lauteren E v a n g e l i u m her. D e r Evangelienforscher v o n heute stellt ihnen gegenüber mit besonderer S o r g f a l t die F r a g e nach der Geschichtlichkeit. Dabei macht er immer wieder eine überraschende Beobachtung. G e r a d e die v o n einem dem E v a n g e l i u m fremden Geist geprägten Worte und Geschichten verraten es dem geschulten wissenschaftlichen Sinn durch unzählige K l e i n züge, daß sie nicht zu dem ursprünglichen E r z ä h l g u t gehören. Es ist nun wichtig, die Lage, die durch dies R a n k e n w e r k der evangelischen Geschichte f ü r die neuprotestantische Gestalt des reformatorischen Christentums entsteht, an Beispielen zu erläutern. N u r so w i r d deutlich werden, daß auch uns Heutigen Jesus im Glauben gegenwärtig zu werden vermag. Erstens, heidnische w i e alttestamentlich-jüdische F r ö m m i g keit erwartet v o n der Gottheit, daß sie ihren w ü r d i g e n V e r ehrern durch allerlei Gunsterweisungen und Wunderhilfen in den N ö t e n und Schickungen dieses wechselreichen Daseins sich bekunde. Demgemäß muß ein Gottesmann seine außerordentliche Sendung und Vollmacht durch Wundertaten erweisen. Diese Betrachtung ist dem E v a n g e l i u m ebenso wesensfremd, w i e sie dem Volksglauben und dem Gesetzesdienst natürlich ist. F ü r Jesus, welchem das Reich Gottes nach der richtigen Deutung des Paulus Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist, das heißt E m p f a n g e n der ewigen Gotteskindschaft w a r , ist es ein erschreckendes Erlebnis gewesen, daß die ihm verliehene natürliche H e i l g a b e den Menschen das Wichtigste an ihm w a r , daß sie in ihm den Wundermann und nicht den Prediger des E v a n g e l i u m s begehrten. D i e Wunderheilungen gehören f ü r ihn zu dem ihm v o n seinem V a t e r auferlegten Leiden. N u r da, w o er in dem Vertrauen, das man auf ihn als A r z t setzte, ein A u f gehen der Ahnung v o m verborgenen Gottesreich, ein sich hochreckendes Verlangen nach dem Geheimnis der Gotteskindschaft zu spüren meinte, konnte er v o n G l a u b e sprechen. G e w a h r t e er d a v o n nichts, so f a n d er im Begehren der Wunderhilfe böse, ungläubige Verhärtung und Verblendung. Dies sein Verhältnis zum Wunder w i r d J o h . 2,4 harsch gemalt in dem widerstrebenden N e i n , welches er auf der Hochzeit v o n K a n a dem V e r l a n gen der M a r i a entgegensetzt. Für den Evangelisten dort ist das
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Tun des Wunderzeichens eines mit dem Nahen der Todesstunde. Es ist jedoch begreiflich, daß in der allenthalben von Wunder und Wundergier durchwirkten heidnisch-jüdischen Welt die Wunderheilungen Jesu als Kampfestaten wider die das Glück der Menschen bedrohenden Dämonen aufgefaßt wurden. Damit wurden seine Wunder zur Beglaubigung seiner Sendung und Sohnschaft. Auch das ist natürlich, daß Volksglaube und Gerüchtemadierei einen phantastisch reichen Kranz von Wundergeschichten um Jesus gewoben haben. Wer etwa sich die Mühe macht, an allen den Stellen, an denen Matthäus von Massenheilungen spricht, nach der Vergleichsstelle im Markus zu suchen, der sieht, wie unbedenklich die Zusammensteller des Matthäusevangeliums hier verfahren sind. Durch alle diese Entstellungen und Verdunklungen hat heute wie einst der Glaube an Jesus und das Evangelium hindurchzudringen zu der Wahrheit, die Jesus ist und lebt. Für den in äußerlicher Gleichzeitigkeit Lebenden war es der Wunderklatsch, das Wundergerücht, das ihn beirren und verführen konnte, den leidenden Menschensohn als Wundermann mißzuverstehn. Der Zusammenbruch des Glaubens an Jesus, als man ihn verhaftete und kreuzigte, rührt daher, daß dieser Glaube vom Geheimnis des Gottesreichs, das durch Leiden und Tod zu uns kommt, nichts ahnte. Für die späteren Geschlechter tun die Schatten und Schleier der Wundererzählungen die gleiche Wirkung. Niemand kommt zum wahren Glauben in echter Gleichzeitigkeit mit Jesus, ohne daß er durch diese Waberlohe niederer Religion hindurchschreitet. Die altevangelischen Geschlechter taten es unter Leitung durch den paulinischlutherisdien Christusglauben, der ihnen zum Schlüssel und Maßstab des Verstehens ward. Wir heute brauchen nicht wie sie umzudeuten und an den Rand zu schieben. Uns muß der paulinisch-lutherische Christusglaube allein zur Mahnung werden, hinter den beirrenden Glanzlichtern der evangelischen Erzählungen den wahren Träger des Evangeliums zu suchen. Im Übrigen wird es wohl nur billig sein, daß so aufs Wesentliche gesehen alle Geschlechter in der gleichen Lage sind. Wäre es nicht fast dem Evangelium zuwider, wenn die Berichte von Jesus ohne Anspannung des Herzens recht verstanden werden könnten? Die zweite Irreführung, die von den evangelischen Berichten
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ausgeht, ist bedrückender. Noch kein Evangelienforscher hat sich wohl versucht gefühlt, in Jesus wesentlich nur einen Goeten und Wundermann zu finden. Dagegen hört man es oft, daß Jesus doch nach dem Zeugnis der Evangelien ein neuer Ausleger des Gesetzes, ein Gesetzeslehrer gewesen sei. Man rühmt dann wohl auch den hohen Rang dieser Ethik, die vielleicht da und dort ein wenig weltfremd, im Ganzen aber tief und wahr erscheint. Man meint wohl gar tadelnd, Paulus und Luther hätten mit ihrer Deutung Jesu als des Trägers des Evangeliums von Gottes das Gesetz zerbrechender Gnade und Liebe das Bild Jesu von Nazareth verfälscht. Jesus verlange Nachfolge in seinen für den Lebenswandel aufgestellten Geboten und habe doch in der Bergrede eine Sittenlehre zusammenfassend gegeben, die eine vernichtende Kritik unsrer ganzen Gesellschaft darstelle. Auch hier geht das den echten Eindruck von Jesus Zudeckende allermeist von den Evangelisten, voran denn von Matthäus aus. Zum Teil entspringt die schwebende Allgemeinheit der Weisungen Jesu wohl einfach daraus, daß bei einem Manne, der so gedrungene, geistdurchglühte und auffallende Sprüche zu bilden liebte, vielfach der Ausspruch unabhängig vom Anlaß überliefert wurde. Vor allem aber gehört es zur Art der spätjüdischen Religion, daß in ihr der Lehrer und Ausleger der göttlichen Gebote, welcher vollmächtig zu binden und zu lösen, d. h. für verboten oder erlaubt zu erklären wußte, als Führer der Gemeinde der Frommen eine grenzenlose Verehrung genoß. Mit diesen Schriftgelehrten war Jesus auf seinem Gange durchs Leben in Widerstreit gekommen. Schon dies warf auf ihn den irreführenden Schein eines Gesetzeslehrers mit neuer Deutung des göttlichen Willens. Daraus mußte in der ersten christlichen Gemeinde fast unvermeidlich die Vorstellung erwachsen, daß Jesus als der im Kommen begriffene Herr des ewigen Gottesreichs auch der Geber eines neuen vollkommenen Gesetzes sei. Das praktische Bedürfnis tat das Seine hinzu. Der Widerstreit zwischen der aus Jesu Art und Geist sich ergebenden Lebensführung hier und der von den Rabbinen geregelten Gesetzlichkeit der Synagoge dort war so groß, daß die Zusammenstellung einer kleinen christlichen Thorah aus Sprüchen für die Gemeinde zum Bedürfnis wurde. Wir haben sie in der sogenannten Bergpredigt, welche nie von Jesus gehalten worden
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ist, sondern eine Sammlung, O r d n u n g u n d A u s f o r m u n g einzelner Aussprudle Jesu durch judenchristliche Lehrer darstellt. Es besteht f ü r den Leser der Evangelien die Aufgabe, hier ebenso durch den augenverblendenden Spiegelreflex h i n d u r c h z u d r i n gen zur w a h r e n Erkenntnis Jesu wie bei den Legenden u n d Mythen. G e w i ß zeichnet sich in Jesu W o r t e n auch so etwas wie eine neue Sittlichkeit ab. Indes, w o r u m es sich hier handelt, versteht n u r der, weither sich mit gesammeltem Sinn den bitteren K a m p f Jesu gegen den Pharisäismus u n d vor allem seinen G a n g z u m K r e u z vergegenwärtigt. N u r er gewahrt die beiden Pole des Evangeliums, in denen Jesu Person u n d W o r t u n d Geschichte eins werden. D e r eine Pol ist die Botschaft v o n dem w u n d e r lichen G o t t u n d Vater, welcher den U n f r o m m e n u n d Sünder z u m K i n d e begehrt u n d an dem in sich befriedigten, das Verlangen tiefer Bedürftigkeit nicht kennenden Gesetzesdiener vorübergeht. D e r a n d r e Pol des Evangeliums aber ist die diesen G o t t u n d V a t e r erleidende Gotteskindschaft, die jenseits des Gesetzes sich schlicht hinlebt in Glaube u n d Geist u n d nichts zu sein begehrt als ein Gotte u n d dem Nächsten gehörendes H e r z . Eben dazu nun, durch alle Verblendungen eines knechtischen oder auch freisinnigen Moralismus hindurch zu diesen Polen zu dringen, eben dazu h a t das reformatorische C h r i s t e n t u m erziehen wollen. Die Gleichzeitigkeit des Glaubens mit Jesus als dem Träger des Evangeliums, welche die Seele der r e f o r m a t o r i schen Frömmigkeit ist, leitet wirklich z u m geschichtlichen K e r n der evangelischen Erzählungen hin. Sie steht auch rein als wissenschaftliche Erkenntnis hoch über jener kalten u n d toten Forschung, die in Jesus nichts erblickt als einen „liberalen R a b b i " oder naiven „Sokrates v o m L a n d e " oder nicht ganz begriffsklaren „Vorläufer K a n t s " . Echter Neuprotestantismus, der in die Tiefenschicht der Wirklichkeit des Evangeliums dringt und Sinn h a t f ü r das Geheimnis eines Lebens mit G o t t , w i r d in Luthers Evangelienpredigt sogar da, w o sie Legenden f ü r Geschehnisse n i m m t , eine H i l f e finden, um in den evangelischen Erzählungen das uns nahen wollende Geheimnis des Gottesreichs zu gewahren. Fast noch bemerklicher als in dem moralistischen M i ß v e r ständnis w i r d das Versagen aller rein objektivierenden Betrachtung der Evangelien bei der dritten Fehlweisung, durch die es
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hindurchzudringen gilt, wenn Jesus selbst sich dem Blick zeigen soll. Unter den Frommen der jüdischen Volks- und Religionsgemeinde zur Zeit Jesu hat eine phantastische Erwartung von einem in Kürze hereinbrechenden messianisdien Wunderreich gelebt. Dies Reich sollte unter der Herrschaft eines von Gott bestellten Messiasweltenkönigs bei gleichzeitiger Verwandlung von Erde und Himmel alle Völker der Erde dem Glauben und Dienst des alttestamentlichen Gottes und seines Gesetzes zuführen und so das auserwählte Volk zum Werkzeug des göttlichen Weltregiments erheben. In ihren tieferen Gestalten war diese oft wirre und widersprechende Züge tragende Erwartung mit den Vorstellungen von Totenauferstehung und Weltgericht verbunden. Jesus nun hatte zu dieser Erwartung ein zwiesinniges Verhältnis. Er mußte wie alle Menschen, durch welche Erkenntnis des Ewigen und Unendlichen sich in die Menschheitsgeschichte hineingebiert, das in ihm lebende Neue ausdrükken mit den alten Bildern und Worten, die für ihn nur im Umschmelzen und Umverstehen Wahrheit hatten. So legte er, das Verkehrte ausscheidend und ausläuternd, das Geheimnis seines eigenen Glaubens und Gehorsams, seines Neins zum Gott des Gesetzes und seines Jas zum Gott des Evangeliums hinein in das ihm sich bietende fremde Gefäß. In seiner Botsdhaft klammerten sich der leidende Menschensohn und der Bringer des Gottesreichs, die heimliche Gegenwart der göttlichen Liebe im Evangelium und der Blick auf den nahen Hereinbruch der Ewigkeit, die heimliche Hoffnung der nach Erlösung Ausschauenden in Israel und die Abstoßung des von ihm als satanisch empfundenen Messianismus zu einer unbegreiflichen Einheit zusammen. Wen wird es wundern, daß in der ersten Gemeinde der Christen die spannungsreiche Tiefe dieses seinen Träger ans Kreuz führenden Sohnesbewußtseins nicht verstanden wurde, und daß in den Berichten der Evangelien viele Jesus selbst fremde Phantastik sich in sein Wort hineingedrängt hat? Und weiter: wen wird es wundern, daß eine rein mit dem Verstand arbeitende Evangelienforschung, der es an der Leidenschaft mangelt, in die letzten Tiefen zu dringen, hier selber in Verwirrung gerät? Sie schwankt zwischen zwei Extremen hin und her. Heut macht sie Jesus zum Schwärmer und Phantasten, der nach dem messianischen Endreich tastet, und gestern noch hat sie den Glauben an das kommende Wunderreich für eine das
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Wort Jesu verfälschende Eintragung späteren Gemeindeglaubens erklärt. Wer die beiden Stimmen, die Jesu und die der Gemeinde, richtig auseinanderhören will, bedarf eines Blicks in das anfechtungsschwere innere Geschehen, unter dem in Jesus die Verkündigung des Reiches Gottes einen neuen, die Grenzen der alten Erwartung zersprengenden Sinn gewonnen hat. Hier sollten die halt- und ratlosen Modernen von Luther das Entscheidende lernen. Er hat dank der meditativen Versenkung seines Glaubens in Jesu Wort und Geschichte verstanden, daß das vierte Evangelium mit dem Wort „Leben, ewiges Leben" den Gehalt der Verkündigung Jesu vom Reiche Gottes uns aufgeschlossen hat, und so lichtet sich ihm die dritte, am schwersten lastende Dunkelheit der evangelischen Berichte. Wird Jesus der uns in der Innerlichkeit unsers Umgangs mit Gott gegenwärtig regierende Herr, so stehen wir mit ihm zusammen an jener Grenze von Zeit und Ewigkeit, welche die Spannung zwischen dem Heute des Glaubens und Geistes und dem Morgen der ersehnten Vollendung erzeugt. Das Leben im Glauben ans Evangelium verleiht unserm gesamten Dasein das Gepräge des Transitus, des Übergangs aus Dunkel in Licht. Ein Mensch, der im Glauben ans Evangelium als ein zugleich von Gottes Liebe Getragener und dennoch vom Dunkel in ihm und um ihn Angefochtener den Gang in den Tod als rätselumwallten Gang in Gottes Leben hinein nimmt, er gewinnt eine Gleichzeitigkeit mit dem seiner mächtig werdenden Jesus von Nazareth, in der er das Evangelium vom Gottesreich wesentlich versteht. Diese oft als Willkür der Umdeutung geschmähte Einsicht des reformatorischen Christentums läßt sich, allen Einsprüchen blinder Verständigkeit zum Trotz, durchklären als echte, freie, auch wissenschaftlich Stidi haltende Auslegung der evangelischen Geschichte. Es gehört nichts dazu als die Bereitschaft, durch die zufälligen Formungen und Gestaltungen der Vorstellung hindurchzudringen zum überlehrmäßigen Kern. Es wird die größte Vollmacht der neuprotestantischen Aneignung des reformatorischen Christentums sein, daß sie auch in dieser uns heute am meisten bedrückenden Frage religionskritische Einsicht und Hingabe des Glaubens an die im Evangelium aufleuchtende personhafte Wahrheit zu verbinden vermag. Man darf alle drei Punkte so zusammenfassen. Die reformatorisdie Vergegenwärtigung Jesu von Nazareth als des uns im
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Glauben regierenden zugleich geschichtlichen und ewigen Herrn bringt es mit sich, daß auch die synoptischen Evangelien mit dem alles Einzelne vom Mittelpunkt her verstehenden vergeistigten Blick des vierten Evangelisten gelesen und gedeutet werden. Dies aber kann nur gedankenlosem, unkritischem Sinn als ein Widerspruch zu den Erfordernissen echter historischer Erkenntnis erscheinen. Vielmehr gewährt gerade die Deutung der Evangelien vom Innersten und Wesentlichen der Person und Geschichte Jesu her Luther und den Reformatoren einen Ersatz für die fehlende historisch-kritische Fragestellung. Sie wird damit zur Berichtigung der Fehler, welche durch allzu naive Gleichsetzung von Hergang und Bericht den Reformatoren entstanden sind. Rücksichtslos biegt Luther das Irreführende an den evangelischen Erzählungen zurück in die Wahrheit der Erkenntnis Jesu Christi. Sind die Mittel dieser Umbiegung nicht mehr die unsrigen, so müssen wir umso mehr uns verwundern über die Kraft, mit der Luther und seine echten Schüler wirklich durchdringen zum Wesentlichen. Vergleicht man damit die tollen Unsicherheiten und Fehlgriffe der im einzelnen oft so scharfsichtigen modernen kritischen Auslegung, so wird einem klar, daß diese nur gewinnen kann, wenn sie sich vom reformatorischen Glauben das Herz des Geschehens zeigen läßt. Sie wird so einen Maßstab in die Hand bekommen, auf weldie Weise allein die Wirklichkeit Jesu von Nazareth und der Glaube der ersten Gemeinde richtig auseinander gerechnet werden können. Allein wenn der Neuprotestantismus es lernt, Evangelienkritik und reformatorischen Glauben ineinanderzuschmelzen, wird die freie wissenschaftliche Evangelienforschung aufhören, sich im Irrgarten der Probleme die Füße wund zu laufen und dabei jegliche Möglichkeit einer Orstbestimmung zu verlieren. Das Schicksal des reformatorischen Christentums wird mit davon abhängen, ob diese Einsidit in die Lage der Dinge sich durchsetzen kann. Es geht hier wahrlich um mehr, als viele evangelische Theologen heut zu meinen scheinen. Die Erkenntnis Jesu von Nazareth in einer Glaube und geschichtliche Schau verschmelzenden, leidenschaftlich auf den Sinn wirkenden Gleichzeitigkeit darf nicht als bloßer Anhang zu den abstrakten theologischen Grundsätzen, Formeln und Begriffsgespinsten verstanden werden, auf den man allenfalls auch verzichten
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könnte. Kein Glaube, keine Frömmigkeit, keine Kirche, keine Religionsgestalt vermag zu leben ohne das, was wir das Erlebnis des Heiligen als ein von lebendiger Kraft getragenes N a hesein Gottes genannt haben. Wird uns evangelischen Christen Jesus von Nazareth nicht so zum tief in Gemüt und Gewissen greifenden Erlebnis des uns nahenden göttlichen Geheimnisses, so sind unser Gottesdienst und Glaube leer. Wer noch weiß, was Religion und Frömmigkeit ist, würde dann aus unsern Reihen hinüberflüchten zur Kirche des Messegottesdienstes und Altarsakraments. Da in dieser aber das echte ursprüngliche Christentum ebensowenig lebt wie in einem seines Heiligen entleerten Protestantismus, welcher die Seelen mit Lehren und Begriffen zu nähren sucht, so wäre alsdann wohl die Stunde des religionsgeschichtlichen Todes für den christlichen Glauben gekommen. Darum sieht der, welcher diese Zusammenhänge begriffen hat, mit Erschütterung auf das Totengräberwerk, zu welchem in der heutigen evangelischen Theologie dogmentrunkene Bibliolatrie und klapperdürre religionskritische Abstraktheit sich zusammenfinden, um den Träger des Evangeliums, den wirklich durch die Menschengeschichte wandelnden, zu uns sprechenden Menschensohn unter die Erde zu bringen.
j. Evangelische
Freiheit und
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A. In jungen Jahren sah ich einmal als Hauptsdimuck einer guten Stube ein großes, prächtig ausgeführtes Stahlstichblatt, welches die Segnung der Kinder durch Jesus darstellen sollte. Jesus stand mit der vom Papst gebrauchten Fingerhaltung segnend da. Neben ihm stand, die gleiche Fingerhaltung übend, Petrus und segnete mit. Nach der evangelischen Erzählung haben die Jünger diejenigen, welche die Kinder zu Jesus brachten, hart angefahren. Der Künstler hat es besser gewußt als das Evangelium, oder aber, er hat es sich gar nicht anders denken können, als daß Petrus, der zum Stellvertreter Christi auf Erden damals schon Ausersehene, an dem Fehlgriff der Jünger unbeteiligt gewesen ist. Der Stich drückt vortrefflich aus, wie heute in den frommen katholischen Familien die Kinder erzogen werden. Von früh an wird in ihr Gemüt, als etwas, das mit christlichem Sinn und christlicher Frömmigkeit untrennlich eins ist, eine scheue Liebe und Verehrung für den heiligen Vater zu Rom eingepflanzt. Nach dem heute allgemein im Katholizismus Geltenden ist der Papst der Universalbischof der ganzen Christenheit, die Bischöfe sind grundsätzlich nur seine Amtsgehilfen. Insofern ist auch die Entsendung des Pfarrers oder Kaplans in letztem Betracht ein Werk des heiligen Vaters. So erfährt und lernt denn das Kind, daß es alle christlichen Unterrichtungen und alle christlichen Gnaden ganz der Liebe und Fürsorge des heiligen Vaters verdankt, der bei seinem unermüdlichen Walten durch die ganze Christenheit und Menschheit hin auch an das Kind und seine Eltern und alle, welche das Kind kennt, gedacht hat. Da wachsen denn Glaube, Frömmigkeit und Papstverehrung schon in der zarten Seele untrennlich zusammen. Man hat sich unter Protestanten öfters verwundert, wie schnell in der Papstkirche ein Widerstand wider päpstliche Anordnungen, die dem Gewohnten und als altheilig Empfundenen widersprechen, zusammenzubrechen pflegt. Schon sehr bald fließen die Redner und die Erbauungsschriftsteller über von Dankbarkeit für die neue Wohltat, welche der heilige Vater seiner Christenheit erwiesen hat: er weiß es doch eben am besten, was gut tut. Wer die immer tiefer ins religiöse Gemüt einwachsende
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Verehrung bedenkt, welche fromme Katholiken für den heiligen Vater empfinden, wird dergleichen für ganz natürlich, ja, für zwangsläufig halten. Auf der gleichen Verkettung beruht es, daß theologische Auseinandersetzungen mit Anhängern der Papstkirche zwecklos sind. Der katholische Partner des Gesprächs trägt außer den allgemein unter Menschen geltenden Denkregeln in seinem Geiste noch die Voraussetzung eingebrannt, daß der Papst als Statthalter Christi auf Erden ein das menschliche Denken und Wollen schlechthin normierendes Prinzip sei. Ein katholischer Denker heute ist unfähig, eine von diesem Prinzip absehende Gedankenführung durchzuhalten. Bekanntlich stellt diese - übrigens immer noch im Wachsen begriffene - Einbeziehung des Papstes in die unantastbaren Heiligtümer des Herzens und Gewissens eine Rückwirkung der Reformation auf den dem Papsttum verbliebenen Teil der abendländischen Christenheit dar. Erst als Führer einer kirchlichen Korporation, welche sich gegen die „abgefallenen" protestantischen Teile des Abendlandes zu einer fest und klar durchgebildeten Kampfes- und Geistesgemeinschaft zusammenschloß, sind die Päpste das geworden, was sie heute sind. Sie haben dabei viel von ihrer natürlichen menschlichen Bewegungsfreiheit eingebüßt. Die Papstidee bemächtigt sich der Person dessen, welcher Papst wird und läßt dem privaten menschlichen Bereich nur geringen Spielraum. Päpste, welche in ihrem Leben und Wesen die Verneinung aller, auch der einfachsten, Grundsätze von Sitte, Glaube und Anstand darstellen, gibt es nicht mehr und wird es nie wieder geben. Auch an Bewegungsfreiheit innerhalb des kirchlichen Bereichs selbst hat der Papst viel, sehr viel verloren. Es gehört ein höchstes Maß von Energie dazu, wenn er sich gegen die in der Curie zusammengedrängte Uberlieferung durchsetzen will. Grundsätzlich ist er Herr des Kirchenrechts und des kirchlichen Regiments, gegen den ein Widerstand, ein Ungehorsam unmöglich ist. In Wirklichkeit wird er, wenn er nicht eine sehr starke Persönlichkeit ist, von dem ungeheuren Apparat, den er zu lenken und zugleich würdig darzustellen hat, auf eine Weise gefesselt, welche vielen großen und berühmten Päpsten der Vergangenheit unerträglich gewesen wäre. Man ist nicht umsonst Träger eines in vielen Zügen unwiderruflich festgelegten Weltkirchentums. Dafür ist die Gewalt, welche der Papst zusammen mit der Curie über alle
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kirchlichen Amtsträger sonst übt, unermeßlich gewachsen. Ständische Gewalten, die sich ihm widersetzen könnten, gibt es innerhalb des Papstkirchentums nicht mehr, und das Aufkommen von Bestrebungen, die er dogmatisch oder religiös oder aus andern Gründen nicht billigt, ist heute innerhalb des Papstkirchentums im voraus abgeriegelt. Ein so peinliches Vorkommnis wie die Reformation wird sich nidit wiederholen. Jeder Versuch eines Einzelnen, mit einem Appell an die christlichen Gewissen sich aufzulehnen wider das Bestehende, wäre erstickt, ehe er überhaupt Widerhall gefunden hätte. Man darf also die heutigen Verhältnisse nicht in die Zeit Luthers zurücktragen, wenn man die Geschichte der Reformation verstehen will. Immerhin, auch zu Luthers Zeiten hat es eine Papstidee und eine Papstgewalt gegeben. Es entstünde ein falsches geschichtliches Bild, wenn man einfach davon spräche, daß der Kampf um den Herrschaftsanspruch des Papstes über die Kirche zu Luthers Zeiten noch unentschieden gewesen sei. Die Vorstellung, daß der Papst als Nachfolger Petri der Stellvertreter Christi auf Erden sei, stammt aus dem Zeitalter der Völkerwanderung. Niemals ist unter den neu entstehenden Völkern des Mittelalters bezweifelt worden, daß diese Würde dem Papst zukomme, daß er somit das geistliche Haupt der Christenheit oder Kirche sei. Seit Gregor VII., welchen Luther eben deshalb für den Anfänger des Zeitalters des Antichrists hält, nehmen die Päpste es auch in Anspruch, mit Recht, Ordnung und Verfassung der Kirche nach eigenem freien Ermessen schalten zu dürfen. Sie erzeugen zum ersten Male in unsrer abendländischen Geschichte die Vorstellung einer unbeschränkten Herrschgewalt, der gegenüber kein Recht gilt. Dies greift durch die Kreuzzüge wie von selbst über ins rein weltliche Gebiet. Innozenz III. hält sich für den Stellvertreter Gottes selbst auf Erden und demgemäß für den Herrn und Herrscher der Welt. So haben denn im Hoch- und Spätmittelalter die päpstlichen Verordnungen und Richtsprüche in allen Bereichen das Gesicht der Christenheit und Kirche bestimmt. Der in den beiden Jahrhunderten vor Luther sich erhebende Konziliarismus setzt diese Zustände voraus und ist niemals eine Macht gewesen, welche der Kirchherrschaft des Papstes echte Grenzen setzte. Wo er nicht zur leeren Ideologie entartete, die von keinem Fürsten und keinem Theologen kirchlicher Prägung ernst genommen wurde, diente
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ihm die altkirchliche Vorstellung von einer höchsten Autorität des allgemeinen Konzils lediglich als ein Sicherheits- und N o t ventil f ü r Krisenzeiten, in denen schwere Unordnungen oder ernsthafte dogmatische Streitigkeiten die Einheit der Kirche zu zerreißen drohten. Damit erhielt die tatsächlich weiter bestehende Papstgewalt f ü r das Gefühl eine unbestimmt allgemeine Begrenzung, an welche die Träger der reformatorischen Bewegung anknüpfen konnten. Jedenfalls w a r ihre Berufung auf ein allgemeines Konzil dogmatisch noch einwandfrei, wiewohl dem vorhandenen theologischen Geschmack und Stil nicht mehr ganz gemäß. Denn auch in dem angegebenen begrenzten Sinne lag der Konziliarismus damals im Sterben. Luther und die Seinen konnten die verglimmende Idee um so weniger zum A u f flammen bringen, als eine das Gewissen des Christen bindende höchste Autorität allgemeiner Konzilien dem Wesen des reformatorischen Glaubens ebenso widersprach wie eine solche des Papsttums. Das reformatorische Christentum hat mit dem G e gensatz zwischen Curialismus oder Papalismus hier, Konziliarismus dort nichts zu schaffen. Es steht jenseits beider, weiß zu deutlich, daß echter Konziliarismus nur eine Spielart des Papstkirchentums ist. Nicht zufällig ist die Lehre von der Autorität der allgemeinen Konzilien bei Luther so ganz nebenher mit zu Bruch gegangen, als er 1 J 1 9 zu Leipzig mit Eck um die G e w a l t des Papsttums stritt. Nicht als ein Konziliarist, sondern als ein allein dem Gott des Evangeliums gehörendes Gewissen hat er Dezember 1 5 2 0 vorm Elsterntore in Wittenberg die seine Lehre verdammende päpstliche Bulle verbrannt und zugleich mit dieser auch das kirchliche Rechtsbuch ins Feuer geworfen. N a d i alledem wäre es abwegig, die Verneinung der Papstgewalt durch die Reformation als eine einfache Verfassungsstreitigkeit zu deuten, wie sie innerhalb jeder Gesellschaft, also auch der Kirche, zwischen deren Gliedern oder Teilen ausbrechen kann. Es geht nicht um ein Mehr oder Minder von Macht oder Rechten, welches Papst und Curie in einzelnen national oder geographisch abgegrenzten Kirchenteilen üben dürfen. Es geht auch nicht um Festlegung geordneter Wege des Zusammenwirkens der verschiedenen kirchlichen Gebiete, Stände und Ä m ter bei inneren, Lehre oder Frömmigkeit tiefer berührenden Entscheidungen. Es geht zwischen Papsttum und Reformation um eine in die letzten Wurzeln des Gottesverhältnisses hinein-
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reichende Gegensätzlichkeit im Verständnis dessen, w a s christliche Kirche ist. Beide Teile, der Papst w i e Luther, haben sich deutlich genug erklärt. D i e v o n der Gegenreformation angetriebene Vollendung der Papstidee bis hin zu der heutigen unzerreißbaren Einheit v o n Christenglaube und Beugung des Herzens und Geistes unter die Papstgewalt steht und f ä l l t mit dem G e d a n k e n , daß Jesus Christus der S t i f t e r der Papstkirche ist, daß er jedem, der an ihn glaubt, das Gesetz auferlegt hat, dem N a c h f o l g e r Petri als seinem Stellvertreter auf Erden in allen amtlichen Entscheidungen und V e r f ü g u n g e n zu gehorchen, und dies um des G e wissens willen. Diese Gewissenspflicht besteht nach der Lehre der Papstkirche nicht nur da, w o es sich um unfehlbare L e h r entscheidungen handelt, sondern ganz allgemein auch wechselnden oder grundsätzlich veränderlichen Maßnahmen und A n ordnungen gegenüber. Christ sein heißt einen Menschen, der da Stellvertreter Jesu Christi ist, als den v o n G o t t dem Gewissen gesetzten H e r r n anerkennen. Was f ü r ein törichtes Gerede ist es, so klaren, bestimmten und in sich sauberen Erklärungen gegenüber sich zur Vereinigung mit der Papstkirche bereit zu erklären, wenn man nur bestimmte Freiheiten sich vorbehalten dürfe, also dem Papst nicht unbedingt und in allem unterworfen sein müsse. Ebenso deutlich hat andernteils Luther sich erklärt. V o n dem Zeitpunkt an, da seine reformatorische Erkenntnis alle wesentlichen Folgen gezogen hatte, also seit 1 5 2 0 , hat er nie einen Z w e i f e l darüber gelassen, daß eine dem Gewissen im N a m e n Gottes befehlende Papstgewalt oder Kirchgewalt dem E v a n gelium zuwider ist. Wer immer in der Kirche spreche, Papst oder Bischof oder L e h r e r oder Prediger, er kann nie anders sprechen denn als ein I n f o r m a t o r conscientiarum ohne alle Befehlsgewalt. Es bleibt dem Gewissen in seinem Verhältnis zum H e r r n Christus überlassen, die empfangene Unterrichtung zu prüfen und je nach Einsicht und Ergebnis anzunehmen oder zu v e r w e r f e n . Jesus Christus hat keinen Stellvertreter auf Erden, dem w i r Untertan sein müßten um des Glaubens willen. J a , er hat auch keine Kirche errichtet, die mit ihren Lehren und O r d nungen uns gebietend gegenüberstünde. N u r das hat er gewollt, daß es Boten und Diener des Evangeliums gebe, welche die K u n d e v o n ihm zu den Seelen tragen und den dessen bedürfti-
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gen Herzen zu Mahnern und Tröstern sich anbieten. Ein Papsttum, welches für sich und die Kirche eine Herrschgewalt irgendwelcher Art beansprucht, stellt für Luther eine widerchristliche Dämonie dar. Es ist „vom Teufel gestiftet". Man möge nicht so tun, als ob diese Urteile Luthers, vor allem, wenn er vom widerchristischen Wesen des Papsttums spricht, unbeherrschte Affektäußerungen darstellten. Gewiß sind dem cholerischen Gemüt Luthers in Augenblicken des Zorns und der Enttäuschung auch Äußerungen entfahren, welche der feineren Verkehrssitte unsers Zeitalters nicht entsprechen. Man wird dem Manne, der selber geraume Weile am Rande tödlicher Bedrohung dahingewandert ist und es erlebte, daß Anhänger von ihm auf dem Scheiterhaufen zu Asche verbrannt wurden, da auch einiges zugute halten dürfen. Doch das ist ein Nebenpunkt. Luthers Aussage, daß das Papsttum zu Rom antichristisch, daß es eine Stiftung des Teufels sei, gehört nicht zu denen, die bei Selbstbeherrschung und ruhigem Blut anders hätten ausfallen können. Was da sich ausspricht, ist das heilige, ein Christenherz durchbebende Entsetzen über die Verkehrung, welche dem Wort und Willen Jesu Christi gerade von der Stelle, welche in seinem Namen zu sprechen behauptet, widerfahren ist. Hätte Luther denn seinen reformatorischen Kampf überhaupt führen dürfen, wenn er anders geurteilt hätte? Es ist die Eigenheit des religiösen Bereichs, daß in ihm die letzten Tiefen aufbrechen mit der Gewalt eines unbedingten Entweder-Oder. Skeptiker und Relativisten verstehen dies nicht. Fromme Menschen, ganz gleich in welchem Sinne sie fromm sind, begreifen ohne Weiteres, daß ernste Entzweiung der Gewissen in diesem Bereich das Aufflammen des Gegensatzes von göttlich und gottwidrig in den Gemütern bedeutet. Das Persönliche läßt sich ausschalten, der Gegensatz in der Sache aber behält seine glührote unheimliche vulkanische Art. Man begegnet im anglikanischen Christentum vielfach der Vorstellung, daß die Lösung der englischen Kirche vom Papst im sechzehnten Jahrhundert rein national und nationalkirchlich genommen werden müsse. Weltlich habe das englische Volk wider die unberechtigten Eingriffe eines sich Papst nennenden Mittelmeerfürsten seine politische Selbständigkeit und Freiheit sich gewahrt. Kirchlich aber sei vom Erzbischof zu Canterbury und den durch ihn geführten englischen Bischöfen, zusammen
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mit ihrem König, die Unabhängigkeit der englischen Kirchenprovinz gegen die dem altkirchlichen Recht widersprechenden Einbrüche des H a u p t s der italienischen Kirchenprovinz wiederhergestellt worden. N u r ein reiner Ehrenvorrang unter Gleichberechtigten gebühre nach altkirchlicher Anschauung dem Bischof von Rom. Das Einwirken der festländischen Reformation durch von Luther oder Calvin bestimmte Theologen gilt dieser Betrachtung als eine Verderbnis oder Trübung des an sich herrlichen englischen Geschehens. Diese Anschauung ist ihrem Wesen nach unreformatorisch. Sie will dies auch sein. Wie sehr sie an dem zwischen dem Papsttum und Luther aufgebrochenen tiefen Gegensatz vorbeigreift, ergibt sich aus dem bisher Gesagten. Folgerichtig durchgeführt kann sie nur werden, wenn man im Anschluß an altkirchliche Gedankengänge jeden Bischof als Nachfolger der Apostel versteht, welcher in Vollmacht Christi das Hirtenamt an den Seelen seines Gebietes übt. D a n n aber steht zwischen der anglikanischen und der päpstlichen Auffassung allein die Frage, ob die geistliche Gewalt, durch welche die Herrschaft Christi über seine Gläubigen sich vollzieht, unmittelbar und zuerst allein dem Papste in Rom, oder nicht ebenso unmittelbar jedem beliebigen Bischof zukomme. Die Lehre von der religiös-autoritativen Stellung der Kirche und ihrer Ämter wäre in den Grundzügen die gleiche: wer da redit an Christus glaubt, der ist der Gewalt der Kirche, die sich durch Amtsträger fortpflanzt, von Gewissens wegen unterworfen. Auch wenn man die viel vorsichtigere Begrenzung der Kirchgewalt, wie der Anglikanismus sie versteht, sehr hoch anschlägt, wird man nicht leugnen dürfen, daß Luther zur anglikanischen Lehre von der Kirche genau so Nein hätte sagen müssen wie zum Papstkirchentum. Die Auflichtung dieses vielen sich verhüllenden Tatbestandes ist heute eine dringliche Aufgabe. Die ökumenische Bewegung ist dank dem starken Einfluß der Anglikaner weitgehend zur Trägerin einer Einebnung und Abplattung des Neins geworden, welches vom reformatorischen Christentum wider eine allein dem Papsttum gemäße falsche Lehre von der Kirchgewalt gesprochen werden muß. Die Verwahrungen, welche die eine Seite in Luthers Lehre von der Kirche bilden, werden vergessen, besser absichtlich in Vergessenheit gebracht. Mit diesen Verwahrungen aber steht und fällt das Evangelium.
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Der alles bestimmende Grundsatz in Luthers Lehre von der Kirche ist, daß es nicht erlaubt ist, Aussagen über die wahre verborgene innerliche Christenheit oder Kirche zu übertragen auf die äußerliche sichtbare verfaßte und geordnete Christenheit oder Kirche. Luther begründet diesen Satz damit, daß der Glaube seinem Wesen nach auf das Unsichtbare, Verborgene, Göttliche gehe, die Kirche aber im Apostolikum unter den Wirklichkeiten genannt wird, auf welche der Glaube sich richtet. Es kann keine Glaubensaussage über die Kirchentümer, ihre Ämter und Ordnungen gemacht werden. Sie sind ihrer Art und Natur nach menschliche Einrichtungen. Freilich darf man sagen, daß durch die Ämter und Ordnungen und Maßnahmen der Kirchentümer hindurch die verborgene geistliche Christenheit oder Kirche, in welcher Christus selbst der belebende Herr und Geist ist, an den Herzen zu walten vermöge. Dies hat dann jedoch allein in den Vollmachten seinen Grund, welche ein jedes der wahren Christenheit oder Kirche zugehörende gläubige Christenherz aus seiner Gemeinschaft mit dem lebendigen Christus empfängt. Denkt man dies folgerichtig durch, so ergibt sich, daß der in den äußerlichen Kirchentümern gemachte Unterschied zwischen Geistlichen und Laien, ebenso denn der zwischen Bischöfen und gewöhnlichen Geistlichen, rein Sache der vergänglichen irdischen Ordnung ist und keinerlei Unterschiede der wahrhaft geistlichen Vollmacht ausdrückt. Ebenso fällt für Träger kirchlicher Ämter jede Möglichkeit dahin, einem Christen im Namen Gottes irgend etwas zu befehlen. Regierende Gewalt im wesentlichen Sinne ist den Kirchentümern nicht gegeben. Es gibt, auf die wahre innerliche Seite gesehen, nur dienende Gewalten in der von Christus durch Glaube und Geist regierten Christenheit: Predigt, Mahnung, Fürbitte und Trost. Auch die Amtsträger der Kirchentümer können diese dienende Gewalt üben. Ein besonderes Recht auf sie haben sie nur in dem rein äußerlichen Sinne, daß eine äußerliche Versammlung, wie der Gottesdienst es ist, menschlicher Ordnung bedarf. Es muß durch freie Rechtssetzung für sie ein die allgemeine Christenvollmacht namens aller ausübender Prediger und Vorbeter bestellt werden. Gilt das alles, so kann das Beichtehören gleichfalls nur allgemeine Christen vollmacht sein. Man beichtet freiwillig, ohne kirchlichen Befehl, dem, weldiem das Herz traut. Nur dies, daß wir uns öffentlich als der Gnade Christi bedürf-
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tige Sünder bekennen, so wie Christen es schon durdi gemeinsames Beten des Vaterunsers tun, darf billig von uns erwartet werden, wenn wir Christen sein wollen. N u n ist damit gewiß nicht ausgeschlossen, daß in einem äußerlich bestehenden verfaßten Kirchentum der Bann wider grobe öffentliche Verächter der göttlichen Gebote geübt wird. Doch muß dieser Bann verstanden werden als seinem Wesen nach begrenzt auf den Ausschluß aus der äußeren Kirchgemeinschaft. E r will, soll, kann, darf sich nicht beziehen auf die innerliche verborgene Gemeinschaft mit Christus, auf die wahre Christenheit oder Kirche. Es handelt sich um einen Bann, welchen Menschen nach menschlichen Gesichtspunkten üben. Die Seele hat bei sich selbst die Freiheit, welche ihr allem Walten äußerlichen Kirchentums gegenüber zukommt. Sie muß bei sich befinden, ob die so an sie ergehende bitter ernste Mahnung recht oder unrecht ist. Luther hat diese Grundsätze o f t genug ausgesprochen. Die J a h r e des Thesenstreits zeigen uns, wie er vom K e r n seines Christentumsverständnisses her, jeden Schritt bedächtig w ä gend, durch Vorläufigkeiten hindurch diese Lehre von der Kirche sich erarbeitet. Zum ersten Male vollständig mit blendender Klarheit tritt sie 1 5 2 0 in der Schrift: „ V o m Papsttum zu R o m " an den Tag. Ihr eigentlicher Gegenstand ist die Verneinung der Papstgewalt, und eben dies ist das Tiefe an ihr, daß sie diese Verneinung aus einer grundsätzlichen Neubestimmung der Lehre von der Kirche ableitet. Luther hat selbst das Stichwort ausgegeben, mit welchem diese aus dem Wesen des reformatorischen Christentums sich mit innerlicher Notwendigkeit ergebende Anschauung am einfachsten ausgesprochen werden kann. Ein Christenmensch ist ein freier H e r r aller Dinge und niemand untenan denn Gott. Man darf diese christliche Freiheit mit ihrer tief im Glauben verwurzelten frommen A r t nicht verwechseln mit der Religionsfreiheit unsrer modernen Staats- und Gesellschaftsordnung. Diese Religionsfreiheit ist nur ein Widerschein, welcher von der wahren christlichen Freiheit in die Bereiche menschlicher Verfassung und Ordnung hineinfällt. Es kommt letztlich noch nicht einmal darauf an, ob und inwiefern die Menschen innerhalb einer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung diese Religionsfreiheit wirklich begehren. Wichtig ist allein, daß die wahre christliche Freiheit in schwere N o t gerät, wenn man sie
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dieses Widerscheins ins Weltliche hinein beraubt. Wer dadurch frei ist vor Gott, daß er den Brautring des Glaubens trägt und im Letzten und Entscheidenden allein auf die Stimme seines Herrn Christus hört, dem er durch diesen Brautring verbunden ist, der wird es als teuflische Versuchung empfinden, andern Seelen gegenüber den Herrn und Meister in Glaubensfragen spielen zu sollen. Er muß eine die andern zwingenwollende Kirchengewalt auch dann als widerchristliche Tyrannei verurteilen, wenn das Kirchentum, das sie übt, nichts lehrt und nichts gebietet, als was er an sich für dem reihten Glauben gemäß erachtet. Umgekehrt wird er den Versuch eines unrecht lehrenden und gebietenden Kirdientums, ihn selber in sich hinein zu zwingen, als widerchristliche Verfolgung beurteilen. Er wird dem ebenso wenig Gewalt und Widerstand im äußeren Sinne entgegensetzen wie sein Herr Christus, der sich dem Hohenrat und dem römischen Landpfleger wehrlos bot. Dies jedoch wird er sagen dürfen und müssen, daß ein tyrannisches Kirchentum, welches seine Freiheit in Gott mit staatlicher Hilfe verfolgt und unterdrückt, dem Widerchrist verfallen ist.
B. Es ist kein zufälliger, sondern ein wesensnotwendiger Zusammenhang, welcher diese, Recht und Macht des äußeren Kirchentums zerbrechende Unbedingtheit der christlichen Freiheit mit dem Verständnis der Rechtfertigung allein aus dem Glauben und mit der lebendigen Beziehung des Glaubens auf Jesus von Nazareth selbst verknüpft. Man kann die unbedingte christliche Freiheit aus dem reformatorischen Christentum nicht wegdenken, ohne es ganz zu vernichten. Ebenso ist die Folgerung, welche Luther aus ihr wider die Papstidee zieht, von zwingender Selbstverständlichkeit. Die unbedingte christliche Freiheit in seinem Sinne schließt es innerlich aus, daß der Christ einem menschlich-irdischen Stellvertreter Christi untergeben ist. Es handelt sich beim Nein zur Papstgewalt nicht eigentlich um eine nachträgliche Folgerung aus dem reformatorischen Christentumsverständnis, sondern um schlichte Entfaltung des in diesem beschlossenen geistigen und religiösen Gehalts. Insofern wäre denn den Darlegungen der beiden vorigen Stücke gegenüber ein eigentlicher Gedankenfortschritt kaum vollzogen worden.
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Die innere Einheit und Geschlossenheit des Ganzen ist 1 5 1 9 /20 zum Schicksal der reformatorischen Bewegung geworden. Daran, daß Luthers Verständnis von Evangelium und Glaube zusammen mit dem Gesetz der Beichtbuße und dem Christus des Meßopfers und Altars auch die Gewalt des Stellvertreters Christi auf Erden bis in den Grund vernichtete, ist den Zeitgenossen die Unentrinnlichkeit des Kirchenbruchs zuerst zum Bewußtsein gekommen. Wenn Johann Eck von Ingolstadt bei den Altgläubigen als der große Entlarver des Ketzers Luther galt, so deshalb, weil er mit seinem Angriff und seiner Disputation f ü r die Allgemeinheit es erst richtig ans Licht gezogen hat, daß Luther, von der inneren Folgerichtigkeit seiner Deutung von Evangelium und Glaube fortgetrieben, die Stiftung des Papsttums durch Christus und damit das Recht eines die Gewissen regierenden äußeren Kirchentums verneinte. Die ungeheuerliche Schwierigkeit, welche dadurch f ü r die R e f o r m a tion entstand, machen sich die Wenigsten in vollem U m f a n g klar. Die Stiftung des Papsttums durch Christus schien Matth. 1 6 , 1 8 f unwidersprechlich bezeugt, und die allgemeine Unterwerfung aller Christen unter die richterliche Gewalt der A p o stel und ihrer Nachfolger w a r f ü r die meisten in J o h . 20,22 f als deutliche Willenserklärung des Auferstandenen ausgesprochen. Die heilige Schrift selbst schien den, welcher sich auf sie wider die kirchlichen Autoritäten berufen hatte, Lügen zu strafen. Dazu kam, daß die - nicht ganz unschuldig entstandene Papstlegende f ü r das allgemeine Bewußtsein ein völlig falsches Bild der Kirchengeschichte erzeugt hatte. Wenige Querköpfe ausgenommen, glaubte das ganze spätere Mittelalter, daß vom A n f a n g der christlichen Religion an der Papst als Haupt von Christenheit und Kirche eine Befehls- und Herrschgewalt ausgeübt habe. Eine der raffiniertesten und tückischsten Fälschungen der Weltgeschichte, die pseudoisidorischen Dekretalien, galten damals noch allgemein als echt. Sie schienen zu beweisen, daß die vom Papsttum ausgeübte Kirchherrschaft im Ganzen immer so gewesen sei, wie man sie aus der eigenen Gegenwart kannte. Selbst die Aufdeckung der Unechtheit der sogenannten Donatio Constantini, einer Fälschung der päpstlichen Kanzlei des früheren Mittelalters, hatte sich noch nicht im allgemeinen Bewußtsein durchgesetzt. Zudem stand sie mit dem Mittelpunkt der Frage nur in loserem Zusammenhang, konnte somit f ü r sich
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allein Luther kaum etwas nützen. Kurzum, Schrift und Geschichte schienen sich wider Luther zu erheben und ihn unter sich begraben zu wollen. Die Wucht der so auf Luther niederstürzenden Einwände ermißt man am besten an der Wirkung auf Herzog Georg von Sachsen. Er erlebte in seinem Leipzig die Entlarvung des Ketzers Luther durch Eck, und er kam nie über den Eindruck hinweg. Bis an sein Ende ist er, aus innerster ehrlicher Uberzeugung, ein Todfeind Luthers und der reformatorischen Bewegung geblieben. Für Luther selbst entstand hier keine Krise. Der schwierige Augenblick ließ in ihm den Kirchen- und Dogmenhistoriker geboren werden. Schon über der Erklärung des Psalters und des Paulus war er zum gelehrten Patristiker geworden, im Thesenstreit darüber hinaus zum Kenner des ganzen damals sich bietenden kirchen- und rechtsgeschichtlichen Stoffs. Er hatte sich so die Möglichkeit erworben, die Auslegung, welche in der alten Kirche von den großen Lehrern und Schrifterklärern den Petrusstellen des neuen Testaments widerfahren war, mit den Äußerungen der Päpste seit der Völkerwanderungszeit zu vergleichen und durch alle Deutungen der späteren Zeiten hindurchzustoßen. Nun gelang ihm die große wissenschaftliche Entdeckung, welche der eigentliche Anfang der Kirchen- und Dogmengeschichte geworden ist. Er erkannte die späte Entstehung des Papsttums und den sehr langsamen Aufstieg des entstandenen Papsttums zur Kirchenherrschaft. Dabei vermochte er sogar die entscheidenden Knotenpunkte der Entwicklung mit erstaunlicher Sicherheit zu bestimmen. Noch heute müssen wir wie er die Krisen der Völkerwanderungszeit und den gregorianischen Streit als epochebildend hervorheben. Ebenso müssen wir mit ihm in dem Machtwillen der Päpste, welche jede Lage unbedenklich nutzten und vor keiner Rechtsanmaßung, keiner Legende und Lügende zurückscheuten, die Haupttriebkraft in der Wandlung der abendländischen Kirche zur Papstkirche erkennen. Vielleicht werden wir, an die bedingten und schwankenden Maßstäbe geschichtlicher Urteile gewöhnt, hervorheben, daß gerade die von Luther als verhängnisvoll empfundenen Päpste, bei aller ihrer erschreckenden christlichen Fraghaftigkeit, an sich große und bedeutende Persönlichkeiten waren. Indes, dies ändert nichts daran, daß bei Luther ein gigantischer Durchbruch durch ein völlig entstelltes Bild der christlichen Ge-
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schichte zu echter Erkenntnis der Vergangenheit geschehen ist. Die kleine gelehrte Schrift über die Auslegung von Jesu Wort an Petrus Matth. 1 6 , 1 8 f, welche Luther kurz v o r der Disputation mit Eck in Leipzig, sozusagen als Vorreiter, ausschickte, ist ein geschichtliches Meisterwerk. A n dem Nachweis, daß vor den Päpsten der Völkerwanderungszeit kein einziger christlicher Theolog und Schriftausleger in Matth. 1 6 , 1 8 f die Stiftung des Papsttums durch Christus gefunden hat, kann noch heute nichts abgemarktet werden. Die Wucht des hier Geschehenden bezeugt der Widerhall, den Luther bei den jüngeren und mutigeren H u manisten fand. Die Entgegensetzung der patristischen Auslegung als der der guten alten Zeit wider die päpstliche und scholastische entsprach ganz ihren Gedankengängen. Luther in seinem Streit mit Eck erschien ihnen als V o r k ä m p f e r der neuen Bildung und Wissenschaft wider einen üblen Klopffechter scholastischer Prägung. In dem etwa gleichzeitig erscheinenden G a laterkommentar Luthers, welcher mit seiner Auslegung von G a l . 2 das Seine zur Zerstörung der Petrus- und Papstlegende tat, begeisterte sie die Verschmelzung humanistischer Bibelwissenschaft und neuen tiefen Paulusverständnisses. Daß mit alledem der eherne Tritt des Schicksals sich vernehmlich machte, daß mit dem vernichtenden Angriff Luthers auf Papstidee und Papstlegende die Grundvesten der abendländischen Christenheit zu wanken begannen, daß der von der Reformation aufgenommene und vertiefte Humanismus somit die Grenzen einer rein literarischen und pädagogischen Bewegung unrettbar überschritt, konnte wohl einigen Älteren unter den Humanisten Sorge wecken, nicht aber dieser jungen Gefolgschaft. Indes, es kam hier nicht auf die Entgegensetzung der patristischen wider päpstliche und scholastische Schriftauslegung und auch nicht auf kirchen- und dogmengeschichtliche Einzelerkenntnisse an. Es ging um den wirklichen Sinn, die wirkliche Meinung der heiligen Schrift selbst. Die Frage konnte f ü r schlichten christlichen Gewissensernst nur lauten, welches denn hinsichtlich Papstgewalt und Kirchgewalt der im Evangelium selbst bezeugte klare Wille Jesu Christi sei. Was sagten die im Evangelium Jesus Christus in den Mund gelegten Sprüche, wenn man sie dem Wortsinn gemäß redlich auf eine dem Gewissen einleuchtende Weise erklärte? Luther konnte es selber nicht anders ansehen, als daß mit der Antwort auf diese Frage, ganz
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ohne Rücksicht auf alle patristische Gelehrsamkeit und dogmengeschichtliche Erkenntnis, das Evangelium stand und fiel. A m einfachsten und einleuchtendsten wird da nun jedem die A r t scheinen, wie Luther die Verknüpfung von J o h . 2 1 , 1 5 ff mit der Vorstellung einer dem Petrus und seinen Nachfolgern übertragenen Stellvertretung Christi auf Erden zerstört hat. Der Auferstandene spricht dort zu Petrus: „Weide meine Schafe." N u n erwirbt Christus nach J o h . 10 als der gute Hirte durch seinen T o d f ü r die Schafe die Freiheit der Gotteskindschaft, und seines Werkes Vollendung ist die eine Herde unter dem einen Hirten. Die Einsetzung des Petrus ins Hirtenamt beim Scheiden des Auferstandenen von der Erde w i r d daher von der römischen Theologie darauf gedeutet, daß Petrus und seine Nachfolger die Herrschaft über die eine H e r d e Christi, welche die Kirche darstellt, erhalten. Dem gegenüber erinnert Luther daran, daß der A u f t r a g , die Schafe zu weiden, in J o h . 2 1 die Vorbereitung auf die Worte über den Märtyrertod des Petrus ist. Die Gleichheit mit Jesus, welche dem Petrus gewährt wird, besteht somit darin, daß er um der Predigt des Evangeliums willen Verfolgung und Tod erleiden wird. Hirte sein heißt hier ebenso wie in J o h . 10 Leben und alles hingeben im Dienst des Evangeliums. Hinter dem Wort steht die allenthalben im Evangelium aufleuchtende Anschauung, daß es f ü r J ü n ger Jesu nur einen Weg zur Größe gibt: wehrlose, auf Herrschen und Gebieten verzichtende Liebe, die da dient und sich opfernd hingibt im Dienst. Nicht von einem äußeren Kirchentum, sondern von der verborgenen inneren wesentlichen Christenheit, welche ein Reich nicht von dieser Welt ist und aus der heimlichen Gegenwart ihres einen Herrn und Hauptes Christus lebt, spricht der Auferstandene in diesem Abschied von Petrus. Die Größe, die hier dem Petrus zufällt, wird jedem Gliede der wahren Christenheit gewährt, welches vom Herrn zum Leiden und Sterben um des Evangeliums willen berufen wird. Noch heute pflegt man in der Theologie der Papstkirche die unbedingte Jurisdiktionsgewalt, welche dem Papst und seinen Beauftragten über jeden Christen zustehen soll, im Anschluß an J o h . 2 1 , 1 $ ff unter den Begriff des Hirtenamts zu stellen. In den reformatorischen Kirchentümern ist es von Luthers Auslegung her üblich geworden, den Prediger auch den Hirten, den Pastor, zu nennen und damit gerade auszudrücken, daß sein
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Dienst am Evangelium mit keinerlei Jurisdiktionsgewalt verbunden ist. Schon die Entkräftung der römischen Deutung von J o h . 2 1 , 1 5 ff ist ein anschaulicher Beleg f ü r Luthers Auslegungsverfahren. E r hat das in den evangelischen Berichten sich bezeugende Grundwesen Jesu innerlich gegenwärtig und legt die einzelne Stelle demgemäß aus vom Gesamtsinn des Evangeliums her. Ebenso verfährt er nun auch mit dem der Papstkirche zur Hauptstütze dienenden Wort „ D u bist Petrus", Matth. 1 6 , 1 8 f. Es ist überliefert als zweiter deutlich späterer Teil einer die Verse Matth. 1 6 , 1 7 - 1 9 umfassenden Einlage in den nichts davon wissenden Bericht Mark. 8,27 ff und wurde damals von jedermann f ü r geschichtlich gehalten. Jesus hat von Petrus das Bekenntnis vernommen, daß er Christus, des lebendigen Gottes Sohn, sei. E r legt ihm nun den Ehrennamen des Felsenmanns bei, verheißt, daß er auf diesen Felsen seine Gemeinde oder Kirche bauen und ihm dazu die Schlüssel des Himmelreichs übergeben wolle. Diese Schlüssel werden dann dahin bestimmt, daß das Binden und Lösen des Petrus im Himmel, d. h. bei Gott unwiderruflich giltig sein soll. Zu Luthers Zeiten verstand man unter dem Binden und Lösen die Absolutions- und Banngewalt, welche das Rückgrat der gebietenden kirchlichen Jurisdiktion über die einzelnen Gewissen ist. Ursprünglich hat es sicherlich die Vollmacht giltiger Gesetzesauslegung bedeutet, so daß dem Petrus die Festlegung der christlichen Gemeindeund Lebensordnung zugesprochen gewesen wäre. Doch mag diese dem Wort von vornherein den Stempel der Unechtheit aufdrückende Bedeutung außer dem Spiel bleiben. Die Wendung wiederholt sich Matth. 1 8 , 1 8 , und dort zeigt der Zusammenhang, daß schon das Matthäusevangelium an die Absolutions- und Banngewalt gedacht hat. Es braucht nun nicht groß dargelegt zu werden, weshalb die Stelle Matth. 1 6 , 1 8 f der K e r n - und Herzbeleg f ü r das Papstchristentum geworden ist. Setzt man den seit Leo dem Großen nachweisbaren Glauben der Päpste voraus, daß Petrus in ihnen gewissermaßen weiterlebe, daß sie bei entscheidender Ausübung ihrer Papstgewalt irgendwie unter der verborgenen Leitung Petri stehen, so besagt das Wort scheinbar alles, was sie nur wünschen können. Für das reformatorische Christentumsverständnis dagegen scheint das Wort selbst dann sperrig zu sein, wenn man aus
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Matth. 18,18 und Joh. 20,22 f mit Luther folgert, daß Jesus doch auch den andern Aposteln die hier dem Petrus zugesagte Absolutions- und Banngewalt gegeben habe. Man könnte nämlich mit den späteren Jahrhunderten der alten Kirche folgern, daß also alle Bischöfe als Nachfolger der Apostel die hier dem Petrus zugesagte Gewalt zu binden und zu lösen erhalten hätten, und damit wäre man durchaus nicht beim reformatorischen Verständnis der evangelischen Freiheit angelangt, sondern bei der anglikanischen Anschauung von der Kirche. Nun mag es ja den Bischöfen wichtig sein, daß sie voll ebenbürtig neben Petrus stehen und dessen Vollmacht teilen. Dem schlichten christlichen Gewissen bliebe damit dennoch sein Königsrecht verspielt. Es wäre in einem äußeren Kirchentum dem Spruch und Gericht menschlicher Amtsträger unterworfen und müßte in Absolution und Bann der Kirche den Willen Gottes über sich ehren. Luther aber wäre mit seiner Verachtung des kirchlichen Banns als ein wider Christi Wort hier handelnder Frevler erwiesen. Auf welche Weise ordnet Luther nun dies schwierige Wort dem Gesamtsinn des Evangeliums ein? Er geht von zwei Beobachtungen aus. Einmal, unmittelbar nach dem Empfangen dieses Worts begehrt Petrus heftig auf wider die von Jesus gegebene Erläuterung seiner Christuswürde, daß er nämlich unter den Händen der Führer der jüdischen Kirche sterben werde, und Jesus schilt ihn Matth. 16,23 deshalb einen Satan, der wegen seines wider Gott sich kehrenden Sinns von ihm weichen solle. Das aus dem Markusbericht übernommene Wort Satan bedeutet den dämonischen Verführer. Luther schließt daraus, daß das erste Wort ebenso wenig wie das zweite die Person des Petrus als solche meine. Jesus zielt jeweils allein auf den Glauben oder den Unglauben, der aus Petrus spricht. Petrus ist in der ganzen Geschichte nichts als ein menschliches Herz und Gewissen, welches sich erst gläubig, dann ungläubig verhält zu Jesus als dem gehorsam den Willen seines Vaters vollbringenden und erleidenden Träger des Evangeliums. Wie allenthalben im Evangelium haben wir nach Luther auch hier eine ewige Geschichte, die sich an jeder einzelnen Seele als wahr erweist. Wunderbar ist die Vollmacht und Herrlichkeit des Glaubens. Er kann den Menschen auf unbegreifliche Weise andern Seelen gegenüber zum Träger göttlicher Strenge und göttlicher Gnade machen. Furchtbar aber ist auch die Macht des Unglaubens. Er
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stößt uns fort in die Ferne vom Heiligen. Er läßt uns vielleicht zum Verführer dämonischer Art werden. Dies die eine Beobachtung Luthers. Die andre schöpft er aus den beiden ersten Kapiteln des Galaterbriefs. Paulus ist dadurch Jünger Jesu Christi, daß er ein eigenes unmittelbares Verhältnis zu Christus empfangen hat. Aus dieser seiner Jüngerschaft nun nimmt er in Antiochien die Vollmacht, Petrus des Abfalls von Christus, der Schändung des Evangeliums durch Wiederaufrichtung des Gesetzes zu zeihen. Es ist überdies ein kritischer Augenblick, in welchem Paulus diesen Vorwurf erhebt. Hätte er damals in Antiochien nicht dem Petrus widerstanden, so wäre die Freiheit im Evangelium den Heidenchristen verloren gegangen. Wie kann man da noch davon reden, daß Petrus mit seiner Person von Jesus zum Felsen der Kirche eingesetzt worden sei? Nicht als der vollmächtige Träger der Schlüsselgewalt steht er in Antiochien vor uns, sondern als einer, über den ein andrer, ein Glaubender, namens des Evangeliums das Urteil spricht. Dies bestätigt es nach Luther, daß Matth. 16,18 f nicht der Person des Petrus, sondern dem Glauben des Petrus gesprochen ist. Die Schlüsselgewalt ist also keine Jurisdiktions- und Herrschgewalt innerhalb eines äußeren Kirdientums, sondern ein Geheimnis der wahren verborgenen innerlichen Christenheit. Jeder Christ kann andern Menschen zum Träger des Ernstes und der Gnade des Evangeliums werden, nicht etwa auf sichtbare, die andern knechtende Weise, wohl aber in der heimlichen Wahrheit des Herzens. Das Evangelium kommt zu keinem Menschen anders denn im Geheimnis des Gottesreichs, wehrlos, unscheinbar, nichts gebietend, nichts erpressend, und dennoch mit der Vollmacht, welche Jesus den ihm wahrhaft Glaubenden gewährt. Dies, und dies allein, ist der Sinn von Jesu Wort an Petrus. Auf dieser Auslegung von Matth. 16,18 f beruht die reformatorische Auffassung der Predigt. Sie ist rein und ganz Übung einer allgemeinen Christenvollmacht durch einen, der nach äußerer menschlicher Ordnung in ein menschliches Amt, ein Amt des äußeren Kirchentums, berufen worden ist. Sie hat darum keine andre Gewalt als die des Zeugnisses oder der Unterrichtung. Ein jeder ist gerufen, frei nach seinem Herzen und Gewissen zu urteilen. Kommt sie aber zu ihrem inneren Ziele, so geht in ihr das tiefste Geheimnis des Gottesreichs auf verbor-
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gene Weise auf. Ist nämlich die Predigt recht und gewähren wir ihr in unsrer Seele Raum, so ist Gott in ihr f ü r uns da, im Gesetzeswort als der mit Gericht Erschütternde, im Evangeliumswort als der seine Liebe und Gnade umsonst Erweisende. Den Prediger aber geht diese Wirkung gleichsam nichts an. Er hat sie nicht in der H a n d , und er weiß nicht, ob und w a n n sie geschieht. Von dieser Art der Predigt unterscheidet sich der Zuspruch des Evangeliums in der von einem verzagten Herzen erbetenen heimlichen Beichte nicht nach der Vollmacht. Auch hier bleibt das Entscheidende im Geheimnis des Gottesreichs verborgen. Der Unterschied ist allein der, daß hier das Evangelium in einem dem aneignenden Glauben deutlich rufenden persönlichen Zuspruch verkündigt werden kann. Es ist zu begreifen, daß diese Auslegung von M a t t h . 16,18 f damals einen ungeheuren Eindruck auf die nach der Wahrheit des Evangeliums fragenden Menschen gemacht hat. Sie führt in die Tiefe der evangelischen Erkenntnis, ordnet das Wort an Petrus wirklich dem Glauben an Jesus von N a z a r e t h unter und zieht zudem unerbittlich, jegliche Halbheit vermeidend, die Folgerungen gegen alles äußere Kirchentum, das sich die Gewissen unterwerfen will. Darüber hinaus aber hat sie an einem bestimmten einzelnen Punkte die Nebel zerblasen, welche von der Legende über die Zeit des ersten, neutestamentlichen Christentums hingebreitet worden waren. Augustin ist der letzte große Theologe gewesen, welcher in die Abgründe des Streits zwischen Petrus und Paulus in Antiochien geschaut hat. Seitdem war unter der Herrschaft der Papstlegende ein völlig märchenhaftes Bild der christlichen Urzeit gang und gäbe geworden, unter Theologen wie Laien. N u n bricht durch Luther nicht bloß die längst vergessene Einsicht Augustins wieder ans Licht. Es enthüllt sich darüber hinaus, daß die urchristliche Zeit von tiefen Entzweiungen und Kämpfen zerrissen worden ist. Für das Verstehen und Erleben geschichtlicher Vergangenheit gilt das Gesetz, daß erst eignes Leiden und Kämpfen den Blick frei macht f ü r die Leiden und K ä m p f e vergangener Zeiten. Aus dem K a m p f , mit dem Luther gegen die vorgefundene kirchliche Entartung das Evangelium wieder ans Licht gehoben und mit ihm die Autorität des Papsttums und äußeren Kirchentums zerbrochen hatte, gebar sich ihm die Vollmacht, den Kampf des Paulus f ü r das gesetzesfreie Evangelium wider die
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Urapostel und die Jakobusleute neu zu sehen und zu verstehen. Die historisch-kritische Forschung des neunzehnten J a h r hunderts hat sich viel auf ihre Zerstörung alter verkehrter V o r stellungen von der Zeit des neuen Testaments zugute getan. Es w a r ihr Recht, stolz zu sein auf ihre kritische Arbeit. D a ß sie von Luther her legitim ist, kann nach dem in diesem A b schnitt Gesagten nicht bezweifelt werden. N u r will es mich bedünken, daß das, was Luther hier rein aus dem Ernst eines frommen gottsuchenden Herzens nebenher an Geschichtskritik und Geschichtserkenntnis errungen hat, auch rein wissenschaftlich die größere und mutigere Leistung ist.
C . Die Auslegung, welche Luther den vom Papsttum f ü r sich angeführten Petrusstellen gibt, bezaubert noch heute durch ihre Verbindung von meditativer Tiefe, kritischem Scharfsinn und innerer Folgerichtigkeit. Wer in diesen Stellen verläßliche Bekundungen des Willens Jesu Christi zu finden meint, wird jetzt wie in Z u k u n f t die Deutung Luthers aufnehmen müssen, wenn er nicht Jesus aus dem Bringer des Evangeliums in den Stifter einer neuen Gesetzesreligion verwandeln und damit das geschichtliche Bild von ihm verdunkeln und entstellen will. Es ist indes sehr zu fragen, ob nicht literarkritische und religionsgeschichtliche Erkenntnisse f ü r uns heute von einer andern Seite her diese Verkettung gesprengt haben. Alle zur Erörterung stehenden Petrusstellen gehören der unzuverlässigen legendendurchwobenen Überlieferung zweiten und dritten Ranges an, so daß der Versuch, sie von Jesus und dem Evangelium her zu verstehen, auf einer nicht zutreffenden Voraussetzung sich aufbaut. Petrus „der Felsenmann" hat die Widerspannung zwischen dem Messianismus der väterlichen Gesetzesreligion und dem Evangelium vom Reiche Gottes in einer zerrissenen inneren Geschichte leidenschaftlich erfahren. E r wurde - wie noch Matth. 16,22 in seiner Weise bezeugt - Anhänger Jesu, weil er ihn f ü r den Messias im gewöhnlichen Sinne hielt, und er w a r d irre und verleugnete Jesus, als dieser sich ohne Gegenwehr und ohne göttliche Wunderhilfe, ganz wider das vom Messias zu Erwartende, verhaften und dem Tode preisgeben ließ. A n dem ihn danach packenden unermeßlichen Schuldgefühl erfuhr er
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innerlich, daß er sich mit der Verleugnung an dem Heiligen Gottes vergriffen hatte. So ward er bereitet zu jenem Gesicht am galiläischen Meer, in welchem Jesus, der am Kreuz gestorben war, ihm, mit der Hoheit des Göttlichen umkleidet, lebendig nahte, ihn wieder zum Jünger annahm und zum Zeugen berief. Damit war er der erste Zeuge von Jesu Auferstehung geworden. Er vermochte seinen Glauben und sein Sehen des lebendigen Herrn auch in andern ehemaligen Anhängern Jesu zu erwecken und ward Haupt und Führer der ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem, im weiteren Verlauf auch Träger einer über Jerusalem hinausgehenden Verkündigung des Glaubens an Jesus Christus den Herrn. Die späteren legendären Umgestaltungen der Ostergeschichte haben es nun mit sich gebracht, daß uns die Erzählung von dem Gesicht, in welchem der Herr Petrus erschienen ist, nicht unmittelbar als solche überliefert ist. Wir haben jedoch in den Evangelien drei spätere legendäre Weiter- oder Umbildungen dieses ersten Auferstehungsgesichts. Die dem Ursprünglichen wohl am nächsten stehende Fassung ist die jetzt ins irdische Leben Jesu zurückversetzte Geschichte vom Wandeln Jesu auf dem See, welche uns heute nur bruchstückhaft Mark. 6,4 5 ff und plastisch ausgestaltet Matth. 14,24 ff erhalten ist. Die zweite Fassung, gleichfalls ins irdische Leben Jesu zurückversetzt, ist die Geschichte vom wunderbaren Fischzug Luk. j , 1 - 1 1 , in welcher das Schuldbekenntnis des Petrus und seine Einsetzung zum Menschenfischer als Reflexe von Charfreitag und Ostern noch deutlich erkennbar sind. Die dritte Fassung ist der in Joh. 21,3 ff noch einmal erzählte wunderbare Fischzug, der hier eine Begegnung mit dem Auferstandenen geblieben ist. Dieser dritten Fassung gehört das Wort „Weide meine Sdiafe" Joh. 2 1 , 1 6 f an. Keine der drei Fassungen gibt in ihrer heutigen Gestalt ein deutliches Bild von der ersten Erscheinung. Die Worte, welche Jesus in ihnen spricht, haben in keiner Weise die Vermutung für sich, dem von Petrus selbst ursprünglich Erzählten nahe zu stehen. Das Wort „Von nun an wirst du Menschen fahen" Luk. 5,10 wird immerhin von manchen Forschern für die dem Bericht des Petrus noch am nächsten stehende Variante gehalten. Es ist beiden Fassungen der Erzählung vom wunderbaren Fischzug eigen, daß der Dialog zwischen Petrus und Jesus von
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hoher dichterischer Schönheit ist und sich der wesentlichen A r t des Evangeliums gut einpaßt. Dies hat Luther in seiner Auslegung von Joh. 2 1 , 1 5 ff erfühlt und wunderbar zur Geltung gebracht. Jedoch selbst, wenn er geirrt haben sollte und die Worte „Weide meine Schafe" als Einsetzung Petri zum Haupt und Führer der ersten Gemeinde gedeutet werden müßten, wäre damit f ü r das Papstkirchentum nichts ausgerichtet. Aus einem so späten und legendären Bericht wie diesem könnte ja nodh nicht einmal ein Urteil über das, was Petrus und die erste Gemeinde gedacht haben, abgeleitet werden. Bleibt nun das Wort an Petrus Matth. 1 6 , 1 8 f . Es schwebt wie ein Fremdkörper im Gewebe des Textes. Dem Evangelienforscher ist bekannt, daß die Zusammensteller des Matthäusevangeliums in dem Bestreben, nichts ihnen brauchbar Scheinendes aus der Überlieferung umkommen zu lassen, häufig Sätze und Bruchstücke der verschiedenartigsten H e r k u n f t zu einem Mosaik zusammengefügt und so neue Erzählzusammenhänge geschaffen haben. Wo, wie hier, der Markustext den Zettel des Gewebes hergegeben hat, heben sich die Einlagen, die ihrerseits natürlich wieder gestückelt sein können, deutlich heraus. In M a r k . 8, 2 7 - 3 3 haben wir einen geschlossenen E r zählzusammenhang. Jesus entlockt Petrus die Aussage, daß er mit den übrigen Jüngern ihn f ü r den Christus halte, und enthüllt nun ihm und den andern, daß er nicht als der siegreiche Messiaskönig der jüdischen Erwartung, sondern als der leidende Menschensohn der Bringer des Gottesreiches ist. Dies weckt das Entsetzen und den Widerspruch des Petrus, welche Jesus veranlassen, ihn - und damit den falschen Messianismus - als satanisch zurückzuweisen. Matthäus hat diesen, ein ursprüngliches Geschehen widerspiegelnden Bericht, durch Einlagen verwandelt und das Bild Jesu damit nivellierend dem durchschnittlichen späteren Gemeindeglauben angeglichen. E r erweitert die Aussage des Petrus zum Bekenntnis, fügt dann Matth. 1 6 , 1 7 eine Antwort Jesu, welche dies Bekenntnis selig preist, ein, und hängt an diese erste Einlage weiter in Matth. 1 6 , 1 8 f die Einsetzung des Petrus zum Träger der in der Gemeinde Jesu und bei Gott geltenden Schlüsselgewalt. D a die Angleichung an den Gemeindeglauben mit dem Seligpreisen des Petrus Matth. 16, 1 7 schon befriedigend geschehen ist, ist Matth. 1 6 , 18 f eine im neuen Erzählzusammenhang an sich durchaus entbehrliche Z u -
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gäbe. Die Einfügung an dieser Stelle muß aus dem Bedürfnis erklärt werden, dies Wort an Petrus nicht umkommen zu lassen. Damit erhebt sich von selbst die Frage, ob der alte Zusammenhang, aus dem diese Zugabe herausgelöst worden ist, noch näher bestimmt werden kann. Hier gibt es nun eine einzige in sich wahrscheinliche Möglichkeit. Das Wort gehört einer uns unbekannten späten vierten Fassung der Erzählung von Jesu erster Erscheinung an. In dieser Fassung hat der Auferstandene Petrus in aller Form zum Haupt und Führer der Christengemeinde eingesetzt. Die Verheißung, daß die Pforten der Hölle die neu entstehende Gemeinde nicht überwältigen werden, enthält eine Erinnerung an Golgatha. Es wird der vom Auferstandenen erweckten und von Petrus zu führenden Gemeinde nicht so gehen, wie es Jesus selbst bei seinem Zuge nach Jerusalem gegangen ist. Die Zuerkennung der Schlüssel aber muß, gemäß dem ursprünglichen Sinn des Bindens und Lösens aufgefaßt werden als Ermächtigung an Petrus, namens des Auferstandenen eine von der jüdischen Thorah unabhängige christliche Gesetzesordnung zu schaffen. Eine andre alles so bequem erklärende Deutung gibt es nicht. Ist dies richtig, so liegt darin zweierlei. Erstens, Luthers Deutung des Worts an Petrus trifft nicht das, was der legendäre Bericht ursprünglich meint. Dieser meint in der Tat die Bestallung des Petrus zum Haupt und Führer einer an Jesus als den Christus glaubenden Sondergemeinschaft, welche das bekannte Gepräge aller Stiftungs- und Gesetzesreligionen zeigt. Zweitens, eben an diesem ursprünglichen Sinn des Worts erkennt man, wie fremd und fern es dem Geiste Jesu von N a z a reth ist. Es gehört zu jenen Stücken evangelischer Überlieferung, mit denen die erste Gemeinde das Evangelium verdunkelt hat. Daher muß es schon rein wegen seines sachlichen Inhalts ausgeschieden werden, wie dies bei manchen Matthäusworten nötig ist. Drittens, der Bericht von der ersten Auferstehungserscheinung, dem dies Wort zugehört hat, scheint eine bestimmte Tendenz verfolgt zu haben. Das Wort an Petrus nimmt sich fast aus wie das genau überlegte Programm der Petruspartei unter der zerrissenen ersten Christenheit. Es ist nun noch möglich, die gegebne Deutung durch Erinnerung an das in den Paulusbriefen sichtbar Werdende zu unter-
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malen. Diese zeigen vielfach, daß der paulinischen Heidenmission eine petrinische Gegenbewegung zur Seite gelaufen ist. Allenthalben muß Paulus gegen Angreifer betonen, daß er als ein echter Apostel unabhängig und frei neben Petrus und den andern Uraposteln steht. Wir wissen von den K ä m p f e n im einzelnen wenig. V o r allem wissen wir nichts von den Gründen, mit denen die Anhänger des Petrus dessen Autorität geltend gemacht haben. N u r so viel ist klar, daß Paulus es f ü r der christlichen Freiheit gemäß hält, innerhalb der Grenzen, welche das Evangelium wider falschen Gesetzesdienst zieht, ein friedliches Nebeneinander herzustellen, seine Gegner hingegen eine Unterwerfung des Paulus unter die höhere Autorität der Urapostel begehren. Anscheinend haben die Vorstellungen seiner Gegner von der Vollmacht des Petrus, die schwierigen Fragen der christlichen Lebensordnung zu regeln, in dem Matth. 1 6 , 1 8 f aufbewahrten legendären Wort des Auferstandenen an Petrus ihren Niederschlag gefunden. Dies heißt nicht, daß es in der Fassung, welche es bei Matthäus hat, sdion zu Lebzeiten des Paulus vorhanden gewesen sein müßte. Aber als einen im Sondergut des Matthäus enthalten gewesenen letzten Ausläufer dieser K ä m p f e dürfen wir das Wort nehmen. Vielleicht scheint es dem und jenem abwegig, daß eine D a r legung über das Wesen des reformatorischen Christentums sich so tief in Einzelfragen der Evangelienforschung einläßt. Indes, einem evangelischen Christen muß Wahrhaftigkeit in der Deutung der f ü r die Kirchenspaltung wichtigen biblischen Aussagen ein heiliges Gebot sein. D a muß denn zugestanden werden: Luthers Erklärung von Matth. 1 6 , 1 8 f hat die tiefe wesentliche Wahrheit der Erkenntnis Jesu und des Evangeliums f ü r sich, trifft aber nicht den Sinn der Männer, welche dies Wort an Petrus formten und schliffen. Was diese damit meinten, ist eine Hinunternivellierung des Evangeliums zu einem gesetzlichen Kirchentum unter Führung des Petrus. Dies steht in Widerspruch zum Letzten in Jesus Christus selbst, zu Paulus und also auch zur Reformation. Insofern hat das Papsttum ein gewisses Recht, sich auf dies Wort zu berufen. Zwischen der antipaulinischen Petruspartei und dem Papstkirchentum besteht in der T a t eine Verwandtschaft des Geistes. Allein das Eingeständnis, daß das Wort an Petrus Matth. 1 6 , 1 8 f eine späte legendäre Erfindung ist und mit Jesus nichts zu tun hat, gewährt uns, so
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wie unser heutiger Erkenntnisstand nun einmal ist, den Boden, auf dem wir Luthers Nein zur Papstgewalt und die paulinisdilutherische Lehre von der evangelischen Freiheit als echte Ausprägungen des Evangeliums bejahen dürfen. Vielleicht ist es sogar gut, daß dies die Lage ist. Wir erfahren an einem f ü r unser konfessionelles Bewußtsein entscheidenden Punkte, daß w i r unsern Glauben nicht auf die als Gesetzeskodex genommene Schrift gründen können. Die Wahrheit des Evangeliums ist unter der auch Irreführungen und Fehlweisungen enthaltenden Hülle der neutestamentlichen Schriften verborgen und geborgen als der wesentliche Kern. Indem wir diese Folgerung uns eingestehn, erreichen wir die äußerste Spitze dessen, was man seitens des Papstkirchentums als den protestantischen Subjektivismus zu tadeln liebt. Wirksam gewesen ist dieser Subjektivismus schon in der Feststellung des vorigen Stücks, daß jeder Einzelne mit dem Ernst eines nach dem Ewigen begehrenden Herzens durch die Nebel und Schleier der in den Evangelien hingebreiteten Oberlieferung hindurchstoßen müsse, um wirklich zu Jesus und dem Evangelium hinzufinden. Die soeben an dem Worte „ D u bist Petrus" Matth. 1 6 , 1 8 f vollzogene Besinnung ist dafür gleichsam nur ein Beispiel. Luthers meditatives Hineinbeugen dieses Worts in das Jesus und dem Evangelium Gemäße und unser neuprotestantisdhes religions- und geschichtskritisches Abtun dieses Worts als einer späten legendären Erdichtung sind im Letzten gleichsinnig. Jedes Zeitalter muß auf seinem Wege den Wahrheitsund Glaubensmut erschwingen, welcher im eigenen Namen und aus eigenem Suchen und Finden heraus in Jesus und dem E v a n gelium die Liebe Gottes empfängt. D a ß dieser v o m echten Glauben unabtrennliche Subjektivismus uns hier gerade der Vermischung von Papstgewalt und Christentum gegenüber so deutlich bewußt wird, ist nur natürlich. Die Unterwerfung unter den angeblich von Christus zum Herrn der Christenheit und Kirche eingesetzten Papst ist die stärkste und wirksamste Gestalt des Objektivismus im abendländischen Christentum. H a r t und harsch tut sich da der Gegensatz zwischen den beiden Teilen der abendländischen Christenheit auf. A u f der einen Seite steht der angeblich von Christus zum Herrn und Stellvertreter eingesetzte Papst mit der von ihm regierten kultischen und juridischen Korporation, die als eine von einem Willen
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durchformte machtvolle Sozietät zu den großen Wunderwerken der Menschheitsgeschichte sich rechnen darf. Man braucht nur zu gehorchen und hat nach Versicherung dieser Korporation dann eine objektive Verbürgung aller göttlichen Wahrheit und eine objektiv richtige Wegweisung für alles Denken und Handeln auf Erden. Auf der andern Seite steht das reformatorische Christentum als ein unter vielfältigen äußeren Hüllen sich regender Geist und Sinn, der sich nur tief von innen her auf einem letztlich einsamen Wege dem Herzen und Gewissen erschließt. Da werden wir aufgefordert, uns durch alle menschlichen Zeugnisse und Bekundungen christlichen Glaubens und Dienstes hindurch, jeden Augenblick zugleich zu kritischer Abwehr und zu hingegebnem Lauschen bereit, uns vom verborgenen ewigen Gott zu Jesus und dem Evangelium führen zu lassen. Da wird uns gesagt, daß wir in diesem Abwehren und Hinnehmen und Lauschen und uns führen Lassen immerdar Einzelne bleiben, die es mit Furcht und Zittern auf Gott hin wagen müssen. Selbst neutestamentlichen Aussagen gegenüber bleiben wir auf das innere Gespür des dem Ewigen sich zukehrenden Herzens für die Wahrheit Jesu und des Evangeliums angewiesen. Es bleibt bei dem Satze Kierkegaards, auch für die Erkenntnis Jesu und des Evangeliums: die Wahrheit erschließt sich nur der Subjektivität, und in den Bereich objektivierbarer Aussagen hinein fällt immer nur ein Spiegelreflex der Wahrheit. Vielen ernsten Menschen heute, darunter auch unzähligen evangelischen Christen, erscheint diese Notwendigkeit der Wahl zwischen kirchlichem Objektivismus und reformatorischem Subjektivismus bedrückend. Sie möchten am liebsten, daß es einen mittleren Weg gäbe. Sie fragen mit der moderneren Apologetik der Papstkirche, was denn wohl aus der Menschheit werden solle, wenn es zwingende objektive Erkenntnis allein im Bereich des der Wissenschaft zugänglichen Endlichen und darüber hinaus höchstens noch in der Feststellung der notwendigen Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens gebe. Ist nicht das, was nicht objektiv ist und nicht erzwungen werden kann, für die meisten Menschen heute ein Nichts oder was das Gleiche ist - eine Sache des Beliebens? Andre fragen, wie man erziehen und den Sinn für das Höhere, das Ewige wecken solle, wenn man nur als ein Einzelner spreche und keine objektive Wirklichkeit und Wahrheit hinter einem stehe.
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Solche und ähnliche Sorgen haben evangelische Theologen immer wieder zu dem Versuch bewogen, nun doch noch auf Umwegen eine Stiftung der äußeren Kirdie durch Jesus von Nazareth herauszurechnen, aber so, daß sie dabei dem Papsttum oder einem juridischen Begriff von Kirchgewalt nicht verfallen. Wenn man sich klar macht, daß der Begriff des Apostels im neuen Testament nicht auf die Zwölf beschränkt ist, sondern jeden Sendboten der Anfangszeit bezeichnet, welcher das Evangelium weiterträgt und christliche Gemeinden sammelt und betreut, so darf man wohl alle Prediger des Evangeliums ohne Unterschied Nachfolger der Apostel nennen. Nun haben aber diese Sendboten sämtlich unter der Gewalt der Oster-PfingstErfahrung gestanden. Sie haben sich ausgesandt gewußt von dem auferstandenen Herrn, welcher der lebendige die Gemeinde regierende Geist und Wille war. Dieser Tatbestand spiegelt sich Matth. 28 in der großen Abschiedsrede des Auferstandenen, welche Predigt des Evangeliums in aller Welt und Taufe der dabei gläubig Gewordenen anordnet. Darauf beruft man sich. Indes, darf man dies wohl die Stiftung einer äußeren Kirche durch Jesus von Nazareth nennen? Selbst wenn der Niederschlag des Erlebnisses der Anfangszeit in jenen Worten Matth. 28 nicht erst etwa fünfzig Jahre nach Jesu Tode entstanden wäre: es wird in ihnen doch allerhöchstens ein Spiegelreflex sichtbar, welcher von Jesus von Nazareth her in die Seelen der ersten christlichen Generationen hineinschimmert. Ein Versuch, über den Auferstandenen und die ihm in den Mund gelegten Worte hinaus zu einer Willenserklärung des auf Erden wandelnden Jesus zu dringen, hat nur wenig Spielraum. Einmal, er kann sich an Matth. 16,18 f zu halten suchen, indem er Petrus als einen ersten zur Predigt des Evangeliums bestellten Träger der Kirche faßt. Dieser Versuch ist mit dem Vorhergehenden widerlegt worden. Audi dies Wort an Petrus ist ursprünglich eine Weisung, welche dem Auferstandenen von der Legende in den Mund gelegt ist, und die Ausdehnung des in ihr dem Petrus Aufgetragenen auf alle Prediger entspricht nicht der ursprünglichen Absidit dieser Erdichtung. Außerdem hat man sich noch an das letzte Mahl Jesu zu halten gesucht. Treffen nidit die Worte „Das tut zu meinem Gedächtnis" eine Anordnung für den künftigen Kult einer Kirche? Es ist nur schade, daß diese Worte ein ausdeutender Zusatz des Paulus sind, der nicht zur
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ursprünglichen Überlieferung gehört. Somit bleibt es dabei, daß die Stiftung einer christlichen Kirche durch Jesus nicht nachzuweisen ist. Sie widerspricht auch klar dem letzten Worte, das er nach dem ältesten Bericht beim Abschiedsmahl zu seinen Jüngern gesprochen, er werde nicht mehr vom Gewächs des Weinstocks trinken, bis er es neu trinke im Reich Gottes. Jesus hat das Ende aller Dinge, den Hereinbruch des ewigen Gottesreichs in diese Zeit, für unmittelbar bevorstehend gehalten. Er hat dem unbegreiflichen Willen des Vaters still gehalten, der ihn durch den Tod zum Zeugen des Evangeliums und Bilde der das Gesetz zerbrechenden Liebe des Ewigen werden ließ, hat das ihm zu leiden Gegebne erlitten und in das Geheimnis hinein resigniert. Wie hätte er da Weisungen und Anordnungen für die Errichtung einer Kirche geben können? Von allen Worten Jesu, die das nach seinem Tod Kommende näher beschreiben, ist nur eines echt: die Weissagung von der Zerstörung des Tempels zu Jerusalem. Tieferes Nachdenken führt über das Gesagte hinaus zu einer grundsätzlichen Einsicht. Wäre eine Kirchenstiftung durch Jesus nachweisbar, so würde doch die ganze Dialektik, welche der reformatorische Glaube zwischen innerer wahrer Christenheit und äußerer Kirche aufgedeckt hat, mit unerhörter Verschärfung wiederkehren. Es wäre mithin letztlich nichts gewonnen. Gilt nämlich diese Dialektik, ist sie eine zwingende Folge aus dem Wesen des Evangeliums, so hätte die Kirche, auch wenn sie von Jesus gestiftet wäre, ja keinerlei Gewalt über die Gewissen, und der protestantische Subjektivismus meldete sich wieder zur Stelle. So ist es denn nicht nur das für uns heute durch die Wahrhaftigkeit Gebotene, sondern auch das einzige dem Wesen des reformatorischen Christentums Gemäße, den Gedanken einer Stiftung der Kirche durch Jesus als abwegig und ungeschithtlich fahren zu lassen. Die Not des Subjektivismus, soweit sie wirklich eine Not ist, muß tapfer getragen werden. Nicht eine Kirche hat Jesus gestiftet, sondern er hat sich selber eingestiftet in das geschichtliche Leben der Menschheit. Er ist mit seinem Leben und Geist das heimliche Herz der wahren, verborgenen Christenheit, welche im Glauben ans Evangelium ihn bei sich hat auf eine äußerlich nicht nachweisbare Weise. Insofern ist es denn auch nicht wahr, daß der protestantische Subjektivismus da, wo
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er Glaube ans Evangelium und Erahnen der Macht des Herrn des Evangeliums ist, keine ihn tragende Wirklichkeit hinter sich hätte, wenn er sich hineinbildet in die Welt der Menschen. Er ist der von Jesu Geist und Leben getragene Träger des Evangeliums. Dies scheint in echter tiefer Übereinstimmung damit, daß er Glaube an den ist, welcher wehrlos, geschändet, mit gebundenen Händen vor dem Römer stand, von diesem mit skeptischem, zuletzt gleichgiltigem Mitleid betrachtet wurde und dennoch ein König war. Ein objektiv verbürgter, kirchlich gestützter Glaube ist diesem Jesus gewissermaßen überlegen. Er kann sozusagen die göttliche Wahrheit des Evangeliums herrlicher demonstrieren als der gekreuzigte Herr, auf den nach seiner Erklärung sein Glaube geht. Es ist die Ehre der einsam und ungestützt durch Menschen ihren Weg gehenden evangelischen Freiheit, daß sie als echte Jüngerin des Herrn nicht herrlicher und gesicherter einhergehn will denn er selbst in seiner Erniedrigung.
6, Die wahre Gemeinde der Heiligen und der Heiligendienst
A. Luther hat im Glaubensbekenntnis den Ausdruck „Gemeinde der Heiligen" bevorzugt und darunter die wahre verborgene Christenheit auf Erden verstanden, welche durch alle Scheiden hindurch in Glaube und Geist verbunden ist. Ursprünglich hat der erst sehr spät ins Glaubensbekenntnis gekommene Zusatz „Gemeinschaft der Heiligen" - Teil des neunten Artikels nach katholischer Zählung - den Heiligen- und Reliquiendienst rechtfertigen sollen. Im heutigen katholischen Katechismus setzt man ein bei einem allgemeineren Begriff der „Gemeinschaft der Heiligen". Sie ist die geistige Vereinigung der Heiligen im Himmel, der armen Seelen im Fegfeuer und der Getauften auf Erden. Aus dieser Vorstellung leitet man dann die Rechtfertigung des Heiligendienstes her. Die Heiligen im Himmel werden von den Getauften auf Erden verehrt und in geistlichen wie vor allem leiblichen Nöten angerufen. Sie empfangen Gebete, Gaben, Gelübde und Feiern ihnen zu Ehren. Sie erwidern dies alles, indem sie in den Nöten, die man ihnen vorträgt, „ihre mächtige Fürbitte" bei Gott einlegen und so vielfältig unsre Helfer und Schützer werden. Unter oder eigentlich über diesen Heiligen im Himmel nimmt Maria, die Gottesmutter, die unbefleckt Empfangene, die Himmelskönigin einen besonderen Platz ein. Bei den übrigen Heiligen ist es weitgehend Sache freier persönlicher Andacht, wieweit man sich mit ihnen befaßt. Allein der sein Brevier pflichtmäßig betende Priester tritt mit denjenigen von ihnen, welche einen besonderen Tag im Kalender haben, in eine unvermeidliche Beziehung. Maria hingegen ist so eng in alle Formen religiöser Betätigung hineingewoben, daß es katholische Frömmigkeit, die nicht auch Mariendienst wäre, nicht gibt. Das tägliche Gebet des Christen koppelt Vaterunser und Ave Maria zur Einheit. Ein Glied der Papstkirche, das überhaupt betet, betet unfehlbar auch zu Maria. Auch hat Maria einen eigenen Wochentag, den Samstag, und einen eigenen ihr gehörenden Monat, den Mai. Die Zahl der Marienfeste im Kirchenjahr ist so groß, daß der Abstand gegen den himmlischen Sohn hier
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ziemlich undeutlich wird. Das neuerlich festgeschlagene Dogma von der Himmelfahrt Mariens hat den Sinn, diese Gleichordnung mit Christus noch um einen Grad zu steigern. Anbetung im strengsten Sinne gebührt Maria freilich ebenso wenig wie den Heiligen sonst. Immerhin kommt ihr eine besondere Art von Verehrung zu, die Hyperdulie. Bis vor kurzem durfte man allerdings noch sagen, daß Maria nicht in den religiösen Prozeß gehöre, d. h. daß sie nicht den Empfang der Erlösungsgnade erwirke. Heute hat auch dies sich verdunkelt. Es ist die Lehre aufgekommen, daß der himmlische Sohn Mariens eine Bitte von dieser, einem bestimmten Menschen die Erlösungsgnade zu gewähren, unfehlbar erfülle. Darum nennt moderne Marienfrömmigkeit Maria gerne „die Mittlerin aller Gnaden", die Erlösungsgnade nicht ausgenommen. Dies bedeutet, daß die Annäherung an den einigen Mittler Jesus Christus wieder um einen Schritt vorgerückt ist. Es ist jedem abzuraten, sich über diese Dinge mit geschulten Katholiken in eine Streiterörterung einzulassen. Die Kunst und Wendigkeit menschlicher Reflexion ist unermeßlich groß, und die Notwendigkeit, evangelischer Polemik über diese Dinge standzuhalten, hat die Theologen der Papstkirche schon längst dahin geführt, alle etwa denkbaren Einwände in einem feinmaschigen Netz von Begriffsunterscheidungen abzufangen. Man betet zu Gott, zu Christus, zu Maria, zu den Heiligen. Aber man spricht davon, daß der Gebetsakt zu Gott und Christus Anbetung sei, der zu Maria überschwengliche Verehrung, der zu den Heiligen Verehrung. Damit meint man dem Gebot, daß wir allein Gott anbeten sollen, alle gebührende Ehre zu tun. Man spricht überschwenglich von der Mariengnade, aber man stellt theologisch fest, daß alle Mariengnade in der Christusgnade wurzele, jede Marienverehrung somit auch ein Moment der religiösen Hinwendung zu Christus in sich trage. Auch bei den besonderen Wirkungen, welche von Heiligen an bestimmten Gnadenorten ausgehen, so z. B. von Maria zu Lourdes, und bei den Wirkungen, welche man den Reliquien zuschreibt, sind die schwersten christlichen und theologischen Einwände stets kunstvoll abgeschirmt. Bei allzu bedenklichen Betätigungen und Äußerungen des Volksglaubens, der an Maria, die Heiligen und die Reliquien sich hängt, wird man darauf hingewiesen, daß die Kirche sie nicht bestätigt habe,
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sondern sie lediglich weise vorsichtig und gütig dulde und gewähren lasse. Habe denn der Herr nicht selbst geboten, das Unkraut lieber zusammen mit dem Weizen wachsen zu lassen? Es sei doch verkehrt, wenn man sich durch Ausreutung von Aberglauben in Gefahr bringe, die mit und unter ihm sprießenden zarten Keime der Frömmigkeit zu entwurzeln. Wer Gelegenheit hatte, zufällig einmal katholischen Seelsorgern ins Herz zu gucken, wird wissen, daß viele von ihnen unter den Auswüchsen des Marien- und Heiligendienstes innerlich leiden und sich nach Kräften bemühen, das, was sie dulden müssen, zum Vehikel höherer und reinerer Frömmigkeit zu machen. Es gilt nun, aus dem Wesen des reformatorisdien Christentums heraus zu verstehen, welche zwingenden Notwendigkeiten des Glaubens und Gewissens die Väter der evangelischen Kirchentümer dazu getrieben haben, mit einer fast unbarmherzig wirkenden Folgerichtigkeit den Marien- und Heiligendienst bis in die Wurzel hinein auszutilgen. Neben der Beseitigung der pflichtmäßigen, zum Sakrament erhobenen Beichtbuße, dem Abtun des Meßopfers und des eucharistischen Christus und der Verneinung des Papsttums ist die Absage an den Marien- und Heiligendienst wohl die am meisten in die Augen fallende Eigentümlichkeit der evangelischen Kirchentümer jeder Art und Gestalt. Wir sind dadurch gewiß an sich die vornehmere, dem Religionsspott und der Verstandeskritik weniger Angriffsflächen bietende Spielart des abendländischen Christentums geworden. Aber auch eine Neigung zu Kälte, Strenge und Härte ist damit über uns gekommen. Wenn Protestanten mit der üppiger entwickelten katholischen Volksfrömmigkeit des Südens in Berührung kommen, so faßt sie wohl zuerst ein Schrecken über diese ihnen gar zu sinnlich und abergläubisch scheinende Betätigung religiösen Sinns. Dann aber werden sie oft ein wenig gerührt und am Ende gar hingenommen von der Kindlichkeit, die sie da zu gewahren meinen. Wenn umgekehrt Menschen, die im Papstkirchentum erzogen sind, in unsre Art einen tieferen Blick tun, so kommt sie neben einiger Bewunderung doch auch ein Frieren an. An einigen wenigen Stellen, an denen wir es konnten, ohne unsre strengere Art des Glaubens aufzugeben, haben wir der Kindlichkeit und Herzenswärme auch Zugeständnisse gemacht. Wir bauen heute wohl vielfach Weihnachtskrippen auf oder lassen in unsern Kirchen um Weih-
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nachten herum Krippenspiele aufführen. Im Ganzen aber waltet über uns eine echte Scheu davor, die Grenze gegen den Marien- und Heiligendienst zu vergessen. Wir fühlen mindestens dumpf, daß hier ein Entweder-Oder waltet. Leicht wäre es abzugleiten, aber schwer, zur alten herben und reinen Art zurückzufinden. Bildende Künstler und erzählende Schriftsteller sind wohl diejenigen, die an unserm Nein zu Mariendienst und Heiligendienst am häufigsten Anstoß nehmen. Sie beklagen die Verarmung der Kunst, und glauben eine Verkümmerung der spielenden Einbildungskraft bei uns feststellen zu müssen. Freilich, man braucht diese Klagen nicht allzu ernst zu nehmen. Was die Werke der bildenden Kunst anlangt, so sind wir wohl hie und da selber betroffen, welcher Möglichkeiten, Schönes darzustellen und dem Beschauer als Schmuck der Kirchen zu zeigen, wir uns beraubt haben. Wer jedoch in katholischen Gegenden gewandert ist und in die Kirchen und Häuser geguckt hat, weiß auch, welch erstickende Fülle religiösen Kitsches uns durch das Nein zu dieser Welt volkhafter Frömmigkeit erspart bleibt. Ähnliches gilt von den Erzählungen und Legenden. Entzückende Gebilde echter Volksdichtung voller Sinnigkeit sind uns ferne gerückt worden, sind gleichsam für uns nicht mehr da. Aber welch eine gähnende Langeweile und welch eine Geschmacklosigkeit wohnt doch in der großen Mehrzahl der zu erbaulichen Zwecken verbreiteten Heiligengeschichten. Geht man auf das gegenwärtig Wirksame, so steht die sittliche und religiöse Volksliteratur im Bereich der deutschen evangelischen Kirchentümer dichterisch und erzählerisch doch ein wenig höher. Vielleicht darf man sagen, daß dem bildenden Künstler und dem Erzähler auf dem Boden der Verneinung von Marien- und Heiligendienst geringere Reizmittel der Einbildungskraft gewährt sind. Der Verzicht auf das Bunte, Unruhige und Vielfältige ist jedoch für den, welcher wirklich Großes kann, auch ein Gewinn. Wir dürfen die künstlerischen Gesichtspunkte durchaus als ebenso verworren wie im Grunde gleichgiltig an den Rand schieben. Was in solchen vorläufigen Erwägungen sichtbar wird, ist wesentlich die Tiefe des Bruchs mit der vorgefundenen äußeren religiösen Erscheinungswelt, welchen die Reformation hier vollzogen hat. Es wäre geschichtlich richtig, wenn man diesen Bruch
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als Rückkehr zur ursprünglichen Einfachheit und Strenge der christlichen Religion bezeichnete. Vor dem Anfang des vierten christlichen Jahrhunderts sind sichere Spuren einer Verehrung der Heiligen und Märtyrer nicht aufzufinden. Das erste eindeutige Zeugnis wirklicher Marienverehrung ist der Streit aus dem Anfang des fünften christlichen Jahrhunderts, ob Maria der ehrende Titel einer Gottesmutter zukomme. Die Tatsache, daß die Christen der ehemaligen Dianastadt Ephesus die Verdammung der Feinde der Gottesmutter als einen Sieg der von ihnen verehrten Maria gefeiert haben, wirft ein reizvolles religionsgeschichtliches Licht auf die außerchristlichen Wurzeln des Marien- und Heiligendienstes. Man darf getrost sagen: das Einströmen der heidnischen Massen in die christliche Kirche des konstantinischen Zeitalters gibt die zureichende Erklärung her für die hier sich vollziehende Wandlung im Erscheinungsbild der christlichen Religion. Dennoch, es wäre gar zu formell geurteilt, wenn man meinte, daß Rückkehr zur ursprünglichen Reinheit, Rückkehr zu den Jahrhunderten der „ersten Liebe" die einzige Triebfeder der reformatorischen Austilgung des Marien- und Heiligendienstes gewesen sei. Wiederum ist es Luther, der uns an den Kern der Sache heranführt. Schon vor dem Thesenstreit, als er durch Mittragen des Stadtpfarramts seelsorgerlich mit der Alltagsfrömmigkeit des Volks in Berührung kam, erwuchs ihm sein Nein gegen den Heiligendienst. Er fand darin eine Bedrohung des wahren echten Glaubens an Gott und nicht minder des schlichten Gehorsams unter Gottes Gebote. Die letzten Folgerungen sind dann von ihm ausgezogen worden im Sermon von den guten Werken 1520 und in der Wartburgpostille. Den Anstoß, den er nimmt, erläutert man am besten mit dem berühmten Satz aus dem Großen Katechismus, daß dasjenige, darauf wir unser Vertrauen setzen, für uns zum Gotte wird. Es wohnt in aller Menschen Herzen von Natur, wenn auch durch die Sündenangst zugedeckt, ein letztes vertrauendes J a zu dem Verborgenen, der da als die bestimmende Allgewalt im Grunde aller Dinge und alles Geschehens uns um und um, innen wie außen, das Leben fügt. Aus diesem Grunde unsers Gemüts entspringt aller religiöse Glaube und Dienst, innerhalb wie außerhalb des Christentums. Abgott ist das, was die vertrauende Hingabe, deren erstes und einfachstes Zeugnis die Anrufung in der Not ist, ab-
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fängt und bei sich festhält. An jedem solchen Abgott haftet Lug und Trug. Was das Herz eigentlich meint, ist nicht er, sondern der Ewige selbst, der da mit seinem Leben unser Verlangen stillen kann, sobald wir nichts sind als ein vertrauendes IhnErleiden. Der Abgott ist ein Niditgott, den wir durch unser vertrauendes Hingeben zum Gott erschaffen. Hinter ihm, der an sich ein Nichts ist, steht die Macht der Sünde und des Bösen, die uns dem Born und Ursprung unsers Lebens entfremden. Wahr und echt sind Glaube, Gebet und Frömmigkeit einzig und allein da, wo sie in dem, was sie greifen oder was nach ihnen greift, nichts sind als vertrauendes Erleiden des Ewigen selbst, der ihnen unmittelbar gegenwärtig wird mit seinem verborgenen Leben. Mit diesen das erste Gebot neu auslegenden Sätzen hat Luther als der Anfänger aller tieferen evangelischen Religionsphilosophie jene harte gesetzlich-objektivistische Entgegensetzung von Gott und Götze zerbrochen, zu der das alte Testament verführt. Sie sind nun auch der Maßstab, welcher an den Heiligendienst gelegt wird. D a ergibt sich denn: wenn man „die mächtige Fürbitte eines Heiligen bei Gott" anruft, so setzt man das hingebende Vertrauen des Gemüts auf den Heiligen und nicht auf den Ewigen selbst. Ganz wie in den heidnischen Religionen, die ja in ihrer tieferen Gestalt auch von einem höchsten Gott und Vater aller Dinge wissen, fängt hier ein Abgott ein verlangend sich ausstreckendes Herzensvertrauen ab. Die Seele reckt sich, wie es der Religion eigen ist, über die verstandesmäßig erfahrene Wirklichkeit hinaus in den Bereich der unendlichen Möglichkeit, von der alles Endliche getragen wird. Aber sie findet nicht hin zu Gott selbst. Sie bleibt haften bei einem Endlichen, das ihr die Überschreitung der Grenze zum Ewigen und Unendlichen gleichsam vorgaukelt. Was allein Gott gebührt, verirrt sich auf dem Wege in sein Geheimnis und strandet in einer trügerischen Frömmigkeit. Hier liegt für Luther der natürliche Übergang zur Aufnahme der Verstandeskritik an dem vielen Unwahren, Phantastischen, Erdichteten, das mit der Heiligenverehrung sich verknüpft. Die erlogenen oder erträumten oder erdichteten Wunder und Fabeln, welche sowohl in den Legenden vom Leben und Geschick der Heiligen selbst als auch in den Berichten über ihre Hilfen und Machttaten sich hinbreiten, werden Luther zum Ausdruck des wesentlichen Lugs
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und Trugs, welcher der Heiligenanrufung als einer getarnten Abgötterei zugrunde liegt. Die Tatsache aber, daß man vielfach die Erdiditer und Erfinder dieser Fabeln nicht weiß, daß sie scheinbar wie aus dem Nichts in der Einbildungskraft der Menschen sich gebären, veranlaßt Luther, hinter diesem Treiben der gaukelnden Einbildungskraft den Vater der Lüge, den Teufel, zu erkennen. Es ist dies, nebenbei bemerkt, eine vertiefte Gestalt der Betrachtungen, in denen die Theologen der ersten christlichen Jahrhunderte die Erscheinungen der heidnischen Religion auf die Dämonen zurückgeführt haben. Die tiefe und neue Bestimmung des religiösen Aktes, aus welcher Luthers Nein zur Heiligenverehrung sida ableitet, macht alle Begriffskünste theologischer Reflexion zuschanden. Wenn ein Gebet wirklich echtes Gebet ist, so trägt es alle Unbedingtheit des religiösen Aktes in sich. Es ist eine echte Bekundung des Wesens des reformatorischen Christentums, daß Luther hier nicht mit Argumenten des Gesetzesdienstes, sondern rein aus dem Glauben ans Evangelium heraus urteilt. Das Gesetz läßt sich mit theologischen Unterscheidungen umgehen, beim Evangelium ist dergleichen nicht möglich. Eben dadurch aber erhebt sich für moderne Reflexion ein Einwand wider Luthers Betrachtung. Fallen nun nicht Glaube und Gebet, die auf Jesus Christus sich richten, unter die an der Heiligenanrufung geübte Kritik? Die Antwort muß sich, wenn sie der Tiefe Luthers würdig sein will, aus dem Bereich der naiven Objektivierung ins Wesenhafte der vertrauenden Hingabe erheben. Es genügt nicht, kühl zu antworten, daß Jesus ja der Sohn Gottes sei. Diese formelle Aussage muß aus der Aneignung ihres letzten Sinns heraus verinnerlicht werden. Da gilt nun: Jesus ist eben dadurch Bild und Träger der Gegenwart des Ewigen, daß er nidits als der den Willen des Vaters bis ins Letzte erleidende gehorsame Sohn ist. Ihn gewahren mit der Innerlichkeit glaubenden Gemüts heißt von ihm hineingerissen werden in den Glauben seines zu Gott hingekehrten Herzens. Man ist, wenn man ihm sich öffnet, nicht bei ihm, sondern mit ihm und in ihm beim Vater. Der neutestamentliche Ausdruck für diese Art des Glaubens an Jesus ist der, daß sein zu uns kommender lebendiger Geist in uns zu dem Gebetsruf „Abba", „Vater" wird. Es gibt gewiß auch ein Entarten des Verhältnisses zu ihm ins Unwahre, Eingebildete, Götzenhafte. Der christliche Glaube
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ist vor einer Vermischung mit heidnischem u n d jüdischem Dienst nicht objektiv gesichert. Allein im Glauben u n d T r a u e n des Herzens hat er seine W a h r h e i t u n d sein Leben. W o aber der Glaube an Jesus wirklich Glaube an ihn als den Träger des alles Gesetz zerbrechenden Evangeliums ist, d a w i r d er eben unmittelbares Atmen in der grundlos das H e r z u m f a n g e n d e n gegenwärtigen G n a d e u n d Liebe des Ewigen selbst. Es ist das Geheimnis des Evangeliums, d a ß die bei der Begegnung mit Jesus entzündete vertrauende H i n g a b e nichts ist als ein Teilhaben an seiner eigenen unbegreiflich vertrauenden H i n g a b e an den Vater im H i m m e l . D i e A n r u f u n g der Heiligen hat ganz a n d r e innere A r t . Sie ist, mindestens in der großen Breite v o l k h a f t e r Frömmigkeit ganz bestimmt von der W e r k h a f t i g k e i t u n d dem Glücksverlangen außerchristlicher niederer Religion. M a n bringt den H e i ligen seine G a b e oder sein Gelöbnis d a r u n d e m p f ä n g t von ihnen d a f ü r H i l f e in äußerer N o t . Sehr o f t gehören zu den M i t teln, mit denen m a n ihre mächtige Fürbitte sich verschafft, gewisse Leistungen f r o m m e r A r t , W a l l f a h r t e n , Gebetsserien, T r a gen v o n Skapulieren u n d dergleichen. Dies gilt besonders, w e n n die begehrte Gegenleistung sehr groß ist, u n d am meisten d a n n , wenn das Verlangen ins Geistliche hineinstreift, also etwa K ü r zung von Fegfeuerstrafen f ü r Verstorbene oder auch G n a d e n hilfen f ü r geistlich G e f ä h r d e t e u m f a ß t . N e r v aller solchen A n r u f u n g e n ist also immer, d a ß m a n in die Freundlichkeit u n d die F ü r b i t t k r a f t des angerufenen Heiligen ein besonderes, ger a d e ihm geltendes Vertrauen setzt, o f t auch, d a ß man ein durch längeren Verkehr erworbenes besonderes Verhältnis zu ihm hat. Wie dem nun auch im einzelnen gerade sei, auf jeden Fall gilt hier ein dreifaches Gesetz. Erstens, die Beziehung auf den ewigen G o t t u n d auf Christus zieht sich auf das unbestimmte, im H i n t e r g r u n d e bleibende Bewußtsein zurück, d a ß einem als Christen dieser religiöse Verkehr mit den hilfreichen Heiligen gestattet sei, ja, d a ß G o t t u n d Christus U m g a n g mit den Heiligen f ü r f r o m m erachten. Die eigentliche H i n w e n d u n g des religiösen Gemüts aber gilt ganz dem Heiligen, zu dem m a n betet. Einen von Luther Erzogenen will es bedünken, d a ß solch ein U m g a n g mit Heiligen w a h r e m christlichen Glauben um so f r e m d e r w i r d , je mehr die in ihm begehrten G ü t e r das gewöhnliche Gebiet irdischer H i l f e n übersteigen u n d wesent-
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liehe innere Gnaden umfassen. Zweitens, je mehr ein Christenherz sich in Heiligenanrufung verstrickt, um so mehr kommt es in eine Leistungsfrömmigkeit hinein, und um so mehr werden die Leistungen, mit denen man den Heiligen bewegt, unvermeidlich herausspringen aus dem schlichten alltäglichen Gehorsam gegen Gottes Gebote und der schlichten alltäglichen Verbundenheit mit andern in dienender Liebe. Heiligendienst f ü h r t genau so wie jeder Dienst heidnischer und jüdischer Religion zu selbsterwähltem Sonderdienst, der mit der Freiheit des Glaubens in Christus sich nicht verträgt. Dabei ist die Eigenheit dieser den schlichten natürlichen Lebensgehorsam zersprengenden Sonderwerke gerade der Mangel an jeder wesentlichen christlichen Färbung. Sie kommen allesamt schon in vorchristlichen Religionen vor, gehören zu den uralten Praktiken und Künsten, von denen die Religionsgeschichte weiß. Drittens, der Heiligendienst hält das H e r z auf einer Stufe des Umgangs mit dem Ewigen fest, bei der das Begehren, das Verlangen, der Trieb nach Lebenserfüllung das Sinn und Gemüt Beherrschende bleiben. Die Frömmigkeit ist bekanntlich stets in Gefahr, sich die verborgenen, göttlichen, ewigen Kräfte, die von ihr gewittert werden, dienstbar machen zu wollen. Wagt sie dies dem ewigen unendlichen Gott selbst gegenüber, so spürt sie immerhin das Verkehrte, in das sie abgleitet, fühlt sich vielleicht gehemmt, unsicher in ihrem Treiben, weil eine Scham in ihr geistert. ö f f n e t sie sich gar im Glauben dem Evangelium, so wird der Geist dessen, welcher den Kreuzesweg ging, sie von G r u n d auf verwandeln. Ihr Beten wird aus einem den Vater zwingen Wollen zu einem sich an den verborgenen Willen des Vaters Hingeben, in welchem Gotterleiden tiefste Seligkeit mitten in Angst und Anfechtung und Dunkelheit ist. Von dieser lösenden, verwandelnden, dem Ewigen erschließenden Gewalt kann die Anrufung der Heiligen nichts in sich haben. Es ist der Unsegen eines jeden Endlichen und Vergänglichen, welches unser zu Gott hin suchendes H e r z abfängt und bei sich festhält, daß es uns in dem gaukelnden und träumenden Unwesen unsrer angeborenen Süchtigkeit festhält. Schließlich ist dies denn auch das einzige Lockmittel aller unwahren unterchristlichen Religion, daß sie den schmalen Weg durch Tod zum Leben, welcher wider die Art von Fleisch und Blut ist, uns erspart. Dies also, und nicht etwa eine tote gesetzliche H a n d h a b u n g
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des ersten Gebots vom Sinai, ist es, was hinter der Austilgung des Heiligendienstes durch das reformatorische Christentum steht. Die Frömmigkeit und Sittlichkeit, die im Umgang mit den Heiligen entzündet wird, ist gerade das Widerspiel zu dem Vertrauen auf den unbegreiflichen, ewigen Gott, dessen gewaltige, schwer zu ertragende Liebe im Glauben an das Evangelium sich der Herrschaft über unsre Seele bemächtigt. Man kann dies Urteil Luthers auch religionswissenschaftlich ausdrücken. Der Versuch des vorreformatorischen Christentums, die Elemente niederer außerchristlicher Religion als eine zugelassene vorläufige Stufe religiösen Dienstes ins Christentum hineinzunehmen und so gleichsam dem christlichen Glauben dienstbar zu machen, ist widersinnig. Er wird genau zu dem entgegengesetzten Ende führen, nämlich dahin, daß die christliche Religion in ihrem Wesen verdunkelt und der ihr nicht gemäßen Art der unbedacht eingeladenen Gäste ähnlich wird.
B. Es gibt ein allenthalben im menschlich-geschichtlichen Leben waltendes Gesetz, dem auch das Religiöse sich nicht entziehen kann. Wer da rodet, muß säen und pflanzen, und wer da eine Unordnung beseitigt, muß neue bessere Ordnung aufrichten. Alle nicht abstrakt bleiben wollende christliche Bildung des Gemüts steht vor einer schwierigen Aufgabe. Das Herz bedarf für eine Lebensführung nach Gottes Willen bildhafter, beispielhafter Gestalten, an denen es lernt und versteht, was Gottes Wille mit ihm ist. Unser sittlicher Wille entzündet sich stets unter Mitwirken der Einbildungskraft, welche uns ideale Ziele vorgaukelt. Sind es Ziele, welche dem Willen Gottes mit uns gemäß sind, so ist der Vorgang segensreich. Ergreift ein falscher Geist unsre Einbildungskraft, so öffnet sich der Weg des Verderbens. Eine fromme Erziehung wird nun wohl stets auf Zweierlei bedacht sein. Einmal darauf, daß die Ideale und Vorbilder, welche mit Hilfe der Einbildungskraft zu den Seelen kommen, höheres Menschentum zeigen, welches den Adel der Hingabe an das Gute und Große, an das über das eigene kleine Ich Hinausliegende zum Grundantriebe hat. Sodann aber darauf, daß diese Bilder höheren Menschentums nidit bloß äußere Taten hinmalen, sondern auch die Innerlichkeit, die Seele aufwecken zum Leben. Dieser zwiefachen Aufgabe der Menschen-
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bildung u n d Mensdienerziehung nun haben in der Zeit vor Luther die Heiligengeschichten u n d -legenden gedient. Sie können dem reformatorischen Christentum diesen Dienst nicht weiter tun, u n d dies nicht etwa allein mit Rücksicht auf ihre u n a b trennliche V e r k n ü p f u n g mit der Heiligenverehrung. Sie sind ja Träger einer dem reformatorischen Glauben und Dienst zuwiderlaufenden Gestalt des Vorsehungsglaubens u n d Lebensgehorsams. M a n k a n n sie weder in der Predigt wiedererzählen noch zur häuslichen Lesung empfehlen, ohne dem Evangelium Abbruch zu tun, ja, ohne die Seelen zu verführen. Es erhebt sich die Frage: was h a t das reformatorische Christentum als Erziehungs- u n d Bildungsmittel innerlicher A r t an die Stelle dieser Bilder u n d Geschichten gesetzt, welche die Einbildungsk r a f t so stark beschäftigen u n d d a r u m auch an den H e r z e n ihre K r a f t beweisen? Die A n t w o r t hat etwas so Schlichtes, so Selbstverständliches, d a ß sie fast einfältig klingt, u n d doch leuchtet sie tief hinein in das Wesen des reformatorischen Christentums. A n die Stelle der Heiligengeschichten u n d -legenden t r i t t f ü r Luther die lebendige Vergegenwärtigung der Gestalten u n d Geschichten der Bibel. I m reformatorischen Christentum w i r d die Bibel f ü r den im Arbeitsleben stehenden einfachen Christen, den Bürger u n d Bauern, den H a u s v a t e r u n d die H a u s m u t t e r , den Knecht u n d die M a g d , u n d nicht zuletzt auch f ü r das K i n d ein Erbauungsbuch. Aus den Predigten verschwinden die Legenden u n d M ä ren u n d Fabeln. An ihre Stelle tritt die Erläuterung u n d E r k l ä r u n g v o r allem der Erzählungen aus den Evangelien. Z u diesen hinzu kommen in den vielen neu eingerichteten N e b e n gottesdiensten die Geschichten aus dem ersten Buch Mose u n d dem ersten Buch Samuelis, weiter denn etwa J o n a , R u t h , Tobias, Stücke aus Daniel u n d H i o b . M a n hat viel u n d reichlich Zeit f ü r das alles. Die Predigten sind häufig, sehr häufig, u n d die Menschen haben Zeit u n d Lust, sie zu hören. Was so die P r e digten anheben, setzt sich in der H a u s a n d a c h t f o r t . Die K u n s t des Lesens ist im schulreichen Deutschland schon zur Zeit L u thers unter den Bürgern weit verbreitet u n d dringt da, w o die Verhältnisse nicht ganz d ü r f t i g sind, auch in den Bauernstand ein. Ist da aber auch nur einer im D o r f , der lesen kann, u n d dazu nur eine Bibel, aus der gelesen werden k a n n , so ist das neue Geschehen im Gange. - D i e Seelen auch der schlichten
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Menschen treten im evangelischen Christentum unter eine Wirkung der biblisdien Erzähl- und Frömmigkeitswelt, wie sie so noch niemals in der Geschichte der christlichen Religion sich gezeigt hat. Da vermißt man denn die Fabeln und Abenteuer der Heiligenlegenden nicht mehr. Man hat Edleres und - auch dies ist nicht zu übersehen - Lebendigeres, Reicheres, mehr Belehrendes, mehr Unterhaltendes. Kein Wunder, daß die Gegenreformation in der Macht, welche die Bibel als Erbauungsbuch übte, die stärkste ihr entgegenstehende Mauer erkannt hat. Auf diesem Hintergrunde erst versteht man, was Luther gewollt hat, als er die Vorstellung von der „Gemeinde der Heiligen" ins Glaubensbekenntnis einführte. Die Heiligen, die er meint, sind die durch Erdennot und Erdenkampf gehenden Gläubigen, die sich in ihrer Schuld der Gnade Gottes in Christus getrösten. Zu ihnen gehören auch, ja in erster Linie, die Frommen der Bibel. Vorerst also Maria, Petrus, Paulus, die große Sünderin, Zachäus, oder wen man nun sonst aus dem neuen Testament nennen will. Ebenso denn Abraham, Jakob, Joseph, David, Elias, Jeremias, Jona, Daniel, Hiob, und andere Gestalten des alten Testaments. Sie alle stehen mit uns unter dem einen Gott der Strenge und der Huld, unter dem einen Herrn Jesus, unter der uns alle anrührenden Anfechtung, Versuchung und Schuld, unter der uns alle heimsuchenden Erfahrung der rettenden Gnade, unter dem uns allen geltenden Ruf, das Leben auf die gerade einem selbst bestimmte Weise als Dienst Gottes zu vollbringen. Wenn wir auf sie blicken, lernen wir verstehen, welches der wunderbare Weg Gottes mit seinen „Heiligen", d. h. Gläubigen, ist. Wir lernen Demut, wenn wir die reicheren und tieferen Führungen dieser biblischen Heiligen uns vor Augen stellen. Wer könnte sich mit ihnen vergleichen? Wir lernen auch Geduld, die sich des eigenen Murrens und Klagens schämt: haben sie nicht viel dunklere Wege gehen müssen? Dennoch, wir gehören mit ihnen zusammen. Sie sind uns die Zeugen des einen auch von uns erfahrenen göttlichen Waltens mit dem Herzen. Ihr Glaube ist zuletzt unser Glaube, ihr Gebet unser Gebet, ihre Angst und Seligkeit unsre Angst und Seligkeit. Dies ist gemeint mit der „Gemeinde der Heiligen", welcher alle Kinder Gottes quer durch die Unterschiede der Räume und Zeiten und Schickungen hindurch in der Gleichzeitigkeit des Glaubens und Geistes angehören.
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So verstanden ist die Vorstellung von der Gemeinde der Heiligen voll der seltsamsten und lebendigsten Spannungen. Die Gemeinde der Heiligen ist innerlichste Verbundenheit derer, welche ein jeder für sich den einsamen Weg eines eigenen unmittelbaren Gotterfahrens in Leid und Sünde und Glaube gehen. Man gehört zusammen in einer verborgenen Einheit der Herzen, eben weil man in der Innerlichkeit und Verborgenheit des selber Glaubens und Gehorchens steht. Diese Widerspruchseinheit von Eigenstand und Verbundenheit, Einsamkeit und Aufgeschlossenheit ist die Keimzelle aller in die Tiefe gehenden Gemeinschaftsbegriffe des neueren ethischen Denkens. Sie wird noch überkreuzt, in geheimnisvolle Abgründlichkeit hineingetaucht, sofern keine Vorstellung von Gemeinschaft so wenig gleichmacherisch ist wie diese Gemeinde der Heiligen. Größe und Geringheit, Sonderheit und Alltäglichkeit, außerordentliche T a t und unscheinbarer Dienst, sie stehen da als von der einen göttlichen Liebe ohne Unterschied umfaßte Verschiedenheiten des Erdenschicksals unter dem einen Glauben und dem einen Gottesdienst, welche allem Menschenleben und Christenleben wesentlich sind. Dies ist der größte Beitrag des Protestantismus zur Gestaltung menschlichen Zusammenlebens. Einem jeden kommt in dieser Gemeinde der Heiligen die gleiche Würde des Personseins in Gott zu, und dennoch gewahrt ein jeder in sich selbst und an sich selbst, daß diese eine Würde ihn nicht den andern gleichmacht. Man hat sie nur, wenn einem der Glaube ans Evangelium ein J a zum eigenen Beruf und Stand und Dienst wird. Auch eine neue Bestimmung der Liebe ist in dieser Vorstellung der Gemeinde der Heiligen enthalten. Sie bedeutet ein Zusammengehören, ein für einander da Sein, in welchem von der Süchtigkeit und Selbstsucht der gewöhnlichen menschlichen Liebe nichts zu spüren ist. Eben mit dem Fürsichsein und Insichsein ist man dem andern da. Keine Hilfe sonst in der Welt ist in den wesentlichen Bereichen des Lebens so machtvoll als die, welche von einem ins Sein vor Gott, ins Leben mit Gott gekehrten Herzen ohne jedes besondere Tun und Wirken zu denen kommt, in welchen die Frage nach einem Leben mit Gott sich regt. Hier ist der Unterschied von der mit den Heiligen im Himmel verehrend und anrufend umgehenden Frömmigkeit mit Händen zu greifen. Wer zu den Heiligen im Himmel
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betet, will etwas von ihnen haben, und er stimmt sie durch allerlei Mittel f ü r sich günstig. Man fühlt sich erinnert an das, was das Miteinander der Menschen in Handel und Wandel des geselligen und geschäftlichen Lebens alle Tage zeigt. D a haben Liebe und H i l f e und Freundlichkeit allermeist das Gepräge eines wohl ausgeglichenen Gegenseitigkeitsverhältnisses. Aus dem Umgang mit den Heiligen im Himmel kann kein Herz jene freie und reine Verbundenheit im Geist lernen, welche das Beste und Schönste im menschlichen Zusammenleben ist. So hat denn die Vergegenwärtigung der Geschichten und Gestalten der Bibel unter der leitenden Vorstellung der Gemeinde der Heiligen nicht nur dem Heiligendienst den Wurzelgrund im Gemüt entzogen. Sie hat zugleich auch ein neues Verständnis der Dialektik von Einzelnem und Gemeinschaft aufgeweckt. Eine solche fast revolutionäre Rückwirkung auf das menschliche Ethos hätte nun gewiß nicht eintreten können, wenn hinter der Umschaltung auf den biblischen Stoff nicht auch ein allgemeineres geistig-seelisches Geschehen sich verbärge. Die Vergegenwärtigung der biblischen Gestalten und Geschichten, so wie Luther sie auf die Bahn gebracht hat, stellt an die Innerlichkeit des Menschen viel härtere Ansprüche als die geistige Aufnahme von Heiligengeschichten und -legenden es tut. D a wird zum Beispiel einem schlichten Handwerksmeister oder Heidebauern zugemutet, in der Geschichte des Propheten J o n a oder in der des Petrus seinen eigenen Weg durch Sünde und Gnade zur Gotteskindsdiaft und seinen eigenen stillen Gehorsam unter dem göttlichen Führen und Rufen insoweit wiederzufinden, daß ihm die Zusammengehörigkeit aller Gotteskinder in dem einen Glauben und Dienst zum Schlüssel des tieferen Verstehens wird. N u r wenn dies sich vollbringt, kann ihm hier Trost und H i l f e f ü r seinen Weg durch die Welt erwachsen. K ä m e es nicht dahin, so wäre die Vorstellung von der einen Gemeinde der Heiligen, welche in einer Anbetung, einem D a n k , einem Glauben verbunden ist, in ihm nicht w a h r geworden. E r würde auf den Fisch glotzen, welcher J o n a verschlingt und wieder ausspeit, und auf die Fisdie, welche dem Petrus das N e t z fast zerreißen, und hätte nicht mehr davon, als wenn er vom hürnenen Siegfried oder von Fortunat und seinen Söhnen läse. Oder er würde gar, womit dem reformatorischen Christentumsverständnis w i dersprochen wäre, innerlich gestört werden in der stillen H i n -
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gäbe an den Beruf und Stand und Alltag, in welchem er den Seinen zu Dienst und Freude seines Glaubens leben soll und verwandelte sich, mindestens in der Phantasie, in einen Abenteurer und Schwärmer. Wie also soll er nun von J o n a und von Petrus lesen? Es kommt darauf an, daß der Leser oder Hörer unter A n spannung aller Geistes- und Seelenkräfte, die er hat, eine Einkehr in das letzte verborgenste Tiefenschichtgeschehen vollziehe, welches hinter der bunten Haut der Erzählungen von J o n a und Petrus sich verbirgt. Dies ist im Wesenskern die gleiche meditative Versenkung, welche Luther als Prediger an den Geschichten des Evangeliums gelernt und eingeübt hat. Das Ziel ist auch hier, an jenen Grenzpunkt zu dringen, an dem die ewige Gleichzeitigkeit der dem Gott des Evangeliums gehörenden Herzen sich auftut und alles durchleuchtet mit ihrem fast magisch scheinenden Licht. N u n denke man sich die Anleitung, welche dem schlichten Leser und Hörer durch die Predigt zuteil wird, noch so lebendig und reich: es ist und bleibt eine harte Aufgabe, die ihm da gestellt wird. Ohne daß viele Verkrustungen seines nüchternen erdgebundenen, dem Endlichen und Zweckhaften zugekehrten Sinns zersprengt werden, vollbringt er das Geforderte nicht. A n sich sind die Regeln, welche Luther f ü r das Lesen und Hören gibt, freilich einfach. Die Hauptsache in den biblischen Berichten ist stets die Begegnung des Herzens mit dem lebendigen Gott, welche durch die Schickungen des Lebens hindurch fort und fort geschieht. Man dringt zu diesem innerlichen Kern hin, wenn man allenthalben auf die Reden achtet, die hin und her gehen, und sich dabei ergreifen läßt von der Gewalt der Affekte, welche in den handelnden und leidenden Personen aufspringen und ihnen die Lippen entriegeln. Es ist die Eigenheit der biblischen Erzählungen, daß in ihnen das Äußere stets zusammengedrängt ist, und so R a u m geschafft wird f ü r das in Wort und A f f e k t sich kündende Innere. Ist man erst in diesen Bereich gedrungen, so sieht man wohl auch schnell, daß Gott selbst mit seinem wunderlichen Heischen und Geben und Fügen der eigentlich Bewegende, der das Herz in der Hand Haltende ist. Ob es nun gehorche oder trotze, komme oder fliehe, verzage in Angst oder aufjauchze in Freude, verwirrt sei oder der Wahrheit hingegeben: immerdar ist es das auf Gott bezogene
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H e r z . Sinn und Schlüssel des Geschehens liegt d a r u m immer in Wille, Rat und Bekundung des Ewigen. Man hat sich nur klar zu machen, ob Gott gerade als Gesetz oder als Evangelium zu dem Menschen in der Geschichte spricht. H a t man es ein wenig gelernt, so zu lesen und zu hören, so geht einem wohl auch auf, daß Gott o f t in wunderlicher Verhülltheit, gleichsam in Masken, mit den Menschenseelen sein Spiel treibt, um ihnen das Schwerste abzugewinnen, um sie zu bewegen bis in den Grund. Der Glaube aber weiß auch dann, daß Gott zuletzt, was er auch tue, nichts als Liebe ist, Liebe freilich, die im Mantel der Allgewalt einhergeht und entdeckt werden will. Dies also ist der Weg, auf dem man wie von selbst in die Gegenwart des Erzählten hineingenommen wird und zusammen mit den Menschen, von denen erzählt wird, sich findet als ein Gott erleidendes und empfangendes Herz. Die Scheidewände vergehen, wiewohl alle Unterschiede äußerlicher Art bleiben, und die Gleichzeitigkeit oder ewige Gegenwärtigkeit ist da, in welcher vergangene Geschichte Ewigkeit ist und bringt. Es ist eine oft zu vernehmende Rede, daß der Katholizismus die Religion der Einbildungskraft, der Protestantismus die des Gedankens sei. Wenn damit gemeint sein sollte, d a ß die im Element der passiven, schläfrigen Einbildungskraft wogenden Vorstellungen und Betätigungen religiöser Art in den Kirchen des reformatorischen Christentums abgetan worden sind, so mag diese Behauptung als nicht ganz sinnesleer hingehen. Die Kirchen des reformatorischen Christentums gehören zu den wenigen Erscheinungen der menschlichen und christlichen Religionsgeschichte, in denen die streng monotheistische Prägung der Andacht und des Dienstes nicht herabgespannt ist durch eine bunte Welt von Volksphantasie und Volksfrömmigkeit. Indes, dies ist nur die eine Seite der Sache. Die wiedergegebenen Anweisungen Luthers zur Bibellektüre sind eine Erziehung und Bildung zu frei nachschaifender und nacherlebender Einbildungskraft, welche auch in alltäglichen Menschen höheres Leben erweckt. Es gibt eben nicht bloß jene schläfrige Einbildungskraft, welche auf die Glanzlichter und Farbentänze der äußeren Erscheinungswelt starrt und dabei selig eine angenehme Halbauslöschung des eignen Innenlebens erfährt. Auch das gegenreformatorische Christentum strebt über diese hinaus. Es hat seine Träger zu einer Art militärisch geschulter Einbil-
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dungskraft zu erziehen gesucht, welche den wogenden Bildern der Seele mit kühler zweckhafter Verständigkeit gebietet. Diese aber ist von evangelischer Erziehung und Bildung wenig gepflegt um der Widerspannung willen, in welcher sie mit dem Evangelium von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben steht. Freie H u m a n i t ä t und lebendige Frömmigkeit sind darauf gewiesen, sich über sie hinaus zu schwingen. Dies ist es, was im Protestantismus das Hochziel wird. Er hat sich mit jener höheren menschlichen Einbildungskraft verschwistert, welche allenthalben im Äußeren das Innere, in der Erscheinung das Wesen, im Begebnis den Geist, im Fremden das Eigne, im Vergänglichen das Ewige zu gewahren und aufzudecken weiß. Sie ist der höchste natürliche Adel des Menschen, und zu ihr zu erziehen, zu ihr auch einfache, durch harten Alltagsdienst gebundene Seelen aufzuwecken, das ist der Sinn jenes Umgangs mit der Bibel als Erbauungsbuch, welcher vom Wesen des reformatorischen Christentums unabtrennlidi ist. Man hat die gewaltige kulturelle Wirkung, weldie von den evangelischen Kirchen in den ihnen sich zuwendenden Völkern entbunden worden ist, o f t flach aus der Nötigung erklärt, möglichst viele Menschen zum Lesen zu erziehen und darüber hinaus die gelehrte sprachliche Bildung zu pflegen. Viel entscheidender ist hier die Pflugschar gewesen, weldie die V e r k n ü p f u n g des Glaubens mit der Mühsal der höheren Einbildungskraft durch die Seelen geführt hat. Daher ist denn auch der Pietismus, welcher nach den Zerstörungen des dreißigjährigen Kriegs den freien, das Innere nacherschaffenden Umgang mit den Gestalten der Bibel wieder zum Leben erweckt hat, der Muttergrund f ü r ein neues Aufblühen des deutschen Geistes und der deutschen Seele geworden. Die Eigenheit der deutschen klassischen und romantischen Dichtung ist ihre dem Ewigen sich öffnende Innerlichkeit. Sie bezeugt es in ihrer Weise, daß diejenige Einbildungskraft, zu welcher der erbauliche Umgang mit den Gestalten der Bibel im Luthertum erzieht, das eigentliche Geheimnis alles edleren Dichtens und Denkens ist. Zur Vollständigkeit der Betrachtung fehlt vielleicht noch Eines. Durch die Verschmelzung des Gebrauchs der Bibel als Erbauungsbuch mit der Vorstellung der Gemeinde der Heiligen hat ein im Mittelalter neu erwachter Antrieb der Frömmigkeit eine große innere Verwandlung erfahren. Es handelt sich um
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das Stellen des Christenlebens unter den Gedanken der Nachfolge Jesu. Man möchte wohl am liebsten sagen dürfen, daß die Nachfolge Jesu - eine vom germanischen Christentum erzeugte Vorstellung - in der Frömmigkeit des Mittelalters die Gegenkraft wider die vielfältigen Entartungserscheinungen innerhalb der christlichen Frömmigkeit sei. Jedoch, wäre das auch wahr? Die erste sichere Wirkung des Gedankens der Nachfolge Jesu, des Nachbildens des Lebens des Herrn, wie er auf Erden ging, ist das Aufkommen der Geißelbuße. Diese besonders abschreckende Art asketischer Selbstzerfleischung wird durdi die Tatsache, daß Jesus von den römischen Soldaten gegeißelt worden ist, wahrlich noch keine Annäherung an den Geist Jesu und des Evangeliums. Noch sonderbarer ist es f ü r uns, daß die Kreuzritter, welche zum Kampf wider die U n gläubigen auszogen, des Glaubens waren, als Träger des Kreuzeszeichens nun wirklich „das Kreuz des H e r r n auf sich zu nehmen". Die Kreuzzugsidee ist von Luther mit Recht als widerchristlich gebrandmarkt worden. Sie ist eine Entlehnung aus dem Islam, welchem die Vorstellung eines heiligen Krieges zur Ausbreitung seines Dienstes wesenseigentümlich ist. N i e können Kriegszüge wahre Nachfolge und wahrer Dienst dessen sein, welcher den falschen Messianismus als satanisch verneinte und sich wehrlos den Häschern bot. Freundlicher, ja beinahe rührend erscheint uns heute die Gestalt, welche die mittelalterliche Vorstellung von der Nachfolge Jesu bei Franz von Assisi hat. Er hat mit der Gemeinschaft seiner Minderbrüder wirklich die Tage des Evangeliums wieder erneuern wollen auf Erden. Das Gesetz, unter das er seine Anhänger stellte, ist von ihm aus Geboten der Bergpredigt und der Aussendungsreden Jesu zusammengefügt worden. Luther aber teilt nun das bewundernde Urteil der Modernen keineswegs. Er hat wider keine Gestaltung des mittelalterlichen Christentums eine so tiefe Abneigung verspürt wie gegen Franz von Assisi. Die franziskanische Verwandlung des Evangeliums in das Sondergesetz eines Ordens, welcher einen Weg der Vollkommenheit über das gewöhnliche halbschlächtige Christentum hinaus sucht, ist ihm eine der schlimmsten Entstellungen des Evangeliums. Statt der inneren Gleichgestalt mit dem H e r r n , welcher gehorsam des Vaters Willen mit sich erleidet, wird hier eine äußere w e r k h a f t e Nachäff ung seiner Lebensform zur Nach-
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folge gestempelt, und der Glaube an den Gott, welcher den Sünder zu seinem Kinde begehrt, verwandelt sich in die Vorstellung, daß in Gottes Augen allein der gesetzesgebundene Lebensstand der armen Minderbrüder w a h r h a f t wohlgefällig sei. Dies schien Luther eine Verderbnis des Christenglaubens, audi wenn von Franz den Weltchristen, welche diesen Weg der Vollkommenheit nicht gingen, die Tür zur ewigen Seligkeit nicht zugeschlagen wurde. Etwas anders steht es mit der ekstatisch-mystischen Frömmigkeit. In ihr hatte der Gedanke der Nachfolge des H e r r n eine sehr verinnerlichte Gestalt angenommen, w a r zum Leitmotiv des Fluges der Seele geworden, die sich der Welt entledigte und ins Göttliche einzugehen begehrte. Hier war Christus der mystisch Fromme, welcher durch die Nacht des Todes zur Vollendung in verborgener Herrlichkeit ging. Was diese Frömmigkeit f ü r Luther als H i l f e auf seinem Wege gewesen ist, haben wir gesehen. Dennoch mußte er auch sie verneinend hinter sich lassen, als er zur Gleichzeitigkeit des Glaubens mit Jesus hinfand. Der Christus dieser Mystik wurde ihm dem wahren Menschensohne der Evangelien gegenüber zum Traumgespinst. Auch hier gilt, was vom ganzen Mittelalter gilt: der Jesus, dem man nachzufolgen begehrte, war in Wahrheit der Gigantischste aller Werkheiligen. Nichts aber reißt so sidier aus allem schlichten Lebensgehorsam des Glaubens hinaus in die Abenteuer einer werkhaften Frömmigkeit, als der Versuch, in mystischer Selbstzerstörung diesem Jesus vollkommen gleich zu werden. Im reformatorischen Christentum ist Jesus der T r ä ger des Evangeliums, und es gibt nur einen Weg, ihm gleich zu werden: den Gottes verborgene Liebe und Gnade still erleidenden Glauben. Die Umsetzung des Äußeren in das Innere, der Erscheinung in das Wesen, der Lebensgestalt in das Glaubensgeheimnis ist von Luther nirgends so folgerichtig wider alle Irrwege der Frömmigkeit durchgeführt worden wie da, w o er den rechten Sinn der Nachfolge Jesu klärt. So machte sidi denn der schwere dunkle Riß, welcher die beiden Gestalten des abendländischen Christentums unbarmherzig im Gewissen entzweit, auch beim Verständnis der Nachfolge Jesu kund. Luthers Bild von der Gemeinde der Heiligen hängt aufs Innigste mit seinem Christusbild zusammen.
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C. Es ist unter uns heute eine religiös gefärbte ästhetische Hochbildung entstanden, welcher das Nein der evangelischen Kirchen zur Heiligen- und insbesondere zur Marienverehrung peinlich ist. Sie k n ü p f t - mit zweifelhaftem geschichtlichen Recht, aber wirksam - an die Gestalt der Mittleridee an, welche in den philosophischen Fragmenten von Novalis sich ausspricht. Alles Endliche, als aus dem Ewigen hervorgegangen, von ihm getragen und es widerspiegelnd, hat die K r a f t , tieferem Sinn den inneren Zugang zum Unendlichen, Göttlichen aufzutun. Es lockt und reizt gleichsam dazu, daß man es als Widerschein und Gleichnis des Unendlichen, Göttlichen verstehe. Wer diese heimliche Seele in alljedem Endlichen spürt, dem geht wohl schon im Verkehr mit den Dingen der Welt auf poetisch bezaubernde Weise in seinem Gemüt der Himmel auf. Nüchterner Sinn könnte nun darwider wohl die skeptische Frage aufwerfen, was denn dies alles mit Heiligenverehrung und Heiligendienst zu tun habe. Man hätte vielleicht sogar nicht Unrecht mit der Behauptung, daß diese Mittleridee im Grunde dem Heiligendienst ferner stehe als dem evangelischen Umgang mit der Bibel als einem Erbauungsbuch, welches uns die inwendige Geschichte der Menschen Gottes aufschließt. O h n e die Unterscheidung von Erscheinung und Wesen, Begebnis und Geist, Außen und Innen kann man die Aussagen von Novalis, der immerhin auf eine sehr freie Weise f r o m m war, kaum verstehen. Die tiefste W a h r heit des Christlich-Religiösen ist f ü r Novalis das Kontrasterlebnis von Sünde und Gnade im Sinne eines protestantischen Pietismus. Sein Gedanke, daß Nacht und Tod bloß der Mantel der alles umhegenden und beseligenden göttlichen Liebe sei, läßt sich eher in reformatorische denn in katholische Frömmigkeit übersetzen. Immerhin scheint es so, als ob in Köpfen, denen Unklarheit das natürliche Lebenselement ist, ein vielleicht gar magisch-sakramental genannter Symbolismus die Gedanken von Novalis sich zunutze machen wollte zur Auflösung der reformatorischen Kritik an Heiligen- und Marienverehrung. Das ist nun so eine typisch moderne Betrachtung. Man wird gleichsam ungern zum Streiter wider sie. Man weiß nämlich nicht so recht, wogegen man streiten soll. Zu leicht trifft der, welcher seinen Pfeil auf die gescheckte Halbwahrheit abschießt, gerade das Stückchen Wahrheit, das sie widerwillig in sich trägt. Sehr gerne bezieht sich zum Beispiel jener Symbolismus
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auf den tiefsinnigen Gehalt, den man in die Mariologie hineinlegen kann. Maria als die Mutter, welche das aus dem Geheimnis Gottes empfangene Kind in ihrem Schöße hält, wird zu einem Bilde des heiligen Geheimnisses des Lebens, oder auch des Mutterseins, oder auch der ganz aus dem Empfangen der Gnade lebenden Gottinnigkeit, oder auch der Vollmacht der Menschheit, das Ewige und Göttliche aus sich zu gebären . . . Es ist alles höchst magisch, und höchst sakramental, und höchst symbolisch, und höchst heilig und erhebend. Aber ist es nicht ein bißchen viel auf einmal und insofern verwirrend? Vor allem denn: wie kommt man von solchen Betrachtungen denn zu Mariendienst und Marienverehrung hin? Wie bezieht man in diesen symbolischen Tiefsinn etwa den Glauben ein, d a ß das Tragen des Skapuliers der Karmeliter Maria die Gottesmutter bewege, einen am Freitag nach dem Tode aus dem Fegfeuer zu holen? Oder was fängt man mit den Heilungen der Maria von Lourdes an? Man lese Emile Zolas größten und bedeutendsten Roman, sein „Lourdes" und exerziere den Symbolismus an dem Bilde, welches der Dichter hier mit der harten Wahrhaftigkeit eines Manns der Wissenschaft hingemalt hat. Kurzum, dieser alle echte Hingabe meidende Symbolismus taucht jeden bestimmten Gedanken, jedes bestimmte Gefühl, jedes klare Entweder-Oder in die dunkelviolette Tinte seines Sakramentalismus und löscht damit eben das aus, worauf es nach reformatorischem Christentumsverständnis ankommt: die Lauterkeit des Gewissens, das nach der Wahrheit Gottes verlangt. Die Frage Luthers, ob das H e r z im religiösen Akte dem verborgenen Gott und Vater Jesu Christi sich gebe oder ein Endliches abgöttisch zum Gott erschaffe, sie ist mit ihrem versehrenden Ernst noch immer da, wenn jener Symbolismus seine schönste Rede beendet hat und das Gewissen, aufwachend aus dem poetischen Rausch, sich auf sich selber besinnt. Ganz anders nimmt die Sache sich aus, wenn ein Neuprotestantismus, welcher in die Tiefe des reformatorischen Gewissenserlebnisses eingekehrt ist und darum auch das reformatorische Nein zu Heiligen- und Mariendienst in sich aufgenommen hat, sich auf das Recht des poetischen Sinns im Umgang mit den biblischen Gestalten und Geschichten besinnt. Das Poetische ist auch in Luther wirksam gewesen, der da mehr ein Dichter war, als ihm selber geahnt. Nehmen wir das Marien-
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bild, welches er im Anschluß an die Anfangsgeschichten des Matthäus und Lukas zu zeichnen liebt. Von der sinnigen M a rienlegende des Mittelalters ist nur ein einziger kleiner Zug aufgenommen, wahrscheinlich unbewußt. Luther hält Maria f ü r ein zartes Mädchen von etwa fünfzehn Jahren. Audi dies ist schon dichterisch ins Gleichnis erhoben. Es steigert die Möglichkeit, Maria zum Bilde der wehrlos und gläubig des wunderlichen Gottes Fügung hinnehmenden Seele zu erheben. Im übrigen ist es ebenso unwichtig, wie daß er Maria in seinen Volkspredigten wirklich und wahrhaftig durch den Schnee zum Stall in Bethlehem stapfen läßt, was sicherlich nichts andres ist als ein Durchgehn des Dichters mit dem Prediger. Das Wesentliche von Luthers Marienbild - als reine Wirklichkeit geltend - gründet sich auf drei Züge jener Anfangsgeschichten. Der Lobgesang Luk. 1,46 ff zeigt uns Maria als das gläubige Christenherz, welches aus dem tiefen Gefühl der Unwürdigkeit dem heiligen Gott gegenüber das unbegreifliche Wunder der ihr zum Leben werdenden göttlichen Gnade und Liebe preist. D i e G e burt des Heilands im Stall zu Bethlehem und der Besuch der Hirten zeigen sie uns, wie sie eben die A u f g a b e still und wortlos löst, die uns allen so hart wird. Sie bewegt im bittersten Elend die doch fast wie ein Hohn klingende Botschaft andächtig und gläubig in ihrem Herzen. Der Besuch im Tempel aber zum Reinigungsopfer und die Weissagung des Simeon von dem Schwert, das durch Mariens Seele gehen wird, zeigen sie uns als Bild christlichen Lebensgehorsams. Sie erfüllt, ohne viel zu reflektieren, die f ü r die Heilandsmutter doch sinnlose Ordnung der Reinigung, einfach weil ein frommes H e r z das „tut, was ihm vorkommt". Dabei lauscht sie unverstehend und doch aufmerksam den Worten, die ihr das Schicksal von uns allen künden, daß der Weg der Gnade durch den tiefen, mit T o d versehrenden Schmerz hindurchgeht. So malt Luther, wenige biblische Worte ausdeutend, eine Maria hin, die mit allen, welche glauben, darunter auch der großen Sünderin, in der Gemeinde der Heiligen steht. Die unbefleckt Empfangene, die Himmelskönigin, die Nothelferin und Wundertäterin ist w i e ins Nichts verschwunden. Ein Mensch, ein echter Mensch, ist geblieben. Aber . . . was hat nun wohl dies Bild eines echten Menschen mit der wirklichen Maria zu tun? Neuprotestantische Geschichtskritik weiß zu zeigen, daß die
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Anfangsgeschichten, aus welchen Luther sein Marienbild holt, Legenden sind, deren Entstehung erst in den Beginn des nachapostolischen Zeitalters fällt. Von der wirklichen M u t t e r Jesu wissen wir nur zweierlei. Sie h a t , als Jesus in Galiläa mit den Führern der Frommen in Widerstreit geriet, zusammen mit Jakobus, seinem jüngeren Bruder, den Versuch gemacht, Jesus als verrückt einzusperren. Sie h a t nach dem Tode Jesu zusammen mit ihrem Sohne Jakobus zur ersten Christengemeinde gehört. Nicht die Wirklichkeit, sondern eine Dichtung w i r d somit von Luther gedeutet. Dabei d ü r f t e es k a u m zu bezweifeln sein, d a ß seine D e u t u n g wiederum eine die alte Dichtung überhöhende Dichtung ist. Das Geheimnis der Ü b e r h ö h u n g ist die Kehre nach innen, das Erschauen einer Seelengeschichte, bei welcher die äußeren Ereignisse zur bloßen Veranlassung des Eigentlichen werden. Das Bild, welches der Urheber der R e f o r m a t i o n von einem w a h r e n Gliede der Gemeinde der Heiligen hat, spiegelt sich dichterisch zurück in die selber schon einen Spiegelreflex darstellenden alten Geschichten. D a darf denn ein N e u p r o t e s t a n t , der dies alles sehen muß, er wolle oder wolle nicht, wohl schwerlich auf die Poesie schelten. Sie h a t , recht gebraucht, unvergleichliche K r a f t , wesentliche W a h r h e i t z u m Menschenbilde zu gestalten. Diese am Beispiel der M a r i a sich bietende Erkenntnis bedarf der Ausweitung. N e h m e n wir die Gestalt Abrahams. Paulus hat A b r a h a m im Römerbrief hingedichtet als den Vater der christlichen Glaubensgerechtigkeit. Mit dieser Dichtung hat die junge christliche Gemeinde A b r a h a m der Synagoge gleichsam e n t w u n d e n . D e r Hebräerbrief f ü h r t diesen P r o z e ß weiter u n d gesellt dem Bilde A b r a h a m s einen ganzen K r a n z alttestamentlicher Gestalten hinzu, welche allesamt ebenso wie A b r a h a m V o r f a h r e n u n d Vorbilder des Glaubens an Christus sein sollen. Diese Aussagen z u m Schlüssel wählend hat Luther sich sein Bild von der unter dem jüdischen Dienst versteckten heimlichen Gemeinde der F r o m m e n gemacht, welche die w a h r e Christenheit u n d Kirche in den Zeiten vor Jesus gewesen ist. Seine D e u tungen alttestamentlicher Geschichten u n d Gebete beruhen allesamt d a r a u f . N u r v o n dieser Voraussetzung her w a r es ihm möglich, Elia, J o n a , Jeremia, H i o b , ebenso H a n n a h u n d R u t h , d a z u die Frommen des Psalters auf die A r t zu verstehen u n d zu vergegenwärtigen, wie er es tut. D i e seinem Glaubensernst
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gemäße K e h r e nach innen n i m m t die äußeren Geschehnisse nur als Beispiele f ü r die innere A r t , wie ein Christ im Glauben Gottes Walten erlebt. So fällt wie von selbst vieles F r e m d artige, Wunderliche, Märchenhafte der uralten Geschichten als ein nicht wesentlicher R a h m e n aus dem erbaulich Wichtigen heraus. In der T a t , es sind Luther dadurch reiche u n d tiefe Bilder von Gottes U m g a n g mit dem H e r z e n entstanden. D i e Gestalten sind aus dem fernen Orient u n d dem f r e m d e n Glauben u n d Dienst hinübergewandert in die Gemeinde der neutestamentlichen u n d der reformatorischen Frommen. Dies ist geschehen im heiligen Gewissensernst eines andächtigen Umgangs mit der Bibel. Es ging Luther u n d den ihm Folgenden nicht um ein Spiel. Wo er sich bewußt w u r d e , d a ß er h ä t t e dichten, umdeuten müssen, um eine alte Geschichte, ein W o r t hineinzuziehen in die Berührung zwischen dem H e r z e n u n d dem G o t t des Evangeliums, da hat er verzichtet u n d lieber K r i t i k geübt. So h a t er z. B. das Buch Esther abgelehnt. Doch das bleiben V o r gänge am R a n d e . U n a h n e n d , u n b e w u ß t , durch die Dichtungen des Paulus u n d des Hebräerbriefs v e r a n l a ß t , w i r d Luther in vielen Partien z u m Neudichter der biblischen Geschichte, vor allem der des alten Testaments. Die W a h r h e i t des Glaubens, in der es ein Dichten u n d Spielen nicht gibt, vermählt sich mit der freischwebenden Poesie. Wundervolles, das noch heute jeden Empfindenden auch außerhalb des Glaubensbereichs ergreift, ist ihm dabei geschenkt w o r d e n . Wer aber d ü r f t e leugnen, d a ß die Gemeinde der Heiligen, in welche diese A r t der H i n g a b e an die geheimnisvollen Tiefen der Bibel f ü h r t , eine seltsame Einheit von Poesie u n d Wirklichkeit darstellt? D a m i t hätten wir uns an die schwere Frage herangearbeitet, welche dem Neuprotestantismus bei seinem Versuch, hier ein w a h r h a f t i g e s Verhältnis zur R e f o r m a t i o n zu gewinnen, u n weigerlich in den Weg tritt. Es scheint so, als ob das N e i n zur U n w a h r h e i t einer sich von Poesie u n d Phantasie nährenden Frömmigkeit uns Heutigen h ä r t e r e Bedingungen auferlegte als dem alten Protestantismus. Geschichtswissenschaft u n d Religionskritik haben uns das dichterische, das die Wirklichkeit überdeutende Moment im reformatorischen U m g a n g mit der Bibel gerade an der Stelle entdecken lassen, an der er an sich am schönsten u n d tiefsten ist. D a r ü b e r , d a ß uns so scheinbare objektive Stützen des Glaubens entzogen werden, k ä m e n w i r wohl
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noch hinweg. Das J a zum protestantischen Subjektivismus, der es in Gottes N a m e n wagen muß, sich frei ans Ewige zu geben, ist unsre Ehre. Indes es droht eine abgründlichere Schwierigkeit. Auch ein Glaube, der sich als ein frei wagendes Gott E m p fangen versteht, ja gerade ein solcher, will etwas andres sein als Traum und Spiel. Sein Wesen ist der innere Gehorsam, welcher sich beugt unter eine ihm aufgehende verborgene Wirklichkeit, die des ewigen Gotteswillens im Evangelium. Dichten, umdichten, träumen, es hat seinen O r t allein in den Glanzlichtern, die aus dem ernsten und heiligen Geheimnis im wesenhaften Wirklichkeitsgrunde hinausstrahlen in die bunte äußere Welt, welcher bloß Tatsächlichkeit und nicht Wirklichkeit eigen ist. Soweit wir uns also eines spielenden überdeutenden Dichtens im Umgang mit der Bibel bewußt werden, sind wir aus dem Bereich des eigentlich majestätischen Heiligen hinausgetreten. Was heißt dies nun andres, als daß f ü r uns heute das Verhältnis von Poesie und Glaube aller Harmlosigkeit und Unschuld beraubt ist? Es wird uns nichts helfen: wir werden die Sichel der kritischen Selbstbesinnung durch die altprotestantische Auslegung der Bibel gehen lassen müssen, ganz gleich, daß sie uns dabei auch zarte und liebe Dinge niedermäht. Etwas, das f ü r unsre Einsicht ein Erdichten, Umdichten, Umdeuten, Überdeuten wäre, ist uns im Umgang mit der Bibel beider Testamente nicht verstattet. Beugen wir uns dem nicht, so ist das reformatorische Verständnis des Christentums in seiner Strenge und Lauterkeit verloren. Freilich, einer nachschafFenden Einbildungskraft, welche in die Tiefen des Seelischen taucht und das wahre innere Geschehen, den eigentlichen religiösen Vorgang aus den alten Berichten zutage fördert, können wir im Umgang mit der Bibel nicht entraten. Doch diese Einbildungsk r a f t muß treue Dienerin der Wirklichkeit sein wollen, muß das zu sehen und zu sagen begehren, was ist und gewesen ist. Handelten wir hier anders, so würde das Wort Christentum, ja auch Jesus Christus selbst, nur ein Deckmantel, unter welchem das Belieben und die Willkür ihr Spiel hätten. Unser Umdichten und Umdeuten stünde gleichen Rangs neben dem kirchlich autorisierten des Papstchristentums und ebenso auch neben dem Taumel der modernen Vielfarbigkeit und Vieldeutigkeit, welcher aller Stoff der Religionsgeschichte, ein-
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schließlich der christlichen, gerade gut genug ist, um in den modischen Schneiderwerkstätten der Religions- und Weltanschauungsfabrikanten je nach Tagesbedarf verschnitten zu werden. Was wäre die Folge, wenn auf die eine der beiden Weisen, ganz gleich auf welche, unserm Nachtasten der Spuren Gottes in den biblischen Geschichten und Worten die Ehrfurcht vor dem letzten verborgenen Ernst der Wirklichkeit verloren ginge? Die zur Herrin der Lage gewordene freie Einbildungskraft würde alsdann auch nicht einsehen, warum sie nicht das Christentum anreichern solle mit den Elementen andrer Religionen. Ließe sich dann aber das Nein zum Heiligendienst und der Ausschluß des gesinnungslosen Symbolismus noch rechtfertigen? Kern aller Frömmigkeit innerhalb und außerhalb des Christentums, innerhalb und außerhalb der Bibel ist die Unbedingtheit der vertrauenden Übergabe des Herzens an das Göttliche. Dies ist allenthalben die Wirklichkeit. Wird es dem Umdichten und Umdeuten gestattet, mit diesem Unbedingten bewußt zu spielen, so ist freilich nichts mehr, dazu man unbedingt J a sagen müßte, leider aber ebenso nichts mehr, dem gegenüber man sich nicht lächerlich machte mit dem Ernst eines Neins. So werden wir Heutigen denn hingezwungen zu der Aufgabe, den das Gemüt bildenden Umgang mit der Bibel auf eine unsrer W a h r haftigkeit gemäße Weise umzugestalten. Es wird eine Schicksalsfrage an den Neuprotestantismus sein, ob er diese Aufgabe so lösen kann, daß die Bibel uns das von Gottes Wegen mit dem Menschenherzen kündende Buch und zugleich das uns das Evangelium aufschließende Buch wirklich bleibt. Viele Einzelfragen, welche der Geschichtswissenschaft und der Literarkritik wichtig sind, brauchen den Frommen an sich nicht zu kümmern, wenn er im Erbauung suchenden Umgang mit der Bibel nach dem letzten verborgenen Sinn des Gelesenen tastet. Was er über solche Fragen weiß oder bequem in E r f a h rung bringen kann, wird ihm o f t eine Hilfe sein, mit seiner nachschaffenden Einbildungskraft und seinem nach Gott suchenden Sinn hindurchzudringen durch die Schale des Erzählten zum Kern. Wesentlich aber ist allein dieser Kern selbst. Er ist die unbedingte Wirklichkeit, an der nichts umgedichtet und umgedeutet werden darf, und zugleich die Wirklichkeit, deren bestimmte Vergegenwärtigung das Ziel der Bemühung ist. Die Frage lautet schlicht: wie ist in dieser Erzählung, von dieser
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