Politik im Rechtsstaat [1. ed.] 9783848758609, 9783845299938


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German Pages 280 [279] Year 2021

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Politik im Rechtsstaat
Teil 1: Politisierung des Rechts
Menschenrechte als Religion. Zum Verhältnis von Recht, Politik und Religion in der gegenwärtigen Gesellschaft
Erkämpfte Rechte, ewige Rechte. Die Menschenrechte zwischen vorpolitischen Begründungen und realpolitischen Dezisionen
Konfliktaustragung und Konfliktbegrenzung. Zum Verhältnis von Demokratie und Recht in agonalen Politiktheorien
„Autonomie“ als Prinzip politischer Rationalität. Eine Blockade unserer politischen Vorstellungskraft?
Teil 2: Verrechtlichung der Politik
Mit anderen sein. Subjektive Rechte und die Sackgassen liberalen Denkens
Temporalität und Kopplung. Zwei neue Elemente in einem alten Diskurs um Verrechtlichung und Entpolitisierung
Teil 3: Historische Erfahrungen
Die Krise der Demokratie. Zum Verhältnis von Recht und Politik in der Weimarer Republik
Die Politisierung des Rechts im Nationalsozialismus
Gegen den ‚eternal enemy‘ des bürgerlichen Rechtsstaats. Otto Kirchheimer und Carl Schmitt nach 1945
Teil 4: Globale Entwicklungen und Konflikte
Die Politisierung des Rechts in Polen. Über den Prozess der Entzivilisierung
Aufstieg und Niedergang verfassungsrechtlicher Normenkontrolle in Ungarn und Polen. Die Einflüsse von Hans Kelsen und Carl Schmitt
Autoritärer Neoliberalismus und Verfassungsgebung in Chile. Überlegungen zum Verhältnis von Diktatur und Rechtsstaat
Das öffentliche Gericht. Das deutsche Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik
Autor:innenverzeichnis
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Politik im Rechtsstaat [1. ed.]
 9783848758609, 9783845299938

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Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Wolfram Pyta, Stuttgart Volker Reinhardt, Fribourg Peter Schröder, London Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau

Staatsverständnisse | Understanding the State herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 156

Christian Schmidt | Benno Zabel [Hrsg.]

Politik im Rechtsstaat

© Titelbild: „Begegnung zum Disput“ von Paul Klee (1930).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-5860-9 (Print) ISBN 978-3-8452-9993-8 (ePDF)

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1. Auflage 2021 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2021. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien früherer und heutiger Staatsden‐ ker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“ immer wieder zurückzukommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den zeitge‐ nössischen Staatstheoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer voneinander zu trennen sind. Auch die Verstrickung Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden. Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen und Philosophinnen, sondern auch an Geistes- und Sozialwissenschaftler bzw. -wissenschaftlerinnen. In den Bei‐ trägen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräf‐ tiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. Auf diese Weise wird der Leser/die Leserin direkt mit dem Problem konfrontiert, den Staat zu verstehen. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Editorial – Understanding the State

Throughout the course of history, our understanding of the state has fundamentally changed time and again. It appears as though we are witnessing a development which will culminate in the dissolution of the territorially defined nation state as we know it, for globalisation is not only leading to changes in the economy and technol‐ ogy, but also, and above all, affects statehood. It is doubtful, however, whether the erosion of borders worldwide will lead to a global state, but what is perhaps of greater interest are the ideas of state theorists, whose models, theories and utopias offer us an insight into how different understandings of the state have emerged and changed, processes which neither began with globalisation, nor will end with it. When researchers concentrate on reappropriating traditional ideas about the state, it is inevitable that they will continuously return to those of Plato and Aristotle, upon which all reflections on the state are based. However, the works published in this series focus on more contemporary ideas about the state, whose spectrum ranges from those of the doyen Niccolò Machiavelli, who embodies the close connection between the theory and practice of the state more than any other thinker, to those of Thomas Hobbes, the creator of Leviathan, those of Karl Marx, who is without doubt the most influential modern state theorist, those of the Weimar state theorists Carl Schmitt, Hans Kelsen and Hermann Heller, and finally to those of contemporary theorists. Not only does the corruption of Marx’s ideas into a Marxist ideology intended to justify a repressive state underline the fact that state theory and practice cannot be permanently regarded as two separate entities, but so does Carl Schmitt’s in‐ volvement in the manipulation conducted by the National Socialists, which today tarnishes his image as the leading state theorist of his era. Therefore, we cannot forego analysing modern state practice. How does all this enable modern political science to develop a contemporary understanding of the state? This series of publications does not only address this question to (political) philosophers, but also, and above all, students of humanities and social sciences. The works it contains therefore acquaint the reader with the general debate, on the one hand, and present their research findings clearly and informatively, not to mention incisively and bluntly, on the other. In this way, the reader is ushered directly into the problem of understanding the state. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Inhaltsverzeichnis

Christian Schmidt, Benno Zabel Politik im Rechtsstaat

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Teil 1: Politisierung des Rechts Ino Augsberg Menschenrechte als Religion. Zum Verhältnis von Recht, Politik und Religion in der gegenwärtigen Gesellschaft

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Arnd Pollmann Erkämpfte Rechte, ewige Rechte. Die Menschenrechte zwischen vorpolitischen Begründungen und realpolitischen Dezisionen

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Grit Straßenberger Konfliktaustragung und Konfliktbegrenzung. Zum Verhältnis von Demokratie und Recht in agonalen Politiktheorien

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Frieder Vogelmann „Autonomie“ als Prinzip politischer Rationalität. Eine Blockade unserer politischen Vorstellungskraft?

61

Teil 2: Verrechtlichung der Politik Sabine Hark Mit anderen sein. Subjektive Rechte und die Sackgassen liberalen Denkens Oliver W. Lembcke Temporalität und Kopplung. Zwei neue Elemente in einem alten Diskurs um Verrechtlichung und Entpolitisierung

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101

7

Teil 3: Historische Erfahrungen Jens Hacke Die Krise der Demokratie. Zum Verhältnis von Recht und Politik in der Weimarer Republik

119

Herlinde Pauer-Studer Die Politisierung des Rechts im Nationalsozialismus

139

Hubertus Buchstein Gegen den ‚eternal enemy‘ des bürgerlichen Rechtsstaats. Otto Kirchheimer und Carl Schmitt nach 1945

155

Teil 4: Globale Entwicklungen und Konflikte Marta Bucholc Die Politisierung des Rechts in Polen. Über den Prozess der Entzivilisierung

195

Gábor Halmai Aufstieg und Niedergang verfassungsrechtlicher Normenkontrolle in Ungarn und Polen. Die Einflüsse von Hans Kelsen und Carl Schmitt

217

Marina Martinez Mateo Autoritärer Neoliberalismus und Verfassungsgebung in Chile. Überlegungen zum Verhältnis von Diktatur und Rechtsstaat

239

Tim Wihl Das öffentliche Gericht. Das deutsche Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik

261

Autor:innenverzeichnis

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Christian Schmidt, Benno Zabel Politik im Rechtsstaat

Die Rede von Politik im Rechtsstaat klingt wenig spektakulär. Politik gibt es im Rechtsstaat scheinbar ganz selbstverständlich. Aber das scheinbar Unspektakuläre und Selbstverständliche entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein hoch dynami‐ sches Feld von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, von Erwartungen und Interessen, von Macht- und Herrschaftsbeziehungen. Politik und Rechtsstaat sind, wie wir spätestens seit Hobbes wissen, Menschenwerk, Ausdruck von Institutionen, Praktiken und kollektiven Wissensformen, aber auch eingebettet in die lebenswelt‐ lichen Erfahrungen konkreter Epochen. Dieses dynamische Feld droht aber aus dem Blick zu geraten, wenn Politik und Rechtsstaat nur als bestehende und – so die liberale Rechtsidee – als neutrale Freiheitsgaranten aufgefasst werden, die sich wechselseitig legitimieren. Eine disziplinär vielschichtige Perspektive, wie wir sie hier vorlegen, kann hingegen dafür sensibilisieren, dass wir die Freiheit und die Freiheitskrisen der Moderne nur verstehen, wenn wir zugleich die Kräfte, die Wechselwirkungen und Konflikte näher betrachten, die Politik und Rechtsstaat selbst hervorbringen. Dazu gehört auch, dass wir uns die diversen Funktionen und die soziale Bedeutung, die Ziele und Zwecke vor Augen führen, die mit den Techniken der Politisierung und Verrechtlichung einhergehen. Nun ist die Auseinandersetzung mit Politisierungsund Verrechtlichungstendenzen – und mit den sich darum rankenden Ideologien – keineswegs neu.1 Die Gegenwart zeigt jedoch in markanter Weise, wie wichtig es ist, dass die Dynamiken zwischen Recht und Politik und die fluiden Machtund Herrschaftsbeziehungen, die in ihnen zum Ausdruck kommen, immer wieder aufs Neue zur Sprache gebracht und an Standards freier Gesellschaften gemessen werden. So zeigen etwa die jüngsten Kontroversen um die Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen und Ungarn, aber auch die parteipolitischen Debatten im Zuge der Neubeset‐ zungen am Supreme Court der USA oder am deutschen Bundesverfassungsgericht paradigmatisch, wie und von wem Recht gesprochen wird, ist eine politisch höchst brisante Angelegenheit (das lässt sich bis hinein in die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung beobachten und ist im Umgang mit der Covid-19-Krise nur beson‐ deres deutlich hervorgetreten). Aber nicht nur im Rahmen der Rechtspflege, sondern 1 Dazu nur die inzwischen schon klassische Kolonisierungsthese bei Habermas 1981, 366; für die rechtstheoretischen Debatte Wiethölter 1989, 794–812.

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bereits im Umgang der Legislative mit Verfassungsänderungen werden die Spannun‐ gen zwischen politischen und rechtlichen Interessen erkennbar. Verfassungsänderungen können Freiheit ermöglichen. Sie können sie allerdings auch massiv beschränken. Besonders die Entwicklungen in Ungarn liefern dafür anschauliche Beispiele. Das Recht ist nicht einfach das Andere der Politik, es ist vielmehr Ausdruck und zugleich verstrickt in das kollektive Bewusstsein seiner Zeit. Während jedoch einerseits beklagt wird, dass die Parteienkämpfe den Rechts‐ staat und seine Institutionen in Gefahr bringen, indem sie die Rechts- und Verfas‐ sungskultur übermäßig politisieren, werden andererseits – etwa auf dem Feld der Gleichstellungs- und völkerrechtlichen Wiedergutmachungspolitik – die Berufung auf (kollektive) Rechte, Klagen vor nationalen oder internationalen Gerichten zur Durchsetzung von Menschenrechten und das rechtliche Geltend-Machen von An‐ sprüchen nach kolonialem Unrecht oder ähnlichem als ausgesprochen wirksame Mittel angesehen, um gesellschaftspolitischen Ziele auch gegen bestehende Mehr‐ heits- und Machtverhältnisse durchzusetzen. Schlägt die Politik den Rechtsweg ein, ist das allerdings auch mit Konsequenzen für sie selbst verbunden. Sie muss die Sprache der Rechte und Gesetze sprechen und ihre Forderungen in den rechtlich vorgegebenen Rahmen einpassen, statt die Fragen nach pluralen Lebensformen und gesellschaftlichem Zusammenleben viel offener und vielleicht auch radikaler debattieren zu können. So gesehen scheint am Enden gegen den ersten Augenschein gar nicht die Politik das Recht, sondern das Recht die Politik zu übernehmen. Diese gegenläufigen Hegemonie-Szenarien sind Teil eines globalen Gesell‐ schaftsprojekts, das plurale Lebensformen unter Verarbeitung vielfältiger Kontin‐ genzerfahrungen und Erwartungen gestaltet. Das Kontingenzbewusstsein der Mo‐ derne verweist darauf, dass gesellschaftliches Zusammenleben nicht als etwas be‐ griffen werden kann, das einfach gegeben ist oder nur mit Hilfe von Mythen, überzeitlichen Narrativen oder traditionellen Werten Bestand hat. Gesellschaftliches Zusammenleben wird durch ein Netzwerk von Akteuren und Institutionen, von Handlungsmotivationen, informellen Praktiken und Verfahren überhaupt erst ermög‐ licht. Dieses Zusammenspiel macht es aber auch veränderbar, was – entgegen eini‐ ger liberaler Mythen – Revolutionen selbstverständlich einschließt. Allerdings führt das dynamische Feld politischer und rechtlicher Aushandlungs‐ prozesse auch dazu, dass die Gestaltung von Gesellschaften und Lebensformen un‐ terschiedliche, ja sogar gegensätzliche Richtungen einschlagen kann. So können die Aushandlungs- und Transformationsprozesse emanzipatorische oder eher autoritäre Züge tragen und damit entweder progressive oder regressive Entwicklungen beför‐ dern. Ideen der Pluralität, der Teilhabe oder der Inklusion stehen Vorstellungen einer homogenen Gesellschaft, einer essentialistischen Identitätspolitik und somit auch

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neuen Formen von Diskriminierung und Exklusion gegenüber. Mitunter verflechten sich beide auch auf die eine oder andere Weise. Das bildet sich auch im Umgang mit der Rechtsstaats- und vor allem Demokra‐ tiesemantik ab. Zwar waren Rechtsstaats- und Demokratiekonzepte zu keiner Zeit unbestritten, man denke nur an die heftige Kontroverse zwischen Hans Kelsen und Carl Schmitt. Dennoch nehmen die Krisendiagnosen in der aktuellen Debatte ein alarmierendes Ausmaß an. Das betrifft die immer lauter werdenden Zweifel an der freiheitssichernden Garantie der rule of law, soweit Gesetze und ihre Beachtung im Kampf um parteipolitischen Einfluss nur als Verfügungsmasse reaktionärer Ideo‐ logien dienen. In dem Maße jedoch, in dem die rule of law partikularen Herrschafts‐ interessen unterworfen wird, verliert sie für das Freiheitsversprechen der Moderne jeden Wert. Die Berufung auf den liberalen und/oder demokratischen Rechtsstaat wird dann zur hohlen Phrase. Niemand hat das womöglich klarer gesehen als Franz Neumann.2 Noch radikaler sind die Bestandaufnahmen in Sachen Demokratie. Ne‐ ben den bekannten Krisennarrativen3 ist nun auch vom Verschwinden, vom Tod der Demokratie4 oder in geradezu paradoxer Wendung von der „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“ der Rede.5 Galt der Aufstieg der liberalen Demokratie im globalen oder regionalen Maßstab als Zeichen für eine mehr oder weniger gelungene Verbindung rechtlicher und poli‐ tischer Rahmenbedingungen, so gibt es heute keine Einigkeit mehr darüber, wofür Demokratie steht und ob beziehungsweise mit welchen Mitteln sie verwirklicht oder erhalten werden soll. Dieser grundlegende Dissens auf lebensweltlicher und gesellschaftlicher Ebene findet seine Entsprechung in den kaum noch zu überschau‐ enden Theorieangeboten, ob populistischer, agonaler, liberaler oder diskursethischer Herkunft. Rule of law und Demokratie erscheinen so eher als Teil des Problems – wie zeitgemäße Lebensformen „eigentlich“ aussehen müssten und wie eine moderne Herrschaftslegitimation überhaupt noch gelingen kann –, denn als Teil der Lösung. Die anhaltenden Auseinandersetzungen um Politik im Rechtsstaat und damit auch um die demokratischen Prozeduren und Institutionen insgesamt, markieren – wie man sehen kann – einen gesteigerten Reflexionsbedarf. Das bezieht sich zum einen auf die skizzierten Kraftfelder, das heißt auf die Dynamiken, in die Recht und Politik verstrickt sind oder verstrickt werden. Es bezieht sich aber auch auf die Sprache, die Genealogien und die Begriffe mit deren Hilfe die Politisierungsund Verrechtlichungsprozesse rekonstruiert und beurteilt werden. Wir können den aktuellen Strukturwandel nur dann in seiner Tiefe verstehen, wenn gleichzeitig sicht‐ bar gemacht wird, wie in den diversen Aushandlungsprozessen und Kämpfen die 2 3 4 5

Neumann 1980. Crouch 2000 und Merkel 2015. Dreier 2018, 29-81; Levitsky/Ziblatt 2019. Manow 2020.

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Sphären von Recht und Politik immer wieder neu konfiguriert und beständig auf ihre soziale Wirksamkeit hin erprobt werden. Die Konzeption und die Beiträge des Bandes verfolgen einen zeitdiagnostischen und zugleich interdisziplinären Anspruch. Dementsprechend differenziert sich der Band in vier Perspektiven aus, die das Thema überspannen und miteinander in Beziehung stehend. Den Anfang macht die gegenwärtige Debatte zur Politisierung des Rechts (vgl. die Beiträge von Grit Straßenberger, Arnd Pollmann, Frieder Vogel‐ mann und Ino Augsberg) die im Anschluss mit Beiträgen zur Verrechtlichung der Politik kontrastiert wird (dazu die Texte von Sabine Hark und Oliver Lembcke). Ergänzt werden diese Sondierungen durch eine dritte Perspektive. Sie wendet sich den historischen Erfahrungen zu, die sich mit verschiedenen Politisierungs- und Verrechtlichungsideologien verknüpfen (dem widmen sich die Beiträge von Huber‐ tus Buchstein, Jens Hacke und Herlinde Pauer-Studer). Verständlich wird die gegen‐ wärtige Kontroverse allerdings nur, wenn auch ein Blick auf aktuelle Konflikte und länderspezifische Entwicklungen geworfen wird. Darauf wird sich der letzte Abschnitt des Bandes konzentrieren (mit Beiträgen von Marta Bucholc, Gabor Hal‐ mai, Marina Martinez Mateo und Tim Wihl). Auch wenn die gegenwärtige Diskussion um Politik im Rechtsstaat – und um den Rechtsstaat der Politik – nicht vollständig abgebildet werden kann,6 so hoffen die Herausgeber dennoch, dass die Beiträge verdeutlichen, wie wichtig es für das Verständnis freier Gesellschaften ist, die Gründe, Ziele und Ideologien namhaft zu machen, die den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, den fluiden Macht- und Herrschaftsbeziehungen und den damit einhergehenden Freiheitskrisen zugrunde liegen. Den Autorinnen und Autoren sei für ihre Mitarbeit ausdrücklich gedankt. Bonn/Berlin, im Juli 2021

Bibliographie Crouch, Crouch, 2000: Postdemokratie, Frankfurt am Main. Dreier, Horst, 2018: Vom Schwinden der Demokratie, in: Friedrich Wilhelm Graf/Heinrich Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, München, S. 29-81. Habermas, Jürgen, 1981: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt am Main. Levitsky, Steven/Ziblatt, Daniel, 2019: Wie Demokratien sterben, München. Loick, Daniel, 2017: Juridismus, Berlin. 6 Für die Marxrezeption und die marxistische Rechtskritik siehe etwa Menke 2015; Loick 2017 sowie die Debatte bei Mattutat 2020.

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Manow, Philip, 2020: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Ein Essay, Berlin. Mattutat, Liza u. a. (Hrsg.), 2020: Whatʼs legit? Critiques of Law and Strategies of Rights, Zürich. Menke, Christoph, 2015: Kritik der Rechte, Berlin. Merkel, Wolfgang (Hrsg.), 2015: Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden. Neumann, Franz, 1980: Die Herrschaft des Gesetzes, Frankfurt am Main. Wiethölter, Rudolf, 1989: Ist unserem Recht der Prozeß zu machen?, in: Axel Honneth u.a. (Hrsg.), Zwischenbeobachtungen: Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main, S. 794–812.

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Teil 1: Politisierung des Rechts

Ino Augsberg Menschenrechte als Religion. Zum Verhältnis von Recht, Politik und Religion in der gegenwärtigen Gesellschaft

1. Politik, Recht und die Leerstelle des Religiösen Zu Beginn seines Werks über „Das politische Begehren Gottes“ konstatiert Pierre Legendre eine bestimmte aus seiner Sicht notwendige Struktur, die alle Formen normativ grundierten Handelns bestimmen soll. Legendre zufolge tritt die Unver‐ meidlichkeit dieser Struktur und der ihr eigenen Logik gerade im und durch den Prozess der sogenannten Säkularisierung hervor. Denn bei genauerer Betrachtung zeige sich, dass auch in diesem Säkularisierungsprozess jene Struktur nicht aufgeho‐ ben im Sinne von: beseitigt wurde. Sie wurde vielmehr lediglich verschoben, blieb eben damit aber, wenngleich in stärker impliziter Form, weiterhin relevant. „Nachdem der das Abendland kennzeichnende schöpferische und kriegerische Gott ent‐ lassen wurde, ermöglicht die institutionelle Laizisierung die Erkenntnis, dass es sich bei dem leer gewordenen Platz in Wahrheit um einen strukturellen Platz handelt, in den sich ihrerseits zwangsläufig die liberale bzw. gar libertäre Hermeneutik einschreiben wird, die ohnmächtig ist, die Logik zu widerrufen, die die Entstehung der Kulturen wie auch die Entstehung des Subjekts lenkt. So bezeugen es im Übrigen die totalitären Erfahrungen: Die größte Herausforderung der Macht besteht darin, sich des dritten Orts zu bemäch‐ tigen und sich diesen als Ort für das Einschreiben der legitimierenden Fiktionen, der Gründungsszenarien, zu sichern.“1

Wenn diese Beobachtung zutreffen sollte, dann müssten auch in den liberalen Rechts- und Staatsordnungen Surrogate fortexistieren, die es unternehmen, jenen strukturellen Platz zu besetzen, den früher die Religion innehatte und dessen sich dann die totalitären Herrschaftsformen zu bemächtigen suchten. Das prekäre Ver‐ hältnis von Recht und Politik wäre (oder: bliebe) demnach erst dann zureichend bestimmbar, wenn man zugleich einen dritten Referenzpunkt mit einbezieht: die Re‐ ligion. Statt die Verknüpfung zwischen den drei Bereichen vorwiegend dadurch zu begründen, dass im modernen Staat die Regelung (auch inner-)religiöser Konflikte nicht nur mit Hilfe des Rechts vollzogen, sondern zudem durch das Verfassungsrecht entscheidend gerahmt und vorstrukturiert wird, also das Recht als Verbindungsglied 1 Legendre 2012, S. 28.

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zwischen Religion und Politik zu beschreiben,2 formiert in dieser Sicht die Religion das Zentrum, das Recht und Politik miteinander verknüpft. Recht und Politik zeigen sich danach beide – weniger trotz als vielmehr aufgrund der Säkularisierung – als immer noch in vielfältiger Weise religiös geprägt. In diesem Verständnishorizont meint Säkularisierung somit nicht bloß, dass die Religion aus der modernen Gesellschaft zunehmend verschwindet. Als ein für das Individuum sinnstiftendes Glaubenssystem bleibt sie vielmehr bestehen, bisweilen sogar mit gesteigerten Relevanzansprüchen. Säkularisierung meint aber auch nicht, umgekehrt, dass die Religion unter lediglich leicht veränderten Vorzeichen, allen‐ falls oberflächlich verdeckt, einfach fortexistiert. Säkularisierung bezeichnet viel‐ mehr beides zugleich: eine Verabschiedung von der Religion als einer unmittelbar gesellschaftsprägenden Kraft,3 die aber begleitet wird von dem Bewusstsein, dass die soziale Funktion der Religion, ihr Angebot einer Antwort auf eine bestimmte, offenbar weiterhin relevante Frage, nicht mit der traditionellen Rolle der Religion verschwindet, aber sich auch nicht in eine nur noch innerlich-private Religiosität zurückzieht, sondern in anderer Gestalt wiederkehrt.4 „Sortie de la religion“, heißt es in diesem Sinn prägnant bei Marcel Gauchet, „ne signifie pas sortie de la croyance religieuse, mais sortie d’un monde où la religion est structurante, où elle commande la forme politique des sociétés et où elle définit l’économie du lien social.“5 Die sich daran anschließende Frage muss dann lauten, in welcher Gestalt, mit welcher Funktion, in welchen Formen der gesellschaftlichen Verknüpfungen, der religiöse Glaube fortexistiert.

2. Religiöse Begründungen des Rechts Auf das Recht bezogen besagt ein entsprechend bestimmtes Verständnis des Säkula‐ risierungstopos zunächst, dass eine unmittelbare religiöse Fundierung des Rechts, wie sie noch in den Anfangsjahren der jungen Bundesrepublik in Form einer Renais‐ sance christlicher Naturrechtsideen bisweilen versucht wurde, kaum noch relevant erscheint. Die unmittelbare Anrufung einer transzendenten Instanz zur Bewältigung der eigenen Begründungsproblematik ist, gemäß der skizzierten ersten Bedeutung von Säkularisierung, nicht mehr plausibel. Das heißt aber nicht, dass – eben darauf deutet die zweite Bedeutung der Säkularisierung – in dem säkularen Recht nicht selbst ein bestimmtes Bedürfnis fortexistiert, das nur in quasi-theologischen Begrifflichkeiten adäquat beschrieben 2 Vgl. Anter/Frick 2019, S. 3 f. 3 Vgl. etwa Casanova 1994, S. 7, der entsprechend die Differenzierung zwischen der religiösen und den weltlichen Sphären als den „defensible core of the theory of secularization“ bezeichnet. 4 Vgl. Weidner 2017, S. 94; zum Problem allg. Weidner 2014. 5 Gauchet 1998, S. 13.

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werden kann. Die Dogmatizität des Rechts erscheint in dieser Perspektive auch als Versuch einer Selbstbegründung, die in dem Maße, in dem sie sich nicht einfach, wie in der Tradition zumeist, auf Vergangenheit qua bereits Vorentschiedenes als primäre Legitimationsressource zurückziehen kann, sondern in dem sie sich auch auf eine notorisch unsichere Zukunft hin entwerfen muss, auf ein strukturell religiöses Manöver angewiesen ist. Erforderlich ist danach eine Art kreditäre Struktur, in der das sich auf sich selbst stellende Recht sich zunächst einen spezifischen Kredit gewährt, nämlich sich zugesteht, überhaupt zu funktionieren, um dann im Verlauf des Prozesses den dergestalt eingeräumten, ex ante immer erst noch ungedeckten Vertrauensvorschuss einlösen zu können. Die Autopoiesis des Rechts bedarf dem‐ nach, sit venia verbo, einer Autopistis,6 die den selbstreferenziellen Operationen und damit schärfer gefasst dem autos des Rechts überhaupt noch vorausliegt.7 In der so bezeichneten Bewegung geht es nicht um eine Externalisierung der Begründungsproblematik des Rechts, das eine transzendente Sphäre als Übertra‐ gungsadressat für jenes Problem imaginiert und auf diese Weise einen potenziellen Störenfried für den reibungslosen Ablauf der eigenen Verfahren aus dem Binnenbe‐ reich der juristischen Problembearbeitungen entfernt. Es geht vielmehr gerade um‐ gekehrt um die Internalisierung einer religiösen Figur, die als solche erhalten, aber zugleich nicht länger einer rechtsexternen Sphäre zugeschrieben, sondern innerhalb des Rechts auf dieses selbst appliziert wird. Die Wendung von der „religiösen Begründung des Rechts“ ließe sich demgemäß als eine Kippfigur lesen, die von einem für das traditionelle Verständnis vorherr‐ schenden Genitivus obiectivius in einen Genitivius subiectivus umschlägt – wenn nicht die Figur des selbstermächtigten Subjekts durch eben diese Figur ihrerseits unterminiert würde. Als Glaube an sich selbst liegt die Autopistis der Autopoiesis auf eine buchstäblich abgründige Weise zugrunde. Denn sie bezeichnet eine ebenso unbedingte wie unbegründete und unbegründbare Form der Selbstvergewisserung: Wie der religiöse Glaube im strengen Sinn ist sie Glaube nicht dort, wo sie Beweise für das Geglaubte vorlegen kann, sondern dort, wo sich die pistis als Glaube auf nichts außer sich selbst stellt, also dort, wo sie ein bloßer Glaube zu glauben ist, das heißt ein Glaube, der aus eben diesem Grund zugleich auf unauflösliche Weise mit dem Unglauben verknüpft bleiben muss: nichts als Glauben und zugleich Nichts als Glauben.8

6 Vgl. zu diesem Begriff in seinem ursprünglichen theologischen (v.a. calvinistischen) Kontext (in dem er sich vor allem auf eine Selbst-Authentifizierung der Schriftauslegung bezieht) näher et‐ wa van ’t Spijker 2009, S. 134. 7 Vgl. zu diesem Konzept aus rechtstheoretischer Sicht näher bereits Augsberg 2017; Augsberg 2019; Ladeur 2016, S. 187. 8 Vgl. zum Verhältnis von Glauben und Recht instruktiv Hamacher 2018b, S. 214 ff. Allg. zur Fi‐ gur des „Glaubens des Glaubens“ (credere di credere) ferner Vattimo 1997.

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Eine derartige Anwendung des religiösen Verfahrens innerhalb des juristischen Feldes ist keine neue Idee. Sie taucht auch nicht nur, in geringfügig variierter, aber leicht erkennbarer Gestalt, bei den notorischen Theoretikern einer „politischen Theologie“ im engeren Sinn auf, bei denen sich die Problematik meist auf die Figur der Souveränität konzentriert.9 Sie findet sich vielmehr bei ganz unterschiedlichen Autoren zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Kontexten. Gerade da‐ durch deutet sie auf einen bestimmten Zwang in der Sache, der die Über- als Eintra‐ gung der religiösen Struktur in die Herzkammer des juristischen Geschehens offen‐ bar immer wieder unvermeidbar erscheinen lässt. Die auffällige religiöse Semantik, die für die Beschreibung der rechtlichen Operationen eingesetzt wird, ist in dieser Sicht nicht als bloße Metaphorik in dem Sinn zu verstehen, dass damit nur faute de mieux eine fremde Terminologie verwendet wird, solange noch keine adäquatere eigene Ausdruckweise zur Verfügung steht, wirkliche Überschneidungen zwischen den angesprochenen Phänomenen jedoch nicht gemeint sind. Die Verwendung der religiösen Begrifflichkeit beruht vielmehr offenkundig auf dieser Überschneidung in der Sache. Drei Beispiele können das verdeutlichen. Eine erste derartige Position findet sich, knapp und schon im Duktus bemerkenswert dogmatisch, weitgehend ohne nä‐ here Erläuterung, in Eugen Ehrlichs 1918 erschienenem Werk über die „Juristische Logik“. Dieses Werk hatte, anders als der Titel anzudeuten scheint, gerade die Aufgabe, zu erläutern, warum das juristische Verfahren nicht rein logisch sein kann. Dennoch muss verblüffen, dass die Insuffizienz des logischen Vorgehens mit einer als notwendig statuierten Ergänzung aus dem theologischen Bereich erläutert wird. Ehrlich schreibt: „Eine Jurisprudenz, an die wir nicht glauben, ist unmöglich.“10 Diese Inbezugnahme einer entsprechenden Existenzbedingung des Rechts ist bei Ehrlich allerdings noch vorwiegend negativ gemeint; seine Aussage wendet sich kri‐ tisch gegen die traditionelle Jurisprudenz und ihren aus Ehrlichs Sicht bloßen Glau‐ ben an die Logik. Der Satz erlaubt über diesen ursprünglichen Verwendungskontext hinausgehend aber auch eine andere, positivere Lesart. Nicht nur das Recht, sondern sogar die Rechtswissenschaft ist danach auf eine Bewegung der Selbsttranszendenz verwiesen, in der das Recht (und sukzessive seine Wissenschaft) sich selbst das absolut bodenlose Versprechen gibt, auf sich selbst vertrauen zu können. Der letz‐ te Grund, von dem die Existenz sowohl des Rechts wie der Rechtswissenschaft abhängt, kann demnach als solcher kein Gegenstand theoretischer wissenschaftlicher Erkenntnis sein. Er kann weder erkannt noch erfasst, sondern nur in einem spezifi‐ schen Sinn angenommen werden.

Vgl. entsprechend deutlich schon im Untertitel seiner berühmt-berüchtigten Studie Schmitt 1996. 10 Ehrlich 1918, S. 301. 9

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Genau in diesem Sinne nimmt Hermann Kantorowicz die Problematik auf. In seinem letzten, erst posthum publizierten Werk „The Definition of Law“ beschäftigt sich Kantorowicz, dem eigenen Thema entsprechend, primär mit der Möglichkeit einer Letztbegründung des Rechts. Er transzendiert mit seiner Antwort auf das zugrundeliegende Problem jedoch zugleich diesen engeren Rahmen und deutet auf eine allgemeine, strukturelle Schwierigkeit, die für alle anderen Gesellschaftsberei‐ che in vergleichbarer Form beschrieben werden könnte. Mit Bezug auf das Unter‐ fangen, die rechtlichen Regeln als objektiv geltend ausweisen zu können, heißt es: „This presupposes a basic and absolute rule on which the validity of all the other rules depends and which therefore can no more be questioned, lest every rule should break down, but must needs be accepted dogmatically as an act of faith. […] It is here that the inescapable religious implications of every social system become dimly visible.”11

Selbst die Theorie der Autopoiesis erkennt schließlich, zumindest an ihren Rändern, eine bestimmte Funktion der Religion an, die sich offenbar der funktionalen Diffe‐ renzierung entzieht und sogar in dem scheinbar radikalen Gegner der religiösen Tradition, der modernen Wissenschaft, ihre Spuren hinterlässt. Im Kontext seiner Erörterung der Problematik, wie innerhalb des Wissenschaftssystems „Kontingenz‐ formeln“ entwickelt und gebraucht werden, verweist Niklas Luhmann auf einen Umstand, der zu der im Übrigen stets gepflegten sauberen Abgrenzungslogik nur schwer zu passen scheint. Mit jenen Formeln bezeichnet Luhmann die Weise, wie innerhalb eines Systems „Kontingenz zugelassen, aber in der Form von Beliebigkeit ausgeschlossen wird.“12 Genauer besagt das: „Zugespitzt ausgedrückt, wird also Kontingenz so formuliert, daß das Gegenteil dabei herauskommt. Das Kontingente wird in seiner Möglichkeit, anders zu sein, limitiert, wird zumindest partiell nezes‐ sifiziert.“13 Die so bestimmte Aufgabe des Umgangs mit den Kontingenzformeln deutet damit auf einen Prozess, der in letzter Instanz in einem anderen Gesellschafts‐ bereich beheimatet ist. „In all diesen Fällen“, so heißt es in der „Wissenschaft der Gesellschaft“, „geht es um eine Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität und damit um eine Funktion, die letztlich in den Funktionsbereich der Religion fällt.“14 Innerhalb des einen Systems geschieht demzufolge etwas, was eigentlich in einem anderen System geschieht – und gemäß der Logik der funktionalen Differenzierung auch nur innerhalb jenes Systems geschehen sollte. Beiläufig, fast unter der Hand, entzieht sich auf diese Weise die Theorie eines ihrer grundlegendsten Theoreme.

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Kantorowicz 1958, S. 24 f. Luhmann 2017, S. 1008. Luhmann 2017, S. 579. Luhmann 1990, S. 397.

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3. Recht als Religion Der Bezug des Rechts zur Religion lässt sich jedoch noch in einer anderen Hinsicht näher beschreiben. Danach nimmt das Recht nicht eine bestimmte religiöse Struktur in sich selbst und die eigenen Begründungsversuche hinein, verweist sich selbst also auf die Unumgänglichkeit der Religion als Funktion. In einer spiegelbildlichen Be‐ wegung übernimmt es vielmehr im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft jene Funktion, die früher von der Religion ausgefüllt wurde. Auch hier ist zunächst der semantische Befund auffällig, der nicht erst in jüngerer Zeit, sondern schon in ihren Anfängen im Kontext der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika dem Recht in der hervorgehobenen Gestalt der Verfassung einen quasi-sakralen Charakter und eine entsprechende Verehrung zukommen lässt. Auch die aufgeklärten Revolutionäre des 18. Jahrhunderts konnten demnach eine spezifische religiöse Fundierung ihres politischen Projekts nicht ent‐ behren, obwohl sie zugleich auf einer institutionellen Ebene die Entkopplung von Religion, Recht und Politik entscheidend vorantrieben.15 Eine entsprechende Sakralisierung der Verfassung ist auch für den deutschen Kontext wiederholt diskutiert und kritisiert worden.16 Was zunächst aus einer eher skeptischen Perspektive noch lediglich als Frage aufgeworfen wurde – ob nämlich der „Glaube an die Menschenrechte“ die „Religion der Moderne“ bilde17 –, wird in jüngerer Zeit auch offen positiv vertreten. Ein entsprechend affirmativer Rekurs auf die religiöse Semantik erfolgt insbesondere dort, wo sich der Verfassungsdiskurs noch nicht durchgesetzt hat, aber, nach dem Willen der Protagonisten jener Debat‐ ten, nunmehr durchsetzen soll. In einem eigentümlichen religiösen Stilmix bezeich‐ nen die Vertreter eines „Global Constitutionalism“ die sie verbindende gemeinsame Grundüberzeugung als eine eigentümliche Dreifaltigkeitslehre. Das dreifache “com‐ mitment to human rights, democracy and the rule of law” bildet demnach das „trinitarian mantra of the constitutionalist faith“18. In dieser Perspektive wird das Recht nicht mehr durch Religion als ein rechts‐ externes Phänomen begründet. Das Recht fungiert vielmehr selbst als Religion, das heißt, es übernimmt zunehmend die Aufgabe, die früher der Religion zukam. Es dient, so ließe sich mit einer berühmten entsprechenden, allerdings auf ein anderes gesellschaftliches Phänomen bezogenen Beobachtung formulieren, „der Be‐ friedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten

15 16 17 18

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Vgl. dazu ausführlich Arendt 1963, S. 239 ff. Vgl. etwa als instruktiven Überblick zur Debatte Dreier 2013, S. 8 ff.; Frick 2019. Vgl. Joas 2004, S. 151 ff. Kumm et al. 2014, S. 3. Vgl. näher dazu bereits Frick 2019.

Religionen Antwort gaben.“19 Anders als in Benjamins Konzeption handelt es sich aber nicht um „eine Religion aus bloßem Kult, ohne Dogma“20. Gerade der dogma‐ tische Charakter ist vielmehr zentral. Durch ihn soll das Recht jene verlässliche, unerschütterliche Gewährleistung bieten, für die die anderen Gesellschaftsbereiche nicht mehr stabil genug erscheinen. Das als Religion verstandene Recht erfüllt die Funktion eines Unverfügbarkeitstopos, der als solcher vor allem dem politischen Zugriff entzogen sein soll, indem er, mit der Luhmann’schen Terminologie gespro‐ chen, die mit dem positivistischen Verständnis verbundene Kontingenz des Rechts in ihr Gegenteil verkehrt, also das Recht – oder genauer: bestimmte Teile davon – nezessifiziert.21 Zu fragen bleibt damit, was diese Übertragung der religiösen Funktion in das Feld des Rechts für die Politik auf der einen und das Recht selbst auf der anderen Seite bedeutet. Wie verändert sich der eine und der andere Gesellschaftsbereich, und was bedeutet die Inbezugnahme der Religion für das Verhältnis von Recht und Politik?

4. Folgen für die Politik Die die Politik betreffende Konsequenz dieser Konstruktion ist offenbar eine negati‐ ve. Wenn das Recht als Religion im Sinne einer absoluten Unverfügbarkeit – und das heißt zugleich: als selbst begründungsunfähige, aber auch begründungsunbedürf‐ tige, da absolute Wahrheit und Richtigkeit – verstanden wird, die nur dogmatisch an‐ genommen, also geglaubt werden kann, bleibt für eine eigenständige Politik im Sin‐ ne einer unabhängigen Legitimation allgemein verbindlicher, gemeinwohnrelevanter Entscheidungsfindung kaum noch Raum.22 In dem Maße, in dem Menschenrechte als Religion erscheinen, sind sie selbst und sukzessive immer weitere Felder des Sozialen, die von ihnen bestimmt sein sollen, dem politischen Zugriff entzogen. Das bedeutet natürlich nicht, dass nicht auch dieser Entzug selbst eine politische Funktion hat. Im Gegenteil: Mit der „Sakralisierung“ bestimmter rechtlicher Inhalte, die insbesondere „die“ Menschenrechte – und das heißt immer: bestimmte Rech‐ te, in einer bestimmten Lesart – nicht etwa positivistisch als Ergebnis politischer Kompromissbildung begreifen, sondern als unmittelbare Emanationen einer höhe‐ 19 Benjamin 1985, S. 100. Vgl. näher dazu die Beiträge in Baecker 2003. Zu einem weiteren An‐ schluss an Benjamin, als Diskussion der Wissenschaft oder genauer: der „Medizin als Religi‐ on“, jetzt Agamben 2020. 20 Benjamin 1985, S. 102. 21 Vgl. ähnlich Frick 2019, S. 95 ff., die für diese Funktion aber den Terminus „Sakralisierung“ bevorzugt, weil deren maßgebliche Eigenart – eben die Funktion als Unverfügbarkeitstopos – zwar vorwiegend aus der Religion bekannt sei, aber auch unabhängig von dieser funktioniere. Zu dem insoweit entgegengesetzten Versuch, einen derartigen Unverfügbarkeitstopos auch rein funktional, ohne Berufung auf das religiöse Register, zu begründen, Ladeur/Augsberg 2008. 22 Vgl. Frick 2019, S. 103 ff.

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ren Wahrheit und Richtigkeit, werden inhaltliche Entscheidungen, die unmittelbare politische Konsequenzen nach sich ziehen, als unhintergehbar bestimmt. Aber die politische Relevanz ist in dieser Sichtweise nur die beobachtbare Folge, nicht die Prämisse der entsprechenden Entscheidungen. Aus dieser Perspektive einer erforderlichen genaueren Berücksichtigung des po‐ litischen Handelns und seiner zu bewahrenden Eigenständigkeit wird deutlich, wes‐ halb die auf den ersten Blick so begrüßenswert erscheinende herausragende Rolle der Menschenrechte auch auf eine andere, kritischere Weise beurteilt werden kann. Namentlich Hannah Arendts wiederholt artikulierte gewisse Skepsis gegenüber den Menschenrechten ist entsprechend zu verstehen. Statt diese Skepsis dadurch zu relativieren, wenn nicht gar weitgehend aus der Diskussion zu verbannen, dass die Aufmerksamkeit vollständig auf ihr berühmtes „right to have rights“ gerichtet und dieses Recht zugleich als ein quasi-transzendentales Metarecht fehlinterpretiert wird,23 müsste eine genauere Analyse darauf insistieren, dass Arendt in der Über‐ schrift des einschlägigen Kapitels in den „Elementen und Ursprüngen totalitärer Herrschaft“ nicht zufällig von den „Aporien der Menschenrechte“ spricht.24 Für Arendt bildete demnach eine immer vollständigere Verrechtlichung der Gesellschaft, der zufolge der Einzelne nicht primär als politisch handelndes Subjekt, sondern vor‐ rangig als Rechtsinhaber in Erscheinung tritt, ein strukturelles Problem, das durch eine weitere Vermehrung und Verabsolutierung des Rechts gerade nicht beseitigt, sondern nur verstetigt und verschlimmert wird.25 In diesem Sinn sind Erklärungen wie jene zu lesen, die Arendt in ihrem Anfang der 1960er Jahre veröffentlichten Buch „Über die Revolution“, im Kontext einer Analyse von Melvilles Erzählung „Billy Budd, Sailor“, trifft: „Das Absolute, das […] in dem Begriff der Menschen‐ rechte zum Ausdruck kommt, muß ein Unheil werden, wenn es sich innerhalb des politischen Raums Geltung verschaffen will.“26 Selbst die scheinbar fundamentalste Aussage, auf die alle anderen Menschenrechte letztlich zurückweisen, das Postulat der Gleichheit der Menschen, wie sie in Jeffersons berühmten Worten in der „Decla‐ ration of Independence“ zum Ausdruck gebracht wird, ist für Arendt deshalb keine absolute Wahrheit, entsprechend den unwiderlegbaren Einsichten der Mathematik. Zwischen beiden Bereichen besteht in Arendts Sicht vielmehr eine Differenz, die so radikal ist, dass sie allenfalls mit Hilfe eines theologischen Arguments überbrückt werden könnte. Jefferson selbst, so Arendt, müsse diese Differenz sehr wohl bewusst gewesen sein: „Denn er dürfte oft genug erfahren haben, daß der Satz ‚Alle Menschen sind gleich geschaffen‘ unmöglich die gleiche zwingende Evidenz besitzen kann wie ‚Zwei mal 23 24 25 26

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Vgl. für eine präzisere Analyse dieser Figur dagegen Hamacher 2018a. Vgl. Arendt 1986, S. 601 ff. Vgl. dazu näher Hamacher 2018a, S. 65 ff. Arendt 1963, S. 107.

zwei ist vier‘, daß er vielmehr von der tätigen Einsicht menschlicher Vernunft abhängt, daß er der Diskussion offensteht und also der Einigung bedarf – es sei denn, man wolle behaupten, daß die menschliche Vernunft von Gott geleitet wird und bestimmte Vernunft‐ wahrheiten als zwingend evident anerkennen muß.“27

Die Vertreter eines Glaubens an die Menschenrechte folgen demnach der von Arendt zurückgewiesenen Alternative, ohne dabei allerdings noch die konkrete Referenz auf ein bestimmtes Gotteskonzept zu bewahren. Was in ihrer Konzeption bleibt, ist die religiöse Struktur: die statuierte Selbstevidenz eines Phänomens, das nicht länger erklärt und debattiert, sondern nur noch als Dogma anerkannt und angenommen werden muss.

5. Folgen für das Recht Nicht nur einzelne menschenrechtsfeindliche Praktiken, sondern auch ein bestimm‐ tes allgemeines, im Arendt’schen Sinn durch die Notwendigkeit von Diskussionen und damit zugleich niemals als stabil zu unterstellenden, vielmehr immer prekär und vorläufig bleibenden Einigungen gekennzeichnetes Verständnis von Politik gerät damit durch die Verabsolutierung der Menschenrechte unter Druck. Der auf diese Weise erfolgende Bedeutungsverlust der Politik scheint mit einer entsprechenden Bedeutungssteigerung des Rechts oder genauer, der Rechtsanwender, die seine ab‐ soluten Befehle richtig zu lesen wissen, einherzugehen. In einer institutionellen Per‐ spektive korrespondiert der Sakralisierung des Rechts demnach eine Erstarkung der rechtsanwendenden Institutionen, insbesondere der Justiz und hier namentlich der Verfassungsgerichte. Nicht die Gebung oder Setzung, sondern die Interpretation des Rechts anhand von allgemeinen, als rational und selbstevident behaupteten Prinzipi‐ en wird zum entscheidenden Faktor.28 Unter besonderer Berücksichtigung der deut‐ schen Situation hat Ingeborg Maus ganz in diesem Sinn von einer „quasi-religiösen Verehrung des Bundesverfassungsgerichts in der Bevölkerung“ gesprochen, „die bereitwillig das Prinzip der Volkssouveränität an das höchste Gericht delegiert“29. Bei näherer Betrachtung ist „das Recht“ aber keineswegs der ausschließliche Pro‐ fiteur jener Bewegung, die das Recht in Gestalt von Verfassung und Menschenrech‐ ten religiös auflädt. Denn das, was Recht heißen soll, wird durch jene Bewegung auf eine spezifische, keineswegs alternativlose Konzeption festgelegt. Recht wird iden‐ tisch mit Rechten, die ihrerseits am Paradigma des Rechte-habens und -besitzens, also letztlich am Paradigma des Eigentums orientiert bleiben.30 Eine davon grund‐ 27 28 29 30

Arendt 1963, S. 250. Vgl. Frick 2019, S. 99 f. Maus 2018, S. 11. Vgl. zur Kritik an einem derartigen, als „ego-ontologische“ Konstruktion bezeichneten Modell näher Hamacher 2018b.

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sätzlich abweichende Konzeption, die nicht Identität, sondern Alterität, also nicht die Berechtigung des Individuums, sondern seine Verpflichtung in den Vordergrund stellt,31 ist in dieser Perspektive als mögliche Variante von Recht nicht mehr erkennund damit anerkennbar. Das Tötungsverbot etwa wird in dieser Sicht nur noch als Folge des Rechts auf Leben vorgestellt; die umgekehrte Sicht bleibt versperrt. Das auf die Idee der Menschenrechte fundierte Recht begreift jene Rechte als ein in sich konsistentes und rationales System. Es verbietet sich dadurch, andere Lösungen auch nur für möglich zu halten. Statt auf die möglichen Spannungen innerhalb der Menschenrechte – etwa zwischen der Religionsfreiheit und dem Gleichheitsgebot – zu achten und sie als Indizien für eine notwendige Pluralisierung der Rechtskonzepte zu begreifen, werden diese Spannungen negiert, weil sie mit dem Ideal der rationa‐ len Harmonie nicht übereinstimmen. Auf diese Weise schließt das so verstandene Recht seine eigene mögliche konzeptionelle Vielfalt aus. Eigentümlicherweise ermöglicht demnach gerade die scheinbar liberal-abwehr‐ rechtliche, zentral auf das Individuum bezogene Konzeption des Rechts als Rechte ein totalisierendes Moment im Recht, das sich noch gegen das Recht selbst wendet. Indem es sich in dieser Gestalt absolut setzt, nimmt das Recht nicht nur den Platz einer Religion ein und verdrängt zugleich die Politik. Es verdrängt zumal alternative Rechtsverständnisse, die in ihrer Selbstbeschreibung schon und noch mit etwas anderem als dem Recht selbst rechnen.32

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31 Vgl. Cover 1993, S. 240. 32 Vgl. dazu näher Augsberg 2021, S. 145 ff.

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Baecker, Dirk (Hrsg.), 2003: Kapitalismus als Religion. Berlin. Benjamin, Walter, 1985: Kapitalismus als Religion. In: ders., Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. VI: Fragmente vermischten Inhalts. Autobiographische Schriften. Frankfurt a.M., S. 100–103. Casanova, José, 1994: Public Religions in the Modern World. Chicago. Cover, Robert, 1993: Obligation: A Jewish Jurisprudence of the Social Order. In: ders., Narra‐ tive, Violence, and the Law. The Essays of Robert Cover. Hrsg. v. Martha Minow, Michael Ryan und Austin Sarat. Ann Arbor, S. 239–248. Ehrlich, Eugen, 1918: Juristische Logik. Tübingen. Frick, Verena, 2019: Sakralisierung des Rechts. Zum Verhältnis von Politik und Recht in der Theorie des Global Constitutionalism. In: Andreas Anter/dies. (Hrsg.), Politik, Recht und Religion. Tübingen, S. 93–109. Gauchet, Marcel, 1998: La religion dans la démocratie. Parcours de la laïcité. Paris. Hamacher, Werner, 2018a: Vom Recht, Rechte zu haben. Menschenrechte; Marx und Arendt. In: ders., Sprachgerechtigkeit. Frankfurt a.M., S. 50–92. Hamacher, Werner, 2018b: Rechte. Glauben. Centologie. Mendelssohns Jerusalem und Ha‐ manns Golgatha und Scheblimini. In: ders., Sprachgerechtigkeit. Frankfurt a.M., S. 194– 253. Joas, Hans, 2004: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Freiburg i.Br. Kantorowicz, Hermann, 1958: The Definition of Law. Hrsg. v. A. H. Campbell. Oxford. Kumm, Matthias et al., 2014: How large is the world of global constitutionalism? In: Global Constitutionalism 3, S. 1–8. Ladeur, Karl-Heinz, 2016: Die Textualität des Rechts. Zur poststrukturalistischen Kritik des Rechts. Weilerswist. Ladeur, Karl-Heinz/Augsberg, Ino, 2008: Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungs‐ staat. Humangenetik – Neurowissenschaft – Medien. Tübingen. Legendre, Pierre, 2012: Das politische Begehren Gottes. Studien über die Montagen des Staates und des Rechts. Wien/Berlin. Luhmann, Niklas, 1990: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. Luhmann, Niklas, 2017: Systemtheorie der Gesellschaft. Hrsg. v. Johannes F. K. Schmidt und André Kieserling. Berlin. Maus, Ingeborg, 2018: Justiz als gesellschaftliches Über-Ich. Zur Position der Rechtspre‐ chung in der Demokratie. Berlin. Schmitt, Carl, 1996: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Ber‐ lin, 7. Aufl. Weidner, Daniel, 2014: The Rhetoric of Secularization. In: New German Critique 121, S. 1– 31. Weidner, Daniel, 2017: Deutung und Undeutbarkeit. Friedrich Schleiermachers Hermeneutik, das Neue Testament und die Paradoxien des Nicht-Verstehens. In: Susanne Lüdemann/ Thomas Vesting (Hrsg.), Was heißt Deutung? Verhandlungen zwischen Recht, Philologie und Psychoanalyse. München, S. 93–105.

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van ’t Spijker, Willem, 2009: Calvin. A Brief Guide to his Life and Thought. Louisvillle. Vattimo, Gianni, 1997: Glauben – Philosophieren. Stuttgart.

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Arnd Pollmann Erkämpfte Rechte, ewige Rechte. Die Menschenrechte zwischen vorpolitischen Begründungen und realpolitischen Dezisionen

Seit dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war das Spannungsverhältnis zwischen Politik und öffentlichem Recht nur selten derart massiv spürbar wie zu Zeiten der sogenannten Corona-Krise. In einem zuvor kaum mehr vorstellbaren Ausmaß ist es seitens der um epidemiologische Schadens‐ begrenzung bemühten Bundesregierung und zunehmend auch der Parlamente zu empfindlichen Eingriffen in Grund- und Menschenrechte gekommen. Und je länger die Corona-Krise andauert1, umso fragwürdiger wirkt das Ausmaß der durch die entsprechenden Notgesetze und Zwangsmaßnahmen bewirkten Beschränkungen.2 Häusliche Quarantäne, Testpflichten, temporäre Ausgangsbeschränkungen, Einreiseund Aufenthaltsverbote begrenzen im Namen der kollektiven Gesundheit wichtige Grundrechte auf Freizügigkeit und freie Persönlichkeitsentfaltung. Die öffentlich geahndeten Abstandsgebote stellen nicht nur die Versammlungs- und Demonstrati‐ onsfreiheit in Frage, sondern auch die Religions- und Gewissensfreiheit. Zahllose Gewerbetreibende haben ihren Beruf bzw. ihr Geschäft nicht angemessen ausüben können. Auch die Teilhabe vieler Menschen an Bildung, Sport und Kultur war und ist weiterhin nur in engen epidemiologischen Grenzen möglich. Zwar soll hier aus‐ drücklich festgestellt werden, dass feuilletonistische Unkenrufe3, denen zufolge sich ein „Krieg“, ein „Staatsstreich“ oder gar eine „Ermächtigung“ ereignet haben sollen, von Anbeginn auf realitätsverweigernde Weise übertrieben gewesen sind. Auch kann nach wie vor keine Rede davon sein, dass einzelne Grundrechte „ausgehebelt“ oder „abgeschafft“ worden wären. Doch schon ein flüchtiger Blick ins Grundgesetz oder auch in einschlägige internationale Menschenrechtsverträge genügt, um sich bewusst zu machen, was in der anhaltenden Corona-Krise sehr vielen Menschen –

1 Dieser Text ist im Juni 2020 unter dem Eindruck der anhaltenden Corona-Krise entstanden. Der offene Gegenwartsbezug soll im Folgenden nicht stilistisch durch eine konstruierte Vergan‐ genheitsform getilgt werden. Erste Überlegungen dazu habe ich im Rahmen eines knappen taz-Kommentars formuliert: Pollmann 2020. 2 Dazu etwa die Beiträge auf: https://verfassungsblog.de/tag/grundrechte/ (Stand: 30. Juni 2020). 3 Siehe dazu exemplarisch die umstrittenen Corona-Kommentare von Agamben (u.a. ders. 2020).

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ob infiziert oder nicht – an Freiheit und mitunter auch an Würde4 gefehlt hat und fehlt. Die oft unmittelbar als Zurückweisung dieser Kritik ventilierte Behauptung sei‐ tens der Politik und vieler Medien, der epidemiologische Notstand sei ja fraglos mit dem Einverständnis großer Teile der Bevölkerung durchgesetzt worden, ändert an der besagten Diagnose wenig. Vielmehr erweist sich gerade diese Feststellung aus Sicht der Theorie der Grund- und Menschenrechte als die eigentliche Provokation: Während die Grund- und Menschenrechte als historische Errungenschaften zu inter‐ pretieren sind, die der Demos den jeweils über das Volk Herrschenden erst mühsam abringen musste, kommt dem virologischen Diktat derzeit eine gegenläufige, aber doch ebenfalls demokratisch anmutende Stimmungslage entgegen. In Anbetracht der Bedrohung sollen plötzlich schwankende Befindlichkeiten der Mehrheit dem geltenden Verfassungsrecht der Grundrechte vorschreiben dürfen, was inmitten der akuten Krise dringlicher erscheint als die Einhaltung freiheitsverbürgender Grund‐ rechte.5 Damit ist in der unerwarteten Notsituation der Epidemie eine für die Grundund Menschenrechte konzeptionell grundlegende Frage aufgeworfen: Sind diese Rechte insofern als „politische“ Rechte zu verstehen, als der Demos sie auch wieder suspendieren kann, sobald dies dem demokratisch geeinten Kollektiv angebracht erscheint? Oder sind die Menschenrechte, sobald sie per Verfassung als Grundrechte festgeschrieben worden sind, fortan als „ewige“ Rechte zu verstehen, die selbst noch dem demokratisch deliberativen Entscheidungsprozess Schranken setzen und die deshalb auch beanspruchen können, es im Konfliktfall eben doch „besser“ zu wissen als einfache und auch qualifizierte demokratische Mehrheiten? Die rechtsphilosophische Debatte über die Begründung und Funktion der Grundund Menschenrechte schien lange Zeit allein die beiden folgenden Alternativen zuzulassen: Entweder man schließt sich der eher traditionellen und noch heute oft als „naturrechtlich“ bezeichneten Überzeugung an, dass sich die Universalität der Menschenrechte aus moralischen oder „natürlichen“ Ansprüchen des Menschen ergibt, die den Sphären der Politik und des positiven Rechts vorgelagert sind. Oder aber man verzichtet auf metaphysischen „Unsinn auf Stelzen“ (Jeremy Bentham) und behauptet, dass rechtliche Ansprüche erst dann den Namen „Recht“ verdienen, wenn sie in Gesetzesform gegossen wurden und entsprechend dann auch eingeklagt werden können.6 Erst in jüngerer Vergangenheit sind zunehmend sogenannte politi‐

4 Auch das verfassungsrechtliche Würdeargument erscheint in vielen Fällen überzogen. Und doch gibt es Anwendungsfälle, z.B. mit Blick auf alte Menschen, die vollends isoliert von ihrer Familie oder sonstigem Beistand auf Intensivstationen sterben mussten, in denen es plausibel erscheint. 5 Es ist selbstredend nicht zu verleugnen, dass sich diese Stimmungslage auf das Grundrecht auf Leben und Unversehrtheit berufen kann, fraglich ist aber, wann und inwiefern dieses Recht tatsächlich alle weiteren Grundrechte übertrumpft. 6 Dazu und für das Folgende Pollmann 2012.

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sche Menschenrechtskonzeptionen auf den Plan getreten, die davon ausgehen, dass der Begriff der Menschenrechte für einen ganz eigenen, einen dritten Typus von grundlegenden Rechten steht. Demnach lassen sich die Menschenrechte weder auf „vorpolitische“, d.h. moralische oder natürliche, Ansprüche zurückführen noch als strikt juridische Rechte verstehen, die es – konjunktivisch gesprochen – erst ab dem Moment gäbe, in dem sie per Gesetz oder Verfassung verbindlich gemacht worden wären. Vielmehr ergeben sich die Menschenrechte im Zuge genuin politi‐ scher und mithin historisch kontingenter Kämpfe gegen staatliche Willkürherrschaft; aus Kämpfen also, die sich damit nicht zuletzt auch direkt gegen die jeweils „vor Ort“ etablierten und als unzureichend kritisierten Strukturen des positiven Rechts wenden.7 Mit Blick auf die normative Quelle der Menschenrechte, ist damit die Frage nach dem genaueren Verhältnis von Moral, Recht und Politik aufgeworfen.8 Der philosophische Mainstream tendiert unbeirrt dazu, die Sphäre der Politik ebenso wie die des positiven Rechts als bloße Erfüllungshilfen philosophisch „freistehender“ (Letzt-)Begründungen zu funktionalisieren. Demnach denkt die Moralphilosophie – geradezu platonisch – vor, was Politik und Recht dann bloß noch umzusetzen haben. Damit wird bereits auf konzeptioneller Ebene die genuine Eigenlogik politi‐ scher und juridischer Dimensionen der Menschenrechte ignoriert. Auf der anderen Seite jedoch sind die erwähnten politischen Menschenrechtskonzeptionen mit einem spiegelbildlichen Vorwurf konfrontiert: Wird die Geltung der Menschenrechte von vornherein von politischen und damit letztlich kontingenten Entscheidungsprozes‐ sen abhängig gemacht, scheinen diese Rechte bereits auf konzeptioneller Ebene ihren Charakter als universelle und unverlierbare Rechte zu verlieren, die jeden nur erdenklichen historischen, kulturellen oder eben auch politischen Kontext transzen‐ dieren würden. Dieses vermeintliche Manko politischer Menschenrechtskonzeptio‐ nen lässt sich auf ein grundlegendes Paradoxon bringen, das in der Corona-Krise offenbar nur mit besonderer Dringlichkeit hervorgetreten ist: Einerseits sind die Menschenrechte historisch „neue“ Ansprüche, die allererst gegen politische Willkür‐ herrschaft und historisches Unrecht erkämpft und durchgesetzt werden mussten. Andererseits müssen diese Rechte, sobald man sie in Gestalt verfassungsmäßig verbriefter Grundrechte festgeschrieben hat, sogleich auch wieder dem politischen Entscheidungsprozess entzogen werden, um fortan selbst noch der Herrschaft durch demokratische Mehrheitsentscheide entsprechende Grenzen zu setzen. Damit ist fraglich, ob und inwiefern die Menschenrechte zugleich als „erkämpfte“ Rechte und als „ewige“ Rechte verstanden werden können. Würde der betreffende Ewigkeitsanspruch nicht unweigerlich ihrer historischen Genese ebenso wie ihrem demokratischen Projektcharakter widersprechen? Oder anders: Wie verträgt sich 7 Menke/Pollmann 2007, Kap. 1. 8 Noch immer wegweisend Lohmann 1998.

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der universelle und kategorische Geltungsanspruch der Grund- und Menschenrechte mit ihrer aus politischer und positiv-rechtlicher Sicht dann eben doch empirisch äußerst kontingent anmutenden Entstehungsgeschichte?9 Im ersten Schritt der fol‐ genden Überlegungen soll zunächst rekapituliert werden, was genau im derzeitigen Menschenrechtsdiskurs mit der Behauptung gemeint sein soll, die Menschenrechte müssten „politisch“ konzipiert werden. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich dies‐ bezüglich recht verschiedene Deutungsmöglichkeiten, von denen im zweiten Schritt eine ganz bestimmte favorisiert werden wird: Die Menschenrechte, so die zentrale These, sind insofern politisch zu konzipieren, als sie sich allererst im hypothetischen Rahmen einer Neugründung politischer Gewaltverhältnisse ergeben, und zwar als „konstitutionelle“ Vorbehalte des demokratischen Souveräns gegenüber den Herr‐ schenden. Im dritten und letzten Schritt soll dann das oben skizzierte Paradoxon, nachdem die Menschenrechte zugleich erkämpfte und ewige Rechte sein sollen, entfaltet, aber auch aufgelöst werden. Mit Blick auf die Ausnahmesituation der Corona-Krise ist dabei deutlich zu machen, dass die regierungsamtliche Antizipation demokratischer Zustimmung zu teilweise unverhältnismäßigen Grundrechtseingrif‐ fen und damit als eine „feindliche Übernahme“ des Verfassungsrechts durch paterna‐ listische Regierungspolitik zu kritisieren ist.

1. Das Politische der Menschenrechte Wie schon angedeutet: Die Philosophie der Menschenrechte war lange Zeit in der Alternative befangen, die Menschenrechte entweder als moralische und damit vorstaatlich begründete Ansprüche oder aber als juristisch kodifizierte und somit gesetzlich garantierte Rechte verstehen zu wollen. Erst seit wenigen Jahren ist der nicht selten als Vermittlung gedachte Trend zu beobachten, die Menschenrechte aus‐ drücklich politisch zu konzipieren.10 Allerdings wird dabei nur selten klar genug, auf welche Aspekte genau die Kennzeichnung der Menschenrechte als „politisch“ ge‐ münzt sein soll. Geht es dabei um die historische Genese ihrer Deklaration, Institu‐ tionalisierung und Durchsetzung? Um den Umstand, dass die Menschenrechte aller‐ erst im Zuge politischer Bewegungen erkämpft und auch verteidigt werden mussten? Um die anschließend verbleibende Abhängigkeit nicht nur ihrer Geltung, sondern auch ihrer konkreten inhaltlichen Ausgestaltung von politischen Dezisionen? Um ihre öffentliche Funktion als Maßstab der Kritik regierungsamtlicher Willkür? Oder gar um die Bedeutung der Menschenrechte als Regulativ und Korrektiv internatio‐ Auf eine strikt teleologische Lerngeschichte in Bezug auf die Menschenrechte vertraut heute kaum mehr jemand, der oder die historisch und auch soziologisch informiert ist. Einen solchen Ansatz vertrat beispielsweise Apel 1990. 10 Dazu etwa die Beiträge in: Maliks/Schaffer 2017.

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naler sowie völkerrechtlicher Beziehungen? Bei genauerem Hinsehen ergeben sich mindestens fünf verschiedene Deutungen des „Politischen“ der Menschenrechte: (a) Mit der Behauptung, die Menschenrechte seien als politische Rechte zu verstehen, kann zunächst die kaum strittige Beobachtung gemeint sein, dass sich jede verfassungsrechtliche Transformation dieser Rechte in juridisch einklagbare Grundrechte historischer und eben auch politischer Auseinandersetzungen um die „legitime“ Ordnung politischer Gewaltverhältnisse verdankt. Die Menschenrechte müssen insofern erstritten werden, als deren Idee solange idealistisch „zahnlos“ bleibt, wie der politische Prozess den jeweils vor Ort herrschenden Gewalten nicht auch dezidiert verfassungsrechtliche Zugeständnisse abgerungen hat. Der historische und politische Prozess muss diese Rechte zuvor „aufdecken“ und auf die Tagesord‐ nung setzen, damit sich deren Idee sowohl national wie auch international verbreiten und durchsetzen kann. Damit tritt die Dimension der Politik der Menschenrechte in ein notwendiges, arbeitsteiliges Ergänzungsverhältnis zu den Dimensionen der Moral und des Rechts. Als zunächst nur „gedachte“ Rechte, die sich moralisch und damit vorpolitisch begründen lassen sollen, benötigen die Menschenrechte poli‐ tisch zwingende Prozesse der Implementierung, damit sie schließlich auch juridisch fixiert, in positives Recht gegossen und damit auf eine gewisse „Dauer“ gestellt werden können; so wie das eben im Rahmen vieler nationalen Verfassungen und ab 1945 dann auch in völkerrechtlichen Verträgen, etwa auf Ebene der Vereinten Nationen oder des Europarats, geschehen ist.11 (b) Politisch sind die Menschenrechte aber auch insofern, als ihre Abhängigkeit von historischen Kämpfen und politischen Dezisionen nicht nur für die Geschichte ihrer Durchsetzung, sondern auch für deren anhaltende Interpretation und Ausgestal‐ tung gilt. Die Menschenrechte sind nicht in Stein gemeißelt: Manches „ältere“ Men‐ schenrecht scheint historisch an Bedeutung verloren zu haben12, während „neue“13 Menschenrechte auf den Plan getreten sind, die auf historisch ungeahnte Notsitua‐ tionen und national wie global sich wandelnde Bedürfnislagen reagieren. Zugleich kommt es selbst mit Blick auf vergleichsweise unumstrittene Rechte wiederholt zu öffentlichen Auseinandersetzungen über deren genaueren Inhalt, deren Reichweite, deren Gewicht im Vergleich zu etwaig konfligierenden Rechten und damit nicht zu‐ letzt auch in Bezug auf die Grenzen der Verhältnismäßigkeit möglicher Eingriffe.14 Mit der bloßen Deklaration dieser Rechte, ja, selbst mit deren verfassungsrechtlicher 11 Siehe dazu exemplarisch Lohmann 1998. 12 Zu denken ist hier etwa an das „Recht auf Eigentum“, das im revolutionären 18. Jahrhundert noch ein überaus zentrales Menschenrecht ist, in den beiden einschlägigen UN-Menschen‐ rechtpakten von 1966 dann aber gar nicht mehr vorkommt. 13 Man nehme hier etwa das Recht auf Wasser oder auch das Recht auf informationelle Selbstbe‐ stimmung. 14 Hier bietet die Corona-Krise vielfältiges Anschauungsmaterial; etwa in Bezug auf das Recht auf Leben, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Freizügigkeit oder auch das Recht auf Versammlungsfreiheit.

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Positivierung sind selbstredend nicht schon allgemein verbindliche Interpretationen, Kontextualisierungen und Limitierungen dieser Rechtsansprüche vorgegeben. Letz‐ tere bedürfen stets einer dezidiert politischen Ausgestaltung durch öffentliche Dis‐ kurse, parlamentarische Entscheidungen und auch judikative Überprüfungen. Der philosophisch und auch politisch umstrittene Universalismus der Menschenrechte verdankt sich somit einer auf kollektiver Ebene stetig zu „wiederholenden“ Neube‐ sinnung auf gemeinsame politische Problemlagen und Bedrohungen sowie auf den mal geteilten, mal weniger verallgemeinerbaren Erfahrungsgehalt dieser auf politi‐ sches und historisches Unrecht antwortenden Rechte.15 (c) Alternativ kann es bei der Kennzeichnung von Menschenrechtskonzepten als politisch aber auch darum gehen, auf den sinnstiftenden und funktionalen Ort jener Rechte im Rahmen einer politischen Praxis hinzuweisen, die unter modernen Bedingungen stets auf demokratische Legitimität bedacht sein muss. Der kritische Bezug auf Menschenrechte dient in dieser Praxis dazu, als „Platzhalter“ für die öffentliche Thematisierung von entsprechendem Unrecht, von Unterdrückung, Dis‐ kriminierung, Ausgrenzung oder auch Entwürdigung zu operieren.16 Die Funktion der Menschenrechte ist es dann, ein politisch wirksames Vokabular anzubieten, mit dem sich staatliche Willkürherrschaft wirksam anprangern lässt. Die zentrale These derart politischer Menschenrechtstheorien lautet dann entsprechend: Die Menschen‐ rechte sollen die jeweils Herrschenden, d.h. staatliche Repräsentant_innen und Insti‐ tutionen, die jeweils „vor Ort“ die politische Gewalt ausüben und für die Aufrecht‐ erhaltung der jeweiligen Ordnung verantwortlich sind, in ihrer Entscheidungsmacht einschränken. Die Menschenrechte schreiben vor, wie das Volk regiert werden will – und vor allem: wie nicht. Erst durch die Beachtung entsprechender Schutz- und Hilfspflichten wird staatliches Handeln „nach innen“ wie auch „nach außen“ mit Legitimation versorgt. Die Menschenrechte sind Werkzeuge der Kritik politischer Willkür, und zwar sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene.17 (d) Bisweilen aber bezieht sich die Kennzeichnung der Menschenrechte als poli‐ tisch lediglich auf einen ganz bestimmten Typus dieser Rechte. In diesen Fällen nimmt die Debatte auf den historischen Umstand Bezug, dass es im Zuge des politischen Kampfes um Menschenrechte schrittweise zu einer inhaltlichen Ausdeh‐ nung der Menschenrechtsidee gekommen ist: Zunächst, so heißt es für gewöhnlich, seien etwa ab dem späten 17. Jahrhundert negative Freiheits- bzw. Abwehrrechte gegenüber dem zur Gewaltherrschaft tendierenden absolutistischen Staat erkämpft worden. Sobald die damalige Bürgerschaft mit diesen Grundfreiheiten ausgestattet war, erstritt sie spätestens ab dem revolutionären 18. Jahrhundert dezidiert politische 15 Walzer 1996 spricht in diesem Zusammenhang von „reiterative universalism“ bzw. von einem „wiederholenden Universalismus“. 16 Kreide 2013. 17 Dazu etwa Rawls 2002; Menke/Pollmann 2007; Beitz 2009.

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Mitwirkungsrechte. Erst im 19. Jahrhundert dann kam es im Zuge der Industria‐ lisierung zur Ausdehnung menschenrechtlicher Grundansprüche auch auf soziale und wirtschaftliche Leistungsrechte.18 Auch wenn die Klasse der politischen Mitwir‐ kungsrechte erst in einem zweiten Schritt erkämpft worden sein mag, so ist sie doch in systematischer Hinsicht keineswegs von nachrangiger Bedeutung. Zumindest nach Auffassung republikanisch argumentierender Menschenrechtskonzeptionen ist sogar das Gegenteil der Fall: Menschenrechte auf politische Teilhabe sind konstitu‐ tiv für alle Menschenrechte, weil sich erst durch demokratische Teilhabe möglichst aller Betroffenen ein Prozess der konstitutionellen Einhegung politischer Gewaltver‐ hältnisse ergeben kann, an dessen Ende sich die „Adressaten“ der Grund- und Menschenrechte allesamt zugleich auch als deren sich kollektiv selbst bestimmende „Autoren“ verstehen könnten.19 Erst in dieser republikanischen Lesart deutet sich eine grundsätzliche Alternati‐ ve zu bisherigen Mainstream-Konzeptionen der Menschenrechte an. Während die ersten drei Deutungen des „Politischen“ der Menschenrechte jeweils mit der Annah‐ me kompatibel sind, dass diese Rechte vorpolitisch, und zwar entweder moralisch oder auch naturrechtlich, begründet sein müssen, um (auch) politische Wirkung entfalten zu können, ergibt sich diese grundlegende Alternative erst, wenn man die Menschenrechte bereits auf Begründungsebene aus genuin politischen Entschei‐ dungsprozessen hervorgehen lässt. Dann erst erweist sich das Politische der Men‐ schenrechte nicht bloß als ergänzender Erfüllungsgehilfe freistehender moralischer oder naturrechtlicher Letztbegründungen, aber auch nicht bloß als eine empirische Vorbedingung juridischer Implementierungen, sondern als eine eigenständige und irreduzible Sphäre der konzeptionellen Rechtfertigung.

2. Menschenrechte als konstitutionelle Rechte Blickt man zurück auf historisch einschlägige Prozesse der Deklaration von Rechten „des“ Menschen, so lässt sich feststellen, dass die Notwendigkeit, diese Menschen‐ rechte einzufordern, vor allem in solchen Fällen gegeben schien und scheint, in de‐ nen sich ein revolutionär neues politisches und rechtliches System zu etablieren be‐ ginnt. Zu denken ist hier etwa an die Französische Déclaration des Droits de l'Hom‐ me et du Citoyen von 1789, die der Französischen Verfassung von 1791 vorangeht und diese anleitet, oder auch an die Virginia Bill of Rights von 1776, die wegweisend war für die im selben Jahr verkündete Amerikanische Unabhängigkeitserklärung. In Art. 1 der Menschenrechtserklärung von Virgina heißt es beispielsweise: „That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights, of 18 Historische Narrative dieser Art stützen sich heute häufig auf Marshall 1992. 19 Habermas 1992, Kap. III und IV.

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which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity“. Und Art. 2 fügt hinzu: „That all power is vested in, and consequently derived from, the people; that magistrates are their trustees and ser‐ vants, and at all times amenable to them“. Obwohl diese Erklärung also – rhetorisch – von einer Freiheit und Unabhängigkeit „by nature“ spricht, geht es hier doch – systematisch – um den imaginären und vergleichsweise unnatürlichen Moment, in dem die betreffenden Menschen „enter into a state of society“. Dies lässt sich wie folgt deuten: Der gemeinsame Eintritt in das politische Gemeinwesen ist der Mo‐ ment, in dem sich die Betroffenen ihrer unveräußerlichen Rechte allererst bewusst werden, weil sie einsehen, dass sie diese Rechte gegenüber jenen benötigen werden, die als willküranfällige „magistrates“ bloß deren „trustees and servants“ sind. Aus dieser historischen und demokratietheoretischen Perspektive auf das ord‐ nungspolitische Anliegen der Menschenrechte erweist sich deren Geltung auf ver‐ meintlich paradoxe Weise als Voraussetzung und zugleich auch als Ergebnis politi‐ scher Akte der Gründung einer neuen Verfassung.20 Die Menschenrechte sind dessen Voraussetzung, insofern sich der imaginär geeinte Demos nur unter der Bedingung der späteren Einhaltung entsprechender Rechte auf die Delegation von Herrschaft an eben jene „magistrates“ einlassen wird. Und sie sind das Ergebnis des verfas‐ sungsgebenden Prozesses, insofern deren juridische Festschreibung in Form von Grundrechten im selben Akt erfolgt. Daraus folgt mit Blick auf den mutmaßlich „natürlichen“ Charakter jener Rechte: Die Menschenrechte sind zwar als vorstaatli‐ che, aber doch keineswegs als vorpolitische Rechte zu verstehen. Die Notwendigkeit ihrer Kodifizierung und Einhaltung ergibt sich nur dann, wenn politische Macht in einer spezifisch modernen Weise interpretiert, organisiert und legitimiert wird, und zwar so, dass sich das Handeln öffentlicher Amtspersonen, die „hoheitliche Aufgaben“ zu erfüllen haben, stets an den menschenrechtlichen Ansprüchen der Beherrschten legitimieren können muss. Oder anders: Die Menschenrechte sind fundamentale Rechtsvorbehalte gegenüber den politischen Machthabern; Vorbehalte, die zu einem integralen Bestandteil der Verfassung gemacht werden müssen, falls diese Verfassung, wie es in der oben zitierten Erklärung von Virginia heißt, „konse‐ quent“ aus der Macht des Volkes „abgeleitet“ werden soll. Daraus folgt, dass die Menschenrechte weder natürliche noch moralische noch genuin juridisch Rechte sind, sondern von Anfang an politisch begründete Ansprü‐ che. Das Subjekt der Menschenrechte ist nicht etwa der vorpolitische oder natür‐ liche Mensch, sondern das demokratisch transformierte, per Gedankenexperiment antizipierte und letztlich dann auch politisch revolutionäre Subjekt seiner eigenen rechtsstaatlich ermöglichten Zukunft. Nach dieser nicht länger naturrechtlichen In‐ terpretation der Menschenrechte fungieren diese von Beginn an als „konstitutionel‐

20 Wellmer 1998, S. 270. Für das Folgende s.a. Pollmann 2014, Abschnitt 5.

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le“ Rechte.21 Spezifisch modern ist diese Idee insofern, als die Menschenrechte hier als zivilisatorischer Fortschritt verstanden werden, der aus illegitimen Formen staat‐ licher Willkürherrschaft demokratisch legitime Herrschaft machen soll, und zwar durch die konstitutionelle Verrechtlichung entsprechender Vorbehalte gegenüber den Herrschenden. Sobald also die Menschenrechte in Form von Grundrechten auch empirische Rechtswirklichkeit erlangen, sind sie als konstitutioneller Schutz gegen den will‐ kürlichen Missbrauch politischer Macht zu verstehen. Auf der Ebene der Theorie jedoch spielen sie die Rolle von zunächst nur „gedachten“ oder „intendierten“ Rechten, die das konstitutionelle Gedankenexperiment einer kollektiven demokrati‐ schen Neugründung politischer Gewaltverhältnisse anleiten. Wenn sich die Theorie demnach den funktionalen Zweck dieser Rechte vor Augen führen will, muss sie sich einen Prozess demokratisch souveräner Verfassungsgebung imaginieren, in dem all jene Menschen, die anschließend der politischen Macht unterworfen sein werden, zuvor bereits gleichberechtigte Subjekte der demokratischen Konstituierung und Legitimierung dieser politischen Macht gewesen sind.22 Innerhalb dieses genu‐ in politischen Gedankenexperiments übernehmen die Menschenrechte folglich die Rolle konstitutiver Vorbehalte, durch die der „ursprüngliche“ Gründungsakt von vornherein in legitime Bahnen gelenkt werden soll. Konjunktivisch ausgedrückt: Bürger_innen, die in diesem Sinne „modern“ wären, würden sich niemals freiwillig und schon gar nicht einstimmig auf eine Verfassung einigen, die sie oder auch nur bestimmte Minderheiten ohne entsprechend einklagbare Grundrechte zurückließe. Die Menschenrechte sind nicht etwa „Zugeständnisse“ oder das Resultat wohl‐ wollender „Gnadenakte“ von Seiten fortschrittlicher Regierungen, sondern legitima‐ torische Grundbedingungen jeder modernen politischen Gewaltordnung. Selbstre‐ dend können die Regierenden empirisch gegen die Menschenrechte verstoßen. Aber sie können dies nicht, ohne dadurch zugleich auch ihre Legitimität in Frage zu stellen oder gar einzubüßen. Aus dieser dezidiert demokratietheoretischen Perspek‐ tive betrachtet, ist es für ein politisches und rechtliches System, das Legitimität beanspruchen will, konzeptionell unmöglich, den eigenen Bürger_innen keine per Verfassung kodifizierten Grundrechte zu gewähren.23 Und aus eben dieser konsti‐ tutionellen Unmöglichkeit ergibt sich dann auch die notwendige Kritik an einer vermeintlich durch demokratische Mehrheiten legitimierten Politik, die sich über einzelne Grund- und Menschenrechte hinwegsetzt.

21 Pollmann 2014, 133f. 22 Vgl. Habermas 1992, Kap. III und IV. 23 Und weil die Geschichte lehrt, dass Nationalstaaten sehr wohl beim Schutz der Menschenrech‐ te versagen können, haben diese Rechte den sekundären Zweck, die internationale Staatenge‐ meinschaft zur Übernahme einer Art Ausfallbürgschaft zu zwingen. Vgl. Beitz 2009, Kap. 5.

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3. Die menschenrechtliche Einhegung der Demokratie Sind die Menschenrechte erst einmal erklärt und verfassungsrechtlich als Grund‐ rechte etabliert, und zwar im Zuge einer revolutionären Transformation vormaliger Verfassungen, käme die nachträgliche Abschaffung auch nur eines dieser Menschen‐ rechte einer diese neue Verfassung unterminierenden Konterrevolution gleich.24 Da‐ mit ist eine konstitutionelle Begründung angedeutet, die etwa auch hinter der Idee des Grundgesetzes stehen mag, die Grundrechte in Art. 19 Abs. 2 allesamt unter einen ihren „Wesensgehalt“ bewahrenden Bestandsschutz zu stellen. Ähnliches gilt für die in Art. 79 Abs. 3 enthaltene „Ewigkeitsklausel“ in Bezug auf den für die Grundrechte insgesamt basalen Würdeschutz aus Art. 1 Abs. 1. Diese rechtsarchitek‐ tonisch anspruchsvolle und nicht unumstrittene Konstruktion wirft eine überaus grundsätzliche Frage auf: Kann sich der souveräne Gesetzgeber tatsächlich in seiner Gesetzgebung derart grundlegend an „ewige“ Menschenrechte binden, ohne dass er dadurch seine legislative Souveränität gleich wieder einbüßt?25 Wäre damit nicht die „höchste Gewalt“ des Gesetzgebers, die mit dem Anspruch auf Souveränität bereits begrifflich einhergeht, durch eine noch höhere Gewalt der Grund- und Menschen‐ rechte eingehegt und beschränkt? Wie auch immer man diese schwierige Frage be‐ antworten will: Sobald die Menschenrechte in die Verfassung eingewandert sind, ist die betreffende Verfassung auch in menschenrechtlicher Hinsicht entsprechend als ein Grundgesetz, d.h. als ein „Gesetz für den Gesetzgeber“26, zu betrachten, das zu‐ künftig nicht nur den Erlass einfacher Gesetze regelt, sondern auch den Spielraum für mögliche Verfassungsänderungen beschränkt. Mag sich die durch Einführung kodifizierter Grundrechte bewirkte Neuordnung politischer Gewaltverhältnisse auch stets unter historisch kontingenten Bedingungen ergeben, so werden dabei doch zu‐ mindest diese Grundrechte nunmehr auf Dauer gestellt. Eben damit sind wir erneut bei dem zu Anfang erwähnten Paradoxon angelangt: Die Menschenrechte müssen allererst erkämpft und den zu Willkürherrschaft ten‐ dierenden Herrschaftsformationen abgerungen werden, um dann aber fortan als „verewigt“ gelten zu dürfen. Ihre konstitutionelle Geltung verbietet deren nachträgli‐ che Abschaffung selbst dann, wenn diese Abschaffung das Resultat demokratischer Mehrheitsentscheidungen wäre. Oder anders: Die historisch errungenen Menschen‐ rechte setzen der Politik legitimitätsstiftende Grenzen, an denen selbst noch der

24 Die folgenden Überlegungen sind im Geiste eines zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Klassikers des Menschenrechtsdenkens formuliert: Erhard 1970. Zu einer Revolution kommt es nach Erhard immer oder erst dann, und zwar unabhängig von der politischen Gewaltfrage, wenn es zu einer tiefgreifenden Umänderung oder Umwälzung der konstitutiven Grundprinzi‐ pien einer Verfassung kommt; z.B. eben durch die Einführung von Grundrechten. 25 So wie etwa auch ein „freier“ Mensch seine Freiheit verlieren würde, wenn er sich freiwillig in Sklaverei begäbe. 26 Dreier 2009, S. 15ff. u. 24.

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demokratische Prozess kollektiver Selbstgesetzgebung halt zu machen hat: Die Le‐ gislative muss von Mehrheitsentscheidungen abgehalten wird, die dem als geeint imaginierten Volkswillen menschenrechtlich widersprächen.27 Und was für die Le‐ gislative gilt, muss entsprechend auch für die Exekutive gelten, deren Mitglieder sich als „trustees and servants“ zu verstehen haben. Die Exekutive darf sich erst Recht nicht über die Grundrechte hinwegsetzten, weil deren Macht nur geliehen ist und weil mit der Verletzung oder gar Abschaffung dieser Grundrechten der Rechtsstaat als Ganzer in Frage stünde, auf den die Mitglieder der Exekutive gege‐ benenfalls ja auch ihren Amtseid geschworen haben. Ob Legislative oder Exekutive: Die Demokratie verwickelt sich in einen perfor‐ mativen Selbstwiderspruch, wenn sie „im Namen des Volkes“ und damit in reprä‐ sentativer Ausübung freiheitsverbürgender Grundrechte eben diese Grundrechte ver‐ letzt oder gar in ihrem Wesensgehalt verändert. Natürlich ist das faktisch möglich, aber der Vorgang ist konzeptionell widersprüchlich. Um es in Anlehnung an Imma‐ nuel Kant zu sagen: Die empirische Demokratie verletzt die intellegible. Ein wahr‐ haft demokratischer Rechtsstaat würde weder legislative noch exekutive Hoheitsakte vollziehen, die nicht mit den Grundrechten all jener zu vereinbaren sind, über die der Rechtsstaat herrscht. Ja, allein vor dem Hintergrund dieser hier kantianisch gedeute‐ ten Unterscheidung zwischen einer empirischen und einer intelligiblen Demokratie wird überhaupt ersichtlich, wofür die Grundrechte benötigt werden: Notwendig sind diese verfassungsrechtlichen Schutzvorkehrungen nur solange, wie ein wahrhaft demokratischer und damit konsensueller Entscheidungsfindungsprozess empirisch unmöglich erscheint und unter Bedingungen moderner Rechtsstaatlichkeit durch Mehrheitsentscheidungen abgekürzt wird. Nur Mehrheiten entscheiden zu Unguns‐ ten von Minderheiten, und eben deshalb müssen die Mitglieder dieser Minderheiten durch subjektive Rechte selbst noch gegen das vermeintlich demokratische Mehr‐ heitsprinzip geschützt werden. Kommen wir damit abschließend noch einmal auf die bedrohliche Ausgangslage der verfassungsrechtlichen Corona-Krise zurück: Zu Beginn war bereits zugestanden worden, dass die gelegentlich vorgetragene Überzeugung, die Grundrechte seien im Zuge der epidemiologischen Zwangsmaßnahmen nicht nur verletzt, sondern „ausge‐ hebelt“ oder „abgeschafft“ worden, abwegig ist. Strittig war und ist lediglich die „Verhältnismäßigkeit“ vieler und selbstredend auch nicht sämtlicher dieser teilweise massiven Grundrechtseingriffe. In der epidemischen Aufregung der Anfangswochen mag dabei so manche voreilige Entscheidung realpolitisch verständlich gewesen sein. Doch die geradezu panische Pauschalität, mit der die seuchenbedingten Maß‐ 27 Beispiele dafür wären u.a. die faktische „Aushöhlung“ des Asylrechts durch Einführung der sogenannten Drittstaatenregelung, die gesetzliche Einführung einer „Obergrenze“ für Flücht‐ linge, ein „Minarettverbot“ trotz Erlaubnis zum Bau christlicher Kirchen, die mögliche Wie‐ dereinführung der Todesstrafe u.a.

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nahmen allein hierzulande auch 83 Millionen völlig gesunde Menschen getroffen haben, lässt an der Verhältnismäßigkeit und damit an der Rechtfertigung vieler die‐ ser Grundrechtseingriffe zweifeln. Selbst wenn der empirische Demos diesen Maß‐ nahmen überwiegend Gehorsam geleistet hat, sodass sich die Regierung auf eine vermeintlich demokratische Legitimierung all dieser Maßnahmen berufen konnte: Wenn viele oder auch nur einige dieser Eingriffe tatsächlich unverhältnismäßig gewesen sein sollten, kann die regierungsamtliche Antizipation demokratischer Zu‐ stimmung als „feindliche Übernahme“ des Verfassungsrechts durch eine zu pater‐ nalistischer Gesundheitsvorsorge tendierenden Regierungspolitik kritisiert werden. Natürlich sind deshalb nicht schon sämtliche Grundrechtseingriffe während der Corona-Krise unverhältnismäßig gewesen, aber das dürfte wohl auch kaum jemand ernsthaft behaupten wollen. Entscheidend ist, dass eine Politik, die sich anmaßt, den Willen jener Bürger_innen zu verkörpern, denen sie dadurch zugleich auch grund‐ rechtlich zugesicherte Freiheiten nimmt, das empirische Volk in seiner Mehrheit vertreten mag, nicht aber den intelligiblen Demos.

Literatur Agamben, Giorgio, 2020: Nach Corona: Wir sind nurmehr das nackte Leben. In: Neue Zür‐ cher Zeitung, 18. März 2020. Apel, Karl-Otto, 1990: Zurück zur Normalität? Oder könnten wir aus der nationalen Katastro‐ phe etwas Besonderes gelernt haben?. In: ders.: Diskurs und Verantwortung. Frankfurt a.M., S. 370-474. Beitz, Charles, 2009: The Idea of Human Rights, Oxford. Dreier, Horst 2009: Gilt das Grundgesetz ewig? München. Erhard, Johann Benjamin, 1970: Über das Recht des Volks zu einer Revolution. München. Habermas, Jürgen, 1992: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. Kreide, Regina, 2013: Menschenrechte als Platzhalter. Eine politische Menschenrechtskon‐ zeption zwischen Moral und Recht. In: Zeitschrift für Menschenrechte, H.2, S. 80-100. Lohmann, Georg, 1998: Menschenrechte zwischen Moral und Recht. In: Gosepath, Stefan/ Lohmann Georg (Hrsg.): Philosophie der Menschenrechte. Frankfurt a.M., S. 62-95. Maliks, Reidar/Schaffer, Johan (Hrsg.), 2017: Moral and Political Conceptions of Human Rights: Implications for Theory and Practice. Cambridge. Marshall, Thomas H., 1992: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen. In: ders.: Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt a.M., S. 33-94. Menke, Christoph/Pollmann, Arnd, 2007: Philosophie der Menschenrechte. Zur Einführung. Hamburg. Pollmann, Arnd, 2012: Drei Dimensionen des Begriffs der Menschenrechte: Recht, Moral und Politik. In: ders./Lohmann, Georg (Hrsg.): Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch. Metzler, S. 358-363.

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Pollmann, Arnd, 2014: Human Rights Beyond Naturalism. In: Albers, Marion/Hoffmann, Thomas/Reinhardt, Jörn (Hrsg.): Human Rights and Human Nature, Dordrecht u.a., S. 121-136. Pollmann, Arnd, 2020: Ansteckende Freiheit. In: taz, 21. April 2020. Rawls, John, 2002: Das Recht der Völker, Berlin. Walzer, Michael, 1996: Zwei Arten von Universalismus. In: ders.: Lokale Kritik – globale Standards, Hamburg, S. 139-168. Wellmer, Albrecht: Menschenrechte und Demokratie. In: Gosepath/Lohmann 1998, S. 265-291.

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Grit Straßenberger Konfliktaustragung und Konfliktbegrenzung. Zum Verhältnis von Demokratie und Recht in agonalen Politiktheorien

Einleitung In der politikwissenschaftlichen Forschung werden seit geraumer Zeit zwei wider‐ sprüchliche Tendenzen beobachtet.1 Einerseits wird ein Trend zur Entpolitisierung diagnostiziert, der sich auf verschiedene Entwicklungen bezieht, wie die zunehmen‐ de Professionalisierung der Parteien, die Expertokratisierung politischer Entschei‐ dungen oder auch die Medialisierung der Politik. Andererseits werden zunehmend Prozesse der Politisierung bzw. Re-Politisierung beobachtet, wobei hier neben dem Auftauchen populistischer Parteien auch das Erstarken national und transnational ausgerichteter Protestbewegungen sowie eine wachsende Skepsis gegenüber der Autorität wissenschaftlicher Expertise und der Sinnstiftungsfunktion intellektueller Eliten in den Blick geraten. Der folgende Beitrag nimmt diese widersprüchlichen und politikwissenschaftlich durchaus unterschiedlich bewerteten Tendenzen zum Ausgangspunkt, um eine alte Frage neu zu diskutieren: die nach dem prekären Verhältnis von Recht und Politik in der Demokratie. Die Spannung zwischen Politik und Recht lässt sich über das Begriffspaar „Entpolitisierung und Re-Politisierung“ krisendiagnostisch zuspitzen: Danach befördert die Verrechtlichung von Politik, also der (zu) starke Einfluss juris‐ tischer Institutionen, Eliten und Normen auf demokratische Entscheidungsprozesse, eine Entpolitisierung demokratischer Politik, die zugleich mit einer Politisierung des Rechts verbunden ist, insofern juristische Institutionen und Eliten nicht mehr nur begrenzend oder beratend tätig werden, sondern als politische Entscheider agieren oder so wahrgenommen werden. Politischer Protest, der sich gegen die politisierte Herrschaft des Rechts richtet, kann eine vitalisierende Re-Politisierung der liberalen Demokratie bewirken oder auf eine Delegitimierung juristischer Institutionen und Eliten abzielen, die den ordnungspolitischen Beitrag des Rechts für die Stabilität der Demokratie sehr grundsätzlich in Frage stellt.

1 Zu den widersprüchlichen Tendenzen von Entpolitisierung und Re-Politisierung vgl. das Levia‐ than-Sonderheft „Die demokratische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zwischen Entpolitisie‐ rung und Re-Politisierung“ und hier insbesondere die Einleitung von Andreas Schäfer und David Meiering (2020).

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Das prekäre Verhältnis von Recht und Politik soll im Folgenden in demokratie‐ theoretischer Perspektive betrachtet werden. Dabei werde ich mich auf agonale Politiktheorien konzentrieren, also auf Demokratietheorien, die in normativer wie stabilitätspolitischer Hinsicht den Konfliktcharakter demokratischer Politik betonen. In der Auszeichnung des konfliktiven Modus‘ des Politischen argumentieren ago‐ nale Politiktheorien vornehmlich gegen die rationalistische und individualistische Begrenzung demokratischer Politik – nicht zuletzt durch eine starke rechtsstaatliche Einhegung der Demokratie –, wie sie im Institutionengefüge der liberalen Demo‐ kratie vorgesehen ist und durch die im politiktheoretischen Diskurs der letzten Jahr‐ zehnte hegemoniale Theorie des Politischen Liberalismus befürwortet wird. Agonale Politiktheorien sehen in der elitären Praxis der liberalen Demokratie und in der sie theoretisch flankierenden deliberativen Theorie eine gefährliche Entpolitisierung, die zu einer radikalen, den liberaldemokratischen Verfassungsrahmen destabilisie‐ renden Re-Politisierung führen kann. Welcher Begriff von Politik und Politisierung unterliegt dieser Krisendiagnose und welche Therapieangebote entwickeln agonale Politiktheorien, um den Gefahren einer destabilisierenden Entgrenzung politischen Protesthandelns zu begegnen? Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich zunächst knapp fünf Merkmale agonaler Po‐ litiktheorien benennen und dann im Hauptteil zwei Ansätze ausführlicher darstellen: das derzeit prominent diskutierte Modell „agonistischer Demokratie“ von Chantal Mouffe, das durch ihr aktuelles Plädoyer „Für einen linken Populismus“2 noch einmal spezifisch gewendet wird, und die politiktheoretisch breit rezipierte republi‐ kanische Konzeption „agonaler Demokratie“ von Hannah Arendt. Abschließend werde ich beide Ansätze agonaler Politiktheorie mit Blick auf die Ausbalancierung der konfligierenden Normen von Demokratie und Recht diskutieren.3

1. Charakteristika agonaler Politiktheorien Agonale Politiktheorien sind Konfliktnarrationen, die zur großen Gruppe pluralisti‐ scher politischer Theorien gehören. Ihre Besonderheit besteht erstens in der Beto‐ nung des Konflikt- und Kampfcharakters von Politik. Wenngleich die Konfliktinten‐ sität – nicht zuletzt in Abhängigkeit von den Konfliktgegenständen – unterschied‐ lich vorgestellt wird, so ist mit Konflikt nicht nur Wettbewerb gemeint, sondern stärker Wettstreit oder Wettkampf, was auch konfrontative Auseinandersetzungen einschließt.4 Agonale Politiktheorien gehen nicht nur davon aus, dass es einen Plura‐ 2 So der Titel ihres aktuellen Buches (Mouffe 2018). 3 Im Folgenden greife ich immer wieder auf bereits veröffentlichte Arbeiten zu Teilaspekten, die in diesen Kapiteln behandelt werden, zurück. 4 Vgl. dazu und zu Folgendem Westphal 2018 sowie mit Blick auf Hannah Arendt vgl. Tassin 2011.

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lismus von Lebensformen, Weltanschauungen und Interessen gibt, dem institutionell angemessen Rechnung getragen werden muss, wie dies generell für pluralistische Ansätze gilt, vielmehr wird Pluralität und Konflikt zur Bedingung für Politik und damit das Austragen von politischen Kämpfen zur einzig „angemessenen“ Antwort auf die pluralistischen Herausforderungen. Zweitens verweisen agonale Politiktheorien auf die Notwendigkeit der öffentli‐ chen Austragung von Streit, Dissens und Konflikt. Das Erscheinen von Konflikt‐ akteuren im öffentlich-politischen Raum gehört zu den kardinalen Bedingungen demokratischer Politik, zugleich wird dieser Raum durch politische Konfliktaustra‐ gung erst konstituiert. Das heißt, dem aktiven Austragen von Wert-, Interessenund Identitätskonflikten wird nicht nur eine Demokratie befördernde, sondern auch eine das Politische konstituierende Rolle zugeschrieben. Agonale Politiktheorien wenden sich damit zugleich gegen invisible Formen der Konfliktbearbeitung, wie etwa gegen lobbyistische Arrangements des Interessenausgleichs, aber auch gegen elitenfokussierte Modi der Interessenvermittlung. Drittens praktizieren agonale Politiktheorien eine interventionistische Public Phi‐ losophy, die sich im Anschluss an literatur- und kulturwissenschaftliche Ansätze als performative Theorie des Politischen bezeichnen lässt. Politische Theorie wird im Modus der Kritik dominanter Wahrnehmungskategorien des Politischen als In‐ tervention in gesellschaftliche Deutungskämpfe entworfen und betrieben. Damit ist eine doppelte Frontstellung verbunden: Zum einen richten sich agonale Politik‐ theorien gegen hegemoniale Ansätze innerhalb politiktheoretischer Begriffs- und Kategorienbildung. Zur Abgrenzungsfolie werden hier Ansätze, die auf traditiona‐ listische, deliberative und/oder expertokratische Befriedungsmechanismen abstellen und darüber eine auf Konsens statt Konflikt setzende Politik präferieren. Zum ande‐ ren werden elitäre Praxen der Konfliktvermeidung öffentlich kritisiert. Der Adressat ist das „demokratische Publikum“, das letztlich darüber entscheidet, ob und wie die angebotenen Konfliktnarrative rezipiert werden. Diese performative Verschränkung der Konstruktion gegen-hegemonialer Kon‐ fliktnarrative mit deren politischer Rezeption im öffentlichen Raum verweist vier‐ tens auf ein hermeneutisches Verständnis politischer Praxis. Konflikttheorien bieten spezifische Interpretationen tatsächlicher oder möglicher Konflikte an und schreiben diesen Konfliktnarrationen eine bestimmte politische Sinnhaftigkeit zu. Aber die Autoren und Autorinnen der Konflikterzählungen verfügen weder über die politische Rezeption ihrer Deutungsangebote noch können sie eine vom politisch-hermeneuti‐ schen Prozess losgelöste „Wahrheit“ aufbieten, die über jeden Zweifel erhaben wäre. Unter der Bedingung von Pluralität gestaltet sich die politische Rezeption als ein ergebnisoffener und kontroverser Interpretationsprozess. Fünftens schließlich verbinden agonale Politiktheorien mit dem Konflikt- und Kampfcharakter von Politik normative wie stabilitätspolitische Erwägungen: Sie

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stellen nicht nur grundsätzlich auf die Veränderung des Status quo ab, sondern sehen in der aktiven Austragung pluralistischer Konflikte einen Zugewinn an Freiheit, Gleichheit und Demokratie. Damit ist zumindest implizit die stabilitätspolitische Idee verknüpft, dass die Austragung von Interessen-, Wert- und Identitätskonflikten integrative Effekte hat. Allerdings werden sowohl das Maß an Konflikthaftigkeit als auch die kommunikativen wie institutionellen Modi seiner Begrenzung sehr unter‐ schiedlich gefasst.

2. Agonale oder agonistische Demokratie? Die agonale Politiktheorie ist ein weites Etikett, das zuteilen sehr disparate Demo‐ kratietheorien umfasst: postfundamentalistisch-radikaldemokratische Ansätze eben‐ so wie republikanische Politiktheorien. Der demokratietheoretische Schnittpunkt republikanischer und radikaldemokratischer Politiktheorien ist die Kritik an libera‐ len Konsensmodellen von Politik und, damit verbunden, die Auszeichnung des kon‐ fliktiven Modus’ des Politischen. Die normative Verschwisterung von Demokratie und Agonalität bildet den Ausgangspunkt für die geteilte Einsicht, dass es sich bei Entpolitisierung und Re-Politisierung um zwei aufeinander bezogene Prozesse handelt. Entpolitisierung wird als ein Indifferenz, Teilnahmslosigkeit, Vergleichgül‐ tigung und Apathie befördernder Prozess individueller wie kollektiver Entfremdung gefasst, der – und das ist die der Entpolitisierung innewohnende Gefahr, auf die re‐ publikanische wie radikaldemokratische Politiktheorien gleichermaßen aufmerksam machen – zu einer emotional aufgeladenen und für radikale Alternativen empfängli‐ chen Protesthaltung relevanter Teile des Volkes gegen die liberale Eliten-Demokratie führen kann.5 Re-Politisierung ist so betrachtet nicht nur eine mögliche, sondern eine erwartbare Reaktion auf Entpolitisierungs- und Entfremdungserfahrungen, die Bürger und Bürgerinnen in der elitären Praxis liberal-demokratischer Ordnungen machen und die zu einer grundsätzlichen, sich in radikalen Protesten politisierter „Wutbürger“6 entladenden Delegitimierung dieses politischen Ordnungsregimes füh‐ ren können. Dass Entpolitisierungsprozesse zu affektiv aufgeladenen, liberale Demokratien destabilisierenden Re-Politisierungen führen können, gehört zu der von republika‐ nischen und radikaldemokratischen Politiktheorien gleichermaßen formulierten Kri‐ sendiagnose hinsichtlich der Selbstgefährdungen liberal-demokratischer Ordnungen. Re-Politisierung ist aber zugleich Teil der vorgeschlagenen Therapie. Hier treten die Unterschiede zwischen der republikanischen und der radikaldemokratischen Theorie der Politik deutlich hervor. Zwar verbinden republikanische wie radikal‐ 5 Vgl. dazu Jörke/Selk 2017, S. 63-79, sowie Volk 2013. 6 Vgl. Vorländer 2011.

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demokratische Ansätze mit Re-Politisierung eine Ausweitung und Intensivierung bürgerschaftlicher Selbstregierung und sehen darin die Beförderung politischer Haltungen wie aktive Parteinahme, leidenschaftliche Identifikation und gesteigerte Konfliktbereitschaft, aber das Verständnis von Politisierung ist ein grundsätzlich anderes: Die radikale Demokratietheorie hat ein positivistisch-normatives Verständ‐ nis von Veränderung, d.h., destabilisierende Effekte werden nicht nur grundsätzlich bejaht und forciert, vielmehr wird die Destabilisierung von Ordnung selbst zur Norm für demokratisches Handeln. Ob und wie diese Praxis der Destabilisierung konflik‐ taverser Ordnungen eine Restabilisierung demokratischer Konfliktordnungen beför‐ dert, bleibt jedoch vage. Demgegenüber löst die republikanische Politiktheorie die radikaldemokratische Opposition von Stabilität und Destabilisierung auf und denkt Destabilisierung und Stabilisierung notwendig zusammen: Die aus der Pluralität des Politischen resultierende grundsätzliche Fragilität politischen Handelns bleibt nicht nur bestehen, sondern wird selbst zum ausgezeichneten Modus, über den politische Ordnungen stabilisiert werden können. Voraussetzung ist freilich, dass die für das Politische konstitutive Pluralität institutionell befördert wird.7 Die unterschiedlichen Politisierungsverständnisse lassen sich semantisch auf den Gegensatz zwischen „Entfeindung“ und „Verfeindung“ zuspitzen. Republikanische Demokratietheorien – insbesondere solche, die im Anschluss an Niccolò Machiavel‐ li und Alexis de Tocqueville auf die Institutionalisierung des begrenzten Konflikts abstellen – konzeptionalisieren Politisierung als einen kommunikativen Prozess der Entfeindung, der auf eine Hegung und Zivilisierung von Konflikten abstellt und häufig mit einer aktiven und zumeist auf lange Zeit angelegte Beziehungsarbeit ver‐ bunden wird. Diese institutionell und sozio-moralisch höchst anspruchsvolle Form der politischen Konfliktbearbeitung stellt auf die kommunikative Bearbeitung und narrative Bewältigung von Fremdheits- und Ablehnungserfahrungen ab. Das Politi‐ sche wird zwar als ein nie wirklich abgeschlossener und konfliktbehafteter Prozess der Bearbeitung politischer Kontingenz verstanden, aber dieser konfliktive Prozess ist an ein verbindliches, (zumeist) in der Verfassung festgelegtes politisches Werte‐ system gebunden, das zugleich die institutionellen Spielregeln für die integrative Austragung von Konflikten formuliert.8 Die integrative Austragung von Konflikten und, damit verbunden, die institutio‐ nellen und ethischen Begrenzungen demokratischer Protestartikulation gehören nicht zu den Zielen radikaler Demokratietheorie.9 In der begrifflichen und politischen Gegenüberstellung von „Konflikt versus Konsens“, „Fragilität versus Stabilität“, „Emotionalität versus Rationalität“ favorisieren radikaldemokratische Ansätze eine 7 Zum politischen Kontingenzdenken im 20. Jahrhundert vgl. Trimcev 2018. 8 Zu Integration über Konflikt vgl. Bluhm/Malowitz 2012. 9 Zu den Ausprägungen radikalen Denkens der Demokratie vgl. Comtesse; Flügel-Martinsen; Martinsen; Nonhoff 2018.

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polarisierende Politik der Konfliktverschärfung, über die soziale, kulturelle und poli‐ tische Unterschiede verstärkt und Prozesse der Entfremdung befördert werden. Eine Verfeindung gesellschaftlicher Konfliktparteien wird zwar nicht explizit befürwortet, kann aber auch nicht ausgeschlossen werden. Normativ als ein Modus unbegrenzter Konfliktsteigerung verstanden, verweigert sich das Politische einer institutionellen Festlegung. Demokratische Freiheit und politische Ordnung stehen hier in einem op‐ positionellen Verhältnis: Freiheit wird als eine anti-institutionalistische, das spontan‐ eistische Moment der Irritation auszeichnende Bewegung des Aufbegehrens ausge‐ zeichnet, während Ordnung diese emanzipativen Protestpraxen herrschaftlich-hierar‐ chisch reglementiert oder gar verunmöglicht. Die Spaltung innerhalb agonaler Politiktheorien zwischen radikaldemokratischen Ansätzen, die für eine (unbegrenzte) Aufweitung der politischen Kampfzone plädie‐ ren, und republikanischen Ansätzen, die auf eine integrative Austragung von Kon‐ flikten und damit auf ordnungspolitische Begrenzungen abstellen, soll im Folgenden an Chantal Mouffes „agonistischer Demokratie“ und Hannah Arendts „agonaler De‐ mokratie“ dargestellt werden. Beiden Autorinnen ist gemeinsam, dass sie innerhalb der agonalen Politiktheorie eine Paria-Position einnehmen: Pointiert formuliert, ver‐ folgen die „Radikaldemokratin“ Mouffe und die republikanische Denkerin Arendt auf je spezifische Weise eine liberale Wendung der radikalen bzw. der republikani‐ schen Theorie und deuten dabei den Liberalismus selbst um, nämlich im Sinne eines „konfliktiven Liberalismus“ oder agonalen Pluralismus.10

2.1. Chantal Mouffe: über das „demokratische Paradox“ und seine einseitige Auflösung Innerhalb dieses radikaldemokratischen Projekts wird die Krisendiagnose, den li‐ beralen Gesellschaften sei ein gravierendes Demokratiedefizit eingeschrieben, das neben der Verstetigung sozio-ökonomischer Ungleichheitsverhältnisse politische Apathie und Entfremdung befördere, mit einer Theorie der Demokratie verbunden, die das grundlegend Ungewisse (Claude Lefort),11 das Unabgeschlossene (Jacques Derrida),12 die grundsätzliche Offenheit (Laclau/Mouffe)13 und das Widerständige (Judith Butler)14 des Politischen ins Zentrum rückt. Dieses auf Irritation, Störung, Protest und Widerstand abstellende Demokratieverständnis richtet sich im Wesentli‐ chen gegen zwei Entpolitisierungsstrategien: gegen die Konfliktaversität liberaler 10 Zu den Schnittstellen zwischen Mouffes „konfliktiven Liberalismus“ und Arendts „dissentiven Republikanismus“ vgl. Rzepka/Straßenberger 2014. 11 Lefort 1990. 12 Derrida 2003, S. 62; vgl. auch Derrida 1991, S. 96 f. 13 Laclau/Mouffe 1991, S. 130. 14 Butler 2006, S. 161 f., 236; vgl. auch Butler 1991 sowie Butler 2016.

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Konsenspolitik und gegen die Verrechtlichung politischen Handelns. Recht und Verrechtlichung verstärken aus Sicht radikaler Politiktheorie die Vereinzelung und unterminieren damit die Grundlagen für die Bildung kollektiver Identitäten.15 Die grundlegende Gefahr einer Verrechtlichung der Politik, auf die nicht nur die radikal‐ demokratische Kritik hinweist, besteht darin, dass politische Deutungskonflikte der Verfassung zu juristischen Fragen erklärt und damit aus dem öffentlich-politischen Raum der Austragung von Streitfragen ausgeschlossen werden: „Aus Einhegung wird Einengung – und zwar dort, wo dem demokratischen Prozess der Raum der Willens- und Entscheidungsbildung genommen wird, um Politikwechsel zu vollzie‐ hen, die sich durch geänderte Problemlagen oder veränderte Mehrheiten ergeben.“16 Auch Chantal Mouffe diagnostiziert eine gefährliche „Verdrängung ‚agonisti‐ scher‘ Konfliktstrukturen“, die den Aufstieg des Rechtspopulismus befördert hat.17 Aber trotz ihrer radikalen Kritik an der liberalen Konsensorientierung und Verrecht‐ lichung politischer Entscheidungen plädiert Mouffe nicht für eine Überwindung der liberalen Demokratie, sondern für eine radikal-pluralistische Reform. Das zeigt sich nicht zuletzt an ihrer Relationierung des Verhältnisses von Politik und Recht. Mouffe zufolge gewinnt die liberale Demokratie ihre Vitalität aus der ihr eigenen „paradoxalen Struktur“, zwei heterogene Traditionen miteinander artikulieren zu müssen, ohne sie restlos vereinbaren zu können: die liberale Tradition, „die von Rechtsstaatlichkeit, der Verteidigung der Menschenrechte und dem Respekt vor individueller Freiheit gekennzeichnet ist“ und die nicht notwendigerweise demokra‐ tisch ist, und die demokratische Tradition mit ihren Hauptideen der Gleichheit, der Identität zwischen Regierenden und Regierten und der Volkssouveränität, die aber nicht notwendigerweise liberal ist.18 Von dieser Stabilisierungsfigur des demokratischen Paradoxes, das nicht einseitig aufgelöst werden dürfe, da dies eine (nachhaltige) Destabilisierung der liberal-demo‐ kratischen Ordnung bewirken würde, ist in ihrer aktuellen Streitschrift Für einen linken Populismus keine Rede mehr. Mouffe präsentiert ihre linkspopulistische Po‐ litisierungsstrategie zwar als einen Vorschlag, wie die postpolitische Praxis in der liberalen Demokratie überwunden und dem Rechtspopulismus wirksam begegnet werden kann, sie stellt damit aber nicht nur die dem liberaldemokratischen Ord‐ nungsmodell attestiert Leistung in Frage, den Antagonismus des Politischen in einen Agonismus zu überführen, sondern auch den normativen Kern ihrer radikal-pluralis‐ tischen Demokratietheorie.19 In der Betonung der ordnungspolitischen Leistung des liberaldemokratischen Modells, Feindschaft in Gegnerschaft zu transformieren und eine integrative Aus‐ 15 16 17 18 19

Volk 2013, S. 77, 87. Vorländer 2019, S. 52. Michelsen 2018, S. 159. Mouffe 2008, S. 20. Vgl. Mouffe 2007, S. 30; Mouffe 2008, S. 26, 29 f., 103 f., 114 f., 129 f.; Mouffe 2014, S. 28, 45.

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tragung von Konflikten zu ermöglichen, geht Mouffe sehr deutlich in Distanz zu radikaldemokratischen Ansätzen, die auf eine Destabilisierung „fixierter Ordnun‐ gen“20 abstellen. Sie selbst bezeichnet ihr Modell der „agonistischen Demokratie“ daher auch als radikal-pluralistisch und nicht als radikal-demokratisch. Damit ist die normative Idee verbunden, dass über eine Pluralisierung der politischen und gesell‐ schaftlichen Kämpfe bzw. Gegner eine Entfeindung gesellschaftlicher Konfliktlagen bewirkt werden kann. Wenngleich Mouffe diese Zähmung der antagonistischen Struktur des Politischen institutionell nicht konkretisiert, versteht sie ihr „Projekt der Radikalisierung der Demokratie“ als eine „radikale“ Reform der liberalen De‐ mokratie, über die das in der elitistischen Praxis verschüttete konfliktive Potential des liberaldemokratischen Ordnungsmodells freigelegt werden kann. An dieser Reformperspektive hält Mouffe zwar auch in ihrer aktuellen Streit‐ schrift Für einen linken Populismus fest, wenn sie – etwa gegen Michael Hardt und Antonio Negri gerichtet21 – betont, dass ein „‚revolutionärer’ Bruch mit dem liberal-demokratischen Regime“ unnötig und eine „Umwälzung der bestehenden he‐ gemonialen Ordnung“ möglich ist, „ohne die liberalen, demokratischen Institutionen zu zerstören“.22 Zugleich aber verabschiedet sie sich in diesem Buch, das „als politi‐ sche Intervention“ gedacht ist und „aus seiner Parteilichkeit keinen Hehl“ macht,23 analytisch und politisch von ihrer „alten“ stabilitätspolitischen Idee, antagonistische Konflikte über die Pluralisierung von Konfliktparteien einzuhegen. Ungeachtet der Skepsis, ob eine linke populistische Bewegung sich auf den gemeinsamen Nenner bringen lässt, die neoliberalen Eliten und den globalisierten Kapitalismus zum Feindbild zu erklären, während der Kampf um soziale und politische Teilhabe für und mit Migrantinnen und anderen Minderheiten geführt wird, bleibt unklar, ob und wie dieser „linke Populismus“ zur Revitalisierung der verschütteten liberal-demo‐ kratischen Konfliktkultur konkret beiträgt. Oder stärker formuliert: Die von Mouffe in Anschlag gebrachte Therapie gegen die Entpolitisierungs- und Entfremdungspro‐ zesse innerhalb liberaler Demokratien verschlimmert die Krankheit. Populistische Politik, die als eine Form radikaldemokratischer Protestartikulation gegen politische Entfremdungsprozesse aufgeboten wird, wirkt als Entfremdungsbeschleuniger, inso‐ fern über eine polarisierende politische Lagerbildung soziale und kulturelle Unter‐ schiede politisiert und verstärkt werden. Mouffe versucht sich gegen diesen Einwand zu immunisieren, indem sie zwi‐ schen einem „progressiven“ Linkspopulismus,24 der mit der liberalen Norm pluraler Identitäten und der Anerkennung von Minderheitenrechten vereinbar ist, und einem antipluralistischen Rechtspopulismus unterscheidet, der auf politische Homogenität 20 21 22 23 24

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Richter 2016, S. 59. Mouffe 2018, S. 66 f. Mouffe 2018, S. 47. Mouffe 2018, S. 19. Mouffe 2018, S. 46.

und den sozialen Ausschluss von Minderheiten abstellt. Diese eher politischen Prä‐ ferenzen als analytisch belastbaren Kriterien folgende normative Unterscheidung zwischen einem progressiven Links- und einem regressiven Rechtspopulismus läuft auf das „hölzerne Eisen“ eines „pluralistischen Populismus“ hinaus. Wie Mouffe selbst schreibt, forciert populistische Politik eine polarisierende Spaltung des politi‐ schen Diskursraumes. Dass über eine solche Radikalisierung von Interessen-, Wertund Identitätskonflikten die Konfliktbearbeitungsfähigkeit der liberalen Demokratie gestärkt wird, ist eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist vielmehr eine den li‐ beral-demokratischen Ordnungsrahmen sprengende Re-Transformation von Gegner‐ schaft in Feindschaft. In dem Versuch, Pluralismus und Populismus in dem Oxymo‐ ron eines „pluralistischen Populismus“ zu verbinden, verabschiedet Mouffe überdies die krisendiagnostische Qualität des Populismusbegriffs, politische Entfremdungs‐ prozesse in der liberalen Eliten-Demokratie ebenso aufzuzeigen wie die populisti‐ sche Versuchung zu markieren, komplexe Probleme auf einfache Lösungen zu redu‐ zieren. Schließlich bleibt in der populistischen Wendung der „agonistischen Demo‐ kratie“ unklar, wie die für die liberale Demokratie konstitutive Spannung zwischen liberalen Freiheitsrechten und demokratischer Gleichheit aufrechterhalten werden kann. Mouffe überschätzt die stabilisierenden Effekte radikaler Protestartikulation und unterschätzt die stabilisierenden Leistungen der Autorität liberaldemokratischer Verfassungsordnungen. Die sich selbst nicht als Radikaldemokratin verstehende Konflikttheoretikerin Mouffe teilt letztlich das „postautoritäre Missverständnis“ der radikalen Demokrati‐ etheorie, wonach Autorität als herrschaftliche Schließung politischer Freiheitsräume verstanden wird, die dem Versprechen der Demokratie auf emanzipative Selbstregie‐ rung zuwiderläuft.25 Das schließt auch und vielleicht sogar in besonderer Weise die Autorität des Rechts und juristischer Institutionen wie Eliten mit ein. Dass die Demokratie nur im Rechtsstaat fortbestehen kann, ist eine normative Annahme, die radikaldemokratische Agonisten nicht teilen. Demgegenüber vertrauen republikani‐ sche Denkerinnen nicht allein auf das Selbstbegrenzungspotenzial demokratischer Konfliktaustragung. Wie im Folgenden an der Ordnungsvorstellung des „dissentiven Republikanismus“ von Hannah Arendt dargestellt werden soll, wird der Austragung von Konflikten die hegende Funktion von Autorität zur Seite gestellt.

2.2. Hannah Arendt: über das Verhältnis von Macht und Autorität Der antiautoritäre Gestus begleitete die radikale Demokratietheorie von Anfang an und gehört zum normativen Kernbestand dieser radikal-kritischen Theoriebewe‐

25 Vgl. Straßenberger 2018 b.

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gung. Gegen die Opposition von Freiheit und Autorität besteht Hannah Arendt in normativer wie stabilitätspolitischer Hinsicht auf den wechselseitig konstitutiven Verweisungszusammenhang von Autorität und Demokratie. So plädiert sie sehr eindeutig für die Begrenzung demokratischer Handlungsmacht. Eine solche Begren‐ zung leistet zuvorderst die Verfassung, die Arendt als ein auf die Zukunft hin entworfenes Versprechen versteht, das im politischen Bereich der Kontingenz Ver‐ bindlichkeit schafft.26 Die republikanische Verfassung verdankt sich zwar einem genuin demokratischen Akt der Autorisierung „von unten“, schafft aber keine „rein“ demokratische Ordnung. Vielmehr begrenzt sie die Macht des „Volkes“ bzw. jener Gruppen, die jeweils für sich in Anspruch nehmen, das Volk zu sein oder es zu repräsentieren.27 Für diese starke republikanische Vorstellung, dass politisches Handeln an Verfas‐ sungsprinzipien, Gesetze und Spielregeln gebunden ist, nimmt Arendt eine begriffs‐ theoretisch folgenreiche Umdeutung vor. Gegen Max Webers wirkungsmächtige Amalgamierung von Autorität mit Herrschaft und Macht verteidigt sie einen positi‐ ven, mit Freiheit und Demokratie kompatiblen Begriff von Autorität. Vor allem in ihrem Aufsatz „Was ist Autorität“ von 1956, aber auch in der begriffstheoretischen Studie Macht und Gewalt von 1970 entwickelt Arendt im ideengeschichtlichen Rekurs auf die römisch-republikanische Unterscheidung zwischen auctoritas und potestas ein nicht-herrschaftliches Konzept von Autorität, betont aber zugleich die hierarchische Dimension dieser Anerkennungsbeziehung.28 Arendt hält damit die dem römisch-republikanischen Autoritätskonzept inhärente Spannung zur Demokra‐ tie nicht nur aufrecht, sondern erkennt in der fraglosen Ankerkennung von Hierar‐ chie gerade die stabilisierende Funktion von Autorität für demokratische Ordnun‐ gen. Sie ergänzt damit die horizontal-egalitäre Verfasstheit demokratischer Politik um eine hierarchisch-elitäre Dimension.29 Doch obgleich Arendt Autorität als eine hierarchische Anerkennungsbeziehung fasst, die mit freiwilligem Gehorsam einher‐ geht, was sowohl dem demokratischen Anspruch auf Gleichheit zuwiderläuft als auch das demokratische Prinzip der Kritik mindestens temporär suspendiert, wendet sie sich vehement gegen die Weberianische Verschwisterung von Autorität und legitimer Herrschaft. Autorität begründet aus Arendts Sicht gerade kein politisches Herrschaftsverhältnis, sondern sichert als – institutionell von demokratischer Hand‐ lungsmacht wie von politischer Entscheidungsbefugnis unterschiedene – Instanz

26 Die Verbindlichkeit von Versprechen diskutiert Arendt exemplarisch anhand der US-amerika‐ nischen Verfassungsgebung und hier vor allem im fünften Kapitel von Über die Revolution (Arendt 1994a, S. 232-276). 27 Vgl. Straßenberger 2015. 28 Arendt 1994 b, S. 159; vgl. auch Arendt 1990, S. 46f. 29 vgl. Straßenberger 2018 b, S. 69.

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ratgebender Kompetenz die Freiheit in der Demokratie gegen deren populistische Versuchungen.30 Zum politischen Bezugspunkt für Arendts nicht-herrschaftliches Konzept demo‐ kratischer Autorität wird die US-amerikanische Verfassung. Die Republikanerin er‐ kennt hier eine neue Macht-Autorität-Balance, die bürgerschaftliche Selbstregierung gleichermaßen ermöglicht wie begrenzt. So gehört es für Arendt zwar zu den grund‐ sätzlichen Leistungen eines Verfassungsstaates, die Macht der gesetzgebenden Ge‐ walt zu begrenzen und den Einzelnen vor willkürlichen Eingriffen der Staatsgewalt zu schützen, aber dies ist auf lange Sicht nur möglich, wenn die Verfassung positive Partizipationsrechte sichert, die von den Bürgern auch aktiv in Anspruch genommen werden. Die Freiheit des Einzelnen, unabhängig von staatlichen Eingriffen seine individuellen Lebensentwürfe zu realisieren, hat die gesetzliche Möglichkeit und die Bereitschaft der Bürger zur Voraussetzung, durch gemeinsames machtvolles Handeln die Verfassung der Freiheit in ihren negativen Schutzrechten wie, dem vorausgehend, den positiven Partizipationsrechten zu unterstützen. – Die Pflicht zum Engagement wird zur Grundlage für die Inanspruchnahme bürgerlicher Freiheiten, aber nicht in der simplifizierenden Lesart, der zufolge Pflichten Rechte begründen, sondern in einem qualifizierten republikanischen Verfassungsverständnis, dass erst durch die aktive Inanspruchnahme positiver politischer Freiheitsrechte die negati‐ ven, liberalen Schutzrechte wirksam gesichert werden können. Die Verfassung und – daraus abgeleitet – die Verfassungsrichter genießen nämlich nur solange Autorität, wie das gegenseitige Versprechen, das diesem Bündnis zugrunde liegt, beständig revitalisiert wird. Den demokratischen Verfassungsgebungsprozess, der diesem re‐ publikanischen Bündnis zugrunde liegt, reinterpretiert Arendt als einen Akt der kommunikativen Autorisierung „von unten“.31 Über den machtvollen Akt der Verfassungsgebung wurde Arendt zufolge eine neue, auf Gesetze gegründete politische Ordnung gestiftet, zugleich aber wurde durch die „Heiligsprechung der Verfassung“ dieser im Verfassungstext dokumentier‐ ten demokratischen Gründungsleistung eine Autorität zugesprochen, die dem demo‐ kratischen Zugriff enthoben sein sollte. Arendt sieht in der performativen Setzung, der Verfassung eine verbindliche Autorität zuzusprechen, den Beweis dafür, dass handelnde Menschen imstande sind, ohne Bezug auf ein Absolutes, allein im Ver‐ trauen auf die verbindliche Macht gegenseitigen Versprechens, einen neuen Anfang zu machen. Dieser performative Akt der Stiftung stellt eine politische Selbstbindung besonderer Art dar: Indem der Verfassung als Dokument des revolutionären Neube‐ ginns eine dem wechselhaften Willen demokratischer Mehrheiten entzogene „heili‐ 30 Zur Unterscheidung von Autorität von Herrschaft wie von Macht vgl. Straßenberger 2018 b, S. 70. 31 Zu Arendts performativer Deutung der US-amerikanischen Verfassung vgl. Straßenberger 2015.

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ge“ Autorität zugesprochen und zugleich einer kleinen Gruppe von auf Lebenszeit berufenen Richtern die Kompetenz zugewiesen wurde, die Verfassung autoritativ auszulegen, ist eine erhebliche politische Entmachtung des Souveräns verbunden. Danach kommt es allein den Mitgliedern des Obersten Gerichtshofes zu, die Verfas‐ sung auszulegen und das heißt durch Interpretation ständig neu zu formulieren und dadurch lebendig zu erhalten. Der Oberste Gerichtshof wird damit, wie Arendt poin‐ tiert, zu einer „Art verfassungsgebender Versammlung, die in Permanenz tagt“.32 Allerdings stellt gerade diese klare institutionelle Zuordnung der Interpretationsho‐ heit die Macht-Autorität-Differenzierung in Frage. Auf die Gefahr einer einseitigen Aufhebung des immer fragilen Kräfteverhält‐ nisses zwischen demokratischer Bürger-Macht und verfassungsrechtlicher Autorität verweisen auch Jürgen Gebhardt und Hans Vorländer: Indem nämlich der Supreme Court für sich das Recht in Anspruch nimmt, die Gesetzgebung der Legislative auf ihre Verfassungskonformität hin zu prüfen, nimmt er zwar im römischen Sinne die auctoritas wahr,33 in der weiteren Verfassungspraxis aber führte dies zu einer erheblichen Stärkung seiner gestaltenden Funktion. Vorländer zufolge entwickelte das amerikanische Verfassungsgericht an der Wende zum 20. Jahrhundert eine „ak‐ tivistische Rechtsprechungspraxis“: Bis zu Franklin Delano Roosevelts Programm des New Deal agierte das Verfassungsgericht als Hüterin einer Laissez-faire-Wirt‐ schaftsordnung und ging dann insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer stärkeren Aktivierung der Grundrechte über: etwa 1954 mit der Aufhebung der Rassendiskriminierung oder der Erklärung über die Verfassungsmäßigkeit der Af‐ firmative-Action-Programme für die Bevorzugung von Angehörigen ehemals diskri‐ minierter Minderheiten bei universitären Zulassungsregeln. In der Aktivierung der Grundrechte offenbarte der Supreme Court, dass er nicht nur eine limitierende, sondern auch eine gestaltende Funktion innehatte. Einerseits wurde damit deutlich, so Vorländer, „daß eine Verfassung, die über lange Dauer gilt [...], sich zu ihrer fort‐ dauernden Geltung aus den Ursprungskontexten lösen kann und zu ihrer normativen Geltung auf die jeweilige Aktualisierung und Anwendung durch eine zur autoritati‐ ven Auslegung berufenen Instanz, die Verfassungsgerichtsbarkeit, angewiesen ist: Der Preis ist indes, daß die Verfassung nur noch so gilt, wie das Verfassungsgericht die Verfassung auslegt.“34 In ihrer konflikttheoretischen Deutung des Verfassungsversprechen, dessen politi‐ sche Verbindlichkeit immer wieder durch zivilpolitische Reinterpretationen erneuert werden muss, stellt Arendt allerdings auf eine kulturalistische Wendung der Verfas‐ sungstheorie ab, die der elitären Deutung, der Oberste Gerichtshof sei der alleinige Interpret der Verfassung, zuwiderläuft. Arendts kulturalistischer Auffassung zufolge 32 Arendt 1994 a, S. 258. 33 Gebhardt 1993, S. 35. 34 Vorländer 2004, S. 52 f.

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sind wir alle als Bürgerinnen und Bürger der republikanischen Demokratie Verfas‐ sungsinterpreten. Das schließt auch die Umdeutung des Versprechens und der ihnen zugrundeliegenden Abkommen und Vereinbarungen ein, wobei es die politische Öf‐ fentlichkeit ist, der gegenüber diese Umdeutung überzeugend vermittelt werden muss. In dieser performativen Deutung des amerikanischen Verfassungskompromis‐ ses stellt Arendt auf das emanzipative Potenzial politischer Interpretation ab. Im Raum des Politischen, der durch Handeln und Sprechen erst konstituiert wird und in dem die politischen Institutionen machtvolle Manifestationen gegenseitigen Verspre‐ chens darstellen, ist es immer möglich, über ihre wiederholende Rezeption politische Handlungsfähigkeit zu generieren. In der grundsätzlichen Offenheit für Konflikte wie für ihre kommunikative Be‐ arbeitung sieht Arendt die große integrative Leistung dieser Form der politischen Übereinkunft, die sie auch als compromissum bezeichnet. Diese republikanische Übereinkunft schließt das „radikale“ Versprechen ein, dass initiatives, politische Veränderungen bewirkendes Handeln nicht auf die Gründergeneration beschränkt bleiben darf. Damit ist freilich auch gesagt, dass für Arendt die US-amerikanische Verfassung letztlich keinen sakralen Charakter hat. Zwar sieht sie in der „Heilig‐ sprechung der Verfassung“ den Beweis dafür, dass politische Akteure imstande sind, selbst einen Anfang zu setzen, macht aber den Bestand der Verfassung davon abhängig, ob sie die dem gegenseitigen Versprechen inhärente Offenheit für neue politische Akteure, für neue Formen politischen Handelns und damit auch für radi‐ kale Interpretationen des Verfassungsversprechens aufrecht zu erhalten vermag. In dieser performativen Deutung der Verfassung wird – so ließe sich Arendts auf der Schnittstelle zwischen radikaler und liberaler Politiktheorie balancierender dissenti‐ ver Republikanismus charakterisieren – die Autorität der Verfassung und der Verfas‐ sungsrichter mit der demokratischen Macht der Interpretation in einer Konzeption dynamischer Stabilität vermittelt.

3. Die prekäre Balance von Demokratie und Recht Der dissentive Republikanismus konzeptionalisiert das Verhältnis von Macht und Autorität in der Norm dynamischer Stabilität. Politische Stabilität ist hier kein sta‐ tischer Zustand, sondern eine anspruchsvolle Ausbalancierung zwischen Offenheit und Geschlossenheit, zwischen machtvollem initiativem Handeln und seiner auto‐ ritativen Begrenzung. In dieser normative und stabilitätspolitische Überlegungen verbindenden Behauptung eines wechselseitig konstitutiven Zusammenhangs von Autorität und Demokratie wird die radikaldemokratische Opposition von Stabilisie‐ rung und Destabilisierung ebenso aufgelöst wie die zwischen dem Politischen und

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der Politik. 35 Politisch im republikanischen Sinne sind jene Ordnungen, die die kon‐ fliktive Pluralität des Politischen gestalten, ohne auf Mechanismen der herrschaftli‐ chen Domestizierung des Konflikts zurückzugreifen. Dass Wert-, Interessen- und Identitätskonflikte autoritativ begrenzt werden müssen, da andernfalls die immer fragil bleibende Ordnung politischer Freiheit erodiert, gehört dabei ebenso zu den republikanischen Grundüberzeugungen wie die erfahrungsgestützte Einsicht, dass politische Gemeinwesen nur dauerhaft sind, wenn die Institutionenordnung aktives Bürgerhandeln ermöglicht und demokratische Innovationen befördert. Während der republikanische Ansatz agonaler Politiktheorie, wie er hier exem‐ plarisch an Hannah Arendts dissentiven Republikanismus dargestellt wurde, die institutionelle Ausbalancierung von demokratischer Handlungsmacht und rechtlicher Autorität mit der Zeit- und Erfahrungsdimension des Politischen verbindet, sind Dauerhaftigkeit und erfahrungsgestütztes Wissen für die radikale Demokratietheo‐ rie keine Kriterien, an denen die Qualität der Demokratie gemessen wird. Das gilt letztlich auch für Chantal Mouffes radikal-pluralistische Konzeption agonisti‐ scher Demokratie. Zwar geht Mouffe sehr deutlich auf Distanz zur radikalen Demo‐ kratietheorie, wenn sie dem liberal-demokratischen Ordnungsmodell grundsätzlich attestiert, die Spannung zwischen liberalen Freiheitsrechten und demokratischer Handlungsmacht aufrechtzuerhalten und damit die konfligierenden Normen von Recht und Politik zu vermitteln, aber dass Demokratie nur im Rechtsstaat bestehen und fortbestehen kann, hält sie für ein „kontingentes Konstrukt“, das „zweifellos unsere Loyalität“ verdient, aber nicht universalisiert werden kann und sollte.36 In ihrer kritischen Verteidigung dieses „kontingenten Konstrukts“ bietet Mouffe jedoch keine konkreten Vorschläge, wie eine konfliktaffine liberale Demokratie institutionell aufgestellt und dauerhaft stabilisiert werden kann. Damit bleibt nicht nur die entscheidende Frage nach der Domestizierung des Konflikts offen, sondern auch Mouffes vielversprechendes Projekt unvollendet, die verschüttete Tradition eines konfliktiven Liberalismus zu revitalisieren und damit eine neue, eine andere Erzählung des Liberalismus gegen seine Gegner oder gar Feinde zu verteidigen.37 Die linkspopulistische Wendung der agonistischen Demokratie leistet dies eindeutig nicht – im Gegenteil: Die populistische Freund-Feind-Polarisierung ist mit einem pluralistischen Liberalismus ebenso wenig kompatibel wie mit autoritativen Begren‐ zungen durch den liberalen Rechtsstaat. Demgegenüber stellt der dissentive Republikanismus von Arendt auf eine „Ent‐ hierarchisierung von Recht und Politik“ ab.38 Arendt hält einerseits an dem nor‐ 35 Zur postfundamentalistischen Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen vgl. Marchart 2010. 36 Mouffe 2014, S. 58. 37 Zu Mouffes Neuerzählung eines konfliktaffinen, pluralistischen Liberalismus vgl. Rzep‐ ka/Straßenberger 2014. 38 Volk 2013, S. 104.

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mativen Ideal einer demokratischen Öffentlichkeit fest, in der Streit und Dissens sichtbar ausgetragen werden, verweist aber zugleich auf das stabilisierende Wirken von juristischen wie im Weiteren wissenschaftlichen und kulturellen Eliten, die ihre je spezifische, von wechselnden demokratischen Mehrheiten und populistischen Stimmungen unabhängige Autorität geltend machen, um polarisierende, die demo‐ kratische Gesellschaft spaltende politische Protestpraxen zu begrenzen. Autorität ist hier nicht das Andere demokratischer Selbstregierung. Vielmehr wird die Freiheit und Autorität verbindende Norm dynamischer Stabilität zum Maßstab für die Kon‐ fliktbearbeitungsfähigkeit demokratischer Ordnungen. Diese Lösung bleibt freilich grundsätzlich prekär, weil hier zwei konfligierende Souveränitätsansprüche – der demokratische und der konstitutionelle Anspruch – ausbalanciert werden müssen.39 Die Stabilisierung dieser „empfindlichen Balance“ verlangt nicht nur ein konfliktaffines Institutionensystem, das Räume für initiati‐ ves, routinierte Politikprozesse aufbrechendes Handeln eröffnet und zugleich robust genug ist, eskalierende, den liberaldemokratischen Verfassungsstaat sprengende Pro‐ testpraxen zu begrenzen, sondern verweist auf eine politische Kultur der Konflikt‐ austragung, die dafür sorgt, dass das politische Band, das durch die Austragung pluralistischer Konflikte erst entsteht und nur durch sie fortbesteht, nicht überstra‐ paziert wird. Arendt stellt damit auf republikanische Korrekturen der liberalen De‐ mokratie ab: Die Verfassung schützt nicht nur individuelle Freiheitsrechte, sondern – dem gewissermaßen vorausgehend – politische Partizipationsrechte, die von den Bürgern aktiv in Anspruch genommen werden müssen. Aber die Inanspruchnahme der politischen Rechte auf Partizipation, Protest und zivilen Ungehorsam sind an „Spielregeln“ gebunden, die in der demokratischen Verfassung festgelegt sind. Diese Spielregeln sind zwar interpretationsoffen, begrenzen aber zugleich den politischen Möglichkeitsraum. Das ist der Preis, der aus republikanischer Sicht für die Institu‐ tionalisierung demokratischer Freiheit gezahlt werden muss.

Bibliographie Arendt, Hannah, 1994a: Über die Revolution. München. Arendt, Hannah, 1994b: Was ist Autorität? In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hrsg. v. Ludz, Ursula, München, S. 159-200. Arendt, Hannah, 1990: Macht und Gewalt. München. Bluhm, Harald/Malowitz, Karsten, 2012: Integration durch Konflikt. Zum Programm zivilge‐ sellschaftlicher Demokratie. In: Lembcke, Oliver/Ritzi, Claudia/Schaal, Gary (Hrsg.), 2012: Zeitgenössische Demokratietheorie. Band 1. Normative Demokratietheorien, Wies‐ baden, S. 189-222.

39 Vorländer 2019, S. 55.

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Frieder Vogelmann „Autonomie“ als Prinzip politischer Rationalität. Eine Blockade unserer politischen Vorstellungskraft?

Sollte es wirklich einfacher sein, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus,1 so würde die normative politische Philosophie dieses Ende der Welt anhand der Rechte verstehen wollen, die in ihm verletzt werden. Und sicherlich gäbe es jemanden, der dagegen klagen würde. Denn nichts geht ohne das Recht in unserer politischen Vorstellungskraft, weder in unseren wirklichen, erhofften oder gar erträumten politischen Praktiken noch in unseren politischen Theorien. Politik ohne Recht scheint unvorstellbar, solange Politik nicht mit Tyrannei zusammenfallen soll. Recht ohne Politik dagegen ist der in unmittelbare Reichweite gerückte büro‐ kratische Traum all jener, die mit Kant glauben, Politik zur „ausübende Rechtslehre“ degradieren zu können.2 Die Vermutung, der ich im Folgenden nachgehen möchte, ist, dass unsere Unfä‐ higkeit, emanzipatorische Politik jenseits des Rechts auch nur zu denken, ein Sym‐ ptom der Verarmung unserer politischen Vorstellungskraft darstellt, deren paradoxer Grund in der fatalen Überzeugung besteht, wir wüssten bereits, welches Prinzip jeder akzeptablen politischen Rationalität zugrunde liegen muss. Dabei bezeichnet der von Michel Foucault übernommene Begriff „politische Rationalität“ die in poli‐ tischen Praktiken verkörperte und diese anleitende Vernunft, die historisch wandel‐ bar ist und nie ungebrochen umgesetzt wird.3 An zwei eng miteinander verknüpfte Ideen Foucaults möchte ich damit anschließen: Erstens mündet seine kritisch-histo‐ rische Analyse der verschiedenen europäischen politischen Rationalitäten seit dem 16. Jahrhundert bekanntlich unter anderem in der These, der Sozialismus habe es versäumt, eine eigene politische Rationalität zu entwickeln. Es gibt keine Regierungsrationalität des Sozialismus. […] Er funktionierte und funktio‐ niert immer noch in Gouvernementalitäten, die wohl mehr auf dem beruhen, was wir […] Polizeistaat genannt haben, d. h. ein hyperadministrativer Staat, in dem zwischen der Gouvernementalität und der Verwaltung gewissermaßen eine Verschmelzung, Kon‐ tinuität, eine Verfaßtheit als massiver Block herrscht. Vielleicht gibt es noch andere Gouvernementalitäten, an die sich der Sozialismus angeschlossen hat. Das muß man

1 Vgl. Jameson 1994, S. xii. 2 Kant 2006, S. 229. 3 Foucault gebraucht „politische Rationalität“, „Regierungsrationalität“ oder auch „Gouverne‐ mentalität“ häufig gleichbedeutend, vgl. z.B. Foucault 2004a, S. 13–44, 2005b, S. 1014 f.

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noch sehen. Ich glaube aber jedenfalls nicht, daß es im Augenblick eine autonome Gouvernementalität des Sozialismus gibt.4

Die zweite Idee besteht in Foucaults so konventioneller wie naiver Behauptung, eine solche neue, weder liberale noch totalitär-bürokratische politische Rationalität zu erschaffen, lasse sich als Aufgabe verstehen, eine „Ausübung der Macht zu erfinden, die keine Furcht bereitet“.5 Naiv ist Foucaults Behauptung, weil der Begriff der Furcht oder Angst (zwischen denen ich im Folgenden keinen Unterschied machen werde)6 normativ unterspezifi‐ ziert ist. Schließlich sollten wir nicht voraussetzen, dass alle gleichermaßen furchtlos in Bezug auf bestimmte Vollzüge von Macht sein werden, und wir sollten ebenso wenig bereit sein, jede geäußerte Angst als berechtigt anzuerkennen. Manche Ängste sprichwörtlich besorgter Bürger_innen muss man kritisieren, anstatt ihnen durch Aufmerksamkeit Dignität zu verleihen.7 Darüber hinaus ist Foucaults Aufforderung konventionell, weil sie nur jene Frage zu wiederholen scheint, die die (liberale) politische Philosophie seit einigen Jahrhunderten wieder und wieder beantwortet hat. Auf die Naivität werde ich am Ende zurückkommen; die Konventionalität von Foucaults Aufforderung liefert mir einen idealen Ausgangspunkt, indem ich im ersten Schritt die abstrakten Umrisse der liberalen Antwort untersuche, die die politische Philosophie auf die Frage gibt, wie Macht so ausgeübt werden kann, dass diejenigen, die diese Machtausübung ertragen müssen, dennoch keine Angst haben müssen (I). Im zweiten Schritt werde ich Kritik daran üben, indem ich darstelle, wie viel Angst die liberale Antwort verdrängt und verdrängen muss, um überhaupt als Antwort gelten zu können (II). Zuletzt werde ich argumentieren, dass die liberale Antwort Angst nicht nur verdrängt, sondern zudem Angst vor Alternativen schürt und daher zur Blockade unserer politischen Fantasie wird (III). Erst wenn wir die liberale Antwort und damit einen Großteil des aus der politischen Philosophie Ver‐ trauten anders zu sehen lernen, schaffen wir Raum für neue Antworten auf Foucaults alte, ungeniert naive und konventionelle gestellte Frage.

4 Foucault 2004a, S. 134 f. Tatsächlich gibt Indizien dafür, dass Foucault die Frage, wie sich eine neue politische Rationalität erfinden ließe, noch 1983 umtrieb. Mehr als der Vorschlag für ein Weißbuch über sozialistische Politik und einer Sammlung von Zeitungsartikeln kam jedoch nicht dabei raus (vgl. Defert 2001, S. 101 f., Eribon 1993, S. 441 f., Macey 1993, S. 460 f.). 5 Foucault 2003, S. 98. 6 Die klassische Unterscheidung wird gerne auf Søren Kierkegaard zurückgeführt; demnach im‐ pliziert Furcht ein spezifisches Objekt, vor dem man sich fürchtet, während Angst kein solches Objekt hat, sondern unbestimmt (und daher existenziell schwerwiegender) ist: vgl. Kierkegaard 1971, Kapitel 1, § 5. Ich greife weder auf Kierkegaards eigene Überlegungen zurück noch auf die darauf sich stützende phänomenologische Tradition, in der „Angst“ als besondere Stimmung verstanden wird, die einen direkten Zugang zur Existenzweise des Menschen eröffnet. Für Kri‐ tik an der allzu einfachen Unterscheidung und den Hinweis, dass der Affekt Angst nicht ohne Bezug zum Begriff der Macht zu analysieren ist, vgl. Fink-Eitel 1994. 7 Bröckling 2016.

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I. Autonomie: Angstlosigkeit durch Willkürschutz und Reflexivität Wie also kann Macht so ausgeübt werden, dass die Regierten keine Angst vor die‐ ser Machtausübung der Regierenden haben müssen?8 Die dominante Tradition der modernen politischen Philosophie – grob gesagt: seit Thomas Hobbes’ Leviathan (1651) – gibt darauf eine liberale Antwort, ja lässt sich historisch als Entwicklung dieser liberalen Antwort verstehen.9 Diese Antwort soll allerdings nicht einfach Angst überhaupt, sondern unnötige Angst vermeiden. Sie besteht aus zwei Teilen: die erste betrifft die Reflexivität von Machtausübung („auto“), die zweite setzt das exklusive Medium von Machtausübung fest, nämlich das Recht („nomos“). Zusam‐ mengenommen lautet die liberale Antwort auf die Frage, wie unnötige Angst der Regierten vor der Machtausübung der Regierenden vermieden werden kann, also „Autonomie“. Der Teil der liberalen Antwort, wonach das exklusive Medium der Machtaus‐ übung das Recht sein muss, wird im Slogan „rule of law not of men“ zusammen‐ gefasst – eine bekannte Formel, deren genaue Ursprünge erstaunlich schwer zu lokalisieren sind. Zwar kann der Wortlaut auf das 19. Jahrhunderts datiert werden, doch das Argument dahinter ist bereits früher zu finden, etwa bei Montesquieu oder bei John Lock.10 Das Recht zum allein zulässigen Medium der Machtausübung zu machen soll auf drei Weisen die Angst vor willkürlicher Machtausübung mindern: Erstens springt das Recht als ambivalente Rechtfertigungsinstanz sowohl für als auch gegen die Zumutung ein, anderen Menschen gehorchen zu müssen. Die darin präsente Willkür, sich einem gleichartigen Wesen unterordnen zu sollen, braucht spätestens mit dem Wegfallen transzendenter Herrschaftsbegründungen eine neue Legitimation. Wenn es keinen göttlichen Auftrag, keine kategoriale Differenz zwi‐ schen den Menschen mehr gibt, die sich als Gleiche erkannt haben, dann gibt es auch keine Rechtfertigung mehr, welche die einen zu Regierenden und die ande‐ ren zu Regierten macht. Das Recht befördert diese Detranszendentalisierung11 und Ein Wort zur Terminologie: Ich gehe mit Foucault davon aus, dass Macht relational, strategisch und produktiv ist. Macht auszuüben etabliert, stärkt oder verändert insofern asymmetrische Machtbeziehungen zwischen mindestens zwei Parteien, die ich im Folgenden als Regierende und Regierte bezeichnen werden. Regierung verwende ich also in einem weiten Sinne. Die Un‐ terscheidung mancher Foucault-Interpret_innen zwischen Machtbeziehungen, Regierungsspie‐ len und Herrschaft im Sinne von mehr oder weniger reversiblen Machtbeziehungen (vgl. z.B. Lemke 1997, S. 307–310, Allen 1999, S. 43–47, 57) mache ich damit nicht mit; sie scheint mir sachlich nicht hilfreich und exegetisch nicht haltbar (vgl. dazu Vogelmann 2016, S. 7–11). 9 So z.B. Frankenberg 2010, S. 187–189 oder Shklar 1998a, S. 12. 10 Vgl. z.B. Montesquieu 1992, Buch VI, Kapitel 3 und 6, Locke 1977, Teil II, § 137. Shklar 1998b hebt die Befreiung von Furcht vor den Regierenden durch die „rule of law“ bei Montes‐ quieu besonders hervor und sieht darin eine zweite Tradition des Verständnisses der „rule of law“ begründet, die sie gegen das traditionelle Verständnis abgrenzt, das sie Aristoteles zu‐ schreibt. Zur Datierung der Formel und ihrer begrifflichen Geschichte vgl. Costa 2007 und Zolo 2007. 11 Vgl. dazu Brunkhorst 2014, S. 90–146. 8

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nimmt uns damit die Angst vor den sakralen anderen, die über uns stehen und deshalb Gehorsam und Ehrfurcht erwarten. Zweitens richtet sich die Formel gegen willkürliche Machtausübung, gegen personale Herrschaft durch Befehle ebenso wie gegen unkontrollierbare Machtaus‐ übung per Dekret. Gesetze werden dafür als konstitutiv „allgemein“ verstanden, als generelle Regeln, deren Form sicherstellen soll, dass sie keine Ungleichbehandlun‐ gen einführen.12 Dies stößt zwar auf beträchtliche Probleme, weil eine allgemeine Formulierung von für alle verbindlichen Regeln nicht qua allgemeiner Form die Diskriminierung Einzelner ausschließen kann.13 Dennoch dürfte die größere Bere‐ chenbarkeit von Machtausübung im Medium des Rechts und die Tatsache, dass direkt gegen einzelne Personen und Gruppen gerichtete Dekrete nicht mehr ganz so einfach als Herrschaftsinstrument zur Verfügung stehen, angstmindernd wirken. Drittens schreibt die „rule of law“, wenn man sie im Sinne des (in Deutschland freilich erst sehr spät emanzipativ gewendeten) Rechtsstaatsgedankens deutet, nicht nur das Regieren über Gesetzen vor, sondern auch das gesetzliche Regieren: Jeder Regierungsakt muss durch Gesetze erfolgen und legal sein. Die Formel universali‐ siert das Recht insofern, als es ohne Ausnahme auch für diejenigen gilt, die Recht setzen – und für diejenigen, die Recht sprechen. Die darin angelegte Egalisierung (weil erst damit vom gleichen Recht für alle und von der Gleichheit der Rechtsper‐ sonen untereinander gesprochen werden kann) schützt vor willkürlicher Machtaus‐ übung, da die Willkür der Regierenden im Medium desselben Rechts, mit dem sie herrschen, verfolgt werden kann. Die Hoffnung, dadurch Einsicht und Willkürver‐ zicht zu erreichen, reduziert die Angst der Regierten vor den Regierenden. Das Leitmotiv der ersten Hälfte der liberalen Antwort auf die Frage, wie Macht so ausgeübt werden kann, dass die Regierten keine unnötige Angst vor den Regie‐ renden haben müssen, ist also Schutz vor Willkürherrschaft: Wenn es Machtaus‐ übung gibt, gibt es zwangsläufig zwei Parteien, zwischen denen eine Machtasymme‐ trie entsteht. Daher gilt es Vorkehrungen zu schaffen, um die schwächere der beiden Parteien, die Regierten, vor der Willkür der stärkeren, den Regierenden, zu schützen. Das Recht zum exklusiven Medium der Machtausübung zu machen, dient genau dazu. Das Leitmotiv der zweiten Hälfte der liberalen Antwort ist dagegen Freiheitssi‐ cherung durch Reflexivität und beginnt mit einer einfachen Frage: Muss es über‐ haupt bei jeder Ausübung von Macht zwei Parteien geben? Könnte es nicht sein, dass beide Parteien nur ihren Rollen in den Machtbeziehungen nach verschieden 12 Franz Neumann betont diese Funktion, auch wenn er der Allgemeinheit von Gesetzen in der bürgerlichen Gesellschaft darüber hinaus die Aufgabe zuschreibt, „das ökonomische System berechenbar zu machen“ (Neumann 1986a, S. 50) und die Herrschaft des Bürgertums zu ver‐ schleiern. Schön zu beobachten ist die Verquickung dieser drei Funktionen bei Frankenberg 2010, bes. S. 199–207. 13 Vgl. z.B. Neumann 1986b, S. 118.

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sind, aber de facto die gleichen Personen umfassen? Dann hieße regiert zu werden, nur sich selbst zu gehorchen, so die Reflexivitätsfigur, die sich mit Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant durchsetzt. Rousseau postuliert in nahezu denselben Begriffen, dass wir eine Art der Machtausübung finden müssen, in der diejenigen, über die Macht ausgeübt wird, gleichwohl frei bleiben: Es muß eine Gesellschaftsform gefunden werden, die mit der gesamten gemeinsamen Kraft aller Mitglieder die Person und die Habe eines jeden einzelnen Mitglieds verteidigt und beschützt; in der jeder einzelne, mit allen verbündet, nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor.14

Der Gesellschaftsvertrag verwandelt die Regierung der Gesellschaft in Selbstregie‐ rung. Weil frei bleibt, wer nur sich selbst gehorcht, ist die Machtausübung einer sich selbst regierenden Gesellschaft für Rousseau eine, in der niemand seiner oder ihrer Freiheit beraubt wird, sofern er oder sie dem Gesellschaftsvertrag zugestimmt hat. Eventuelle Differenzen zwischen den Vorstellungen der Bürger_innen, wie die Selbstregierung der Gesellschaft aussehen soll, entsorgt Rousseau über seine Unterscheidung von Partikular- und Allgemeinwillen (volonté de tous versus volon‐ té générale). Für ihn ist klar, dass die öffentliche Autonomie des Souveräns nur gewährleistet sein kann, wenn die Einzelnen nicht ungehindert ihren Partikularinter‐ essen folgen. Da diese vermeintliche Freiheit der Einzelnen zu einer Unfreiheit aller führen würde, schließt Rousseau, dass die Freiheit im Sinne der ungehinderten Verfolgung von Partikularinteressen keine „echte Freiheit“ sein kann. Deshalb darf der Souverän die Einzelnen zwingen, „wirklich“ frei zu sein, indem er sie dem Allgemeinwillen unterwirft – was aber, analog zur „unechten“ Freiheit der Partiku‐ larinteressen, keine „echte“ Unterwerfung darstelle: Damit dieser Gesellschaftsvertrag keine leere Form bleibe, muß er stillschweigend fol‐ gende Verpflichtung beinhalten, die den anderen Verpflichtungen allein Gewicht verleiht: Wer dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, muß durch den ganzen Körper [des Souveräns; F.V.] dazu gezwungen werden. Das heißt nichts anderes, als daß man ihn dazu zwingt, frei zu sein.15

Wer nur sich selbst gehorchen muss, ist frei und also auch unbelastet von der Angst vor der Machtausübung durch andere; nur der Einsicht, frei zu sein, muss manchmal nachgeholfen werden. Immanuel Kant ersetzt Rousseaus gefährliche Konstruktion eines Gemeinwillens durch die Allgemeinheit vernünftiger moralischer Gesetze: Autonomie als Freiheits‐ icherung besteht zwar auch für ihn in Selbstregierung, die jedoch in Gesetzesform – und das heißt: allgemeingültig – zu erfolgen hat. Nur solche Handlungsmaximen können freier Ausdruck von Autonomie sein, die prinzipiell von jedem und jeder 14 Rousseau 1977, S. 73. 15 Rousseau 1977, S. 77.

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zugleich als Maxime angenommen werden könnten. Für Kant ist der Verallgemeine‐ rungstest des kategorischen Imperativs an die transzendental ermittelten Grenzen der Vernunft zurückgebunden, denn allein die Betätigung dieser Vernunft innerhalb ihrer Grenzen kann die geforderte Verallgemeinerung leisten.16 Die Freiheit der Individuen wird dem Zusammenhalt der Gesellschaft also deshalb nicht gefährlich, weil sie dank des Filters des kategorischen Imperativs stets generalisierbar ist und in den Grenzen verbleibt, die die reine Vernunft sich selbst gesetzt hat. Jürgen Habermas’ Überlegungen zum Verhältnis von öffentlicher und privater Autonomie müssen wir vor diesem Hintergrund als Versuch deuten, die transzen‐ dentale Rückbindung aufzugeben, ohne die vom kategorischen Imperativ gewähr‐ leistete Verallgemeinerbarkeit zu verlieren. In der rationalen Rekonstruktion einer verfassungsgebenden Versammlung sei den sich dort begegnenden Fremden nichts vorgegeben als erstens das (selbst weder moralische noch rechtliche, sondern in den notwendigen kontrafaktischen Idealisierungen kommunikativer Sprechakte be‐ gründete) „Diskursprinzip“, wonach nur solche Handlungsnomen gültig sind, denen „alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten“17, sowie zweitens das Rechtsmedium. Letzteres sei in posttraditionalen Gesellschaften unvermeidbar, weil die Bürger_innen kognitiv und moralisch über‐ lastet würden, wollten sie einander dem Diskursprinzip gemäß ihre Handlungen nur dank der Bindungskraft kommunikativer Vernunft koordinieren.18 Zudem lasse sich erst mit der Gleichursprünglichkeit von Recht und Demokratie der Sinn des demokratischen Rechtsstaats unverkürzt erfassen: Demokratische Politik erfordere, um dem eignen Anspruch gerecht zu werden, ihre Institutionalisierung in der Spra‐ che der Rechte, damit die teilnehmenden Bürger_innen sich als Freie und Gleiche an dieser Politik beteiligen können. Öffentliche und private Autonomie sind für Ha‐ bermas also wechselseitig miteinander verschränkt und treten nicht in Konkurrenz zueinander, da demokratische Legitimität nur bestehen kann, wenn die politischen Entscheidungen im Medium des Rechts und unter Wahrung der individuellen Rechte getroffen werden. Die Schranken individueller Rechte sind interne Schranken der Volksouveränität, weil sie die Voraussetzungen explizieren, untern denen öffentlich Autonomie allein ausgeübt werden kann. In seiner von mir nur angedeuteten Argumentation kombiniert Habermas muster‐ gültig die beiden Hälften der liberalen Antwort auf die Frage, wie regiert werden kann, ohne dass die Regierten sich vor der Machtausübung der Regierenden fürchten müssen. Die Autonomieformel ist gewissermaßen die DNA des liberal-demokrati‐ 16 Vgl. Lee 2017, S. 31, Fn. 36. 17 Habermas 2006, S. 138. Vgl. auch Habermas 2006, S. 161 f.: „Der Selbstbestimmungspraxis der Bürger ist nichts vorgegeben auβer dem Diskursprinzip, das in Bedingungen kommunikati‐ ver Vergesellschaftung überhaupt angelegt ist, auf der einen und dem Rechtsmedium auf der anderen Seite.“ 18 Habermas 2006, S. 143–151.

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schen Rechtsstaats. In ihm müssen die Regierten deshalb keine Angst davor haben, regiert zu werden, weil sie unterwerfungs- und willkürfrei regiert werden: Recht ver‐ standen, müssen sie einsehen, dass sie sich selbst regieren und also frei sind, da pri‐ vate und öffentliche Autonomie einander nicht einschränken, sondern nur interne Konstitutionsbedingungen darstellen. Zudem können die Regierten sicher sein, dass ihre Regierung willkürfrei erfolgt, weil sie vollständig im Medium des Rechts ver‐ bleibt.

II. Angst im demokratischen Rechtsstaat Eines sollte klar sein: Solange die eingespielte liberale Antwort nicht bereits auf der abstrakten Ebene erschüttert wird, auf der ich sie rekonstruiert habe, läuft jede andere Antwort Gefahr, am Ende auf die Autonomieformel zuzulaufen und sich damit innerhalb des von der liberalen politischen Philosophie ausgearbeiteten insti‐ tutionellen Arrangements – Willkürschutz und reflexive Freiheit vereinigt und insti‐ tutionalisiert im demokratischen Rechtsstaat – wiederzufinden. Selbst marxistische oder anarchistische Alternativen imaginieren allzu häufig nur eine weitergehende Verwirklichung von Autonomie und bekräftigen damit implizit die politische Ratio‐ nalität der liberalen Antwort auf die Frage, wie so regiert werden kann, dass die Regierten keine unnötige Angst vor den Regierenden haben müssen. Darin besteht die Blockade unserer politischen Fantasie: in der großen Teilen unserer politischen Philosophie impliziten Überzeugung, dass mit Autonomie die Umrisse der idealen politischen Rationalität bereits richtig vorgezeichnet sind und wir uns nur noch mit den Details des Ausmalens beschäftigen sollten. Um diese Überzeugung zu erschüttern, müssen wir zeigen, wie unzureichend die liberale Antwort der politischen Philosophie ist. Wie wir die Geschichte der modernen politischen Philosophie als Entwicklung der liberalen Antwort verstanden haben, so können wir viele der existierenden Kritiken an der liberalen politischen Philosophie als Kritiken an dieser Antwort begreifen: als Begründungen der These also, dass eine von der liberalen Antwort „Autonomie“ angeleitete Machtausübung im demokratischen Rechtsstaat nicht so wenig Angst einflößt, wie versprochen. Dazu können wir erneut an den beiden Hälften der Autonomieformel ansetzen und zuerst die exklusive Rechtsform von Machtausübung sowie danach die Freiheitssi‐ cherung durch Reflexivität untersuchen. Die erste Hälfte der liberalen Antwort auf die Frage, wie Macht so ausgeübt werden kann, dass die so Regierten keine Angst von den so Regierenden haben müssen, als Antwort zu kritisieren bedeutet, die Attraktivität des Rechts als exklu‐ sives Medium der Machtausübung zu untergraben. Deshalb reicht es nicht, mit Foucault auf die Unzulänglichkeit der juristischen Form der Machtausübung hinzu‐

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weisen, die als spezifische Machttechnologie gar nicht in der Lage sei, alle Formen der Machtausübung zu ersetzen – wie wir beispielsweise an der Entwicklung der Disziplinarmacht sehen könnten. Das mag richtig sein, doch damit ist nur gesagt, dass die liberale Antwort praktisch nicht umsetzbar ist. Wir wollen aber zeigen, dass die liberale Antwort schon begrifflich nicht erreichen kann, was sie verspricht, nämlich die unnötige Angst vor der Machtausübung zu mindern, wenn nicht gar auszumerzen. Etwas präziser formuliert, lautet meine kritische These, dass die von der liberalen Antwort vorgeschriebene exklusive Rechtsform der Machtausübung die enorme Angst verdrängen muss, die das Recht selbst erzeugt, um als Antwort auf die Frage nach einer möglichst wenig furchteinflößenden Machtausübung überhaupt plausibel zu sein. Indem sie das Recht dergestalt zur selbstverständlichen Form von Politik macht, verunmöglicht sie, Politik jenseits des Rechts ernsthaft in Erwägung zu ziehen und beschränkt so unsere politische Fantasie.19 Allerdings bestreiten liberale politische Philosoph_innen nicht, dass Recht mit Angst verknüpft ist. Die juristische Doktrin der negativen General- und Spezialprä‐ vention macht die Angst vor Strafe zur Raison d’Être des Rechts, weil seine Befol‐ gung eben auch, wenn nicht vor allem, aus Angst gewährleistet werden soll.20 Die externe Motivation der Furcht vor Sanktionen befreit uns, so Jürgen Habermas, von der kognitiven und moralischen Überforderung, die das Ansinnen darstellen würde, Normbefolgung allein auf Einsicht gründen zu wollen.21 Selbst in der Diskurstheorie des Rechts zeichnet sich das Recht durch seine gewaltsame Durchsetzung aus; auf diese erlaubte Gewalt und die von ihr auch bei aktueller Nichtausübung ausstrahlen‐ de Angst mochte noch kaum ein_e politische_r Philosoph_in verzichten. Die bloße Tatsache also, dass das Recht als Medium von Machtausübung in der liberalen politischen Philosophie planvoll Angst erzeugen soll, um Gewalt nicht ausüben zu müssen, lässt sich daher nicht zur Kritik oder Skandalisierung nutzen. Vor allem aber entgeht einem sowohl das Ausmaß der Gewalt im Recht, wenn man den Zusammenhang nur in der Rechtsdurchsetzung sucht, als auch das Ausmaß der Angst im Rechtsstaat, wenn man sie auf die Angst vor Strafe bei Gesetzesübertritten reduziert. Um die weit darüber hinausgehende Verbindung von Recht und Gewalt sowie der dadurch erzeugten Angst aufzuzeigen, können wir uns an den fünf Dimen‐ 19 In der politischen Philosophie ist der Versuch, nicht nur rechtsförmig über Politik nachzuden‐ ken, im 20. Jahrhundert vor allem in Frankreich unternommen worden; für die deutschspra‐ chige (und angelsächsische) Tradition rührt die Radikalität der Werke von Jacques Rancière, Miguel Abensour oder Alain Badiou, um nur einige zu nennen, auch von dieser Grundsatzent‐ scheidung her. Komplementäre Annäherungen vollziehen in den letzten Jahren beispielsweise Catherine Colliot-Thélène (2011) einerseits sowie Daniel Loick (2012, 2017) und Christoph Menke (2011, 2015) andererseits: die eine, indem sie subjektive Rechte in Rancières Denken der Politik einführt, die beiden anderen, indem sie der deutschsprachigen politischen Philoso‐ phie die Rechtsgläubigkeit auszutreiben versuchen. 20 Vgl. Meier 2015, S. 23–35, der auch berichtet, dass empirische Studien der negativen Generalund Spezialprävention nur mäßigen Erfolg bescheinigen. Vgl. dazu ausführlicher Kury 2013. 21 Habermas 2006, S. 145–151.

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sionen von Gewalt im Recht orientieren, die Daniel Loick in Kritik der Souveränität aufzählt:22 Neben der von Walter Benjamin unterschiedenen rechtsetzenden und rechtserhaltenden Gewalt23 gehören dazu auch die rechtsvorenthaltende, rechtsinter‐ pretierende und rechtsspaltende Gewalt: (1) Rechtsetzende Gewalt nennt Benjamin die Brutalität, die zur Einrichtung eines staatlichen Rechtssystems notwendig ist. Die Erschaffung selbst eines demokrati‐ schen Rechtsstaats bleibt an die gewaltsame Einsetzung des Rechts gebunden, wel‐ che die ihm vorhergehende Sozialität zerschlägt. Diese Gewalt lässt sich nicht in die ferne Vorvergangenheit verabschieden, sondern lebt im Recht des vollständig konsti‐ tuierten Staats fort, indem sie – so Loicks Rekonstruktion von Marx’ Zur Judenfrage – durch Rechte die Menschen voneinander trennt. Die individualisierende Wirkung des Rechts, das nur atomisierte Individuen kennt, die einander in erster Instanz als Schranke der jeweils eigenen Freiheit begegnen, ist die verlängerte Gewalt seiner ursprünglichen Setzung.24 Dass Vereinzelung Angst begünstigt, ist keine kontroverse Feststellung, verdeut‐ licht aber die Ironie, dass die Rechte, mit denen das Individuum Sicherheit vor anderen erhalten und damit Erlösung von der Angst vor ihnen finden soll, gerade der Nährboden sind, aus dem Angst nur in anderer Gestalt hervortreibt. Zweierlei sollte freilich auch klar sein: Solange wir nicht schon die Exklusivität des Rechts als Medium von Politik affirmiert haben, ist damit keine Aporie aufgezeigt, sondern bloß eine – theoretisch wie praktisch – zu überwindende Schwierigkeit. Sie verlangt allerdings, dass wir sowohl die Angst vor den Anderen als auch die Angst vor Vereinzelung ernst nehmen; eine bloße Ablehnung der durch die Rechte ermöglich‐ ten Individualisierung ist keine gangbare Option für eine politische Neuerfindung angstfreier Machtausübung. (2) Rechtserhaltende Gewalt ist uns vertraut, weil wir sie täglich im Einsatz sehen. Den gängigen Rechtstheorien zufolge ist das Recht an seine mit Gewalt erzwungene, faktische Durchsetzung gebunden – wie Kants Begriff des Rechts exemplarisch demonstriert: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten […] einerlei“.25 Polizei‐ gewalt ist also notweniges Korrelat des Rechts, ja analytisch-begrifflich mit ihm 22 23 24 25

Loick 2012, S. 151–153. Vgl. Benjamin 1991. Vgl. Loick 2012, S. 160–167, 178–181 sowie Loick 2017, S. 166–175. Kant 1989, S. 340. „Nun ist alles, was Unrecht ist, ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen; der Zwang aber ist ein Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folg‐ lich: Wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemei‐ nen Gesetzen (d.i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhin‐ derung eines Hindernisses der Freiheit mit Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d.i. recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.“ (Kant 1989, S. 338 f.).

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verschmolzen. Von kleinen, alltäglichen (oft rassistischen) Schikanen von Obdach‐ losen über Foltermethoden wie erzwungene Einnahme von Brechmitteln, wobei tödliche Folgen billigend in Kauf genommen werden, wie die Fälle von Achidi John (†9.12.2001) in Hamburg oder Laye Alama Condé (†27.12.2004) in Bremen zeigen, bis hin zum kaltblütigem Mord in der Zelle von Oury Jalloh (†7.1.2005) in Dessau bietet unsere Polizei- qua Rechtsordnung hinreichend Anschauungsmaterial für das furchteinflößende Ausmaß rechtserhaltender Gewalt.26 Die üblichen Recht‐ fertigungen, die Polizei sei nur Mittel zum Zweck und selbst in ihrem Handeln durch das Recht beschränkt, muss man angesichts der Einstellungsquoten bei Ermittlun‐ gen gegen Polizist_innen wohl als Ideologie abschreiben,27 und auch begrifflich überzeugen sie nicht, ist doch die Polizei mit zu vielen Befugnissen zur (partiellen) Aufhebung des Rechts ausgerüstet, um sie als bloß rechtsdurchsetzendes Mittel im demokratischen Rechtstaat zu verstehen.28 Dass die Polizei innerhalb des Rechtsstaats aufgrund der für ihre Funktion not‐ wendigen Befugnisse immer auch selbst rechtsetzend auftritt und daher nie reines Mittel der Rechtsdurchsetzung ist, deren Gewalt die liberale politische Philosophie explizit legitimiert, bestätigt auf begrifflicher Ebene, was die angedeutete Phänome‐ nologie empirisch nahelegt: Die Angst vor der rechtsdurchsetzenden Gewalt lässt sich nicht auf die legitime Angst durch Strafandrohung einzugrenzen, weil die rechtserhaltende Gewalt nie reines Mittel ist. (3) Rechtsvorenthaltende Gewalt meint die Möglichkeit, Einzelne aus der Rechts‐ ordnung zu stoßen – Migrant_innen, Terrorist_innen oder sogenannte „enemy com‐ battants“ sind die augenfälligsten Beispiele. Sogenannte Sonderrechtszonen sind der paradigmatische Fall rechtsvorenthaltener Gewalt; spätestens seit dem 11. Septem‐ ber 2001 ist diese Art partieller Außerkraftsetzung des Rechts für „Feinde der Rechtsordnung“ ein bewährtes und verbreitetes Mittel geworden.29 Angesichts der bekannten Bilder aus dem US-Gefangenenlager in Guantanamo Bay braucht es kei‐ ner weiteren Argumente, um die Gewaltsamkeit dieser Maßnahmen zu demonstrie‐ ren. Vor ihnen Angst zu haben ist für alle Bürger_innen rational geboten: Wie wir an Murat Kurnaz’ Fall lernen können, muss jede_r damit rechnen, unversehens aus dem Recht gestoßen zu werden.30 26 Einen Überblick über Misshandlungen in Polizeigewahrsam liefert Singelnstein 2007; zur Poli‐ zeikritik insgesamt vgl. die Beiträge in Loick 2018. Zum Fall Oury Jalloh vgl. Bruce-Jones 2017, bes. Kapitel 3. Die anderen beiden Fälle sind meines Wissens bislang nicht in ähnlicher Weise aufgegriffen worden (aber vgl. Bruce-Jones 2017, S. 105, 107). Mit scheußlicher Selbst‐ verständlichkeit sind diese drei Fälle nur die Spitze eines Eisbergs. 27 Vgl. Singelnstein 2003 sowie die umfassende Dokumentation von Amnesty International 2010. 28 Loick 2012, S. 185–188. 29 Agamben 2002, Butler 2004. 30 Kurnaz/Kuhn 2007. Eine theoretische Elaboration findet sich z.B. in Frankenberg 2010, Kapi‐ tel VI.

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(4) „Legal interpretation takes place in a field of pain and death“, so Robert Covers berühmte Beschreibung der rechtsinterpretierenden Gewalt: „A judge articulates her understanding of a text, and as a result, somebody loses his freedom, his property, his children, even his life.“31 Sowenig die Polizei bloß ausführendes Organ ist, sowenig sind Richter_innen bloße Anwender_innen des Rechts. Weder setzen sie Recht (schließlich wenden sie die bestehende Rechtsordnung an) noch wenden sie Recht bloß an (denn Richter_innen sind eben keine „Subsumptionsautomaten“). Die richterliche Interpretation des Rechts ist vielmehr selbst ein eigenständiger, gewalt‐ samer Prozess, in dem der individuelle Fall dem allgemeinen Recht wortwörtlich unterworfen wird. Was eine solche Interpretation alles beeinflussen kann, ist trotz eher sparsamer soziologischer bzw. ethnologischer Forschung zu Gerichtsverfahren32 durchaus be‐ kannt: So werden Frauen im Durchschnitt umso härter verurteilt, je weniger sie in den Augen von Richter_innen dem Stereotyp „Frau“ entsprechen,33 und ein Termin vor statt nach dem Mittagessen oder einer anderen Pause erhöht die Chancen der Angeklagten auf ein härteres Urteil signifikant.34 Zudem übt das Rechtsverwei‐ gerungsgebot einen ganz eigenen Zwang aus: Weil es Richter_innen gesetzlich untersagt ist, das Urteil zu verweigern, ganz egal, wie uneindeutig die Sachlage ist, wird Willkür von Rechts wegen von ihnen verlangt.35 Angst davor zu haben, dieser rechtsinterpretierenden Gewalt ausgesetzt zu werden, ist folglich mehr als begründet, der Gang vor eine_n Richter_in für nicht professionell am Verfahren Beteiligte stets gefährlich. (5) Mit rechtsspaltender Gewalt bezeichnet Loick jene klassische Form von Un‐ gerechtigkeit, auf die schon Marx anspielt, wenn er die formale Gleichheit des Rechts als eine eigene Quelle von Gewalt kritisiert, weil sie Ungleiches gleich behandelt. Was Marx auf die soziale Ungleichheit der Klassen münzt, die das formal gleiche Recht nicht (aner)kennen darf, daher verschleiert und in seinen Urteilen gewaltsam reproduziert, lässt sich ebenso auf andere soziale Differenzen übertragen. Die liberale Trennung von Öffentlichem und Privaten und die damit einhergehende Vorstellung subjektiver Rechte als Schutzraum privat agierender Individuen schlägt, um nur ein Beispiel zu nennen, in der realexistierenden Geschlechterungleichheit in Herrschaft um:

31 Cover 1986, S. 1601. 32 Jedenfalls in Deutschland. Ausnahmen sind Wassermann 1985, Legnaro 1991, Legnaro/Aen‐ genheister 1999. 33 Raab 1993. 34 Danziger et al. 2011. 35 Loick 2012, S. 237–240.

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Für Frauen war die Sphäre der Privatheit, von der liberalen Theorie als ein Bereich der Freiheit und der Sicherheit vor staatlichen Zugriffen angesehen, […] oft eher ein Bereich des Ausgeliefertseins gegenüber der Gewalt des Familienvaters; die Abstinenz staatlicher Intervention in die familiäre Domäne lässt bestehende patriarchale Herrschaft intakt und dient so der Absicherung eines männlichen Gewaltoligopols.36

Da das Problem aus dem Missverhältnis von formaler rechtlich-politischer und materieller Gleichheit entsteht, hilft es erkennbar wenig, die formalen Rechte aus‐ zuweiten.37 Angst erzeugt diese Gewaltdimension des Rechts, weil dieses gerade an seinem Versprechen scheitert, die Willkür der sozialen Machtasymmetrien zu brechen. Indem es die machtvollen Effekte formaler Gleichbehandlung unter realer Ungleichheit unbeachtet lässt, rechtfertigt das Recht selbst, Angst davor zu haben, nähere Bekanntschaft mit ihm zu machen.38 Der knappe Überblick über die fünf Dimensionen der Gewalt im Recht ist weder erschöpfend noch annähernd eindrücklich genug. Er sollte aber ausreichen, um zwei Argumente zu stützen: Erstens ist die Angst im Rechtsstaat aus empirischen wie begrifflichen Gründen nicht auf die vermeintlich legitime Angst vor Sanktionen bei Gesetzesübertretungen einzugrenzen. Deshalb kann das Recht als exklusives Medi‐ um zweitens nicht so unhinterfragt vorausgesetzt werden, wie die liberale Antwort es behauptet. Im Vergleich mit Alternativen müsste sie die vom Recht erzeugte Gewalt in all ihren Dimensionen ungeschönt in Rechnung stellen, denn wie der Überblick über die fünf Gewaltdimensionen im Recht zeigt, ist es schlicht falsch, das Recht gemäß dem Slogan der „rule of law not of men“ als eine Form der Machtausübungen darzustellen, die wir nicht oder kaum zu fürchten brauchen. Wie steht es um die zweite Hälfe der Autonomieformel, also um die Idee der Selbstregierung und der damit verbundenen Reflexivitätsfigur, gemäß der keine Unterwerfung stattfindet, wenn jede_r nur sich selbst gehorcht? Auch dieser Teil ist selbstverständlich nicht kritiklos hingenommen worden. Für die Frage nach der Angstfreiheit sind wiederum sowohl empirische als auch begriffliche Kritiken relevant: Empirisch kann man an der Schlussfolgerung zweifeln, dass diejenigen, die qua Autonomie im demokratischen Rechtsstaat sich als Mitautor_innen der Gesetze fühlen und sich insofern selbst regieren dürfen, dies bereits als Freiheit von Unterwerfung empfinden können. In den modernen, nationalstaatlich verfassten Demokratien ist der Einfluss Einzelner auf die Gesetzgebung so gering, dass der Wahlakt selbst den minimalen individuellen Aufwand angesichts der geringen Chan‐

36 Loick 2012, S. 254. 37 Zu dem resultierenden Dilemma aus feministischer Sicht vgl. Brown 2000. 38 Eine eindrückliche Schilderung, warum vor allem Arme jeden Kontakt mit dem Recht meiden sollten, gibt Fassin 2017. Vgl. auch die anderen Beiträge des Schwerpunkts „Gefängnis und Arbeit“ in Lim et al. 2017.

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ce, damit irgendetwas zu bewirken, aus rationalistischer Perspektive nicht lohnt.39 Geht man über die verengte Sicht der rational choice-Theorien hinaus und berück‐ sichtigt zudem, welche sozialen und ökonomischen Ressourcen es braucht, um in der Politik soweit zu kommen, dass man tatsächlich in einem gehaltvollen Sinne von Mitregieren sprechen kann, liegt die Frage auf der Hand, ob das Postulat dieser Art von Selbstregierung angesichts ihrer empirischen Bedeutungslosigkeit mehr als bloße Ideologie sein kann. Begriffliche Kritik setzt mit dem Hinweis ein, dass die freiheitssichernde Refle‐ xivitätsfigur mit ihrem Argument, man könne sich selbst nicht unterwerfen und sei folglich frei, solange das eigene Regiertwerden als Selbstregieren interpretiert werden könne, freiheitsgefährdenden Deutungen Tür und Tor öffnet. Eine derarti‐ ge Interpretation haben wir bei Rousseau kennengelernt, dessen Folgerung, man müsse und dürfe zwingen, wer nicht einsichtig sei, weil man so nur die Freiheit erzwinge, einem autoritären Verständnis von Volkssouveränität den Weg bereitet.40 Die Fremdbestimmung in der Autonomie ist umso offensichtlicher, je objektivisti‐ scher interpretiert wird, wann eine Person ihr Regiertwerden als Selbstregieren zu verstehen hat. Wenn andere anhand von objektiven Kriterien entscheiden können, ob ich frei im Sinne der Reflexivitätsfigur bin, ohne meine eigene Perspektive berücksichtigen zu müssen, liegt eine Form von heteronomer Autonomie vor. Doch je mehr man jeder Person selbst die Deutungshoheit überlässt, ob sie sich wirklich selbst regiert, desto weniger lässt sich der soziale Zusammenhalt garantieren, den Kant und Rousseau anstreben: Wenn allein ich entscheide, wann ich frei bin, weil ich nur mir selbst gehorche, wird ein asozialer Individualismus ermöglicht, da ich jede gesellschaftliche Einschränkung meiner Machtausübung als Freiheitsberaubung darstellen kann. Rousseau und Kant entscheiden sich angesichts dieser Zwickmühle für – wenngleich unterschiedliche – objektivistische Interpretationen der Reflexivi‐ tätsfigur, mit denen sie auch Mehrheitszwang und aufgeklärten Absolutismus recht‐ fertigen. Angstfrei ist beides nicht zu ertragen. Diese Überlegung lässt sich mit Hilfe der Diskussion um die „Paradoxien der Autonomie“ noch zuspitzen, weil darin die Verbindung von Freiheit als Selbstbe‐ stimmung und Autonomie grundsätzlich in Frage gestellt wird. Das zentrale Paradox der Autonomie ergibt sich, weil die Bedingungen der Selbstgesetzgebung diese unterminieren: Autonomie scheint […] ein vollkommen ungebundenes Subjekt zu verlangen, das sich in einem gesetzlosen Akt das Gesetz allererst gibt. Diese Voraussetzung der Autonomie

39 Vgl. zum sogenannten Wahl-Paradox, mit Fokus auf Nichtwähler_innen, den Überblick von Cabarello 2014, S. 446–454. 40 Die Spannbreite der Interpretationen verdeutlicht auf wenigen Seiten sehr schön Comtesse 2016, S. 37–44, die Rousseau für die radikale Demokratietheorie fruchtbar machen will.

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scheint ihre Möglichkeit aber zugleich in Frage zu stellen: Es scheint unverständlich, wie dieses gesetzlose Subjekt je als durch das Gesetz gebunden vorgestellt werden könnte.41

Thomas Khurana zeigt, dass sich dieses Paradox nur vermeiden lässt, wenn man Au‐ tonomie nicht legalistisch als Selbstgesetzgebung versteht, sondern (wie beispiels‐ weise Christine Korsgaard) als „Eigengesetzlichkeit“, weil wir die uns bindenden Gesetze bereits in uns, als für uns konstitutive vorfinden.42 Das führt Khurana zur Frage nach dem Lebendigen, weil sich diese Form der Eigengesetzlichkeit letztlich aus der Vorstellung von Leben speist. Normativitätstheoretisch ist diese Volte über‐ zeugend, doch aus der Perspektive der politischen Philosophie muss sie dort proble‐ matisch werden, wo sie von individueller auf öffentliche Autonomie übertragen wird. Khurana müsste diese Übertragung blockieren, um nicht unbeabsichtigt einem unkontrollierten Organizismus das Wort zu reden, der entstünde, falls die Erläute‐ rung öffentlicher Autonomie auf die Vorstellung eines lebendigen Gesellschaftskör‐ pers zurückgreifen müsste. Insofern ist schwer vorstellbar, dass seine Auflösung der Paradoxie von Autonomie auch als Lösung für die Probleme der freiheitssichernden Reflexivitätsfigur fungieren kann, mit der die liberale Antwort operiert. Denn einer‐ seits kann diese, aufgrund ihrer ersten Hälfte, die Paradoxie von Autonomie nicht einfach durch die Preisgabe von Rechtsbegriffen umgehen, andererseits kann sie aufgrund des von ihr notwendig postulierten Zusammenhangs von individueller und öffentlicher Autonomie auf das Vokabular des Lebens nur um den allzu hohen Preis eines organizistischen Gesellschaftsverständnisses zurückgreifen. Im Ergebnis können wir festhalten, dass Autonomie als liberale Antwort auf die Frage, wie es möglich ist, Macht so auszuüben, dass die Regierten keine Angst vor den Regierenden haben müssen, in ihren beiden Hälften – Willkürfreiheit durch Recht als exklusives Medium der Machtausübung und Reflexivität von Selbstregie‐ rung als Freiheitssicherung – auf gravierende Probleme stößt. Sie zeigen, wie groß die berechtigte Angst ist, die wir als Regierte vor dieser Form von Machtausübung haben sollten, und damit, wie unzureichend die liberale Antwort ist.

III. Eine Blockade unserer politischen Vorstellungskraft? Der einfachste Einwand gegen meine Kritik der liberalen Antwort überträgt das bekannte Zitat Churchills – „Democracy is the worst form of government, except for all those other forms that have been tried from time to time“43 – sowohl auf

41 Khurana 2017, S. 70; vgl. auch den Sammelband von Khurana/Menke 2011. 42 Khurana 2017, S. 82–85. Korsgaards Überlegungen dazu finden sich in Korsgaard 2009. 43 Aus einer Rede vor dem House of Commons am 11. November 1947. ‹http://hansard.millbank systems.com/commons/1947/nov/11/parliament-bill#S5CV0444P0_19471111_HOC_31 2› (letzter Abruf 12. Dezember 2019).

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das Recht als auch auf die Selbstbestimmung. Selbst wenn Rechtsform und Selbst‐ regierung keineswegs ohne Angst auskommen, so lautet dieser Einwand, ist diese Angst doch minimal im Vergleich zu allen anderen versuchten Formen politischer Machtausübung. Allerdings überzeugt er gerade in Bezug auf das Recht als exklusives Medium der Machtausübung nicht, hat dieses doch historisch gesehen, anders als die De‐ mokratie, alle Experimente politischer Herrschaft begleitet und unterstützt – ob die absolutistische Monarchie, die Demokratie oder den Faschismus.44 Wie Hauke Brunkhorsts Studie zu den Rechtsrevolutionen belegt, ist das moderne Recht seit der päpstlichen Revolution im 12. Jahrhundert nicht von der politischen Machtausübung zu trennen,45 weshalb wir kaum über Vergleichsfälle verfügen. Wir kennen so gut wie keine politischen Lebensformen, die mit der Zielsetzung angstfreien Regierens auf das Recht verzichten. Dieser Mangel an alternativen Erfahrungen ist mehr als nur eine Schwierigkeit dafür, die Angst im Rechtsstaat mit der Angst vor nicht im Rechtsmedium ausge‐ übter Macht zu vergleichen. Dass wir seit so langer Zeit in Gesellschaften leben und sozialisiert werden, die aller politischen Variabilität zum Trotz stets Rechtsge‐ sellschaften waren, beeinflusst unser Denken, Handeln und Fühlen.46 Wir sind nicht nur Rechtssubjekte, weil wir Zurechnungspunkte juridischer Rechte und Pflichten sind, sondern auch, weil wir vom Recht geformte Subjekte sind. Bis ins Innerste prägt uns Recht – kein Wunder, dass uns schon der Gedanke an ein Zusammenleben und an Machtausübung jenseits des Rechts mehr Angst einflößt als das Recht, mit dessen Gewalt wir seit Jahrhunderten zu leben gelernt haben. Damit ist der zentrale Grund für die Blockade unserer politischen Fantasie be‐ nannt: Weil wir durch und durch vom Recht Geformte sind, kaum Vergleichsmög‐ lichkeiten von Sozialitäten jenseits des Rechts haben, mit der Angst im und durch Machtausübung in Rechtsform vertraut sind und sie routiniert mit der liberalen Antwort „Autonomie“ verdrängen, erzeugt jede politische Vorstellung, die daran rührt, reflexartige Abwehr – ja: Angst. Polemisch zugespitzt: Wir können kaum anders, als rechtliche Formalisierung gegen das Klischeebild informeller Macht in isolierten Bauerndörfern instinktiv für einen Form von Emanzipation zu halten.47 Aber beide Bestandteile dieser Reaktion gehören im Lichte der bisherigen Argumen‐ te auf den Prüfstand. Einerseits ist die Überzeugung ungedeckt, wir wüssten schon, wie Sozialitäten jenseits des Rechts – und nicht nur rechtlose Enklaven am Rande 44 Pauer-Studer/Fink 2014 zeigen mit ihrer Sammlung von Aufsätzen nationalsozialistischer Juristen eindrücklich, wie elastisch Recht sein kann. 45 Brunkhorst 2014, S. 90–146. 46 Diese Subjektivierung durch das Recht ist der Ausgangspunkt der Kritik in Loick 2017, S. 12 f. 47 Weniger polemisch gesagt, zeigen z.B. Foucaults Analysen der Disziplinarmacht (Foucault 2004b) und zur Biomacht (Foucault 2005a), das nicht-rechtliche Machtbeziehungen keines‐ wegs weniger furchteinflößend sein müssen.

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oder innerhalb von Rechtsstaaten – aussehen. Andererseits müssen wir die uns anerzogene Annahme von der Angstfreiheit des Rechts revidieren. Insofern bildet die allzu schnell gegebene liberale Antwort „Autonomie“ – verstanden im Sinne des demokratischen Rechtsstaats – auf die Frage, wie so regiert werden kann, dass die Regierten keine unnötige Angst haben müssen, derzeit eher eine Blockade als eine Inspiration für unsere politische Vorstellungskraft. Einem folgenschweren Missverständnis meiner Kritik möchte ich an dieser Stelle entgegentreten, ehe ich mich den Konsequenzen zuwende, die sich ergeben, wenn die Frage nach einer politischen Rationalität, in der die Regierten keine Angst vor der Machtausübung der Regierenden haben müssen, nicht länger mit „Autonomie“ beantwortet werden kann. Falsch verstanden wäre meine Kritik, wenn man sie mit der Autonomiekritik in Verbindung bringt, die derzeit im sogenannten „liberalen“ oder sogar „zwangsförmigen Paternalismus“ geübt wird.48 Leitend für diese ganz anders angelegte Kritik ist, was man das „Faktum der Überforderung“ nennen könn‐ te: Weil Menschen empirisch nachweisbar weder so rational noch so selbstbestimmt handeln, wie die klassischen philosophischen Bestimmungen des liberalen autono‐ men Subjekts dies den Vertreter_innen des neuen Paternalismus zufolge annehmen, müssten wir einsehen, dass Selbstbestimmung nicht erreichbar sei.49 Wenn aber ohnehin irrationale Kräfte die „freien“ Entscheidungen des Individuums bestimmen, dann sollten wir den logischen Schritt gehen und diese Zwänge politisch zum Besten der überforderten Individuen gestalten. Diese Kritik an „Autonomie“ weist in exakt die entgegengesetzte Richtung mei‐ ner Überlegungen, weil sie, weit entfernt von Bemühungen, den Regierten die Angst vor dem Regiertwerden zu nehmen, nach einer Intensivierung dieses Regiertwer‐ dens im Namen vermeintlich objektiver Interessen der Regierten verlangt. Über die äußerliche Ähnlichkeit hinaus, dass auch die Vertreter_innen eines neuen Pa‐ ternalismus Autonomie als Prinzip der politischen Rationalität anzweifeln, besteht keinerlei Verwandtschaft zwischen ihren Überlegungen und meinen: Weder rühren meine Zweifel an „Autonomie“ als liberaler Antwort auf die Frage nach angstfreier Machtausübung von einer „Überforderung“ der Regierten her noch teile ich die vorgeschlagene Antwort der Paternalist_innen, mit mehr gesetzlichen Regelungen die Freiheit der „Überforderten“ einzuschränken. Meine Kritik der liberalen Antwort „Autonomie“ auf die Frage, wie so regiert werden kann, dass die Regierten keine Angst vor den Regierenden haben müssen, führt stattdessen dazu, die Experimente mit alternativen politischen Rationalitäten jenseits der Kombination aus exklusivem Rechtsmedium und freiheitssichernder Re‐ flexionsfigur neu zu bewerten. Wenn die Aufrechnung der jeweiligen Angst, die von 48 Vgl. für den „liberalen“ Pateralismus Thaler/Sunstein 2009, für den „zwangsförmigen“ Conly 2012. 49 Vgl. Conly 2012, S. 1 f., 189–194.

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den verschiedenen Formen von Machtausübung erzeugt wird, nicht mehr a priori zugunsten der liberalen Antwort und damit automatisch zugunsten des liberal-demo‐ kratischen Rechtsstaats entschieden wird, ließe sich dadurch ein „Schmiermittel“ für unsere blockierte politische Vorstellungskraft finden. Klassische Fälle für eine solche Neubewertung sind anarchistische Sozialitäten,50 aber auch solche Gruppen, in denen das Recht grundsätzlich anders, beispielsweise ohne Verknüpfung mit Zwangsgewalt gedacht wird. Loicks bevorzugtes Beispiel ist die jüdische Rechtstra‐ dition, die aufgrund der Diasporasituation ein Recht ohne staatliche Zwangsmecha‐ nismen ausbilden musste.51 Zwar gilt es dabei in Rechnung zu stellen, inwiefern dieses Rechtsverständnis von den Bedingungen abhängt, dass in strafrechtlichen Fragen stets auf die Polizeigewalt des jeweiligen Staates, in dem sich die Gemeinde befand, zurückgegriffen werden konnte und musste, wodurch die Tradition von eini‐ gen der dringendsten Fragen – wie schaffen wir ein Strafrecht ohne Bestrafung?52 – entlastet wurde. Aber als Anhaltspunkt, dass die Suche nach Alternativen nicht hoff‐ nungslos ist, solange wir nach Inspirationsquellen und nicht nach zu übernehmenden Lösungen Ausschau halten, ist der Hinweis überaus wertvoll. Damit wird ein Forschungsprojekt vorstellbar, das nach Formen der Machtaus‐ übung sucht, die nicht im Rechtsmedium erfolgen und gleichwohl von substantiellen Argumenten dadurch gerechtfertigt werden können, dass sie die Angst der Regierten vor den Regierenden vermindern.53 Die vorwiegend negative Argumentation, die ich bisher verfolgt habe, wäre dann als notwendiger erster Schritt zu verstehen, um die Blockade unserer politischen Fantasie namens „demokratischer Rechtsstaat“ aus dem Weg zu räumen und so eine Perspektive zu eröffnen, in der wir weniger voreingenommen vergleichen können, ob alternative Formen der Machtausübung nicht überzeugender den Anspruch erheben können, den Regierten die Angst vor den Regierenden und dem Regiertwerden zu nehmen. Damit entgeht diese Form, an Foucaults anfangs zitierte Aufforderung anzuknüpfen, wir müssten Machtausübun‐ gen erfinden, die keine Furcht verursachen, jedenfalls der Gefahr, ins konventionelle Fahrwasser der liberalen Antwort zu geraten. Ist sie weiterhin naiv? Ja und Nein. Sie ist und bleibt naiv, solange sie „Angst“ so unbestimmt gebraucht, wie ich es bis hierher getan habe. Den Begriff zu schärfen, muss allerdings nicht bedeuten, sich wie die liberale politische Philosophie vor allem darum zu bemühen, eine Grenze zwischen legitimer und illegitimer Angst

50 Wie im Barcelona der 1936er Jahre: vgl. Yeoman 2018, Enzensberger 1991. 51 Vgl. Loick 2012, S. 310–321. 52 Was m.E. noch lange nicht gelöst ist, wenn man Strafe einfach durch Beschämung bzw. die Zurichtung durch Verantwortlichmachung ersetzt. Deshalb wäre es nur ein erster Schritt, statt auf Sanktionen auf die kommunikativen Funktionen der Urteilsverkündung und ihre Verant‐ wortungszuschreibung zu setzen, wie z.B. Günther 2004, 2005, 2002 vorschlägt. Vgl. dazu meine Kritik in Vogelmann 2014, S. 229–263. 53 Strukturell durchaus ähnlich zu dem Projekt von Wright 2010.

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zu ziehen. Denn Angst wird dadurch als individueller Affekt vorausgesetzt, so wie der Liberalismus Freiheit primär als individuelle fasst. Doch für die Frage nach einer Machtausübung, bei der die Regierten keine Angst vor den Regierenden ha‐ ben müssen, sollten wir die Angst einzelner Individuen als „Kristallisationen“ der affektiven Beziehungsnetze in sozialen Praktiken verstehen.54 Sie ist kein individu‐ elles, unhinterfragbares Datum, das allenfalls auf seine normative Berechtigung hin geprüft werden könnte, sondern Resultat eines „affektiven Arrangements“55, das ins‐ gesamt untersucht werden muss. Die Frage nach angstfreier Machtausübung führt in dieser Hinsicht auf eine Politik der Affekte, die ihren Ausgangspunkt bei Spinozas Affektenlehre nehmen könnte, wenn wir diese machttheoretisch lesen.56 Interessant an Spinozas Definition von Furcht als „unbeständige Unlust, entsprungen aus der Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges (Sache), über dessen Ausgang wir in gewisser Hinsicht im Zweifel sind“57 ist die starke Betonung epistemologischer Unsicherheit, die sowohl für eine Politik der Angst ausgenutzt werden kann (so lässt sich Spinozas Analyse des Aberglaubens deuten) als auch der Kritik einen Angriffs‐ punkt zum Abbau von Angst bietet.58 Ohne dem hier nachgehen zu können, weisen diese Überlegungen auf eine Möglichkeit hin, wie der Angstbegriff so ausbuchsta‐ biert werden könnte, dass er nicht das letzte und unbezweifelbare Gefühlsatom für die Analyse darstellt, die damit zu stark an individuelle Irrationalitäten gebunden wäre. Ist damit defensiv ein Weg bezeichnet, um dem Vorwurf zu entgehen, mit dem Angstbegriff die politische Theorie auf naive Weise mit einer kaum lösbaren nor‐ mativen Problematik zu belasten, können wir offensiv dem Vorwurf mit einem komparativen Urteil begegnen: Denn die skizzierten Überlegungen sind sicherlich nicht naiver als die Überzeugung, mit „Autonomie“, institutionalisiert im demokra‐ tischen Rechtsstaat, bereits die Frage nach der Vermeidung von Angst durch Macht‐ ausübung endgültig geliefert und in diesem Sinne das Ende der Theorie erreicht zu haben.

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Slaby 2016, S. 15–22. Slaby et al. 2019. Vgl. Saar 2013, bes. S. 275–298. Spinoza 2015, Teil 3, Definition der Affekte 13, S. 345 f. Vgl. Saar 2013, S. 290–294.

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Teil 2: Verrechtlichung der Politik

Sabine Hark Mit anderen sein. Subjektive Rechte und die Sackgassen liberalen Denkens

Zwischen den Anfängen dieses Aufsatzes und den letzten Korrekturen an ihm liegen rund zwei Jahre. Die Zeit der Sars-CoV-2-Pandemie. Eine Zeit, in der wir lernen konnten, was es bedeutet, von der Verwundbarkeit der anderen und nicht der eigenen ausgehend zu denken und zu handeln. Dass Distanz halten eine Weise des Fürein‐ ander-Daseins sein kann beispielsweise. Die Corona-Pandemie bietet damit noch immer eine Chance – und ohne die Augen zu verschließen vor weltweit rund 190 Millionen registrierter Infektionen und 4 Millionen Toten, weder vor der noch im‐ mer für viele Menschen akuten Gefahr, vor Krankheit und Leid, noch vor den sich abzeichnenden und für Demokratie, Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Kultur wo‐ möglich desaströsen Folgen. Sie hat uns nämlich nicht nur erfahren lassen, dass wir alle verletzlich, wir immer schon in der Hand der anderen sind und genau dies die prekäre Bedingung des Lebens ist. Sie erinnert uns auch daran, dass in einem von vielfältigen Achsen der Dominanz durchzogenen und von eklatanter Ungleichheit geprägten weltgesellschaftlichen Kontext diese Prekarität ungleich verteilt ist. Der Zugang zu sauberem Wasser, zur Möglichkeit, Abstand zu halten, zu medizinischer Versorgung, zu Impfstoff entscheidet, wer überlebt. Sars-CoV-2 hat uns freilich kei‐ ne neue Welt beschert, es zeigt uns die Welt nur deutlicher, wie sie ist: eine Welt, in der die Rahmen der Anerkennbarkeit, wessen Leben zählt, beständig verengt und die Kluft zwischen Anteilslosen und Anspruchsberechtigten stetig vertieft wurde. Eine Welt, die mehr denn je von Vernachlässigung und Verunsicherung, Ausgrenzung und Entwürdigung, Hass und Verletzung, Gewalt und Terror, Ausbeutung und Herrschaft geprägt ist. Eine Welt zudem, in der sich, wie uns der Umgang mit Geflüchteten und Migrant*innen in den Lagern auf den Inseln der Ägäis tagtäglich vor Augen führt, Kontrolle und Sorge, polizeiliche Aktion und humanitäre Akte der Unterstützung auf beunruhigende und oft ununterscheidbare Weise angenähert haben, so dass jene migrantischen Leben, denen oft genug nur die „perverse Alternative von Fliehen oder Zugrundegehen“1 bleibt, an genau die Grenze des Lebens verbannt scheinen, der sie doch gerade entkommen wollten. Die Pandemie verlangt daher von uns nicht nur, dass wir solche Zusammenhänge analysieren, sie verlangt auch, dass wir gesellschaftliche Solidarität neu zu buchsta‐ 1 Mbembe 2016, S. 34.

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bieren wagen. Und eine solch neue Sprache der Solidarität hätte auf eine Reihe theoretischer wie praktisch-politischer Herausforderungen zu antworten: Sie muss erstens dem Umstand Rechnung tragen, dass eine Ontologie voneinander unabhän‐ gig gedachter Identitäten nichts dazu beizutragen hat, die weltweiten Interdependen‐ zen, die auch in der Corona-Pandemie einmal mehr deutlich werden, und die global verflochtenen komplexen Netzwerke der Macht sowie die ungleiche Verteilung von Prekarität zu begreifen. Sie muss zweitens eine Antwort anbieten für die Aufgabe, wie wir ein Ethos erlernen, das sich nicht nur an diejenigen richtet, mit denen wir uns verbunden fühlen, sondern ebenso an jene, die wir weder kennen noch durchschauen, mit denen wir nichts zu tun haben. Und sie muss dies schließlich drittens tun in einer historischen Situation, in der in einem sich über Jahrzehnte hin‐ ziehenden Prozess der neoliberalen Aushöhlung liberaler Demokratien das Credo, dass jede und jeder nur für sich selbst, nicht aber für andere verantwortlich ist, zur moralischen Leitwährung veredelt wurde, weshalb wir Gesellschaft weniger als Raum der Solidarität, denn als Ermöglichungsrahmen unternehmerischer Aktivität erfahren. Die Chance der kollektiven Verständigung über Lebensformen und Solidarität sowie der kooperativen Entschlussfassung über jene Angelegenheiten, die Menschen gemeinsam sind, ist in Folge dessen dramatisch erodiert und hat die Möglichkeit, sich selbst zu regieren, in genau dem Maße zum Verschwinden gebracht, wie Regie‐ rungskünste und ‑einrichtungen immer weitere Bereiche des Lebens besetzen. All das wiederum bedeutet, dass wir die Dinge erstens von den Kräften her verstehen müssen, die auf sie einwirken und sie konstituieren, wir sie also als materiell bedingt und politisch reguliert begreifen. Es bedeutet zweitens, dass wir die historisch je spezifischen Weisen untersuchen müssen, wie wir regiert werden, zu welcher Art Subjekten wir also gemacht werden – beispielsweise zu mit indivi‐ duellen Rechten ausgestatteten Subjekten, die eine bestimmte Form von Freiheit begehren – und was wir demnach wollen können. Und es bedeutet schließlich drittens, dass wir unser Sein als Sein begreifen, das innerhalb von widersprüchlich ineinander verschränkten Machtgefügen positioniert ist.

In Verwundbarkeit verbunden Im Lichte dieser ersten Überlegungen mag es nun vielleicht überraschen, dass ich für die Erkundung neuer Quellen gesellschaftlicher Solidarität einen Begriff in den Vordergrund rücken möchte, der auf den ersten Blick gerade dem Vokabular der Gefährdung entnommen scheint: Prekarität – und zwar so, wie dieser Begriff in den vergangenen Jahren besonders von Judith Butler konturiert worden ist. Denn es ist, worauf Butler wiederholt aufmerksam gemacht hat, gerade die ungleich verteilte

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Verletzlichkeit, die uns trennt und die doch zugleich den „bestehenden und viel versprechenden Schauplatz“2 für Koalitionen darstellt. Prekarität, so Butler, überschreite „Identitätskategorien ebenso wie die Grenz‐ ziehungen multikultureller Landkarten“3 und könne die Basis für neue Allianzen bilden. Deren Vorteil liege darin, dass sie „sich nicht in allen Fragen des Begeh‐ rens, der Überzeugungen oder der jeweils eigenen Identität einig sein“ müssten, sowie „fortlaufende belebende Gegensätze“ in sich aufnehmen und als „Zeichen und Substanz einer radikal demokratischen Politik schätzen könnten“.4 Der Schwer‐ punkt unserer Bemühungen sollte daher weniger auf einer „Politik der Identität“ beziehungsweise auf Interessen und Überzeugungen, die auf der Grundlage von Identitätsansprüchen formuliert wurden, liegen, als vielmehr auf Prekarisierung und deren differentieller Verteilung. Zudem böten solch „neue Koalitionen“ die Chance, uns aus den „liberalen Sackgassen“ – namentlich, wie ich im folgenden Abschnitt zu zeigen hoffe, die Verengung auf ein monadisch gedachtes Individuum und seine Rechte – herausführen zu können.5 Prekarität und Verletzlichkeit als den Stoff für eine Wiedergewinnung eines Be‐ griffs gesellschaftlicher Solidarität zu bestimmen, mag uns in der Tat nicht nur überraschend, sondern sogar widersinnig erscheinen, gehen wir doch gemeinhin davon aus, dass Verwundbarkeit vielleicht mobilisierender Ausgangspunkt gemein‐ samen politischen Handelns ist, wir sie aber überwinden und keinesfalls erhalten wollen. Und ja, wir wollen und müssen uns schützen vor Verletzung und Unbill, vor Diskriminierung und Versehrung, vor gewaltsamen Formen der Enteignung und Normalisierung, vor Hostilität und hasserfüllten Anrufungen. Aber wollen wir uns auch davor schützen, mit anderen zu sein? Und ist nicht gerade das mit anderen sein, also Relationalität und Interdependenz sowie der Umstand, dass sich unser Sein im Modus der Enteignung, als „Dasein für einen Anderen oder sogar kraft eines Anderen“6 ereignet, die Voraussetzung für unser Weiterleben? Und mehr noch: Schließt dies dann nicht nur die Möglichkeit ein, verletzt zu werden, sondern ist mit anderen sein nicht auch nachgerade die Voraussetzung für Handlungsfähigkeit, für agency? Wir müssen uns zeigen, sagt Hannah Arendt, wir müssen das „Wagnis der Öffent‐ lichkeit“ eingehen; erst dies ermöglicht unsere – episodische – Selbst-Realisierung und erst dann handeln wir. Handeln ereignet sich, in Arendts weltberühmter Formu‐ lierung, nur und ausschließlich „im Verein“. Es ist keine Eigenschaft des Subjekts; es eignet dem „weltlichen Zwischenraum“, durch „den Menschen miteinander ver‐

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Butler 2010, S. 34. Butler 2010, S. 34. Butler 2010, S. 38. Butler 2010, S. 37. Butler 2009, S. 38.

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bunden sind“.7 Enteignung ist deshalb die Voraussetzung für Autonomie und agen‐ cy. Freiheit ist uns nur „unter der Bedingung der Nicht-Souveränität geschenkt“, wie Arendt sagt.8 Dies sind fürwahr starke Behauptungen, die nicht nur jener liberalen Tradition im modernen, westlichen politischen Denken diametral entgegen stehen, die uns, wie Butler andeutet, in die Sackgasse geführt hat, sondern womöglich auch den an Marx anschließenden Traditionen kritischen Denkens. Wenn aber zutrifft, dass wir erscheinen, uns zeigen müssen, dass wir uns aussetzen und überantworten müssen, um zu leben, wie unterscheiden wir dann zwischen jener Verletzlichkeit, die mit der komplexen Menge von Beziehungen einhergeht, ohne die niemand von uns existieren könnte und die uns erst zum Handeln befähigen, sowie jenen differenzi‐ ellen und differenzierenden Weisen der Gefährdung, die darauf abzielen, gerade jene komplexe Menge von Beziehungen zu zerstören, die „uns“ im Leben halten? Und dies ist schon allein deshalb nicht trivial, weil wir „den Anderen von Anfang an ausgeliefert“9 sind. Wir sind abhängig von unterstützenden Infrastrukturen, von ökonomisch, kulturell, sozial und historisch je spezifischen Netzwerken und Bin‐ dungen und von Anerkennungsverhältnissen, die uns im Leben halten. Und wir können diese Abhängigkeit nicht übergehen, sie nicht hinter uns lassen. Sie ist nicht verhandelbar, ein nicht-kontingenter, nicht-verfügbarer Umstand unseres Seins als körperliche Wesen. Und mehr noch: Wir müssen diese Strukturen der Unterstützung sowie die Netzwerke des Lebens gerade dort, wo sie fehlen, auch und gerade unter der Bedingung ihres Fehlens beziehungsweise ihrer systematischen Verhinderung schaffen.

Liberale Sackgassen Was hat das nun mit den Sackgassen des liberalen Denkens zu tun, aus denen uns, wie Butler nahelegt, jene neue Koalitionen herausführen können. Diesen Sackgassen will ich in den folgenden Abschnitten genauer nachgehen. Denn genau hier scheinen mir die Quellen von Solidarität in der Moderne auf entscheidende Weise verschüttet worden zu sein. Worum geht es? In seiner Schrift Zur Judenfrage von 1843 geht Karl Marx dem Rätsel nach, wie es kommen konnte, dass die bürgerlichen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahr‐ hunderts dazu geführt hatten, der Gleichheit die Form der Rechte – genauer: die Form subjektiver Rechte, also individuell begründeter Ansprüche gegenüber dem Gemeinwesen – zu geben. Marx schreibt: 7 Arendt 1974, S. 227. 8 Arendt 1994, S. 213. 9 Butler 2009, S. 44.

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„Es ist schon rätselhaft, daß ein Volk, welches eben beginnt, sich zu befreien, alle Barrieren zwischen den verschiedenen Volksgliedern niederzureißen, ein politisches Ge‐ meinwesen zu gründen, daß ein solches Volk die Berechtigung des egoistischen, vom Mitmenschen und vom Gemeinwesen abgesonderten Menschen feierlich proklamiert.“10

Beides gilt bis heute: Gleichheit verstehen wir als Gleichheit der Rechte, und Recht denken wir als subjektives Recht, als individueller Anspruch der Einzelnen gegen‐ über der Gemeinschaft. Dies sind nicht nur die entscheidenden Elemente des bür‐ gerlichen Rechts, sie sind auch die vielleicht wesentlichen Charakteristika liberaler Demokratien. Und mehr noch: Instituiert wird damit auch die moderne Vorstellung des anspruchsberechtigten Subjekts, das mit einem freien Willen ausgestattet ist und daher frei und unbehelligt über sich selbst und sein Eigentum verfügen können muss. Im liberalen Denken meint Autonomie daher wesentlich die Ablehnung jeglichen äußeren oder gar höheren Prinzips oder Wesens, das den Menschen Handlungsmaxi‐ men auferlegen könnte. Handlungsfähig bin ich in dem Maße, wie solche Beschrän‐ kungen nicht existieren oder doch wenigstens eingeschränkt sind. Autonomie ist wesensmäßig schranken- und grenzenlos, weshalb letztlich keiner Instanz zusteht, Kriterien oder Regeln zu entwickeln, die der Selbstbestimmung Grenzen setzen würden. Die Individuen werden in diesem Zusammenhang als freigesetzte, möglich‐ keitsgesättigte und begehrende Subjekte gedacht, deren freie Entfaltung nur dort eine Grenze findet, wo die private Entfaltung der Anderen berührt ist. Die einzige Kategorie, die im liberalen Denken daher nicht befragt werden muss, die letztlich nicht befragt werden kann und vielleicht auch nicht befragt werden darf, ist das Individuum und sein Wollen. Das Individuum, so der stetig genährte Glaube, ist schlicht da. Doch, so das Frankfurter Institut für Sozialforschung schon Mitte der 1950er Jahre, der Mensch existiert „von Grund auf“ nur durch entsprechende andere; „er ist Mitmensch, ehe er auch Individuum ist […] ein Moment der Verhält‐ nisse, in denen er lebt, ehe er sich vielleicht einmal selbst bestimmen kann“.11 „Der Glaube an die radikale Unabhängigkeit des Einzelnen vom Ganzen“ ist daher „bloßer Schein“.12 In die Herzkammern der bürgerlich-liberalen Moderne ist damit eine folgenrei‐ che Prämisse eingelassen. Der Einzelne – und zunächst ist auch nur der Einzelne gemeint – wird als radikal unabhängig, als autonomes, vielleicht sogar autarkes Individuum gedacht und mit einem letztlich nicht begründbaren, aber auch nicht begründungsbedürftigen Eigeninteresse gegenüber dem Gemeinwesen ausgestattet. „Unter der Einwirkung des Liberalismus“, so noch einmal die Frankfurter, „hat man

10 Marx 1976, S. 366. 11 Institut für Sozialforschung 1983, S. 42. 12 Institut für Sozialforschung 1983, S, 47.

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sich vollends daran gewöhnt, die Monade als ein Absolutes, für sich Seiendes, zu denken“.13 Freiheit erlangt dieses Individuum nicht in und durch Handeln mit anderen, „im Verein“, vielmehr muss dessen Freiheit, die als natürlich gegeben verstanden wird, gerade vor der Gemeinschaft geschützt werden. Das liberale Subjekt, mit anderen Worten, ist ein privates, sich selbst – sowie andere und anderes – besitzendes, letztlich eigengesetzlich gedachtes Subjekt. Soziale Teilhabe ist allein als von der privaten Sphäre her gedachte, interessengesteuerte Teilhabe und gerade nicht als ein acting in concert, ein Handeln mit anderen konzipiert. Und das hieße eben auch als ein emergentes Geschehen, in dem Selbst und Gemeinschaft erst hervorgebracht und nicht als bereits gegeben voraussetzt werden. Noch anders gesagt: Individuelle Autonomie ist, wie Hanna Meissner ausführt, „das Privileg, vermittels der Verfü‐ gung über Privatbesitz die eigene Gesellschaftlichkeit und die damit verbundene konstitutive Verwiesenheit auf Andere zu verleugnen“.14 Zugespitzt formuliert: Auf dem Paradigma des Privateigentums basierend hat uns die bürgerliche Revolution eine bis heute ungebrochene Hegemonie einer zutiefst antisozialen und damit apolitischen Idee individueller Autonomie, ergänzt um ein desengagiertes, instrumentelles Verständnis von Vernunft, beschert – und genau des‐ halb Solidarität subaltern gemacht. Dabei hat die stetig zunehmende Akzeptanz jener Idee von Autonomie als grundlegender imaginärer Bedeutungsgebung der Moderne die Bedingungen sozialer Entwicklung irreversibel verändert. „Unsere“ Autonomie ist insofern zwar als historisch-kulturelle Konstruktion – und damit als kontingent – markiert, zugleich ist sie eine Bedingung „unserer“ Existenz als Subjekte: „Wir“ sind diese Konstruktion. Und das heißt, so tragisch das auch sein mag: Wir können, wie Gayatri Spivak notierte, den Liberalismus nicht nicht wollen.15 Als souveränes Subjekt kann sich dieses Subjekt freilich nur imaginieren, weil es seine unverhandelbaren Abhängigkeiten und Sorgebedürfnisse an veranderte Andere ausgelagert und sie zugleich in spezifischer Weise konfiguriert hat. Und zwar in der Regel als individuelle Besonderheiten, Abweichungen oder Defizite, die als persönliche Risiken immer vor allem als Frage der individuellen Verantwortung und nicht der geteilten Sorge erscheinen. Ein zentrales Moment dieser Konstituierung in der kapitalistischen Moderne ist eine spezifisch polarisierende Zerrissenheit, die das unabhängige, sorgefreie männliche Subjekt in der Sphäre der Erwerbsarbeit hervorbringt, indem die Aufgaben der Abhängigkeit und Sorge in die Sphäre des Haushalts ausgelagert und in den Zuständigkeitsbereich der Genusgruppe Frauen verwiesen wurden. 16 Kurzum: Um als „Ich“ zu bestehen, um „seine“ Autonomie als 13 14 15 16

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Institut für Sozialforschung 1983, S. 42. Meissner 2010, S. 247. Spivak 1993, S. 45. Vgl. hierzu neben vielen anderen Becker-Schmidt 2001; 2011; Beer 1991; Bock/Duden 1977.

Subjekt zu bewahren, muss es seine Formierung in dieser Abhängigkeit und damit seine eigenen Möglichkeitsbedingungen verleugnen. Das autonome Subjekt ist das autarke Subjekt. Das aber heißt auch: Weil es seine Freiheit nicht mit anderen, sondern gegen sie verwirklicht, hat es sie verwirkt.

Recht: performative Kraft Welche Rolle spielt nun das (bürgerliche) Recht in diesem Zusammenhang? Es ist, wie zuletzt Christoph Menke in Kritik der Rechte gezeigt hat, nicht nur jene Kraft, die die Subjekte von der politischen Gemeinschaft separiert, sondern – im Moment der Einsetzung des Subjekts als Subjekt des Rechts – im selben Atemzug das Subjekt und die pólis entpolitisiert. Die „Erklärung der Rechte“, so Menke, ist „zugleich die Degradierung der Politik“.17 Denn der politischen Demokratie, der gleichen Teilhabe aller an der Selbstregierung der Praktiken des Sozialen, setzt das moderne Recht das Recht, in Ruhe gelassen zu werden – to be left alone –, entge‐ gen. Der politische Diskurs des Liberalismus, so hatte es C. B. Macpherson schon 1962 analysiert, ist umschrieben und begrenzt von einer Tradition des „possessiven Individualismus“: Individuen werden darüber definiert, dass sie die Besitzer ihrer Körper sind, die konsequenterweise Rechte nur haben, insofern sie die Besitzer ihrer selbst sind: „The individual was seen […] as owner of himself. The relation of ownership, having become for more and more men [sic] the critically important relation determining their actual freedom and actual respect of realizing their full potentialities, was read back into the nature of the individual“.18

Gibt es demzufolge autonome Subjekte nur, weil sie durch eine spezifische Form von Rechten ins Leben gerufen werden, muss eine Analyse der Rechte also ein‐ schließen, Rechte (auch) als performative, hervorbringende Kraft zu verstehen. Recht reguliert nicht nur (normativ) die Praktiken der Menschen, taxiert und ordnet deren Ansprüche aneinander und ihre Beziehungen miteinander. Recht gibt dem sozialen Gefüge nicht nur Form, vielmehr bringt Recht Sozialität, Praktiken und Subjektivität in je spezifischer Weise erst hervor. Zwar sind Rechte immer als Pro‐ dukte sozialer Verhältnisse, Ergebnis politischer Kämpfe zu verstehen, sie sind als Form aber auch selbst produktiv. So laufen beispielsweise LGBTTIQ*-Forderungen nach Einschluss in, Ermöglichung von und Angleichung im Recht vor diesem Hin‐ tergrund immer auch Gefahr, nicht nur aus dem Blick zu verlieren, dass diese An‐ sprüche unter Bezugnahme auf das vom Liberalismus imaginierte ideale Subjekt – 17 Menke 2015, S. 8. 18 Macpherson 1962, S. 3.

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der Eigentum besitzende, weiße, cis-heterosexuelle (waffentragende) Mann – formu‐ liert werden müssen. Solcherart artikulierte Forderungen riskieren auch, die Subjekte in je bestimmte Vorstellungen von Subjekt, Autonomie, Freiheit einzuschreiben, in Ansprüche auf berücksichtigt werden und von gutem Leben – Vorstellungen, die doch zunächst grundsätzlich umgestaltet werden müssten, wenn es um ein gutes Leben für alle geht. Auch wenn wir also gegenwärtig, so wie die Dinge liegen, auf das Recht, im Recht berücksichtigt zu werden, nicht verzichten können, so gilt es dennoch, die Aporien des bürgerlichen Rechts, in die wir unweigerlich hineingezogen werden, wenn wir Berücksichtigung im Recht einfordern, nicht aus dem Blick zu verlieren. Die als emanzipatorisch verstandenen Rechtsforderungen müssen deshalb nicht nur daraufhin überprüft werden, inwieweit sie individuell ein gutes Leben, Autonomie, die Chance, nach eigenem Gusto wählen und goutieren zu können, ermöglichen oder beschränken, sondern auch, inwieweit sie dazu beitragen, in jenes herrschaftliche Gefüge zu intervenieren, das die ungleiche Verteilung von Prekarität und Verletz‐ lichkeit herstellt und garantiert, Rechte insofern also unterschiedlich weitreichende Formen von Sein und Schutz ermöglichen. Es geht mir in diesem Zusammenhang nicht darum, Rechte und Rechtspolitiken zu disqualifizieren, sie als untauglich für demokratische Kämpfe und Emanzipation zu verwerfen. Zweifellos ist ein rechtloser Zustand ein gnadenloser und unbarmher‐ ziger Zustand der Willkür, der gewaltsamen Enteignung und Abhängigkeit, wie uns die Situation der teilweise über Monate und Jahre in Lagern gehaltenen Geflüchteten deutlich macht. Doch gerade, weil Recht kein neutrales Mittel der Gerechtigkeit ist, sondern selbst als Resultat politischer Kämpfe, aber auch als Artikulation politischer Verhältnisse begriffen werden muss, weil es nicht nur Instrument, sondern performa‐ tive Kraft ist, müssen Rechtspolitiken unablässig fragend durchquert werden. Sie müssen nicht nur auf die kulturellen, sozialen und symbolischen Normen, die in sie eingegangen sind, und auf die in ihnen artikulierten Strukturen sozialer Ungleichheit und politischer Desintegration untersucht werden. Sie müssen daraufhin befragt werden, ob sie Gleichheit und Gerechtigkeit für Verschiedene überhaupt erreichen können, unter welchen Bedingungen sie existierende soziale Verhältnisse bestätigen und maskieren oder wirkungsvoll und nachhaltig konfrontieren und verändern. Sie müssen auf ihre Macht hin analysiert werden, neue Identitäten zu schaffen und neue Grenzen zu ziehen zwischen sinnhaften Existenzen – also solchen, denen Rechte „zustehen“ – und nicht-sinnhaften Existenzen – also solchen, denen Rechte „zu Recht“ verweigert werden.

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No choice! Wie sähe vor diesem Hintergrund ein Denken von Autonomie aus, das seinen Aus‐ gang nicht aus jener selbstverschuldeten Leugnung der wechselseitigen Interdepen‐ denz nähme, in dem Autonomie und Relationalität, Selbstverwirklichung und Bezo‐ genheit, Individuum und Gemeinschaft, nicht als einander ausschließend verhandelt würden? Ein Denken, dass Autonomie in Sozialität und nicht von Sozialität konzi‐ piert, und das Gemeinschaft nicht versteht als Gemeinschaft gegeneinander isolierter Einzelner, die wechselseitig ihre Autonomie und Unversehrtheit voneinander einfor‐ dern, sondern als Gemeinschaft voneinander abhängiger Wesen, die „in Freud und Leid immer schon […] auf eine […] unterstützende Umwelt angewiesen“19 sind? Kehren wir damit auf unserer Suche nach Auswegen aus den liberalen Sackgassen zurück zu Judith Butlers Überlegungen zu einem postsouveränen Subjekt sowie ihrer Ethik der Enteignung, der Verletzbarkeit, des Aufeinanderverwiesenseins, der geteilten Sorge und der Kohabitation. Autonomie ist hier ein umstrittenes und bedingtes Konzept. Butler verwirft Au‐ tonomie nicht – im Übrigen eben so wenig wie das Recht auf Rechte. Vielmehr sucht Butler Autonomie genau von diesen verleugneten Möglichkeitsbedingungen und den damit auch verbundenen Verlusten her zu denken – etwa die Illusion, mein Leben selbst in der Hand zu haben. Denn autonom bin ich nur, weil ich von anderen abhängig bin, weil wir immer schon enteignet sind, uns nicht gehören. „Wenn ich für Autonomie kämpfe“ fragt Butler bereits 2005 in Gefährdetes Leben, „müßte ich dann nicht auch für etwas anderes kämpfen? Für eine Vorstellung meiner selbst als unweigerlich in Gemeinschaft eingebunden, als von anderen beeinflusst und umgekehrt auch andere beeinflußend, und dies in Formen, die ich nicht vollständig steuern oder klar vorhersagen kann? Gibt es eine Möglichkeit, wie ich in vielen Berei‐ chen für Autonomie kämpfen, aber auch die Forderungen berücksichtigen kann, die uns auferlegt werden, weil wir in einer Welt von Wesen leben, die per definitionem physisch voneinander abhängig sind und wechselseitig physisch verletzbar sind? Wäre das nicht eine andere Art, sich Gemeinschaft vorzustellen, eine Gemeinschaft, in der wir uns nur gleichen, insofern wir jeweils einzeln diese Voraussetzung haben und daher eine Bedingt‐ heit gemeinsam haben, die ohne Differenz nicht gedacht werden kann? Diese Art, sich Gemeinschaft vorzustellen, bejaht die Relationalität nicht bloß als eine deskriptive oder historische Tatsache unserer Formierung, sondern auch als eine dauerhafte normative Dimension unseres sozialen und politischen Lebens, als eine Dimension, in der wir gezwungen sind, uns über unsere wechselseitige Abhängigkeit klarzuwerden.“20

Butler ist hier entschieden: Es gibt eine Grenze unserer Wahlfreiheit, eine Art konstitutiver Unfreiheit, die definiert, wer wir sind, ja die normativ festlegt, wer

19 Butler/Athanasiou 2014, S. 17. 20 Butler 2005, S. 44.

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wir sein können. Hannah Arendts Überlegungen in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft21 folgend, argumentiert sie, dass es keine Frage der Wahl sei, mit wem zusammen wir die Erde bewohnen wollen. Im Gegenteil: Dass wir sie bewohnen mit jenen, die wir uns nicht ausgesucht haben, die wir uns nie aussuchen werden, ist eine unhintergehbare Bedingung unseres politischen Lebens. Wir sind vor jedem Vertrag und vor jedem Willensakt aneinander gebunden. Dagegen berücksichtige die liberale Vorstellung nicht hinreichend, dass wir bereits mit denen zusammen auf der Erde leben, die wir uns nie ausgesucht hätten, deren Sprache nicht unsere ist, und die uns dennoch eine Verpflichtung und eine Verantwortung füreinander aufgeben. Subjektivität, Handlungsfähigkeit und Verantwortung denkt Butler vor diesem Hintergrund nicht als in einer vorgängig gedachten Individualität des Subjekts bezie‐ hungsweise dessen als natürlich gegeben gedachtem Vermögen begründet, sondern in der konstitutiven Angewiesenheit auf Andere und unserer prinzipiellen Ausge‐ setztheit an Andere. Verletzbarkeit, Prekärsein ist als ein generelles, wenngleich ungleich verteiltes Charakteristikum des Lebens zu verstehen. „Nach meiner Auffas‐ sung“, schreibt Butler, „ist das Leben des Anderen, das Leben, das nicht unser eigenes ist, auch unser Leben, denn welchen Sinn auch immer ‚unser‘ Leben hat, leitet sich genau von dieser Sozialität her, davon, dass wir bereits und von Anfang an von einer Welt von Anderen abhängig sind, dass wir in einer sozialen Welt und durch eine soziale Welt konstituiert werden“.22 Zwar gebe es sicherlich von „mir klar unterschiedene Andere“23, deren moralischer Anspruch dem Ich gegenüber sich nicht auf ein egoistisches Kalkül des Ich zurückführen lasse. Doch das liege daran, „dass wir, obwohl voneinander abgegrenzt, auch aneinander und an Lebensprozesse gebunden sind, die über die menschliche Form hinausgehen“.24 Wir gehen in diesem Verständnis also nicht als Individuen mit ganz bestimmten Dispositionen, mit ganz bestimmten schützenswerten oder schutzbedürftigen Eigen‐ schaften, mit a-sozial oder vorrechtlich gedachten Ansprüchen den gesellschaftli‐ chen Institutionen voraus. Vielmehr wird unsere je besondere konkrete Gefährdung und Schutzbedürftigkeit erst in sozial-materialen Bedingungen in Beziehung zu Anderen hervorgebracht. Unsere konkrete Verletzbarkeit steht damit immer auch in unmittelbarer Relation zu der Gefährdung und Schutzbedürftigkeit Anderer. Ins Zentrum ist damit die aus der intimen Verquickung von Subjektivität und Subjektion resultierende Dimension von Vulnerabilität gerückt. Wir werden – durch sprachliche Adressierung – ins Leben geholt, dies ist die Bedingung der Möglichkeit von agency. Die soziale Welt, schreibt Butler, ist bereits da, wenn wir auf die Welt kommen. Ich „kann nicht sein, wer ich bin, ohne aus der Sozialität der Normen zu 21 22 23 24

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Arendt 1986. Butler 2012, S. 696. Butler 2012, S. 696. Butler 2012, S. 696.

schöpfen, die mir vorhergehen und mich übersteigen“25. Solcherart ins Leben geholt, angesprochen zu werden, bedeutet dann aber nicht nur, dass wir immer schon in uns vorhergehende Normen hinein gefaltet sind, sondern auch, dass wir verletzbar sind. „Gefährdung“ ist daher „nicht einfach als Merkmal dieses oder jenes Lebens zu begreifen; sie ist vielmehr eine allgemeine Bedingung, deren Allgemeingültigkeit nur geleugnet werden kann, wenn das Gefährdetsein selbst geleugnet wird“.26 Das Selbst, das aus diesen Überlegungen heraustrittt, ist ein verwiesenes, unver‐ meidlich exponiertes und zu Anderen geöffnetes, ein nicht über sich selbst verfü‐ gendes, „ek-statisches Selbst“. Es ist ein Selbst, das sich nicht gehört, das als körperliches Selbst „immer auf etwas mehr und auf anders“ als sich selbst aus ist.27 Es ist nicht, es findet, wie Susanne Völker hervorgehoben hat, „im Verhältnis zu unterwerfenden und regulierenden (Geschlechter- und Sexualitäts-)Normen“ statt.28 Dieses ek-statische Selbst, so Völker, verkörpere eine fundamentale Verflochtenheit mit der Welt, eine Verletzbarkeit durch Andere und eine Verletzungsmacht gegen‐ über Anderen, weshalb es handlungsfähig und verantwortlich für Andere gerade in einem nicht-individualistischen Sinne ist. Wir haben es hier mit einer gänzlich anderen Konzeption von Autonomie und subjektiven Rechten zu tun als mit jener, die uns die liberale Tradition hinterlassen hat. Statt Autonomie auf Trennung, Gegenüberstellung von Eigenem/Eigentum und Anderem zu gründen, setzt Butler auf wechselseitige Verwiesenheit, ja wechselsei‐ tige Enteignung und Dekomposition als Ausgangspunkt für postsouveräne Hand‐ lungsmächtigkeit. Wir werden zu Handelnden, gerade weil wir „durch unsere Bezie‐ hungen nicht nur begründet […], sondern durch sie auch enteignet werden“.29 Mit der höchst mehrdeutigen, prekären, instabilen Position der Enteignung beziehungs‐ weise der Enteigneten arbeitend und im Wissen darum, dass wir, wie gesagt, den Liberalismus nicht nicht wollen können, ist es Butler darum zu tun, das Phantasma des souveränen, ausschließlich sich selbst verpflichteten Subjekts nicht länger zu stützen. In Die Macht der Enteigneten (2014) beschreiben Butler und Athanasiou dies als „Disposition zur Offenheit“, die „am Anfang einer Politik gesellschaftlicher Veränderung steht“ und die Frage des Eigenen und des Eigentums einer radikalen Kritik unterzieht.30 Die hieraus erwachsende Ethik ist die Ethik einer relationalen Praxis in Erwiderung auf eine Pflicht, die ihren Ursprung außerhalb des Subjekts, in der geteilten Welt hat. Sie bezeichnet jenen Akt, der denen einen Platz einräumt,

25 26 27 28 29 30

Butler 2009, S. 58. Butler 2010, S. 29. Butler 2009, S. 47. Völker 2016. Butler 2005, S. 41. Butler/Athanasiou 2014, S. 149.

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die „nicht ich“ sind und die mich damit über meinen Souveränitätsanspruch hinaus‐ tragen in Richtung einer Herausforderung meines Selbstseins von anderswo. Ich fasse zusammen. Enteignung ist hier, wie wir gesehen haben, die „heterono‐ me Bedingung für Autonomie“31. Dagegen hat das liberale Denken unsere grund‐ legende „Gefährdetheit als einer existenziellen – und somit allen gemeinsamen – Kategorie“, die Butler klar von „der prekären sozialen Lage“ unterscheidet, „die auf eine herbeigeführte Ungleichheit […] zurückgeht“32, dergestalt umgearbeitet, dass der Modus der Enteignung nun zur wichtigen, geradezu existenziellen Frage des „Eigenen“, der „Identität“, des imaginären „Wir“ und des Eigentums wird. Das Sein, das nur durch andere möglich ist, wird in ein Insistieren auf ein Sein verkehrt, das im vermeintlich „Eigenen“ – sei es der eigene Körper, der Besitz von Grund und Boden oder die Zugehörigkeit zu einer wie auch immer definierten imagined community33 – gründet und das berechtigt, jene Anderen, die nicht als frei und gleich anerkannt werden, zu beherrschen. Mit der Prämisse einer solchen fundamentalen gegenseitigen Angewiesenheit bietet Butler eine dezidierte Gegenerzählung zu den hegemonialen Ontologisierun‐ gen von Individuum und Allgemeinwohl an. Sie formuliert stattdessen eine soziale Ontologie, in der Sozialität und das Ich von Anfang an als ineinander verwoben und ko-existent gedacht sind; eine Ontologie, die Verletzbarkeit, begründet in unserer prinzipiellen Ausgesetztheit an Andere, als conditio humana bestimmt. Wir gehen hier der Gesellschaft nicht voraus, sondern sind immer schon Teil von ihr, weil wir nur durch Gesellschaft existieren. Butler nimmt damit einen entscheidenden Perspektivwechsel vor, indem sie nicht das begehrende, wissen-wollende Individu‐ um als Ausgangspunkt nimmt, um dann danach zu fragen, wie dessen Bedürfnisse möglichst angemessen und gerecht erfüllt werden können. Unsere je besondere Gefährdung und Schutzbedürftigkeit denkt sie vielmehr entlang der „Achsen der Ungleichheit“34 als differenziell verteilt sowie immer erst in sozial-materialen Appa‐ raten in spezifischer Weise und in unmittelbarer Relation zu der Gefährdung und Schutzbedürftigkeit anderer hervorgebracht. Butler plädiert damit auch für eine Wiedergewinnung des Sozialen als Raum politischen Handelns, während sie zugleich die sedimentierten Grundlagen des Be‐ griffs politischer Handlungsfähigkeit zur Disposition stellt. Und nicht zuletzt werden Verhandlungen darüber, in welcher Weise wir uns auf ein Allgemeinwohl beziehen, so als grundlegende Aufgabe unserer Gegenwart erkennbar.

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Butler/Athanasiou 2014, S. 14. Butler/Athanasiou 2014, S. 38. Anderson 1983. Klinger/Knapp/Sauer 2007.

Koalitionen des Überlebens Was aber bedeutet dies nun für die Frage politischer Allianzen?35 Zuallererst gilt es wohl, politisches Handeln nicht primär als Umsetzung identitär bestimmter Ziele be‐ ziehungsweise als Geltendmachen individuell begründeter Bedürfnisse zu begreifen, sondern als beständiges Erschaffen von Sozialität. Und zwar einer Sozialität, die wir brauchen, um unser Prekärsein unter Bedingungen zu gestalten, die uns nicht als vereinzelte Individuen in Konkurrenzverhältnisse zueinander setzen und uns norma‐ lisierenden Identitätszwängen unterwerfen. Hieraus eröffnen sich dann womöglich neue Berührungspunkte für Bündnisse da, wo bislang vor allem gegensätzliche Besonderheiten im Vordergrund stehen. Soziale Bewegungen, die für ein lebbares Leben, für die Absicherung des Prekärseins kämpfen, müssen nach Butler insofern immer das performativ zum Ausdruck bringen, was sie verwirklichen wollen. Dabei geht es, wie sie in Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung (2016) schreibt, „diesen Bewegungen […] bei ihrem Kampf nicht darum, die Interdependenz oder gar die Vulnerabilität zu überwinden; sie versuchen vielmehr, Bedingungen herbeizuführen, unter denen Vulnerabilität und Interdependenz erträglich werden. Das ist eine Politik, in der performatives Handeln körperlich und plural wird und die einen kritischen Blick auf die Bedingungen des körperlichen Überlebens, Durchhaltens und Gedeihens im Rahmen der radikalen Demokratie wirft. […] Dass wir gleichermaßen von Prekarität bedroht sind, ist nur ein Grund für unsere potenzielle Gleichheit und unsere wechselseitigen Pflicht, gemeinsam die Bedingungen für ein lebbares Leben zu schaffen. Indem wir uns eingeste‐ hen, dass wir einander brauchen, bekennen wir uns auch zu wesentlichen Grundlagen der gesellschaftlichen und demokratischen Bedingungen dessen, was wir nach wie vor als ‚das gute Leben‘ bezeichnen können“.36

Butler schließt damit sowohl an Überlegungen afroamerikanischer feministischer Denker*innen wie bell hooks und Audre Lorde, Pat Parker und Bernice Johnson Reagon an, als auch an queer-feministische Autor*innen des Chicana feminism wie Gloria Anzaldua und Cherrie Moraga.37 Sie intervenierten teilweise schon in und seit den 1970er Jahren in Vorstellungen von geteilter (weiblicher) Identität als Basis und Voraussetzung politischen Handelns, rückten stattdessen die differenziell verteilte Verletzlichkeit und vor allem deren Nichtwahrnehmung und Leugnung als Quellen der Verhinderung von Allianzen und Solidarität ins Licht und machten genau dies sowohl zum Ausgangspunkt queer-feministischen Koalitionshandelns als auch einer Neukonzeption von Subjekt, Autonomie und subjektiven Rechten. 35 Ausführlich auseinander gesetzt habe ich mich mit der Frage von Bündnissen und Allianzen in Hark 2017. 36 Butler 2016, S. 278 f. 37 Vgl. u. a. hooks 1981; 1984; Lorde 1988; 2021; Johnson Reagon 1983; Anzaldúa 1987; 1990; Moraga 2011; Anzaldúa/Moraga 1981.

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Fazit Ich habe meine Suche nach Möglichkeiten für Allianzen und Solidarität mit der Überlegung begonnen, eine gemeinsame, von Identität unabhängige Sprache der Emanzipation sei heute deshalb in weite Ferne gerückt, weil Solidarität selbst subal‐ tern geworden ist. An Marx und Menkes Kritik der Rechte anschließend, konnte ich zeigen, dass eine wesentliche Quelle der Zerstörung von Politik und Solidarität in der Einsetzung des bürgerlichen, besitzenden Subjekts sowie in der Etablierung der Rechte dieses Subjekts in Form subjektiver Rechte zu finden ist. Im Rekurs auf But‐ lers Ethik der Kohabitation, die auf einer Ontologie gründet, in der Verletzbarkeit, verstanden als prinzipielle Ausgesetztheit an Andere, als unsere conditio humana bestimmt wird, habe ich argumentiert, dass der Ausgangspunkt für ein Neudenken von Autonomie, Recht und dem Verhältnis von Recht und Politik in der Tat die Anerkennung unserer prinzipiellen Ausgesetztheit an Andere ist. Wenn zutrifft, dass bald zweihundert Jahre nachdem Marx die feierliche Prokla‐ mation des „egoistischen, vom Mitmenschen und vom Gemeinwesen abgesonderten Menschen“38 angeprangert hatte, „das Eigentum an Grund und Boden“39 noch im‐ mer, wie Athena Athanasiou ausführt, zum „Kernbestand der Onto-Epistemologie der Subjektbildung in der Geschichte des westlichen, weißen, männlichen, koloniali‐ sierenden, kapitalistischen, besitzenden, souveränen Subjekts“40 zählt, und wenn es „für den Liberalismus“ ebenso grundlegend war, „die Verfügung über den eigenen Körper als Eigentum zu definieren“,41 so folgt daraus, dass wir die ontologische Verklammerung von Sein und Haben, dass wir also Sein durch Haben definieren und Haben als eine Grundvoraussetzung des menschlichen Seins an sich gilt, aufknüp‐ fen müssen. Denn solange „Eigentum ontologisch mit Individualismus verknüpft bleibt“42, wird Autonomie zu jenen Privilegien gehören, die nur den Besitzenden zukommt. Solidarität in der Demokratie ist daher nur zu haben um den Preis der Enteignung – weil wir immer schon Enteignete sind.

Literatur Anderson, Benedict, 1998: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Kon‐ zeptes, Frankfurt a. M. Anzaldúa, Gloria, 1987: Borderlands/La Frontera: The New Mestiza, San Francisco.

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Marx 1976, S. 36. Butler/Athanasiou 2014, S. 28. Butler/Athanasiou 2014, S. 28. Butler/Athanasiou 2014, S. 28. Butler/Athanasiou 2014, S. 220.

Anzaldúa, Gloria, 1990: Making Face. Making Soul: Haciendo Caras: Creative & Critical Perspectives by Feminists of Color, San Francisco. Anzaldúa, Gloria/Moraga, Cherríe, 1981: This bridge called my back: writings by radical women of color, New York. Arendt, Hannah, 1983: Über die Revolution. München. Arendt, Hannah, 1986: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperia‐ lismus, totale Herrschaft, München. Arendt, Hannah, 1994: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. München. Becker-Schmidt, Regina, 2001: Was mit Macht getrennt wird, gehört gesellschaftlich zusam‐ men. Zur Dialektik von Umverteilung und Anerkennung in Phänomenen sozialer Un‐ gleichstellung. In: Knapp, G./Wetterer, A. (Hrsg.): Soziale Verortung der Geschlechter. Ge‐ sellschaftstheorie und feministische Kritik, S. 91-131 Becker-Schmidt, Regina, 2011: „Verwahrloste Fürsorge“ – ein Krisenherd gesellschaftlicher Reproduktion. Zivilisationskritische Anmerkungen zur ökonomischen, sozialstaatlichen und sozialkulturellen Vernachlässigung von Praxen im Feld „care work“. In: Gender – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, Bd. 3, H. 3, S. 9-23 Beer, Ursula, 1991: Geschlecht Struktur Geschichte. Soziale Konstituierung des Geschlech‐ terverhältnisses, Frankfurt a. M./New York. Bock, Gisela/Duden, Barbara, 1977: Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus. In: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommer‐ universität für Frauen 1976, S. 118-199 Butler, Judith, 2005: Gefährdetes Leben, Frankfurt a. M. Butler, Judith, 2009: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a. M. Butler, Judith, 2010: Raster des Krieges. Frankfurt a. M. Butler, Judith, 2012: Gefährdetes Leben, Verletzbarkeit und die Ethik der Kohabitation. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie Bd. 60, H. 5, S. 691-704. Butler, Judith, 2016: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin Butler, Judith/Athansiou, Athena, 2014: Die Macht der Enteigneten, Zürich. Hark, Sabine, 2017: Koalitionen des Überlebens. Queere Bündnispolitiken im 21. Jahrhun‐ dert, Göttingen. hooks, bell, 1981: Ain’t I a Woman: Black women and feminism, London/New York. hooks, bell, 1984: Feminist Theory from Margin to Center, London/New York. Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse, 1983. Frankfurt a. M. Johnson Reagon, Bernice, 2000: Coalition Politics. Turning the Century. In: Smith, B. (Hrsg.), 2000: Home Girls. A Black Feminist Anthology, New York, S. 356-368 [Wieder‐ abdruck in: feministische studien H. 1_2015, S. 115-123]. Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axel/Sauer, Birgit (Hrsg.), 2007: Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt a. M./New York. Lorde, Audre, 1988: Lichtflut. Neue Texte, Berlin. Lorde, Audre, 2021: Sister Outsider. Essays, Berlin. Macpherson, Crawford Brough, 1962: The Political Theory of Possessive Individualism: Hobbes to Locke, Oxford.

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Oliver W. Lembcke Temporalität und Kopplung. Zwei neue Elemente in einem alten Diskurs um Verrechtlichung und Entpolitisierung

1. Diskurse und Elemente Das Nachdenken über das Verhältnis von Politik und Recht ist zu einem großen Teil ein Dominanzdiskurs. Wo immer man diesen beginnen lassen mag, mit den Krisen erst der deutschen Staatslehre im Kaiserreich und dann der Staatsrechtslehre in Weimar sind zweifellos erste Höhepunkte erreicht. Denn bei all dem Streit über Geltungsgründe, Methodik und Wissenschaftlichkeit steht doch das Thema des Vor‐ rangs, der Suprematie etc. ganz oben auf der Agenda. Kelsens Identitätsthese, in der Staat und Recht untrennbar zum Rechtsstaat zusammengeschweißt werden, hat seine Antipoden nicht zuletzt deswegen so in Wallung versetzt, weil mit dieser These das Primat des Politischen zurückgewiesen wird. Gerade im deutschen Kontext hat sich aus dieser Dichotomie der beiden Bereiche heraus die Perspektive eines Nullsummenspiels entwickelt, wodurch das – aufgrund der Publikationstätigkeit von Leibholz1 – zum Topos avancierte „Spannungsverhältnis zwischen Recht und Politik“ kaum anders denn als eine Verlustrechnung für die eine oder andere Seite begriffen werden kann. Wie so oft waren es Carl Schmitts Formulierungen, die den Ton setzten: Die Gefahren der „Justizialisierung der Politik“ oder der „Politisierung der Justiz“ fehlen selten,2 wenn es um das prekäre Verhältnis zwischen Politik und Recht geht – und sie verdeutlichen zugleich, dass viel auf dem Spiel steht. Schmitt polemisierte mit diesen Wendungen bekanntlich gegen die Institutiona‐ lisierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit, die über hinreichende Kompetenzen ver‐ fügte, um sich zum Hüter der Verfassung aufzuschwingen. Mit Blick auf die junge Bundesrepublik Deutschland ohne Erfolg.3 Nahezu zeitgleich mit Beginn des Bun‐ desverfassungsgerichts hat jedoch unüberhörbar das Klagelied über die Verrechtli‐ chung der deutschen Politik eingesetzt, das bis zum heutigen Tag in immer neuen Wendungen zu hören ist und das längst aufgegangen ist in einen vielstimmigen Chor über die „counter-majoritarian difficulty“4. Wenn man genau hinhört, besteht 1 Programmatisch ist bereits der Titel des Aufsatzes „Das Spannungsverhältnis von Politik und Recht und die Integrationsfunktion des Bundesverfassungsgerichtes“ von Leibholz 1966, S. 211. 2 Schmitt 1996, S. 62. 3 Lembcke 2007, S. 73 ff. 4 Bickel 1962, S. 16 f.

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das Klagelied aus mehreren Elementen:5 Verrechtlichung bedeutet danach erstens die Verringerung des politischen Handlungsspielraums durch eine (zu) intensive und extensive Auslegung der Verfassung. Eng damit verbunden – nicht selten als Folge einer solchen „entgrenzten“ Verfassungsinterpretation –,6 wird zweitens unter Verrechtlichung verstanden, dass wesentliche Entscheidungen von Akteuren getrof‐ fen werden, die sich für ihre Entscheidungen politisch nicht verantworten müssen, d. h. in demokratischen Verfahren beurteilt werden, in denen Mehrheiten letztlich über Wohl und Wehe, und zwar sowohl der Entscheidungen als auch der Akteure bestimmen. Mit Verrechtlichung wird drittens schließlich die Übernahme politischer Entscheidungen bezeichnet, entweder aus Schwäche der Politik oder aus Gründen der Selbstermächtigung seitens der Verfassungsgerichte. Gerade die dritte Variante hat an Aufmerksamkeit durch eine verstärkte Beach‐ tung der sogenannten Non-majoritarian Institutions (NMIs)7 gewonnen, zu denen nicht nur die nationalen Verfassungsgerichte zählen, sondern auch die europäische Gerichtsbarkeit, allen voran der Europäische Gerichtshof, aber ebenso Regulierungsund Kontrollbehörden oder Institutionen wie die Europäische Zentralbank. Dass die‐ se sich aus den engeren vertraglichen Vorgaben des Europarechts zu lösen verstand, um geldpolitische Entscheidungen mit erheblicher wirtschafts- und finanzpolitischer Wirkung und Reichweite zu treffen (was jüngst erst der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht aus Gründen des Demokratieprinzips nicht standhielt),8 hat die Diskussion um die engen politischen Handlungsspielräume der eigentlichen (weil demokratisch legitimierten) politischer Akteure innerhalb der EU-Polity neu befeuert.9 Liegt hier doch die Gefahr, dass im Kern Entscheidungen, die „Gewinner und Verlierer“ zur Folge haben, dem demokratischen Prozess entzogen werden. Sie lassen sich folglich dann auch nicht mehr mit demokratischen Mitteln aus dem Felde bringen, ja in der Regel nicht einmal mehr in demokratischen Arenen in Frage stellen. Zur Sensibilisierung gegenüber diesem Problem mangelnder demokra‐ tischer „contestation“ hat die Diskussion über die „Über-Konstitutionalisierung“ der EU beigetragen, wonach viele Detailregelungen des Wettbewerbsrechts und Binnenmarktes zum Korpus des Primärrechts gehören und damit eine Wirtschafts‐

5 Eine der ersten Versuche zu Systematisierung des Prozesses der Verrechtlichung findet sich bei Voigt 1980, v.a. S. 13 ff. 6 Vgl. Möllers (2019, S. 7) zur gemeinsamen Perspektive der „Entgrenzung“ der vier Analysen von Möllers, Schönberger, Jestaedt und Lepsius. 7 Majone sieht den funktionalen Mehrwert der NMIs darin, „that the delegation of regulatory powers to an independent institution is – once again – a means by which governments can com‐ mit themselves to regulatory strategies that would not be credible otherwise“ (Majone 1996, S. 4). 8 2 BvR 859/15, v. 05.05.2020. 9 Ausführlicher hierzu im Podcast von Lembcke/Melzer 2020.

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verfassung konstituieren, obwohl sie ihrem Charakter nach Regelungen mit einfach‐ gesetzlichem Gehalt sind.10 Mit dem Begriff der Verrechtlichung können also verschiedene Elemente gefasst werden, die nicht ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen sind. Es mag daher aus analytischen Gründen hilfreich sein, die quantitative Dimension der Expansi‐ on (Ausweitung und Ausdifferenzierung) des Rechts auf bisher rechtlich un(ter)be‐ stimmte soziale Bereiche von der qualitativen Dimension zu unterscheiden, die darin liegt, dass NMIs politische Handlungsmöglichkeiten übernehmen und damit zur Entpolitisierung beitragen. Man sollte jedoch darüber hinaus auch im Blick behalten, dass der Begriff der Verrechtlichung unterschiedliche normative Ausrich‐ tungen umfasst. Das wird deutlich in der Gegenüberstellung nationaler und interna‐ tionaler Kontexte: Während der Begriff der Verrechtlichung im nationalen Kontext typischerweise eine demokratietheoretische Problemperspektive anzeigt, wird er in transnationalen und internationalen Rechtsräumen oftmals zur Depotenzialisierung nationaler Souveränität verwendet mit der Ausrichtung auf eine Perspektive, in der die „sovereignty under law“ als normativ wünschenswert begriffen wird, verbunden in der Regel mit der Idee eines „global constitutionalism“.11 Dieser Schnelldurchgang durch Entwicklung des Verrechtlichungsbegriffs wirft Fragen auf. So stellt sich vor allem die Frage, ob es einen Zusammenhang gibt zwi‐ schen der Komplexität der Phänomenbeschreibung, die ihren Ausdruck in den unter‐ schiedlichen Elementen und Ausrichtungen findet, und der Binarität im Verhältnis der beiden Bereiche Politik und Recht. Es hat den Anschein, als ob der Begriff nicht hinreichend theoretisch fundiert ist. Zu diesem Zweck werden nachfolgend einige skizzenartige Überlegungen angestellt, inspiriert von einigen Einsichten der Mehrebenen- und Arenenpolitik des Neoinstitutionalismus sowie der Temporalitäts‐ dimension der Beschleunigungstheorie.

2. Kopplung und Entkopplung Zur angemessenen Beschreibung der Verrechtlichung erscheint es angemessen, de‐ ren Phänomene in die Prozesse der Ausdifferenzierung des Rechts und der Dezen‐ trierung der Rechtsetzung einzuordnen, die sich als Folge des Formwandels von Staatlichkeit vollziehen und im engen Zusammenhang mit der zunehmenden Ent‐ kopplung der Rechtsetzung von etablierten rechtstaatlichen Prozeduren und demo‐ kratischen Zurechenbarkeiten stehen. Die Systemtheorie weiß daran zu erinnern, 10 Siehe jüngst Schmidt 2020, die das Problem der „EU Over-Constitutionalization“ im BrexitKontext diskutiert. Der Begriff der „Über-Konstitutionalisierung“ geht auf Grimm 2016 zu‐ rück. 11 Peters 2016, S. 12 ff.

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dass eine solche Kopplung des Verhältnisses von Recht und Politik (oder Wirtschaft) ohnehin äußerst voraussetzungsreich ist. Institutionentheoretisch lassen sich die Phä‐ nomene, die hinter der Metapher der „Entkopplung“ stehen, näher identifizieren, nämlich als Eröffnung weiterer Arenen mit zusätzlichen Akteuren, unter denen ins‐ besondere Gerichte, zumal die obersten Gerichtsbarkeiten, verbindliche Entschei‐ dungen treffen können. Verrechtlichung bedeutet aus dieser Warte eine Komplexi‐ tätssteigerung durch neue Entscheidungsarenen mit anderen Spielregeln. Sofern also das Konzept der Verrechtlichung mit dem klassischen Verständnis der Rechtsetzung als Prozess der Gesetzgebung mit dem Parlament als Mittelpunkt des politischen Geschehens verbunden wird, droht der Begriff unterkomplex zu werden. Notwendig ist es daher, die Phänomene der Verrechtlichung in die allgemeinen Prozesse der Ausdifferenzierung des Rechts und der Dezentrierung hinsichtlich der Rechtsetzung einzuordnen, die seit den 1980er Jahren diagnostiziert werden und seither eine um‐ fängliche Debatte über politische Steuerung initiiert haben.12 Das Recht als zentrales Steuerungsmedium des modernen Staates wurde inso‐ weit Gegenstand dieser Debatte, als Differenz und Eigenlogik der verschiedenen Rechtsetzungsebenen verstärkt in den Blick der Politik- und Rechtswissenschaft geraten sind. Rechtstheoretisch lässt sich dieser Befund komplexer Rechtsetzung u. a. durch die Unterscheidung zwischen Rechtsnormen erster, zweiter und dritter Ordnung ausdrücken; rechtspolitisch in dem gewachsenen Interesse an Fragen nach Grund, Zweck und Folgen der Normtypenwahl in politischen Entscheidungsprozes‐ sen.13 Demokratietheoretisch richtet sich der Fokus vor allem auf den Trend zur Rechtsetzung zweiter und dritter Ordnung, der Ausdruck einer gouvernementalen Praxis ist, die ihrerseits Legitimitätsfragen sowie Compliance-Probleme generiert. Die zunehmende Entkopplung der Rechtsetzung von etablierten rechtstaatlichen Prozeduren und demokratischen Zurechenbarkeiten lässt die für die Rechtsakzeptanz konstitutive Verbindung zum Rechtsadressaten erodieren. Das Recht erhält dadurch einen „anomischen“ Zug und verliert seine integrative Wirkung.14 Und aus beschleu‐ nigungstheoretischer Warte ist hinzuzufügen, dass die Anforderungen an die Syn‐ chronisation mit gestiegener Komplexität der Rechtsetzung und der Rolle in diesem Prozess ebenfalls steigen, gleichzeitig aber die Entkopplung beschleunigen. Beide Prozesse eröffnen überdies Varianten des Zeitspiels und des Zeitmanagements. Die‐ se Perspektive ist in der Beschleunigungsforschung bislang weitgehend außerhalb des Fokus geblieben und soll daher im Folgenden etwas näher beleuchtet werden.

12 Zum Stand der Forschung und den unterschiedlichen Perspektiven Dose 2008, S. 29-124. 13 Bogumil/Jann 2009, S. 47 ff. 14 Siehe Begriff und Analyse bei Lhotta 2014.

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3. Temporalität Zweifellos ist „das Recht“ Produkt und Produzent der Moderne; und es hat in dia‐ lektischem Verhältnis Anteil an jenen Prozessen, die als Ausdruck der Moderne be‐ trachtet werden. Man denke an die Rationalisierung der Lebensführung, die Formali‐ sierung von sozialen Verhältnissen, insbesondere durch positives Recht, und die Bü‐ rokratisierung bezogen auf die staatliche Ordnung und deren Organisation; zugleich aber auch die Materialisierung eben dieser Rechtsverhältnisse sowie der Rechtsord‐ nung insgesamt, oftmals im Einklang mit dem Prozess der Individualisierung, die sich selbst als eine ungemein erfolgreiche Entwicklung individueller Rechtsansprü‐ che auszustellen versteht. In dieser Aufzählung fehlt vieles, so etwa der Hinweis auf die Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Aber sie verdeutlicht doch in jedem Fall, dass das Recht nicht als eine Art realissimum am Anfang des vorliegenden Themas stehen kann, sondern seinerseits der Theorie bedarf. Entsprechend vorsichtig sollte auch die Integration des Rechts in einen beschleunigungstheoretischen Ansatz erfol‐ gen, denn das Recht ist und kann beides: Beschleunigung und Entschleunigung. Ihm lässt sich daher auch nicht ohne weiteres eine spezifische Funktion zuschreiben, auch wenn diese aus normativen Gründen der Selbstbeschreibung des Rechtsbetriebs (aber nicht notwendig des Rechtssystems) entspricht. Gemeint ist die Funktion der „(Re‑)Synchronisation“ von Bereichen, die in unterschiedlicher Weise beschleuni‐ gungsfähig sind.15 Als Beispiele werden angeführt: das Umweltrecht, das Arbeitsund Sozialrecht, die Finanzmarktregulierung und (natürlich) das grundsätzlich ent‐ schleunigte Verfassungsrecht.16 Dagegen ist zu sagen, dass das Recht an den vor‐ angegangenen Prozessen der „De-Synchronisierung“ ebenfalls maßgeblich beteiligt war und ist. Das „Fracking“ in den USA – um nur ein besonders anschauliches Bei‐ spiel für die Desynchronisation von Wirtschaft und Politik und Natur zu geben17 – vollzieht sich auf vertraglicher Grundlage, zusätzlich abgesichert durch öffentliches Recht, und zwar in Form von Gesetzen und präsidentiellen Dekreten, wie sich nicht zuletzt anhand der Verbote in den Bundesstaaten New York und Vermont zeigt.18 Anders gesagt, die Ausbeutung der Natur, des Menschen und der menschlichen Na‐ tur vollzieht sich gerade in kapitalistischen Gesellschaften typischerweise aufgrund rechtlich stabilisierter Erwartungserwartungen. Aufgrund der inhärenten Ambivalenz des Rechts bedarf die Integration durch Recht in einen beschleunigungstheoretischen Ansatz der rechtstheoretischen Ver‐ mittlung. Mit Blick auf das Thema und die Frage nach der Rolle des Rechts im Kon‐ text von Temporalität und Verrechtlichung wird hier eine institutionentheoretische 15 16 17 18

Rosa 2018, S. 83 ff. Rosa 2019, S. 322 ff. Siehe u.a. die Risikostudie Fracking von Ewen et al. 2012. Vgl. den Bericht von Kuls 2015.

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Perspektive vorgeschlagen. Diese ist auf der Mesoebene angesiedelt,19 hat daher ty‐ pischerweise mit deduktiven Designs und Hypothesenbildung Probleme, erlaubt aber, Akteure und Strukturen zu unterscheiden und das Recht sowohl in seiner struk‐ turellen (d. h. Handeln begrenzenden bzw. ermöglichenden) Funktion als auch in seiner produktiven Funktion, nämlich aus der Warte der Rechtsproduzenten zu beob‐ achten. Überdies lässt sich der institutionentheoretische Ansatz mit der Unterschei‐ dung von Ebenen und Arenen verbinden, die für die „Verschränkung nationaler und transnationaler“ Prozesse von Relevanz sind. Auf dieser theoretischen Grundlage sind nachfolgend einige Kontexte der Verrechtlichung näher zu analysieren, die hier thesenartig vorab vorgestellt werden sollen: •





Unter den Bedingungen des Mehrebenensystems führt die Gouvernementalisie‐ rung zu komplexen Formen des power sharing und damit zu einer Fragmentie‐ rung der Entscheidungsprozesse, die teilweise durch NMIs kompensiert werden sollen, die ihrerseits jedoch zur Komplexitätssteigerung nebst Verrechtlichung der Politik beitragen und somit für einen erhöhten Bedarf an Synchronisation sorgen. NMIs stellen nicht nur eine Anreizstruktur für Akteure dar (im Sinne des Ratio‐ nal-Choice-Institutionalismus). Sie nutzen ihre institutionelle Entkopplung von demokratischen Mehrheiten zur Umsetzung eigener Policy-Vorstellung. Das gilt auch für Gerichte, einschließlich der Verfassungsgerichtsbarkeit. Am Beispiel der inter-gerichtlichen Kooperation zwischen BFH und BVerfG werden dabei Strategien des Zeitmanagements sichtbar, die sich nicht auf Techniken der Ent‐ schleunigung beschränken, sondern auch solche der Beschleunigung kennen. Die Verschränkung der nationalen und transnationalen Ebene vollzieht sich am Beispiel der EU nach den Modi der Politik, die über die Ressourcenverteilung entscheiden. Basiert die regulative Politik der EU auf Grundlage zentralisierter Kompetenzen, ist die Dynamik der EU-Governance hoch. Fehlt es an Zentralisie‐ rung, bleibt der Grad an Verrechtlichung zwar hoch, produziert aber politischen Leerlauf.

4. Beispiele 4.1 Arenen und Ebenen Die zunehmende Entkopplung der Rechtsetzung von etablierten rechtstaatlichen Prozeduren und demokratischen Zurechenbarkeiten ist Ausdruck der Gouvernemen‐ talisierung, d. h. der wachsenden Konzentration exekutiver Macht, die in modernen 19 Nitschke 2019, S. 25-44.

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Wohlfahrtsstaaten angelegt ist.20 Das ergibt sich u. a. aus der Asymmetrie in der Ressourcenausstattung zugunsten der Verwaltung, den bürokratischen Techniken der Informationsgewinnung und -verarbeitung, die neben der Hierarchie längst auch die modernen Governance-Formen für sich entdeckt haben, sowie aus dem medialen Aufmerksamkeitsmanagement, das ganz wesentlich in der Hand der politischen Führung liegt. Es kommt hinzu, dass demokratische Regierungssysteme unter den Bedingungen einer egalitären Parteiendemokratie maßgeblich vom Dualismus zwi‐ schen Regierung und Opposition bestimmt werden, was vor allem in parlamentari‐ schen Regierungssystemen eine Verschiebung in der Gewaltenteilungsstruktur zur Folge hat,21 und zwar zulasten institutioneller Formen der Gewaltenteilung, die von zeitlich bestimmten Machteilungs- und Machtbeteiligungsprozessen abgelöst werden. In Mehrebenensystemen führt diese Entwicklung zu einer paradoxen Struktur: Einerseits erlaubt es die Konzentration von Legislativmacht und Exekutivmacht der Regierung, die Dynamik politischer Entscheidungen zu erhöhen. Andererseits gilt dies grundsätzlich für jede Regierung, weshalb es in – föderativen oder transnationa‐ len – Mehrebenensystemen zum komplexen power sharing kommt,22 das prinzipiell blockadeanfällig und zeitintensiv ist. Die potentiell dynamischen Wirkungen der Gouvernementalisierung werden durch die Fragmentierung des politischen Systems konterkariert. Frei nach dem Motto: Vertagen statt Durchregieren. Funktional be‐ trachtet, bieten sich zwei Strategien zur Lösung von demokratisch indizierten Poli‐ tikblockaden an: Erstens eine Strategie der Zentralisierung; zweitens die Einrichtung oder Aufwertung von sogenannten NMIs, mithin von demokratisch unabhängigen, an der sachlichen Expertise orientierten Entscheidungseinheiten, d. h. in erster Linie Verfassungsgerichte, Zentralbanken, Regulierungsbehörden etc. (1) In den Arbeiten zur Politikverflechtung ist deutlich geworden, warum die ers‐ te Strategie nur selten zum Zuge kommt – und typischerweise nur infolge externer „Schocks“ eine realistische Chance hat:23 Power sharing (statt division of power), zumal angesichts der gouvernementalen Imprägnierung des europäischem Mehrebe‐ nensystems, hat in der Regel starke Vetomacht und hohe Entscheidungskosten zur Folge. Unter diesen Bedingungen kann Scharpf zufolge die Fragmentierung des Ent‐ scheidungssystems zugunsten einer Zentralisierungsstrategie nur überwunden wer‐ den, wenn „untere Entscheidungseinheiten“ (d. h. Regierungen!) bereit sind, Kom‐ petenzen aufzugeben bzw. an eine höhere Ebene abzugeben zwecks Optimierung der Entscheidungsstruktur samt anschließender Optimierung der Policy-Ergebnisse. 20 Posner/Vermeule 2011, S. 75 ff, S. 93 ff. 21 Steffani 1983, S. 394 ff. 22 Zur Logik des power sharing in Mehrebenensystemen Szukala 2012, S. 37; ausführlich Karlho‐ fer/Pallaver 2017. 23 Ausführlich und grundlegend Scharpf 1985; „revisited“ Scharpf 2006. Siehe speziell zur Funk‐ tion von Shocks und Krisen im Kontext der Politikverflechtung: Falkner 2016, S. 221 f.

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Und diese Bereitschaft ist mit Blick auf die Geschichte der EU grundsätzlich gering ausgeprägt – und gegenwärtig in Zeiten eines constraining dissensus24 ohnehin. (2) Verglichen damit hat sich die zweite Strategie als wesentlich erfolgreicher erwiesen. Die NMIs zählen zu den Siegern unter den politischen Institutionen (und provozieren populistische Gegenreaktionen). In wenigen Fällen ist es zu einer Kopplung der Auslagerung politischer Probleme an eine NMI und zu einer Strate‐ gie der Zentralisierung gekommen: Die Implementation der „Troika“ im Zuge der Währungs- und Schuldenkrise der EU ist hierfür ein Beispiel. Eine Folge des Bedeu‐ tungszuwachses der NMIs ist der Schub an Verrechtlichung, und zwar sowohl durch „rules of the game“25 der verschiedenen Arenen, in denen die NMIs wirken, als auch durch deren der Entscheidungstätigkeit. Darüber hinaus führen NMIs grundsätzlich zu einer weiteren Komplexitätssteigerung, weil mit ihnen neue Arenen mit jeweils eigenen Anreizstrukturen für die politischen Akteure eröffnet werden. Aus beschleu‐ nigungstheoretischer Sicht liegt es nahe, diese Prozesse als wachsende Synchronisa‐ tionsschwierigkeiten zu rekonstruieren, die sich nicht nur inter- und intrasystemisch offenbaren, sondern auch handlungstheoretisch bei der Vermittlung zwischen den Ebenen bzw. Arenen. Zudem kommt die Bedeutung des zeitlichen Taktierens im „two (or more) level game“ in den Blick, wie man das „Spiel über die Bande“ im Anschluss an Putnam nennen könnte.26

4.2 Zeitmanagement NMIs stellen nicht nur eine Anreizstruktur für Akteure dar, vielmehr nutzen diese die institutionelle Entkopplung von demokratischen Mehrheiten zur Umsetzung ei‐ gener Policy-Vorstellung. Rekonstruiert man die Normativität der Verfassung nach Maßgabe der Beschleunigungstheorie, besteht eine wesentliche Funktion von Ver‐ fassungsgerichten darin, die auf Langfristigkeit angelegten Spielregeln der politi‐ schen Ordnung gegenüber der Hektik des politischen Betriebs durchzusetzen; und dies zumeist mit entschleunigender Wirkung aufgrund der judiziellen Deliberations‐ vorgaben,27 die der Politik seitens der Gerichtsbarkeit gemacht werden. Ein anschau‐ liches Beispiel dafür ist das Urteil des BVerfG zum Länderfinanzausgleich,28 in dem das Gericht den Gesetzgeber verpflichtet hat, Maßstäbe des Steuerverteilungs- und Ausgleichssystems gesetzlich festzulegen. Diese Entscheidung bringt die Überzeu‐ gung zum Ausdruck – die sich keineswegs nur beim deutschen Verfassungsgericht findet –, dass eine wesentliche Funktion oberster Gerichte auch darin besteht, der 24 25 26 27 28

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Hooghe/Marks 2009, S. 5. Aus der Perspektive des historischen Neo-Institutionalismus Immergut 1992. Putnam 1988, S. 433 ff. Zur Entschleunigungswirkung siehe den kurzen Beitrag von Bonus 1998. 2 BvF 2/98 v. 11.11.1999, BVerfGE 101, 158.

Politik Handlungsräume zu eröffnen, indem Argumentationsmuster bereitgestellt, Lösungswege aufgezeigt oder Verfahrensprinzipien entwickelt werden, um auf diese Weise „prekäre Legitimitäten“29 zu stützen. Und ein solcher Anspruch gilt zweifel‐ los auch für Krisenzeiten. Allerdings zeigt das Beispiel der EU-Währungskrise, dass Gerichte hier Gefahr laufen, eine Art fassadenartige „Legitimitätspolitik“30 zu betreiben, denn gerade die Analyse der realen Zeitstrukturen offenbart doch die faktische Abhängigkeit der parlamentarischen Kontrolle vom Objekt der Kontrolle, nämlich der Regierung, wodurch die gerichtlich eingeräumten Information-, Partizi‐ pations-, und Deliberationspflichten mehr oder minder zur Makulatur werden. Daneben sollte nicht übersehen werden, dass unter den NMIs selbst Gerichte, die bekanntlich nur auf Antrag tätig werden können (und stark durch den Antrag und die Verfahren, in dem der Antrag verhandelt wird, gebunden sind), die Fähigkeit qua Rechtsprechung besitzen, maßgeblich auf die Temporalstruktur des politischen Systems einzuwirken. Das folgende Beispiel (das die inter-gerichtliche Kooperation zwischen BFH und BVerfG zur Entscheidungen zur Cash-GmbH und zur Schen‐ kungsteuer zum Gegenstand hat) offenbart die Strategie eines gerichtlich induzierten Entscheidungsdrucks: Im September 2012 legt der Bundesfinanzhof (BFH) dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) qua Normenkontrollantrag das Erbschaftsteuergesetz vor, weil er die Begüns‐ tigungen für Betriebsvermögen für verfassungswidrig hält.31 Die BFH-Richter zählen explizit Gestaltungen auf, die nach ihrer Meinung zur Verfassungswidrigkeit führen, darunter die sogenannte „Cash-GmbH“ –, d. h. die Einlage von „Bargeld“ in eine GmbH mit der Folge der vollständigen Befreiung von der Erbschaftsteuer aufgrund der Betriebs‐ vermögensbegünstigungen.32 Die explizite Erwähnung „Cash-GmbH“ führt – wie vom BFH gewünscht – dazu, dass der Gesetzgeber sich noch im selben Jahr der Sache annimmt, und zwar mit dem erklär‐ ten Ziel, eine Regelung noch im Jahressteuergesetz 2013 zu verabschieden. Dieser Zeit‐ plan scheitert jedoch am Nexus mit der Regelung zur Gleichstellung gleichgeschlechtli‐ cher Lebenspartner in der Einkommensteuer, der zu einem Patt im bargaining zwischen Union und SPD führt. Durch die Entscheidung des BVerfG wird die Schlechterstellung von gleichgeschlecht‐ lichen Lebenspartnern in der Einkommensteuer als verfassungswidrig verworfen, und zwar rückwirkend ab 01.08.2001.33 Dadurch entfällt die Grundlage für die Blockadehal‐ tung der Union; und der Gesetzgeber verabschiedet zügig das Anti-Cash-GmbH-Gesetz, das ab 07.06.2013 in Kraft tritt (Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz). 29 30 31 32

Siehe dazu die Beiträge im Band von Nullmeier et al. 2010. Zum Begriff ausführlich Nullmeier/Geis/Daase 2012. BFH v. 27.09.2012 - II R 9/11. Nota bene: Im Vorlagefall geht es in keiner Weise um Betriebsvermögen, sondern im Kern um die Steuerklasse zwischen Geschwistern. Es liegt auf der Hand, dass der BFH nicht länger auf einen einschlägigen Fall warten, sondern um jeden Preis die seines Erachtens relevante Frage vorlegen und vom BVerfG klären lassen wollte. 33 2 BvR 1981/06, v. 07.05.2013.

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Darüber hinaus nimmt das BVerfG die Vorlage des BFH zur Entscheidung an (obwohl der Fall keinen Bezug zum Betriebsvermögen hat) und erklärt mit Urteil vom 17.12.2014 das Erbschaftssteuergesetz für verfassungswidrig.34 Wie sehr das Gericht den Gesetzge‐ ber unter Handlungsdruck setzen möchte, wird bereits durch die Fristsetzung für das neue Gesetz deutlich, das bis 30.06.2016 vorliegen soll. Auch die Erklärung, dass eine Rück‐ wirkung auf den Tag der Entscheidung zulässig sei, sofern die Privilegierungen für Be‐ triebsvermögen „exzessiv“ ausgenutzt werden, verdeutlicht den Regelungswillen des Ge‐ richts. Mit Verstreichen der Frist greifen die Richter zwei Wochen später am 14.07.2016 zum Mittel der Pressemitteilung und drohen an, ersatzweise im Zuge des Normenkon‐ trollverfahrens eine eigene Regelung zu treffen, sollte der Gesetzgeber seiner Pflicht nicht nachkommen.35 Aufgrund dieser Aufforderung des BVerfG wurde der Gesetzgeber schlussendlich tätig.

Über die konkrete Regelungsmaterie hinaus zeigt das Beispiel, dass Gerichte – wie alle NMIs – nicht nur die Komplexität des politischen Systems erhöhen (Arenen, Ebenen, Fragmentierung) und als eigenständige Produzenten zur Verrechtlichung beitragen. Sie haben zudem ihr eigenes Zeitmanagement, das sich nicht in der Gleichung Komplexität gleich Entschleunigung erschöpft, sondern sie fallabhängig als eigene dynamische Policy-Unternehmer ausweist.

4.3 Politikmodi Die beiden paradigmatischen Theorieperspektiven auf den Prozess der europäischen Integration, der liberale Intergouvernementalismus und der Neo-Funktionalismus, stimmen darin überein, dass die EG/EU eine Arena zur Lösung überstaatlicher Pro‐ blemlagen darstellt. Die Positionen unterscheiden sich bekanntlich danach, welchen Grad an Unabhängigkeit diese Arena gegenüber den nationalen Interessen besitzt: Instrumentalität hier, Supranationalität dort. Die EU-Forschung ist vor diesem Hin‐

34 1 BvL 21/12. 35 BVerfG-Pressemitteilung Nr. 41/2016 vom 14. Juli 2016: „Mit Urteil vom 17. Dezember 2014 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts §§ 13a und 13b und § 19 Abs. 1 des Erb‐ schaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes für verfassungswidrig erklärt. Dem Gesetzgeber wurde aufgegeben, bis zum 30. Juni 2016 eine Neuregelung zu treffen (vgl. Pressemitteilung Nr. 116/2014 vom 17. Dezember 2014). […] Zwar gelten die für verfassungswidrig erklärten Vorschriften des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes fort. Da eine entsprechende Gesetzesänderung bis heute nicht vorliegt, hat der Vorsitzende des Ersten Senats des Bundes‐ verfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, nunmehr mit Schreiben an die Bundesregierung, den Bundestag und den Bundesrat vom 12. Juli 2016 mitgeteilt, dass der Erste Senat sich nach der Sommerpause Ende September mit dem weiteren Vorgehen im Normenkontrollverfahren um das Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz befassen wird.“

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tergrund dazu übergegangen, nach Politikfeldern zu differenzieren.36 Welche Muster zeigen sich? •



Die Problemlösungsstrategie der Zentralisierung war vor allem in jenen Berei‐ chen erfolgreich, in denen die Kommission durch allgemeine Standards entweder Hindernisse für den gemeinsamen Handel abgebaut oder Wettbewerbsverzerrun‐ gen im Binnenmarkt beseitigt hat, d. h. in den Bereichen der marktfördernden, sogenannten „negativen“ Integration – vor allem bezogen auf die Wirtschaftsuni‐ on –, und zwar vermittels Regulierung. Auch im Bereich der marktkorrigierenden, positiven Integration – etwa in den Politikfeldern des Verbraucher- und Umweltschutzes oder der Sozialpolitik – lassen sich erfolgreiche Zentralisierungsstrategien verzeichnen, zum Beispiel mit Blick auf die Gleichstellung der Geschlechter, den Regelungen des Arbeitsschut‐ zes oder der Freizügigkeit von Arbeitnehmern. Aber diese Beispiele verdeutli‐ chen ihrerseits die Beschränkung der EU im Bereich der positiven Integration, nämlich auf Formen regulativer Governance („regulative Sozialpolitik“).

Verallgemeinernd gesagt: Je stärker es um Ressourcenverteilung, d. h. um distributi‐ ve und insbesondere um redistributive Politik geht, desto limitierter ist die European Governance. Ihr Beitrag zur Verrechtlichung vollzieht sich überwiegend auf dem Feld regulativer Politik. Das ist ihr Metier; und diesen Aspekt hat Majone hellsichtig mit seinem Wort von der EU als „regulatory state“37 eingefangen. Als Regulierungs‐ staat ist es der EU nach langer Zeit des Stillstandes Ende der 1980er Jahre gelungen, und zwar nach anfänglicher Weichenstellung dann mit „high speed“, die wirtschaft‐ liche Integration des Binnenmarktes voranzutreiben.38 In anderen Politikfeldern hin‐ gegen haben die Mechanismen der Politikverflechtung eine effektive Zentralisierung verhindert – jedoch bei gleichzeitiger Fortsetzung der Verrechtlichung im Bereich der regulativen Governance, die etwas von einem „rasenden Stillstand“ hat: hohe Dynamik, wenig Änderung.39 Eine gewisse Korrektur dieser Struktur hat sich infol‐ ge der Krisenpolitik der EU vollzogen, weil sich hier zumindest in den Bereichen der Haushalts- und vor allem der Währungspolitik Kompetenzverschiebungen durch den externen Schock der Krise ergeben haben, von denen vor allem die EU-Kom‐

36 Umfassende Überblicksdarstellung der verschiedenen EU-Politikfelder von Heinelt/Knodt 2008. 37 Grundlegend Majone 1994. Siehe aus jüngerer Zeit die Analyse von Holzinger/Schmidt 2015. 38 Maßgeblich dafür war die Einführung der Mehrheitsentscheidungen im Rahmen der Gemein‐ schaftsmethode (EEA 1987), durch die das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung, das vom EuGH in seiner Cassis de Dijon-Entscheidung bereits 1979 entwickelt worden war, voll zum Zuge kommen konnte. 39 Nach Majone eine Folge der Priorisierung des Integrationsgedankens über das Demokratie‐ prinzip; vgl. v.a. Majone 2009, S. 179 ff.

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mission und die EZB profitieren, ohne jedoch maßgebliche Reformen gegenüber den wirtschaftlichen Hauptakteuren durchsetzen zu können.40

5. Nachträge und Aussichten Wie sich zeigt, liegen Macht und Ohnmacht staatlicher Politik eng beieinander. Die Gouvernementalisierung der politischen Systeme ist Ausdruck einer strukturellen Machtkonzentration, die in weiten Teilen von der Fragmentierung des politischen Prozesses innerhalb des europäischen Mehrebenensystems konterkariert wird. Die nur partiell erfolgreiche Zentralisierung der European Governance als Gegenmittel sorgt zwar für eine dauerhafte und umfassende Normproduktion in Form von Regu‐ lierungsmaßnahmen. Dieses durchgängig hohe Maß an Verrechtlichung führt jedoch nur in bestimmten Bereichen auch zu einer dynamischen Stabilisierung, nämlich in jenen, in denen die Politikverflechtungsfalle nicht zuschnappt. Für die übrigen, durchaus zahlreichen Politikfelder, in denen in redistributiver Weise um Ressourcen gerungen wird, gilt nur allzu oft, dass diese blockiert bleiben oder suboptimale Politikergebnisse erreicht werden. Die EU ist sich über ihre strukturelle Ohnmacht unter den gegebenen Bedingun‐ gen im Klaren, weshalb sie unterhalb der Delegation an eigenmächtige NMIs wie die EZB eine „weichere“ Form der Steuerung entwickelt hat, nicht zuletzt auch, um die latenten Legitimationsprobleme ihrer Delegationsstrategie abzupuffern. Die Bezeichnung der EU als „network type of governance“41 verweist darauf, dass die EU versucht, die nationalen Verwaltungen vermittels der Europäischen Agenturen in den Prozess der Standardisierung „made in Brussels“ einzubinden. Eine Analyse dieser Agenturen zeigt deren zahlenmäßigen Anstieg, und zwar gerade in jenen Bereichen, in denen die EU aufgrund mangelnder Zentralisierung keine weiterge‐ henden Kompetenzen besitzt.42 Das Ziel dieser Steuerungsweise besteht darin, nichtformalisierte Kanäle zu nutzen, um ein ähnliches Mindset bei der Verwaltung zu erzeugen, Vertrauen zu erhöhen und Voraussetzung für gemeinsame Regulierungs‐ standards zu schaffen.43 Ob diese Produktion von Soft Law, die eine eigene Form der Verrechtlichung darstellt,44 in der Lage ist, Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit zu finden; oder ob es die großen politischen Würfe sind, womöglich durch Schocks exogen induziert, wird sich zeigen – und mit Blick auf die ökologischen Herausforderungen vermutlich in nicht allzu ferner Zukunft.

40 41 42 43 44

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So lautet eine der zentralen Einsichten der bekannten Studie „gekaufte Zeit“ von Streeck 2015. Kohler-Koch 1999, S. 14 f. Eberlein/Grande 2007, S. 149, S. 158 ff. Eberlein/Kerwer 2004, S. 131 ff. Siehe hierzu am Beispiel von Lon Fullers Theorie des Rechts Van Klink/Lembcke 2018.

Vor dem Hintergrund einer drohenden ökologischen Katastrophe plädieren man‐ che Wissenschaftler dafür, dass die Technologie soweit wie möglich an die Stel‐ le des Rechts treten sollte.45 Um ein Beispiel zur Veranschaulichung zu geben: Geschwindigkeitsgrenzen sind aus dieser Warte heraus betrachtet keine Frage des Verwaltungsrechts mehr, das man als Autofahrer um den Preis einer Ordnungswid‐ rigkeit ignorieren kann, sondern ein Ticket zur Ausübung unmittelbaren Zwangs, ausgeübt von einem Kontrollsystem mit der Berechtigung zum externen Herunter‐ bremsen der Geschwindigkeit des Fahrzeugs. „Techno-logos“ statt „eco-logos“ lau‐ tet das Motto, das hier zum Klingen gebracht werden soll, weil das kollektive ökologische Bewusstsein möglicherweise zu langsam ist, um angemessen auf die Herausforderungen zu reagieren – mit der Konsequenz, das normative Sollen ge‐ gen ein faktisch zwingendes Müssen auszutauschen. Was immer man von solchen Doomsday-Szenarien halten mag, „Corona“ hat gezeigt, wie schnell und umfassend die Exekutive in der Lage ist, die Verhältnisse zwischen Politik und Recht neu zu verteilen. Freiheitliches Handeln auf Grundlage gesetzlicher Selbstbestimmung setzt eine Lebenswelt voraus, in der ausreichend Zeit zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen vorhanden ist und eine Re-Synchronisation zwischen Politik und Recht sowie den anderen beteiligten Bereichen der Gesellschaft gelingen kann. Die Verrechtlichung als Folge exekutivlastiger Entscheidungsprozesse in politischen Mehrebenensystemen mit demokratischem Anspruch findet hierin ihre Grenze.

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45 Lembcke 2011, S. 136 ff.

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Teil 3: Historische Erfahrungen

Jens Hacke Die Krise der Demokratie. Zum Verhältnis von Recht und Politik in der Weimarer Republik

Politische Gemeinwesen können auf unterschiedliche Arten in Turbulenzen geraten, aber in der rechtsstaatlich verfassten Demokratie gibt vor allem der Blick auf das Verhältnis von Recht und Politik Aufschluss über die Symptomatik einer Krise. Im Idealfall verfolgt der demokratische Rechtsstaat das Ziel, Politik und Recht in Balance zu halten, so dass beide Bereiche ihre Aufgaben ausfüllen: Das Recht liefert den Rahmen, sorgt für Orientierung, Kontinuität und Sicherheit, während dem politischen System ein dynamisches Element zu eigen ist, das für Handlungsund Manövrierfähigkeit sorgt. Dabei ist es zunächst sogar unerheblich, ob unter Politik die Herstellung von verbindlichen Entscheidungen zu verstehen ist, also die Lösung von Interessen- und Zielkonflikten in dafür vorgesehenen parlamentarischen Prozeduren oder durch demokratische Mehrheiten abgesichertes Handeln der Exe‐ kutive, oder ob ein emphatischer republikanischer Politikbegriff des gemeinsamen bürgerschaftlichen Handelns (wie ihn etwa Hannah Arendt nahelegt) vorausgesetzt wird. Unzweifelhaft ist, dass jede Politik rechtliche Einhegung benötigt. Der Rechts‐ staat, der die Freiheitsräume der Bürger*innen sichert, bleibt das Herzstück der libe‐ ralen Demokratie. Dass dieses gedachte Äquilibrium von Recht und Politik bedroht bleibt, ist evident, denn Politik strebt durch Gesetzesinitiativen zur Verrechtlichung, und Recht bestimmt Politik, am deutlichsten in der Verfassungsgerichtsbarkeit, die im Zuge einer allgemeinen Komplexitätssteigerung politischer Spielraumverengung einer Gefahr der Überlastung ausgesetzt ist, wenn immer mehr Entscheidungen an sie delegiert werden. Auch weil Politik von Juristen dominiert wird, entsteht der Eindruck einer technokratischen Herrschaft, die Sachzwänge lediglich exekutiert, anstatt Alternativen anzubieten. Das Wort von einer postpolitischen Juristokratie macht die Runde, mit dem „die zunehmende Substitution von Politik durch Recht“ beschrieben und ein Erstickungstod der Demokratie assoziiert wird.1

1 Dazu jüngst Manow 2020, S. 18f.

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Rückkehr des Politischen? Dass eine solche Sichtweise zu Verzerrungen neigt, belegt die nicht nur Rückkehr der Politik in der Corona-Krise, als die Stunde der Exekutive schlug und sich zeigte, wie folgenreich politisches Handeln sein kann und welche immensen Auswirkun‐ gen die unter Pandemiebedingungen getroffenen Maßnahmen für alle Bürger*innen haben. Der völlig unvorhergesehene Ausnahmezustand führte musterhaft vor, dass politisches Entscheidungshandeln keineswegs passé ist, sondern ganz im Gegenteil unbedingt erforderlich. Die „Rückkehr des Politischen“ hatte sich die radikale De‐ mokratietheorie anders ersehnt, nämlich als ein Erscheinen des Volkes oder als einen entschlossenen linken Populismus.2 Nun ereignete sie sich als Comeback der Exekutive, die vor der Bewährungsprobe der Krisenbewältigung stand. Schnell war das begriffliche Besteck von Diktatur und Ausnahmezustand zur Hand, mit dem zunehmende Eskalation, dauerhafter Freiheitsentzug und eine Verselbständigung der Exekutive prognostiziert wurde. Die Assoziationen zu der von Carl Schmitt dominierten Debatte um die Diktatur als Krisenlösung stellten sich rasch ein, die theoriegeleitete Skepsis gegenüber dem ausgreifenden Leviathan und die Warnungen vor einer totalitären Biopolitik traten sofort auf den Plan. Dabei zeigte sich, dass der Fall der Pandemie die Demokratie und mit ihr die politische Theorie unvorberei‐ tet traf. Die Notwendigkeiten der öffentlichen Erklärung, der wissenschaftlichen Rechtfertigung und der kritischen Reflexion waren zu keinem Zeitpunkt außer Kraft gesetzt, und die Suspendierung des Versammlungsrechts blieb stets mit den allgemeinen Maßnahmen zum social distancing verbunden. Dass die Stunde der Exekutive in einer repräsentativen Demokratie auf längere Sicht nicht unwiderspro‐ chen bleibt, sondern vielmehr den Widerspruch und die Gestaltungsspielräume des Parlamentarismus einfordert, gehört zu den Kompensationslogiken eines komplexen föderalen politischen Systems, in dem das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, Legislative, Exekutive und Judikative immer wieder neu auszutarieren ist. Der Weg in einen Verordnungsstaat ist daher kaum zu befürchten.3 Es ist auffällig, dass die Prognosen einer einseitigen Verrechtlichung und Techno‐ kratisierung der Politik schon seit längerem an Überzeugungskraft eingebüßt haben. Stattdessen lässt sich eine grassierende Tendenz zur Präsidentialisierung und zur po‐ pulistischen Verschärfung beobachten, die sich in den etablierten westlichen wie in den jüngeren mittel- und osteuropäischen Demokratien gegen die traditionellen Par‐ teien und die repräsentative parlamentarische Regierungsform richtet. Der Advent neocharismatischer Führungspolitiker, die sich unabhängig von den schwerfälligen Parteiapparaten machen, ja diese einfach beseitigen, lässt eine neue Tendenz zum Dezisionismus erkennen. Politische Entscheidungen werden personalisiert und unab‐ 2 Vgl. etwa Rancière 2008; Butler 2016; Mouffe 2018. 3 Siehe etwa Heinig/Möllers 2020.

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hängig von Parteiprogrammen getroffen. Programmatik und ideelle Orientierung, die ehedem Richtungswechsel avisieren oder zumindest im Nachhinein rechtfertigen sollten, scheinen damit an Bedeutung zu verlieren und werden durch oberflächliche Ideologeme und assoziative Rhetoriken ersetzt. Die durch gemeinsame Milieuerfah‐ rungen und Weltanschauung zusammengehaltenen Parteien werden im Zeitalter der „Singularisierung“ (Reckwitz) zunehmend von dynamischen politischen Bewegun‐ gen abgelöst, die sich überwiegend auf von prominenten Führungsfiguren hervorge‐ rufene Affekte und Emotionen stützen.4 Man kann dies als antirationale Regression oder – neutraler – als Repolitisierung im Schmittschen Sinne begreifen, zumal die Ablehnung des Bestehenden weitaus dominanter ist als die Mobilisierung durch einen erkennbaren Zukunftsentwurf.

Der Weimar-Vergleich Die politik- und sozialwissenschaftliche Zeitdiagnostik suggeriert gern, dass gegen‐ wärtige Krisenzeiten grundsätzlich neue Paradigmen erkennen lassen und dass sich nie Dagewesenes ereignet, das erst einmal in neuen Kategorien begriffen werden muss. In einem umfassenden geschichtstheoretischen Sinn ist das sicher richtig, denn wir steigen niemals in denselben Fluss, und eine Wiederkehr des Gleichen gibt es nicht. Andererseits sind gewisse Krisenkonstellationen durchaus vergleich‐ bar, und der ideengeschichtliche Rückblick kann den Sinn für gegenwärtige Lagen schärfen, insbesondere wenn man die sich wandelnden normativen Ansprüche und Problemlösungskapazitäten der Demokratie berücksichtigt. Als Referenzgröße für die vielfach diagnostizierte Krise der Demokratie, deren Ende, Zerfall, Erlöschen oder Sterben die Politikwissenschaftler seit einiger Zeit erwarten, gilt nach wie vor die Existenzkrise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit.5 Ob Wirtschaftskrise, Antiliberalismus, politische Gewalt, Extremismus, Akzeptanzkrise demokratischer Institutionen – das Schreckgespenst der „Weimarisierung“ betritt verlässlich die Bühne, und das Überlegenheitsgefühl einer stabilen demokratischen Kultur sowie der uneingeschränkte Glaube an einen Automatismus gesellschaftlicher Liberalisie‐ rung sind spürbar geschwunden. Während man in der Frühphase der Bundesrepublik die große Distanz zu Weima‐ rer Zuständen herausgestellt hatte und die Systemfehler der Verfassung von 1919 be‐ hoben sah, scheint die Vergangenheit nun wieder näher zu rücken. Die existenziellen Probleme im Verhältnis von Recht und Politik, etwa Carl Schmitts Kontrastierung von Legalität und Legitimität, nehmen sich im Lichte populistischer Verheißungen, 4 Vgl. Reckwitz 2018; Müller 2016. 5 Die 1920/30er Jahre liefern immer wieder den Anlass für Vergleiche mit der Gegenwart. Siehe Levinsky/Ziblatt 2018; Snyder 2018; Runciman 2018; Blom 2017.

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dem wahren Volkswillen gegen ein vermeintliches Kartell aus Establishment und „Lügenpresse“ Geltung zu verschaffen, erstaunlich aktuell aus. Lange überwunden Geglaubtes kehrt zurück und gibt Anlass, das Spannungsverhältnis von Recht und Politik noch einmal in seinen verschiedenen Ausprägungen zu reflektieren. In den vergangenen Jahren hat sich die Forschungsperspektive auf Weimar ver‐ ändert. Man ließ davon ab, die Anfälligkeit der Weimarer Republik allein auf spezifische Strukturdefekte zu reduzieren. Die Pluralität einer politischen Kultur, die antirepublikanische Feinde aushalten musste, aber durchaus auch hoffnungsvolle demokratische Aufbauleistungen vorzuweisen hatte, ließ sich schwerlich pauschal auf einen Nenner bringen. Stattdessen stellten neuere Ansätze die Kontingenzen und besonderen histori‐ schen Konstellationen heraus, die das 14jährige Überleben der Weimarer Republik angesichts gravierender Bedrohungen und Belastungen zu einem Faszinosum wer‐ den ließen und das Scheitern relativierten.6 Auch der Vergleich zur allgemeinen „Krisis der europäischen Demokratie“ (M.J. Bonn) kontextualisiert das Ende der ersten deutschen Demokratie noch einmal auf erkenntnisfördernde Weise: Es waren eben nicht nur die Belastungen eines deutschen Sonderwegs und die politisch-kultu‐ rellen Folgen einer unverarbeiteten Kriegsniederlage, die das demokratische Projekt schwächten, sondern hinzu kamen eine Reihe von Faktoren, die generell für Akzep‐ tanzprobleme der sich neu herausbildenden Massendemokratien mit wohlfahrtsstaat‐ lichem Anspruch sorgten – zuvörderst natürlich die psychosozialen Folgeerschei‐ nungen der Wirtschaftskrise und die Enttäuschung der hohen Erwartungen, welche die Demokratie nach dem Umbruch 1918/19 geweckt hatte. War man bis vor kurzem geneigt, das Zeitalter der Extreme als Epoche abnormer Katastrophenerfahrungen zu sehen, so weckt nun die Frage nach der Fragilität demokratischer Gesellschaften wieder ganz neues Interesse.7 Wie schwierig der Vergleich mit Weimar bleibt, wird deutlich, wenn man sich den grundsätzlichen Streit um die politische Ordnung, der mit der Einrichtung der repräsentativen Demokratie ja keineswegs abgeschlossen war, in Erinnerung ruft. Der Verfassungshistoriker Hans Boldt hat auf die Fülle der widerstreitenden Demokratieauffassungen aufmerksam gemacht: Von Rätedemokratie, sozialistischer Demokratie, nationaler Demokratie bis hin zu Modellen der autoritären Führerde‐ mokratie war vieles im Angebot, und die liberale Demokratie hatte zwar Verfas‐ sungsrang, war aber keineswegs intellektuell oder kulturell hegemonial.8 Mit dem Liberalismusforscher Edmund Fawcett ist zu konstatieren, dass die Etablierung der liberalen Demokratie erst nach dem Zweiten Weltkrieg dauerhaft gelang. Sie war ein „grand bargain“, der dazu führte das Liberale das Prinzip der Volkssouveränität 6 Vgl. Meyer 2015. 7 Vgl. etwa Müller 2014; Müller/Tooze 2015. 8 Siehe Boldt 2000.

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akzeptierten, während Sozialdemokraten liberale Verfahrensregeln, den Schutz des Eigentums und die persönliche Entscheidungsfreiheit zu ihrer Sache machten.9 Die‐ ses Arrangement war das Ergebnis harter Kämpfe und blieb fragil. Das Dilemma der Weimarer Verfassung lag darin, dass sie einen Ordnungsrahmen gewährleisten sollte, der erst einmal keine Chance auf allgemeine Akzeptanz hatte. Um das gebrochene Verhältnis zwischen Politik und Recht zu analysieren, soll im Folgenden der Blick auf drei wesentliche Aspekte gelenkt werden: 1. Verfassung als Provisorium, 2. Legitimität versus Legalität, 3. Vom Staatsrecht zur Politikwis‐ senschaft.10

Verfassung als Provisorium Bekanntlich wurde die Weimarer Verfassung nach ihrer Verabschiedung als „freieste und demokratischste Verfassung der Welt“ gerühmt. Auch im historischen Rück‐ blick hat Christoph Gusy sie jüngst noch einmal als „modernes und zukunftswei‐ sendes“ Werk gepriesen.11 Sie war das Ergebnis einer aufs Äußerste politisierten Gesamtlage, musste gegensätzliche Anforderungen vereinen und Kompromisse fin‐ den, zugleich normative Vorgaben und das prozedurale Regelwerk für eine demokra‐ tische Regierung entwerfen. Der Schritt zur parlamentarischen Demokratie war zwar schon in den letzten Wochen des Kaiserreiches vollzogen worden, aber der erreichte Fortschritt drohte durch radikale Revolutionsforderungen kassiert zu werden, ohne dass er sich überhaupt hatte bewähren können. Es ist hier nicht der Ort, noch einmal aufzuschlüsseln, wie ein Verfassungskompromiss gefunden wurde, der das Privateigentum schützte, aber Sozialisierungen nicht ausschloss, der das Parlament als zentrales Organ etablierte und zugleich mit dem vom Volk gewählten Reichs‐ präsidenten ein Gegengewicht schuf, mit dem eben dieses Parlament ausgeschaltet werden konnte, ein konstitutioneller Kompromiss, der die tragende Rolle der Partei‐ en für die Massendemokratie implizit anerkennen musste, diese im Verfassungstext aber lediglich einmal erwähnte, und zwar mit negativer Konnotation. Die Verfassungsgebung durch die Nationalversammlung kann man mit Hannah Arendt als einen der herausragenden Momente des Politischen begreifen. Gleich‐ zeitig zeigt sich, dass Arendts Ideal des gemeinsamen Handelns eben sehr selten in einem Akt quasi-mythischer Kreation einer neuen Welt, wie sie das für die Founding Fathers vor Augen hatte, aufgeht.12 Weitaus häufiger werden politische Friktionen konserviert bzw. strategisch umschifft. Lange zählte der Topos einer 9 Fawcett 2014. 10 Die folgenden Ausführungen entwickle ich im Anschluss meine Studie zum liberalen politi‐ schen Denken in Weimar. Siehe Hacke 2018. 11 Gusy 2018, S. 1. 12 Vgl. Arendt 1986, S. 183ff.

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misslungenen bzw. gebremsten Revolution von 1918/19 zu den starken Thesen der deutschen Geschichtswissenschaft. Noch im vorletzten Band seiner deutschen Ge‐ sellschaftsgeschichte beklagte Hans-Ulrich Wehler, dass keine „öffentliche Debatte über die folgenreiche Weichenstellung“ der Verfassung zustande kam: „Die kritisch räsonierende Öffentlichkeit blieb funktionsunfähig. Das Volk erwies sich wieder einmal als nützliche Legitimationsfiktion.“13 Nun wird man einräumen müssen, dass im Gegensatz zu den klandestinen Beratungen über das Grundgesetz auf Her‐ renchiemsee immerhin eine verfassungsgebende Versammlung gewählt worden war und es durchaus öffentliche Debatten in Presse und Publizistik gab. Welche Form demokratischer Beteiligung Wehler hier vorschwebte, bleibt unklar. „Das Volk, von dem alle staatlich organisierte Gewalt ausgehen soll, bildet kein Subjekt mit Willen und Bewußtsein“, wie Jürgen Habermas in seiner Abhandlung „Volkssouveränität als Verfahren“ feststellt. Abgesehen davon, dass das Volk „nur im Plural“ auftreten kann14, wäre es besorgniserregend, wenn in einem repräsentativen System keine mäßigenden Kompromisse erreicht werden könnten. Aber die Skepsis gegenüber dem Kompromiss als Form der Entscheidungsfindung begleitet die Geschichte der Demokratie. So sprach Carl Schmitt von den „dilatorischen Formelkompromissen“, sein Schü‐ ler Otto Kirchheimer prägte das Diktum von der „Verfassung ohne Entscheidung“.15 Diese Beurteilungen verraten viel über die politischen Erwartungen, die mit der Ver‐ fassung verknüpft waren. Die neue Verfassung sollte eben nicht lediglich Rahmen und Regelwerk sein, sondern gleichzeitig ein politisches Aktionsprogramm verkün‐ den. Dass die Weimarer Verfassung wesentliche Richtungsentscheidungen vermied und in die Hände des Souveräns legt, unterstrich für die einen ihren demokratischen Charakter, für die anderen bewies es ihre Unentschiedenheit. Die Forschungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass weniger die Kon‐ struktionsfehler des Weimarer Verfassungswerks als vielmehr die ausbleibende Un‐ terstützung und der fehlende Wille, den „Staat als liberalitätsgarantierenden Ord‐ nungsrahmen des gesellschaftlichen Pluralismus“ (Hermann Lübbe) anzuerkennen16, für seine kurze Dauer verantwortlich zu machen sind. Zwar konnten sich eine libe‐ rale Verfassungskonzeption in der (erstmals von Frauen mitgewählten) Nationalver‐ sammlung weitgehend durchsetzen, aber bereits in der DVP gab es starke Vorbehalte gegen die demokratische Ordnung, und der Antiparlamentarismus links und rechts war ein konstanter Begleiter der Republik. Der Verzicht auf eine Ewigkeitsklausel, die den Kern der Verfassung für unveränderbar erklärte, legte einer zivilreligiösen Verfassungskultur Steine in den Weg; die Abdrängung der Grundrechte in den 13 14 15 16

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Wehler 2003, S. 350. Habermas 1998, S. 607. Schmitt 1928/1954, S. 31f.; Kirchheimer 1930/1964, S. 9-56. Lübbe 1988, S. 439.

zweiten Teil der Verfassung verbaute die Sicht auf die eigentliche Leistung der Konstituante: nämlich die feste Verankerung der Freiheits- und Bürgerrechte in der liberalen Demokratie. Dadurch dass parlamentarische Gesetze, die eine Zweidrittelmehrheit auf sich vereinen konnten, in der Lage waren, Verfassungsrecht zu brechen, war es schlecht um die Autorität der Verfassung bestellt – die Verfassung stand zur Disposition der Legislative und war politisch modifizierbar.17 Insofern nimmt es kaum wunder, dass die Frage der Verfassungsreform unaufhörlich diskutiert wurde, sobald die schwin‐ denden Chancen auf stabile Mehrheiten die Dysfunktionalität der parlamentarischen Regierungsform offensichtlich zu machen schien. Nun könnte man argumentieren, dass bei Aussicht auf legale Durchbrechung des Regelwerks die Bereitschaft nach‐ lässt, sich an bestehende Regeln zu halten. Ist allerdings die Krise erst einmal eingetreten, wird es zunehmend unmöglicher, sich auf einen institutionell begehba‐ ren Ausweg zu einigen. Der sozialdemokratische Jurist Ernst Frankel brachte „den paradox-tragische Charakter“ der Lage auf den Punkt: „Wäre mit dem bestehenden Reichstag eine Verfassungsreform möglich, so wäre die Verfassungsreform überflüs‐ sig. Aus der Unmöglichkeit, diese Verfassungsreform durch das Parlament durch‐ führen zu lassen, ergibt sich deren Notwendigkeit.“18 Fraenkel dachte bekanntlich an eine Stärkung der parlamentarischen Regierung durch die Einführung eines kon‐ struktiven Misstrauensvotums; er musste aber auch erkennen, dass sich im Reichstag nur noch antiparlamentarisch gesinnte, destruktive Mehrheiten ergaben. Zudem hat‐ ten einflussreiche Gruppen in Ministerialbürokratie und Justiz kein Interesse mehr daran, die Gesetzgebungskompetenz und politischen Kontrollrechte des Parlaments zu restituieren. Gertrude Lübbe-Wolff hat jüngst an den wichtigen Umstand erinnert, dass staatsrechtliche Bestimmungen und Verfahrensregeln in ihren „vorgesehenen vielfältigen Abhängigkeitsbeziehungen“ nur schwer zu überblicken und die Winkel‐ züge, die einen potentiellen Missbrauch ermöglichen, kaum in Gänze vorherzusehen sind.19 Dies gilt insbesondere für die Anwendung von Ausnahmeregelungen. Wenn man mit Carl Schmitt das Politische vom Ausnahmezustand her konzipiert, so neigt dies schon zu einem Dementi normaler parlamentarischer Praxis, die in der Weimarer Republik aus der Erfahrung einer konstitutionellen Monarchie entwickelt worden war und bekanntlich sehr eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten besaß. Als Hüterin der Republik hätte es darüber hinaus einer Instanz bedurft, um die Normen und den Gehalt der Verfassung überparteilich zu verteidigen. Aber Weimar kannte eben keine Verfassungsgerichtbarkeit, „die die Spielregeln der Demokratie unter umfassenden Schutz gestellt hätte“.20 17 18 19 20

Vgl. Grimm 2018, S. 283. Fraenkel 1932/1999, S. 528. Lübbe-Wolff 2018, S. 138. Ebenda, S. 146.

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Der brüchige Konsens der Weimarer Ordnung zeigt sich darum weniger im Text der Verfassung als im Verfassungsverständnis. Doch auch dann gilt es zu bedenken, dass alles anders hätte kommen können. Nach zehn Jahren meinte der liberale Histo‐ riker Wilhelm Mommsen noch, dass sich die Weimarer Verfassung „überraschend gut bewährt“ und sich als „elastisch genug“ erwiesen habe, „um all die schweren Krisen außen- und innenpolitischer Natur zu überwinden“. Der Glaube, „daß die Republik die heute allein mögliche Form für unser Staatsleben sein kann“, habe sich „in immer weiteren Kreisen durchgesetzt“ und die „Republik als Staatsform“ sei „heute nach menschlichem Ermessen gesichert“.21 Auch linksliberale Intellektu‐ elle wie der Schriftsteller Heinrich Mann waren von der Stabilität der deutschen Demokratie lange überzeugt: „Die deutsche Demokratie war in Deutschland niemals ernstlich bedroht und wird es auch kaum mehr sein“, schrieb er 1925.22 Die Stimmen, die an die Zukunft Weimars glauben wollten, dürfen keinesfalls marginalisiert werden, aber repräsentativ waren sie nicht unbedingt. Die labile politische Lage, die latente Bürgerkriegsatmosphäre, die Ausnahmesituation der Inflation und später die Wirtschaftskrise ließen den Glauben an Demokratie und Verfassung schwinden. Die Überzeugung, in einer transitorischen Epoche zu leben, verfestigte sich zusehends, und einen Ausweg, um der krisenhaften Gegenwart zu entkommen, schien die Überwindung der Verfassung zu bieten. Da die Verfassung nur noch von der schwächer werdenden politischen Mitte hochgehalten wurde, verlor sie ihren Rückhalt. Sie hatte ihren Nimbus als normative Richtschnur für eine soziale Demokratie ebenso eingebüßt wie ihre Wirksamkeit als Regelwerk für Gesetzgebung und Regierungsweise. Auch weite Teile der Staatslehre sahen in ihr weniger einen Rahmen als ein Instrument. In der viel kritisierten, aber wir‐ kungsreichen positivistischen Tradition der Verfassungslehre blieben konstitutionelle Fragen ohnehin der Sehnsuchtsfigur souveräner Staatlichkeit untergeordnet. Von links forderte man die entschlossene Transformation der liberalen zu einer sozialen Demokratie, resignierte Liberale sehnten sich nach einer autoritären Demokratie, von rechts hörte man die unterschiedlichsten Forderungen nach ständestaatlichen oder anderen autoritären Modellen, während der Reichskanzler Brüning gar von einer Rückkehr zur Monarchie träumte. Darin zeigte sich, wie sehr die politischen Polarisierungen dafür gesorgt hatten, dass die politischen Lager auf Distanz zur Verfassung gingen. Einig war man sich in der Ablehnung des Status quo. Der ambitionierte Neuanfang der Weimarer Verfassung, die anfangs Respekt und Würdigung erfuhr, degenerierte zu einer im Nachhinein als ungenügend und verfehlt empfundenen Verfassungsschöpfung, die sich nicht bewährt hatte beziehungsweise vor ihrem Scheitern stand. Ironischerweise schlug das Grundgesetz später den umge‐ kehrten Weg ein. Es war unbemerkt und mit wenig Vorschlusslorbeeren versehen in 21 Mommsen 1929, S. 13f. 22 Mann 1929, S. 225.

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Kraft getreten, von Skeptikern beäugt – sogar der spätere Verfassungspatriot Dolf Sternberger traute dem „schwächlichen Bonner Machwerk“ anfangs wenig zu23 –, aber nach und nach konnte es sich vom Ruch des Provisoriums befreien, um zum integrativen Kern des Staatsbürger*innenbewusstseins zu werden.

Demokratische Legitimität und liberale Legalität In seiner grundlegenden Schrift Legitimität und Legalität spielte Carl Schmitt noch einmal den entscheidenden Gegensatz aus, den er in der politischen Ordnung Wei‐ mars zu erkennen vermochte. Demokratische Legitimität konnte durch geschickte und formal legale Winkelzüge, welche die Verfassung ermöglichte, ausgehebelt wer‐ den. Abgesehen von der demokratisch-legitimierten Konkurrenz zwischen Reichs‐ präsidenten und Parlament (Plebiszite waren eine weitere Möglichkeit!), die paraly‐ sierende Wirkung entfalten konnte, erkannte Schmitt hellsichtig, dass „der bloße Besitz der staatlichen Macht einen zur bloß normativistisch-legalen Macht hinzutre‐ tenden zusätzlichen politischen Mehrwert“ verschaffe, nämlich „eine über-legale Prämie auf den legalen Besitz der legalen Macht und auf die Gewinnung der Mehrheit“.24 Schmitt realisierte, dass die Gefährdung der Republik nicht von einer bewussten Selbstausschaltung der Demokratie ausging, die sich per Mehrheitsent‐ scheid selbst abschaffte. Die größere Gefahr lag darin, dass Verfassungsgegner gezielt legale Mittel ausnutzten, um ein neues Regime zu etablieren. Letztlich bestätigte er damit sein feststehendes Urteil, dass der liberale Verfassungsstaat un‐ fähig zur Politik sei, weil er nicht zwischen Freund und Feind zu unterscheiden vermöge, sondern alles toleriere. Gegner könnten so kaum je entschlossen bekämpft werden. Für einen Staatsrechtler überraschend erteilte Schmitt denn auch dem liberalen Legalitätssystem (und dem Rechtsstaat) eine Absage; eine Ausrichtung dieses Legalitätssystems auf Verfassungsnormen erwog er nicht, geschweige denn die Installierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Schmitt begriff die Verfassung als „konkrete politische Entscheidung“, und ihr Hüter könne dementsprechend „nur eine hochpolitische Instanz mit besonders intensiver politischer Kraft sein“.25 Dem Recht sprach er diese Rolle ab; dies käme einem „Mißbrauch der Justizförmigkeit“ gleich, denn bei einem solchen Versuch habe – nach einem Diktum Guizots – „die Justiz alles zu verlieren und die Politik nichts zu gewinnen“.26 Es muss erstaunen, dass Schmitt dem Reichspräsidenten später die Rolle eines gewissenhaften Verfassungshüters eher zutraute als einem Gremium von Juristen. 23 24 25 26

Arendt/Sternberger 2019, S. 116. Schmitt 1932/1996, S. 32f. Schmitt 1929/1973, S. 69f. Ebenda, S. 100.

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Hier zeigte sich sein Vorbehalt gegen jede Gewaltenteilung und gegen jede Möglich‐ keit, über Debatte zu einem validen Votum zu kommen. Es galt die Unteilbarkeit einer souveränen Entscheidung – und die strenge Trennung von Recht und Politik. Stattdessen favorisierte Schmitt die Möglichkeit, das Recht politisch zu bestimmen. Er setzte auf das Primat des Politischen, um normative Aspekte erst einmal zu igno‐ rieren und das Recht qua dezisionistischen Akt zu stiften. Sein existentielles Ver‐ ständnis des Politischen, das die polarisierte Auseinandersetzung suchte und die Ver‐ nichtung des Feindes ins Kalkül zog, sah den Ausweis der Unfähigkeit zur Politik im Liberalismus darin, dass dieser versuche, „Minderheiten gegen die wechselnden Parlamentsmehrheiten zu schützen und gewisse Interessen und Werte vor ihnen si‐ cherzustellen“.27 Schmitt attackiert einen Normativismus des Rechts, den er Kelsen vorwarf, und eine „liberale Ordnungsgewissheit“.28 Alle wesentlichen Vorstellungen der geistigen Sphäre des Menschen sind existenziell und nicht normativ“, behauptete Schmitt.29 Frieden, Freiheit, Autonomie, Gleichheit, Gerechtigkeit – das Recht an derlei normativen Imperativen auszurichten und ihm eine Orientierungsfunktion zuzuschreiben, widersprach Schmitts Souveränitätsdenken, das die Behauptung der Staatlichkeit und die Bewährung im Ausnahmezustand vor Augen hatte. Sobald das Recht zum Instrument souveräner Herrschaft wurde, verlor es konsequenterweise seine Eigenständigkeit. Wenn man wie Schmitt davon ausging, dass sich die Epoche der Staatlichkeit dem Ende zuneige, musste sich die Rolle des Rechts verändern. Insofern liegt eine gewisse Folgerichtigkeit in Schmitts (kurzzeitiger) späterer Rolle als Kronjurist des NS-Regimes, als er den sogenannten „Röhm-Putsch“ als eine Tat verbrämen konnte, „durch die der Führer sein höchstes Führertum und Richtertum bewährt hat“.30 Bekanntermaßen versteifte sich Schmitt auf die plebiszitäre Legitimität als „ein‐ zige Art staatlicher Rechtfertigung, die heute allgemein als gültig anerkannt sein dürfte“.31 Das Volk tritt bei Schmitt aber nicht einfach auf den Plan und fordert seine Rechte ein, sondern es bleibt eine Verfügungsmasse, die durch politische Führung erst zu einem homogenen Ganzen geformt wird. Deswegen beschränkt sich diese eingeholte plebiszitäre Legitimität auf eine nachträgliche Akklamation von politischen Maßnahmen. Der plebs ist lediglich in der Lage, eine vom Führer gestellte Frage zu akklamieren – ohne Initiativrechte, ohne Möglichkeiten zur Kritik, ohne Anspruch auf differenzierende Erklärung oder Begründung von Politik. Schmitt setzt also mit intellektueller Finesse alles daran, die Komplexität des de‐ mokratischen Rechtsstaats als Hemmnis politischer Richtungsentscheidungen anzu‐ sehen. In produktiver Lesart kann man ihm attestieren, die Latenz des Politischen in 27 28 29 30 31

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Ebenda, S. 67. Zabel 2019, S. 338, 340. Schmitt 1932/1996a, S. 84. Schmitt 1934/1994, S. 230. Schmitt 1932/1996b, S. 87.

jedem Gesetzgebungs- und Verwaltungsakt genau gesehen zu haben; er entwickelte darüber hinaus ein scharfes Sensorium für den Wandel der politischen Streitthemen, die sukzessive „neutralisiert“ werden. Diese Diagnose ist ambivalenter, als Schmitt zugeben möchte: Einerseits schreibt er dem modernen Staat die Macht zu, Konflikte im Religiösen, Nationalen und Ökonomischen erfolgreich zu befrieden. Andererseits soll ausgerechnet zum Ende der 1920er Jahre der „Prozeß fortwährender Neutrali‐ sierung der verschiedenen Gebiete des kulturellen Lebens […] an seinem Ende angelangt“ sein, „weil er bei der Technik angelangt ist“.32 Der liberale Staat und das Recht scheinen nun ihre Kapazitätsgrenzen erreicht zu haben, und den Befrei‐ ungsschlag erhofft sich Schmitt von der Aufhebung der Grenze zwischen Recht und Politik. Der schwache quantitative „totale Staat“, der durch seine Allzuständigkeit überfordert sei, sollte durch den qualitativen totalen Staat ersetzt werden, der straffe hierarchische Führung gewährleistete. Schmitts etatistisches Programm demonstrierte allerdings eher die „Entscheidung für Entschiedenheit“ (Karl Löwith) als die Beschreibung konkreter inhaltlicher Zie‐ le. Seine politischen Impulse speisten sich vor allem aus antiliberalen Abneigungen und begegneten dem verhassten Pluralismus mit einer hypertrophen Sehnsucht nach Ordnung (der allerdings jeder Ordnungssinn verloren ging, so dass der Begriff „kon‐ kretes Ordnungsdenken“ analytische Schärfe lediglich simuliert): „Wir brauchen zuerst einmal einen starken, handlungsfähigen, seinen großen Aufgaben gewachse‐ nen Staat. Haben wir ihn, so können wir neue Einrichtungen, neue Institutionen, neue Verfassungen schaffen.“33 Die Machtquelle für einen solchen Verfassungsum‐ bau zur Überwindung Weimars sah Schmitt in der „aus vorpluralistischen Zeiten stammende[n] Autorität“ des Reichspräsidenten.34 Vor diesem Hintergrund bleiben alle Mutmaßungen darüber, wie er die Weimarer Verfassung eigentlich zu retten gedachte, eigentlich überflüssig. Ebenso wie seine prominenten republikfeindlichen Schüler Ernst Forsthoff und Ernst-Rudolf Huber verabschiedete er sich vom gelten‐ den Verfassungsrecht, um zu spät zu bemerken, dass der kommende Leviathan keine Staatsrechtler mehr benötigte, weil das Recht in ihm nur noch eine ruinöse Kulisse war.

Vom Staatsrecht zur Politikwissenschaft Schmitt bleibt zwar der berühmteste Staatsrechtler der Weimarer Republik, aber das sollte nicht dazu führen, die bedeutende Fraktion demokratisch gesinnter Kolle‐ gen zu ignorieren. Kathrin Groh hat das Quintett Hugo Preuß, Gerhard Anschütz, 32 Schmitt 1932/1996a, S. 94. 33 Schmitt 1932/1995, S. 83. 34 Schmitt 1933/1994, S. 216.

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Richard Thoma, Hans Kelsen und Hermann Heller einer ebenso eingehenden wie faszinierenden Untersuchung unterzogen, die belegt, dass das Verhältnis von Recht und Politik durchaus demokratisch gedacht wurde und dass die Ursprünge der deutschen Politikwissenschaft eben nicht nur in der Anverwandlung der Political Science nach 1949 zu suchen sind, sondern ganz wesentlich in der Weimarer Debatte wurzeln. Schon in der Weimarer Republik formulierte eine demokratisch orientierte Staatsrechtslehre „Input-orientierte Theorien der Demokratie, die auf einer pluralis‐ tischen Basis standen“, und stärkte die Auffassung, „dass Rechtsstaat, Demokratie und Grundrechte zusammengehören“.35 Eine demokratische Staatsrechtslehre konn‐ te sich zwischen 1918 und 1933 nur als Krisenreflexionswissenschaft begreifen. Nun könnte man einwenden, dass die liberale Demokratie die Reflexion der Krise ohnehin institutionalisiert, indem sie Kritik fordert und sich als dynamischen Pro‐ zess begreift, um durch fortwährende Reformen und Anpassungen Fortschritt zu ermöglichen. Insofern ist die Kritik in der Moderne nicht als Ursache der Krise, sondern als Möglichkeit zu deren Überwindung zu denken.36 Zu Recht ist immer wieder auf die fatale Tradition einer positivistischen Staats‐ rechtslehre hingewiesen worden, die davon ausging, dass der Staatswille seinen höchsten Ausdruck im Gesetz finde, und die aus formalistischen Gründen kein dem demokratischen Willen übergeordnetes Gesetz kannte.37 Es ist allerdings daran zu erinnern, dass die Erweiterung des Staatsrechts um eine soziologische Perspektive ein wichtiges Thema der progressiven republikanisch gesinnten Staatsrechtslehrer war. Sie erkannten den konstitutionellen Zusammenhang von Politik und Recht an und thematisierten einerseits die demokratische Rückbindung des Rechts sowie andererseits die Notwendigkeit, die normative Substanz der Verfassung rechtlich zu schützen. Drei Aspekte sollen am Ende summarisch erwähnt werden, um die argumentative Opposition gegen Schmitts Dekonstruktionsversuche der parlamenta‐ rischen Demokratie zu skizzieren. Erstens wandten sich die demokratischen Staatsrechtler scharf gegen Schmitts Gegenüberstellung von Demokratie und Liberalismus. Sie bekräftigten das Junktim zwischen Demokratie und Parlamentarismus, denn demokratische Regierung war nur im repräsentativen Modus möglich und praktikabel. Richard Thoma lehnte es ab, die radikale, egalitäre Demokratie als Reinform zu betrachten, und distanzierte sich von einem rousseauistischen Demokratieverständnis. Stattdessen war für ihn die liberale Prägung der Demokratie maßgeblich, d.h. die Institutionen der parlamenta‐ rischen Demokratie, langfristige Amtsperioden mit persönlicher Verantwortung der Amtsträger, Gewaltenteilung, freies Mandat der Abgeordneten etc., „wenn nur das Fundament des Ganzen das demokratische Stimmrecht ist“. Eine solche Demokratie 35 Groh 2010, S. 579, 586. 36 Dies ergänzend zu Koselleck 1997. 37 Grimm 2018, S. 283.

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blieb gekennzeichnet durch die Abwesenheit von Privilegien, durch gleiche persön‐ liche und politische Freiheitsrechte der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger – sie ist geprägt vom Gleichheitsgedanken und somit „die politische Emanzipation der Unterschicht“.38 Mit Kelsen lässt sich ergänzen, dass einzig die parlamentarische Verhandlungsdemokratie in der Lage ist, Interessenkonflikte durch Kompromisse auszugleichen und den sozialen Frieden zu wahren. Die Vernunft des Kompromisses und die geregelte Austragung von Meinungsverschiedenheiten sind allein in der par‐ lamentarischen Demokratie mit ihrem Wechselspiel von Regierung und Opposition und der damit einhergehenden Achtung der Minderheitenrechte möglich. Zweitens wehrte sich eine liberaldemokratische Staatsrechtslehre gegen die Zu‐ mutungen der gesellschaftlichen Uniformität, die von Schmitts Homogenisierungs‐ vorstellungen ausging, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die demokratischen Praxen in der Zivilgesellschaft (wenn diese anachronistische Begriffsverwendung gestattet ist). Die liberale Demokratie mag allenfalls eine relative soziale und kul‐ turelle Homogenität herstellen; in erster Linie bleibt sie eine politische Ordnung zur Organisation des „sozialen Pluralismus“ (Moritz Julius Bonn).39 Die Idee der Volkssouveränität verstand Kelsen lediglich als nützliche Fiktion. Bei Gerhard Anschütz findet sich das fast aristotelisch anmutende Bekenntnis „Der Staat, das sind wir“; Hugo Preuß stellte den „Volksstaat“ einer unpolitischen Form der Gesell‐ schaft gegenüber und ließ eine zivilgesellschaftlich auszudeutende Konzeption des genossenschaftlichen self-government erkennen. Thoma hingegen verschwieg nicht die „aristokratischen Einbauten“ in modernen Demokratien, verschrieb sich jedoch der Überzeugung, dass mit dem „Kleineleutestaat“ der beste Staat zu machen sei. Der Pluralismus der Weltanschauungen und das seit John Stuart Mill im liberalen Denken fest verankerte Dogma der Gedankenfreiheit bzw. des Relativismus aller Meinungen blieben konstitutive Elemente einer demokratischen Staatslehre. Zudem verteidigten Kelsen und Thoma vehement die konstruktive Rolle der politischen Parteien gegen den Zeitgeist: „Die moderne Demokratie mit ihrem Massenwahlrecht könnte gar nicht leben ohne Parteien. Sie würde zerflattern und hilflos zwischen emotionalen Zufallswahlen, -parlamentsbeschlüssen und -abstimmungen hin- und hertaumeln, wenn nicht organisierte Parteien wenigstens die überwiegende Menge des Flugsandes der Wählermillionen zu festen Betonblöcken zusammenbacken wür‐ den.“40 Drittens schließlich benötigt die demokratische Gesellschaft nicht nur Recht und Gesetz, sondern vor allem demokratischen Geist und demokratische Lebens‐ formen.41 „Die Erziehung zur Demokratie wird eine der praktischen Hauptforderun‐ 38 39 40 41

Thoma 1923, S. 41-43. Bonn 1925, S. 150f. Thoma 1923, S. 63. Zum Begriff vgl. van Rahden 2019.

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gen der Demokratie selbst“, wusste Kelsen.42 Nur durch die Förderung politischer Bildung und die Vermittlung des Freiheits- und Gleichheitsgedankens, der Möglich‐ keiten bürgerschaftlicher Partizipation und basaler Ideen des sozialen Miteinanders kann dem später sogenannten Böckenförde-Paradox begegnet werden, nach dem der freiheitlich liberale Staat angeblich seine eigenen normativen Grundlagen verzehre und nicht zu reproduzieren in der Lage sei. Dass die Eliten in Politik, Wirtschaft, Ministerialbürokratie, Verwaltung und Justiz diesen demokratischen Geist in großer Zahl sabotierten, registrierten sozialdemokratische Juristen wie Hermann Heller, Otto Kirchheimer oder Ernst Fraenkel umfänglich und arbeiteten sich konsequenter‐ weise an den Grenzen des Rechts und der antirepublikanischen Justiz ab. Es ist kein Zufall, dass viele der begabtesten Juristen Weimars späterhin zu den Gründern einer kritischen Politikwissenschaft zählten, die immer wieder die soziale Bedingtheit des Rechts thematisierte.

Fazit Die spannungsgeladene Beziehung zwischen Politik und Recht in der Weimarer Republik war in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Der Verfassungskompromiss von 1919 wurde bekanntlich nur von Teilen der Weimarer Koalition getragen, und auch in den verschiedenen politischen Parteien blieb die Unterstützung kaum durchgängig, denn zumindest Teile des organisierten Liberalismus in DVP und DDP, aber auch im katholischen Milieu der Zentrumspartei, pflegten ihre Vorbehalte gegenüber der politischen Ordnung. Dass unter den Intellektuellen und den beam‐ teten Hochschulprofessoren (pikanterweise besonders in der Rechtswissenschaft) die Gegnerschaft zur Verfassung offen zur Schau getragen wurde, ist bekannt. „So ging es in der Weimarer Republik zu“, kommentierte Hanna Arendt lapidar die Skandalträchtigkeit einer auf dem rechten Auge blinden Justiz, die den politischen Terrorismus von rechts (wenn überhaupt) mit aufreizender Lässigkeit ahndete.43 Es kann deshalb nicht darum gehen, die Weimarer Verfassungswirklichkeit schönzureden, aber das breite Spektrum der politischen Auffassungen sorgte für außerordentlich intensive, gehaltvolle Debatten auf höchstem Niveau und führte einen erbitterten Streit darüber, ob und wie Politik rechtlich einzuhegen sei.44 Jede denkbare Demokratievariante hatte ihre Fürsprecher, alle vorstellbaren autoritären und diktatorischen Modelle wurden ventiliert, so dass die Weimarer Diskussion zum

42 Kelsen 1920/2006, S. 25. 43 Arendt 1989, S. 65. 44 Zur Würdigung der Debatte vgl. Stolleis 2002, S. 414.

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Säurebad und „Laboratorium einer demokratisch-rechtsstaatlichen Demokratietheo‐ rie“ avancierte, gerade weil keine Denkverbote durchsetzbar waren.45 In der Weimarer Auseinandersetzung um Demokratie und Verfassung, um Politik und Recht wird die Zerrissenheit einer Gesellschaft offensichtlich, die nach hochflie‐ genden Hoffnungen und Erwartungen schwere Enttäuschungserfahrungen durchlitt. Nachdem eine große Mehrheit die „Massendemokratie“ als Versprechen auf Gerech‐ tigkeit, Wohlfahrt und sozialen Fortschritt begrüßt hatte, wurde nach kurzer Zeit der demokratische Staat direkt für alle Krisen und Missstände verantwortlich gemacht. Die soziale Demokratie war eine Verheißung, die zunächst von der Sozialdemokra‐ tie bis in den Liberalismus hinein mobilisierte, und dieser sozialliberale Leitwert bleibt in gewisser Weise bis in die Gegenwart wirksam. Die Weimarer Erfahrung sensibilisiert jeden Beobachter dafür, dass insbesondere die Demokratie abhängig vom ökonomischen Erfolg ist, und der Nationalökonom Moritz Julius Bonn sah ins‐ besondere in der Demokratieferne der Unternehmer und Eliten, die private Gewinne einzuheimsen und Verluste zu sozialisieren bestrebt waren, eine ständige Bedrohung der demokratischen Kultur.46 Überhaupt belehren die heftig ausgetragenen Vertei‐ lungskonflikte, die Debatten um Sozialisierung und Wirtschaftsdemokratie darüber, wie zentral die rechtliche – und politisch gewollte – Rahmung des Kapitalismus für die Demokratie ist. Mit Max Webers Schreckensvision von einer einengenden Bürokratisierung und Rationalisierung, die das „eherne Gehäuse der Hörigkeit“ prophezeite, konnte be‐ reits Carl Schmitt nichts mehr anfangen, der die kulturelle Indifferenz der Tech‐ nik und das Kontinuum geistig-ideologischer Auseinandersetzungen hervorhob.47 Der rasante Verfall des Haltbarkeitsdatums von Zeitdiagnosen, die technokratische Governance-Szenarien oder postpolitische Zustände der Langeweile voraussagten, scheint Schmitts Witterung für die Latenz des Politischen zu bestätigen. Es ist kein Wunder, dass Schmitt im Zuge populistischer Bewegungen zum vielzitierten Theoretiker wird, mit dessen pointierter und suggestiver Rhetorik neue politische Einheitsphantasien befeuert werden. Sein Angriff auf den liberalen Rechtsstaat fin‐ det gleichsam eine Wiederaufführung, und die klugen und abgewogenen Argumente seiner Gegner wie Hans Kelsen, Richard Thoma, Hermann Heller oder Moritz Julius Bonn haben an Gültigkeit kaum eingebüßt.48 Sicherlich bedarf es im Blick auf das konstellationsabhängige Argumentieren, die polemische Grundsituation und die bisweilen elitäre Perspektive einer gehöri‐ gen Übertragungsanstrengung, um das Denken der Weimarer Liberalen demokra‐ 45 46 47 48

Siehe Möllers 2008, S. 26. Bonn 1926, S. 38. Vgl. Schmitt 1932/1996a, S. 94f. Durchmustert man die rezente Literatur zum Populismus, wird man wenige Argumente finden, die nicht schon enthalten sind in Heller 1931/1992; Kelsen 1920/2006; Kelsen 1932/2006; Thoma 1925; Bonn 1925.

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tietheoretisch zu aktualisieren. Man darf ein solches Unternehmen gewiss nicht übertreiben: Die Fixierung auf den Staat war tief verankert, kulturelle und soziale Liberalisierungsschübe tendierten dazu, den Gesetzgeber zu überfordern, und Dis‐ kussionen über den normativen Mehrwert des zivilen Ungehorsams wären für das Weimarer Staatsrecht nur schwer vorstellbar. Aber in der Weimarer Krise lässt sich noch einmal in nuce die keineswegs naturwüchsige Fusion von Liberalismus und Demokratie, die Verschränkung von Rechtsstaat und dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit nachvollziehen. Die liberale Demokratie wurde in Krisenlagen gegen vermeintlich einfache Lösungen im Wissen um ihre Komplexität verteidigt, weil sich mit ihr die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verband. Die Gleichursprüng‐ lichkeit von Rechtsstaat und Demokratie, von konstitutionellem Liberalismus und Republikanismus lässt sich zwar normativ überzeugend rekonstruieren, wie dies Jürgen Habermas auf unnachahmliche Weise getan hat.49 Aber die Einsicht in das historische Zustandekommen dieser Kombination hilft dabei, mit Widerständen zu rechnen, weil dieses anspruchsvolle Arrangement von Politik und Recht besonde‐ re Einsichtsfähigkeit und Engagement der Bürger*innen voraussetzt und den Man‐ datsträgern geschärftes Verantwortungsbewusstsein abfordert – beides ist nie ein für alle Mal erreicht, sondern muss stets aufs Neue reflexiv angeeignet werden. „Die repräsentativ verfasste Demokratie ist wie keine andere politische Ordnung darauf angewiesen, dass alle Beteiligten jedenfalls im Kern verstehen, was sie ist und was sie ihnen abverlangt“, konstatierte Peter Graf Kielmansegg.50 Die kom‐ plementären Beziehungen von Partizipation und Repräsentation, von Rechten und Pflichten, Identifikations- und Kritikbereitschaft, prinzipieller Verfassungstreue und gesetzgeberischer Reformwilligkeit (um nur einige zu nennen) prägen die liberale Demokratie. Die theoretischen Anstrengungen, die dafür nötig sind, um das eigent‐ lich Unwahrscheinliche – das leidliche Funktionieren einer liberalen Gesellschaft – gelingen zu lassen, vergegenwärtigt die politische Ideengeschichte, die sich mit der Existenzkrise der Demokratie befasst.

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Herlinde Pauer-Studer Die Politisierung des Rechts im Nationalsozialismus

Die Politisierung des Rechts im Nationalsozialismus hatte die Funktion, den Umbau des Staates in eine Diktatur theoretisch zu untermauern. Recht, Politik und Moral sollten, so die ideologische Vorgabe, eine Einheit in einem Staatsganzen bilden, das Volk und Führer vereinte. Der folgende Beitrag will anhand relevanter Texte der NS-Rechtstheoretiker wesentliche Merkmale dieser Rechtspolitisierung aufzeigen.

1. Nationalsozialistisches Recht: Richtlinien und Institutionen Die NS-Rechtsdenker sprachen sich für ein Rechtsverständnis aus, das sich an Wer‐ ten wie „Gemeinschaft“, „Ehre“, „Treue“ und dem Grundsatz „rassischer Gleich‐ artigkeit“ orientierte. Individuelle Rechte galten als Überbleibsel einer antagonisti‐ schen Beziehung zwischen Souverän und Subjekten – ein Verhältnis, das nach An‐ sicht der NS-Juristen nicht länger der engen, auf Vertrauen beruhenden Beziehung zwischen „Führer“ und „Volksgemeinschaft“ entspreche. So erinnerte der Autor der einführenden Bemerkungen zu einem 1935 erschiene‐ nen Nationalsozialistischen Handbuch für Recht und Gesetzgebung die Leser daran, dass bereits Punkt 19 des Parteiprogramms der NSDAP von 1920 die Forderung erhob, das mit einer materialistischen Weltordnung verknüpfte Römische Recht durch ein Deutsches Gemeinrecht zu ersetzen, das mit dem Gerechtigkeitssinn und den moralischen Gefühlen der Volksgenossen eng verbunden sein sollte.1 Auf diese Weise würde sich der Gegensatz zwischen Recht und Moral auflösen. Statt individu‐ elle Interessen zu schützen, würde sich das deutsche Recht auf die Förderung und Erhaltung der Gemeinschaft richten, ganz nach dem Prinzip „Gemeinnutz geht vor Eigennutz.“2 Die treibende Kraft hinter diesen Richtlinien war der Herausgeber des Hand‐ buchs, Hans Frank. Frank, Mitglied der NSDAP seit 1923, arbeitete eifrig daran, eine organisatorische Struktur für die Implementierung eines nationalsozialistischen Rechts zu schaffen. Die „Assoziation Deutscher Juristen“, die Frank schon am 28. Oktober 1928 gegründet hatte, avancierte mit der Machtübernahme der Natio‐ nalsozialisten zur Dachorganisation für die Vereinigungen der Deutschen Richter, 1 Coblitz 1935, S. VII. 2 Ebd.

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Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer, Universitätslehrer und Notare. Gemeinsam mit diesen Unterabteilungen hatte die Vereinigung der Juristen im Mai 1933 80000 Mit‐ glieder, davon waren 10173 Parteimitglieder.3 Frank leitete auch das NSDAP Reichsrechtsamt, das er auf Befehl Hitlers im Oktober 1930 gegründet hatte. Neben der Rechtsberatung für Parteimitglieder, bot dieses auch Kurse und Schulungen für Parteimitglieder an (zum Beispiel in Rechtspolitik und Rassendoktrin) und entwi‐ ckelte ab 1933 Vorgaben für die Rechtsreform.4 Im März 1933 wurde Frank Justizminister in Bayern, und im April 1933 „Reich‐ kommissar für die Gleichschaltung der Justiz in den deutschen Ländern und für die Erneuerung der Rechtsordnung“. 1934, nachdem die Gleichschaltung größtenteils vollendet war, wurde Frank zum Reichminister (ohne Portfolio) ernannt. Am 26. Ju‐ ni 1933 gründete Frank die „Akademie für Deutsches Recht“, die er als Präsident bis zum 20. August 1942 leitete, als Hitler ihn durch Otto Georg Thierack ersetzte.5 In den 1930er Jahren entwickelte sich die „Akademie für Deutsches Recht“ in eine Schaltstelle für die Ausarbeitung und Verbreitung der NS-Rechtsideologie. Die Zeitschrift der Akademie, die von 1934 bis 1944 erschien, wurde zu einem wichtigen Forum der Debatte unter NS-Juristen.6 Franks Ziel war es, den Einfluss der NSDAP auf Rechtsreform und die Gesetzgebung sicherzustellen. Er gründete deshalb Arbeitsausschüsse innerhalb der Akademie, denen die Aufgabe zukam, neue Gesetzesvorschläge auszuarbeiten. Die Protokolle der Treffen dieser Arbeits‐ ausschüsse sind eine unschätzbare Quelle, um die rechtlich-politischen Debatten in der NS-Zeit zu verstehen.7 Doch Franks ehrgeiziges Programm einer parteipoliti‐ schen Transformation der gesamten Rechtslandschaft traf auf den Widerstand der Ministerialbürokratie, die sich nicht völlig dem Partei-Diktat unterordnen wollte. So versuchte Reichsjustizminister Franz Gürtner, Franks Macht und Einfluss zu unterlaufen. Am 3. November 1933 verkündete Gürtner die Errichtung einer offizi‐ ellen, von Hitler befürworteten Kommission für die Überarbeitung des Strafrechts im Justizministerium.8 Von 1934 bis 1939 erarbeitete diese Kommission unter Gürt‐ 3 Vgl. den Eintrag „Der Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen und die Deutsche Rechtsfront“. In Frank 1935, S. 1566–1571 (bes. S. 1568). 4 Vgl. den Eintrag „Das Reichsrechtsamt der NSDAP“. In: Frank 1935, S. 1555–1565. 5 Am 2. Oktober 1933 wurde die Gründung der Akademie für Deutsches Recht auf dem Juristen‐ tag 1933 in Leipzig bekanntgegeben. 6 Vgl. Frank/Thierack 1934–1944. 7 Vgl. Schubert 1986–2019. Wenngleich diese Arbeitsausschüsse, wie der Herausgeber Werner Schubert betont, nicht direkt die Gesetzgebung beeinflussen und steuern konnten, waren die Diskussionen und Vorschläge dieser Ausschüsse wichtig und wurden von der Ministerialbüro‐ kratie auch berücksichtigt. Vgl. Schubert 1986, S. XVII–XVIII. 8 Die Protokolle der Sitzungen der „Amtlichen Kommission für die Strafrechtsreform“ sind veröffentlicht. Vgl. Schubert/Regge/Rieß/Schmid 1988–1994. Gürtner nominierte zwar Frank als seinen Stellvertreter in der Strafrechtskommission, versuchte aber, dessen Einfluss auf die Beratungen zu neutralisieren. Frank verließ deswegen die „Amtliche Strafrechtskommission“ im Jahre 1935, nicht ohne Gürtner daran zu erinnern, dass die Zustimmung zu einem reformierten Strafrechtskodex auch von der Partei abhängen würde. Vgl. Schubert 1988, S. XV–XVI.

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ners Vorsitz einen Entwurf für ein neues Strafrecht für das Deutsche Reich, der aber von Hitler nicht unterzeichnet wurde und somit nicht in Kraft trat. Wenngleich ideo‐ logisch weit moderater als Frank, arbeitete doch auch die Gürtner-Kommission dem NS-Regime zu, indem sie einige schwerwiegende Änderungen des Strafrechtskodex von 1871 umsetzte (z. B. die Zulassung der Analogie im Strafrecht im Jahr 1935).9 Diese Maßnahmen hatten einen erheblichen Einfluss auf das Rechtsdenken. Alle Bemühungen der regime-loyalen Juristen, die Rechtsordnung der NS-Dok‐ trin anzupassen, vermochten nicht, Hitlers notorisches Misstrauen gegen die Justiz auszuräumen. Der Krieg verstärkte die Aversionen des Führers. In einer Reichstags‐ rede am 26. April 1942 kündigte er an, in Fällen zu intervenieren, die seiner Mei‐ nung nach gerichtlich falsch entschieden wurden, und jene Richter aus ihrem Amt zu entfernen, die offensichtlich nicht „das Gebot der Stunde“ erkannten, dass näm‐ lich Deutschlands Überleben wichtiger sei als „formales Recht“.10 Im Anschluss an Hitlers Rede bestätigte der Deutsche Reichstag offiziell, dass Hitler als oberster Ge‐ richtsherr des Reichs ungeachtet bestehender rechtlicher Einschränkungen gegen je‐ ne Richter vorgehen konnte, die „ihre Pflichten verletzt hatten“.11 Sogar Hans Frank

Ein Kernelement eines liberalen Strafrechts ist, dass bestehende Strafrechtsnormen nicht per Analogie auf neue, im bestehenden Gesetz nicht geregelte Straftatbestände ausgedehnt werden können. Die amtliche Strafrechtskommission unter der Leitung des Justizministers Gürtner empfahl 1935 die Zulassung der Analogie im Strafrecht, womit der Grundsatz § 2 des seit 1871 geltenden Strafrechts: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde“, nicht mehr galt. Der Vorschlag der amtlichen NS-Strafrechtskommission zur Neuformulierung des § 2 des Strafgesetzbuchs lautete: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesunder Volksanschauung Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.“ Mit der Auflage, „gesunde Volksanschauung“ durch „gesundes Volksempfinden“ zu ersetzen, wur‐ de diese Formulierung dann Teil des Artikels 1 des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz‐ buchs vom 28. Juni 1935 (vgl. Reichsgesetzblatt vom 5. Juli 1935, RGBl. I, S. 839). Mit der Aufhebung des Analogieverbots erweiterte sich der richterliche Ermessensspielraum erheblich. Zu einer ausführlichen Diskussion des Strafrechts im Nationalsozialismus vgl. Pauer-Studer 2020, Kap. 3. 10 Vgl. Hitler 1942, S. 1874 f. 11 Ebd., S. 1876 f. Das Treffen am 26. April 1942 war das letzte Treffen des sogenannten „Groß‐ deutschen Reichstags“. Die Wahlen zum „Großdeutschen Reichstag“ (mit einer fast nur aus Nationalsozialisten bestehenden Liste von Kandidaten) hatten am 11. April 1938 stattgefunden (zusammen mit einem Referendum über den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich). Im Anschluss an seine Reichstagsrede am 13. Juli 1934, in der Hitler die Aktion gegen die SA Ende Juni 1934 (also die Ermordung des SA-Führers Ernst Röhm und von 100 SA-Mitgliedern durch die SS) rechtfertigte, hatte sich Hitler schon die Rolle eines obersten Gerichtsherrn des deutschen Volkes angemaßt. Am 26. April 1942 holte er sich dafür die offizielle Bestätigung des Reichstags. Hitlers Anspruch vom 13. Juli 1934 auf das Amt des obersten Gerichtsherrn und seine Aktion gegen die SA wurde von Carl Schmitt in seinem Artikel „Der Führer schützt das Recht“ verteidigt. 9

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protestierte in mehreren Reden gegen diese Entmachtung der Justiz – ein Schritt, der den Verlust all seiner juridischen Positionen im Reich zur Folge hatte.12 Hitlers Wille, gegen nicht angepasste Richter vorzugehen, führte dazu, dass Otto Georg Thierack (Gürtners Nachfolger als Reichsjustizminister) die so genannten „Richterbriefe“ entwickelte.13 Diese Pamphlete, die ab Oktober 1942 an Staatsan‐ wälte und Richter verschickt wurden, diskutierten, wie konkrete Fälle nach den Prinzipien der NS-Weltanschauung hätten entschieden werden sollen. Ironischerwei‐ se verdeutlichen die „Richterbriefe“, dass das NS-Regime in der Kontrolle der Justiz an Grenzen stieß. Selbst Justizminister Thierack, ein überzeugter Nationalsozialist, wagte es nicht, offen das Prinzip der Unabhängigkeit des Richters in Frage zu stellen oder gar abzuschaffen.14 Dennoch war der politische Druck auf Staatsanwälte und Richter im Dritten Reich erheblich. Die Justiz verlor zunehmend Kompetenzen an die Polizei. Bereits in den 1930er Jahren tagten die Gerichte oft unter Beobachtung der Gestapo, und frei gesprochene Angeklagte (insbesondere politische Gegner) wurden im Anschluss an das Gerichtsverfahren in Gestapo-Gewahrsam genommen.15 In den besetzten Ostgebieten ersetzten Standgerichte zunehmend die ordentliche Gerichtsbarkeit. In einer Übereinkunft vom 18. September 1942 zwischen Thierack und Heinrich Himmler stimmte der Justizminister der Korrektur von Gerichtsurteilen durch die Gestapo prinzipiell zu und lieferte zu mehr als acht Jahren verurteilte Strafgefangene an die Polizei aus („Vernichtung durch Arbeit“). Und ab November 1942 erlangte der Reichsführer SS das Recht der Strafverfolgung für Polen, Juden und Angehörige „anderer Ostvölker“.

2. Nationalsozialistisches Recht: Theoretische Grundlagen Wenngleich Hans Frank das Projekt einer Erneuerung des deutschen Rechtes im Einklang mit der nationalsozialistischen Weltanschauung mit Nachdruck verfolgte, so hatte er offensichtlich Schwierigkeiten zu erklären, was damit genau gemeint war. Die jüngst veröffentlichten Protokolle des „Ausschusses für Rechtsphilosophie“ der 12 Hans Frank behielt seine Position als Generalgouverneur im besetzten Polen – eine Funktion, die ihn so tief in NS-Verbrechen verwickelte, dass er beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt und im Oktober 1946 hingerichtet wurde. 13 Vgl. Boberach 1975. Franz Gürtner starb am 29. Januar 1941. Am 20. August 1942 ernannte Hitler nach einer Interimsperiode, in der Staatssekretär Franz Schlegelberger das Justizministe‐ rium leitete, Otto Georg Thierack als Justizminister. 14 In einem Runderlass vom 7. September 1942 erklärte Thierack, dass die „Richterbriefe“ keine Weisungen an Richter seien, sondern als Veranschaulichung zu verstehen seien, wie sich die juridische Führung die Anwendung nationalsozialistischen Rechts vorstelle. Vgl. Thierack 1942, S. 1–3 (bes. S. 2). Zur komplexen Haltung des NS-Regimes gegenüber Richtern vgl. Graver 2018. 15 Werle 1989, S. 574.

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„Akademie für Deutsches Recht“ liefern ein anschauliches Beispiel.16 Im Anschluss an die pompös inszenierte Gründungssitzung des Ausschusses am 3. Mai 1934 im Weimarer „Nietzsche Archiv“ mit feierlichen Reden von Frank und Alfred Rosen‐ berg, wurden die Ausschuss-Mitglieder in einem mit 8. Mai 1934 datierten Brief des stellvertretenden Ausschuss-Vorsitzenden Carl-August Emge gebeten, in schriftli‐ cher Form zu der Frage Stellung zu nehmen, wie der Begriff des „Deutschen“ mit dem Recht „in Verbindung zu setzen“ sei.17 Die Antworten dürften selbst Emge ent‐ täuscht haben, da sie lediglich bereits bekannte Phrasen wiederholten. Das national‐ sozialistische deutsche Recht, schrieb etwa Julius Binder, gehe nicht von einem „ab‐ strakten Universalismus“ und einem „kosmopolitischen Denken“ aus, sondern viel‐ mehr von der „Einheit des Volkes und seiner Glieder in ihrer ständischen Unter‐ schiedenheit“, also von der „Deutschen Volksgemeinschaft, die deutsches Wollen und Denken wesenhaft“ bestimme.18 Dass sich Franks ehrgeizige Pläne nicht in der gewünschten Weise realisieren ließen, lag nicht zuletzt an der schwer fassbaren Nazi-Ideologie.19 Maßgeblich für die NS-Weltanschauung waren die programmatischen Reden des Führers. Es erwies sich jedoch als fast unmögliche Aufgabe, Hitlers Tiraden in normative Argumente zu übersetzen. 16 Vgl. „Ausschuss für Rechtsphilosophie der Akademie für Deutsches Recht“. In: Schubert 2019a, S. 45–78. 17 Mitglieder des „Ausschusses für Rechtsphilosophie“ der Akademie waren (unter anderen): Hans Frank (Vorsitzender), Carl-August Emge (stellvertretender Vorsitzender), Alfred Rosen‐ berg, Martin Heidegger, Carl Schmitt, Julius Binder, Erich Jung, Erich Rothacker, Rudolf Stammler, Hans Freyer, Jakob v. Uexküll. Die Gastgeberin der Gründungssitzung am 3. Mai 1934 in Weimar war Friedrich Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche. In seiner Er‐ öffnungsrede betonte Frank die Relevanz von Nietzsches Denken für den Nationalsozialismus. Neben den Reden von Frank, Rosenberg, und Emge enthält die Weimarer Akte zu dem Aus‐ schuss für Rechtsphilosophie auch schriftliche Antworten mehrerer Mitglieder (Binder, v. Uex‐ küll, Rothacker, Jung, Stammler) dazu, wie die Aufgaben des Ausschusses im Lichte von Franks und Rosenbergs Reden zu definieren seien. Wie der Herausgeber Werner Schubert be‐ merkt, ist unklar, ob nach dem Juni 1934 noch weitere Sitzungen dieses Ausschusses stattfan‐ den, da in den Archiven keine weiteren Protokolle auffindbar sind. Schubert hält es für un‐ wahrscheinlich, dass der „Ausschuss für Rechtsphilosophie“ nach 1934 heimlich tagte, wie un‐ längst von einigen Forschern behauptet wurde. Vgl. Schubert 2019b, S. 13–18. 18 Vgl. Antwort von Prof. D. J. Binder vom 9.5.1934, in: Schubert 2019a, S. 58–61 (bes. S. 60). Neben Julius Binder, J. v. Uexküll, Erich Jung, Rudolf Stammler, antwortete auch Erich Rotha‐ cker in schriftlicher Form. Rothacker meinte, die Beantwortung der Frage, was „deutsch“ sei, erfordere eine solch „ungeheure Vorarbeit“, dass er die Einrichtung eines speziellen For‐ schungsinstituts (möglicherweise als geisteswissenschaftliche Abteilung der „Kaiser-WilhelmGesellschaft“) empfahl, an dem neben Juristen auch Historiker, Soziologen, Philosophen und Vertreter der Geopolitik und Rassenkunde beteiligt sein sollten. Vgl. Antwort von Prof. Dr. Erich Rothacker vom 20.5.1934. In: Schubert 2019a, S. 65–67 (bes. S. 65 f.). Die Weimarer Akte enthält keine schriftlichen Stellungnahmen von Martin Heidegger oder Carl Schmitt auf Emges Fragen. 19 In seiner berühmten Studie Behemoth (1942) schrieb Franz Neumann, dass sich die nationalso‐ zialistische Ideologie ständig ändere. Abgesehen von bestimmten magischen Glaubensformeln (z. B. Führerverehrung und Überlegenheit der arischen Rasse) würden sich keine klar formu‐ lierten und festgelegten Postulate finden. Vgl. Neumann 1942, S. 40; 2009, S. 39.

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Dennoch setzten die NS-Rechtstheoretiker alles daran, dem NS-Staat eine über Willkürmaßnahmen hinausreichende normative Struktur zuzuschreiben. Dabei be‐ dienten sie sich der Ressourcen der klassischen politischen Philosophie. So argu‐ mentierten sie, basierend auf der bewussten Umdeutung von Rousseaus Begriff des „allgemeinen Willens“ (volonté générale), dass des Führers umfassende, ja totale Autorität in seiner persönlichen Verkörperung des kollektiven Willens des deutschen Volkes begründet sei.20 Wie der NS-Verfassungsexperte Ernst Rudolf Huber schrieb: „Er [der Führer] ist vielmehr selbst der Träger des völkischen Gemeinwillens. [...] Er ist hingegeben an die objektive geschichtliche Einheit und Ganzheit des Volkes. Deshalb ist es ihm möglich, sich im Namen des wahrhaften Volkswillens, dem er dient, gegen die subjektiven Meinungen und Überzeugungen einzelner Volksglieder zu wenden, wenn diese sich von der objektiven Sendung des Volkes abkehren.“21 Selbstredend waren sich diese Rechtsdenker bewusst, dass Rousseaus Überlegun‐ gen im „Gesellschaftsvertrag“ auf die Begründung einer republikanischen Regie‐ rungsform abzielten. Sie kritisierten deshalb, Rousseaus Begriff des allgemeinen Willens (volonté générale) sei „zu individualistisch“ und, wie Huber es ausdrückte, lediglich „ein Kompromiß zwischen den verschiedenen im Widerstreit liegenden gesellschaftlichen Interessen.“22 Ähnlich argumentierte Karl Larenz: Rousseaus vo‐ lonté générale, würde nur „das verallgemeinerte, auf einen Generalnenner gebrachte Einzelinteresse“ zum Ausdruck bringen.23 Notwendig sei vielmehr eine substantielle, in der Seinsordnung verankerte Inter‐ pretation des Begriffs des allgemeinen Willens, die sich von Rousseaus fiktionaler 20 Vgl. Rousseau 1762/1977, S. 16–19. Rousseaus Problem war, eine Form der politischen Verge‐ sellschaftung zu finden, die jeder Person ihre Freiheit sichert. Seine Lösung war ein Gesell‐ schaftsvertrag, dem jeder freiwillig zustimmt und „seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens“ stellt. (A. a. O., S. 18 (Kursivierung im Original).) Unter Interpreten ist die Frage umstritten, ob Rousseaus Charakterisierung des daraus entste‐ henden Gesellschaftsgefüges letztlich totalitär sei, da die Unabhängigkeit des Individuums nicht mehr gegeben sei. Besonders kontrovers ist Rousseaus Behauptung: „Dieser Akt des Zu‐ sammenschlusses schafft augenblicklich eine sittliche Gesamtkörperschaft, die aus ebenso vie‐ len Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und die durch ebendiesen Akt ihre Einheit, ihr gemeinschaftliches Ich, ihr Leben und ihren Willen erhält.“ (Ebd.) Robert Nisbet sieht Rousseau als einen Wegbereiter des Totalitarismus. Vgl. Nisbet 1943. Interessant ist je‐ denfalls, dass die NS-Rechtstheoretiker Rousseau nicht als theoretisch-philosophischen An‐ knüpfungspunkt für die Darlegung der normativen Grundlagen des NS-Staates sahen. 21 Huber 1939, S. 195 f. 22 A. a. O., S. 195. 23 Larenz 1934, S. 7. Nach Larenz kam Hegels Philosophie dem nationalsozialistischen Rechts‐ verständnis wesentlich näher als Rousseau. Für Hegel, so schrieb Larenz, sei „das Recht ‚etwas Heiliges überhaupt‘, weil es das Dasein des allgemeinen Willens, d. h. Form und Ausdruck der in einem Volke lebendigen Sittlichkeit ist.“ (A. a. O., S. 6.) Larenz verknüpfte, Hegel folgend, den ethischen Wert des Rechts mit dem der Lebensordnung und Sittenordnung innewohnenden objektiven Geist. Larenz betonte auch, dass Hegel, anders als Kant, für den die Aufgabe des Staates und des öffentlichen Rechts in der Sicherung des Privatrechts bestand, das Privatrecht dem Staat und dem öffentlichen Recht unterordnete. Vgl. Larenz 1934, S. 9. Der Vorrang des öffentlichen Rechts vor dem Privatrecht war ein zentrales Prinzip der NS-Rechtsdoktrin.

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Lesart unterscheide.24 Gemeint war damit wohl, dass die Macht des Souveräns im Führerstaat nicht über ein hypothetisches Gedankenexperiment gerechtfertigt wer‐ den könne, demgemäß alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen Grund haben, der Machtübertragung an den Souverän zuzustimmen. Denn Rousseaus vorrangiges Bestreben war ja bekanntlich, die Freiheit der Bürger durch deren politische Selbst‐ gesetzgebung unter Bedingungen der Unparteilichkeit und Gleichheit zu sichern. Die NS-Denker ignorierten bewusst Rousseaus wichtige Unterscheidung zwischen dem Willen aller (volonté de tous) und dem allgemeinen Willen (volonté générale), der mehr war als die bloße Summe der individuell-egoistischen Interessen. Die verzerrten Interpretationen Rousseaus sind der NS-Ideologie geschuldet. Sie verdeutlichen, wie im Nationalsozialismus das Individuum in der Volksgemeinschaft aufging. Der Führerstaat verstand sich nicht als Gesellschaft von autonomen Indivi‐ duen mit politischen Rechten, sondern als Gemeinschaft von Volksgenossen, die primär Verbindlichkeiten gegenüber dem völkischen Ganzen hatten. Das Dritte Reich entwickelte sich rasch in Richtung eines Staates mit unüberseh‐ bar totalitären Zügen. Neben der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten intervenierte der NS-Staat in Bereiche des sozialen Lebens, die während der demokratischen Weimarer Periode der staatlichen Einmischung und Kontrolle entzogen waren.25 Besonders gravierend und verstörend war der Einfluss der Rassenideologie, die eine brutale Ausgrenzung jüdischer Mitbürgerinnen und ‑bürger nach sich zog und die sozialen und intimen Beziehungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Deut‐ schen zerstörte. Diese Eingriffe in die persönliche Freiheitssphäre zielten darauf, die Bürgerin‐ nen und Bürger politisch auf Linie zu bringen. Die offizielle Rechtfertigung der NS-Theoretiker klang harmloser: Die nationale Einheit mache es erforderlich, dass die Bürgerinnen und Bürger ihr Leben in Übereinstimmung mit einer einheitlichen Weltanschauung und geteilten ethischen Werten und Überzeugungen führten. Philosophisch gesehen widersprachen diese normativen Ambitionen den Grund‐ sätzen der Aufklärungsdenker, allen voran der politischen Philosophie Immanuel Kants. Dies erklärt, warum sich in den Texten der NS-Rechtstheoretiker so gut wie keine positiven Bezugnahmen auf Kants politische Philosophie und Rechtsphiloso‐ phie finden.26 24 Huber 1939, S. 196. 25 Vgl. Koonz 2003, S. 69–102. 26 Obwohl sich die NS-Juristen nicht auf Kants politische Philosophie berufen konnten, instru‐ mentalisierten sie Kants Reflexionen über Ethik, indem sie Kantische Begriffe – guter Wille, unbedingte Pflicht und den kategorischen Imperativ zum Beispiel – aus dem Kontext lösten. Kants Anspruch, dass ethische Pflichten unabhängig von ihrer Zweckdienlichkeit und Nütz‐ lichkeit gelten sollten, wurde so falsch interpretiert. Die NS-Rhetorik transformierte einfach die Kantische Idee, dass ethische Pflichten um ihrer selbst willen gelten, in die Forderung, dass Pflichten bedingungslos befolgt werden müssten – also ohne jede Berücksichtigung ihres Inhalts und ihrer Rechtfertigung. Während „bedingungslos“ und „unbedingt“ in Kants

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Kants strikte Trennung von Recht und Ethik war unvereinbar mit dem Zugriff des NS-Staates auf die ethischen Haltungen der Bürgerinnen und Bürger. Nach Kant ob‐ liegt der Staatsmacht die Sicherung der gleichen externen Freiheit der Bürger, also deren gewaltloser Interaktion im öffentlichen Raum. Aufgabe des Staates ist es, die‐ se äußere Freiheit zu schützen, sich aber jeglicher Kontrolle der Gesinnungen der In‐ dividuen zu enthalten.27 Die ethische Perfektionierung des Selbst ist der inneren Freiheit und Selbstgesetzgebung der Subjekte überantwortet. Kants Definition individueller Selbstbestimmung steht in scharfem Kontrast mit der NS-Ideologie. Die berühmte Passage in Kants „Gemeinspruch“, dass eine „Re‐ gierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre“, der „größte denkbare Despotismus“ wäre, liest sich gleichsam als vernichtendes Urteil über den Führerstaat und seine Volkswohlrheto‐ rik.28 Hitlers vorgebliche Verpflichtung, das Wohlergehen des Volkes zu fördern, war nicht mehr als eine propagandistische Verschleierung seines Griffs nach totaler Macht. Die NS-Rechtsdenker waren bemüht, genau diese Tendenz zum Totalitarismus zu verwischen. Denn jegliche Assoziation des NS-Staates mit einem allmächtigen „Leviathan“ würde, wie die regime-loyalen Juristen realisierten, das Bild des Führers als vertrau‐ enswürdiger Autorität untergraben.29 Doch das Unterfangen, die rechtlichen Grund‐ lagen einer nach normativer Entgrenzung strebenden Staatsführung zu definieren und deren Macht zu legitimieren, erwies sich als zunehmend schwieriger.

System besagen, dass ethische Pflichten nicht von instrumentellen Überlegungen abhängen, interpretierten die Nazis „bedingungslos“ und „unbedingt“ im Sinne eines blinden Gehorsam gegenüber autoritären Befehlen, die nicht in Frage gestellt werden durften. 27 Die von den NS-Theoretikern geforderte Aufhebung des Unterschieds von Recht und Moral war keine bloß abstrakte philosophische Diskussion, sondern hatte konkrete Auswirkungen auf das Strafrechtsverständnis im Dritten Reich, zum Beispiel die Entwicklung eines Willensstraf‐ rechts und einer kriminologischen Tätertypologie. Vgl. dazu Pauer-Studer 2020, Kap. 4. 28 Kant 1793/1991, S. 145 f., Akademie-Ausgabe TP AA 08:291. 29 Dies erklärt, warum sich in den Texten der NS-Rechtstheoretiker kaum Bezugnahmen auf Thomas Hobbes finden. Eine Ausnahme ist Carl Schmitts 1938 erschienene Studie über Hobbes. Doch Schmitt liest Hobbes als einen Liberalen, also als fern davon, eine totalitäre Staatskonzeption zu vertreten. Für Schmitt war solch eine, ihm zufolge irrige Interpretation von Hobbes als Anhänger des Totalitarismus das Ergebnis einer einseitigen Konzentration auf die mythologischen Komponenten des „Leviathan“. Hobbes’ Theorie wäre, wie Schmitt kri‐ tisch bemerkt, eine seltsame philosophische Konstruktion, wenn ihre gesamte Idee nur darin bestünde, arme Menschen aus dem Naturzustand, in dem sie in Furcht leben, in einen Staat zu treiben, in dem sie die gleiche Furcht erleben würden. Vgl. Schmitt 1938, S. 112. Zu Schmitts Rezeption von Hobbes vgl. Dyzenhaus 1994.

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3. Der normative Status des Führers Die Entwicklung der Weimarer Republik in ihrer letzten Phase zu einer Art Präsidi‐ aldiktatur erwies sich als folgenreich. Hitlers erste Maßnahmen als Kanzler setzten die Praxis fort, mit präsidialen Notverordnungen zu regieren. Sowohl die Reichs‐ tagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 als auch das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 beruhten auf präsidialen Notverordnungen gemäß Artikel 48.2 der Weimarer Verfassung.30 Rein äußerlich gesehen wurde damit der Eindruck politi‐ scher und legalistischer Kontinuität vermittelt. Doch die politischen Zielsetzungen hatten sich grundlegend geändert: Während die präsidialen Notverordnungen in der Weimarer Republik zur Stabilisierung und Rettung der Demokratie eingesetzt wur‐ den, zielten die Nationalsozialisten mit der Berufung auf den sogenannten „Diktatur‐ artikel“ auf die Zerstörung der Demokratie. Hitler war sorgfältig darauf bedacht, in der Anfangsphase des Dritten Reiches die überragende Stellung und Aura Hindenburgs als militärischer Held des Ersten Welt‐ kriegs nicht in Frage zu stellen. Nach Hindenburgs Tod am 2. August 1934 über‐ nahm Hitler kurzerhand auch die Agenden des Reichspräsidenten.31 Mit dieser Amtsübernahme profitierte Hitler von dem normativen Status, den die konservativnational gesinnten Juristen dem Präsidenten in der Spätphase der Weimarer Repu‐ blik zugeschrieben hatten. In seinem 1932 erschienenen Buch „Der Hüter der Verfassung“ hatte Carl Schmitt argumentiert, dass der Präsident der oberste Wächter der Verfassung sei. Diese Rolle wurde dem Präsidenten auch deshalb zugeschrieben, weil die Weimarer Verfassung keine Verfassungsgerichtsbarkeit kannte – ein Umstand, der sich be‐ kanntlich als verhängnisvoll erwies, als die durch ein Präsidialdekret am 22. Juli 1932 abgesetzte preußische Regierung auf dem Rechtswege gegen diese Absetzung zu klagen versuchte und vor dem nur zum Teil zuständigen Staatsgerichtshof in Leipzig praktisch scheiterte. Somit konnte sich Hitler nach Hindenburgs Tod auch die Rolle eines Hüters der Verfassung aneignen. Damit stand der Führer klar über der Verfassung – sofern diese überhaupt noch gültig war. In seinem ominösen Artikel „Der Führer schützt das Recht“ vom Juli 1934 schrieb Carl Schmitt Hitler auch die Rolle eines Garanten von Recht und Gerechtigkeit zu.32 Der Führer war die oberste gesetzgebende Instanz und auch der oberste Gerichtsherr und jeder verfassungsrechtlichen Kontrolle entzogen.

30 Die NS-Theoretiker waren widersprüchlich, wenn es um die Gültigkeit der Weimarer Verfas‐ sung ging. Zum einen betonten sie, dass diese selbstverständlich mit dem Übergang zum Dritten Reich ihre Gültigkeit verloren habe. Zum anderen aber beriefen sie sich auf genau diese Verfassung, wenn es darum ging, die Legalität von Führermaßnahmen zu rechtfertigen. 31 Vgl. von der Goltz 2009. 32 Vgl. Schmitt 1934.

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Die NS-Juristen standen nicht an, diese Machtakkumulation mit dem Hinweis auf die dadurch angeblich garantierte politische Einheit und Stabilität zu rechtfertigen. Der Führerstaat, so das Argument, kompensiere das „Machtvakuum“ des parlamen‐ tarischen Systems, das durch den Dualismus von Präsident auf der einen Seite und einem die Geschäfte führenden Regierungschef verstärkt worden sei.33 Nichts sollte der Einheit des Führer-Amtes entgegenstehen. Ernst Rudolf Huber argumentierte, dass das klassische Prinzip der Gewaltenteilung – also die Teilung in Legislative, Exekutive und Judikative – seinen Sinn verloren habe.34 Wesentlich sei vielmehr, dass die oberste politische Führung in der Hand eines Mannes liege: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“35 Diese rhetorische Beschwörung eines einheitlichen Staates stand in Spannung mit der polyzentrischen Struktur des Dritten Reiches, die zu einer Vervielfachung institutioneller Ämter führte. So fand Hitlers Funktion als Präsident, Kanzler und Führer der NSDAP Ausdruck in der Dreiteilung von Präsidialkanzlei, Reichskanzlei, und Führerkanzlei.36 Huber, bemüht die „Totalität“ und Einheit des NS-Staates zu retten, stufte diese Dreiteilung zu einer bloß „organisatorisch-technischen Trennung“ herab, die in keiner Weise „die Einheit des Führeramtes in Frage stelle.“37 Die Macht des Führers war, so behauptete er, umfassend und verpflichte alle zu Treue und Gehorsam. Unter keinen Umständen, so die NS-Rechtsdenker, dürfe des Führers Autorität durch parlamentarische Mehrheitsbeschlüsse beschränkt werden, denn diese würden niemals das Volk als Ganzes repräsentieren.38 Wie Huber schrieb: „Das Gesetz hat aufgehört, ein Akt des selbständigen, unabhängigen, bürgerlichen Parlaments zu sein; es ist eine Gestaltungsform der politischen Führung geworden. Alle gesetzge‐ bende Gewalt im neuen Reich geht auf den Entscheid des Führers zurück, gleichviel ob es sich um Regierungsgesetze, Reichstagsgesetze oder volksbeschlossene Geset‐ ze handelt. Träger der gesetzgebenden Gewalt ist also stets der Führer selbst.“39 Der neue Staat verlange, so die NS-Juristen, nach einer die formale Legalität transzendierenden Autorität, die sich an einer über dem positiven Recht stehenden Idee der Gerechtigkeit orientiere. Und diese Gerechtigkeit im völkischen Sinn würde durch den Führerwillen repräsentiert.40 Karl Larenz erklärte dieses Prinzip folgen‐ 33 34 35 36 37 38 39 40

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Huber 1939, S. 30–37. A. a. O., S. 236. A. a. O., S. 216. Die Präsidialkanzlei wurde von Otto Meißner geleitet. Bedeutsamer war die Reichskanzlei unter Hans Heinrich Lammers. Die Kanzlei des Führers wurde von Philipp Bouhler geleitet. Ab 1941 gab es zudem die von Martin Bormann geleitete Partei-Kanzlei. Huber 1939, S. 230. Vgl. Nicolai 1933, S. 73. Huber 1939, S. 237. A. a. O., S. 244. Nicolai rechtfertigte die Übertragung der Gesetzgebung an den Führer damit, dass dieser ein größeres Wissen und mehr Erfahrung habe als das Parlament. Vgl. Nicolai 1933, S. 87.

dermaßen: „Ihm [dem Führer] gegenüber bedarf es keiner Garantie für die Wahrung der Gerechtigkeit, da er kraft seines Führertums der ‚Hüter der Verfassung‘, und d. h. hier: der ungeschriebenen konkreten Rechtsidee seines Volkes ist. Ein auf sei‐ nen Willen zurückgehendes Gesetz unterliegt daher keiner richterlichen Nachprü‐ fung.“41 Eine unter den NS-Theoretikern diskutierte Frage war, wie weit sich die gesetzge‐ bende Kompetenz des Führers erstreckte. Manche Juristen (etwa Roland Freisler) forderten, auch Erklärungen, Reden und Ankündigungen Hitlers sollten als rechts‐ verbindlich gelten. Doch bei weitem nicht alle waren bereit, einer Art performativer Rechtserzeugung zuzustimmen. Nicht jede beliebige Ausdrucksform des Führerwil‐ lens könne Recht sein, warnte etwa Manfred Fauser, da dies eine nicht wünschens‐ werte Verwirrung im öffentlichen Leben stiften könne. Auch die Veröffentlichung und Begründung von Rechtsvorschriften seien notwendige Komponenten legislati‐ ven Handelns.42 Auch Justizminister Gürtner erteilte den Ambitionen der Rechtsideologen in einer Arbeitssitzung der Kommission zur Strafrechtsreform eine Absage. Doch der Wort‐ laut von Gürtners Erklärung zeigt, in welchem Maße die Rechtskultur im Jahre 1935 bereits politisch bestimmt war: „Als Mittel zur Erkenntnis des Zieles des Gesetzes und seines Inhaltes lasse ich mir jede Willenskundgebung des Führers gefallen, aber diesen Willen als koordiniert neben den in Gesetzgebungsform gegebenen Willen zu setzen, kommt mir sehr bedenklich vor, zumal die Form, in der diese außergesetz‐ liche Willenskundgebung erfolgt, eine Frage wäre, über die man sich auch noch einige Gedanken machen müßte.“43

4. Abschließende Bemerkungen Trotz aller Beflissenheit gegenüber den neuen Machthabern hatten sich die Juristen in den 1930er Jahren nicht von der Vorstellung gelöst, dass sich die Rechtsetzung zu einem gewissen Grad an Kriterien wie Öffentlichkeit, Berechenbarkeit und Er‐ füllbarkeit zu orientieren habe. Sogar ein überzeugter Nationalsozialist wie Helmut Nicolai verlangte, dass die Gesetzgebung auf verlässlichen Prozeduren beruhen sollte, die sie von „rein privaten Willenskundgebungen“ unterschieden.44 Doch an‐ gesichts der politischen Entwicklungen waren solche Forderungen nicht mehr als Wunschdenken. Schlussendlich musste sich Nicolai damit begnügen, eine gewisse Stetigkeit und Ruhe in der Gesetzgebung und im Rechtsleben einzufordern. 41 Larenz 1934, S. 34 (Kursivierung im Original). 42 Fauser 1935, S. 151; auch Koellreutter legte Wert auf die Veröffentlichung von Gesetzen, vgl. Koellreutter 1938, S. 152. 43 Regge/Schubert 1990, S. 11. 44 Nicolai 1933, S. 86.

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Die Juristen unterschätzten das sich letztlich über alle Regeln hinwegsetzende Potential des Regimes. Hitlers idiosynkratrischer Regierungsstil machte alle Versu‐ che normativer Strukturierung und Eingrenzung letztlich hinfällig.45 Besonders unter den Bedingungen des Krieges gewannen die normativen Überschreitungen an Dyna‐ mik. Selbst nach den Standards der gegenüber dem NS-Regime nach wie vor loyalen Juristen strapazierten die während des Krieges ergangenen Befehle Hitlers sogar die Grenzen eines ideologisch ausgedehnten Rechtsbegriffs. Doch in ihren Schriften und auch in ihren berufsständischen Aktivitäten (etwa als Mitglieder in Kommissionen) trugen die Rechtstheoretiker wesentlich zu diesen späteren Entwicklungen bei, indem sie die staatlichen Grundlagen bewusst an die weltanschaulichen und politischen Ideen der Nazi-Bewegung banden. Viele von ihnen akzeptierten den Grundsatz der Einheit von Partei und Staat und werteten das Parteirecht zu einer eigenen völkischen Rechtsquelle auf.46 Ebenso fand die Abschaffung der Gewaltentrennung und die Konzentrierung aller Macht im Amt des Führers ihre Zustimmung. Die NS-Denker waren, wie die einschlägigen Texte der 1930er Jahre belegen, gewillt, alle staatlichen Kompetenzen der überragenden Stellung und umfassenden Autorität eines Einzelnen anzuvertrauen. Nicht zuletzt war diese Haltung einer tief anti-demokratischen Gesinnung geschuldet – einer Einstellung, die gleichsam einer Verkehrung von Aristoteles’ These entsprach, es sei besser, von den besten Gesetzen als vom besten Manne beherrscht zu werden.47 Was folgt aus unserer Darlegung der schonungslosen Ideologisierung und poli‐ tischen Instrumentalisierung des Rechts im Nationalsozialismus für das prekäre Verhältnis von Recht und Politik? Wie eingangs erwähnt, sprachen sich die NS-Theoretiker für die Einheit von Recht, Moral und Politik in einem Führerstaat aus. Die normative Vermischung dieser Sphären diente der Ausdehnung der Führermacht. Mit dem Wegfall der Trennung von Recht und Moral (Moral verstanden als Individualethik) konnte sich der Staat anmaßen, den Bürgerinnen und Bürgern auch erhebliche ethische Vorgaben zu machen, wie sie zu leben hatten. Die von den NS-Rechtstheoretikern propagierte These, dass es zwischen rechtlichen und moralischen Anordnungen, zwischen „Rechtsgebot und Sittengebot“48, keinen Unterscheid gebe, sprach dem NS-Regime auf theoretischer Ebene das Recht zu, sich auch der Gesinnungen der Bürgerinnen und Bürger und somit deren ‚innerer Freiheit‘ zu bemächtigen. Die von den NS-Juristen bejahte Verschmelzung von Recht, Moral und Politik im Führerstaat ermöglichte dem NS-Regime, seine ideologische Moralisierung und Politisierung des Rechts zu legitimieren. 45 Vgl. dazu Kershaw 2000, S. 69–82. 46 Vgl. Koellreutter 1938, S. 59. 47 Fauser hatte die Abkehr von dieser Aristotelischen These zu einem der Grundsätze des NSStaates erklärt. Vgl. Fauser 1935, S. 129. 48 Vgl. Freisler 1938, S. 56.

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Recht als eine der Unparteilichkeit verpflichtete Institution sollte unabhängig von der Politik sein. Einer der berühmtesten Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Hans Kelsen, hat dieses Postulat zur Grundlage seiner Konzeption einer „Reinen Rechtslehre“ gemacht. Recht hat, und hier würden wir Kelsen zweifellos zustimmen, frei zu sein von politischen, religiösen, und ethischen Einflüssen, die vorrangig den Interessen bestimmter politischer und gesellschaftlicher Akteure (z. B. politische Parteien, kirchliche Institutionen, Interessenverbände) dienen und somit das Recht als neutrale Instanz zur Regelung von Interessenkonflikten untergraben. Aus dieser Perspektive macht die Forderung nach einer strikten Trennung von Recht und Politik Sinn. Doch die normative Sphäre des Politischen kann nicht auf bloße Partei- und Interessenpolitik reduziert werden. Das Politische berührt auch grundlegende Fragen zum Aufbau einer staatlichen Grundordnung. Und normativ gesehen ist das Recht das geeignete Mittel zur Schaffung einer staatlichen und gesellschaftlichen Grund‐ struktur. Im Kontext einer solch allgemeineren Sicht des „Politischen“ stellt sich die drängende Frage: Wie sollen wir das Verhältnis zwischen einer bestimmten Konzeption des Staates und dem Recht definieren? Ist nicht jede Rechtsordnung zwangsläufig in eine Staatskonzeption eingebettet, die ihrerseits auf bestimmten politisch-normativen Vorstellungen vom Zusammenleben in einem Gesellschaftsge‐ füge beruht? Wenn wir diesem Gedanken nähertreten, stehen wir vor dem Problem, wie wir die Grenzen zwischen legitimen und nicht-legitimen Staatsordnungen ziehen. Denn selbstredend gestehen wir nicht jeder beliebigen Staatsform zu, in einem normativmoralischen Sinn legitim zu sein. Ein Staat wie der NS-Staat, in dem sich Recht in Unrecht verkehrte, in dem Recht zum Werkzeug politischer Kriminalität wurde, kann seinen ideologischen Zugriff auf das Recht nicht einfach mit dem Argument rechtfertigen, das Recht stehe nun mal im Dienste der Staatsordnung. Vermag das Recht, so können wir fragen, seiner eigenen ideologischen Instru‐ mentalisierung Grenzen zu setzen? Kann das Recht, zumindest auf formaler Ebene, Einschränkungen gegenüber Systemen politischer Willkürherrschaft generieren und wenn ja, welche? Der Weg zur Bejahung dieser Fragen führt über die normativ-kon‐ stitutiven Voraussetzungen von Recht, besser gesagt: von Rechtsstaatlichkeit. Denn nicht jede Form politischer Anordnung, nicht jede Artikulation politischer Macht er‐ füllt die formalen Bedingungen eines Rechtsakts. Allgemeiner gesagt: Eine Rechts‐ ordnung, die sich an normativen Bedingungen wie Öffentlichkeit, Transparenz, Ver‐ stehbarkeit, Verlässlichkeit, Konsistenz und Berechenbarkeit orientiert, ist mit einem politischen System, das nach absoluter Macht und Kontrolle aller Bürgerinnen und Bürger strebt, nicht vereinbar. Im NS-Staat wurden die erwähnten Standards systematisch verletzt wurden. Als ein vielsagendes Beispiel mag die Forderung gelten, dass Gesetze öffentlich bekannt

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gemacht werden müssen und die Bürgerinnen und Bürger somit über transparente und verlässliche gesetzliche Richtlinien für ihr Verhalten verfügen sollten. Die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935, die jüdische Mitbürgerinnen und ‑bürger in ihren Rechten massiv einschränkten, wurden noch im „Reichsgesetzblatt“ veröffentlicht. Doch spätere Maßnahmen, die den Übergang zum Massenmord ein‐ leiteten, wurden nicht veröffentlicht und genügten auch in formaler Hinsicht nicht Rechtsakten. So basierte das NS-Euthanasieprogramm auf einem Brief Hitlers vom 1. September 1939, und den Befehl zur Ermordung der jüdischen Bevölkerung gab es nicht in schriftlicher Form, geschweige denn, dass er öffentlich gemacht werden konnte.49 Die erwähnten Bedingungen, die einen Teil der konstitutiven Voraussetzungen von Rechtsstaatlichkeit bilden, setzen also möglichen politischen Ordnungen Gren‐ zen. Nicht jede staatliche Ausgestaltung des Verhältnisses von Politik und Recht genügt elementaren Bedingungen, was Rechtsform, Rechtserzeugung und Rechts‐ staatlichkeit betrifft. Auf konkreter Ebene kann sich Politik des Rechts bemächtigen. Skrupellose Machthaber sind zweifellos gewillt, das Recht für ihre Zwecke einzuset‐ zen und es ideologisch zu missbrauchen. Solche Verzerrungen des Rechts infolge politischer Willkür haben jedoch einen Preis. Die so geschaffenen normativen Ord‐ nungen disqualifizieren sich nicht nur in moralischer, sondern auch in formal-recht‐ licher Hinsicht. Es sind Systeme, die, ungeachtet ihrer faktischen Macht und Autori‐ tät, so gravierend von gängigen Formen der Rechtserzeugung und Rechtsgestaltung abweichen, dass sie im Sinne normativer Angemessenheit streng genommen nicht mehr als Rechtsordnungen gelten können.50 *

49 Der entsprechende Brief Hitlers an Philip Bouhler und Dr. med. Brandt besagte, dass „unheil‐ bar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“. Der Brief war ein Dokument (NS-630) im Nürnberger Ärzteprozess. Zu der Frage von Hitlers Befehl zum Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas siehe Lon‐ gerich 2001. Sowohl das Euthanasieprogramm als auch die geplante Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung waren bekanntlich „geheime Reichssache“. 50 Mit Bezug auf das „Dritte Reich“ ist im Auge zu behalten, dass gewisse Bereiche des Rechts aus der Weimarer Republik beziehungsweise dem vormaligen Kaiserreich stammten und einfach übernommen wurden. Doch die politische Ideologie und Willkür des NS-Regimes (vorrangig der Antisemitismus und der Kampf gegen politische Gegner) erfasste auch Rechts‐ bereiche (z. B. Mietrecht, Erbschaftsrecht, Unternehmensrecht), deren gesetzliche Regelungen nach den in der Weimarer Republik beziehungsweise im Kaiserreich geltenden Prozeduren der Rechtserzeugung entstanden waren. * Acknowledgment: Research for this article has been funded by the European Union’s Horizon 2020 research and innovation program under grant agreement No. 740922, ERC Advanced Grant ‘The Normative and Moral Foundations of Group Agency’.

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Hubertus Buchstein1 Gegen den ‚eternal enemy‘ des bürgerlichen Rechtsstaats. Otto Kirchheimer und Carl Schmitt nach 1945

1. Einleitung Das Thema ›Politik im Rechtsstaat‹ hat eine selbstreferentielle Komponente, denn es ist seinerseits anfällig für Politisierungsversuche. In der akademischen Welt verläuft diese Politisierung häufig entlang von Deutungskämpfen über Rezeptionslinien. Re‐ lativ weit oben in der Mengenzählung von produziertem und verbrauchtem Papier für derartige Rezeptionskämpfe steht das rechts- und politiktheoretische Werk von Carl Schmitt (1888-1985). Schmitt, der zeitlebens und unverdrossen rechtsradikale und rechtsextremistische politische Positionen vertrat, ist längst zu einem wichtigen Referenzpunkt auch für eine wachsende Zahl von politischen Theoretiker:innen, Rechtsphilosoph:innen und Rechtstheoretiker:innen geworden, die sich demonstra‐ tiv als politische Linke bekennen. Neben der liberalen Schmitt-Rezeption eines Odo Marquard, Reinhard Kosellek oder Ernst-Wolfgang Böckenförde2 hat die linke Schmitt-Rezeption in den vergangenen Jahren sogar eher noch an Boden gewonnen. In bestimmten Szenen der akademischen Linken gilt es als chic, erst Schmitts angeblich brillante Zeitdiagnostik zu preisen und danach Anschluss an einige seiner Theoreme zu suchen. Für die Autor:innen dieser Gruppe hat sich das Etikett des ›Links-Schmittianismus‹ eingebürgert. Eine Art Berührung von politischen Extre‐ 1 Teile dieses Artikels wurden im Februar 2019 als englischsprachiger Vortrag an der New School for Social Research in New York präsentiert. Ich danke Andrew Arato, Andreas Kalyvas, Carlos Ferment, Frederico Finchelstein und Douglas Morris für ihre kritischen Kommentare zu meinem damaligen Vortrag und Rainer Schmalz-Bruns† und Kerstin Pohl für spätere Anmerkungen dazu. Andere Teile dieses Artikels sind in meine Einleitung zu Band 5 der Gesammelten Schriften von Otto Kirchheimer (Buchstein 2020a) sowie meiner Kommentierung des Briefwechsels zwischen Kirchheimer und Schmitt in Heft 2/2021 der Zeitschrift WestEnd eingeflossen. Ich danke Jodi Boyle und Brian Keough für ihre unkomplizierte Hilfe bei der Durchsicht der Nachlässe von Otto Kirchheimer und John H. Herz in der German Intellectual Émigré Collection der State University of New York in Albany. Gedankt sei auch Jenny Swadosh vom Archiv der New School for Social Research in New York, Dirk Braunstein im Archiv des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (NL Max Horkheimer), des Archivs der Columbia University in New York, des Archivs für Soziale Demokratie in Bonn (NL Horst Ehmke), des Universitätsarchivs der Georg-AugustUniversität Göttingen (NL Rudolf Smend) sowie des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen (NL Carl Schmitt). 2 Vgl. dazu auch die ausführliche Selbstauskunft (Böckenförde 2011: 359-384).

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men, wie wir sie auch aus der Rezeption von Martin Heidegger oder Ernst Jünger kennen, die im Falle Schmitts aber insofern von größerem politischen Gewicht ist, da sie nicht nur geistesgeschichtliche Winde erzeugt, sondern das Potential hat, unmittelbar für das politische Leben im Rechtsstaat Konsequenzen zu zeitigen. Zuletzt ließ sich dies im Zusammenhang von staatlichen Maßnahmen zur Ein‐ dämmung des Corona-Virus beobachten. Wenn es in dem vermutlich bekanntesten Diktum von Schmitt heißt, dass derjenige souverän sei, der über den Ausnahme‐ zustand entscheidet, wird aus einem derartigen Blickwinkel natürlich automatisch die Frage aufgeworfen, ob diese Souveränitätsthese auch für die Ausrufung des Notstandes als Reaktion auf die Corona-Pandemie zutrifft. Und ebenso automatisch wird dadurch Deutungen Vorschub geleistet, die entweder auf eine affirmative oder eben auf eine kritische – wie bei ›links-Schmittianistisch‹ inspirierten Autor:innen – Theorie des autoritären Seuchenstaates hinauslaufen.3 Auch im Fall der aktuellen Debatten über den politischen und rechtlichen Umgang mit der COVID-19- Pande‐ mie lässt sich einmal mehr erkennen, wie sehr die unterschiedlichen Deutungen und Bewältigungsstrategien gesellschaftspolitischer Herausforderungen von grundsätzli‐ chen Annahmen über die Rolle der Politik im Rechtsstaat abhängen. Häufig wurde und wird Otto Kirchheimer (1905-1965) als eine Art Vorläufer des ›Links-Schmittianismus‹ bezeichnet.4 Und tatsächlich scheinen einige Eckdaten aus Kirchheimers Vita geradezu ideal für eine solche Rollenzuschreibung zu passen: Kirchheimer war 1926-28 Promotionsstudent bei Schmitt und als politisch aktiver Sozialist am linken Flügel der damaligen SPD eine absolute Ausnahmeerscheinung in dessen ansonsten von mehrheitlich rechtslastigen Studierenden zusammengesetz‐ ten Bonner Schülerkreis. Auch machte Kirchheimer in seiner Promotionsschrift und in seinen frühen Arbeiten bei der kritischen Auseinandersetzung mit dem Verfassungssystem der Weimarer Republik ausdrücklich Gebrauch von Kategorien aus dem Schmitt’schen Werk. Zuweilen kam es gar zu einer Art Doppelpassspiel gegenseitiger Zitationen. Was liegt also näher, als Kirchheimer die Rolle einer Art ›Paten‹ des heutigen ›Links-Schmittianismus‹ zuzuschreiben? In diesem Zusammenhang spielt es nun eine besondere Rolle, dass auch ihr Verhältnis in den Jahren nach 1945 in Berichten und Schriften positiv gezeichnet wird. ›Rechte‹ wie ›linke‹ Autoren kokettieren mit der Behauptung, dass Kirchhei‐ mer und Schmitt offenbar weiterhin ein respektvolles Verhältnis zueinander und ein gemeinsames, ihre politischen Differenzen überbrückendes Grundverständnis gehabt hätten. Solche Beschreibungen haben nicht zu übersehende rezeptionspolitische 3 Vgl. Agamben (2020). - Zugleich wird mit einer solchen Einordnung freilich auch die alte Folgefrage aufgerufen, ob es für die Politik im Rechtsstaat nicht angemessener ist, wenn man die Schmitt'sche Zuspitzung mit Ernst Fraenkel oder Odo Marquard zu der Aussage umformu‐ liert: Weise ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet, vgl. Marquard (2000: 107) und Fraenkel (1964: 908). 4 Vgl. Kennedy (1986: 382), Taubes (1987: 14), Mehring (2007: 61).

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Funktionen. Zum einen machen sie Kirchheimer und sein Werk zu einem Zeugen für Schmitts Sympathie für jüdische Intellektuelle nach dem Ende des Weltkrieges und tragen somit zu seiner politischen Exkulpierung bei. Zum anderen machen sie Kirch‐ heimer zu einem Patron eines ›Linksschmittianismus‹ ohne Berührungsängste. Die‐ sem Bild, das sich mittlerweile fest in die Rezeptionsdarstellungen eingeschrieben hat, möchte ich im Folgenden widersprechen.

2. ›Linksschmittianismus‹ als Denunziations- und Bekenntnisformel Folgt man Hermann Lübbe, dann wurde der Ausdruck ›Links-Schmittianismus‹ erstmals in den späten 1950er Jahren durch Wolfgang Wieland verwendet.5 Wieland bezeichnete damit die kleine Gruppe von Schülern Schmitts, die wie Ernst-Wolf‐ gang Böckenförde der damaligen bundesdeutschen Sozialdemokratie nahe stand und sich dadurch von liberalen und den üblichen konservativen und rechtsextremen Rezeptionslinien unterschied. Bei Schmitt stieß diese begriffspolitische Kreation auf Sympathie und er kokettierte fortan gern mit dieser Rezeptionslinienbenennung.6 Seine erste große Konjunkturwelle erlebte der ›Links-Schmittianismus‹ allerdings erst in den späten 1960er Jahren mit der Schmitt-Rezeption aufseiten revolutionärer Linker wie Mario Tronti in Italien, Johannes Agnoli in Deutschland und Theoreti‐ kern der antiimperialistischen Guerilla in Lateinamerika.7 In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde ›Links-Schmittianismus‹ dann zum Gegenstand einer von Ellen Kennedy in denunziatorischer Absicht losgetretenen akademischen Kontroverse, die in diversen Zeitschriftenaufsätzen über die ideologischen Wurzeln der Frankfurter Schule und speziell über Walter Benjamin und das Frühwerk von Jürgen Habermas ausgefochten wurde; den Initialpunkt für diese Kontroverse hatte zuvor Wilhelm Hennis mit mokanten Bemerkungen über »Carl Schmitt frankfurterisch« gesetzt.8 Im heutigen Rückblick erweist sich diese Kontroverse als sachlich erstaunlich unergiebig. Sie blieb eine von einer liberaldemokratisch motivierten Hermeneutik des Verdachts rotierende Debatte. Demgegenüber haben sich erst spätere Generatio‐ nen von sich ostentativ zum ›Links-Schmittianismus‹ Bekennenden aus solchen Kämpfen im Modus des Schattenboxens gelöst. In gegenwärtigen Debatten sind es Autoren wie Giorgio Agamben, Gopal Balakrishnan, Jean-Francois Kervègan, Chantal Mouffe oder Andreas Kalyvas, die auf unterschiedliche Weise an Schmitts

5 6 7 8

Vgl. Lübbe (1988: 428). Vgl. van Laak (1993: 238). Vgl. Preuss (2008) und Müller (2003: 169-180). Vgl. zu den unterschiedlichen späteren Einschätzungen dieser Debatte u.a. Heil (1996), Zwarg (2017: 369-373) und Kervégan (2019: 78-85) sowie als Inspiration für Ellen Kennedy die Bemerkungen von Hennis (1968: 210).

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Schriften anschließen und die damit das politische Ziel verfolgen, das linke Projekt einer emanzipatorischen Theorie argumentativ zu unterfüttern.9 Auch Otto Kirchheimer rechnete sich lebenslang zum linken politischen Spek‐ trum. Geboren wurde er am 11. November 1905 in Heilbronn. Bereits als Schüler wurde er zum Anhänger sozialistischer Ideen und engagierte sich in der jüdischdeutschen Wandervogelbewegung. Nach dem Abitur studierte er Soziologie und Ge‐ schichte in Münster bei Max Scheler, in Berlin bei Rudolf Smend und in Bonn bei Carl Schmitt. Nach seiner 1928 erfolgreich bei Schmitt absolvierten Promotion über die Staatstheorien des Sozialismus und Bolschewismus arbeitete er als Referendar und Anwalt in Erfurt und Berlin und machte sich zugleich als scharfzüngiger Autor des linken Flügels der SPD einen Namen. Ab 1930 wendete er sich allerdings immer weiter von seinem jugendlichen Radikalismus ab und gehörte in den Krisenjahren zu den engagierten Verteidigern der Weimarer Republik. Mehrfach prallten seine und Schmitts Positionen nun heftig aufeinander.10 Sein Plan, sich bei Smend in Berlin zu habilitieren, zerschlug sich durch die weiteren politischen Ereignisse. Sogleich nach der Machtübergabe an die Hitlerregierung wurde ihm die Anwaltszulassung entzo‐ gen. Im Mai 1933 geriet er kurzzeitig in Haft und flüchtete nach seiner Freilassung nach Paris. Dort knüpfte er erste Kontakte zu dem ebenfalls ins Exil gegangene In‐ stitut für Sozialforschung Max Horkheimers. 1937 erhielt er von Horkheimer das Angebot, als Mitarbeiter am Institut nach New York überzusiedeln. Zusammen mit Franz L. Neumann und Herbert Marcuse wechselte er von dort 1943 an das Office of Strategic Services (OSS) in Washington, DC, wo er unter anderem an der Vorberei‐ tung der Nürnberger Prozesse beteiligt war. Seine weiteren beruflichen Stationen waren die Forschungsabteilung des State Department und ab 1955 eine Professur für Political Science an der New School for Social Research in New York. 1961 er‐ schien sein Hauptwerk ›Political Justice‹, zudem wechselte er auf eine Professur für Public Law and Government an die Columbia University. Otto Kirchheimer starb am 22. November 1965 in Washington, DC. In Kirchheimers facettenreichem wissenschaftlichen Werk spiegeln sich in nahe‐ zu einzigartiger Weise die politischen und wissenschaftlichen Erfahrungen und Kon‐ flikte der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus, seines französischen und amerikanischen Exils sowie der Gründungs- und Etablierungsphase der beiden nach 1945 neu entstehenden deutschen Teilstaaten wider. Heute wird Kirchheimer vor allem als Analytiker der Weimarer Verfassungsordnung, als Angehöriger der Frank‐ furter Schule im New Yorker Exil, als von Foucault gepriesener Kritischer Krimino‐ loge, als Inspirator der vergleichenden politikwissenschaftlichen Parteienforschung

9 Als Überblick über diese neueren Schmitt-Rezeptionen vgl. Specter (2016). 10 Zu Kircheimers Schriften während der Weimarer Republik und dem sich darin spiegelnden wechselhaften Verhältnis zu Schmitt vgl. Buchstein (2017).

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sowie als Autor des Buches ›Politische Justiz‹ rezipiert.11 In der Sekundärliteratur werden all diese Facetten von Kirchheimers œuvre von seiner Schülerschaft bei Schmitt überstrahlt. Die reichhaltig sprudelnde Sekundärliteratur zu Schmitt und Kirchheimer ist ge‐ füllt mit positiven Beschreibungen ihres Verhältnisses, das bis in die Dimension des persönlichen Umgangs miteinander ausgeweitet worden ist. Bemerkenswert ist bei diesen Beschreibungen, dass sie auch die politischen Brüche der Jahre 1933 und 1945 souverän ausblenden. Für Jürgen Seifert waren die Kontakte zwischen bei‐ den nach 1945 ein eindrücklicher Beleg dafür, dass »die Ablehnung von Positionen nicht persönliche Feindschaft bedeuten musste«.12 Und ›Telos‹-Herausgeber Gary S. Ulmen, der in den 1980er Jahren zu einem Schmitt-Apologeten konvertierte, äußerte sich unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den späten Kirchheimer wie folgt: »There has been an important Jewish reception of Schmitt […] let’s face it: Critical Theory makes strange bedfellows«.13 Mehrfach findet sich als Beleg für dieses fortdauernde gute Verhältnis die als gesichert geltende Behauptung, es sei zu einer ganzen Reihe von Besuchen Kirch‐ heimers bei Schmitt in Plettenberg gekommen. Joseph Bendersky spricht in diesem Zusammenhang von einem »return« Kirchheimers zu Schmitt, der 1947 begonnen habe.14 Von einer Mehrzahl solcher Besuche nach 1945 sprechen auch solche guten Kenner des Werkes von Schmitt und politisch weniger verdächtige Autoren wie Volker Neumann, Jürgen Seifert, Rolf Wiggershaus, Dirk van Laak und Reinhard Mehring.15 Mehring, immer noch der versierteste und beste Biograf Schmitts, sieht Kirchheimer sogar als den aktiven Part in dieser Beziehung, wenn er schreibt, dass die angeblichen »Bemühungen Otto Kirchheimers um eine erneuerte Beziehung zu seinem alten Bonner Doktorvater« letztlich aber »scheiterten«.16 Pikant ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die originale Quelle dafür, Kirchheimer als die eigentliche treibende Kraft bei den Kontakten zwischen ihm und Schmitt anzusehen, Schmitt höchstselbst gewesen ist. Denn Schmitt war es, der nach Kirchheimers Tod eine solche Version in Gesprächen verbreitete; so im viel zitierten Gespräch mit Rainer Erd, welches Volker Neumann als Beleg für deren lange andauernde gute Beziehung anführte17– und welches später von einigen 11 Zu Kirchheimers wissenschaftlichen Biografie vgl. Scheuerman (1994), Schale (2006) sowie Buchstein/Klingsporn/Schale (2018). 12 Seifert (1985: 199). 13 So 1986 in einem internen Rundschreiben der Zeitschriftenredaktion, zit. nach Zwarg (2017: 368). 14 Bendersky (2016: 137). 15 Vgl. Neumann (1981: 239), Seifert (1985: 199), Wiggershaus (1986: 524), van Laak (1993: 135) und Mehring (2009: 464). 16 Mehring (2018: 160), vgl. auch Mehring (2014: 33). 17 Neumann (1981: 239). Rainer Erd hatte Schmitt im Sommer 1980 einen unangemeldeten Be‐ such abgestattet, um ihn über Franz L. Neumann zu befragen. 40 Jahre später erinnert sich Erd

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Apologeten Schmitts süffisant gegen einen charakterlich »unausgeglichenen« (Qua‐ ritsch) Kirchheimer als Beleg für dessen angeblichen Opportunismus herangezogen wurde.18 Im Folgenden möchte ich dem bislang zu lesenden Bild des Verhältnisses zwi‐ schen Kirchheimer und Schmitt widersprechen. Letztlich handelt es sich dabei um nicht viel mehr als eine von Schmitt und in den in seinen Kreisen geführten »Ge‐ sprächen in der Sicherheit des Schweigens« (van Laak) verbreitete Kolportage, die mit der Absicht verbreitet wurde, Schmitts Verhalten während des NS-Regimes un‐ ter dem Schleier eines verständnisvollen linken Schülers jüdischer Herkunft undeut‐ licher werden zu lassen mit dem Ziel, Schmitts politisches Denken auch für jüngere Generationen weiter salonfähig zu machen. Das Bild, das ich demgegenüber vom Verhältnis Kirchheimers zu Schmitt zeichnen werde, basiert neben den Schriften der beiden auf einer Reihe bislang nicht ausgewerteter Archivmaterialien sowie Inter‐ views mit damals Beteiligten.19 Dabei zeigt sich, dass der Fall nicht nur in sozialer, sondern auch in kognitiver Hinsicht deutlich anders liegt, als es bislang vielfach zu lesen ist. Denn auch auf der inhaltlichen Ebene hat sich Kirchheimer nach 1945 in durchgehend ablehnender Manier mit Schmitt befasst und zudem Arbeiten aus dessen staatsrechtlicher Denkschule besonders kritisch aufs Korn genommen. Kirch‐ heimer ist kein Pate des ›Links-Schmittianismus‹, sondern ein Autor, von dem sich lernen lässt, der Faszination der begriffspolitischen Finten und ideenhistorischen Scheinmanöver in Schmitts Werk nicht zu erliegen.

3. Ein Zeichen der Selbstbehauptung: Das erste Treffen 1949 Wohl zum ersten Mal wurde die Bezeichnung ›Schmittianismus‹ in polemischer Absicht gegen Kirchheimer 1933 verwendet. Sie findet sich in einer Ausgabe der KPD-Zeitung ›Unsere Zeit‹, erschienen kurz vor der Verabschiedung des von Schmitt gefeierten Ermächtigungsgesetzes.20 Kirchheimers Frau, Hilde Rosenfeld, bewegte sich in diesen Wochen politisch zwischen dem linken Flügel der SPD und der KPD und der Artikel zeigt eine gewisse Vertrautheit mit Kirchheimers frühen Bezügen zu Schmitt. Die damalige Charakterisierung übersah freilich, dass Kirch‐ heimer seine Position deutlich verändert hatte und seit mehr als zwei Jahren die daran, dass Schmitt „eine gewisse Hochachtung vor ihm [Kirchheimer]“ zum Ausdruck ge‐ bracht hat. (E-Mail von Rainer Erd an den Verfasser vom 25. März 2021). 18 Vgl. Schwab (1988a: 80-82), Quaritsch (1995: 72). 19 Die drei Interviews mit Ossip K. Flechtheim, Henry W. Ehrmann und John H. Herz liegen schon länger zurück und wurden in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit der Arbeit an meiner Dissertation zur Berliner Politikwissenschaft geführt; das Gespräch mit Wilhelm Hennis fand 2009 statt, als ich nach einer längeren Pause begann, mich erneut für Kirchheimer zu interessieren. 20 ‚Unsere Zeit‘ vom 15. Februar 1933 (zitiert in Schale 2006: 71).

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Rolle von Schmitt als die eines Zerstörers der Weimarer Demokratie angeprangert und sich mittlerweile auch intensiv mit den Grundlagen des politischen Denkens von Schmitt kritisch auseinandergesetzt hatte.21 Schmitts Tagebucheinträge der Jahre 1926 bis 1933 dokumentieren diesen Ablösungsprozess in einer ihm eigenen Art und Weise.22 Findet sich anfänglich darin in den Jahren 1926 und 1927 das große Lob des auf eine Art linken Wunderkinds in seinem Doktorandenkreis, so ändert sich die Wortwahl mit dem Aufkommen offen ausgetragener politischer Konflikte. Schon am Abend beim geselligen Beisammensein mit Kaltgetränken im Februar 1928 nach der Disputation Kirchheimers ändert sich der Ton Schmitts in auffälliger Weise. Nun heißt es in Schmitts spätabendlicher Tagebuchnotiz: »Kirchheimer man‐ gelt jedes Nationalgefühl, grauenhaft.« Gleichzeitig sollte dabei nicht unwähnt bleiben, wie sehr Schmitt von seinem jun‐ gen Promovenden profitierte. Über Kirchheimer erhielt er Einblick in marxistische Diskussionen und die Ideenwelt radikaler linker Gruppen, die ihm ansonsten ver‐ schlossen geblieben wären.23 Kirchheimer vermittelte ihm nicht nur Wissenswertes aus den sozialistischen Debattierzirkeln, sondern auch den persönlichen Kontakt zu Kurt Rosenfeld und den beiden linken Gewerkschaftsjuristen Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel.24 Schmitt zitierte Kirchheimer in mehreren seiner Schriften voller Respekt.25 Weitaus häufiger allerdings zitierte Kirchheimer aus Schriften Schmitts. Auch ohne eine präzise quantitative Zitationsanalyse lässt sich bei der Lektüre der Arbeiten Kirchheimers von 1928 bis 1933 unschwer erkennen, dass er keinen ande‐ ren Autor aus der Gruppe der Weimarer Staatsrechtslehre so häufig direkt oder indi‐ rekt erwähnt, wie Carl Schmitt. Doch der nur quantitative Blick kann optische Täu‐ schungen erzeugen. Denn nicht selten hatte die Zitation von Schmitt strategische Absichten. Dies geschah bis 1930 in erster Linie, um sich die Autorität des über alle politischen Lager anerkannten Staatsrechtslehrers für die eigenen argumentativen Zwecke auszuborgen. Je offener Schmitt sich dann jedoch ab 1930 für die Präsidial‐ diktatur verwendete, desto häufiger wurden die Schmitt-Zitierungen zu einer Art des direkten Ansprechens von Schmitt. Kirchheimer legte es nun zunehmend darauf an, Schmitt anhand älterer Äußerungen regelrecht vorzuführen. In den letzten Monaten der Republik und nach der Machtübergabe an die Regierung Hitler erreichte diese Art von Schmitt-Zitation einen Grad intensiver Anspannung, der sich vermutlich oh‐ ne die emotionale Komponente seines Verhältnisses zu Schmitt kaum erklären

21 22 23 24

Vgl. Scheuerman (1994: 80-97) und Schale (2006: 71-80). Zum Folgenden vgl. Buchstein (2017); dort auch die zahlreichen Nachweise. Vgl. Neumann (1981: 239) und Breuer (2012: 111-140). So der Bericht von Henry (Heinrich) W. Ehrmann, der zusammen mit Kirchheimer, Neumann und Fraenkel in Berlin Seminare bei Carl Schmitt besuchte (Gespräch mit Henry W. Ehrmann am 7. Juni 1988). 25 Diese Zitationen sind zusammengestellt in Mehring (2007) und Breuer (2012: 112-141).

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lässt.26 Schmitt wiederum war hochgradig verbittert darüber, dass er von Kirchhei‐ mer öffentlich so heftig angegangen wurde. Für das ›Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‹ hatte Kirchheimer im Herbst 1932 zusammen mit Nathan Leites eine grundlegende Kritik an Schmitts ›Legalität und Legitimität‹ vorbereitet. Kirch‐ heimer hatte das Manuskript vor der Veröffentlichung nicht nur seinem Protegé Ru‐ dolf Smend, sondern auch Schmitt zur Kenntnis gegeben. Die sich daraus entspin‐ nende Diskussion mit Kirchheimer fiel allerdings nicht zur Zufriedenheit von Schmitt aus. In seinem Tagebuch notierte er über das Gespräch mit Kirchheimer über den Text am 6. November 1932 in seinem Hause: »es hat keinen Zweck mit ihm zu sprechen, er will einfach nichts sehen.« Und fügte als nächsten Eintrag hin‐ zu: »Scheußlich, dieser Jude.«27 Von solchen Tagebucheinträgen erfuhr Kirchheimer natürlich nichts. Er beobach‐ tete aber auch vom Pariser und später New Yorker Exil aus sehr genau, was Schmitt publizierte und wie er im Dritten Reich agierte und lieferte sich 1935 von Paris aus mit ihm sogar ein Scharmützel.28 1958 wurde Kirchheimer dann von Arvid Brødersen nach seinen Beziehungen zu Schmitt gefragt, worauf er die folgende Auskunft gab: »Ich habe C. S. in der Zeit zwischen 1932 und 1949 weder gesehen noch irgendwelche Beziehungen zu ihm unterhalten. Nach dem Krieg, als ich für das U. S. State Department in Deutschland war, habe ich zweimal mit C. S. gesprochen. 1949 und 1953.«29 Die Auswertung der überlieferten Archivmaterialien hat diese Angabe Kirchheimers bestätigt. Es hat nur einen einzigen solchen Besuch gegeben und es kam lediglich zu einem weiteren Treffen der beiden, und zwar 1953 in Köln. Und auch der Briefwechsel zwischen den beiden ist, wenn man ihn mit der Korrespondenz mit anderen Kollegen und Freunden vergleicht, vom Umfang wie Inhalt als eher spärlich zu bezeichnen. Zu dem ersten persönlichen Zusammentreffen kam es auf Initiative von Carl Schmitt. Es war zunächst eine indirekte Kontaktaufnahme, denn Schmitt wählte den Umweg über einen gemeinsamen Bekannten aus Weimarer Tagen, Ossip K. Flechtheim. Flechtheim und Kirchheimer kannten sich flüchtig bereits vor 1933; Flechtheim wiederum kannte Schmitt von der Kölner Universität aus dem Frühjahr 1933, als er vergeblich versuchte hatte, bei ihm zu promovieren und erlebt hatte,

26 John H. Herz sprach in diesem Zusammenhang davon, dass Schmitt für Kirchheimer eine Art »Vaterersatz« (Herz 1989: 12) gewesen sei. Die geradezu besessene Art und Weise, mit der Kirchheimer ab 1930 die Auseinandersetzung mit Schmitt betrieb, bezeichnete er mit der Freudschen Formulierung des »Vatermordes« (Gespräch mit John H. Herz am 15. November 1985). 27 Tagebucheintrag von Carl Schmitt am 6. November 1932. In: Schmitt (2010: 231). 28 Dazu ausführlicher Buchstein (2018: 24-37). 29 Brief von Otto Kirchheimer an Arvid Brødersen vom 2. März 1958. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 1, Folder 25.

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wie dieser für die Entlassung eines jüdischen Assistenten sorgte.30 Flechtheim hatte Schmitt im März 1947 in seiner Funktion als Lieutenant Colonel beim Amt des US‑Hauptanklägers für Kriegsverbrechen zu einer Vernehmung durch Robert Kemp‐ ner, dem Stellvertretenden Chefankläger der Nürnberger Prozesse, einbestellt.31 Schmitt wusste von dessen Bekanntschaft mit Kirchheimer, denn er erkundigte sich bei Flechtheim über Kirchheimers Schicksal und richtete ihm über Flechtheim Grüße aus.32 Schmitt empfand seine Situation in den ersten Jahren nach Ende des Dritten Rei‐ ches als prekär. Er witterte überall ›Siegerjustiz‹ und machte insbesondere zurück‐ kehrende Emigranten für seine Lage verantwortlich. In seiner alten sauerländischen Heimat in Plettenberg hatte er Unterkunft gefunden. Die Hoffnung, dass auch er wie so viele andere während des Nationalsozialismus beruflich erfolgreiche Hochschul‐ lehrer erneut auf eine Professur berufen würde, hatte er noch nicht aufgegeben. Er verfolgte die universitäre Besetzungspolitik in den Westzonen mit großer Aufmerk‐ samkeit und streckte in den ersten Nachkriegsjahren seine Fühler in alle Richtungen aus.33 Auch an Kirchheimer fand er wieder Interesse. Zweieinhalb Jahre nach Flechtheims Grußausrichtung stattete Kirchheimer Schmitt am 27. November 1949 in Plettenberg unangekündigt einen Besuch ab. Es gibt über diesen Besuch neben Anekdoten, die von Schmitt in seinem Zirkel später gestreut wurden, bislang wenig gesicherte Überlieferungen.34 Vermutlich ist ein Brief, den Schmitt an seine Frau Duška schrieb, die zu diesem Zeitpunkt in Heidel‐ berg in einer Klinik behandelt wurde, noch die getreueste Quelle über den Ablauf des Besuchs. Der Brief ist auf den 29. November 1949 datiert. Darin findet sich der folgende Bericht Schmitts: »Vorgestern, Sonntagmittag, fuhr plötzlich ein dicker, gelber amerikanischer Wagen vor, mit der dicken Inschrift USA. Ich dachte schon, ich würde wieder einmal abgeholt. 30 Vgl. den Bericht von Ossip K. Flechtheim in einem Gespräch mit dem Autor am 13. Februar 1988. - Flechtheim, 1909 geboren, war wegen seiner Mitgliedschaft in der sozialistischen Wi‐ derstandsgruppe Neu Beginnen 1935 inhaftiert worden und konnte danach in die Schweiz ent‐ kommen. Beide trafen sich 1939 an Horkheimers Institute of Social Research wieder und blie‐ ben von da an über Flechtheims Schulfreund John H. Herz weiterhin gut mit Kirchheimer be‐ kannt. Zu Flechtheims Biografie vgl. Flechtheim / Joos (1991). 31 Brief von Ossip K. Flechtheim (Councel for War Crimes) an Carl Schmitt vom 17. März 1947. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-3681. Vgl. zu Flecht‐ heims Rolle auch Wieland (1986: 101-103) sowie Funke (1989:434). 32 Bericht von Ossip K. Flechtheim in einem Gespräch am 13. Februar 1988. 33 Zu Schmitts Situationswahrnehmung nach 1945 und seinen Kontaktaufnahmen in alle ver‐ schiedenen Richtungen vgl. Mehring (2009: 438-463). 34 So soll Kirchheimer bei diesem Besuch von seinem ehemaligen Doktorvater an der Eingangs‐ tür gefragt worden sein: »Kommen Sie als Freund oder Feind?« Kirchheimers Antwort auf die‐ se Frage wird in den Berichten nicht überliefert. Vgl. zu dieser Anekdote Söllner (1996: 114). Im Gespräch mit dem Verfasser entsann sich Alfons Söllner am 21. April 2021 auf John H. Herz oder George Schwab als unwahrscheinlichste Quellen für diese Anekdote, die er zugleich in das Reich einer gut erfundenen Allegorie verwies.

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Anima machte auf. Wer war es? Ich glaube nicht, liebe Duška, dass Sie es raten würden. Es war Otto Kirchheimer. Dick geworden, sonst unverändert. Wir haben uns 2 ½ Stunden gut unterhalten, dann fuhr er weiter nach Düsseldorf. Er ist in Washington beim State Department und wollte nur sehen, wie es mir geht. Mit Ex captivitate [salus] war er nicht zufrieden, weil eine Erklärung über mein Verhalten 1933 fehle. Den [Francisco de] Vitoria-Aufsatz gab ich ihm mit. Mir hat der Besuch Freude gemacht. Ich glaube im Übrigen nicht, dass er in der Sache viel bedeutet. Es war eine Regung menschlichen Interesses an meinem Schicksal, mehr nicht. Aber das war es und insofern immer noch sympathischer als das typische Verhalten der deutschen Kollegen.«35

Eine weitere Quelle ist ein Brief Schmitts an seinen ehemaligen Bonner Assistenten Ernst Rudolf Huber zwei Wochen später. Darin heißt es: »Erinnern Sie sich noch an Otto Kirchheimer? Er ist jetzt beim State Department in Washington und besuchte mich vor 14 Tagen, wobei er mir auch von der Staatsrechtsleh‐ rertagung in Heidelberg erzählte. Wir waren uns einig, dass ein so großartiger Ausbruch geistiger Freiheit und gedanklicher desinvolture, wie wir ihn 1930/32 erlebt haben, wohl kaum wieder zu erwarten ist.«36

Es ist aufgrund dieser beiden knappen brieflichen Berichte Schmitts nicht einfach, die Absicht von Kirchheimers Besuch herauszufinden.37 War es primär die »Regung menschlichen Interesses« am Schicksal seines ehemaligen Doktorvaters, wie dieser es berichtet? Oder wollte Kirchheimer hauptsächlich wissen, wie Schmitt nach Ende des Dritten Reiches über seine eigene, wichtige Rolle in der Etablierungsphase des Regimes dachte? Wollte er die Gelegenheit nutzen, um darüber die direkte und persönliche Auseinandersetzung mit Schmitt zu suchen? War es ihm primär um eine Kritik an Schmitts völlig fehlender Auseinandersetzung mit seiner Rolle im NS-Regime im einige Wochen zuvor erschienenen Büchlein Ex captivitate salus gegangen? Oder war es ein anderes Motiv, welches weniger mit dem persönlichen Interesse an Schmitt, sondern stärker mit seiner eigenen Person zusammenhing? An Arvid Brødersen hat Kirchheimer fast zehn Jahre später in einem Brief Fol‐ gendes darüber mitgeteilt: »Ich habe ihm [Schmitt] schon 1949 anlaesslich des Ver‐ suches[,] sein Verhalten zu rechtfertigen, gesagt, dass die Instanz fuer das von ihm

35 Brief von Carl Schmitt an Duška Schmitt vom 29. November 1949 aus dem Nachlass von Schmitt. Ich danke Gerd Giesler für den Hinweis und die Überlassung dieses Briefes. Landes‐ archiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-29926/46. – Bei dem VitoriaAufsatz handelt es sich um den im Juli 1949 von Schmitt ohne Verfasserangabe publizierten Artikel Francisco de Vitoria und die Geschichte seines Ruhmes in der Dominikanerzeitschrift ›Die neue Ordnung‹. Vitoria wird darin als Vorläufer des modernen Völkerrechts, das auch Völkern der Nicht-Christen volle Rechte zugesteht, dargestellt. Schmitt nahm diesen Text in Nomos der Erde auf. 36 Brief von Carl Schmitt an Ernst Rudolf Huber vom 10. Dezember 1949. In: Schmitt / Huber (2014: 355). 37 Ich danke Douglas Morris für die Diskussion über die verschiedenen möglichen Motive Kirch‐ heimers für seinen Besuch.

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vorgebrachte nur sein Gewissen sein koenne«.38 Gesprächsthema zwischen beiden war auch die Broschüre Kirchheimers, die 1935 unter einem Pseudonym und in der Aufmachung einer im NS-Staat verbreiteten Schriftenreihe Schmitts 1935 illegal im Deutschen Reich verteilt wurde.39 Kirchheimer hat seinen Besuch bei Schmitt auch Wilhelm Hennis gegenüber sogar mehrfach geschildert. Der Bericht, den Hennis mehr als fünfzig Jahre später von Kirchheimers Schilderungen gegeben hat,40 deckt sich bei der Schilderung der äußeren Umstände mit denen in Schmitts Brief an seine Frau. Hennis zufolge hatte Kirchheimer Schmitts Schrift Ex captivitate salus gelesen und war empört über die darin zum Ausdruck gebrachte mangelnde Bereitschaft, sich mit der eigenen Verantwortung für die Politik des NS-Regimes selbstkritisch auseinanderzusetzen. Bei seiner Stippvisite in Plettenberg hätten demonstrative Mo‐ tive im Vordergrund gestanden: Mit seinem offiziösen Auftritt in der Uniform eines Angehörigen der amerikanischen Besatzungsmacht41 und großem Auto mit Chaffeur habe er Schmitt zum einen demonstrieren wollen, wie sehr sich das politische Blatt gewendet habe. Und zum anderen, dass er, der 1933 zu denen gehört hatte, die Schmitt in seinen NS-Propagandaschriften als ein für alle Mal aus Deutschland vertrieben sah, es »geschafft« hatte, zu überleben; und zwar im doppelten Sinne: Als Jude und als Linker hatte er die Verfolgungen des NS-Regimes überstanden und kam nun als amerikanischer Staatsbürger und in wichtiger Position im Dienste des State Department zurück in seine alte Heimat. Folgt man dieser mit stark interpretierenden Elementen durchsetzten Erinnerung von Hennis, dann war der Besuch in Plettenberg für Kirchheimer in erster Linie ein Zeichen »stolzer Selbstbehauptung« gegenüber seinem ehemaligen Doktorvater.42 Anders Schmitt. Er sah sich nach dem Besuch einmal mehr in seinem rüden Antisemitismus und Hass auf die zurückkehrenden Emigranten bestätigt.43

38 Brief von Otto Kirchheimer an Arvid Brødersen vom 2. März 1958. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 1, Folder 25. 39 Vgl. dazu die Einleitung zu Band 2 der Kirchheimer-Edition, S. 24-37. 40 Diesen Bericht gab Wilhelm Hennis in einem Gespräch mit dem Autor am 26. September 2009. 41 Die Tatsache, dass Kirchheimer bei Schmitt in amerikanischer Uniform auftrat, wurde auch von Schmitts Nachlassverwalter Ernst Hüsmert berichtet, vgl. E-Mail von Reinhard Mehring an den Autor vom 10. März 2019. 42 Diese Formulierung wählte Wilhelm Hennis im Gespräch am 26. September 2009. 43 Einige Wochen nach Kirchheimers Besuch trug Schmitt am 12. Januar 1950 das Folgende in sein Glossarium ein: »Als wir uns uneins wurden, haben die Juden sich subintroduziert. […] Heute erleben diese Subintroduzierten eine Restauration mit kolossalen Entschädigungsansprü‐ chen und Rückzahlungen. Aber die Subintroduzierten sind trotzdem noch schlimmer als die zurückkehrenden Emigranten, die ihre Rache genießen. Sie sollten sich was schämen, den Dol‐ lar anzunehmen« (Schmitt 2015: 221). Über die zurückkehrenden Emigranten notierte er kurz darauf: »Die Emigranten erklären die Nicht-Emigranten zu Landesfeinden« (Schmitt 2015: 226).

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4. Distanzierter Briefkontakt und ein weiteres Treffen Der Überraschungsbesuch in Plettenberg konnte das enge, fast freundschaftliche Verhältnis der beiden aus den späten 1920er Jahren nicht wiederbeleben. Im Gegen‐ teil. Der von Kirchheimer in den frühen 1930er Jahren vollzogene Bruch konnte nicht mehr gekittet, sondern lediglich durch sporadische, freundlich formulierte Schreiben und einige ›Pflichtbriefe‹ anlässlich runder Geburtstage kaschiert werden. Aus dem in den Nachlässen überlieferten Schriftwechsel zwischen Kirchheimer und Schmitt sowie anhand von Äußerungen gegenüber Dritten lässt sich die weitere Entwicklung der Beziehung der beiden zumindest in ihren Konturen recht genau nachzeichnen.44 Nach dem Besuch herrschte erst einmal mehr als zweieinhalb Jahre ›Funkstille‹. Im Frühjahr 1952 schickte Schmitt eine Kopie seines Rechtsgutachtens Rechtsstaat‐ licher Verfassungsvollzug, das er für die Stahlwerke Buderus-Röchling verfasst hat‐ te, die damit vor dem Hessischen Staatsgerichtshof gegen ihre Sozialisierung auf Basis von Artikel 41 der Hessischen Staatsverfassung vorgehen wollten, an Kirch‐ heimer.45 Dieser war insofern ein potenziell interessierter Adressat für diese Thema‐ tik, da er während der Weimarer Republik einschlägig zum Thema Enteignung pu‐ bliziert hatte. In seiner Antwort am 4. Mai 1952 bekundete Kirchheimer sein Beileid zum Tod von Schmitts Ehefrau Duška, die fünf Monate zuvor gestorben war. Außer‐ dem bedankte er sich für die Zusendung des Rechtsgutachtens. Zum Inhalt des Gut‐ achtens merkte er allerdings kritisch an, »Ihrer Unterscheidung zwischen einer noch zulässigen Enteignung durch Gesetz und einer unzulässigen bzw. einer in Verleihung des Enteignungsrechts umzudeutenden durch Verfassung, nicht völlig zustimmen« zu können. Positiver äußerte er sich über Schmitts 1950 erschienenes Buch Nomos der Erde, das er »mit viel Freude gelesen« habe und schließt den Brief mit der Aus‐ sicht, sich bei Gelegenheit im persönlichen Gespräch über diese Themen austau‐ schen zu können.46 Schmitt anwortete kurz darauf und suchte die Diskussion mit Kirchheimer über die Rolle des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im rechtlichen und politischen System der jungen Bundesrepublik.47 Kirchheimer reagierte erst drei Monate später in wenigen Zeilen auf die Frage. Mittlerweile hatte der Staatsgerichts‐ hof gegen die Buderus-Werke entschieden. Über das BVerfG äußerte er sich positiv und ließ Schmitt wissen: »ich sehe mir manchmal die Karlsruher Urteile an; nach‐ dem der Gesetzgeber sich bei der Abgrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit wenig Gedanken über deren immanente Grenzen gemacht hat, muss das Gericht aufpassen, 44 Über einen Teil des Briefwechsels, der sich im Nachlass Schmitts befindet, wird in Mehring (2007: 65-68) berichtet. 45 Das Begleitschreiben Schmitts zu diesem Gutachten ließ sich bislang nicht auffinden. 46 Brief von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 4. Mai 1952 (handschriftlich). Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7598. 47 Dieser Brief Schmitts ist bislang nicht auffindbar.

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dass es die ganze Gerichtsbarkeit nicht ad absurdum führt.« Erneut erwähnte er die von Schmitt zuvor ins Spiel gebrachte Aussicht, dass es Ende 1952 oder Anfang 1953 trotz seiner vielen Reisen in Europa mit einem persönlichen Treffen klappen könne.48 Von Ende November 1952 stammt Kirchheimers längster Brief an Schmitt. Of‐ fensichtlich ist es erneut eine Antwort auf ein Schreiben von Schmitt.49 Freund‐ lich und zuvorkommend im Ton äußerte Kirchheimer eine fundamentale Kritik an Schmitt und dessen Schülern unter den bundesdeutschen Staatsrechtslehrern. Rückblickend auf seinen genau 20 Jahre zuvor gemeinsam mit Nathan Leites für das ›Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik‹ verfassten Aufsatz Bemer‐ kungen zu Carl Schmitts ›Legalität und Legitimität‹50 schrieb er an Schmitt: »Sie werden sich erinnern, dass schon in meinem Co-Autor Aufsatz von 1932 über Lega‐ lität & Legitimität – ich versuchte[,] den Begriffsrealismus mit den tatsächlichen Entwicklungstendenzen der Institutionen zu konfrontieren; das trifft nicht die innere Folgerichtigkeit Ihres Gedankenablaufs, aber mag wohl die Perspektive einigerma‐ ßen verschieben.«51 Kirchheimer richtete seine Kritik auch an Schmitts Schüler: »[B]ei der Lektüre von [Werner] Webers kleinem Buch ist mir die Überfälligkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriffsgebäude der Verfassungslehre, die ja von Weber in toto übernommen ist, erneut klar geworden; nur schade, dass es in Deutschland anscheinend niemand gibt, der sich an eine solche fruchtbare Arbeit heranmacht; zwar lebt die deutsche Verfassungslehre, soweit sie intellektuell vorhanden ist, völlig von Ihrem Gedankengut, aber sie würde weiter davon profitie‐ ren, wenn sie die Tätigkeit zu rezipieren durch eine kritische Rezeption ergänzen würde.«52 Über Ernst Forsthoff ließ er Schmitt wissen, dass er dessen Abhandlung über die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien gelesen habe, aber stark bezweifle, dass Forsthoff der Thematik im 20. Jahrhundert mit seinen par‐ teienskeptischen Ausführungen noch gerecht werde.53 Ganz grundsätzlich ging es Kirchheimer in all diesen Punkten um das aus seiner Sicht gestörte Verhältnis der Schmitt’schen Theorie »zur Frage der geschichtlichen Wirklichkeit«. Kirchheimer hatte den Brief auf Weihnachtspapier, verziert mit einigen Renaissance-Engeln, ge‐ schrieben, was Schmitt zu dem ironischen Vermerk »Kirchheimer!« auf dem Blatt 48 Brief von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 8. September 1952 (handschriftlich). Landes‐ archiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7599. 49 Dieser Brief ist bislang nicht auffindbar. 50 Abgedruckt in Band 2 der Gesammelten Schriften Kirchheimers, S. 458-493. 51 Dieses und die folgenden Zitate stammen aus dem Brief von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 21. November 1952 (handschriftlich). Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7600. 52 Es handelt sich um Webers Buch Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, vgl. Weber (1952). 53 Forsthoff fordert darin u.a. die Inkompatibilität von Parteiamt und parlamentarischem Mandat, vgl. Forsthoff (1950: 23f.).

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animierte; offenbar fand er diese Kritiken in Zusammenhang mit einem Weihnachts‐ gruß unpassend. Trotz seiner offenen Kritik blieb es auch von Kirchheimers Seite bei der Absicht, sich gelegentlich erneut zu treffen. Er wollte dies allerdings auf die private Ebene begrenzt wissen. Im Vorfeld des im Sommer 1953 anstehenden 65. Geburtstages von Schmitt war Kirchheimer ein Jahr zuvor von den Herausgebern einer geplanten Fest‐ schrift eingeladen worden, sich mit einem Beitrag zu beteiligen. Er lehnte dieses An‐ sinnen ab, weil er nicht in den Ruch kommen wollte, auf diese Weise zu einer öf‐ fentlichen Aufwertung Schmitts beizutragen.54 Zu Weihnachten 1952 hatte Schmitt ihm das von seiner Tochter übersetzte Buch von Lilian Winstanley Hamlet, Sohn der Maria Stuart zugeschickt, das Schmitt mit einem kurzen Vorwort versehen hatte. Kirchheimer bedankte sich am 28. Januar 1953 für die Zusendung und lobte das Buch Winstanleys, ohne aber auf Schmitts aktualisierende Interpretation des Ham‐ let-Motivs näher einzugehen.55 Erneut meldete Kirchheimer sich im Februar 1953 aus der Wohnung von Richard Schmid, dem Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsiden‐ ten, bei Carl Schmitt. Er sei vermutlich im April oder Mai beruflich in dessen Nähe und würde sich gegebenenfalls telefonisch bei ihm zwecks eines Treffens melden.56 Ende März schrieb er ihm deswegen erneut und schlug vor, sich in Düsseldorf zu treffen.57 Im April 1953 kam es dann in Köln schließlich zu einem solchen Treffen, zu dem Schmitt seine Tochter Anima mitbrachte. Über den Verlauf dieser Begeg‐ nung sind keine Dokumente überliefert, doch es verlief offenbar für beide Seiten nicht besonders erfreulich, denn bis auf ein knappes Gratulationsschreiben Kirchhei‐ mers zu Schmitts 65. Geburtstag im Stil eines ›Pflichtbriefes‹58 brach der Kontakt für mehrere Jahre vollständig ab.59

54 Vgl. Brief von Otto Kirchheimer an Arvid Brødersen vom 2. März 1958. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 1, Folder 25. 55 Brief von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 28. Januar 1953 (Poststempel). Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7601. – Schmitt hatte in seinem Vorwort eine Verbindung der »Theatralisierung des eigenen geschichtlichen Daseins« in dem Stück Shakespeares mit den Ereignissen des sogenannten ›Röhm-Putsches‹ von 1934 in Verbindung gebracht. 56 Brief von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt [ohne Datum; Februar 1953]. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7593. 57 Brief von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 28. März 1953 (handschriftlich). Landesar‐ chiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7594. 58 Brief von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 1. Juli 1953 (handschriftlich). Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7602. 59 Schmitt erwähnte zwar Winfried Martini im September 1953 gegenüber, er wolle Kirchheimer über den Verbleib des in die USA emigrierten Soziologen Heinz Otto Ziegler fragen (vgl. Burkhardt 2013: 123) – über diese Anfrage findet sich freilich nichts in den einschlägigen Archiven.

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5. Zur Kritik am Schmittianismus im bundesdeutschen Rechtsdenken Kirchheimer artikulierte seine Kritik an Schmitt und dessen Schülern nicht nur in Briefen, sondern auch in kleineren Publikationen, überwiegend Rezensionen. Den Beginn machte eine Rezension von Werner Webers Buch Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem aus dem Jahre 1951 für die ›American Political Science Review‹. Weber und Kirchheimer kannten sich aus der gemeinsamen Bonner Studienzeit bei Schmitt; nach 1933 verliefen ihre Karrieren dann allerdings völlig unterschiedlich: Weber lehrte ab 1935 an der Wirtschaftshochschule Berlin und wurde 1942 zum Ordinarius in Leipzig ernannt.60 Aus Leipzig schrieb Weber im November 1947 an Kirchheimer, er wolle »den Meinungsaustausch zwischen uns wieder ein wenig in Gang bringen«61 und regte ein Treffen an, doch Kirchheimer ignorierte dieses Ansinnen. 1948 nahm Weber den Ruf auf eine Professur für Öffent‐ liches Recht in Göttingen an. Rudolf Smend – der sich Kirchheimer für diese Stelle gewünscht hatte – zeigte sich über seinen neuen Göttinger Kollegen wegen dessen engen Verbindungen zu Schmitt besorgt.62 Kirchheimer teilte diese Einschätzung und berichtete Smend über seine geplante Rezension zu Webers Buch. Er fasste deren Essenz mit dem Satz zusammen: »ich glaube nicht, dass es sehr ergiebig ist[,] die gegenwaertigen deutschen Verhaeltnisse mit Hilfe eines kaum abgewandel‐ ten Begriffsapparats Carl Schmitts aus den Jahren 28-32 abzuhandeln«.63 Überdies stimmte er Smend dahingehend zu, »[Hermann] Heller ist auf die Dauer fruchtbarer als C.S.«64 Im April 1952 bat er Smend dann, Weber den Text seiner nun fertigge‐ stellten Rezension »mit einer passenden Bemerkung«65 auszuhändigen, damit dieser davon nicht erst über Umwege nach ihrer Publikation in den USA erfahre. Die Besprechung des Buches von Weber66 beginnt mit einem Frontalangriff. Der Autor sei zwar ein »intelligent and lucid writer« (S. 220), doch er bleibe hoffnungs‐ los gefangen in dem »conceptual framework erected by Carl Schmitt in the late twenties and the early thirties« (S. 220), um anhand dieses Maßstabes das politische System der Bundesrepublik zu analysieren. Lese man sein Buch, dann stoße man auf 60 Vgl. Stolleis (1999: 286f.). 61 Brief von Werner Weber an Otto Kirchheimer vom 5. November 1947. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 2, Folder 39. 62 Brief von Otto Kirchheimer an Rudolf Smend vom 9. Juni 1951. Staats- und Universitätsbi‐ bliothek Göttingen, Nachlass Rudolf Smend, Cod. Ms. R. Smend, Briefwechsel Kirchheimer. 63 Brief von Otto Kirchheimer an Rudolf Smend vom 1. Februar 1952. Staats- und Universitäts‐ bibliothek Göttingen, Nachlass Rudolf Smend, Cod. Ms. R. Smend, Briefwechsel Kirchheimer. 64 Brief von Otto Kirchheimer an Rudolf Smend vom 25. Oktober 1951. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 2, Folder 19. 65 Brief von Otto Kirchheimer an Rudolf Smend vom 1. April 1952. Staats- und Universitätsbi‐ bliothek Göttingen, Nachlass Rudolf Smend, Cod. Ms. R. Smend, Briefwechsel Kirchheimer. 66 Vgl. Kirchheimer (1952). Die nachfolgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Artikel.

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all die »old clichés« (S. 220) des gemeinsamen Doktorvaters: die unanfechtbare Au‐ torität des Staates, eine starke und neutrale Exekutive, eine Elite an der Spitze der staatlichen Verwaltung sowie die Kritik an Parteienpluralismus und dem politischen Einfluss von Interessenverbänden. Süffisant bemerkt Kirchheimer, dass die Weima‐ rer Verfassung in Webers Traktat rückblickend auf einmal gar nicht mehr so schlecht abschneide; dies aber nur, um mit noch größerer Vehemenz das neu etablierte bun‐ desdeutsche System anzugreifen. Webers Vorwurf eines fehlgeleiteten Perfektionismus des Bonner Grundgesetzes hält Kirchheimer entgegen, dass sich Weber aufgrund seines Schmitt’schen Katego‐ riengerüsts den realistischen Einblick in die Funktionsweise des bundesdeutschen Systems verbaue. Dessen »complete acceptance of Carl Schmitt’s conceptual frame‐ work and scale of values has stood in the way of a dispassionate analysis of the in‐ terplay between constitutional order and the social reality of the Bonn state« (S. 220). Weder die exzessive Kritik am Status der politischen Parteien im Grundge‐ setz noch an dessen föderativer Ordnung sei überzeugend. Entgegen Webers Wieder‐ holung der alten Klischees beschreibt Kirchheimer die Parteien als primäre politi‐ sche Integrationsagenturen, deren Legitimität »rests in their ability to channel the political and social energies of their clientele of unions, economic associations or churches into political action« (S. 221). Aus diesem Grund sei ihre ausdrückliche Er‐ wähnung im Grundgesetz auch positiv zu bewerten. Zudem – so Kirchheimer – kön‐ ne das Institut des Konstruktiven Misstrauensvotums als innovative Stabilisierungs‐ maßnahme fungieren; am Ende der Weimarer Republik hatte Kirchheimer den dies‐ bezüglichen Vorschlag von Ernst Fraenkel noch heftig kritisiert.67 Weniger scharf fällt Kirchheimers Zurückweisung der Föderalismuskritik von Weber aus, denn auch Kirchheimer sieht in einigen Teilen der föderativen Bestim‐ mungen eher »negative rather than positive aspects« (S. 221) am Werke. Dennoch übertreibe Weber es mit seiner Fundamentalkritik an dessen zentrifugalen Kräften dermaßen, dass ihm entgehe, worin die tatsächlichen Probleme des bundesdeutschen Föderalismus liegen. »The reality is somewhat more complex« (S. 222) – denn tat‐ sächlich würden sich die Länder größtenteils aus der Bundespolitik heraushalten und zudem mit dem Bund aufgrund parteipolitischer Konstellationen kooperieren wol‐ len. Es gäbe nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass einzelne Bundesländer es darauf abgesehen hätten, in offenen Konflikt mit dem Bund zu treten. Und selbst wenn sie es wollten, wären diesem Ansinnen klare verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt. Dies bestätige auch die legislative Arbeit der ersten beiden Jahre bundes‐ deutscher Demokratie. Problematisch sei Kirchheimer zufolge eher, dass komplexe Verhandlungen zwischen Bundesrat und Bundestag die politischen Prozesse ineffizi‐ ent und deren Ergebnisse sich nicht eindeutig parteipolitisch zuordnen ließen. Im

67 Vgl. Kirchheimer (1932: 449f.).

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Kern wirft Kirchheimer seinem ehemaligen Bonner Kommilitonen vor, aus der Zer‐ störung der Weimarer Republik nichts hinzugelernt zu haben. Und in einer »some‐ what veiled reference to the events of 1933« (S. 221) beschönige Weber die Atta‐ cken der nationalsozialistischen Bürgerkriegspartei sogar noch, indem er sie als »credits posthumously with being volcanic eruptions of the state’s eternal tendency towards self preservation‹« (S. 221) bezeichnete. Zwei Jahre später folgte eine Attacke Kirchheimers in Richtung eines anderen ehemaligen Bonner Kommilitonen, Ernst Forsthoff. Sie findet sich in dem Aufsatz Parteistruktur und Massendemokratie in Europa, der 1954 im ›Archiv des öffent‐ lichen Rechts‹ erschien. Forsthoffs Vorschlag, Parlamentsfraktionen vom Einfluss ihrer politischen Parteien durch die Schaffung von gesetzlichen Inkompatibilitäten zwischen Fraktionszugehörigkeit und Parteiamt abzuschirmen,68 weist Kirchheimer mit groben Worten zurück. Solch ein Vorschlag gehe von der »irrigen Vorstellung aus«69, dass die Fraktion und nicht die Partei zur politischen Gestaltung berufen sei. Wenn in parlamentarischen Demokratien heute Gegensätze zwischen Fraktions- und Parteiinstanzen aufbrechen, so ist dies ein klares Indiz für tiefer liegende soziale und politische Diskrepanzen. Diese werden durch Spaltungen und Neugründungen ins Reine gebracht und benötigen keine staatlichen Restriktionen. Deutlich moderater fällt im selben Jahr Kirchheimers Besprechung des Buches ei‐ nes dritten ehemaligen Bonner Kommilitonen des Schmitt-Zirkels, Ernst Rudolf Huber, aus.70 Die Besprechung von dessen Buch Wirtschaftsverwaltungsrecht er‐ schien ebenfalls 1954 in der zwei Jahre zuvor gegründeten Rezensionszeitschrift ›Politische Literatur‹. Das Interesse Kirchheimers an Hubers Buch wird deutlicher erkennbar, wenn man sich seine Weimarer Schriften zur Frage des Eigentums und speziell zur Frage der Enteignung vor Augen hält. Denn bereits 1930 hatte er mit Huber über diese Fragen die argumentativen Klingen gekreuzt.71 Kirchheimer ver‐ gleicht in seiner Besprechung Hubers gleichnamige Schrift von 1932 mit dem neuen Werk. Ihm imponiert vor allem die umfassende Breite der Darstellung Hubers auf den über 1.700 Seiten und er erkennt in der Aufarbeitung des vielfältigen Materials aus den verschiedenen Rechtsgebieten »eine Leistung erster Ordnung« (S. 267). Kirchheimer liest aus Hubers rechtsdogmatischen Darlegungen eine »geistige Ein‐ heit« (S. 267) heraus, wonach sich das Bonner Grundgesetz zu einem gemischten System der Wirtschaftsverfassung bekenne. Damit werde nicht nur extrem kollekti‐ vistischen, sondern auch radikal individualistischen Wirtschaftsformen eine Abfuhr erteilt. Kirchheimer sieht damit offensichtlich – trotz der von ihm eingestandenen Tatsache, dass das Bonner Grundgesetz einen gegenüber Weimar verstärkten Enteig‐ 68 Vgl. Forsthoff (1950). 69 Kirchheimer (1954a: 241). 70 Vgl. Kirchheimer (1954b). Die nachfolgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Artikel. - Zum Verhältnis von Huber zu Schmitt vgl. Mehring (2017: 151-181). 71 Vgl. dazu Buchstein (2017: 57-66).

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nungsschutz vorsieht – eine unabsichtlich geschlagene verfassungsrechtliche Bre‐ sche für sozialdemokratische Wirtschaftsreformen. Auch in Hubers Schriften diagnostiziert Kirchheimer ein gewisses Schmitt’sches geistiges Erbe, wenn er dessen »fortwirkende[n] Glaube[n] an die Möglichkeit eines neutralen Staates mit Schiedsrichterfunktionen« (S. 267) schildert und als Konse‐ quenz daraus die anti-gewerkschaftliche Tendenz solcher Überzeugungen kritisiert. Gleichzeitig sieht Kirchheimer in der von Huber vertretenen wirtschaftspolitischen Offenheit des Grundgesetzes insofern ein gewisses Problem für den Autor, als dieser darauf verzichtet, die verschiedenen und teilweise miteinander konkurrierenden ver‐ fassungsrechtlichen Imperative im Kontext ihrer »historische[n] Bewährung« (S. 268) durchzubuchstabieren. Stattdessen flüchte Huber in Begriffsschemata, ohne sich die Frage zu stellen, »wie weit zwischen Begriffsschema und sozialer Wirklich‐ keit eine Entsprechung besteht« (S. 268). Die von ihm kritisch aufgeworfene Frage nach der realen Entsprechung tritt Kirchheimer zufolge in Hubers Buch insbesondere bei der Rolle der Berufsverbände sowie bei der rechtlichen Gestaltung der Konzern- und Kartellordnung hervor. In erster Linie aber hadert Kirchheimer mit Hubers Verzicht, den sozialen »Struktur‐ wandel« (S. 269) in der Funktion der Berufsverbände – dabei vor allem der Gewerk‐ schaften – soweit zur Kenntnis zu nehmen, dass daraus auch dogmatische Folgen, beispielsweise für das Streikrecht, gezogen werden können. Als zentrale Aufgabe für die künftige Entwicklung des Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwal‐ tungsrechts sieht Kirchheimer »darüber Klarheit zu schaffen, wie weit Wirtschaftsund Sozialinstitutionen im Wandel der letzten Jahrzehnte sich in ihrem Sinngehalt geändert haben« (S. 269) oder bis zu welchem Grad eine fortdauernde Strukturiden‐ tität besteht. In der aufopferungsvollen Sammlertätigkeit Hubers sieht Kirchheimer die dafür notwendigen juristischen Materialien zusammengestellt – mehr als dieses Fleißtestat gesteht er Huber allerdings nicht zu. Zwei Jahre später nimmt Kirchheimer im Sommer 1956 in einer Rezension für das ›Archiv des öffentlichen Rechts‹ erneut die Händel mit einem Schmitt-Schüler auf, diesmal mit einem Vertreter der jüngeren Generation. Joseph H. Kaiser hatte 1948 mit einer kirchenrechtlichen Arbeit promoviert, die Kirchheimer in einer ande‐ ren Sammelbesprechung zuvor als »fascinating essay« gelobt hatte. Die Bespre‐ chung des Buches ›Die Repräsentation organisierter Interessen‹ von Kaiser fällt demgegenüber völlig anders aus.72 Gleich zu Beginn bemängelt Kirchheimer Kai‐ sers methodischen Ansatz. Statt sich an der »im anglo-amerikanischen und wohl zu‐ nehmend auch im romanischen Kulturkreis gepflegte[n] empirische[n] Sozialfor‐ schung« (S. 271) zu orientieren oder statt sich wie Huber auf eine möglichst neutrale juristische Einordnung gesellschaftlicher Tatbestände in die Verfassungsordnung zu

72 Vgl. Kirchheimer (1956). Die nachfolgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Artikel.

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beschränken, webe Kaiser »in fortwährender Übernahme der Denk- und Darstel‐ lungsformen von Carl Schmitt […] reiches ideen- und zeitgeschichtliches Material in ein vorbestimmtes Begriffsschema ein« (S. 271). Kaisers Darstellung basiere auf einem »der Staat-Gesellschaft-Antinomie verhafteten Begriff des Politischen« (S. 271) und gelange bei der Darstellung der Rolle gesellschaftlicher Interessenver‐ bände notgedrungen zu der These, dass pressure groups den allein repräsentativen Charakter der staatstragenden Organe unterminieren. Kirchheimer stimmt Kaiser an den Stellen seines Buches zu, in denen dieser eine Pluralismustheorie kritisiert, derzufolge aus dem Marktprozess von Interessen, Ideen und politischen Manövern automatisch eine gesellschaftliche Balance und Harmonie resultiere. Derartige optimistische Vorstellungen gehörten Kirchheimer zufolge in den Bereich der »politischen Romantik« (S. 272) – womit Kirchheimer eine Formu‐ lierung aufgreift, die er bereits 1944 in seiner Kritik an naiven US-amerikanischen Pluralismustheorien verwendet hatte.73 Doch solch eine naive Pluralismustheorie sei selbst in der neueren amerikanischen Verbändeforschung nicht unwidersprochen ge‐ blieben, wie er unter Hinweis auf das im gleichen Jahr erschienene Buch The Power Elite von C. Wright Mills darlegt,74 und dürfe deswegen auch nicht als Argument gegen eine nüchterne empirische Analyse der Möglichkeiten wie auch der Grenzen der Verbändeherrschaft herhalten. Mit Blick auf das politische System der Bundesre‐ publik sieht Kirchheimer zwei Begrenzungen der Verbändeherrschaft. Eine »innere Grenze« (S. 273) liege darin, dass viele Verbandsmitglieder zugleich auch in ande‐ ren Verbänden organisiert sind und deshalb mit der numerischen Größe von Interes‐ senverbänden, deren politische Eindeutigkeit und Intensitätsgrad tendenziell ab‐ nimmt. Schon aus diesem Grunde stünden die von Kaiser gegen die Gewerkschaften und das Streikrecht gerichteten Polemiken auf empirisch schwachen Füßen. Zum an‐ deren unterliegt die Verbandsmacht im politischen System der Bundesrepublik auch »äußere[n] Schranken« (S. 273), wozu in erster Linie die politischen Parteien zählen, die einen Ausgleich zwischen konkurrierenden Verbandsinteressen herstellen. Letzt‐ lich sei die Frage der Verbändemacht aber eine empirisch zu beantwortende Frage, die sich mit vorgefassten Begriffsschemata nicht angemessen beantworten lässt. Der Bundesrepublik attestiert Kirchheimer, dass dort »[d]ie Parteien und das Parlament den Interessengruppen gegenüber ihre Stellung besser behauptet [haben] als in man‐ chen anderen Ländern« (S. 274). Gegen Ende seiner Kritik an Kaiser gibt Kirchheimer einen Einblick in seine ei‐ gene, skeptische Sicht der Rolle des Individuums in der modernen Gesellschaft. Wenn Kaiser einen starken Staat fordere, weil nur dieser dem Einzelnen Schutz vor überbordenden Ansprüchen intermediärer Institutionen zu geben vermöge, sieht Kirchheimer dies »zwiespältige[r]« (S. 274). Dienstleistung und Schutz gingen bei 73 Vgl. Kirchheimer (1944: 520f.). 74 Vgl. Mills (1956).

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Staat wie Interessengruppen ebenso wie Bedrängung und Unterdrückung »leicht und fast unmerkbar ineinander über« (S. 274/275). Der beste Schutz des Individuums be‐ stehe in der Ausnutzung von organisatorischen Rivalitäten und institutionellen Zwi‐ schenräumen. In der gegenwärtigen »Windstille des nachfaschistischen Zeitalters und in der Nachbarschaft des bolschewistischen Bereichs« (S. 275) sei es kaum überraschend, wenn sich viele Menschen dem organisatorischen Zugriff von Staat und Verbänden zu entziehen versuchten. Kirchheimer beschließt seine Kritik an Kai‐ sers Plädoyer für einen starken Staat deshalb mit dem Gegenplädoyer »für ein leidli‐ ches Zusammenwirken zwischen Individuum, Staats- und Gesellschaftsapparat« (S. 275).

6. Der bürgerliche Rechtsstaat als ‚eternal enemy‘ Schmitts 1957 ging Kirchheimer in dem Aufsatz The Political Scene in West Germany noch einmal auf Joseph H. Kaisers Buch über die Interessenverbände ein. Der Artikel erschien in ›World Politics‹. Diesmal nutzt er seine Kritik für eine weitere explizi‐ te Auseinandersetzung mit Carl Schmitt und preist in diesem Zusammenhang die im Erscheinen befindliche Schmitt-Studie Ausnahmezustand und Norm von Peter Schneider.75 Peter Schneider stammte aus der Schweiz und seine Schmitt-Studie war von Friesenhahn als Habilitationsschrift betreut worden, nachdem er Carlo Schmid in Tübingen als Patron verloren hatte und ihm »Hans Schneider […] wegen der Habilitationsschrift Schwierigkeiten machte.«76 Schneider schickte eine Kopie der Druckfahnen an den daran interessierten Kirchheimer. An Friesenhahn schrieb Kirchheimer nach der Lektüre, dass das Buch zwar zuerst doch »zu sehr am Stoff klebt«, dann aber nach gut 60 Seiten »wird das Buch erstklassig«. Er hoffe auf eine starke Wirkung des Buches in Deutschland.77 Kirchheimer78 ist voll des Lobes für Schneiders Monographie. Er sieht darin An‐ zeichen für eine sich zum Positiven verändernde rechtswissenschaftliche Kultur in der Bundesrepublik. Schneiders Buch sei »one of the most encouraging signs on the German intellectual horizon« (S. 348). »In its long-range literary impact«, so Kirch‐ heimer weiter, »it may be presumed to overshadow much of present-day writing« (S. 348). Mit bewundernswerter Energie hätte Schneider es gewagt, aus der Vielzahl

75 Vgl. Schneider (1957). 76 Brief von Ernst Friesenhahn an Otto Kirchheimer vom 4. Februar 1955. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 1, Folder 55. 77 Brief von Otto Kirchheimer an Ernst Friesenhahn vom 10. März 1957. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 1, Folder 61. 78 Vgl. Kirchheimer (1957). Die nachfolgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Artikel.

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an Schriften ein insgesamt kohärentes Gesamtbild der Theorie Schmitts zu zeichnen, um vor diesem Hintergrund dessen theoretische Unstimmigkeiten und begriffliche Ungenauigkeiten präzise herauszuarbeiten. Der interpretatorischen Grundthese Schneiders stimmt er zu: Der bürgerliche Rechtsstaat fungiert in Schmitts Theorie als der »eternal enemy« (S. 349). In Kirchheimers knapper Würdigung des Buches von Schneider findet sich in kompakter Form fast die gesamte Liste der zentralen Kritikpunkte, die er selbst Schmitt entgegenhielt: »The lack of any clear-cut criteria for differentiating between nomos and violence, the discrepancy between the traditional liberal concepts of classical international and the de‐ cisive rejection of an artfremd and disintegrating liberalism as part of the domestic con‐ stitutional order, the brooding omnipresence of the people’s constituent power and it’s in‐ capacity to act as an constituted organ, the indeterminate character of the values underly‐ ing concrete decisions, and the conjunction of a relativistic openness to a variety of histo‐ rical interpretations with an ever-present negation of the rule of law« (S. 348).

Peter Schneider zeigte sich über das Lob Kirchheimers höchst erfreut, sah er doch sein Unterkommen in der bundesdeutschen Rechtswissenschaft nach seiner harschen Kritik an Schmitt als mehr als gefährdet an.79 Die Tatsache, dass Kirchheimer mit solch klaren Worten öffentlich gegen Schmitt und dessen Schülerschaft in der deutschen Staatsrechtslehre Stellung bezog, war seiner Grundüberzeugung über den angemessenen Umgang mit politischen Gegnern geschuldet. An Brødersen schrieb er 1958 diesbezüglich im Hinblick auf Schmitt: »Ich halte auch heute noch daran fest, dass niemand seiner Schriften oder geistigen Produktion wegen straf- oder pseudostrafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden sollte. Publikumsreaktion und das Gewissen sind die Instanz fuer einen Schriftsteller. Die Frage einer staatlich sanktionierten und bezahlten Taetigkeit steht selbstverstaendlich auf einem anderen Blatt.«80 1959 erschien mit einjähriger Verspätung die Festschrift zu Schmitts 70. Geburtstag. In der Aufsatzsammlung sind Beiträge einiger älterer, vor allem aber jüngerer Kollegen, Begleiter und Schüler Schmitts versammelt – neben seinen Bonner Studienkollegen Huber und Friesenhahn gehörte auch Kirchheimer zu den Angesprochenen, die eine Beteiligung ablehnten. Doch das Werk von Schmitt war für Kirchheimer nicht nur ein Referenzpunkt seiner Kritik. Es blieb in seinen späten Schriften zumindest an einer Stelle auch eine 79 Brief von Peter Schneider an Otto Kirchheimer vom 9. Februar 1957. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 2, Folder 1. – Horst Ehmke äußerte sich gegenüber Kirchheimer kritischer über Schnei‐ ders Buch und befürchtete: »Ob das Buch nicht in unserer Situation als Propagandaschrift für Carl Schmitt wirken wird, bin ich mir auch gar nicht sicher.« Brief Horst Ehmke an Otto Kirchheimer vom 19. Mai 1957. Friedrich-Ebert-Stiftung, Archiv für soziale Demokratie, Horst Ehmke Depositum, Nr. 504. 80 Brief von Otto Kirchheimer an Arvid Brødersen vom 2. März 1958. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 1, Folder 25.

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Quelle der Anregung und des konstruktiven Weiter- und Andersdenkens. Dies be‐ trifft Kirchheimers Buch Political Justice, mit dem er sich seit Mitte der 1950er Jah‐ re intensiv beschäftigte. Argumentativ scheint das Buch Überlegungen aus Schmitts Verfassungslehre von 1928 zum Ausgangspunkt zu machen, ohne dies aber eigens zu erwähnen. Schmitt hatte in der Verfassungslehre dem Thema ›Politische Justiz‹ einen größeren Unterabschnitt gewidmet. Er verstand unter politischer Justiz das Auftreten von justizförmigen Auseinandersetzungen, die eine »politische Besonder‐ heit«81 haben. Sie seien auch im bürgerlichen Rechtsstaat unvermeidbar, der »für besondere Arten echter Rechtsstreitigkeiten […] wegen ihres politischen Charakters ein besonderes Verfahren oder eine besondere Instanz«82 vorsieht. In Schmitts Theo‐ rie wird die politische Justiz zur offenen Flanke im bürgerlichen Rechtsstaat für arbiträre politische Interventionen. Schmitt listet sechs Typen dieser politischen Verfahren auf. Drei von ihnen finden sich auch in Kirchheimers Monographie: Prozesse wegen Hochverrat, parlamentarische Präsidentenanklagen und Prozesse vor gesonderten Staatsgerichtshöfen. Für Schmitt fielen zudem »Wahlprüfungen der politisch wichtigsten Wahlen«, »Sonderbehandlung von Regierungsakten oder spezifisch politischen Akten auf dem Gebiet der Rechtspflege« und auch »[e]chte Verfassungsstreitigkeiten«83 in den Bereich der politischen Justiz. Kirchheimer legte demgegenüber ein deutlich engeres Verständnis von politischer Justiz vor, das sich auf den politischen Wettstreit beschränkt.84 Wie dem auch sei. Nach fünf Jahren ›Sendepause‹ zwischen Kirchheimer und Schmitt kam es 1958 wieder zu einem brieflichen Kontakt. Von Kopenhagen aus schrieb Kirchheimer Ende Juli 1958 auf dem Briefbogen eines Hotels einige eilige Zeilen als nachträgliche Gratulation zu Schmitts 70. Geburtstag und zur Hochzeit von dessen Tochter.85 Nach seiner Rückkehr aus Spanien nahm Schmitt diesen Ball umgehend auf. Ausführlich berichtete er von der Arbeit im vergangenen Jahr an der Edition seines Sammelbandes Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954.86 Kirchheimer gegenüber betonte er die fortdauernde Aktualität seiner Schriften aus der Weimarer Zeit: »Infolge der Ereignisse in den letzten Monaten (de Gaulle in Frankreich … und die Volksbefragung in der Bundesrepublik) sind die alten Aufsätze von 1932 aktueller geworden als meine neuen Bemerkungen von 1957.« Des Weiteren machte er ihn in dem Brief auf einen Besucher aus New York bei ihm in Plettenberg aufmerksam.

81 82 83 84

Schmitt (1928: 134). Schmitt (1928: 134). Schmitt (1928: 136-138). Vgl. zu diesen Ähnlichkeiten und Differenzen ausführlicher die Einleitung zu Band 4 der Gesammelten Schriften von Otto Kirchheimer. 85 Brief von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 25. Juli 1958. Landesarchiv Nordrhein-West‐ falen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7603. 86 Vgl. Schmitt (1958).

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Dieser Besucher sollte drei Jahre später der Auslöser für den endgültigen Ab‐ bruch jeglicher Beziehungen zwischen Kirchheimer und Schmitt sein. Schmitt legte Kirchheimer den Studenten mit folgenden Worten ans Herz: »Ich hatte im Sommer einige Monate Besuch von einem jungen Studenten aus New York, George Schwab, Columbia University, mit dem ich mich sehr gut unterhalten habe und der mir sehr sympathisch war. Sollten Sie ihn einmal sprechen können – sein Lehrer ist Herbert A. Deane – Public Law and Government, Columbia Univ. – der Verfasser des Buches über H. J. Laski – so würde es mich interessieren, welchen Eindruck Sie von ihm haben.«87 Schmitt setzte offenbar darauf, dass auch Kirchheimer sich für den jungen Studenten aus New York begeistern und ihn unterstützen würde. Kirchheimer antwortete einen Monat später lediglich kurz auf den Brief und schrieb im Hinblick auf den New Yorker Besucher: »Bisher kenne ich Herrn Schwab nicht, werde aber versuchen, mich nach Semesteranfang mit ihm in Verbindung zu setzen.«88 Schmitts Behauptung von der ungebrochenen Aktualität seiner Weimarer Schriften wies er brüsk zurück: »Ich glaube nicht an die Wiederholung aehnlicher Situationen, zuviel qualitative Veraenderungen liegen dazwischen.« Dessen ungeachtet schickte ihm Schmitt zu Weihnachten 1958 ein Exemplar seiner Verfassungsrechtlichen Aufsät‐ ze;89 Kirchheimer revancierte sich mit dem Sonderdruck seines gerade erschienenen Aufsatzes France from the Fourth to the Fifth Republic, in dem sich eine zu Schmitts Lob des starken Präsidentialismus diametral entgegenstehende Bewertung der französischen Ereignisse findet.90 Schmitt hatte in der Edition der Verfassungsrechtlichen Aufsätze sämtliche seiner alten Beiträge mit zum Teil umfangreichen Corollarien versehen. Mehrere Male kam er in diesen Selbstkommentierungen auch auf neuere Arbeiten von Otto Kirchheimer zu sprechen – sämtlich in einer Art und Weise zitiert, dass sie als Unterstützung seiner eigenen Ausführungen dienen konnten. An neueren Arbeiten Kirchheimers zog Schmitt in erster Linie den Aufsatz Vom Wandel der politischen Opposition von 1957 heran, in dem dieser die These aufstellt, dass es in den meisten modernen Demokratien an echter Opposition fehle. Schmitt verwendet diese These als Beleg für seine Diagnose, dass der Staat handlungsunfähig geworden ist und Parteienkar‐

87 Brief von Carl Schmitt an Otto Kirchheimer vom 6. August 1958. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 2, Folder 12. 88 Brief von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 4. September 1958. Landesarchiv NordrheinWestfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7604. 89 Er versah es mit der handschriftlichen Widmung »Für Otto Kirchheimer als Weihnachtsgruss von Carl Schmitt, 20/12/58«. Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze. In: State Univer‐ sity of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 8-9, Box 5. 90 Versehen mit der Widmung »Mit besten Grüssen und Dank fürs Buch! Ihr OK«. Schmitt unterstrich darin auf der ersten Seite die Formulierung »friends and foes«. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-25656.

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telle die Macht übernommen haben.91 Kirchheimer äußerte sich Schmitt gegenüber nicht weiter zu der Buchausgabe. Gegenüber Ernst Friesenhahn fand er nach der Re-Lektüre der Aufsätze und Corollarien in Schmitts Buch nur kritische Worte. Auf die Zitation seiner Oppositionsschrift vonseiten Schmitts ging er nicht näher ein: »Ich habe Schmitts aufsaetze hier, der Mann ist uneinsichtig und die relation zwischen Begriffs-Realitaet und Verantwortung ist bei ihm heute so unklar wie vor 30 Jahren. Aber ich fuerchte, das Uebel liegt tiefer als das Unheil, das der brillanteste Deutsche political denker nach Max Weber verursachen konnte. Es liegt in der gesamten deutschen attitude, die sich ueber die real[en] Entsprechungen politischer und begriffsmaessiger Formulierungen nie Rechenschaft ablegen will – ich weiss, das hat dann bei mir zu der entgegengesetzten Tendenz gefuehrt, nicht genug nach den Werten zu fragen und und beruhigt nach Hause zu gehen, wenn ich konstatiert habe, wie die politisch-soziologische Gleichung eines Begriffs und [einer] Rechtskonstruktion aussieht, aber in Deutschland ist eben die erste Unsitte noch viel mehr beheimatet.«92 Es fällt auf, dass Kirchheimer es von nun an tunlichst vermied, seine Arbeitskraft und -zeit in eine neuerliche intensive Auseinandersetzung mit Schmitt und dessen Schülern zu stecken. Die Anfrage von Otto Stammer aus Berlin im Januar 1959, ob er das am IfPW gerade erschienene Buch von Jürgen Fijalkowski über Schmitt besprechen könne, beschied er ohne vorherige Lektüre negativ: »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber mit Carl Schmitt möchte ich mich aus vielen Gründen wissen‐ schaftlich nicht beschäftigen.«93 Er schrieb auch keine weiteren Rezensionen zu Neuerscheinungen von Forsthoff, Huber oder Kaiser. Schmitt empfahl währenddes‐ sen im Februar 1959 Nachwuchswissenschaftlern, die mit ihm in Kontakt traten, die Leküre von Kirchheimers Weimar …und was dann? mit warmen Worten.94 Der postalisch geführte Kontakt zwischen Kirchheimer und Schmitt riss dennoch nicht vollständig ab. Er bekam allerdings den Charakter von kleinen Sticheleien, wie die Thematik der dabei ausgetauschten Schriften verrät. Im Mai 1959 schickte Kirchheimer einen Sonderdruck seines Aufsatzes The Administration of Justice and the Concept of Legality in East Germany nach Plettenberg, der eine Verteidigung des bürgerlichen Rechtsstaates gegenüber seinen Verächtern enthält.95 Im März 1960 91 Vgl. Schmitt (1958: 262, 346, 366 und 488). In einem Brief an Rüdiger Altmann vom März 1960 wies Schmitt auf diesen Aufsatz Kirchheimers im Hinblick auf das Thema Große Koaliti‐ on in Österreich und deren Aussichten in Deutschland hin (vgl. Burkhardt 2013: 155). 92 Brief von Otto Kirchheimer an Ernst Friesenhahn vom 15. Dezember 1958. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 2, Folder 61. [Die Rechtsschreibung folgt dem Original]. 93 Brief von Otto Kirchheimer an Otto Stammer vom 29. Januar 1959. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 2, Folder 24. – Vgl. Fijalkowski (1958). 94 So der Bericht von Jürgen Seifert, vgl. Seifert (1996: 118). 95 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-25663. – Zu diesem Auf‐ satz vgl. die Einleitung zu Band 4 der Gesammelten Schriften.

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depeschierte Schmitt im Gegenzug ein Exemplar der in geringer Auflage von 200 Privatdrucken erschienenen Broschüre Die Tyrannei der Werte,96 versehen mit der Widmung »für Otto Kirchheimer, C.S. – 20/3/60«.97

7. Der Konflikt über das Promotionsvorhaben von George Schwab George Schwab, Schmitts Besucher aus New York, war dann der Auslöser dafür, dass die Auseinandersetzung zwischen Kirchheimer und Schmitt so weit eskalierte, dass es zum völligen Abbruch ihrer Beziehungen kam. George Schwab studierte seit 1954 an der Columbia University und hatte über die Vermittlung von Carl Joachim Friedrich 1957 direkten Kontakt mit Schmitt aufgenommen, indem er ihn im Juni in Plettenberg aufsuchte. Dabei entstand der Plan, seine PhD-Thesis über Schmitt zu schreiben. Nachdem sich herausstellte, dass Schwab sich von den nachträglichen Ansichten Schmitts über dessen eigene Rolle am Ende der Weimarer Republik beeindrucken ließ, war auch Schmitt schnell von seinem Besucher und dessen Plan begeistert. Der Betreuer der Dissertation an der Columbia University war Herbert L. Deane, Professor für Politische Theorie, der aber eingestandenermaßen – wie auch seine Kollegen im Department – zuvor noch nichts von Schmitt gehört, geschweige denn von oder über ihn gelesen hatte. 1959 besuchte Schwab erneut für zwei Monate Schmitt und diskutierte mit ihm die Thesen seiner Arbeit über Schmitts Werk und Wirken der Jahre 1930 bis 1936. Nachdem Kirchheimer seine Fühler in Richtung Columbia University ausgestreckt hatte, um seine Chancen für einen möglichen Wechsel von der New School zu eruieren, legte Deane seinem Promovenden ans Herz, sich enger mit Kirchheimer auszutauschen. Beide hatten daraufhin einige kur‐ sorische Gespräche. Auf Wunsch von Deane wurde Kirchheimer auch in das fünf‐ köpfige Dissertationskomitee aufgenommen. Im Oktober 1960 präsentierte Schwab dem Komitee einen Entwurf seiner Arbeit. Folgt man allein seiner Schilderung, dann war die Verteidigung zuerst »boring«98, bis sich Kirchheimer in die Diskussion 96 Vgl. Schmitt (1960). 97 Ein spezieller Gruß Schmitts an Kirchheimer befand sich auf Seite 15 des Exemplars. Dort fin‐ det sich in der Druckfassung der Satz Schmitts: »Damals, 1920, war es möglich […] Schriften zu unterdrücken« – dem Widmungsexemplar Kirchheimers fügte Schmitt an dieser Stelle nach dem Wort ›Schriften‹ die handschriftliche Ergänzung hinzu: »insbesondere Fest-Schriften«, womit er sich einmal mehr als Opfer böswilliger Verfolgungsabsichten stilisierte. Schmitt spielte damit darauf an, dass der Verleger Kohlhammer im letzten Moment von der schon im Druck befindlichen Publikation der Festschrift abgesehen hatte. Mit der Unterstützung finanz‐ kräftiger Förderer übernahm Schmitts Hausverlag Duncker & Humblot die Veröffentlichung einer opulent ausgestatteten Ausgabe (vgl. Mehring 2009: 519). (Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte. In: State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 8-9, Box 5). 98 Schwab (1988a: 80). Im Archiv der Columbia University waren zu diesem Vorgang leider keine Akten mehr aufzufinden.

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einschaltete. Er kritisierte die vorgelegte Arbeit von Grund auf. Schwab warf er eine falsche Auslegung des Prinzips der gleichen Chance in der Verfassung vor. Er habe »failed to understand Schmitt’s true role in Weimar«, er habe »turned Schmitt upside down« und habe »written an apology of Schmitt«.99 Des Weiteren warf Kirchheimer Schwab ein grundlegendes Missverstehen des Artikels 48 der WRV vor. Diese falsche Auslegung hätte zu einer verhängnisvollen Kodifizierung des Ausnahmezustandes in der Arbeit von Schwab geführt. Kirchheimer erläuterte in diesem Zusammenhang, dass Schmitt mit seiner Theorie des Ausnahmezustandes zu einem Wegbereiter des nationalsozialistischen Regimes geworden sei.100 Da die anderen Kommissionsmitglieder zur Debatte inhaltlich nichts beizutragen wussten, schlossen sie sich dem Urteil Kirchheimers an; Deane kannte Kirchheimer aus anderen Diskussionen und schätzte dessen Kenntnisse und dessen Urteilsvermögen. Schwab wurde angewiesen, die eingereichte Schrift gründlich zu überarbeiten, die diversen von ihm bislang nicht berücksichtigten Veröffentlichungen Schmitts der Jahre 1932 bis 1936 einzuarbeiten sowie die relevante neuere Sekundärliteratur zu berücksichtigen. Empört berichtete Schwab den Vorgang Schmitt und erwog zunächst, beim Präsidenten der Columbia University den Antrag zu stellen, Kirch‐ heimer wegen Befangenheit aus dem Komitee entfernen zu lassen,101 gab diesen Gedanken dann aber wegen der offensichtlichen Aussichtlosigkeit auf. Auch Kirchheimer nahm die Auseinandersetzung über die Arbeit von Schwab nicht auf die leichte Schulter. Er vermutete nicht zu Unrecht, dass Schmitt bei dem Werk die Hände stärker als nach außen hin sichtbar im Spiel gehabt hatte, um über den Umweg USA einen weiteren Rehabilitationsversuch zu unternehmen. Er erstattete darüber einen Monat später Ernst Friesenhahn Bericht, mit der Bitte, die Information nicht weiterzugeben: »Einer der ersten Doktoranden[,] der in Columbia mit einer fertigen Thesis ankam[,] war Herr Schwab, der die Welt auf amerikanisch ueber Carl Schmitt’s Leben und werke aufklaeren wollte, der junge mann hatte CS zu Fuessen gesessen und sich tatsaechlich einreden lassen, dass CS eigentlich immer der Weimarer Verfassung zum Schutz und korrekter Anwendung verhelfen wollte, eine Art Demokrat in widrigen Zeitlauften [sic!], er war sehr betreten als ich ihm verkuendete[,] dass ich ihm sein dummes Geschreibsel nicht[,] auch nicht modifiziert[,] abnehmen werde, dass er meinethalben CS ganz und voll verteidigen kann[,] aber nur unter Herausstellung seiner wirklichen Lehrmeinungen und nicht als Demokrat und strikter Constitutionalist verkleidet. CS hatte ihm auch Zutritt zu seiner Korrespondenzmappe gegeben und er kam mit Briefabschriften an [,] unter Diese drei Kirchheimer-Zitate finden sich im Rückblick auf die Ereignisse von Schwab (1988a: 80), vgl. auch Richter (2001: 222-224) und Hitschler (2011: 19-21). 100 So George Schwab auf eine diesbezügliche Rückfrage von Volker Neumann, vgl. Schwab (1988b: 462). 101 Briefe von George Schwab an Carl Schmitt vom 11. Juni 1960 und 23. Mai 1961. Landesar‐ chiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-148532 und 265-14824.

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anderem einer Zustimmung vom anderen Ufer von Franz Neumann zu Legalitaet und Legitimitaet.« 102 Während der Konflikt mit Schwab bereits schwelte, kam es im Sommer 1961 noch einmal zu einem kurzen Briefwechsel zwischen Kirchheimer und Schmitt. Kirchheimer erkundigte sich, wo Schmitt den Sommer verbringe und schloss mit der freundlichen Wendung: »Ich würde mich freuen[,] wenn es vielleicht eine Gele‐ genheit gäbe[,] sie wieder zu sehen«.103 Schmitt ließ ihn eine Woche später wissen, dass es zu einem solchen Treffen aufgrund seiner eigenen Reisepläne nicht kommen könne.104 Ende 1961 schickte Kirchheimer ein Exemplar seines Buches Political Justice an Schmitt, versehen mit der knappen förmlichen Widmung »Mit besten Empfehlungen, Ihr OK«.105 In dem Buch finden sich nur vereinzelt Anstreichungen Schmitts, die als das von ihm bekannte Zeichen einer Lektüre gelten können. Die Abschnitte über die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen sind vollständig ungelesen. Schmitt hat aber in solchen Teilen des Buches Stellen angestrichen, die seines Erachtens auf seinen eigenen Politikbegriff hindeuteten.106 Kirchheimer gegenüber machte er darüber aber keine Mitteilung. Schwab stellte währenddessen mit Unterstützung von Schmitt die Überarbeitung seiner Promotionsschrift fertig. Bei der Verteidigung der Arbeit kam es im Februar 1962 erneut zu einem Eklat. Kirchheimer befand, dass Schwabs Schrift durchgehend apologetisch geblieben sei. Schmitts Rolle bei der Zerstörung der Weimarer Repu‐ blik sei nicht ansatzweise verstanden worden und zudem enthalte die Arbeit eine Reihe sachlich unzutreffender und polemischer Angriffe gegen Kritiker Schmitts.107 Auch in ihrer revidierten Fassung wurde die Arbeit von der Kommission nicht als PhD-Thesis angenommen. Schwab erstattete Schmitt im Frühjahr 1962 in Briefen und bei seinem nächsten Besuch in Plettenberg ausführlich Bericht über sein Schei‐ tern. Entrüstet schilderte er, dass Kirchheimer seine Darstellung von Schmitt als 102 Brief von Otto Kirchheimer an Ernst Friesenhahn vom 20. November 1960. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 2, Folder 61. 103 Brief von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 4. Juli 1961. Landesarchiv Nordrhein-West‐ falen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7605. 104 Brief von Carl Schmitt an Otto Kirchheimer vom 12. Juli 1961. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 2, Folder 12. 105 Exemplar Otto Kirchheimer, Political Justice. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 0265, Nr. 25665. 106 Schmitts Anstreichungen in dem Exemplar konzentrieren sich auf den Abschnitt ›The Infor‐ mer: Enemy from Within‹ im sechsten Kapitel ›The Defendant, His Lawyer, and the Court‹ und hier insbesondere auf die Seiten 239-242. Unter Kirchheimers Widmung seines Buches »To the past, Present, and Future Victims of Political Justice« konnte Schmitt seinen Drang nach einem handschriftlichen Kommentar offenbar nicht unterdrücken: »Ich vergleiche nicht die Opfer (zu denen ich – past, present and future – gehöre), ich vergleiche nur die Richter, C.S.«. – Exemplar Otto Kirchheimer, Political Justice (Seite 5). Landesarchiv NordrheinWestfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 0265, Nr. 25665. 107 Mehring (2009: 544f.).

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Verteidiger der Weimarer Verfassungsordnung nicht akzeptiert habe.108 Einen neuen Versuch, mit diesem Thema an der Columbia University zu promovieren, gab er auf. Er entschloss sich, eine neue Dissertation zu einem anderen Themengebiet zu schrei‐ ben, die er 1968 erfolgreich abschließen konnte.

8. Nach dem Bruch: Beobachtungen zweiter Ordnung Schmitt empfand die Ablehnung der Promotionsschrift von Schwab in New York als einen dort gegen ihn persönlich gerichteten Angriff. An Ernst Forsthoff schrieb er über die Vorgänge in New York: »Was mir angetan wird, ist eine Schande«.109 Schmitts Reaktion auf diese Art der personalisierten Wahrnehmung folgte demsel‐ ben Muster, wie ein Jahr zuvor mit Rudolf Smend, mit dem er zuvor über 40 Jahre in Kontakt gestanden hatte. Nachdem Smend in seiner Geschichte der Berli‐ ner Juristenfakultät Schriften von Schmitt als »wirkungsvolle[n] Schrittmacher des nationalsozialistischen Gewaltsystems« bezeichnet und ihn damit öffentlich wegen seines Agierens im NS-System kritisiert hatte, brach Schmitt den Kontakt zu ihm rigoros ab.110 Auf dieselbe Weise reagierte er im Falle Kirchheimers. Schwabs Schilderung der Vorgänge bei seiner Verteidigung interpretierte Schmitt als Verrat und Betrug seitens Kirchheimer. Von nun an verweigerte er jeden weiteren Kontakt mit Kirchheimer.111 Stattdessen freundete Schmitt sich enger mit Schwab an. Er versuchte ihn zum Beispiel dadurch zu protegieren, dass er ihn im Vorwort zur 3. Auflage seines Buches Der Begriff des Politischen von 1963 neben Julien Freund namentlich als Gesprächspartner pries, der ihn darauf aufmerksam gemacht hätte, dass sein Begriff des Feindes nicht genügend differenziert sei.112 Schwab versuchte mehrere Jahre, das abgelehnte Manuskript über Schmitt bei amerikanischen akademischen Fachver‐ lagen unterzubringen. Jedes Mal scheiterte er mit seinem Ansinnen an negativen Fachgutachten. Erbost machten er und Schmitt dafür Kirchheimer – und nach dessen Tod seinen posthumen Einfluss – verantwortlich. Erst über die persönliche Vermitt‐ lung von Schmitt bei seinem Hausverlag Duncker & Humblot wurde der englisch‐

108 Vgl. Brief von George Schwab an Carl Schmitt vom 11. März 1962. Landesarchiv NordrheinWestfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-14851. 109 Brief von Carl Schmitt an Ernst Forsthoff vom 23. Mai 1968. In: Forsthoff / Schmitt (2007: 261). 110 Das Zitat findet sich in Smend (1960: 542). Zum Kontaktabbruch vgl. auch Mehring (2010: 150f.). 111 Vgl. Quaritsch (1999: 72) und Mehring (2009: 545). 112 Vgl. Schmitt (1963: 18). Ein Lob, das sich Marcus Llanque und Herfried Münkler zufolge allerdings »in der Sache kaum rechtfertigen läßt« (Llanque / Münkler 2003: 12), sondern lediglich rezeptionsstrategische Motive hatte.

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sprachige Text schließlich 1970 in Deutschland publiziert.113 Das Erscheinen des deutschsprachigen Buches Politische Justiz von Kirchheimer kommentierte Schmitt gegenüber Armin Mohler mit den folgenden Worten: » [Kirchheimers] Buch über die politische Justiz kommt an das eigentliche Problem nicht heran«114 – ohne allerdings Mohler einen Hinweis darüber zu geben, worin das eigentliche Problem der politischen Justiz bestehe. Auch Kirchheimer verzichtete fortan darauf, Schmitt weiterhin zu kontaktieren. Aufmerksam verfolgte er jedoch, welche Schritte Schmitt unternahm, um sich für die Ablehnung der Arbeit von Schwab »an mir zu raechen«.115 Er berichtete darüber an Friesenhahn: »Uebrigens hat Freund Carl Schmitt es wieder zu Wege gebracht[,] sich halb anonym an mir zu raechen dafuer[,] dass seinem jungen Mann die Dok‐ torarbeit nicht angenommen worden ist. Er hat unter der Signatur C.S. in einer deutschen Zeitschrift, ich glaube es war ›[Die] Politische Meinung‹[,] eine unfreund‐ liche Anmerkung gemacht[,] indem er mehr oder minder sagt, dass in dem ganzen Buch [Politische Justiz] eigentlich nicht mehr drinsteht[,] als in meinem Aufsatz von 1955. Auch habe ich ihn irgendwie in Verdacht[,] hinter einer 10 Seiten langen Polemik in einer drittklassigen amerikanischen lawreview gestanden zu haben«.116 Schmitts Name findet sich 1964 auch nicht mehr auf der langen Liste von Personen, die Kirchheimer an Günther Busch vom Suhrkamp Verlag zwecks Zusendung seines Buches Politik und Verfassung schickte.117 Schmitt versuchte bekanntlich immer wieder, die Rezeption seines Werkes inten‐ siv zu steuern. Kirchheimer hatte die diskrete Mitwirkung Schmitts bei solchen Ein‐ flussnahmen noch in seiner Bonner Zeit aus nächster Nähe verfolgen können.118 Die

113 Vgl. Schwab (1970). Von Rezensenten handelte sich das Buch den Vorwurf ein, an einer apologetischen Legende eines zum NS-Regime in Distanz stehenden Carl Schmitt zu stricken (vgl. Richter 2001: 224-226). – Auch im Rückblick nach 25 Jahren machte Schwab eine »hostile attitude toward Schmitt« (Schwab 1988a: 81) seitens Kirchheimer für das Scheitern seiner Promotion verantwortlich. Er wiederholte den Vorwurf, dass eine maßgeblich von Kirchheimer in den USA verbreitete negative Einstellung gegenüber Schmitt dafür verant‐ wortlich sei, dass auch nach Kirchheimers Tod sein Manuskript über Schmitt keinen aner‐ kannten Verlag finden konnte (vgl. Schwab 1988a: 81). 114 Brief von Carl Schmitt an Armin Mohler vom 26. August 1965. Abgedruckt in Schmitt (1995: 354). 115 Brief von Otto Kirchheimer an Ernst Friesenhahn vom 31. März 1963. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 2, Folder 61. 116 Brief von Otto Kirchheimer an Ernst Friesenhahn vom 31. März 1963. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 2, Folder 61. – Vgl.: C.S. (1962); bei der erwähnten Polemik handelt es sich vermutlich um die Rezension von Political Justice des anonymen Autors C. in der ›Modern Law Review‹ Band 26, 1963, Seite 456-459. 117 Briefe von Otto Kirchheimer an Günther Busch vom 19. und 20. November 1964. State Uni‐ versity of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 3, Box 2, Folder 68. 118 Vgl. Mehring (2013: 438f.).

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heftige Ablehnung, die Schwabs Arbeit bei ihm auslöste, erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass er darin einen von Schmitt gesteuerten Rehabilitationsversuch über den Umweg der USA vermutete. Dass er die Rezeption Schmitts in den USA nicht grundsätzlich unterbinden wollte – wie Schwab es später insinuiert hat119 – geht aus einem Brief an Harvey Mansfield hervor, den er zwei Jahre nach dem Konflikt über die Arbeit von Schwab schrieb: »Schmitt should be presented to the American Poli‐ tical Science Community and on the basis of the numerous German studies [already] existing«. Zwei Herangehensweisen seien dabei zu bevorzugen: »One may treat Carl Schmitt […] either by stuying his conceptual framework, including questions of logical consistency, or, by relating his concepts to the German political reality of his days«.120 Auf der Lektüreliste seines Syllabus für das Seminar ›The Political Institutions of Divided Germany‹ (1962/63) findet sich Schmitts Verfassungslehre (1928), von Kirchheimer den Studenten zur Lektüre empfohlen mit der Bemerkung »most influential constitutional interpretation on basis of antidemocratic-authoritari‐ an theory«.121 Knapp drei Jahre nach Kirchheimers Tod wollte sich Jürgen Seifert, seit 1963 wissenschaftlicher Assistent von Gurland in Darmstadt, bei Schmitt über Kirchhei‐ mer erkundigen. Schmitt lehnte das Ansinnen rundweg ab und antwortete Seifert in scharfen Worten: »Meine Nachkriegsbeziehungen zu Herrn Kirchheimer […] endeten im Sommer 1961, als ich Einzelheiten über sein Verhalten im Promotions‐ verfahren Schwab erfuhr. […] Kirchheimer hat die Annahme der Arbeit auf eine Art und Weise verhindert, die mich einen seit 1927 von mir genährten Irrtum erkennen ließ«.122 Für ihn war Kirchheimer zu einer persona non grata geworden, die es offenbar nicht verdient hatte, fünfzig Jahre zuvor bei ihm in Bonn promoviert worden zu sein. Erst als Jürgen Seifert seine Absicht kundtat, Schmitt über seine Sicht der Dinge näher zu befragen, erklärte er sich für aufklärende Worte bereit: »Ein in unbedenklicher Offenheit geführtes Gespräch über Otto Kirchheimer wäre für mich eine wahre Wohltat.«123 Zu einem solchen Gespräch sollte es allerdings nicht kommen, da Seifert in den Umbrüchen der Jahre nach 1968 über beide Ohren in diversen anderen Aktivitäten steckte und darüber den Kontakt zu Schmitt aus den Augen verlor.

119 Vgl. Schwab (1988a: 81-83). 120 Brief von Otto Kirchheimer an Harvey Mansfield vom 4. Juni 1964. State University of New York, University at Albany, Special Collections & Archives, Otto Kirchheimer Papers, Series 2, Box 1, Folder 51. 121 Minutes of the Faculty of Political Science 1957-62. Special Collection, Columbia University Archives. 122 Brief von Carl Schmitt an Jürgen Seifert vom 30. September 1968 (zit. nach Seifert 1996: 120). Schmitt schrieb diese Antwort, worauf Reinhard Mehring hinweist, in enger Absprache mit Schwab (vgl. Mehring 2009: 723). 123 Brief von Carl Schmitt an Jürgen Seifert vom 5. Oktober 1968 (zit. nach Seifert 1996: 120).

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Schmitt äußerte sich dann aber einige Jahre später auf einmal wieder positiver über Kirchheimer. Denn er hatte entdeckt, dass einige seiner Schriften aufseiten der radikalen Linken wieder Resonanz gefunden und ein politisches Eigenleben zu füh‐ ren begonnen hatten. Anlässlich der erfolgreichen Promotion von Ingeborg Maus gratulierte ihr Schmitt 1972 mit den Worten: »im Augenblick bewegt mich die Erin‐ nerung an die Promotion Otto Kirchheimers […] und an die damals empfundene Freude, auf einen Widerspruch zu stoßen und ihn zu verstehen, obwohl er sich des‐ sen gewiss war, dass er mich besser verstand, als ich mich selbst.«124 Vier Jahre spä‐ ter berichtete er an Armin Mohler, dass er von einer Neuausgabe von Aufsätzen Kirchheimers erfahren habe und wies auf seine eigene Rolle in Kirchheimers Vita hin. Sich selbst pries er in diesem Zusammenhang als eine Person von Stärke und Liberalität: »[Es] erscheint ein neuer Otto-Kirchheimer-Band bei Suhrkamp (Edition S. Nr. 821), mit alten Sachen, darunter ist auch ein Auszug aus der Dissertation ab‐ gedruckt, mit der Kirchheimer in Bonn mit mir als Referenten 1928 promovieren konnte; man sieht: der Liberalismus ist Sache der Starken und nicht der Schwa‐ chen«.125 In diesen Kontext gehört auch das eingangs erwähnte Gespräch Schmitts mit Rainer Erd, bei dem er bei seinem Zuhörer den Eindruck hinterließ, Kirchheimer habe sich nach 1945 weiter um ihn bemüht und mehrfach besucht.126

9. Schlussbemerkung Eine ähnliche Sentenz, wie Schmitt sie gegenüber Ingeborg Maus traf, hätte Kirch‐ heimer über Schmitt vermutlich nicht von sich gegeben. Das lag nicht allein an der Verschiedenheit ihrer literarischen Geschmäcker – anders als Schmitt interessierte sich Kirchheimer für die bundesdeutsche Gegenwartsliteratur und las die damals neuen Autoren Uwe Johnson, Günter Grass, Arno Schmidt, Rolf Hochhut und Hans Magnus Enzensberger mit großem Interesse. Der Grund ist darin zu finden, dass Kirchheimer bereits Ende der 1950er Jahre den Versuch aufgegeben hatte, von Schmitt eine ernsthafte argumentative Auseinandersetzung mit an ihn gerichteter Kritik zu erwarten. Denn Schmitt bevorzugte immer mehr das Vexierspiel mit me‐ taphysischen Bildern und das Bedeutung suggerierende Raunen aus dem Arkanen und war für Kirchheimer kein interessanter Gesprächspartner im Hinblick auf einen Austausch von Argumenten und deren sozialwissenschaftliche Unterfütterung. Die Positionen von Schmitt und Kirchheimer waren auch auf inhaltlicher Ebene nicht miteinander zu vereinbaren. Die vereinzelten ostentativen Versuche Schmitts, 124 Brief von Carl Schmitt an Ingeborg Maus vom 24. Januar 1972 (zit. nach Mehring 2013: 442). 125 Brief von Carl Schmitt an Armin Mohler vom 16. Juli 1976. Abgedruckt in Schmitt (1995: 410). 126 Erwähnt erstmals in Neumann (1981: 239).

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Kirchheimers Kritik an den Wandlungen der Rolle von Opposition in westlichen Demokratien zu einem Kommunikationsangebot zu machen, blieben beim Adressa‐ ten ohne jegliche Resonanz. In Kirchheimers Schriften der Jahre 1950 bis 1965 zu Schmitt und dessen Anhängerschaft in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre lässt sich demgegenüber ein durchgängiges Motivbündel finden: Die Ablehnung der Idee einer unanfechtbaren Autorität des Staates, die Zurückweisung der Vision einer starken und neutralen Exekutive sowie die Erinnerung an das Unheil, welches derartiges Gedankengut in der jüngeren deutschen Geschichte angerichtet hatte. Benno Zabel unterscheidet zwischen zwei grundlegenden Formen des Umgangs mit Schmitts Werk. Einmal dem »auf Abstand halten« von der Theorie des modernen demokratischen Rechtsstaates (Zabel nennt Habermas als Beispiel für diese Um‐ gangsweise) und zum anderen die »Einpassung« Schmitt’scher Begriffe und Theore‐ me in gegenwärtige Rechts-und Gesellschaftstheorien (hier gruppiert er die eingangs genannten ›Links-Schmittianer‹ ein).127 Während man Kirchheimers Frühwerk zum zweitgenannten Typus zählen kann, hat sich dies in seinem Spätwerk grundlegend zum auf-Abstand-Halten gewandelt. Die mangelnde Bereitschaft Schmitts, für sein Agieren im und für den National‐ sozialismus persönliche Verantwortung zu übernehmen, stand seitens Kirchheimers wie eine undurchdringliche Mauer vor dem Versuch einer Erneuerung ihrer persönli‐ chen Beziehung aus den Bonner und ersten Berliner Jahren von 1926 bis 1930. Für Schmitt wiederum gehörte Kirchheimer zur Gruppe der Juden und 1945 zurückkeh‐ renden Emigranten, gegen die er tiefe Ressentiments hegte. Seine Kommunikation mit ihnen war vorsichtig und immer strategisch ausgerichtet.128 Wie rüde der Antise‐ mitismus war, der sich in Schmitts Tagebüchern und Glossarien der Nachkriegsjahre findet,129 ist Kirchheimer nicht einmal bewusst gewesen. Eines der Dinge, die Kirchheimer in der engen Umgebung von Schmitt in sei‐ nen jungen Jahren gelernt hatte, war, wie sehr Schmitt von Beginn an Versuche unternahm, die Rezeption seiner Arbeiten zu steuern. Die Kontroverse, die sich um George Schwabs Dissertationsvorhaben entzündete, speiste ihre Energie auf Seiten von Kirchheimer aus dieser Erfahrung und der sich daraus ergebenden Vermutung, Schmitt wolle das Promotionsverfahren als Schachzug nutzen, seine politische Re‐ habilitation in der Bundesrepublik über den Umweg der USA zu betreiben. Kirch‐ heimer sollte dabei die Rolle des unverdächtigen Verfahrensbeteiligten zufallen. Ein Erfolg des Verfahrens von Schwab wäre dann eine Art politisches Unbedenklich‐ keitstestat auf internationaler akademischer Ebene, im gleichsam intellektuellen Her‐ zen der verabscheuten amerikanischen Besatzungsmacht, der New Yorker Columbia

127 Vg. Zabel (2019: 340). 128 Vgl. Mehring (2009: 458ff.). 129 Vgl. Gross (2016).

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Universität, für ihn ausgestellt. Dieser für ihn erkennbar gewordenen Absicht stellte sich Kirchheimer unbeeindruckt entgegen. Das sollte nicht der letzte Instrumentaliserungsversuch Schmitts bleiben. Es ist vielfach belegt, wie Schmitt seine früheren Kontakte und Austausche mit Leo Strauss, Hugo Ball oder Walter Benjamin seit den 1950 Jahren als Zeugnisse dafür zu deuten versuchte, dass es ihm nie an Respekt für jüdische Gelehrte gemangelt habe.130 Seinen Versuch, auch Kirchheimer auf diese Weise zu instrumentalisieren, betrieb er auch nach dessen Tod weiter, und diesmal mit Erfolg. So verbreitete er in andeutungsreichen Gesprächen, dass es nach 1945 Kirchheimer gewesen sei, der die treibende Kraft in den Kontakten zwischen ihnen war.131 Diese Erzählung geronn später zu einem in seinen Details vage bleibenden Narrativ, das auch bei solchen Autoren, die wie Volker Neumann Schmitt gegenüber skeptisch blieben, den Eindruck von einem »freundschaftlichen Verhältnis«132 hinterließ. Damals jüngere und devote Bewunderer Schmitts wie Reinhard Koselleck machte dieses Narrativ zu unfreiwilligen Propagandisten der Legende von einer – wie es Koselleck in einem kürzlich veröffentlichten Interview formulierte – wirklich »guten Freundschaft«, die belege, dass Schmitt menschlich eigentlich nichts gegen Juden gehabt habe.133 Auf diese Weise wurde die Asche des toten Kirchheimer auf dem jüdischen Friedhof in Heilbronn zu einem posthumen Zeugen für Schmitt aufgerufen. Tote Juden können sich nun einmal nicht mehr wehren. Souveräne Erinnerungsarbeit leistet, wem es gelingt, sogar noch die Toten für sich einzuspannen.

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130 Vgl. Gross /2000: 12, 346); Mehring (2014: 137-152). 131 So in Gesprächen mit George Schwab (vgl. Schwab 1988a: 78-80) oder im bereits mehrfach erwähnten Gespräch mit Rainer Erd (zitiert in Neumann 1981: 239). 132 Neumann (1981: 239). 133 Koselleck (2019: 377). Zu Kosellecks Zurückhaltung gegenüber Schmitt beim Thema Antise‐ mitismus vgl. Lethen (2020).

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Teil 4: Globale Entwicklungen und Konflikte

Marta Bucholc Die Politisierung des Rechts in Polen. Über den Prozess der Entzivilisierung1

Die Rechtsstaatlichkeit ist zum Kern des Konflikts innerhalb der Europäischen Uni‐ on geworden. Die EU-Haushaltsdebatte 2020 sowie die Blockade der europäischen Corona-Hilfen für Polen und Ungarn 2021 haben der Diskussion über die politische Bedeutung des Rechtsstaats sowie über die Grenzen politischen Einflusses auf das Recht eine neue Bedeutung verliehen. In diesen Debatten wurde auch der grund‐ legende Kompromiss über die Rolle der Rechtsstaatlichkeit in der Union infrage gestellt – und damit der Status der Rechtsstaatlichkeit als einem unangefochtenen Ideal. Die Grenze zwischen Recht und Politik wird in Europa derzeit neu gezogen. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt die Abgrenzung zwischen Recht und Politik, also die Idee der relativen Separation von Recht und Politik, wenigstens innerhalb der EU als unproblematisch. Sie war zumindest teilweise verknüpft mit der globalen Verbreitung des Ideals der Rechtsstaatlichkeit. Vom Prinzip der Recht‐ staatlichkeit geht, von kulturellen Unterschieden abgesehen, eine erhebliche symbo‐ lische Anziehungskraft aus. Wie aber lässt sich dieses Ideal aus einer sozialwissen‐ schaftlichen Perspektive interpretieren? Was ist die gesellschaftliche Dimension von Rechtsstaatlichkeit, ohne die dieses Ideal keinerlei Wirkung entfalten würde? Diese Fragen möchte ich hier indirekt dadurch beantworten, dass ich mich mit Polen beschäftige, mit einem Land also, in dem der Rechtsstaat derzeit zugrunde gerichtet wird. Was anfänglich üblicherweise als „polnische Verfassungskrise“ bezeichnet wurde, ist inzwischen zu einem permanenten Zustand geworden: Das Land, das einmal Vorreiter der postsozialistischen demokratischen Transformation war, ist zur Avantgarde des Niedergangs der Demokratie in Mitteleuropa geworden.

1 Ein Teil dieser Arbeit ist während meiner Zeit im Käte Hamburger Kolleg „Recht als Kultur“ an der Universität Bonn entstanden, dessen einzigartige Atmosphäre sogar in der Corona-Zeit aus der Entfernung des Home Office spürbar war. Ich bedanke mich bei Benno Zabel für seine konstruktive Kritik einer ersten Version dieses Textes sowie bei Lars Breuer für seine Hilfe bei der sprachlichen Bearbeitung. Die Arbeit wurde gefördert vom Polnischen Nationalen Wissenschaftszentrum in Kraków (Projekt „The national habitus formation and the process of civilization in Poland after 1989: a figurational approach“, 2019/34/E/HS6/00295).

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1 Einleitung: Rechtstaat und Zivilisierung Um den Niedergang der Rechtstaatlichkeit als sozialen Prozess zu beschreiben, greife ich auf die Figurationstheorie von Norbert Elias zurück. Elias gehört nicht zu den Klassiker*innen der Rechtssoziologie – das aber zu Unrecht. Der australische Soziologe Robert van Krieken schrieb dazu 2019: Among the reasons to consider Elias in relation to law and social science research, the one I would like to highlight here is the fact that he provides important insights into a concept that lies at the heart of the rule of law, without having received the analytical attention it requires: civilization. The term is not especially popular in either law or social science, given its associations with imperialism and the moral justification of colonialism as a civilizing mission. […] Despite these considerations, we are much less reserved in addressing the continuing problem of violence and harm when we turn to the idea of barbarism, which is almost always the object of legal regulation. […] Barbarians were those who settled their disputes with force; the civilized were those who did so with law. […] There is no dispute, then, especially among legal scholars, that law is essential (even if not sufficient) for civilization. […] Far less attention is paid, however, to the ways in which the connection also works in the opposite direction, how civilization is essential for law. In many respects the rule of law and civilization are mutually constitutive: To be civilized is to know and operate within the law, but equally to know and operate within the law is to be civilized.

Es besteht also ein enger Zusammenhang zwischen der Rechtsstaatlichkeit und dem Zivilisationsprozess in Eliasʼ Sinn. In diesem Beitrag, in dem ich die Politisierung des Rechts und die damit einhergehende Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit in Polen analysiere, stelle ich daher eine Frage, der wir laut van Krieken immer noch nicht genug Aufmerksamkeit schenken: Wie gestaltet sich der Zusammenhang zwischen Zivilisation und Recht? Ich werde in diesem Text den Niedergang der Rechtsstaat‐ lichkeit als eine Art der Barbarei betrachten. Elias verstand Zivilisierung als Folge einer „sublimatorischen Verwandlung“ von Verhaltensimpulsen, die zu einer Pazifi‐ zierung der Sitten führe. Deren Endeffekt sei die Reduktion von Gewalt im Sozialle‐ ben. Diese Pazifizierung liegt stets im Interesse der sozial Schwächsten – ebenso wie die Rechtsstaatlichkeit, die den Gegensatz zu Tyrannei und Unterdrückung bildet. Wo Rechtsstaatlichkeit zugrunde geht, haben wir es offenbar mit Entzivilisierung zu tun.2 Entzivilisierung und Barbarei mitten in Europa, in einem Mitgliedstaat des Europarates und der Europäischen Union. Und doch soll die Globalisierung des Rechtsstaatlichkeitsideals eine enge Verbindung hervorbringen zwischen dem Stand der Rechtsstaatlichkeit in einem Land und dem Potenzial, das dieses Land für internationale Verbundenheit besitzt. In der globalen Figuration der Nationalstaaten 2 Zu den Begriffen Zivilisierung und Entzivilisierung siehe Elias 1992, S. 382 ff., 438.

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funktioniert die Anerkennung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit ähnlich wie gute Manieren in den Figurationen von Individuen. Mit jenen, die keine guten Manieren haben, will niemand etwas zu tun haben … Die Kraft dieses Arguments ist aber davon abhängig, dass die rechtsstaatlichen Manieren als Teil des politischen Spiels anerkannt werden. Seit dem Ende des Zwei‐ ten Weltkriegs schien die Kraft des Arguments immer weiter zuzunehmen. Zwar hat‐ te die Gründung der Europäischen Union anfangs nur wenig mit Rechtsstaatlichkeit zu tun, dafür umso mehr mit Sicherheit und Vorhersehbarkeit. Mit der Zeit hat aber auch hier die Rechtsstaatlichkeit immer mehr an Bedeutung gewonnen.3 Inzwischen ist sie zu einer zentralen Säule der europäischen Rechtskultur geworden. Die Tren‐ nung von Recht und Politik gehört zu den Regeln, nach denen das politische Spiel in Europa gespielt wird. Niklas Luhmann zufolge ist diese Trennung sogar eine der Voraussetzungen für das moderne positive Recht. Im Grunde genommen bedeutet sie: „Recht ist, was Recht als Recht bestimmt.“4 Die Gültigkeitskriterien des Rechts sind autonom, also rechtlich vorgeschrieben und werden nicht von außerhalb des Rechtssystems bestimmt, beispielsweise durch die Politik.5 Doch auch das Recht verliert seine systemische Autonomie. Genau das können wir seit 2015 in Polen beobachten. Mit den figurationstheoretischen Kategorien lässt sich dieser Prozess als Neudefinition der Rolle der Rechtsstaatlichkeit verstehen, sowohl auf der innerstaatlichen Ebene, als auch auf der europäischen und globalen. Solange rechtsstaatliche Standards im politischen Spiel als ein Argument geltend gemacht werden können, durch das die Gewinnchancen eines Spielers steigen oder sinken, verbleiben wir innerhalb der Luhmann’schen Logik: Das Recht fungiert als Quelle der „Korrekturbefugnis“ (right of correction), wie ich es an anderer Stelle bezeichnet habe.6 Insbesondere kann Politik mit den Mitteln des Rechts korrigiert werden. Sobald aber die Politik selbst diese Korrekturbefugnis übernimmt, ist es so‐ wohl mit der Luhmann’schen Rechtsautonomie als auch mit der Rechtsstaatlichkeit vorbei. Wenn die Politik beginnt, das Recht mit politischen Mitteln zu korrigieren, hört das Recht auf, sich selbst in eigenen Kategorien zu bestimmen. In meiner Analyse versuche ich, die Eliasʼsche Figurationstheorie mit der sys‐ temtheoretischen Herangehensweise Luhmanns zu verknüpfen.7 Dazu erläutere ich zunächst ausführlicher das Konzept der Korrekturbefugnis. Danach werde ich einen Überblick über die Figurationssoziologie des Rechts geben. Diese wende ich dann anschließend auf den Fall Polen an. Mein Ziel ist es, die Figurationsabhängigkeit der Rechtsstaatlichkeit zu veranschaulichen. Mein Kernargument lautet, dass die gesellschaftlichen Faktoren, die die derzeitige Situation in Polen mit beeinflussen, 3 4 5 6 7

Siehe Buchwald 1998. Luhmann 1993, S. 143-144. Siehe Luhmann 1985. Bucholc 2015, S. 91 ff. Zu den Gemeinsamkeiten dieser zwei Theorien siehe Treibel 2008, S. 60, Fn. 39.

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keine zuverlässige Grundlage für die Rechtsstaatlichkeit bieten. Ganz im Gegenteil: sie tragen sogar zu ihrem Abbau bei.

2 Warum sich manche nicht korrigieren lassen Praktisch gesehen sind wir bei unserem Verständnis der Trennung von Recht und Politik auf eine Analyse jener Bedingungen angewiesen, unter denen Rechtstaatlich‐ keit als Argument geltend gemacht werden kann; in denen also der Bezug aufs Recht im politischen Spiel eine korrektive Funktion besitzt. In Polen scheint dies nicht mehr der Fall zu sein.8 Die regierende national-konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) hat bereits zweimal (2015, 2019) die Wahlen gewonnen und die Mehrheit im Parlament errungen.9 Ebenfalls zweimal (2015, 2020) hatte sie Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen. Bisher hat die PiS zwar noch keine verfassungsändernde Mehrheit erlangt, dennoch änderte sie das Rechtssystem massiv und teilweise auf verfassungswidrige Weise. Die faktische Lage sowie deren juristische Deutung wurden in zahlreichen Publikationen detail‐ liert dargestellt.10 Zusammenfassend lässt sich sagen: Seit 2015 hat die national-kon‐ servative Regierung es geschafft, ihre politische Kontrolle über die Staatsanwalt‐ schaften noch stärker abzusichern. Sie hat die volle politische Kontrolle über den Verfassungsgerichtshof übernommen, sie hat die Nominierung von Richter*innen auf allen Ebenen der Justiz politisiert und ein Modell von Disziplinarverfahren für juristische Professionen durchgesetzt, welches die Vertreter*innen dieser Profes‐ sionen weitgehendem politischen Druck aussetzt. Nach der gewonnenen Präsident‐ schaftswahl im Juli 2020 wurde offiziell die Fortsetzung dieser Politik angekündigt. Sämtliche Versuche, im Rahmen des innerstaatlichen oder europäischen politi‐ schen Spiels die Rechtstaatlichkeit als Argument gegen die PiS geltend zu machen, sind entweder unwirksam geblieben oder hatten nur einen mäßigen Effekt. Das gilt auf allen Figurationsebenen, innerstaatlich wie international. Staatliche und interna‐ tionale Institutionen und Behörden, die Opposition, NGOs, soziale Bewegungen, Intellektuelle, Wissenschaftler*innen und Expert*innen versuchen ständig, die regie‐ Genauso sieht die Lage in Ungarn aus, wo das Recht schon früher und noch radikaler seiner Autonomie beraubt wurde, allerdings mit weniger spektakulären Folgen. Das hat einen ganz einfachen Grund: Die regierende demokratische Mehrheit in Ungarn hat es geschafft, sich eine verfassungsändernde Mehrheit zu sichern. Dabei wurde Rechtstaatlichkeit als Ideal kompro‐ mittiert und ein alternatives Ideal der „illiberalen Demokratie“ befördert. Siehe dazu: Halmai 2011, 2019. 9 Siehe dazu Bachmann 2016. 10 Die wichtigsten und umfangreichsten Arbeiten dazu sind von Wojciech Sadurski (2018, 2019). Auf Deutsch siehe Bucholc 2018, Bucholc/Komornik 2016, 2018, 2019a. Siehe auch die Diskussion hierzu auf dem Verfassungsblog, https://verfassungsblog.de/category/regionen/pola nd/. 8

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rende Partei öffentlich zu korrigieren. Neben klassischen politischen Mitteln wie Demonstrationen, Kundgebungen, parlamentarischen Reden, Berichten und publizis‐ tischen Meinungsäußerungen – die übrigens in der Corona-Zeit seit Anfang 2020 alle deutlich an Bedeutung verloren haben – wurden auch alle möglichen Rechts‐ mittel eingelegt. Das Recht kann jedoch innerstaatlich nur sehr schwer gegen die PiS mobilisiert werden. So nehmen beispielsweise Staatsanwaltschaften keine Er‐ mittlungen auf oder stellen Verfahren ein. Gelingt eine Mobilisierung mal, scheitert es oft an der Vollstreckung des Rechts. Zwar wird durchaus institutionell Recht gesprochen, aber ohne einen Lerneffekt, über den Luhmann schrieb, er sei das Ergebnis einer „Anpassung der Erwartung“, insofern als im Rechtsverfahren die Wünsche eines Subjekts enttäuscht werden.11 Das Recht ist dazu da, dass Menschen von Rechtsentscheidungen enttäuscht werden und daraus lernen können, was Recht ist und wie es funktioniert. Darin besteht die Korrekturbefugnis des Rechts. Die regierenden Politiker*innen in Polen lernen jedoch keineswegs aus der Enttäuschung ihrer Wünsche durch die Rechtsprechung. Ein Beispiel für die Immunität der Politik gegenüber rechtlichen Korrekturen sind die polnischen Reaktionen auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Seit 2015 wurden in mehreren Verfahren, die polnische Gerichte oder die EU-Kommission initiierten, Urteile des EuGH gefällt.12 In keinem einzigen Fall wurden bei dieser Rechtsprechung die Wünsche der PiS berücksichtigt. Die Bezie‐ hungen zwischen Polen und der EU sind äußerst angespannt. Seit 2017 läuft ein von der EU-Kommission nach Artikel 7 des EU-Vertrages eingeleitetes Vertragsverlet‐ zungsverfahren gegen Polen aufgrund des EU-Rahmens zur Stärkung des Rechts‐ staatsprinzips. Ende 2020 geriet der Streit um den EU-Haushalt in ganz Europa in die Schlagzeilen, da Polen und Ungarn sich weigern, die Konditionalität zu akzep‐ tieren, die die EU-Finanzierung direkt mit der Rechtstaatlichkeit verbinden würde (nicht ohne Grund, wie es sich im September 2021 zeigte, als die EU die Auszahlun‐ gen aus dem Rettungsfonds für die zwei Ländern aufgrund der mangelnden Recht‐ staatlichkeit aussetzte). Am 7. September 2021 hat die EU-Kommission beim EuGH die Verhängung finanzieller Sanktionen gegen Polen beantragt, weil Polen die Urtei‐ le des EuGH zur Unabhängigkeit von Richter*innen in Verbindung mit dem neuen Disziplinarrecht nicht umgesetzt hat. Auch der Europarat hat Polen ständig im Visier. Die sogenannte Venedig-Kom‐ mission des Europarats hat sich zu vielen Rechtsinitiativen der PiS kritisch geäußert. Seit Mai 2020 (der berühmte Fall Xero Flor gegen Polen13) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrere Klagen gegen Polen, die direkt mit den 11 Luhmann 1984, S. 397. 12 Insbesondere die Urteile vom 19.11.2019 (Az. C-585/18, C-624/18 und C-625/18) sowie vom 08.04.2020 (Az. C-791/19 R) und 15. Juli 2021 (Az. C-791/19). 13 Das Urteil vom 7. Mai 2021 (Az. 4907/18).

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neusten Veränderungen in der polnischer Justiz verbunden waren, angenommen und Urteile zu ihnen gesprochen. Es gibt in der internationalen Figuration also zahlreiche Versuche, die rechtliche Korrekturbefugnis in Anspruch zu nehmen. Anstatt sich aufklären zu lassen, sich anzupassen und zu lernen, hat die polnische Regierung jedoch Maßnahmen in Gang gesetzt, um diese Korrekturversuche zu neu‐ tralisieren. Die Urteile des EuGH wurden entweder auf eine Art und Weise voll‐ streckt, die ohne negative Auswirkungen auf die Regierungspolitik blieb, oder es wurden neue Wege gefunden, die Erwartungen der Regierung trotz der Rechtwidrig‐ keit ihres Agierens zu erfüllen. So wurde Anfang 2020, als direkte Reaktion auf die europäische Rechtsprechung, das sogenannte Maulkorbgesetz verabschiedet, mit der klaren Absicht, die Auswirkungen einer EuGH-Entscheidung von 19. November 2019 auf das polnischen Rechtsystem zu neutralisieren.14 Doch warum sind die Korrekturversuche so ineffizient und der Abbau der Rechts‐ staatlichkeit so tiefgreifend? Für die Immunität gegenüber Korrekturen gibt es selbstverständlich mehrere Gründe. Manche Akteure haben keine guten Manieren und lehnen jegliche Kritik ab, einfach weil sie die entsprechende Macht haben, es zu tun. Es ist sehr schwierig, wenn auch in der Elias’schen Logik der Figurationsinter‐ dependenzen nie ganz unmöglich, die Stärksten und Mächtigsten zu korrigieren. Die Korrekturbefugnis ist eine Funktion der Macht, und gerade die Rechtstaatlichkeit erlaubt es manchmal den Schwachen, Recht auch gegenüber den Stärksten geltend zu machen und dadurch ein Quantum Macht auszuüben, ohne die ganze Figuration nach Marx’scher Logik in die Luft sprengen zu müssen. Die Starken hingegen können es sich manchmal leisten, die Korrekturen schlicht zu ignorieren oder nicht hinzunehmen. Jedoch ist Polen, gemessen an den üblichen Kriterien (wirtschaftlich, militärisch, kulturell usw.), im europäischen Vergleich nicht besonders stark. Inner‐ staatlich sieht es ähnlich aus: Die PiS ist zwar mit Abstand die stärkste politische Kraft in Polen, erscheint aber häufig viel stärker und widerstandsfähiger als sie es tatsächlich ist. Dies wird vor allem immer dann deutlich, wenn legislative Initiativen der PiS am politischen Widerstand scheitern, wie z. B. eine 2020 von der PiS angestrebte Reform des Tierschutzrechts.15 Seit Sommer 2021 kämpft die Partei sogar in jeder parlamentarischen Abstimmung erneut um die Mehrheit, die immer schwieriger zu sichern ist. Wenn es also nicht die reale Stärke ist, ist es dann vielleicht die Kraft der Ignoranz? Manche Menschen haben keine Manieren, weil ihnen die rechte Einsicht fehlt und sie schlicht nicht wissen, was sich gehört. Ist die PiS also einfach eine pro‐ vinzielle Partei von rednecks? In der Geschichte Polens finden wir auch nach 1989 zahlreiche Beispiele von Regierenden, die sich in dem Sinne nicht benehmen konn‐ 14 Siehe dazu Bucholc/Komornik 2019a. 15 Siehe https://www.sueddeutsche.de/politik/polen-rebellion-im-eigenen-lager-1.5038103 (30. November 2020).

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ten. Die Liste beginnt mit dem Friedennobelpreisträger und Staatspräsidenten Lech Wałęsa. Jedoch lässt sich die Ignoranz der PiS nicht durch schlechtes Benehmen er‐ klären. Zwar haben auch manche Mitglieder dieser Partei keine oder sehr schlechten Manieren, doch in Fragen der Rechtstaatlichkeit ist ihre Führung alles andere als unwissend. Zu behaupten, dass Parteichef Jarosław Kaczyński oder Staatspräsident Andrzej Duda einfach nicht wüssten, was sich in der Politik gehört, wäre ebenso naiv, wie dasselbe über Viktor Orban zu sagen. Dies sind keine Menschen, denen mehr Wissen helfen würde, das Richtige zu tun. Wir haben es also im Falle Polens weder mit der üblichen wirtschaftlichen oder kulturellen Stärke noch mit der unbesiegbaren Macht der Ignoranz zu tun. Durch die Ablehnung der Regeln des politischen Spiels kann man aber auch Kraft gewinnen. Jemand, der die Regeln nicht anerkennt, kann auch nicht korrigiert wer‐ den, obschon er selbstverständlich zur Konformität gezwungen werden kann. Die Korrektur beruht auf den Gefühlen der Scham, der Schuld und des Ekels. Diese rufen richtiges Benehmen in einem richtig erzogenen (das heißt zur Konformität sozialisierten) Menschen quasi automatisch hervor. Um sich korrigieren zu lassen, braucht man einen entsprechenden, der Korrekturbefugnis inhaltlich angepassten Habitus. Diese „zweite Natur“, ist nicht eingeboren, aber wie eingeboren.16 Fehlt ein solcher Habitus, so bleibt die Korrektur mit Rechtsmitteln unwirksam, weil die Korrekturbefugnis nicht anerkannt wird. Hierzu möchte ich zwei Vorbehalte formulieren. Erstens ist die artikulierte Intention des Spielers weder für die Anerkennung der Spielregeln noch für deren Ablehnung konstitutiv. Spieler*innen, die die Spielregeln kennen (insofern man sie überhaupt kennen kann), wissen zwar normalerweise, dass sie sie brechen. Allerdings werden die Spielregeln niemals – nicht einmal in einem formalen System positiven Rechts – in Gänze erkannt und beherrscht. Unsere Erkenntnisse über die Regeln gewinnen wir dadurch, dass wir korrigiert werden: Die Grenze zwischen richtigen und falsch wird erst durch die Korrektur etabliert. Deswegen ist die Bereitschaft, korrigiert zu werden, grundlegend für die Anerken‐ nung der Spielregeln. Die Bereitschaft und sogar die Fähigkeit, Regeln inhaltlich anzuerkennen und ihnen intentional zu folgen, ist damit Teil des Habitus. Zweitens können Menschen, die die Regeln nicht anerkennen, dennoch dazu ge‐ bracht werden, sich ihnen zu fügen. Damit sind wir beim alten Weber’schen Motiv: für den soziologischen, empirischen Begriff der Rechtsgeltung sind die Motive der einzelnen Sozialakteur*innen irrelevant. Gehorsamkeit kann eine Folge der Angst vor Rechtszwang sein. Fügen sich Menschen jedoch ausschließlich aus Angst dem Recht, so gilt die Rechtsordnung nicht mehr: Geltung ist nicht auf Angst vor Zwang reduzierbar.17 Elias geht in diesem Punkt noch einen Schritt weiter: Inwiefern sich 16 Mennell 2007, S. 6-7. 17 Siehe dazu Weber 2020, S. 181ff.

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Menschen auch ohne externen Zwang rechtskonform verhalten, hängt von ihrem Ha‐ bitus ab. Dass sie es sich nicht vorstellen können oder dass ihnen schon übel wird bei dem Gedanken daran, Recht zu brechen, ist eine zuverlässigere Grundlage der Ordnung als Zwang. Damit wird auch der Begriff der Geltung überflüssig, weshalb er in der Theorie, die ich im nächsten Teil skizziere, keine Rolle spielt.

3 Figurationstheorie des Rechts: ein Umriss18 Robert van Krieken beschrieb Elias in seinem grundlegenden Artikel als einen Regulierungstheoretiker.19 Der Fokus auf die Regulierung erklärt, warum der Eli‐ as’sche Ansatz schon häufig Anwendung in historischen sozio-rechtlichen Analysen des Strafrechts und der Strafjustiz fand – also in dem Feld, in dem der Zusammen‐ hang zwischen Zwang, Zivilisierung und Recht am deutlichsten zutage tritt. Um die habitusbedingte Wirksamkeit des Rechts erklären zu können, muss der Fokus auf die Regulierung aber ergänzt werden, um neben der Rolle der Gewalt auch die anderen Voraussetzungen für eine Wirksamkeit des Rechts zu berücksichtigen. Dazu gehören die moralische Legitimation des Rechts, die Dynamik der Latenz und Transparenz im Recht sowie die Abhängigkeit des Rechts von den symbolischen Ressourcen einer Gesellschaft. Alle drei Aspekte tragen insofern dazu bei, die Habitusabhängig‐ keit des Rechts zu erklären, als sie Bedingungen für die habituelle Bereitschaft beschreiben, von anderen beim Spielen korrigiert zu werden.

3.1 Soziale Konstruktion von Normen: Moralgesetze und Spielregeln Elias und Eric Dunning unterscheiden zwischen zwei Typen von Normen, je nach‐ dem, wie die Menschen, deren Verhalten normiert wird, sie wahrnehmen.20 Manche Normen scheinen nicht an eine bestimmte Figuration gebunden zu sein: Sie werden einfach von allen Menschen ohne Weiteres als gegeben wahrgenommen. Der Glaube an den moralischen Charakter zieht eine gewisse Zurückhaltung nach sich, die so‐ zialen Ursprünge der Norm zu untersuchen. Er ist eine hochwirksame Legitimations‐ quelle für die moralischen Gesetze, was eine besondere Wirksamkeit der auf ihnen basierenden Korrekturen garantiert. „Moralgesetze“ sind praktisch unbestreitbar: Wer sie ernsthaft infrage stellt, muss mit Raskolnikov, der Hauptfigur aus Dostojew‐ skis Roman Schuld und Sühne, in die Verbannung gehen. Ein Gegentypus zu den

18 Diese Sektion basiert auf dem Entwurf der Figurationssoziologie des Rechtes in: Bucholc 2021. 19 Van Krieken 2019. 20 Elias/Dunning 2008.

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Moralgesetzen sind Normen, die als bloße „Spielregeln“ angesehen werden. Was auch immer ihr Ursprung sein mag, sie sind nicht mehr als Regeln, nach denen ein Spiel gerade gespielt wird. Das Bewusstsein über ihren konventionellen Charakter führt zu einem relationalen Denken: Die Norm ist unter bestimmten Umständen verbindlich und kann unter bestimmten Umständen angefochten, geändert oder gar aufgehoben werden. Ein empirisches Rechtssystem kann eine Kombination aus Spielregeln und mo‐ ralischen Gesetzen sein: Letztere werden als unveränderlich wahrgenommen oder sogar für unveränderlich erklärt, wie in der berühmten deutschen Ewigkeitsklausel.21 Gesetze sind änderbar, aber das Verfahren zu ihrer Änderung kann an sich unantast‐ bar und in diesem Sinne „moralisiert“ werden, was im Konzept der „Legitimation durch Verfahren“ zum Ausdruck kommt.22 Die Spielregeln, besonders die Verfah‐ rensregeln, können moralisiert werden, die moralischen Gesetze können dagegen „entmoralisiert“ werden. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass das Rechtssys‐ tem als ein sich ständig veränderndes Ganzes moralisiert wird: eine Meta-Norm könne dem ganzen System einen moralischen Charakter verleihen. Was für Normen dieses System enthält und in welchem Verfahren diese entstehen, wäre dann für die Bereitschaft irrelevant, dem Recht einfach deswegen zu folgen, weil es das Recht ist.

3.2 Transparenz und Latenz des Rechts Wie hängt die Existenz einer solchen Meta-Norm, die dem Recht als Ganzem einen moralischen Charakter verleiht, mit den Eigenschaften des Rechtssystems zusam‐ men? Ein Faktor ist die Latenz der sozialen Machtstrukturen. Elias zufolge ist die Verbindlichkeit des Rechts umso größer, je weniger den Menschen in der jeweiligen Figuration bewusst ist, dass das Recht menschengemacht ist und wie es gemacht wird. Je latenter die Mechanismen des Rechts sind, desto weniger Chancen haben die Menschen, dieses Recht zu ändern, weswegen sie das Recht auch als weniger veränderbar betrachten. Diese These richtet sich in gewisser Weise gegen sämtliche Intuitionen, die aufgrund der Entwicklungen in den demokratischen Ländern im 21. Jahrhundert ausgebildet wurden. Wir glauben gerne, die Legitimation des Rechts sei umso stärker, je mehr sich Menschen aktiv an seiner Produktion beteiligen dürfen und je transparenter das Recht und das Rechtsverfahren sei. Wir glauben also, dass die Bereitschaft, – um noch einmal mit Luhmann zu sprechen – sich von der Rechtsentscheidung enttäuschen zu lassen, sich ihr anzupassen und daraus zu lernen, von der Transparenz des Rechts positiv beeinflusst wird. Diese Hypothese wurde vielfach bestätigt: Es reicht schon, sich anzuschauen, dass diejenigen Länder, 21 Siehe Rottleuthner 2010. 22 Siehe Luhmann 1983.

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die am transparentesten sind, normalerweise auch die ersten Plätze in Rankings der Rechtsstaatlichkeit, des Vertrauens zu den Institutionen der Rechtspflege sowie der Gesetzestreue belegen. Dennoch finden wir auch Argumente, die den Grundgedanken von Elias unter‐ stützen, nämlich in der Erfahrung totalitärer und autoritärer Gesellschaften. Wenn Menschen das Recht als völlig undurchschaubar und dadurch als unbeeinflussbar und unberechenbar betrachten, wollen sie das Recht auch nicht ändern. Sie kommen nicht einmal auf die Idee. Das totalitäre Recht ist im Elias’schen Sinne stark mora‐ lisiert, obwohl es dabei zugleich als völlig unmoralisch angesehen werden kann: Die Moralisierung betrifft nicht den Inhalt der Norm, sondern die strukturellen Be‐ dingungen oder Möglichkeiten, sie anzufechten. Eine transparente Spielregel kann man im Rahmen des Rechtssystems infrage stellen, ohne dass das System dabei zusammenbricht. Im Totalitarismus aber droht das System mit jeder Infragestellung zusammenzubrechen, weshalb die Systemregeln hier auch keinerlei Transparenz zulassen können. Wenn wir diese Schlussfolgerung auf die Analyse eines demokratischen Rechts‐ systems anwenden, so lässt sich feststellen, dass ein System, das sehr viel Transpa‐ renz zulässt, stark von den moralisierenden Metaregeln abhängt, die seine Existenz als Ganzes sichern (vom Zwang, also von der externen Gewalt, einmal abgesehen). Je weniger Transparenz wir uns wünschen, desto mehr Moralismus müssen wir also im Kauf nehmen. Das ist die Idee hinter dem modernen Konstitutionalismus: Die transparente Gesamtheit der Rechtsnormen basiert auf einem Akt der endgültigen Moralisierung des Rechts.

3.3 Symbolische Kraft des Rechts Wie sich die Moralisierung des Rechtssystems aber praktisch vollzieht, hängt von den zur Verfügung stehenden Mitteln ab. Das Bild des Rechts kann nicht ex nihilo konstruiert werden, es bemächtigt sich vielmehr kultureller Ressourcen.23 Es bezieht sich insbesondere auf das Material des kollektiven Gedächtnisses, in dem jene Sym‐ bole gespeichert werden, die die Struktur der Sprache, des Denkens und des Wissens bestimmen. Besonders wichtig sind dabei, wie stets, die Grenzfälle: In manchen Gesellschaften sind die für Moralisierung des Rechtssystems benötigten Ressourcen (also die Symbole und die Verbindungen zwischen ihnen) schlicht nicht vorhanden. Eine bestimmte Art und Weise zu sprechen und zu denken, basierend auf einer Gesamtheit des Wissens und der Erinnerungen, untermauert von Emotionen und begleitet von den entsprechenden Handlungsdispositionen – dies alles bildet den

23 Siehe Gephart 2010.

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Habitus. Korrigiert zu werden und sich der Korrektur anzupassen, ist ebenfalls eine Handlungsdisposition – wenn auch eine sehr komplexe. Sie benötigt nicht nur emo‐ tionale Unterstützung, sondern auch Denk- und Sprachmuster, die es einem ermögli‐ chen, die Korrektur zu bearbeiten, den eigenen Wissenstand zu verändern und das neuerlangte Wissen in das vorhandene Netzwerk von „Korrekturerinnerungen“ ein‐ zubetten – also sich anzupassen und zu lernen. Für das Recht sind diejenigen symbolischen Ressourcen am wichtigsten, die auf diesem Niveau der gesellschaftlichen Organisation verbunden sind, auf welchem üblicherweise das Recht in einer Gesellschaft reproduziert wird. In einer politisch als Nationalstaat organisierten Gesellschaft sind dies hauptsächlich die Staatsstruk‐ turen. Deswegen betone ich die Verbindung zwischen der Korrekturbefugnis und der Trennung von Recht und Politik einerseits mit dem nationalen Habitus andererseits, also mit denjenigen Schichten des Habitus, die besonders stark von den gesellschaft‐ lichen Merkmalen der Nationalstaatlichkeit abhängig sind.

4 Polen nach 2015: eine Welle der Unkorrigierbarkeit Die Anwendung der Figurationstheorie auf die Rechtslage in Polen erlaubt es uns, die weitgefächerte Problematik sozialer, kultureller und historischer Ursachen in einen kohärenten heuristischen Rahmen einzuordnen und damit näher auf das Phä‐ nomen der Unkorrigierbarkeit im Prozess der Politisierung des Rechts einzugehen. Rechtsstaatlichkeit als Merkmal des modernen Konstitutionalismus ist tief mora‐ listisch gefärbt.24 Dies war in den öffentlichen Diskursen in Mittel- und Osteuropa seit Ende der 1980er Jahre besonders ausgeprägt: Rechtsstaatlichkeit galt nicht nur als Eintrittskarte in den „westlichen Club“, sondern auch als eine moralische Verpflichtung. In den 1990er Jahren markierte die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit den Kontrast zwischen dem alten sozialistischen und dem neuen demokratischen Rechtssystem. Das Recht, das im Sozialismus stark politisiert war, sollte von nun an von der Politik getrennt sein. Das kommt in einer aus zeitgenössischer Sicht be‐ merkenswerten Äußerung eines liberalen polnischen Intellektuellen zum Ausdruck: „[…] anfänglich [in den späten 1980 Jahren] dachten wir, dass es überhaupt keine Auseinandersetzungen übers Recht geben würde”.25 Über Moralgesetze streitet man doch nicht… So sollte das moralisierte Recht auch weit entfernt bleiben von der Politik als der paradigmatischen Domäne des Streits. Ein weiterer Faktor bei dieser moralisierenden Naturalisierung der neuen demo‐ kratischen Rechtsordnung waren die ständig betonten Vorteile der Rechtsstaatlich‐ keit für die Marktwirtschaft. Obwohl dies wie ein utilitaristisches Argument anmutet 24 Siehe Kramer 2004. 25 Makowski/Filipowicz 2015, S. 196.

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und nicht wirklich zum Transzendentalismus passt, den der Ausdruck „moralisches Gesetz“ impliziert, wurde die Marktwirtschaft in den 1980er und 1990er Jahren in Polen häufig selbst als ein unbestreitbares Ideal postuliert, gestützt auf ein normati‐ ves Bild der menschlichen Natur, das entlang der Linien des Wirtschaftsliberalismus verlief.26 Der erwartete Effekt war ein Überschuss an Legitimation für die Rechts‐ staatlichkeit. Vermutlich wäre das auch gelungen, wäre die Rechtsstaatlichkeit lange genug aufrechterhalten worden. Ein Zeitraum von weniger als einer Generation kann aber kaum habitusrelevante Spuren hinterlassen. Die Jahre nach 1989 reichten also nicht aus, um gewohnheitsmäßige Grundlagen für die Rechtsstaatlichkeit zu schaffen. Gleichzeitig wandten sich Kritiker*innen der Transformation mit ihrer Gegena‐ genda auch gegen die Rechtsstaatlichkeit und stellten sie als bloße Spielregel dar. Das Spiel selbst beschrieben sie dabei als unschönes, schmutziges Spiel, als einen Coup der korrumpierten Eliten. Dem Recht, das im Rahmen dieses Spiels hervor‐ gebracht wurde, wurde dadurch jegliche Legitimation entzogen. Diese Strategie verfolgte die heute regierendende PiS zwar nicht allein, dennoch ist sie die erste politische Kraft unter den Transformationskritiker*innen, die sich langfristig durch‐ zusetzen vermochte. Sie denunzierte die in der Transformationszeit etablierten Insti‐ tutionen als Relikte der kommunistischen Periode, ebenso wie die polnische Verfas‐ sung von 1997.27 Dasselbe betraf das EU-Recht: Die Grundlagen der polnischen Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft demaskierte die PiS als Produkt der Dominanz einer postkolonialen Mentalität unter den „alten“ (also postkommunisti‐ schen und liberalen) politischen Eliten.28 Die „alten“ Eliten, die die Transformation entworfen haben, hätten sich der PiS zufolge dem Willen des Westens, insbesondere Deutschlands, demütig untergeordnet – und das nicht nur in ihrem eigenen Interesse, sondern auch in Übertragung ihrer postkommunistische Neigung zur Unterordnung in eine neue Realität. Das politische Programm der PiS bestand darin, das vor 2015 geschaffene Recht zu demaskieren, die bisher existierenden latenten Abhängigkeits‐ strukturen zu enthüllen und eine neue Form der Transparenz zu etablieren. Ab 2015 sollte das Recht wieder dem Zweck der nationalen Souveränität dienen. Diese neue ideologische Dominante sollte diejenige der liberalen Rechtsstaatlichkeit ersetzen. Dementsprechend griff die Partei jene Institutionen an, auf denen die Rechtstaat‐ lichkeit beruhte, insbesondere den Verfassungsgerichtshof und die unabhängigen Gerichte. Heutzutage weitgehend unbestritten ist der Abbau der institutionellen Verfas‐ sungsordnung Polens, inklusive der für die Rechtstaatlichkeit fundamentalen Gewal‐

26 Siehe Bucholc 2020b. 27 Siehe dazu Bucholc/Komornik 2016. 28 Siehe Bucholc/Komornik 2019a.

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tenteilung.29 Ebenso unstrittig ist die Entmoralisierung des Verfahrens durch die PiS: die Erklärung des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński, der sich 2017 „ohne irgendeine Prozedur“ im Parlament zu Wort meldete, kann hier als eine Synekdoche für die Haltung der gesamten Partei gegenüber den geltenden Verfahrensregeln verstanden werden. Seltener wird hingegen die Tatsache hervorgehoben, dass sich die Entmoralisierung auch auf jenes Recht bezieht, das die PiS selbst nach 2015 verabschiedet hat. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte „Holocaust-Gesetz“ von 2018, wonach betraft werden konnte, wer die polnische Nation oder den polnischen Staat für NaziVerbrechen (mit-)verantwortlich macht.30 Nach einer Welle heftiger internationaler Proteste wurde das Gesetz nur wenige Monate später auf dem Wege einer Verstän‐ digung zwischen den Regierungen Polens und Israels widerrufen. Die Regierung war bereit, die Normen, die sie noch ein paar Tage zuvor als vital für die nationale Souveränität dargestellt hatte, im politischen Spiel von einem Tag auf den anderen abzuschaffen. Das kann man natürlich als Zynismus deuten. Langfristig scheint die Handlungsweise der PiS in diesem Fall aber eher dem Prinzip zu folgen, dass das Recht, das offensichtlich auf ein Instrument der Politik reduziert wurde, keine andere Legitimation mehr benötig, als den politischen Willen. In Oppositionskreisen führt dies interessanterweise zu dem Versuch, das Recht, die Verfassung und besonders die Verfahren wieder zu moralisieren. Nachdem die staatsinterne Verteidigung der Verfassung aus einer moralistischen Position mit der endgültigen Übernahme des Verfassungsgerichtshofs durch die PiS 2016 scheiterte, wird die Meta-Norm der moralistischen Rechtsbetrachtung nun auf EU-Ebene trans‐ poniert. Dies wurde besonders deutlich in der Debatte über die EuGH-Entscheidung zum Status der von der PiS geschaffenen und unter politischer Kontrolle besetzten Disziplinarkammer des Obersten Gerichts Polens.31 All diejenigen, die ihre Hoffnungen in das Europarecht gesetzt hatten, wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum EZB-Anleihenkaufprogramm vom 5. Mai 2020 auf eine harte Probe gestellt haben.32 Einerseits wurde dieses kontro‐ verse Urteil als Durchsetzung nationaler Verfassungsvorgaben interpretiert. Anderer‐ seits sah man darin eine Infragestellung der Kraft des Europarechts. Das Bundesver‐ fassungsgericht erklärte sich im Prinzip für kompetent, die durch den EuGH vorge‐ nommene Auslegung von europäischem Recht in ihrer Wirksamkeit für Deutschland zu kontrollieren und gegebenenfalls sogar auszusetzen. Das bedeutete nichts ande‐ res, als dass den Korrekturbefugnissen, die den europäischen Institutionen zustehen, doch relativ einfach die Anerkennung entzogen werden kann. Der EuGH reagierte 29 30 31 32

Krygier 2019. Siehe dazu Bucholc/Komornik 2019b, Kończal 2020. Siehe Fn. 9 (Az. C-791/19 R). Az. 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16.

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darauf mit einer Pressemitteilung, in der er auf der Ausschließlichkeit seiner eigenen Jurisdiktion bestand.33 Auf den ersten Blick schien sich also das Verhältnis zum europäischen Recht in Deutschland im Juni 2020 in dieselbe Richtung zu entwickeln wie in Polen. Die polnische Regierung nutzte das Karlsruher Urteil geschickt, um ihre Position in den Verhandlungen über den EU-Haushalt Ende 2020 zu stärken. Sie verwies explizit auf die deutschen verfassungsrechtlichen Argumente, wie man einem Beitrag des polnischen Außenministers Zbigniew Rau in der FAZ entnehmen konnte.34 Das angespannte Verhältnis Deutschland-EU wurde zwar schnell geklärt und eine erneute Klage gegen die EZB-Anleihen ist 2021 vom Bundesverfassungs‐ gericht abgelehnt worden, die bei der Gelegenheit verfassten Argumente gegen die moralische Unantastbarkeit Europarechtes blieben aber im Spiel. Die Infragestellung des moralischen Status des Europarechts in Polen ist mit einer Revision der Rechtstaatlichkeit als Verfassungsgrundlage verbunden. Beides geht einher mit einer Verschiebung der Transparenz und der Latenz rechtsstaatlicher Machtstrukturen, sowohl im nationalen als auch im internationalen Kontext. Im Innern wird die Rechtsstaatlichkeit als Teil eines vermeintlich geheimen liberalen Transformationsabkommens klassifiziert – als eine Spielregel, deren Funktionswei‐ se absichtlich vor der Öffentlichkeit geheim gehalten wurde. Anstatt dieser post‐ kommunistisch-liberalen Latenz behauptet die PiS nun vollständige Transparenz zu schaffen: deutlicher könnte die Verbindung zwischen Recht und politischer Macht nicht sein. Umso interessanter ist daher, dass gerade die Person, die gegenwärtig die größte politische Macht in Polen besitzt, Jarosław Kaczyński, „der uncharismati‐ sche Charismatiker“35, jahrelang ein einfacher Abgeordneter war, ein primus inter pares, offiziell ohne jegliche besondere Prärogative, bis er im Oktober 2020 als Vize-Ministerpräsident in die Regierung eintrat. Die Entkopplung von faktischer Macht und rechtlich definierter Herrschaft war dadurch vollzogen: Das politische Entscheidungszentrum ist nicht mehr rechenschaftspflichtig, außer in der Politik.36 Paradoxerweise könnte man also sagen, dass die Krise der Demokratie in Polen zu einer Erhöhung der Transparenz des Rechtssystems beitrug. Zwar ist die Un‐ durchschaubarkeit ständig gewachsen, einschließlich einer bemerkenswerten Ver‐ schiebung des Prozesses der parlamentarischen Gesetzgebung nach 2015 auf die späten Abend- und Nachtstunden. Dabei wurde aber auch das Prinzip immer deutli‐ cher, nach dem das Recht in Polen seit 2015 funktioniert. Es ist nicht mehr die Luhmann’sche systemische Autonomie, sondern eine neue Formel, nach der die Politik überall eingreifen kann. Politisierung reicht also heutzutage auch dorthin, wo

33 34 35 36

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https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2020-05/cp200058en.pdf. Siehe Rau 2020. Gnauck 2018. Jarosław Kaczyński trat am 6. Oktober 2020 als Vize-Ministerpräsident in das Kabinett von Mateusz Morawiecki ein.

sich bisher die Autonomie des Rechts behauptet hatte: Politik ist das, was die Politik als Politik bestimmt. In diesem Sinne verstehe ich auch die folgende Erklärung des vor kurzem verstor‐ benen Abgeordneten Kornel Morawiecki von 2015: Das Gesetz ist eine wichtige Sache, aber das Gesetz ist nicht heilig. […] Das Wohlerge‐ hen der Nation steht über dem Gesetz! Wenn das Gesetz gegen dieses Wohlergehen verstößt, können wir das Gesetz nicht als etwas wahrnehmen, das nicht verletzt und geändert werden kann. […] Das Gesetz soll uns dienen! Das Gesetz, welches der Nation nicht dient, ist gesetzlos!37

Die Änderung des Status des Rechts von einer „heiligen Sache“ (also einem Moral‐ gesetz) zu einem Instrument des nationalen Wohlergehens lässt sich am ehesten als Verschiebung hin zu einer Spielregelnorm erklären. Als Kompensation hierfür, so die Hypothese, muss aber die Nation moralisiert werden, damit das Rechtssystem wieder auf einer moralischen Grundlage beruht. Zu diesem Zweck müssen die symbolischen Ressourcen mobilisiert werden, und zwar durch Rückgriff auf das kollektive Gedächtnis. Damit sind wir beim Stichwort Identitätspolitik.38 Um ein nationales Identitätsprojekt in rechtliche Formen zu gießen, müssen deren Verfechter*innen sowohl die Symbolik des Rechts, als auch diejenige von Staat und Nation verarbeiten. Eine Reihe von Autor*innen hat unterschiedliche Aspekte der intensiven Gedächtnisarbeit und dementsprechend auch der Geschichtspolitik der PiS hervorgehoben. Besonders heftig wird um die christliche und insbesondere katholische Identität Polens gekämpft. Diese hängt eng zusammen mit den Debatten um das Abtreibungsrecht, um die Finanzierung der In-Vitro-Fertilisation oder um die Behandlung sexueller Minderheiten, einschließlich der Anti-LGBT+-Kampagne von 2019/2020.39 All diese Diskussionen folgen demselben Muster: Sämtliche Korrektu‐ ren, die geltend gemacht wurden, auf innerstaatlicher wie auf internationaler Ebene, wurden als rein politische Bewegungen demaskiert. Ob sie nun die Form einer politischen Demonstration annahmen oder die eines Gerichtsurteils, war dabei ohne Bedeutung. Andererseits stuften die politischen Gegner*innen sämtliche Aktionen der Regierung, egal ob sie sich des Rechts bediente oder nicht, als reine Politik ein. Eigentlich besteht also auf beiden Seiten Konsens: Das Recht kann kaum mehr als Korrekturmittel verwendet werden.

37 https://wpolityce.pl/polityka/273101-kornel-morawiecki-w-sejmie-nad-prawem-jest-dobro-nar odu-prawo-ktore-nie-sluzy-narodowi-to-bezprawie-reakcja-owacja-na-stojaco-wideo. 38 Die bemerkenswerten Ähnlichkeiten zwischen den Souveränitätssemantiken in Ungarn und Polen spiegeln eine parallele Verschiebung vom latenten Recht zum transparenten Recht wie‐ der. Diese bringt die Dominanz der beiden Regierungsparteien und ihrer Wähler*innen in ihren jeweiligen figurativen Umgebungen zum Ausdruck (siehe von Puttkamer 2018, Buras/Vegh 2018). Es geht also nicht nur um eine Änderung der Spielregeln in der Demokratie, sondern auch um die Artikulation einer neuen Struktur der Rechtstransparenz. 39 Siehe Bobrowicz/Nowak 2021; Bucholc 2020a.

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5 Politische Artikulation der Habitusabhängigkeit des Rechts Nachdem die Merkmale der Politisierung des Rechts in Polen umgedeutet wurden, können sie nun in das Verständnis des Habitus inkorporiert werden. Bei Elias be‐ schreibt der Begriff des Habitus die Verhaltens-, Affekts- und Handlungsmuster in einer bestimmten Gesellschaft, die von einer Generation zur anderen übertragen werden.40 In einer Gesellschaft, die als Nationsstaat organisiert ist, entsteht eine spe‐ zifische Form des Habitus, die als nationaler Habitus bezeichnet werden kann. Die‐ ser stellt die Grundlage für die nationale Identität einer bestimmten Menschengruppe dar. Zwar entspricht die Bedeutung des Begriffs Nation im politischen Diskurs nicht unbedingt dem Elias’schen Verständnis von Nation als Identitätskategorie.41 Bestimmte historische Erfahrungen, die der alltägliche Sinn des Wortes Nation enthält, sind jedoch auch aus figurativer Sicht von entscheidender Bedeutung. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, soziologische Interpretationen der Trans‐ formation von postsozialistischen Gesellschaften nach 1989 hervorzuheben, die de‐ ren langanhaltende traumatische Wirkung betonen. So schrieb etwa der polnische Soziologe Piotr Sztompka 2004: „Es besteht kein Zweifel, dass der Zusammenbruch des Kommunismus eine traumatogene Veränderung schlechthin war.“42 Aus dieser Perspektive war die Anti-Transformations-Revision in Polen Ausdruck eines Trau‐ mas, das die Figurationen der Gesellschaft beeinflusste und das den nationalen Habitus tiefgreifend prägte. Der Effekt des Traumas war trotz der kurzen Zeit stark genug, um Eingang in den Habitus zu finden, möglicherweise auch, weil er mit der langen historischen Erfahrung oder vielmehr mit dessen Tradierung in der Kultur übereinstimmte.43 Identitätspolitik ist ein homöopathisches therapeutisches Mittel. Die Wiederherstellung der Verbindung zwischen Recht und nationalem Habitus führt in Polen dazu, dass manche Elemente des Rechtssystems nicht als Emanation der nationalen Identität betrachtet werden und aus diesem Grund abgelehnt oder zumindest abgewertet werden können. Dazu gehört auch das Prinzip der Rechts‐ staatlichkeit. Die in Brüssel erlassenen Gesetze und Urteile gelten als Gesetze von Fremden, die sich von „unseren“ Gesetzen unterscheiden. Der Unterschied zwischen „uns“ und den Fremden ist dabei ganz einfach operationalisierbar. Der polnische Präsident Andrzej Duda sagte in Januar 2020, in Reaktion auf die negative Bewer‐ tung der polnischen Justizreform durch die Venedig-Kommission: „Keiner wird uns [d. h. den Polen] im Ausland und in Fremdsprachen bestimmen, welche Regierung wir in Polen haben sollen“.44 Diese Worte klangen gewiss nicht nur in meinen Ohren 40 41 42 43 44

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Ernst, Weischer/Alikhani 2017, S. 9. Siehe Kuzmics/Reicher/Hughes 2020. Sztompka 2004, S. 171. Siehe dazu Bucholc 2020a, Hadas 2020. https://polskatimes.pl/prezydent-andrzej-duda-w-zwoleniu-nie-beda-nam-w-obcych-jezykach -narzucali-jaki-ustroj-mamy-miec-w-polsce-wideo/ar/c1-14723016 [03.12.2020].

wie ein Echo jener Worte, die einst die Dichterin Maria Konopnicka gegen die bru‐ tale Germanisierung polnischer Gebiete durch Preußen schrieb: „Unser Vaterland geben wir nicht auf/ Unsere Sprache lassen wir nicht begraben.“45 Die Geschichte scheint sich tatsächlich zu wiederholen – ganz entsprechend dem Marx’schen Dik‐ tum. Und wir scheinen momentan bei der zweiten Wiederholung zu sein, der Farce.

6 Fazit: Wiederherstellung der Habitusrelevanz des Rechts Die Ablehnung der Korrekturbefugnis des Auslands in Sachen Rechtsstaatlichkeit ist eine Art Beschäftigungstherapie für jenen Teil der polnischen Bevölkerung, der sich mit dem Trauma der Transformation auseinandersetzen musste. Dies bedeutet nicht, die PiS als eine Partei der Verlierer*innen der Transformation abzustempeln, die Lage ist viel komplizierter. Ich würde eher sagen, dass die Partei ganz unter‐ schiedlichen Transformationsweisen ein politisches Zuhause geboten hat: All jenen, für die die polnische Politik und der polnische Staat nach 1989 zunehmend habitu‐ sirrelevant geworden waren. Die PiS bietet eine Vision des Staates an, der direkt mit dem Habitus der Menschen zusammenhängt. Ein Pole oder eine Polin, die dem Habitus-Design der PiS entspricht, soll polnisch sprechen, denken, fühlen und leben – mithilfe polnischer historischer Ressourcen. Der Wunsch nach der Habitusrelevanz erklärt dabei, warum die äußerst europa‐ freundliche polnische Gesellschaft schon zweimal mit präzedenzloser Mehrheit die PiS an die Regierung gewählt hat. Die PiS bietet der Gesellschaft die Möglichkeit, sich ihrer eigenen Existenz wieder bewusst zu werden, und zwar innerhalb Europas, aber auch im Kontrast zu und im Konflikt mit Europa. Der Versuch, den europä‐ ischen Habitus mit dem nationalen zu verschmelzen, ist offensichtlich gescheitert. Dennoch kann Europa zur Konstruktion des nationalen Habitus beitragen – und zwar durch Negation. Das erklärt auch, warum die polnische Gesellschaft die Ab‐ schaffung der Trennung von Recht und Politik in Kauf nimmt: Es handelt sich um eine Manifestation der Relevanz des Rechts für den nationalen Habitus. Darin kommt die Entfremdung von der Rechtstaatlichkeit als politischem Ideal sowie als Verfassungsprinzip zum Ausdruck. Die Anwendung der Figurationssoziologie in Kombination mit den systemtheo‐ retischen Kategorien Luhmanns zeigt die Fragilität des demokratisch gestalteten Rechts. Ein demokratisches Gesetz als moralisches Gesetz darzustellen, erfordert eine sehr gesetzestreue Gesellschaft. Demokratische Gesetze sind Spielregeln, die leicht verhandelbar sind. Deswegen hängt die demokratische Rechtsstaatlichkeit stark von einem bestimmten Habitus ab, dessen Entwicklung Elias historisch für

45 Rota (1908).

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höchst mysteriös hielt. Es sollte niemals aufhören, uns in Erstaunen zu versetzen, dass manche von uns in einem demokratischen Rechtstaat leben – und zwar erst seit sehr kurzer Zeit. Die Verbreitung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit war einer der Gründe dafür, dass Elias glaubte, wir lebten doch in einem „wunderbaren Jahr‐ hundert“.46 Allerdings meinte er damit das 20. Jahrhundert. Am Ende der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts sieht es jedoch eher danach aus, als ob die Erwartungen an die Rechtsstaatlichkeit in Europa enttäuscht würden. Mit der Rechtsstaatlichkeit verhält es sich aber ebenso wie mit der Zivilisation: „Erstaunlich ist weniger, dass wir so wenig, sondern dass wir überhaupt so zivilisiert sind.“47 Vielleicht waren unsere Erwartungen einfach nicht realistisch. Im Spätsommer 2021 ist die Lage in Polen aus vielerlei Gründen präzedenzlos schwierig. Die Corona-Pandemie hat das Land hart getroffen, mit neuen rechtsstaat‐ lichkeitsrelevanten Entwicklungen während der Präsidentschaftswahl des Jahres‐ 2020.48 Die Corona-Krise wurde aber noch von der politischen Krise übertroffen. Im Oktober 2020 fällte der Verfassungsgerichtshof ein Urteil, das das seit 1993 ohnehin strenge Abtreibungsrecht soweit verschärfte, dass ein Inkrafttreten des Urteils prak‐ tisch einem Abtreibungsverbot gleichkäme.49 Hunderttausende Menschen in ganz Polen gingen daraufhin auf die Straße, um trotz der Corona-Beschränkungen gegen das Urteil zu demonstrieren. Die kulturellen Frontstellungen in der polarisierten Ge‐ sellschaft sind dadurch enorm verhärtet, und die Spannung wird durch die postpan‐ demische ökonomische Lage nicht geringer. Die EU hat jedoch die Freigabe der Mittel aus dem europäischen Corona-Aufbaufonds an Polen mit der Gewährleistung von Rechtstaatlichkeit verbunden und dementsprechend blockiert. Dies könnte als eine Wiederholung des Haushaltskrise 2020 angesehen werden, obgleich potentiell mit viel dramatischeren Folgen. Inzwischen ist im Sommer 2021 an den EU-Gren‐ zen mit Belarus eine ganz neue Situation entstanden, welche in Polen, Litauen und Lettland als „hybrider Krieg“ bezeichnet wird. Die Lage ist sowohl menschenrecht‐ lich als auch völkerrechtlich höchst beunruhigend: Flüchtlinge, besonders aus dem Irak und Afghanistan, werden gezielt dazu benutzt, die Lage in den Grenzländern der EU zu destabilisieren. Am 2. September 2021 hat der polnische Präsident in den östlichen Grenzgebieten den Notstand ausgerufen. Das Drama spielt sich jetzt wort‐ wörtlich an vielen Fronten ab, Unsicherheit und Instabilität steigen. Dabei bräuchte es viel Zeit und Ruhe, damit sich die Rechtsstaatlichkeit im Habitus verankern kann.

46 47 48 49

212

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Gábor Halmai Aufstieg und Niedergang verfassungsrechtlicher Normenkontrolle in Ungarn und Polen. Die Einflüsse von Hans Kelsen und Carl Schmitt

Durch die Vergrößerung des Verfassungsgerichts und erhebliche Beschneidung seiner Kontrollrechte entfernte sich Ungarn in jüngerer Zeit von den allgemein geteilten Prinzipien des Konstitutionalismus. Bevor ich dies detailliert ausführe, möchte ich kurz beschreiben, wie 1989 im Zuge des Übergangs zur Demokratie das ungarischen Verfassungsgericht entstand und welche tragende Rolle dabei Kelsens Idee eines eigenständigen Verfassungsgerichtshofs spielte. Sowohl die weitreichende Zuständigkeit des Gerichts als auch dessen Aktivismus gingen dabei deutlich über Kelsens Vorstellungen hinaus und machten das ungarische Verfassungsgericht in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zum mächtigsten und aktivsten Verfassungsgericht weltweit. Das war auch der Grund, weshalb die autoritäre Regie‐ rung von Victor Orbáns Fidesz Partei die verfassungsrechtliche Normenkontrolle mit der 2011 in Kraft gesetzten Verfassung demontierte. Diese Demontage hatte bereits unmittelbar nach dem Wahlsieg von Fidesz 2010 eingesetzt und fand ihren Abschluss 2013 mit dem vierten Zusatz zum ungarischen Grundgesetz. Angesichts des Schicksals, dass die verfassungsrechtliche Normenkontrolle in Ungarn ereilte, will ich anschließend versuchen, das Konzept einer richterlichen Normenkontrolle sowohl von schwächeren Varianten als auch vom politischen Konstitutionalismus abzugrenzen, wobei ich Carl Schmitts Ablehnung der verfassungsrechtlichen Nor‐ menkontrolle diskutiere.

1. Hans Kelsen und die Gründung des Verfassungsgerichts 1.1. Außergewöhnlich weitreichende Kompetenzen Während des Übergangs zur Demokratie wählte Ungarn seinen eigenen, einzigarti‐ gen Weg der Verfassungsgebung. Obschon nur nominell und nicht der Sache nach behielt es 1989 die Verfassung, die das Land am Anfang der kommunistischen Zeit erhalten hatte, änderte ihren Inhalt aber radikal durch einen Prozess der umfassen‐ den Erweiterung. Anders gesagt, obwohl formal gesehen keine neue Verfassung in Kraft gesetzt wurde, geschah das in der Sache doch. Die wissenschaftliche Literatur 217

spricht deshalb nicht von „Erweiterung“ oder „Revision“, sondern von einer „Ver‐ fassungsrevolution“ oder „Neugründung“.1 Eine der entscheidenden Institutionen des neuen Verfassungssystems war das Ver‐ fassungsgericht, das durch die erwähnte Erweiterung der Verfassung geschaffen wurde und am 1. Januar 1990 seine Arbeit aufnahm. Das Gericht hatte auch im in‐ ternationalen Vergleich außergewöhnlich weitreichende Kompetenzen, zumal es an‐ fangs auch die Tätigkeit des damals – höflich gesagt – nicht legitimierten Parlaments überwachen musste. Die allerwichtigste Kompetenz des Gerichts war die nachträgliche abstrakte Nor‐ menkontrolle, sprich: die Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit, die nötig war, um die Übereinstimmung der übernommenen Elemente des alten Rechts mit der veränderten Verfassung systematisch zu prüfen. Das Verfahren der Normenkontrolle konnte von jeder und jedem in Gang gesetzt werden, selbst wenn die Person von der fraglichen Regelung nicht betroffen war. Dieses einmalige Instru‐ ment, das sogenannte „Handeln des Volkes“, sollte dazu dienen, die Bürgerinnen und Bürger am Transformationsprozess der alten Rechtsordnung aktiv teilhaben zu lassen. Jede und jeder konnte die Aufmerksamkeit des Gerichts auf ein potenziell nicht verfassungsgemäßes Gesetz lenken, und das Gericht war verpflichtet, jedes so infrage gestellte Gesetz zu untersuchen. Ein solches „Handeln des Volkes“ führte beispielsweise zur Abschaffung der Todesstrafe. Das Gericht hatte darüber hinaus auch die Möglichkeit, einen Mechanismus in Gang zu setzen, der sich „selbst“ – das heißt: ohne vorherigen Gesetzgebungsakt – auslöst, wenn die Legislative durch Unterlassung eine nicht verfassungsgemäße Gesetzeslage herbeigeführt hatte. Ein solches Verfahren konnte das Gericht ex offi‐ cio einleiten, aber auch jede Bürgerin und jeder Bürger des Landes. Gegenstand eines solchen Verfahrens war der Vorwurf einer „verfassungsrechtliche Lücke“, die aus der fehlenden Gesetzgebung folgte. Sobald die Lücke gerichtlich festgestellt wurde, musste die Legislative den Forderungen des Gerichts entsprechen und war verpflichtet, die Gesetzeslücke zu schließen oder den verfassungsrechtlichen Miss‐ stand anders zu beseitigen. Schließlich war das Gericht berechtigt auf Antrag bestimmter Körperschaften, die Verfassungsnormen abstrakt, das heißt ohne Bezug auf einen besonderen Fall, auszulegen. In diesen Fällen konnten das Gericht angerufen werden darzulegen, was ein Teil der Verfassung ganz allgemein bedeute, ohne die korrespondierende Bitte, diese Interpretation bei der Überprüfung eines bestimmten Gesetzes anzuwenden. Ziel war vielmehr die Beratung staatlicher Einrichtungen.

1 Holmes-Sunstein 1995, S. 285.

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1.2. Die aktive Verfassungsinterpretation Besonders während seiner ersten Amtszeit, die neun Jahre dauerte und 1999 endete, entwickelte das Gericht unter der Leitung seines prägenden Präsidenten László Sólyom eine aktive Praxis der verfassungsrechtlichen Normenkontrolle. Diese er‐ weiterte seine ohnehin weitreichenden Kompetenzen hinsichtlich der Gesetze, die durch das Parlament beschlossen worden waren, erheblich. Diese neun Jahre werden nicht nur in die Annalen der ungarischen Zeitgeschichte und des ungarischen öffent‐ lichen Rechts als die Ära des „Sólyom Gerichts“ eingehen, sondern – was für ein echtes Verfassungsgericht und seine Richterinnen und Richter mindestens ebenso wichtige ist – ihren Niederschlag auch in den juristischen Lehrbüchern finden. László Sólyom entwickelte in dieser Zeit das Konzept der „unsichtbaren Verfas‐ sung“, dem zufolge die Rechtsprechung des Gerichts einen theoretischen Rahmen bildet, in dem dann die Frage der Verfassungsmäßigkeit beurteilt werden kann. Der bloße Text der ungarischen Übergangsverfassung von 1989 wird so ergänzt und in Fällen, in denen neue Zusätze zur Verfassung im Widerspruch zu den grundlegenden Verfassungswerten stehen, sogar ersetzt. Den Begriff der „unsichtbaren Verfassung“ einführend schrieb Sólyom in seinem zustimmenden Sondervotum zur Abschaffung der Todesstrafe: „Das Verfassungsgericht muss seine Arbeit fortsetzen, die theoretischen Grundlagen der Verfassung und der darin aufbewahrten Rechte zu bestimmen und durch seine Entschei‐ dungen aus ihnen ein kohärentes System entstehen zu lassen. Dieses System kann als ‚unsichtbare Verfassung‘ über der Verfassung stehen, die oft genug aufgrund aktueller politischer Interessen ergänzt wird. Es dient als sicherer Maßstab der Verfassungsmä‐ ßigkeit. Bei dieser Tätigkeit hat das Verfassungsgericht Spielräume solange es in den Grenzen der Verfassungsmäßigkeit bleibt.“2

So richtig es auch ist, dass dieser Kommentar, der auf Politikerinnen und Politiker irritierend wirkte, von Sólyom nicht wiederholt wurde, der Sache nach hat er ihn nie zurückgezogen. In einem Interview sagte er: „[…] unsere verfassungsrichterliche Rechtsprechung grenzt – besonders in den ‚schwierigen Fällen‘ – an das Schreiben einer Verfassung, das habe ich nie bestritten.“3 In einem weiteren Interview, das im Jahr 1998 also gegen Ende seiner Amtszeit geführt wurde, unterstrich er das noch einmal. Sólyom versuchte gerade die Missverständnisse aufzulösen, die sich um den Ausdruck „unsichtbare Verfassung“ gebildet hatten, als der Journalist ihn fragte, ob man diese Wendung nicht ganz aufgeben solle. „Nein“, antwortete Sólyom, „was ich geschrieben habe, ist in der Welt. Damals wurde die Verfassung im Monatsrhythmus je nach politischer Tageslage ergänzt. Deshalb woll‐ 2 Urteil 23/1990. (X. 31.) AB. Eine englische Übersetzung des Urteils findet sich in Sólyom/ Brunner 2000, S. 118. 3 Vgl. Tóth 1997, S. 37.

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te ich darauf hinweisen, dass die Verfassung von höherer Natur ist: ein feststehendes System, das nicht nur auf technischen Regeln, sondern auch auf Werten beruht. Unsere Entscheidungen sollten diesem Wertesystem Ausdruck verleihen – es verdeutlichen, herausstellen und gebrauchen –, denn aus einzeiligen Paragraphen und kurzen Urteilen lässt es sich nicht herauslesen. Manch andere konzentrieren sich in ihren Richtersprüchen ausschließlich auf die Buchstaben ihrer Verfassung. Das habe ich sowohl in Europa als auch in Asien beobachtet.“4

Das von László Sólyom geführte Verfassungsgericht folgte also tatsächlich einem aktiven Ansatz bei der Auslegung der Übergangsverfassung. Deshalb argumentiere damals Sólyom neben vielen anderen Rechtswissenschaftlern (einschließlich des Verfassers dieses Textes), dass die umfassende Verfassungsänderung von 1989 und die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts die Ausarbeitung einer neuen Verfas‐ sung überflüssig mache. Für Sólyom ist die Idee einer „unsichtbaren Verfassung“ vom tatsächlichen Text der Verfassung geschieden und kann doch zugleich als Grundlage dafür dienen, die verfassungsleitenden Prinzipien gegen neue Verfas‐ sungszusätze durchsetzen. In seinem bereits zitierten Sondervotum bezüglich der Todesstrafe zeigt sich das aktive Auslegungsverständnis sowohl im Hinblick auf die Beziehung des Verfassungsgerichts zum Parlament als auch zum tatsächlichen Ver‐ fassungstext ganz unmissverständlich: „Das Parlament mag ganz nach eigenem Er‐ messen die Todesstrafe aufrechterhalten, abschaffen oder wiedereinführen – solange das Verfassungsgericht das abschließende Urteil über dieser Form der Strafe fällt.“5 Einer Deutung zufolge schließt diese Aussage die Wiedereinführung der Todesstrafe durch einen späteren Verfassungszusatz aus, ermächtigt also das Verfassungsgericht dazu, selbst Verfassungszusätze für nicht verfassungsgemäß zu erklären. Sólyom selbst schloss in einem Interview diese Möglichkeit nicht aus: „Die Mehrheit des Verfassungsgerichts strebt nicht danach, die Verfassungsmäßigkeit von Verfassungs‐ zusätzen zu untersuchen, obwohl dies grundsätzlich gerechtfertigt sein könnte.“6 Menschenwürde war eine weitere Konzeption, die nur auf äußerst vage Weise im Text der Übergangsverfassung erwähnt und vom Verfassungsgericht sehr breit aus‐ gelegt wurde. Wie das Buch von Catherine Dupré über die Wichtigkeit des Begriffs der Menschenwürde7 zeigt, wählten die Richterinnen und Richter zunächst sorgfältig Deutschland als ein angemessenes Modell der Interpretation von Menschenwürde aus und setzten diese dann durch eine aktive Auslegungspraxis der ungarischen Ver‐ fassung ins Werk. Das Gericht entwickelte auf dieser Grundlage eine eigenständige Konzeption der Menschenwürde. Die Idee eines eigenständigen Verfassungsgerichts geht offenkundig auf Hans Kelsen zurück. Obwohl es für Kelsen die wichtigste Aufgabe des Gerichts war, 4 5 6 7

Mihalicz 1998, S. 438. Urteil 23/1990. (X. 31.) AB. Tóth 1997, S. 34. Dupré 2003.

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die bundesstaatliche Verfassung Österreichs zu bewahren, bestehen viele Ähnlich‐ keiten zwischen seinen Vorstellungen und der Vision eines ungarischen Verfassungs‐ gerichts. Sowohl in Österreich nach 1920 als auch in Ungarn nach 1989 ging es vor‐ rangig um die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von nationalen Gesetzen und Er‐ lassen sowie von internationalen Abkommen. Die direkte Kontrolle von Gerichtsur‐ teilen und Verwaltungsakten, die bei Kelsen ausgeschlossen blieb, erlaubte auch das ungarische Verfassungsgerichtsgesetz von 1989 nur, wenn der Entscheidung eine ge‐ setzliche Norm zugrunde lag, die nicht mit der Verfassung vereinbar war. Neben diesen Ähnlichkeiten bestehen aber sowohl im Hinblick auf die Recht‐ sprechung als auch auf den Wunsch nach einer aktiven Interpretationspraxis durch das Verfassungsgericht erhebliche Unterschiede zwischen Kelsens Ideal und dem ungarischen Verfassungsgericht. Und das gilt umso mehr für die Gerichtspraxis, für die das Sólyom-Gericht stand. Kelsen wandte sich gegen die Verwendung von überpositiven Normen, wie „Gerechtigkeit“, „Freiheit“, „Gleichheit“, „Billigkeit“ oder „Moral“, die über das positive Recht gestellt werden, ohne dass ihr Inhalt hinreichend bestimmt wäre. Einer der Gründe für diese Bevorzugung des geschrie‐ benen Verfassungsrechts war, dass 1920 in Österreich Grundrechte bei der Prüfung von Gesetzen nur mangelhaft berücksichtigt wurden.8 In „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ schrieb Kelsen denn auch, die wichtigste Funktion, die die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit für die Demokratie erfülle, sei der Schutz der Interessen von parlamentarischen Minderheiten.9 Ein zweiter Grund war, dass Kelsen bei sei‐ nem Entwurf eines österreichischen Verfassungsgerichts verhindern wollte, das die abstrakte Interpretation der Verfassung zur politischen Einmischung würde. Um das zu erreichen, wollte Kelsen den richterlichen Ermessensspielraum und insbesondere den häufigen Rückgriff auf allgemeine Grundsätze möglichst einschränken. Die Zuständigkeit des ungarischen Verfassungsgerichts erforderte es aber gerade, die allgemeinen Verfassungsgrundsätze abstrakt auszulegen.10

2. Carl Schmitt und die Demontage der verfassungsgerichtlichen Kontrolle 2.1. Die Ausschaltung des Verfassungsgerichts Direkt nach dem erdrutschartigen Sieg der Mitte-rechts-Partei Fidesz in den Parla‐ mentswahlen von 2010 begann die Macht des ungarischen Verfassungsgerichts zu schwinden. Diese Entwicklung stimmte mit den ungefähr zeitgleich verfolgten – wenn auch weniger erfolgreichen – Versuchen überein, die Möglichkeiten einer 8 Paulson 2003, S. 237. 9 Kelsen 1920, S. 75. 10 Kelsen 2019 (1931), S. 58.

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verfassungsgerichtlichen Kontrolle in anderen zentral-osteuropäischen ähnlicher Weise abzuschwächen. Im Sommer des Jahres 2012 gab es en eine Verfassungskrise, als die regierenden Sozialisten versuchten, Verfassungsgericht als auch den Präsidenten zu entmachten. In diesem jedoch die EU ihren Einfluss geltend machen.11

Ländern in in Rumäni‐ sowohl das Fall konnte

2.1.1. Schwächung der Rechtsprechung und schwindendes Ansehen Bevor am 1. Januar 2012 die neue Verfassung in Kraft trat, hatte das ungarische Par‐ lament einen wahren Hagel an sogenannten „Schwerpunkt-“ (oder: Zweidrittelmehr‐ heits-)Gesetzen vorbereitet, die nicht der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterla‐ gen. Sie änderten den Zuschnitt praktisch jeder Institution in Ungarn und schwäch‐ ten die Sicherheit von Rechten, die eigentlich durch die Verfassung geschützt sein sollten.12 Die neuen Gesetze wirkten sich auf das Informationsfreiheitsgesetz, die Strafverfolgung, das Staatsangehörigkeitsrecht, den Schutz von Familien, die Unab‐ hängigkeit der Justiz, den Status der Kirchen, die Parlamentswahlen und vor allem auf die Rolle des Verfassungsgerichts aus. Das Grundgesetz von 2011 – Ungarns sogenannte „Osterverfassung“, die 2012 in Kraft trat – beeinträchtigte die Möglichkeiten des Verfassungsgerichts, Gesetze auf Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Dadurch war es jetzt nur noch sehr einge‐ schränkt in der Lage, grundlegende Rechte zu schützen. Hinzu kam die veränderte Zusammensetzung des Verfassungsgerichts. Diese wurde vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes umgesetzt und trägt zusätzlich dazu bei, dass das Gericht daran gehindert wird, seine Schutzfunktion bezüglich der Grundrechte auszuüben. Die erhebliche Einschränkung der ex-post-Kontrolle hat in Ungarn aber auch im Ausland starke Kontroversen ausgelöst. Der Entzug des Rechts, Fiskalgesetze zu überprüfen, hat zu einer weltweit einzigartigen Situation geführt. Nirgendwo sonst wird das Kontrollrecht einer Institution im Rang eines Verfassungsgerichts mit Ver‐ weis auf den Gegenstandsbereich der gesetzlichen Normen, die es zu kontrollieren gälte, aufgehoben. Die Verfassungsrichterinnen und -richter können diese Gesetze nur im Hinblick auf das Recht auf Leben und Menschenwürde, Datenschutz, Mei‐ nungs-, Religions- und Gewissensfreiheit oder das ungarische Bürgerschaftsrecht prüfen, also im Hinblick auf solche Rechte, die Fiskalgesetze üblicherweise nicht berühren. Folglich ist der Anspruch, dass die Verfassung das Grundgesetz sei und je‐ den binde, für die Gesetze nicht erfüllt, die nicht kontrollierbar sind. Das wiederum ist offensichtlich ein Bruch der Garantie bezüglich der Wahrung der Menschenwür‐ de, von Freiheit, Gleichheit und des Schutzes der Menschenrechte einschließlich der 11 Zur Krise in Rumänien vgl. Perju 2015, S. 246–278. 12 Für eine ausführliche Diskussion der Gesetze vgl. Bánkuti/Halmai/Scheppele 2012.

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Rechte jener Personen, die einer Minderheit angehören, wie sie im Artikel 2 der im Vertrag über die Europäische Union (EUV) niedergelegt ist. Hinsichtlich der Zuständigkeit des Verfassungsgerichts für ex-post-Kontrollen wird die Wirksamkeit des Schutzes grundlegender Rechte nicht nur durch die Begrenzung des Gegenstandsbereichs gemindert, sondern auch durch die radikale Beschränkung des Personenkreises, der eine Kontrolle durch das Verfassungsgericht herbeiführen kann. Abgeschafft wurde eine der Besonderheiten, die sich während der demokratischen Wende Ungarns etabliert hatte: die Institution der actio popula‐ ris, der zufolge eine Normenkontrollklage von jedermann eingereicht werden konnte – unabhängig von eigener Beteiligung oder selbst erlittenem Unrecht. Während der letzten zwei Jahrzehnte hat es dieses einzigartige Instrument nicht nur Privatleuten, sondern auch NGOs und Lobbygruppen ermöglicht, vor dem Verfassungsgericht im Namen des Gemeinwohls jene gesetzlichen Vorschriften anzufechten, die sie als nicht verfassungsgemäß ansahen. Natürlich ließe sich einwenden, dass ein solches Instrument in keinem anderen demokratischen Staat jemals existierte, gleichwohl hat es zweifellos wesentlich dazu beigetragen, dass jenes Niveau des Schutzes von Grundrechten erreicht wurde, das jetzt abgebaut wird. Abstrakte ex-post-Normenkontrolle gemäß Abschnitt 24, § 2, Absatz e des Grundgesetzes kann künftig nur noch durch die Regierung, ein Viertel der Abgeord‐ neten des Parlaments oder den Kommissar für Grundrechte eingeleitet werden. An‐ gesichts der Machtverteilung im aktuellen Parlament sind solche Eingaben ausge‐ sprochen schwierig, da die Regierung dieses Instrument wohl kaum gegen ihre eige‐ nen Gesetze einsetzen wird. Ein Viertel der Abgeordneten wiederum würde eine Ko‐ alition zwischen den demokratischen Oppositionsparteien und den Rechtsextremen voraussetzen, die die Regierung unterstützen.13 Das Verfassungsgerichtsgesetz wurde im Oktober 2011 als Schwerpunktgesetz verabschiedet. Es besiegelte das Schicksal einiger hundert Einsprüche, die dem Gericht bereits vorlagen. Sie waren als actio popularis von Privatleuten eingereicht worden, die dazu vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes berechtigt waren, aber nun nachträglich dieses Rechts beraubt wurden. Es entstand eine Rückwirkung in malam partem (zum Nachteil der Antragsteller_innen), hier mit dem Effekt, dass das Verfassungsgericht über zuvor eingereichte Einsprüche kein Urteil mehr fällte. Privatleute oder Organisationen dürfen sich fortan nur noch an das Verfassungs‐ gericht wenden, wenn sie selbst Opfer eines konkreten Rechtsbruchs sind, der bereits in einem Verwaltungsverfahren oder einem abschließenden Gerichtsurteil 13 Tatsächlich gab es 2012 solche Einsprüche nur von Seiten des Ombudsmanns, der von ihnen 35 verzeichnete (zwölf Einsprüche waren noch anhängig, 23 waren neu). Das Verfassungs‐ gericht entschied elf der Einsprüche, sechs wurden bestätigt, fünf abgewiesen, 24 harren immer noch einer Entscheidung. Vgl. Ombudsmani indítványok az Alkotmánybíróság előtt. (Einsprüche des Ombudsmanns beim Verfassungsgericht) http://www.jogiforum.hu/hirek/2892 2, download am 8.3.2020.

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festgestellt wurde. In diesen Fällen wird die juristische Wiedergutmachung durch das Verfassungsgericht selbstverständlich auch nur ihnen zuteil. Anders gesagt, die Ausweitung der Möglichkeiten, Verfassungsbeschwerde einzulegen, ist in keiner Weise ein Ersatz für das breit einsetzbare Recht von Privatleuten und Organisatio‐ nen, Einsprüche zu erheben.

2.1.2. Die Vergrößerung des Gerichts Ganz ohne Zweifel wirken sich weit gefächerte Beschwerdemöglichkeiten positive auf die Urteilsfindung in jenen Fällen aus, in denen es um Grundrechte geht und das ist der Fall in Deutschland, Spanien und der Tschechischen Republik. Voraussetzun‐ gen für diesen Effekt sind allerdings, dass das Verfassungsgericht den Grundrechten verpflichtet und von der Regierung unabhängig ist. Die aktuelle ungarische Regie‐ rung hat jedoch seit ihrem Amtsantritt im Mai 2010 alles getan, diese beiden Voraus‐ setzungen zu untergraben. Dies begann mit einer Veränderung des Prozesses zur Er‐ nennung von Verfassungsrichterinnen und -richtern. Ausschließlich die Regierungs‐ parteien hatten die Möglichkeit Richterinnen und Richter zu nominieren und an‐ schließend auch zu ersetzen. In einem weiteren Schritt wurde die Unabhängigkeits‐ garantie abgeschwächt, indem das Grundgesetz die Zahl der Verfassungsrichterinnen und -richter von elf auf 15 erhöhte. Das ermöglichte es fünf weitere Richterposten zu besetzen, nachdem im Mai 2010 bereits zwei Positionen neu besetzt worden wa‐ ren. Die ausgesprochenen Ernennungen erfolgten für die Dauer von nunmehr zwölf statt wie zuvor neun Jahren, sodass die Amtsdauer nun drei ganzen Legislaturperi‐ oden entspricht. Zukünftig wird der Gerichtspräsident beziehungsweise die Ge‐ richtspräsidentin nicht mehr von den Richterinnen und Richtern für drei Jahre ge‐ wählt, sondern vom Parlament für seine beziehungsweise ihre gesamte Amtszeit er‐ nannt. Mit diesen Änderungen wurde nicht bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes am 1. Januar 2012 gewartet. Vielmehr wurden die neuen Mitglieder des Gerichts auf Grundlage des Verfassungszusatzes, der am 6. Juli 2011 verabschiedet worden war, bereits Ende Juli ernannt. Zudem wählte das Parlament denselben Präsidenten wie‐ der, der zuvor von seinen Kolleginnen und Kollegen gewählt worden war.14

2.1.3. Der Bedeutungsverlust des Fallrechts Am 11. März 2013 erließ das Ungarische Parlament einen vierten Zusatz zur Verfas‐ sung von 2011. Dieser setzte eine ganze Reihe umstrittener Vorschriften wieder in Kraft, die zuvor vom Verfassungsgericht aufgehoben worden waren. Zugleich wur‐ 14 Vgl. http://www.parlament.hu/irom39/03199/03199.pdf, download am 8.3.2020.

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den so Forderungen der Europäischen Union, des Europäischen Rats und der USRegierung zurückgewiesen, die die Regierung gedrängt hatten, die Meinung der Ve‐ nedig-Kommission einzuholen, bevor sie den Zusatz erlasse. Die bedenklichste Ver‐ änderung hob alle Urteile des Verfassungsgerichts aus der Zeit vor dem Grundgesetz auf. In einer gewissen Hinsicht ergibt das Sinn: alte Verfassung = alte Urteile, neue Verfassung = neue Urteile. Doch das Verfassungsgericht hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine neue sinnvolle Regel für den Übergang zwischen Verfassungen ent‐ wickelt. Es hatte entschieden, dass in den Fällen, in denen die Sprache der alten und der neuen Verfassung keinen wesentlichen Unterschied aufwies, die Meinungen des vorhergehenden Gerichts gültig blieben und weiter anwendbar waren. In Fällen je‐ doch, in denen die neue Verfassung substantiell abwich, würden die alten Entschei‐ dungen keine Verwendung mehr finden. In der Verfassung niedergelegte Rechte sind zentrale Vorschriften, bei denen in der neuen kein Unterschied zur alten Verfassung besteht. In der Praxis heißt das, dass der vierte Verfassungszusatz vor allem die Ent‐ scheidungen aufhob, die die in der Verfassung garantierten Rechte und die Harmoni‐ sierung des nationalen Schutzes von Rechten mit der europäischen Menschenrecht‐ sprechung betrafen. Mit der Aufhebung dieser fundamentalen Verfassungsgerichts‐ entscheidungen hat die Regierung die Rechtssicherheit im Hinblick auf den Schutz jener Rechte untergraben, die in der ungarischen Verfassung garantiert sind. Dieser Schritt untermauerte die bereits bestehenden Zweifel an Ungarn als liberalem Ver‐ fassungsstaat sowie daran, dass Ungarn seine internationalen Verpflichtungen aus den Europäischen Verträgen und gemäß der Europäischen Menschenrechtskonventi‐ on einzuhalten gewillt ist.

2.2. Demontage vs. Politischer Konstitutionalismus Die Demontage verfassungsgerichtlicher Kontrolle ist kein rein ungarisches Phäno‐ men. Jaroslavs Kaczynskis „Partei für Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) und ihre Regierung in Polen bedienten sich erfolgreich der ungarischen Strategie zum Ab‐ bau verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Nach dem Wahlsieg in der polnischen Parla‐ mentswahl 2015 folgte die Regierungspartei PiS Viktor Orbáns Vorbild und begann als erstes damit, den Verfassungsgerichtshof zu „übernehmen“. Aber der Konflikt zwischen PiS und dem Verfassungsgerichtsgerichtshof begann bereits 2007, als das Gericht wesentliche Teil der gesetzgeberischen Agenda der PiS aufgehoben hatte – darunter die Einschränkung der Privatsphäre von staatlichen Beamtinnen und Be‐ amten durch das „Durchleuchtungsgesetz“, das deren Kontakte zur Staatssicherheit

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während des Sozialismus aufdecken sollte, sowie Beschränkungen der Rede- und Versammlungsfreiheit.15 Die Regierungsmehrheit verabschiedete einen Zusatz zur Organisation des Ge‐ richtshofs, der verlangte, dass von den insgesamt 15 Richterinnen und Richtern statt wie bisher neun nun 13 bei einer Entscheidung anwesend sein müssen. Im Gegensatz zur bis dahin gültigen einfachen Mehrheit mussten nun Entscheidungen mit einer Zweidrittelmehrheit getroffen werden. Mit fünf neuen Richterinnen und Richtern und dem Richter, der bereits in ihrer vorangegangenen Regierungsperiode der PiS von 2005 bis 2007 gewählt und ernannt worden war, wäre es für den Gerichtshof so gut wie unmöglich geworden, die Zweidrittelmehrheit zu erreichen, die nötig ist, um ein neues Gesetz zu verwerfen. Die sechsköpfige PiS-Fraktion zusammen mit dem neuen Quorum und Mehrheitsregeln wäre ausreichend gewesen, um das Gericht außer Gefecht zu setzen. Zusätzlich ist das Gericht bei der Behand‐ lung der Fälle an die Reihenfolge ihres Eingangs gebunden. Das bedeutet, es muss alle offenen Fälle behandeln, die größtenteils Gesetze betreffen, die von vorigen Parlamenten verabschiedet wurden, bevor sie sich mit denen befassen kann, die der neue Sejm erlassen hat. Aus demselben Grund legt der Zusatz fest, dass keine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes getroffen werden kann, bevor das Gesetz sechs Monate in Kraft war. Disziplinarische Maßnahmen gegen Richterinnen und Richter können zukünftig vom Präsidenten der Republik oder dem Justizminister eingeleitet werden. Das gibt PiS-loyalen Amtsträgern die Möglichkeit die Absetzung von Richterinnen und Richtern in Gang zu setzen. Anfang März 2016 erklärte der Verfassungsgerichtshof dann alle Bestimmungen des Gesetzes für ungültig, die seine Kompetenzen einschränkten. Die Regierung er‐ klärte umgehend, dass sie den Beschluss nicht veröffentlichen würde, da das Gericht unter Missachtung gerade desjenigen Gesetzes geurteilt habe, das es außer Kraft setzte. Nach polnischem Recht wird ein Urteil des Gerichts mit seiner Veröffentli‐ chung wirksam. Wird das Urteil nicht veröffentlicht, kann es also nicht wirksam werden. Als Reaktion auf das (Nicht-)Handeln der Regierung, verabschiedete die Generalversammlung der Richterinnen und Richter an Polens Oberstem Gericht eine Resolution, dass die Urteile des Verfassungsgerichtshofs auch dann zu respek‐ tieren seien, wenn die Regierung den Inhalt bestimmter Entscheidungen anzweifelt. Die Stadträte von Warschau, Lodz und Poznan haben entschieden, die Urteile des Verfassungsgerichtshofs anzuerkennen, auch wenn diese von der Regierung nicht veröffentlicht werden.16 Ende 2016 erließ das polnische Parlament dann drei Gesetze, die es dem Staats‐ präsidenten erlaubten, einen kommissarischen Präsidenten des Verfassungsgerichts‐ 15 Zur Schlacht um den polnischen Verfassungsgerichtshof vgl. Koncewicz 2015. 16 Vgl. http://www.thenews.pl/1/9/Artykul/250415,Polands-Supreme-Court-opposes-government -in-constitutional-wrangless, download am 8.3.2020.

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hofs zu benennen, der den scheidenden Gerichtspräsidenten ersetzte. Die erste Amtshandlung des neuen Interimspräsidenten, war es den drei sogenannten „Ge‐ genrichtern“, die die PiS-Mehrheit im Seim ohne gesetzliche Grundlage gewählt hatte, die Amtsausübung zu gestatten, die vom alten Gerichtspräsidenten ausgesetzt worden war. Damit konnten sie an der Versammlung zur Nominierung des neuen Staatspräsidenten teilnehmen, der seinerseits den kommissarischen Präsidenten als neuen Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs bestätigte. Damit war der Verfas‐ sungsgerichtshof gekapert. Wojciech Sadurski nannte das einen verfassungsrechtli‐ chen Staatsstreich.17 Der nächste Schritt dieses Staatsstreichs war es, die richterliche Unabhängigkeit vollkommen zu zerstören. Im Fokus standen dabei vor allem das Oberste Gericht, die gewöhnlichen Gerichte und der Landesrat für Gerichtswesen.18 Obwohl sowohl die ungarische als auch die polnische Demontage verfassungsge‐ richtlicher Kontrolle die Rolle politischer Institutionen, wie die Gesetzgebungsorga‐ ne, vor allem aber die Exekutive, auf Kosten der Judikative stärkte, können diese Entwicklungen nicht als Ausdruck eines politischen, auf den philosophischen Repu‐ blikanismus gestützten Konstitutionalismus gewertet werden. Auch sind sie kein Ausdruck der Zurückweisung starker Versionen verfassungsgerichtlicher Kontrolle. In Ungarn und Polen haben einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber auch Verfassungsrichterinnen und ‑richter versucht, die neue Verfassungsordnung als Übergang vom rechtlichen zum politischen Konstitutionalismus zu deuten. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei schlicht und ergreifend um Versuche, das Mund‐ todmachen verfassungsgerichtlicher Kontrolle zu legitimieren. Einer der „Pseudo‐ richter“ des polnischen Verfassungsgerichtshofs, der verstorbene Lech Morawski, hob die republikanischen Traditionen sowohl in Ungarn als auch Polen hervor und verwies auf Michael Sandel, Philip Petit und Quentin Skinner.19 Auch der Verfas‐ sungsrechtler Adam Czarnota erläuterte, dass die Notwendigkeit von Veränderungen bestehe, weil „der rechtliche Konstitutionalismus die Bürgerinnen und Bürger der Verfassung entfremde“. 20 In Ungarn sprach sich István Stumpf – Verfassungsrichter, der ohne vorherige Konsultation mit den Oppositionsparteien unmittelbar nach dem Regierungsantritt 2010 von der FIDESZ nominiert worden war und nur mit den Stimmen der Regierungsparteien gewählt wurde – nicht nur für einen starken Staat aus, sondern beurteilte die Veränderungen auch als eine Ausweitung des politischen

17 Zit. n. Steinbeis 2016. 18 Der begründete Vorschlag der Europäischen Kommission zur Annahme eines Beschlusses nach Art. 7 Abs. 1 bezüglich der Rechtsstaatlichkeit in Polen vom 20. Dezember 2017 emp‐ fiehlt dem Rat, Polen aufzufordern, die Unabhängigkeit und Legitimität des Verfassungsge‐ richtshofs als Garantieinstanz der polnischen Verfassung wiederherzustellen sowie die richter‐ liche Unabhängigkeit sicherzustellen. Vgl. Europäische Kommission, Brüssel, 20.12.2017 COM(2017) 835, 2017/0360 (APP). 19 Morawski 2017. 20 Czarnota 2017.

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Konstitutionalismus.21 In der akademischen Literatur vertrat Attila Vincze die Auf‐ fassung, es sei ein Zeichen für die Dominanz des politischen über den legalen Konstitutionalismus, dass der Verfassungsgerichtshof entschieden habe, dem vierten Zusatz zum Grundgesetz zuzustimmen,22 der – wie gesagt –unter anderem das gesamte Fallrecht entwertete, das sich aus den Entscheidungen des Gerichts vor der Gültigkeit der neuen Verfassung ergab. Anhänger des politischen Konstitutionalismus, wie Richard Bellamy, Jeremy Waldron, Akhil Amar, Sandy Levinson und Mark Tushnet, so verschieden ihre Positionen untereinander auch sind, betonen die Rolle gewählter Körperschaften im Gegensatz zu Gerichten bei der Umsetzung und dem Schutz einer Verfassung. Aber keiner von ihnen weist die Grundprinzipien der rechtsstaatlichen Demokratie so zurück, wie das bei den Populisten der Fall ist. Selbst Richard D. Parker, der ein „Manifest des verfassungskonformen Populismus“ veröffentlichte, wollte damit nur die für das Verfassungsrecht grundlegende Idee infrage stellen, „dass die Beschrän‐ kungen, die die Verfassung der öffentlichen Gewalt auferlegt, eher dazu dienen, die Auswirkungen der politischen Energien der Bevölkerung einzuhegen, statt sie zu befördern, aufzustacheln und zu entfesseln“.23 Ebenso haben auch jene nichts mit dem populistischen Konstitutionalismus zu tun, die für den Konstitutionalismus ein neues Modell vorschlagen, das auf der Bera‐ tung zwischen Gerichten und dem Gesetzgeber beruht und dabei dem Gesetzgeber das letzte Wort vorbehalten.24 Von diesen Wissenschaftlern wurde beobachtet, dass die Souveränität der Parlamente – sei es rechtlich oder politisch – tendenziell immer weiter eingeschränkt wird und dass in den letzten Jahrzehnten die Reichweite, mit der die traditionelle pouvoir constitutent, im Sinne eines unumschränkten „Willens 21 Vgl. Stumpf 2014, S. 244–249. 22 Vincze 2013. 23 Parker 1993, S. 531. In seiner Deutung von Thomas Manns 1929 geschriebener Novelle Mario und der Zauberer zieht Parker den Schluss für die Gegenwart, dass „sich alles darum dreht, hinaus zu gehen und selbst an der Politik teilzunehmen, nicht indem man von einem ‚erhabe‐ nen‘ Podest herabschaut, sondern auf einer Ebene mit all den anderen gewöhnlichen Men‐ schen“. (Parker 1993, S. 583.) Eine ähnliche Botschaft lässt sich aus einem Interview mit Mark Lilla, einem konservativ-liberalen Professor an der Columbia Universität in New York, herauslesen. Einen Tag nach Donald Trumps erfolgreicher Wahl zum Präsidenten erklärte Lil‐ la: „Eine der vielen Lehren aus der jüngsten Präsidentschaftswahl und ihrem abscheulichen Er‐ gebnis ist, dass mit dem auf Identitäten setzende Liberalismus Schluss sein muss.“ (Lilla 2016.) In einem späteren Interview zu den wirksamsten Waffen gegen den Populismus des Prä‐ sidenten betonte er, wie bedeutsam es sei, dass dessen Gegnerinnen und Gegner zusammenfin‐ den: „[W]ir müssen die Rhetorik des Unterschieds überwinden, um daran zu appellieren, was wir gemeinsam haben.“ (Remnick 2017.). 24 Vgl. zu diesem Modell Gardbaum 2013. Das Modell wird auch unter verschiedenen ande‐ ren Bezeichnungen diskutiert: „schwache Form der richterlichen Normenkontrolle“ (Tushnet 2003) oder bloß „schwache richterliche Normenkontrolle“ (Waldron 2006), „das paralamen‐ tarische Grundrechtsmodell“ (Hiebert 2006), „Modell des demokratischen Dialogs“ (Young 2009), „dialogische richterliche Normenkontrolle“ (Roach 2004) oder „gemeinschaftliche Ver‐ fassung“ (Kavanaugh 2003).

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des Volkes“, ausgeübt werden konnte, immer weiter abnahm – und das selbst in den Fällen eines Systemwechsels oder der Einführung von inhaltlich und formal neuen Verfassungsordnungen.25 Anders als bei diesen neueren Überlegungen entscheidet in der ungarischen Verfassungsordnung die parlamentarische Mehrheit jede einzelne Frage nicht nur ohne jeden Dialog, sondern es gibt in der Praxis auch gar keine Partner für einen solchen Dialog mehr, da die Unabhängigkeit sowohl der normalen Gerichte als auch des Verfassungsgerichts abgeschafft wurde. Im Anschluss an die Theorie von Tamás Györfi gibt es drei verschiedene For‐ men einer schwachen richterlichen Normenkontrolle: Jeder von ihnen fehlt, was die starke verfassungsrechtliche Normenkontrolle ausmacht, aber alle wollen eine Balance zwischen der Demokratie und einem Schutz der Menschenrechte erreichen, der sich von jener Balance unterscheidet, die der „neue Konstitutionalismus“ mit seiner starken verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle hervorbringt.26 Erstens ist die richterliche Normenkontrolle eingeschränkt, wenn – wie im Fall Australiens – die Verfassung keinen Menschenrechtskatalog enthält. Zweitens ist die richterliche Normenkontrolle nachgeordnet, wenn sich die Gerichte der Meinung der gewählten Gewalten beugen – wie in den skandinavischen Verfassungen – oder sogar – wie in Schweden und Finnland – durch die Verfassung dazu gezwungen sind. Schließlich und wahrscheinlich am bedeutsamsten ist die Einschränkung im CommonwealthModell richterlicher Normenkontrolle, in dem Gerichte zwar die Gesetzgebung prü‐ fen dürfen, der Gesetzgeber aber die Möglichkeit hat, sich über die Entscheidungen der Gerichte hinwegzusetzen oder diese zu ignorieren.27 Meiner Meinung nach passt das ungarische Modell zu keinem dieser Konzepte einer schwachen richterlichen Normenkontrolle, insofern es deren Ziel ist, die De‐ mokratie und den Schutz der Grundrechte auszubalancieren. Wie ich zu zeigen versuchte, erfüllen die Systeme Ungarns und Polens nicht die Anforderungen an eine rechtsstaatliche Demokratie. Folgerichtig wollen sie die Macht der Regierung nicht beschränken, befolgen nicht die Regeln der Rechtsstaatlichkeit und garantieren keine Grundrechte. Ihre Verfassungsordnung kann nicht als monistische Demokra‐ tie gewertet werden, die der demokratischen Entscheidungsfindung im Verhältnis zu den Grundrechten einfach Vorrang einräumt.28 Das heißt, die neue ungarische Verfassung und die polnische Verfassungswirklichkeit genügen keiner der oben 25 Fusaro/Oliver 2011. 26 Vgl. Györfi 2016. 27 Vgl. Gardbaum 2013. Auf ähnliche Weise hat David Prendergast in dieser Frage dafür plädiert, dass die Gerichte als Partner des Gesetzgebers politische Prozesse garantieren, statt Rechte oder Interessen im Allgemeinen zu schützen. (Vgl. Prendergast 2019, S. 245–262.). 28 Bruce Ackerman unterscheidet zwischen drei Modellen der Demokratie: monistisch, rechts‐ fundamentalistisch – hier stehen die Grundrechte moralisch über der demokratischen Entschei‐ dungsfindung und setzen ihr Grenzen – und dualistisch. Das dualistische Modell stellt einen Kompromiss in Bezug auf die beiden Extreme dar. Es unterwirft Mehrheitsentscheidungen verfassungsrechtlichen Garantien.

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diskutierten Regierungsformen, die auf einem anderen Verständnis der Gewalten‐ teilung beruhen. Die eher traditionellen Regierungsformen gehen vom Verhältnis von Gesetzgeber und Exekutive aus. Beispielsweise unterscheidet Arendt Lijphart zwischen Mehrheits- und Konsensmodellen der Demokratie. Prototyp der ersten ist das britische Modell, Prototyp der zweiten ist hingegen der kontinentaleuropäische Parlamentarismus und das Präsidialsystem der Vereinigten Staaten von Amerika.29 Giovanni Sartori spricht von Präsidial- und Halbpräsidialverfassungen sowie von zwei Formen des Parlamentarismus – namentlich vom Premierministersystem Groß‐ britanniens beziehungsweise von der bundesdeutschen Kanzlerdemokratie auf der einen Seite und vom italienischen Modell der regierenden Plenarsammlung auf der anderen.30 Bruce Ackerman verwendet neben dem Westminster- und dem US-ame‐ rikanischen Modell der Gewaltenteilung auch einen eingeschränkten Parlamentaris‐ mus als neue Form, die sich gegen die Ausbreitung des amerikanischen Systems herausgebildet hat und sich auf Deutschland, Italien, Japan, Indien, Kanada, Süd‐ afrika und andere Länder als Vorbild bezieht. In dieser Form beschränken sowohl Volksentscheide als auch Verfassungsgerichte die Macht des Parlaments.31 Von 1990 bis 2010 gehörte Ungarn, das sich der deutschen Kanzlerdemokratie angenähert hatte, zu den auf Konsens orientierten Systemen des eingeschränkten Parlamentarismus. Aber das Grundgesetz von 2011 schaffte fast alle Möglichkei‐ ten ab, institutionell einen Konsens zu bilden und die Macht des Parlaments zu beschränken. Stattdessen hat sich das System in Richtung eines Modells absoluter Parlamentssouveränität bewegt, jedoch ohne die kulturellen Beschränkungen, die für die Regierungen in Westminster kennzeichnend sind. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten auch das traditionelle britische System des Konstitutionalismus dramatischen Veränderungen unterworfen war, nachdem links‐ gerichtete Regierungen in Kanada (1982), in Neuseeland (1990), in Großbritannien (1998), im Australian Capital Territory (2004) und im australischen Bundesstaat Victoria (2006) Grundrechtskataloge einführten (die von den rechtsgerichteten Op‐ positionsparteien abgelehnt wurden). Im Gegensatz zum traditionellen Commonwealth-Modell des Konstitutionalismus kennt das neue Commonwealth-Modell kodifizierte Grundrechte, die der Gesetzge‐ bung Grenzen setzen. Allerdings liegt das letzte Wort bei der Regierung, die poli‐ tisch in Haftung genommen werden kann. So gesehen unterscheidet sich das neue Commonwealth-Modell sowohl vom Ansatz einer juristischen Letztentscheidungs‐ gewalt der US-amerikanischen Gewaltenteilung als auch vom Modell des einge‐ schränkten Parlamentarismus in Europa. Die größte Veränderung fand im Vereinig‐ ten Königreich statt, sodass manche sogar vom „Untergang des Westminstermo‐ 29 Vgl. Lijphart 1999. 30 Sartori 1997. 31 Ackerman 2000.

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dells“ sprechen.32 Die deutlichste Abweichung vom System der uneingeschränkten parlamentarischen Souveränität war die Einführung der juristischen Normenkontrol‐ le. In nur etwas mehr als zwei Jahrzehnten vervierfachte sich bis zum Jahr 2000, dem Jahr, in dem der Human Rights Act 1998 in England und Wales in Kraft trat, die Zahl der eingereichten Normenkontrollklagen beinah auf 3.400 Fälle.33 Der Hu‐ man Rights Act schreibt allgemein vor, dass die gesamte Gesetzgebung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sein soll. Damit können Gerich‐ te in Großbritannien Klagen nicht einfach niederschlagen, die Konvention „nicht an‐ wenden“ oder einfach neues Recht setzen. Stattdessen können die oberen Gerichte nach § 4 Satz 2 des Human Rights Act die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit den Rechten erklären, die in der Konvention niedergelegt sind. In einem solchen Fall ist es an Regierung und Parlament, das weitere Vorgehen festzulegen. In dieser Hinsicht wurde die gesetzgeberische Souveränität des britischen Parlaments gewahrt. Einige Verfassungsrechtler argumentieren aber, dass – obschon nach den Buchstaben des Verfassungsrechts das Parlament seine Souveränität gewahrt haben mag – es in der Verfassungswirklichkeit einen beträchtlichen Teil seiner Macht praktisch an die Ju‐ dikative übertragen hat.34 Andere gehen sogar noch weiter und behaupten, dass – obwohl der Human Rights Act von 1998 vorgibt, Menschenrechte mit der Souverä‐ nität des Parlaments zu versöhnen – er in Wirklichkeit politische Macht der Exekuti‐ ve und Legislative in zuvor ungekanntem Ausmaß auf die Judikative übergehen ließ.35 Außer in den erwähnten Ländern des Commonwealth hat sich ein entsprechendes Modell auch in Israel etabliert, wo das 1994 in Kraft getretene Grundgesetz über die Freiheit der Berufswahl eine Vorrangklausel enthält, die der kanadischen ähnelt. Das neue Konstitutionalismusmodell im Commonwealth beruht auf dem Dialog zwischen den Gerichten und dem Parlament. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Die Überbleibsel der verfassungsrechtli‐ chen Normenkontrolle in Ungarn (und Polen) haben nichts mit irgendeiner Form des politischen Konstitutionalismus oder mit einem schwachen Ansatz juristischer Normenkontrolle zu tun. Beiden liegt nämlich in jedem Fall ein anderes Modell der Gewaltenteilung zugrunde. Die autoritäre ungarische (und polnische) Verfassungs‐ ordnung folgt am ehesten Carl Schmitts Kritik des liberalen Konstitutionalismus und der Konzeption des Rechtsstaats.36 Der Staat und seine Verfassung beruht für Carl Schmitt auf der Homogenität und Identität des Volkes mit sich selbst. Sie sind die Garantie für den Bestand des Staates. Letzten Endes beruht jede Verfassungsordnung 32 33 34 35 36

Norton 2003. Judge 2004, S. 691. Ewing 1999. Flinders 2002. Wie Heiner Bielefeld gezeigt hat, untergräbt Carl Schmitt das liberale Rechtsstaatsprinzip sys‐ tematisch. Vgl. Bielefeld 1996, S. 379–396.

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auf einer willkürlichen Ausübung von Macht, die sie hervorbringt. Die absolute Autorität des politischen Volkswillens setzt sich über alle verfassungsrechtlichen Festlegungen hinweg, die für Schmitt Anzeichen der Entpolitisierungstendenzen in liberalen Demokratien sind. Das ist der Grund, warum er den Begriff des Politi‐ schen37 auf der Freund-Feind-Unterscheidung aufbaut, die das genaue Gegenteil der liberalen Neutralität ist.38 Mit anderen Worten, nach Schmitt beruht die Verfassung „auf einer, aus politi‐ schem Sein hervorgegangenen politischen Entscheidung über die Art und Norm des eigenen Seins“, die das Volk als „politische Einheit“ auf der Grundlage seines freien Willens fällt. „Neben und über der Verfassung bleibt dieser Wille bestehen.“39 Schmitt stellt also das Volk im Gegensatz zur bloßen liberalen Repräsentation der Wählerinnen und Wähler im Parlament als existenzielle Wirklichkeit dar. Mussolini sei deshalb eine authentische Inkarnation der Demokratie gewesen. Schmitt geht soweit, die Unvereinbarkeit von Liberalismus und Demokratie zu behaupten und die plebiszitäre Demokratie, die auf der Homogenität der Nation beruht, als einzig wahre Form der Demokratie gelten zu lassen. Aber Schmitt spricht von diesen gelegentlichen Volksentscheiden als einem Mittel, dessen sich der starke „totale Staat“ von Zeit zu Zeit bedienen muss, um die Zustimmung der Regierten als Ressource zu mobilisieren, auch wenn er sich „auf die Kräfte des Heeres oder des Beamtentums stützen“ kann und die Existenz einer politischen Opposition nicht duldet.40 Mit anderen Worten: Der starke Staat kann nicht liberal sein und eine Kontrolle seiner Exekutive – etwa durch ein Verfassungsgericht – zulassen.41 Wie Matthias Kumm analysiert, verfestigt sich Schmitts Deutung der Demokra‐ tie, die von Rousseau inspiriert ist und von der autoritäre Nationalpopulisten wie Viktor Orbán unter der Bezeichnung „illiberale Demokratie“ Gebrauch machen, zu einer gegen den Konstitutionalismus gerichteten Figur.42 Der ungarische Politikwis‐ senschaftler András Körösényi nennt das Orbán-Regime unter Rückgriff auf Max Weber eine „plebiszitäre Führerdemokratie“, in der das Handeln des „Führers“ im Nachhinein durch das Volk bestätigt wird. Da diese Bestätigung auch verweigert

37 Schmitt 1963. 38 Vgl. Bielefeld 1997, S. 67. 39 Schmitt 2011 (1928), S. 76 f. Diese Vorstellung teilt auch ein Teil der französischen Verfas‐ sungsrechtslehre, die von Rousseaus volonté générale beeinflusst ist. Deshalb sind die Vertre‐ terinnen und Vertreter dieser Lehre der Überzeugung, dass in einer konstitutionellen Über‐ gangsphase ein Referendum ausreichend ist, um eine neue Verfassung zu legitimieren. Erinnert sei nur an die Bestätigung von De Gaulles Zusatz zur Verfassung von 1958 aus dem Jahr 1962 durch den französischen Verfassungsrat, die sich über alle Vorschriften für Verfassungszusätze hinwegsetzte. 40 Schmitt 2012, S. 87. Vgl. auch Somek 2003, S. 375, der sich auf diese Stelle bezieht. 41 Zum Revival von Carl Schmitt in Ungarns Politischer Theorie und Verfassungslehre vgl. Antal 2017 und Balázs 2014, S. 5–26. 42 Kumm 2017.

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werden könne, handle es sich aber immer noch um ein demokratisches System.43 Im Unterschied dazu charakterisierte Wojciech Sadurski unter Verwendung von Guiller‐ mo O’Donnells Begriff der „delegierenden Demokratie“ (delegative democracy) das polnische System nach 2015 als „plebiszitäre Autokratie“, in der die Wählerschaft der Regierung zustimmt, wenn diese die Verfassung missachtet.44 In Ungarn wird aber sogar die Zustimmung bei Wahlen manipuliert, sodass auch der formal demo‐ kratische Charakter des Regimes bezweifelt werden darf. Larry Diamond bezeichne‐ te deshalb Ungarn als eine „Pseudodemokratie“.45

3. Schlussfolgerungen Nach dem Übergang zur Demokratie im Jahre 1989 wurde in Ungarn (und Polen) ausgehend von den Überlegungen Hans Kelsens eine verfassungsgerichtliche Nor‐ menkontrolle etabliert. Aber während Kelsen vermeiden wollte, dass die Verfas‐ sungsgerichte eine politische Rolle spielten, war das ungarische Verfassungsgericht zumindest in seinem ersten Jahrzehnt aufgrund seiner breit gefächerten Rechtspre‐ chung und seiner ziemlich ausgeprägten Rechtsfortbildung ein politischer Akteur. Das Regierungssystem in Ungarn wurde ab 2010 (in Polen was das betrifft ab 2016) populistisch, illiberal und undemokratisch.46 Das wurde von Premierminister 43 Vgl. Körösényi 2017, S. 7-28. In einem neueren Interview hat Körösényi jedoch eingestanden, dass für eine solche Verweigerung der Zustimmung gegenwärtig ein Wunder nötig wäre. Vgl. Körösényi 2019. 44 Vgl. Sadurski 2019. S. 242-243. In ähnlicher Weise schlägt Juan José Linz vor, für die Be‐ schreibung solcher Herrschaftsformen eher von einem näher zu kennzeichnenden „Autoritaris‐ mus“ als von einer Form der „Demokratie“ zu sprechen. Das soll Missverständnissen vorbeu‐ gen. Ein Beispiel für eines solche Kennzeichnung wäre „Wahlautoritarismus“ (electoral autho‐ ritarianism). Vgl. Linz 2000, S. 34. Auch Larry Diamond bezieht sich auf den „Wahlautorita‐ rismus“ von hybriden Herrschaftsformen. Vgl. Diamond 2002, S. 24. 45 „Die Probe auf die Demokratie ist nicht, ob die Wirtschaft wächst, Arbeitslosenzahlen sinken oder mehr Paare heiraten, sondern ob Menschen ihre Regierungen in freien und fairen Wahlen wählen und wechseln können. Es ist diese Probe, der Ungarns politisches System gegenwärtig nicht standhält. Als Viktor Orbán und seine Fidesz Partei 2010 mit einer parlamentarischen Zwei-Drittel-Mehrheit wieder an die Macht kamen, gingen sie daran, die in der Verfassung verankerten Säulen der liberalen Demokratie zu zerstören. […] Bei den Wahlen von 2014 hatte Orbán das Wahlsystem bereits manipuliert. Ja, es gab weiterhin Mehrparteienwahlen, aber sei‐ ne systematische Abwertung der Kontrollinstanzen und der Gewaltenteilung verzerrte den Wettbewerb so, dass er seine Zwei-Drittel-Mehrheit erneuern konnte, ohne bei den Wahlen eine Mehrheit der Stimmen zu gewinnen (und genauso 2018) […] Orbán hat Ungarn nicht in eine illiberale Demokratie verwandelt, sondern in eine Pseudodemokratie.“ (Diamond 2019.) In ähnlicher Weise argumentierten jüngst Steven Levitsky und Lucan Way: „Klarerweise ist Ungarn keine Demokratie. Aber um zu verstehen, warum das so ist, ist ein nuanciertes Ver‐ ständnis der Trennlinie zwischen Demokratie und Autoritarismus von Nöten. […] Orbáns Un‐ garn ist ein Paradebeispiel für eine Wettbewerbsautokratie ohne gleiche Ausgangsbedingun‐ gen.“ (Levitsky/Way 2019.) Vgl. auch Bozóki/Hegedűs 2018, S. 1173. 46 Wie Jan-Werner Müller zurecht festhält, ist es nicht nur der Liberalismus, der in diesen beiden Ländern unter Beschuss geraten ist, sondern die Demokratie selbst. Daher sollten sie – statt

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Orbán offen als Ziel ausgegeben.47 (Vergleichbar beschrieb die ehemalige polnische Premierministerin Beata Szydło – mit Kaczyński, der im Hintergrund die Fäden zog, weil er kein offizielles Amt bekleidete – ihre Handlungen als Blitzkrieg zur Durchsetzung des illiberalen Staates.48) Dieses Abtrünnig-Werden wurde mithilfe von „missbräuchlichen“ Verfassungsinstrumenten vollzogen: Verfassungszusätzen und sogar ‑änderungen, weil sowohl die inneren als auch die äußeren Verteidigungs‐ mechanismen gegen einen Missbrauch von Verfassungsinstrumenten versagten.49 Die inneren – unter ihnen in allererster Linie die Verfassungsgerichte – versagten, weil es den neuen Regimen gelang, die Ermächtigung dieser Gerichte zu ihrer Kontrolle aufzuheben. Die internationalen, etwa die EU-Mechanismen, scheiterten vor allem am Fehlen eines gemeinsamen politischen Willens, sie in Gang zu setzen. In einem solchen populistischen, illiberalen System existieren die Institutionen des Verfassungsstaats, wie die Verfassungsgerichte, fort, aber ihre Macht ist äußerst als „illiberale Demokratien“ bezeichnet zu werden – als illiberale und „undemokratische“ Regierungsformen beschrieben werden. (Vgl. Müller 2016.) 47 In einer Rede, die Orbán am 26. Juli 2014 vor Angehörigen der ungarischen Volksgruppe im benachbarten Rumänien hielt, erklärte er seine Absicht, Ungarn in einen Staat zu verwandeln, der „das Odium angenommen hat, der Tatsache Ausdruck zu verleihen, dass er seiner Natur nach nicht liberal ist“. Vorbilder nennend fügte er hinzu: „Wir haben die liberalen Methoden und Prinzipien aufgegeben, die die Gesellschaft organisieren – und auch die liberale Art, auf die Welt zu blicken. […] Heute sind Singapur, China, Indien, die Türkei, Russland die Stars in internationalen Analysen […] und wenn wir daran zurückdenken, was wir in den letzten vier Jahren getan haben und was wir in den kommenden vier Jahren tun werden, dann kann das tatsächlich von diesem Standpunkt aus verstanden werden. Wir […] trennen uns von westeuro‐ päischen Dogmen, machen uns selbst von ihnen unabhängig […] Wenn wir zivilgesellschaftli‐ che Organisationen in Ungarn betrachten […] haben wir es hier mit bezahlten politischen Akti‐ visten zu tun. […] [S]ie würden gern Einfluss haben […] auf das öffentliche Leben in Ungarn. Es ist deshalb entscheidend, dass wir – wenn wir unseren Nationalstaat an der Stelle des libera‐ len Staates neu organisieren wollen – deutlich machen sollten, dass es sich nicht um Zivilisten handelt […] die sich uns entgegenstellen, sondern um politische Aktivisten, die versuchen, ausländische Interessen zu propagieren. […] Es geht um die laufende Umorganisation des un‐ garischen Staates. Im Gegensatz zur Organisationslogik des liberalen Staates aus den letzten zwanzig Jahren, entspringt die Organisation dieses Staates den nationalen Interessen.“ (Der vollständige Text von Viktor Orbáns Rede ist hier zu finden: http://budapestbeacon.com/public -policy/full-text-of-viktor-orbans-speech-at-baile-tusnad-tusnadfurdo-of-26-july-2014/, download am 8.3.2020.) 48 Sierakowski 2016. 49 Die Begrifflichkeit des „missbräuchlichen Konstitutionalismus“ wurde von David Landau un‐ ter Verweis auf Kolumbien, Venezuela und Ungarn eingeführt. (Vgl. Landau 2013.) Miss‐ bräuchliche Verfassungsinstrumente sind von Anbeginn des Konstitutionalismus bekannt. Die jüngsten Vorgänge um den polnischen Verfassungsgerichtshof erinnern an die Jahre nach Jef‐ fersons Wahl als erster Präsident der USA, der zu den Anti-Federalists gehörte. Am 2. März 1801, dem vorletzten Tag seiner Präsidentschaft, ernannte Präsident Adams Richter, die mehr‐ heitlich Federalists waren. Der federalistische Senat bestätigte sie am nächsten Tag. Als Reak‐ tion darauf überzeugte Johnson nach seiner Amtsübernahme den neugewählten anti-federalisti‐ schen Kongress, die Sitzungsperioden des Obersten Gerichts, die im Juni und Dezember dieses Jahres stattfinden sollten, aufzuheben. Zudem zog der Kongress ein Gesetz zur Schaffung neu‐ er Bundesrichterstellen zurück, das der vorherige Kongress beschlossen hatte. Schließlich be‐ gann der anti-federalistische Kongress Amtsenthebungsverfahren gegen einige der federalisti‐ schen Richter. Zur Wahl von 1800 und ihren Nachwehen vgl. Ackerman 2007.

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beschränkt. Ebenso werden die Grundrechte, wie in vielen illiberalen Ordnungen, in der Verfassung aufgeführt, aber die institutionellen Garantien dieser Rechte sind durch das Fehlen eines unabhängigen Verfassungsgerichts bedroht. Und das hat nichts mit einem politischen Konstitutionalismus oder dem Konzept einer schwa‐ chen Normenkontrolle zu tun. Es verweist nur auf die autoritären Ambitionen der politischen Führung dieser Länder, ihre schmittianisch unkontrollierte Macht so lange wie möglich zu erhalten. In einem solchen autoritären System können Verfas‐ sungsgerichte keine Rolle spielen. Aus dem Englischen von Christian Schmidt.

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Marina Martinez Mateo Autoritärer Neoliberalismus und Verfassungsgebung in Chile. Überlegungen zum Verhältnis von Diktatur und Rechtsstaat

Im Oktober 2019 entzündeten sich in Chile Proteste, die mit rasanter Geschwindig‐ keit zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen eskalierten, die das Land seit der Militär‐ diktatur nicht mehr gesehen hatte. Panzer fuhren auf der Straße, es gab eine nächtli‐ che Ausgangssperre und Demonstrierenden wurde ins Gesicht geschossen – mehr als dreißig Tote gab es bei den Zusammenstößen. Trotz der massiven Gewalt flauten im Verlauf der Monate die Proteste nicht ab, sondern wurden immer grundlegender in ihren Forderungen. War die Bevölkerung zunächst zum Protest gegen eine Erhö‐ hung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr auf die Straße gegangen, stand nach einigen Wochen die Forderung nach einer neuen Verfassung im Raum – eine Forde‐ rung, der im November 2019 für viele überraschend stattgegeben wurde. So gab es am 25. Oktober 20201 ein Referendum darüber, ob sich Chile eine neue Verfassung geben und wie die Verfassungsgebende Versammlung zusammengesetzt sein sollte.2 Um diesen Verlauf und die Vehemenz, mit der die neue Verfassung eingefordert wurde, zu verstehen, muss der historische Hintergrund der konstitutionellen Ord‐ nung Chiles in den Blick genommen werden. Dann zeigt sich, dass an den Diskus‐ sionen um die Verfassung zwei grundlegende Problemkomplexe hängen: einerseits das Fortleben der chilenischen Militärdiktatur im heutigen Rechtsstaat sowie ande‐ rerseits der Zusammenhang von Diktatur und Neoliberalismus. Diese beiden Zusam‐ menhänge stehen aktuell im Zentrum der Diskussionen und Proteste und machen de‐ ren politische Sprengkraft aus. Aus diesem Grund sollen diese genannten Zusam‐ menhänge im Folgenden erläutert und theoretisch reflektiert werden. Dies kann nicht nur zu einem besseren Verständnis der derzeitigen Situation in Chile, sondern auch zur theoretischen Auseinandersetzung mit einem autoritären (Neo-)Liberalis‐ mus und dessen Verhältnis zu Verfassungsgebung beitragen.3 Dazu werde ich zu‐

1 Ursprünglich war der Termin auf den 26.04. angesetzt worden – wurde dann aber aufgrund der Corona-Pandemie auf Oktober verschoben. 2 Über 78% der Wählenden stimmten für die Einführung einer neuen Verfassung; ebenso viele votierten für eine Zusammensetzung der Verfassungsgebenden Versammlung durch Direktwahl. Vgl. . 3 Vgl. zum Verhältnis von Autoritarismus und Neoliberalismus: Bruff 2016; Brown 2018; Jessop 2019; Biebricher 2020 – zum Verhältnis von autoritärem Neoliberalismus und Verfassung vgl.: Vesco 2019; Wilkinson 2019; Frankenberg 2020.

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nächst den Kontext und historischen Hintergrund der aktuellen Verfassung Chiles er‐ läutern (1.), um dann die beiden genannten Punkte zu diskutieren: auf der einen Sei‐ te die Frage, inwiefern sich die autoritäre Dimension des Neoliberalismus an der konstitutionellen Ordnung zeigt (2.); auf der anderen Seite die Frage, inwiefern dies systematisch auf einen (möglichen) Zusammenhang von Diktatur und Rechtsstaat verweist (3.). Im letzten Schritt sollen diese Stränge an die heutigen Proteste rückge‐ bunden werden, um so die Frage zu diskutieren, ob sich daraus ein anderes Ver‐ ständnis von Konstitutionalisierung gewinnen lässt, das die beschriebenen Zusam‐ menhänge aufbrechen könnte (4.).

1. Verfassungsgebung in der Militärdiktatur. Chiles Verfassung von 1980 Die heutige Verfassung Chiles wurde 1980 erlassen und im Rahmen der Militärdik‐ tatur verfasst. 1973 (nur wenige Tage nach dem Militärputsch Augusto Pinochets am 11. September) formierte sich eine Gruppe von Juristen zur sogenannten Comisión Ortúzar, um die konstitutionelle Ordnung Chiles nach dem Putsch zu entwerfen.4 Bis 1978 arbeiteten sie in geheimen Sitzungen an dem Verfassungstext,5 der im Jahr 1980 in einem Plebiszit zur Wahl gestellt und – nach offiziellen Angaben – mit 67% der abgegebenen Stimmen angenommen wurde.6 Das Erstaunliche an diesem Ver‐ fassungsprojekt war, dass die Verfassung zwar bereits (wenngleich mit massiven Einschränkungen)7 während der Diktatur in Kraft treten sollte, allerdings nicht die Verstetigung der Diktatur vorsah, sondern – aus dieser heraus – in eine demokrati‐ sche Ordnung führen sollte. Vom Zeitpunkt der Abstimmung an sollte das Militär für acht „Übergangsjahre“ herrschen, um dann der vollen Geltung der rechtsstaatlichen Ordnung und der Möglichkeit freier Wahlen Raum zu lassen. So wurde einerseits vermittelt, dass das Regime immer nur als vorläufig gedacht gewesen sei und nie einen eigenen Machtanspruch verfolgt habe, während andererseits sichergestellt wurde, dass die neue konstitutionelle Ordnung, die nach der Diktatur bestehen wür‐ de, eben die Herrschaft des Rechts dieser vom Militär erarbeiteten und erlassenen Verfassung sei. Das Dilemma dieser doppelten Struktur äußerte sich für die chileni‐ sche Bevölkerung im Plebiszit zur Abstimmung über die Verfassung: Mit derselben Frage wurde nach der Akzeptanz der Verfassung wie nach dem Verfahren zur Tran‐

4 Vgl. hierzu: García 1983, S. 27; Vergara 2005, S. 6, Bassa Mercado/ Viera Álvarez 2008, S. 132. 5 Im Jahr 2005 wurden die Protokolle dieser Sitzungen veröffentlicht und können heute frei im Internet eingesehen werden (https://www.leychile.cl/Consulta/antecedentes_const_1980). Kritisch zur Reliabilität dieser Dokumente: Bassa Mercado 2008, S. 109. 6 Vgl. Fontaine 1993, S. 267. 7 Vgl. Bassa Mercado 2008, S. 12.

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sition in die Demokratie gefragt.8 All diejenigen, die die Beendigung der Diktatur wünschten, mussten also gleichzeitig die im Rahmen der Diktatur erarbeitete Verfas‐ sung bestätigen.9 Insofern ist die Tatsache, dass es 1988 wiederum ein Plebiszit da‐ rüber gab, ob Wahlen abgehalten werden sollten, und dass es – entsprechend des da‐ rin erreichten Ergebnisses (der berühmte Sieg des „No“10) – seit 1989 in der Tat ein System repräsentativer Demokratie gibt, offenbar nicht mit einer (einfachen) Über‐ windung der Diktatur zu verwechseln, sondern entspricht eben dem, mit dem Plebis‐ zit über die Verfassung vorgesehenen, Zeitplan. Dennoch war dieses Ergebnis des Referendums von 1988 nicht erwartet worden, und es liegt zu weiten Teilen an der massiven Mobilisierung seitens der Opposition sowie auch am Druck aus dem Aus‐ land, dass das Plebiszit überhaupt unter transparenten Bedingungen durchgeführt werden konnte.11 Die Möglichkeit der Opposition, das Plebiszit für sich – das heißt gegen Pinochet – zu nutzen, war allerdings notwendig an die Anerkennung der Ver‐ fassung gebunden.12 Aus diesem Grund ist die Klassifizierung der Transition in die Demokratie uneindeutig: Sie ging weder aus einer Krise des Regimes hervor noch wurde sie direkt durch Proteste hervorgerufen, sie war aber dennoch nicht einfach vorgesehen.13 An diesem historischen Hintergrund zeigt sich schon, wie eng die heutige chileni‐ sche Demokratie und die geltende Verfassung mit der Militärdiktatur verwoben sind. Zwar gab es von 1989 an grundlegende Bestrebungen, den Verfassungstext zu modi‐ fizieren und zu demokratisieren,14 was 2005 in einer umfassenden Reform mündete – die auch diesmal wieder hart politisch erkämpft werden musste.15 Doch in ihren Grundpfeilern und -prinzipien wird wohl erstmals im Jahr 2020 die konstitutionelle Ordnung der Militärdiktatur zur Disposition stehen. Diese Verwobenheit ist auch inhaltlich im Verfassungstext sichtbar – zumindest in seiner ursprünglichen Form. So sollte darin die Erhaltung der Macht des Militärs – auch über die Diktatur hinaus – sichergestellt werden, etwa durch die Gründung eines „Nationalen Sicherheitsra‐ tes“, der aus vier Oberbefehlshabern der Armee bestand (von ursprünglich sieben

8 9

10 11 12 13 14 15

Vgl. García 1983, S. 30. Dass dieses Plebiszit nicht nach demokratischen Maßstäben ablief, zeigte sich auch daran, dass unklar war, was letztlich aus einer Ablehnung der Verfassung gefolgt wäre (vgl. Cristi 1993, S. 248). Es gab keineWahlregister, keine freie Auszählung und keine freie Opposition (vgl. Nolte 2004, S. 336). 54,7% der Wählenden stimmten dagegen, dass Pinochet noch für weitere acht Jahre an der Macht bliebe. Vgl. Krumwiede 2004, S. 254-255. Ebd., S. 257. Aus diesem Grund problematisiert Garretón (2019) Transitionsanalysen, die von einer dichoto‐ men Gegenüberstellung von autoritärem Regime und Demokratie ausgehen. Vgl. Nolte 2004, S. 338. Vgl. Bassa Mercado 2008, S. 2. In Nolte (2004) heißt es noch, es sei sehr unwahrscheinlich, dass es tatsächlich zu dieser Reform käme. Ausführlich erläutert findet sich dies bei Bassa Mercado 2008, S. 17-20.

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Mitgliedern) und weitreichende Kompetenzen hatte, etwa politische Schlichtungen vorzunehmen, politische Ämter zu besetzen und in die Innenpolitik einzugreifen.16 Darüber hinaus wurde ein Wahlrecht eingeführt, das die zweitstärkste Liste (konkret über zwanzig Jahre die Unterstützer Pinochets) strukturell stärkte; die Amtsperiode des Präsidenten sowie der Senator:innen sollte acht Jahre dauern17 und neun von 47 Mitgliedern des Senats sollten nicht gewählt, sondern ernannt werden. Besondere Privilegien gab es auch für „Ex-Präsidenten“ – das heißt natürlich für Pinochet: er blieb für acht weitere Jahre Oberbefehlshaber des Heeres und Senator auf Lebens‐ zeit.18 Insgesamt wurde die Handlungsfähigkeit der Legislative stark eingegrenzt, während gleichzeitig die präsidentielle Exekutive19 sowie auch das Verfassungsge‐ richt – dessen Zusammensetzung zunächst aus dem Regime übernommen wurde20 – weitreichende Kompetenzen erhielten. Dieser „autoritäre Konstitutionalismus“ Chiles soll im Folgenden näher beleuch‐ tet werden. Zunächst wird der Zusammenhang von Verfassung und Neoliberalismus ausgeführt, um darin die These zu verfolgen, dass sich am autoritären Konstitutiona‐ lismus die autoritäre Seite des (Neo-)Liberalismus21 zeigt. Von diesem Zusammen‐ hang ausgehend, rückt die Frage nach der Konstitutionalisierung des Liberalismus und damit, wie ich zeigen möchte, der systematische Zusammenhang von Diktatur und (neo-)liberalem Rechtsstaat in den Mittelpunkt.

2. Hayek, Guzmán und die Konstitutionalisten. Die Verfassung des autoritären Liberalismus Will man die grundlegenden Umstrukturierungen verstehen, die Chile während der Militärdiktatur geprägt haben, muss auch nach den ökonomischen Umstrukturierun‐ gen gefragt werden, die als neoliberale „shock doctrine“22 bekannt geworden sind. Auch hierfür – und für die Sicherung von deren Kontinuität nach der Diktatur – 16 Reyes 2003, S. 181. In der Verfassungsreform von 1989 wurde ein achtes (ziviles) Mitglied in den Sicherheitsrat aufgenommen, um die strukturelle Mehrheit des Militärs aufzulösen. 2005 wurden die Kompetenzen dieser Institution weitgehend eingeschränkt. Formal ist sie aber wei‐ terhin existent und wurde seitdem dreimal, zuletzt am 07. November 2019 bezeichnenderweise im Zusammenhang mit den Protesten einberufen. Vgl. Prensa Presidencia 2019. 17 Die Amtszeit wurde im Verlauf der Reformen 1989 und 2005 sukzessive auf vier Jahre ver‐ kürzt. Vgl. Rinke 2008, S. 146. 18 Krumwiede 2004, S. 258-259. 19 Vergara 2005, S. 2. 20 Krumwiede 2004, S. 259. 21 Diese Schreibweise verdeutlicht, dass ich gegenüber der begrifflichen Wahl zwischen Neoli‐ beralismus und Liberalismus leidenschaftslos bin. Während in Bezug auf die ökonomischen Reformen in Chile zumeist der Begriff „Neoliberalismus“ verwendet wird, spricht Hayek, auf den ich mich hier besonders beziehe, immer nur von „Liberalismus“. Ich möchte in diesem Zusammenhang deshalb keine scharfe Trennlinie ziehen. 22 Klein 2007.

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spielte die Verfassung, wie im Folgenden gezeigt wird, eine entscheidende Rolle. Während der Einfluss des Militärs in den Reformen von 2005 deutlich eingeschränkt wurde,23 hat dieser ökonomische Aspekt bis heute Bestand und stand erst im Rah‐ men der Proteste von 2019 explizit zur Diskussion. Dass Chile unter Pinochet zum Experimentierfeld für die ökonomischen Theorien der Chicago School of Economics wurde und dass weitreichende Maßnahmen umge‐ setzt wurden, die Chile zum „Musterland“ des Neoliberalismus machten,24 ist lange bekannt und auch von den beteiligten Akteuren selbst immer wieder hervorgehoben worden. So gab es schon lange vor dem Putsch einen universitären Austausch zwischen der Universidad Católica de Chile und der Chicago School of Economics, durch den etwa hundert chilenische Wirtschaftswissenschaftler bei den bekannten neoliberalen Protagonisten wie Milton Friedman, Arnold Harberger und Friedrich Hayek studieren konnten.25 Daraus formierte sich ein Team von Ökonomen, das sich durch eine starke interne Homogenität auszeichnete und unter dem Namen Chicago Boys bekannt wurde.26 Diese Gruppe bekam vom Zeitpunkt des Putsches an einen erstaunlich großen (und zunehmenden) Gestaltungsspielraum im Regime und konnte den sogenannten „Aktionsplan“ zur Umsetzung der monetaristischen Maßnahmen recht ungestört verwirklichen. Alle Wirtschafts- und Finanzminister des Regimes ka‐ men aus dem Umfeld der Chicago Boys27 und ihre „Lehrer“ waren selbst regelmäßig beratend in Chile und äußerten öffentlich Unterstützung für das Militärregime.28 So kam es zum Bild Chiles als neoliberales „Experiment“. Entscheidend ist aber auch, wie von Naomi Klein eindrucksvoll ausgeführt, dass die Herstellung „sauberer“, scheinbar laborhafter experimenteller Bedingungen auch die gewaltsame Verfolgung von Opposition und Gewerkschaften – die quasi als „Störfaktoren“ galten – impli‐ zierte.29 Anstatt also das ökonomische Programm von der Demokratiefeindlichkeit des Militärs und den krassen Gewalthandlungen im Zuge des Putsches (und auch in dessen Anschluss) zu trennen, müsse letzteres als „Methode“ zur Herstellung 23 Bassa Mercado 2008, S. 20. 24 Im Mittelpunkt standen zunächst monetaristische Anti-Inflationspolitiken (Edwards 1985, S. 225), etwa die Flexibilisierung der Preise und die Beeinflussung des Wechselkurses (Har‐ berger 1985). Zusätzlich wurde in verschiedenen Bereichen eine radikale Privatisierungspolitik betrieben (Foxley 1986, S. 33) und die nationalen Märkte wurden geöffnet, indem Zölle extrem gesenkt und ausländische Investitionen begünstigt wurden (Edwards 1985, S. 231). 1979 wur‐ de außerdem ein sogenanntes „Modernisierungsprogramm“ eingeführt, das insbesondere auf eine Reform des Arbeitsmarktes zielte (García 1983, S. 28). Darin wurden eine freiere Hand‐ habung von Einstellungen und Entlassungen, eine Vereinzelung der Gewerkschaften (Walpen/ Plehwe 2001, S. 58) sowie die Privatisierung von Verantwortung durchgesetzt (Vergara 1986, S. 107-108). 25 Fontaine 1993, S. 244. 26 Valdés 1995, S. 18. 27 Ebd., S. 19. 28 Ausführlich zur Neoliberalisierung Chiles sowie zur Einflussnahme der Chicagoer Ökonomen, vgl. Walpen/ Plehwe 2001. 29 Klein 2007, S. 76.

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experimenteller Bedingungen für ersteres ernstgenommen werden. Das ist sicher richtig. Unbestritten ist allerdings auch, dass der Standpunkt des Militärs in vielen Punkten nicht mit dem Projekt einer Neoliberalisierung Chiles vereinbar war,30 inso‐ fern hier eher ein nationaler Protektionismus und eine Doktrin nationaler Sicherheit bestimmend waren. Dass diese Kooperation gelang und sich der nationalistische Konservatismus des Militärs mit den technokratischen Reformen der Chicago Boys vereinbaren ließ, hing nicht nur mit der gemeinsamen Gegnerschaft gegen den Sozialismus bzw. gegen die Regierung Allendes zusammen (das sicherlich auch), sondern auch damit, dass es noch eine dritte Gruppe gab, die in gewisser Weise die Mitte gegenüber den zwei anderen Positionen bildete und die Grundlage für deren Zusammenarbeit bereitstellte. Dies waren die „Konstitutionalisten“, für die das Projekt der Verfassungsgebung im Zentrum stand. Sie waren in Chile deshalb eine entscheidende Kraft, weil sie einen autoritären Liberalismus ermöglichten, der einerseits dem Politik- und Staatsverständnis des Militärs entsprach und andererseits den neoliberalen Ökonomen einen geeigneten Rahmen bot. Durch den Konstitutio‐ nalismus konnten sich die Neoliberalen das autoritäre Staatsverständnis des Militärs zu eigen machen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Der chilenische Konstitutionalismus war entscheidend geprägt durch den Juristen Jaime Guzmán. Wie Renato Cristi in seiner lehrreichen intellektuellen Biographie betont, war Guzmán eine der entscheidenden politischen Stimmen im Militärre‐ gime.31 Er schrieb die meisten Reden Pinochets, gestaltete die ersten Schritte zur Formierung und Konsolidierung des Regimes und trug die Initiative zur Bildung einer Verfassungsgebenden Versammlung.32 Zum Verständnis des Verhältnisses von Konstitutionalismus und Neoliberalismus in Chile ist die Entwicklung der politi‐ schen Positionen Guzmáns aufschlussreich: Während er sich in den 1960er Jahren in erster Linie einem katholischen Fundamentalismus und franquistischen Autori‐ tarismus verpflichtet sah33 und den Liberalismus als „Ökonomie ohne Moral“34 kritisierte, „entdeckte“ er Anfang der 1970er Jahre Friedrich Hayek und fand in ihm eine Möglichkeit, Traditionalismus und Autoritarismus mit einem radikalen Marktli‐ beralismus zu verknüpfen.35 Hayek stand in den Augen Guzmáns für einen ökono‐ mischen Liberalismus, der sich durch die Bewahrung von Traditionen und sozialen „Regeln“ bestimmt und einen autoritären Staat begründet, der diesen Regeln Schutz garantiert. Die Verfassung spielt dabei eine entscheidende Rolle, wie der Titel von Hayeks Constitution of Liberty bereits nahelegt und insbesondere im dritten Band von Law, Legislation, and Liberty im Detail ausgeführt wird. Im Hintergrund von 30 31 32 33 34 35

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García 1983, S. 27. Cristi 2000, S. 12. Ebd., S. 34; Huneeus 2004, S. 245. Cristi 2000, S. 25. Guzmán 1965, zit. nach Cristi 2000, S. 59. ebd., S. 9.

Guzmáns Initiative zur Verfassungsgebung stand also die Bedeutung, die Hayek der Verfassung zuspricht. Stellt man diese Entwicklung Guzmáns und die Frage nach der Verfassung ins Zentrum, wird insofern die spezifische Bedeutung Hayeks im chilenischen Neoliberalismus deutlich.36 Nun gibt es kontroverse Debatten darüber, wieweit sich der Einfluss Hayeks auf die Verfassungsgebung Chiles nachweisen lässt,37 zu denen ich gar nicht direkt Stellung beziehen will. Meine Annahme wird lediglich sein, dass sich aus der Lektüre Hayeks eine Sicht auf das Verhältnis von (Neo-)Liberalismus und Verfassungsgebung gewinnen lässt, die zum Verständnis der chilenischen Verfassung – als “neoliberalem Konstitutionalismus” oder “konstitutio‐ nellem Neoliberalismus“38 – beitragen kann. Für dieses Anliegen muss zunächst die spezifische Verbindung von Konstitutionalismus und Neoliberalismus in Hayeks Denken herausgearbeitet werden. Hayek führt in seiner Verfassung der Freiheit die konstitutionelle Herrschaft des Gesetzes (Rule of Law) zunächst und in erster Linie als Beschränkung der politi‐ schen Handlungsfähigkeit des Staates ein.39 Sie soll die „allgemeine(n) Grundsätze des Volkes“ gegen die „Macht vorübergehender Mehrheiten“ schützen.40 Welche Gefahr damit konkret abgewehrt werden soll, stellt er bereits einige Kapitel zuvor in der Unterscheidung von zwei Achsen des Regierens – Demokratie vs. autoritäre Regierung und Liberalismus vs. Totalitarismus – heraus.41 Die erste Achse bestimmt das Organisationsprinzip des Staates: wie Entscheidungen zustande kommen – ob durch das Mehrheitsprinzip oder durch eine einzelne Instanz oder Person. Die zweite Achse beschreibt zwei verschiedene Verständnisse von Gesellschaft (das meint im Konkreten: des Marktes) – ob sie sich „spontan“ entwickeln kann oder ob sie entsprechend eines vorgegebenen Plans gestaltet und diesem untergeordnet wird. Totalitarismus heißt für Hayek also zunächst nichts anderes, als dass in gesell‐ schaftliche und ökonomische Prozesse politisch eingegriffen wird.42 Beide Achsen beziehen sich zwar auf unterschiedliche Gegenstände, stehen allerdings deshalb in Spannung zueinander, weil darin jeweils konträre Freiheitsbegriffe im Spiel sind: Demokratie versteht sich als Realisierung kollektiver politischer Freiheit, Liberalis‐ mus als Realisierung individueller gesellschaftlicher Freiheit.43 Politische Freiheit kann, so Hayek, zur Bedrohung individueller Freiheit werden, wenn sie sich als 36 Walpen/ Plehwe 2001, S. 46; Fischer 2011, S. 125. 37 Insb. Caldwell/ Montes 2015 gegen die oben zitierten Arbeiten von Fischer und Walpen/ Plehwe. 38 Turner 2008; mit Bezug auf Chile: Ahumada, 2018. 39 Vgl. Hayek 2005, insb. Kap. 10 und 11. sowie Kap. 12.3. Dazu Hauke Brunkhorst: „Das Ver‐ fassungsziel, das bei allen Unterschieden Ordo- und Neoliberale eint, ist eine entpolitisierte Gemeinschaft ohne Gesetzgeber und Regierung.“ (Brunkhorst 2014, S. 509). 40 Ebd., S. 245. Zu Hayeks Rule of Law als Verhinderung besonderer politischer Zwecksetzun‐ gen, vgl. Foucault 2006, S. 241-244. 41 Ebd., S. 132-134. 42 Reichhold 2018, S. 89. 43 Hayek 2005, S. 18-20.

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die einzig entscheidende Freiheit hypostasiert: Wenn die Teilhabe der Mehrheiten an politischen Entscheidungen (durch Wahlen), für den entscheidenden Ausdruck von Freiheit gehalten wird, kann einem Eingriff dieser Mehrheiten in die Freiheit der Gesellschaft (etwa zugunsten von sozialer Gerechtigkeit) nichts entgegengestellt werden. Aus diesem Grund bergen Demokratien intern die Gefahr, ins Totalitäre zu kippen. Wenn eine demokratische Ordnung hingegen liberal bleiben soll, muss die Demokratie “begrenzt” werden44 – um sicher zu gehen, dass die Mehrheit nicht die (ökonomische) Freiheit der Gesellschaft angreifen kann. Der Zweck der Verfassung liegt genau in dieser Begrenzung der Demokratie: Die allgemeine Herrschaft des Gesetzes kann deshalb den Liberalismus gegen die Exzesse der Demokratie schüt‐ zen, weil dadurch Entscheidungsmöglichkeiten und Möglichkeiten zur politischen Intervention begrenzt werden. Die allgemeinen konstitutionellen Entpolitisierungs‐ klauseln ermöglichen die Bildung einer Autorität, über die politisch nicht verfügt werden kann.45 Diese begriffliche Konstellation bildet den deutlichen diskursiven Hintergrund zur Verfassungsgebung in Chile: Das Problem der alten Verfassung sei gewesen, dass sie in ihrer deklarierten Neutralität politisierbar war und von „totalitären Grup‐ pen“ (das heißt die Allende-Regierung) eingenommen werden konnte – so Guzmán. Dem entgegen sollte die neue Verfassung eine „neue Demokratie“ ermöglichen, in der diese Gefahr der Politisierung nicht bestünde.46 Dies könne nur dadurch erreicht werden, dass sich die Demokratie inhaltlichen Zwecken und Prinzipien unterwerfe und sich lediglich als Mittel zu deren Verwirklichung verstehe.47 „Nur so werden wir verhindern, dass sich die erlebte Erfahrung wiederholt, die uns dadurch in eine antilibertäre Demokratie führte, dass sich die Verfassung gegenüber der totalitären oder etatistischen Bedrohung zerbrechlich zeigte“.48 Guzmán greift mit diesen Be‐ schreibungen seine eigenen Formulierungen auf, mit denen Pinochet in der berühm‐ ten – bekanntermaßen von Guzmán geschriebenen – Rede von Chacarillas 1977 die künftige Verfassung sowie den Zeitplan zu ihrer Einführung vorstellte: „Unsere Pflicht ist es, einer neuen Demokratie Form zu geben, die autoritär, geschützt, integrativ, technifiziert und von authentischer sozialer Partizipation sein soll”.49 Der Totalitarismusgefahr, die der alten Verfassung zugrunde liege, sei nur durch eine

44 Ebd., S. 136-137. Zu Hayeks Begriff der “limited democracy”, auch mit Bezug auf Chile, vgl. u.a. Farrant et al. 2012, insb. S. 520-521. 45 Zum Zusammenhang von Autoritärem Liberalismus und Konstitutionalismus, vgl. Wilkinson 2019. 46 Guzmán 1980. 47 Ganz ähnlich formuliert auch Hayek eine instrumentelle Begründung von Demokratie. Hayek 2005, S. 136, 138. 48 Guzman 1980; übers. M. M. 49 Pinochet 1977, S. 13; übers. M. M.

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„geschützte Demokratie“50 beizukommen. Dies zeigt aber auch, wogegen genau sich die Demokratie in diesem Kontext zu schützen hat: Im Gegensatz zur Idee „wehrhafter Demokratie“, dass diese sich (gegebenenfalls mit undemokratischen Mitteln) gegen ihre eigenen Feinde verteidigen müsse, ist es hier offenbar so, dass der Markt gegen die Demokratie – das heißt vor politischer Mitsprache – geschützt werden soll.51 In der Rede Pinochets zeigt sich dies auch in der Erläuterung zum Merkmal der „authentischen sozialen Partizipation“, insofern darin deutlich wird, dass Par‐ tizipation sich auf die Teilhabe am Markt – nicht auf politische Partizipation – bezieht. Damit sei gemeint – so Pinochet weiter –, dass eine „Gesellschaft nur dann wirklich frei ist, wenn sie, auf dem Prinzip der Subsidiarität gründend, die reale Autonomie der intermediären Gruppen zwischen dem Menschen und dem Staat heiligt und respektiert, durch die die Einzelnen ihre eigenen und spezifischen Ziele verfolgen.“52 Dieses „Prinzip der Subsidiarität“ (bzw. dessen Deutung im Kontext Chiles) bildet ein zentrales Grundprinzip der Verfassung, an dem sich – wie häufig hervorgehoben wird53 – am deutlichsten ihr Zusammenhang zum ökono‐ mischen Projekt des Neoliberalismus zeigt.54 Ausgangspunkt für diese Idee der Sub‐ sidiarität ist eine von Guzmán in seiner charakteristischen Zusammenführung von Katholizismus und Hayekianismus entwickelte Anthropologie, die das „Primat des Individuums“ über jede gesellschaftliche Ordnung postuliert, sodass zunächst die individuelle Freiheit das grundlegende normative Ziel der Verfassung sein müsse. Die Entfaltung persönlicher Freiheit sei allerdings nur in gesellschaftlichen Zusam‐ menschlüssen, sogenannten „intermediären Gesellschaften“, zwischen Individuum und Staat möglich – wie etwa Universitäten, Kirchen, Familien, aber auch Unterneh‐ men. Deshalb bräuchten diese intermediären Gruppen die größtmögliche Autonomie gegenüber dem Staat, während die Rolle des Staates umgekehrt darin liegen müsse, die Autonomie intermediärer Gruppen zu schützen und zu unterstützen.55 Als Ganzes genommen verdeutlichen diese Erläuterungen zur Verfassung eine ambivalente Position gegenüber dem Staat: Er muss einerseits stark (autoritär) sein, um die liberale Freiheit der Gesellschaft und des Marktes zu schützen, während er andererseits klein gehalten werden muss, um nicht selbst zur Gefährdung (tota‐ litär) zu werden. In Bezug auf Hayek heißt das: “Outside the legitimate sphere, 50 Dies verweist auf die Idee der „militant democracy“ oder „wehrhaften Demokratie“, deren Af‐ finität zum Autoritarismus heute vermehrt herausgestellt und diskutiert wird. Vgl. u. a.: Accet‐ ti/ Zuckerman 2017; Frankenberg 2020, S. 127-130. Mit Bezug auf Chile: Aldunate Lizana 2016. Zu Guzmáns Verwendung der geschützten Demokratie oder „democracia protegida“ vgl. Moulián 1995, S. 3; Atria 2013. 51 So Atria 2013. 52 Pinochet 1977, S. 13; übers. M. M. So ähnlich findet sich dies auch in Guzmán 1980. 53 Vgl. etwa Bassa Mercado 2008, S. 144-152; sowie Cristi/ Ruiz-Tagle 2014. 54 Viera Álvarez et al. 2016, S. 327, 346. 55 Ebd., S. 347.

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the power of the state needed to be carefully controlled and monitored; but inside that sphere, its power should be unlimited“.56 Erst durch eine starke Exekutive und weitreichende militärische Befugnisse wird ein minimalistischer Staat, der sich ga‐ rantiert politisch zurücknimmt, möglich.57 Im Zentrum steht also, wie es Hayek aus‐ drückt, „die Art und nicht das Ausmaß der Staatstätigkeit“.58 In dieser legitimen und gewünschten „Art der Staatstätigkeit“ wird alle staatliche Macht dazu eingesetzt, (wirtschaftliche) Freiheit (gegen ihre scheinbar diversen Bedrohungen) zu sichern. Eine solche Freiheit – die Freiheit des Neoliberalismus – ist keine De-Regulierung, sondern eine aktiv hergestellte Freiheit, „die fragil und unablässig bedroht ist und damit zur Grundlage immer neuer Interventionen wird“.59 Wenn Foucault den klassischen Liberalismus vom Neoliberalismus auf der Grundlage des Gegensatzes von Naturalismus und Normativismus unterscheidet, dann ist genau diese Struktur gemeint: Im Neoliberalismus gibt es keinen natürli‐ chen Markt, gegenüber dem der Staat zurücktreten müsse. Vielmehr braucht es hier zunächst einen Staat, der in der Lage ist, den Markt in seinem selbstständigen Funk‐ tionieren überhaupt erst herzustellen. Der Markt ist vielmehr Ziel denn Ausgangs‐ punkt staatlichen Handelns60 – und darin dann auch Legitimation und Begründung für das Bestehen des Staates. Die Situation, die Foucault damit vor Augen hat, ist Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: Hier sollte ein neuer Staat geschaffen werden, der dadurch legitimiert – und gegenüber der Bedrohung, totalitär zu werden, gesichert – sei, dass er seinen Zweck in der Ermöglichung wirtschaftlicher Freiheit habe: „Wie kann also die wirtschaftliche Freiheit zugleich eine begründende und begrenzende Rolle spielen, wie kann sie Garantie und Unterpfand für einen Staat sein?“61 Ebendiese Frage lässt sich – freilich in einem unzulässigen historischen Vergleich – auch auf die Legitimation des Putsches und der Verfassungsgebung in Chile beziehen. Die ständige Wiederholung des Totalitarismusbegriffs sowie das Narrativ, dass Allende durch eine wehrlose demokratische Ordnung ermöglicht wor‐ den sei, zeigt, welch zentrale Rolle dieser Vergleich bei den Akteuren der Militär‐ 56 Gamble 1996, S. 134. 57 Vergara 1986, S. 85. Analog zu diesem doppelten Staat gibt es auch einen doppelten Blick auf das Staatsvolk bzw. die Gesellschaft: Auf der einen Seite muss die heterogene Gesellschaft freier, privater Individuen in ihrer Heterogenität (und ihrer Differenz zum Staat) geschützt wer‐ den – auf der anderen Seite beruht die Verfassung auf der Vorstellung einer homogenen Volks‐ einheit, die der „multiethnischen“ Situation Chiles deutlich entgegen steht: Sie „enthält ein mo‐ noethnisches Verständnis von Gesellschaft und Staat“, indem sie die Nation ins Zentrum stellt und die „Existenz verschiedener Völker und Nationen im Innern des Staates negiert. Das macht Chile zum einzigen Staat in Südamerika, der nicht die konstitutionelle Anerkennung in‐ digener Völker und ihrer kollektiven Rechte enthält.“ Aylwin 2017, S. 14; übers. M. M. 58 Hayek 2005, S. 306. 59 Lemke et al. 2000, S. 14. 60 Foucault 2006, S. 172. Foucault bezieht sich hier auf den deutschen Ordoliberalismus. Für Hayek gilt dies sicherlich nicht in der gleichen Weise. Auch bei ihm liegt aber die einzige Le‐ gitimation des Staates darin, dass er wirtschaftliche Freiheit ermöglicht. 61 Ebd., S. 149.

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diktatur spielte und wie dadurch vermittelt wurde, dass es zur Konstituierung der Freiheit eine neue staatliche Ordnung – eine neue Verfassung – brauche.

3. Diktatur und Rechtsstaat – Zur konstituierenden Gewalt der Militärdiktatur Der chilenische Rechtsphilosoph Renato Cristi, eine der wichtigsten Stimmen in der theoretischen Aufarbeitung der juristischen Form der Militärdiktatur Chiles, hat bereits 1993 – ausgehend von einer Lektüre Carl Schmitts – den konstituierenden Anspruch des Militärregimes hervorgehoben. Gegen all diejenigen, die – direkt nach dem Ende der Diktatur – den Putsch als bloße (notwendige) Maßnahme zur Wieder‐ herstellung der Ordnung darstellten, betonte Cristi, Anspruch des Regimes sei es nie gewesen, die Verfassung von 1925 zu reformieren, sondern sie zu „zerstören und sich die Ausübung konstituierender Gewalt anzueignen“.62 Damit hätten die Akteure der Militärdiktatur die originäre konstituierende Gewalt des Volkes usurpiert und sich an dessen Stelle gesetzt.63 Diese Entscheidung, die Verfassung nicht nur im Rahmen eines deklarierten Ausnahmezustands zu suspendieren, sondern sie zuguns‐ ten einer Neukonstituierung zu vernichten,64 deutet Cristi anhand von Carl Schmitts Unterscheidung von souveräner und kommissarischer Diktatur.65 In der kommissari‐ schen Diktatur werde die Verfassung lediglich ausgesetzt, um sie zu schützen und wiederherzustellen,66 sodass der Diktator an die bestehende Verfassung gebunden sei und keine Gesetze ändern könne.67 Die souveräne Diktatur sucht hingegen die Konstituierung einer neuen Ordnung – „[s]ie beruft sich also nicht auf eine beste‐ hende, sondern auf eine herbeizuführende Verfassung.“68 Allerdings geht Cristi, wenn er die souveräne Diktatur (mit Bezug auf die chilenische Militärdiktatur) als Usurpierung der konstituierenden Gewalt des Volkes beschreibt, allzu schnell über eine grundlegende Ambivalenz in dieser Figur hinweg. Denn die souveräne Diktatur

62 Cristi 1993, S. 229; übers. M. M. 63 Ebd., S. 231. 64 In einer Mitteilung der Militärjunta direkt vom 11. September 1973 hieß es noch, die Regie‐ rungsjunta konstituiere sich und übernehme von nun an „das oberste Kommando über die Nati‐ on, um die institutionelle Ordnung wiederherzustellen.“ Dabei solle „die volle Wirksamkeit der Befugnisse der Justiz gewährleiste[t] und die Verfassung wie die Gesetze der Republik [geach‐ tet]“ werden. 1975 wurde hingegen von Guzmán bekanntgegeben, dass ein verfassungsgeben‐ der Prozess in Gang sei. Dies wurde von ihm unter Bezugnahme auf ebenjene erste Erklärung begründet, insofern das „oberste Kommando“ auch impliziere, die „legislative, exekutive und konstituierende Macht“ zu übernehmen (zit. nach Cristi 1993, S. 239; Hervorh. u. übers. M.M.). Diese Verschiebung von „Wiederherstellung“ zu „Konstituierung“ ist für Cristi ent‐ scheidend. 65 Ebd., S. 230. 66 Schmitt 2006 [1921], S. 133. 67 Ebd., S. 6-7. 68 Ebd., S. 134.

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ist für Schmitt gerade die Repräsentation der konstituierenden Gewalt des Volkes.69 Insofern diese Gewalt als Freiheit der Konstituierung notwendig unbestimmt ist,70 setzt sie eine Instanz voraus, die ihr Form und Inhalt gibt. Diese Instanz muss als Ausdruck konstituierender Gewalt unbegrenzt und darin souverän sein – in ihrer Funktion bleibt sie aber an die Souveränität des Volkes gebunden.71 Das wird hier nicht erwähnt, um Schmitts souveräne Diktatur zu verteidigen, sondern um darauf hinzuweisen, dass die Unterscheidung von souveräner Diktatur und Volkssouveräni‐ tät nicht ganz so „sauber“ ist, wie von Cristi suggeriert. Vielmehr ist der Begriff des Volkes selbst in diese souveräne Diktatur verstrickt und der Rekurs auf dessen konstituierende Gewalt muss vor diesem Hintergrund problematisch bleiben. Darauf werde ich im nächsten Abschnitt noch zu sprechen kommen. Zunächst kann aus Cristis Analyse mitgenommen werden, dass die depolitisierte Herrschaft des Geset‐ zes, wie sie oben herausgearbeitet wurde, eine Leerstelle aufweist, die durch den Militärputsch ins Zentrum der Aufmerksamkeit geholt wird: die Frage nach der Konstituierung dieser Herrschaft. Dies lässt sich theoretisch an einer ambivalenten konzeptuellen Affinität zwischen Carl Schmitt und Friedrich Hayek festmachen, die womöglich einen Beitrag zur begrifflichen Bestimmung des autoritären (Neo-)Libe‐ ralismus72 – und dessen Verhältnis zur Verfassungsgebung – leisten kann. Dass Hayeks Spätwerk durch eine autoritäre Wende gekennzeichnet sei, insofern er darin die Diktatur verteidige, wird immer wieder anhand des 17. Kapitels des Dritten Bandes von Law, Legislation, and Liberty hervorgehoben. Darin diskutiert er, unter welchen Umständen und Bedingungen die Bündelung von „emergency powers“ – in der Art einer kommissarischen Diktatur – zur Wiederherstellung von Freiheit legitim sein könne.73 Dabei zitiert er auch Carl Schmitt, allerdings in Ab‐ grenzung – um zu betonen, dass die Gewalt, die im Ausnahmezustand herrscht, nicht souverän werden und nicht selbst über den Ausnahmezustand verfügen (ihn etwa nicht erklären) dürfe.74 Diese autoritäre Wende materialisiert sich – ebendiesem Narrativ nach – darin, dass Hayek 1977 den Entwurf zu diesem Kapitel wohl an Pinochet aushändigte.75 Was hieraus tatsächlich abgeleitet werden kann, ist natürlich fraglich, doch war es zur Legitimierung der Militärdiktatur sicherlich entscheidend, dass sie sich als notwendig zur Wiederherstellung der Ordnung nach ihrer (sozia‐ 69 Ebd., S. 142. 70 Ebd., S. 139. 71 Ebd., S. 141. Zum formierenden Repräsentationsverständnis, das hier im Spiel ist, vgl. ausführ‐ licher Martinez Mateo 2018, Kap. 2.2. 72 Dass der Begriff des Autoritären Liberalismus erstmals von Hermann Heller gegen Carl Schmitt verwendet wurde und heute gerne auf Hayek bezogen wird, sei hierzu nur ein erster Hinweis. Vgl. z.B. Bonefeld 2017. 73 Hayek 1979, S. 124-126; dazu: Spieker 2013, S. 317; Kiely 2017, S. 739. 74 Zurecht ist auch hervorgehoben worden, dass diese Rechtfertigung der Diktatur näher am Ordoliberalismus als an Schmitt liegt. Vgl. Bonefeld 2017, S. 753; Irving 2018, S. 115. 75 Farrant et al. 2012, S. 525.

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listischen) Bedrohung inszenierte. Das Projekt der Verfassungsgebung lässt sich hingegen, wie von Cristi richtig hervorgehoben, nicht unmittelbar aus diesem Motiv der Wiederherstellung ableiten. Es gründete vielmehr auf dem Anspruch, eine Ord‐ nung der Freiheit – eine „neue Demokratie“ – zu errichten. Auch hierin stellte sich das Regime als transitorisch dar – darin aber als souverän. Hayeks vermeintlicher autoritärer Wende zum Trotz lässt sich diese Struktur sicherlich nicht direkt bei ihm finden, sondern führt über Hayek offenbar hinaus. Möglicherweise gab es in Chile also tatsächlich eine „Unholy Alliance of Carl Schmitt and Friedrich Hayek“,76 die über deren gemeinsame theoretische Grundlagen Aufschluss geben könnte. Freilich stehen Hayek und Schmitt in der Frage der Konstituierung einander klar gegensätzlich gegenüber: Hayeks Verfassungsbegriff denkt gerade keine außernor‐ mative Konstituierung als kollektiven, potentiell gewaltsamen Akt oder unbestimm‐ te Kraft, sondern die stetige, lebendige Herausbildung von Institutionen und norma‐ tiven Strukturen, die dann in eine rechtliche Ordnung geformt werden können.77 Die Gesellschaft ist – wenn sie frei bleibt – eine spontane Ordnung, die (durch das Handeln der Einzelnen) selbstständig entsteht und sich selbstständig reproduzieren kann – als wachsendes lebendiges Ganzes.78 Das evolutionäre Modell, das darin auf‐ gerufen wird, enthält allerdings (auf zwei Ebenen) eine antagonistische Struktur, die allzu schnell unterschlagen wird: Erstens strukturiert sich der evolutionäre Prozess über den Wettbewerb zwischen verschiedenen Lebensformen, sodass die Durchset‐ zung des Liberalismus am „Untergang der Gruppen, die die falschen Ansichten hatten“,79 hängt. Zweitens spielt sich dieser „Selektionsprozess“ auch nicht einfach von selbst ab, sondern beruht darauf, dass sich überhaupt erst ein evolutionäres (das heißt liberales) Gesellschaftsmodell durchgesetzt hat. Liberalismus ist nicht nur das Ergebnis von Evolution, sondern deren Voraussetzung. Wenn Hayek davon spricht, dass sich die „schöpferischen Kräfte“ der Gesellschaft,80 die überhaupt erst den evo‐ lutionären Entwicklungsprozess ermöglichen, nur im Liberalismus entfalten können, dann muss er zunächst davon ausgehen, dass andere (etwa: planende) Formen der Politik aktiv – und auf anderem denn auf evolutionärem Weg – verhindert wurden.81 Entgegen seiner vitalistischen Annahmen, muss insofern auch Hayeks unpersönli‐ che Herrschaft des Rechts konstituiert werden. Die Frage nach der Form der Setzung und dem konstituierenden Subjekt bleibt innerhalb seines theoretischen Rahmens 76 Scheuerman 1997. Es ist auch betont worden, dass Jaime Guzmán auch von Carl Schmitt deut‐ lich beeinflusst war (Cristi 1993; Caldwell/ Montes 2015, S. 285). 77 Vgl. etwa Hayek 2005, S. 32-33; sowie auch: „... government never starts from a lawless state; it rests on and derives its support from the expectation that it will enforce the prevailing opini‐ ons concerning what is right.“ (Hayek 1979, S. 123). 78 Hayek 2005, S. 92. 79 Ebd., S. 48. Dazu überzeugend: Spieker 2013, S. 315. 80 Hayek 2005, Kap. 2. 81 Hayeks Gesellschaftsbegriff ist deshalb grundlegend biopolitisch, wie ich anderswo ausführli‐ cher herausgearbeitet habe: Martinez Mateo 2020.

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allerdings ausgeblendet,82 da Konstituierung offenbar nicht in derselben Weise in rechtsstaatlichen Kategorien beschrieben werden kann wie die konstituierte Form. Wenn Liberalismus der freie Lebensprozess einer gesellschaftlichen Ganzheit unter der unpersönlichen Herrschaft des Rechts ist, dann kann seine Gründung nicht als Liberalismus beschrieben werden, sondern setzt ein illiberales Moment voraus.83 Hayek deutet dies an einigen losen Stellen an, wenn er etwa die Frage adressiert, wo die Souveränität in seinem Verfassungsmodell liegt: „the answer is nowhere – unless it temporally resides in the hands of the constitution-making or constitutionamending body.“84 Zu diesem „constitution-making body“ selbst erfährt man aber nichts weiter – und die Aussage bleibt etwas unverbunden im Raum stehen. Auch im berüchtigten und vieldiskutierten Interview in der chilenischen Zeitung El Mercurio, in dem Hayek danach gefragt wird, was er von Diktaturen hält, wird deutlich, dass er sehr wohl bereit ist, ihnen eine konstituierende Bedeutung zuzuschreiben: „Well, I would say that, as long-term institutions, I am totally against dictatorships. But a dictatorship may be a necessary system for a transitional period. […] Personally, I prefer a liberal dictator to democratic government lacking liberalism. My personal impression — and this is valid for South America – is that in Chile, for example, we will witness a transition from a dictatorial government to a liberal government. And during this transition it may be necessary to maintain certain dictatorial powers, not as something permanent, but as a temporary arrangement.”85

Die Aufgabe, eine liberale Regierung zu gründen, kann demnach diktatorische Ver‐ fügungen erfordern. Dies ist offensichtlich mehr als ein rein „wiederherstellender“ Ausnahmezustand, sondern eine Diktatur zur Gründung des Liberalismus. Hayeks Verfassung der Freiheit setzt eine Konstituierung voraus, die der Ordnung der Freiheit gegenüber äußerlich bleibt, sich aber eben auf die Ermöglichung dieser Ordnung richtet. Eine solche Konstituierung als demokratisch zu denken, erscheint aus dieser Perspektive als bedrohlich, weil darin eine kollektive Politisierung läge, die sich – wie oben dargestellt – der individuellen Freiheit des Liberalismus entge‐ genzustellen droht. Vor diesem Hintergrund erscheint eine souveräne Diktatur zur Konstituierung einer liberalen Ordnung geradezu plausibel. Umgekehrt zeigt sich darin umso deutlicher, wie eng die heutige Verfassung Chiles mit dem konstituieren‐ den Subjekt der Militärdiktatur verbunden ist – nicht nur weil sie in der Tat durch dieses konstituiert wurde, sondern weil die Form des konstitutionellen (Neo-)Libera‐ lismus ein diktatorisches konstituierendes Subjekt aufzurufen scheint.

82 83 84 85

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Genau dies wirft Schmitt dem Liberalismus vor; vgl. dazu Raimondi 2014, Kap. I.1. Vgl. dazu Frankenberg 2020, S. 108-113. Hayek 1979, S. 123. Hayek 1981.

4. Ausblick: Demokratie und Neukonstituierung Wie also mit einer Verfassung umgehen, die Ausdruck der konstituierenden Gewalt des Militärregimes ist und die Souveränität der Diktatur heute noch bestätigt? Inwie‐ fern kann die Legitimität der Verfassung angenommen werden, ohne zugleich die Legitimität der Militärjunta als konstituierendes Subjekt zu behaupten? Inwiefern also kann die Verfassung Chiles demokratisiert werden? Um zur Diskussion dieser Fragen beizutragen, ist – wie bereits angedeutet – das Verhältnis von souveräner Diktatur und konstituierender Gewalt des Volkes entscheidend. So wird deutlich, dass die Demokratiefrage nicht einfach dadurch gelöst werden kann, dass das Volk als einzig legitimes konstituierendes Subjekt der Diktatur gegenübergestellt wird. Schließlich sollte durch das Plebiszit zur Verfassung von 1980 gerade das Volk zum eigentlichen Träger der konstituierenden Gewalt erklärt werden, die vom Regime lediglich (in repräsentativer Funktion) ausgeübt würde. So gab es zum Plebiszit eine öffentliche „Erklärung von Professoren der juristischen Fakultät der katholischen Universität Chiles“, in der die Legitimität der neuentwickelten Verfas‐ sung erklärt und zu deren Bestätigung aufgerufen wurde: Die Militärdiktatur sei eine „Revolution“, durch die das Volk sich eine neue Ordnung gebe. Die Etablierung einer neuen institutionellen Form obliege somit denen, „die in dieser Revolution vorangehen“.86 Auch in der Diktatur beruht die Legitimation der Verfassungsgebung darauf, dass die originäre verfassungsgebende Gewalt beim Volk liegt.87 Dennoch ist evident und weitgehend anerkannt, dass es in der Tat auf eine Unterstützung der Mi‐ litärdiktatur hinauslaufen würde, auf der Grundlage jenes Plebiszits die Legitimität der Verfassung zu behaupten. Hingegen wird zum Teil das Referendum von 1988 zum eigentlichen konstituierenden Moment erklärt: Die chilenische Bevölkerung hätte sich mit dem „No“ die Verfassung (gegen die ursprünglichen Intentionen, die sie begründeten) angeeignet und sei insofern (nachträglich) zum konstituierenden Subjekt geworden.88 Dies habe auch neue Möglichkeiten zur Interpretation der Ver‐ fassung, entsprechend demokratischer Prinzipien, eröffnet – ein Prozess, der in der grundlegenden Verfassungsreform von 2005 voll zum Ausdruck gekommen sei.89 Die radikale Gegenposition – von Fernando Atria am deutlichsten vertreten – lautet hingegen, dass die chilenische Verfassung unter keinen Umständen als legitim gelten könne, ohne damit die Diktatur zu unterstützen.90 Das Grundprinzip, auf dem die Verfassung von 1980 beruhe und das diese zu verwirklichen suche, sei, so Atria, die „Neutralisierung der politischen Handlungsfähigkeit des Volkes“.91 Die Verfassung 86 87 88 89 90 91

Zit. nach Cristi 2017; übers. M. M. Atria 2017. Vgl. Cristi 2017; sowie auch Bassa Mercado 2008, S. 43-49, 109, 205. So die These in Bassa Mercado 2008. Atria 2013; zu dieser Diskussion vgl. auch Vatter 2017. Atria 2013, S. 45; übers. M. M.

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kann nicht als demokratisch gelten – nicht nur weil sie auf undemokratische Weise erlassen wurde, sondern weil sie gerade zur Verhinderung von Demokratie erlassen wurde. Dies sei die „fundamentale Entscheidung“, auf der die „sogenannte Verfas‐ sung“ beruhe. „Aber wenn es eine Entscheidung ist, deren fundamentaler Inhalt darin liegt, dem Volk die politische Handlungsfähigkeit abzusprechen, dann kann sie keine Entscheidung des Volkes über seine politische Form sein, sondern nur eine sein, die diesem auferlegt wird. Deshalb ist es korrekt zu sagen, dass die sogenannte Verfassung von 1980 wesentlich antidemokratisch ist oder – was dasselbe ist – dass sie überhaupt keine Verfassung ist.“92

Unabhängig davon, was darin im Einzelnen womöglich erlaubt oder verhindert wird (auch durch den Erfolg von Reformbestrebungen), bleibt ihr Fundament die Neutralisierung von politischer Handlungsfähigkeit, sodass dieses damit immer nur wiederholt und bestätigt werden kann.93 Atrias Position ist in der Konsequenz ein‐ deutig: Eine vollständige Demokratisierung Chiles, die nicht die Militärdiktatur in sich wiederholt, kann es nur mit einer neuen Verfassung geben. Im offensichtlich Schmittschen Rahmen, in dem Atria argumentiert, gibt es die Verfassung immer nur als Ganze – als Ausdruck einer grundlegenden „Entscheidung“ über eine „politische Form“. Aus diesem Grund interessiert er sich auch nicht für die konkreten histori‐ schen Momente der Demokratisierung, die, da immer nur partiell, letztlich unbedeu‐ tend seien. Damit aber muss er auch annehmen, dass die politischen Errungenschaf‐ ten von 1989 und 2005 nicht wirklich Ausdruck eines demokratischen Prozesses waren – und das heißt (so wirft es ihm Cristi vor), „nicht die politischen Kämpfe zu berücksichtigen, die den Triumph des Plebiszits 1988 und 1989 [gegen Pinochet] herbeiführten“.94 Atria denke Verfassungsgebung lediglich als einen fundamentalen Akt, der ungebunden und unbestimmt bleiben müsse.95 Gerade dieses Denken einer revolutionären unbestimmten Kraft, die sich in der Konstituierung verwirklicht, ist es ja, so ließe sich noch ergänzen, was bei Schmitt die „souveräne Diktatur“ auf den Plan bringt – als die Institution, die in der Lage ist, den unbestimmten Willen des Volkes zu bestimmen. An diesen Diskussionen wird also deutlich, dass der Versuchung widerstanden werden muss, lediglich auf das „Volk“ als konstituierendes Subjekt zu setzen, um der Diktatur eine Demokratisierung der Verfassung oder eine demokratische Verfas‐ sung entgegenzusetzen. Die Annahme eines gegebenen, freien „Volks“ ist selbst Teil des Problems,96 sodass die entscheidende Frage früher ansetzen muss: Wie kommt das konstituierende Subjekt „Volk“ eigentlich zustande – was enthält es und was 92 93 94 95

Ebd.; übers. M. M. Vgl. Atria 2017. Cristi 2017; übers. M. M. Zur Replik von Atria an Cristi, s. Atria 2017; zur Diskussion und gegen beide Positionen: Vatter 2017. 96 Dazu: Vesco 2019, S. 419; Bonefeld 2017.

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wird durch dessen Konstruktion ausgeschlossen?97 Soll der nun in Gang gesetzte Prozess der Konstituierung tatsächlich ein demokratisches Versprechen verwirkli‐ chen und die Ablösung von einem autoritären (Neo-)Liberalismus erreichen, muss diese Frage unbedingt mitadressiert werden. Und in der Tat gibt es dazu wichtige Ansätze, seitdem die Forderung nach einem demokratischen verfassungsgebenden Prozess in den letzten Jahren zunehmend ins Zentrum politischer Debatten rückte. Bereits im Zuge der massiven Studierendenproteste von 2011 kam die Forderung nach einer neuen Verfassung auf98 und gewann in verschiedenen politischen Zusam‐ menhängen sowie auch in indigenen Bewegungen immer weiter an Bedeutung.99 Michelle Bachelet griff im Zuge ihrer zweiten Amtszeit diese Forderungen und Diskussionen auf und versprach die Initiierung eines verfassungsgebenden Prozes‐ ses.100 Darin war im ersten Schritt (Oktober 2015–März 2016) die Einrichtung von Instrumenten zu „ziviler und konstitutioneller Bildung“ in ganz Chile vorgesehen, um in der zweiten Phase (ab März 2016) sogenannte „Bürgerdialoge“ zur Sammlung von politischen Anliegen und Vorschlägen zu beginnen.101 Bemerkenswert erscheint mir an diesem Verfahren, dass darin die voraussetzungsreichen Bedingungen zur Existenz eines verfassungsgebenden Subjekts anerkannt werden. Dass der Verfas‐ sungsgebung selbst eine demokratische Willensbildung vorangestellt wird, zeigt, dass das, was dann „Volk“ genannt wird, nichts unbestimmt Gegebenes ist, sondern erst – durch einen politischen Prozess (oder einen Prozess der Politisierung) – zu‐ stande kommen muss. Diesem Prozess wurde ein jähes Ende beschert, als Sebastián Piñera 2018 zum zweiten Mal die Präsidentschaftswahlen gewann und die Initiative Bachelets unmittelbar abbrach. Vor diesem Hintergrund wird erst der Verlauf der Proteste, die im Oktober 2019 in Chile begannen, richtig verständlich. Dass die Proteste mit sozialen Forderungen ansetzten, aber bereits nach kurzer Zeit in die grundsätzliche Forderung nach einer neuen Verfassung kippten, muss vor dem Hintergrund des engen und explosiven Zusammenhangs von Neoliberalismus, Verfassung und Militärdiktatur in Chile ver‐ standen werden.102 Dadurch konnten Fragen wie die Privatisierung von Gesundheit, Öffentlichkeit103 und Bildung104 als Verfassungsfragen gestellt werden – und damit auch zu Fragen einer kollektiven Neukonstituierung werden. Freilich birgt diese Ausgangslage die Gefahr, dass unverhältnismäßige Hoffnungen in die Verfassungs‐ 97 98 99 100 101 102

Dazu auch: Martinez Mateo 2018. Sazo 2017. Aylwin 2017, S. 15-16. Ebd., S. 17. Dazu: Soto/ Welp 2017; übers. M. M. Eine aufschlussreiche Analyse zum Verhältnis von politischer und ökonomischer Dimension der Proteste findet sich bei Cortés 2020. 103 Vgl. Ahumada 2018. 104 Siehe hierzu die informative BBC-Dokumentation „Chile: An Education for All“, 16.04.2020, https://www.bbc.co.uk/programmes/m000h7r1.

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änderung gelegt werden. Gleichzeitig aber steht damit auch die scheinbar einzigarti‐ ge Möglichkeit im Raum, neoliberale Verhältnisse radikal zu politisieren. In dieser Hinsicht ist bemerkenswert, dass die Proteste auch nach der Ankündigung einer erneuten Öffnung des verfassungsgebenden Prozesses weitergingen und – bis zur Stilllegung des öffentlichen Lebens aufgrund der Corona-Pandemie – nicht zum Erliegen kamen. Der Anspruch ist inzwischen offenbar nicht nur, eine Neukonstitu‐ ierung und -konstitutionalisierung zu bewirken, sondern den Prozess selbst zu demo‐ kratisieren, und dabei auch die sozialen Fragen, mit denen die Proteste begannen, in den verfassungsgebenden Prozess zu integrieren.105 Es bleibt zu hoffen, dass die aufmerksame, kritische und kompromisslose Beobachtung des verfassungsgebenden Prozesses, die sich spätestens seit Oktober 2019 in der chilenischen Öffentlichkeit abspielt, auch über das erste Referendum hinaus bestehen bleibt, um dem Neolibe‐ ralismus in seiner autoritären konstitutionellen Form ein demokratisches Kollektiv entgegenzusetzen – nicht als gegebenes, souveränes „Volk“, sondern als demos, der sich in der Politisierung bildet und sich durch diese zum kollektiven, wenn auch heterogenen, politischen Subjekt macht.

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Tim Wihl Das öffentliche Gericht. Das deutsche Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik

1. Einleitung Dem deutschen Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bescheinigen ausländische wie auch deutsche Beobachter*innen gerne eine nahezu unangefochtene Vorbildrolle im Reigen der nationalen Höchst- und Verfassungsgerichte.1 Diese günstige Einschät‐ zung beruht mutmaßlich einerseits auf der nicht selten hohen handwerklichen und intellektuellen Qualität seiner Urteile und Beschlüsse, andererseits aber auch auf sei‐ ner spezifischen Rolle in der „Aufarbeitung“ der deutschen NS-Vergangenheit.2 Als Förderer der langsamen Befreiung der Deutschen von der faschistischen Erblast hat das BVerfG einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Rehabilitation des Landes geleistet. Dadurch konnte es zu einer Art Modell posttotalitärer emanzipatorischer Rechtsprechung werden. Und das nicht ohne Grund: Das Gericht gehörte in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik zu den wenigen kaum „belasteten“ Institutio‐ nen. Von einzelnen „Schönheitsfehlern“ abgesehen, war es ein einsamer Hort von NS-Skeptiker*innen in einem Land, das sich, durchaus anders als die DDR, nicht zu einer rigorosen Abrechnung mit NS-Tätern entschließen mochte,3 sondern diese schnell wieder in höchste Machtpositionen rücken ließ. Das BVerfG strahlte also auch deshalb, weil die restlichen Institutionen der BRD – von den Nachrichtendiens‐ ten bis zum Chef des Bundeskanzleramts und dem BGH-Präsidenten – moralisch so schlecht aussahen. In Entscheidungen wie dem epochalen Lüth-Urteil konnten die Karlsruher Roben einem Land den Weg weisen, das in seiner Mehrheit dem transformativen Pathos vieler Entscheide weit hinterher hinkte. Die Frage ist, ob sich diese positive Einschätzung aufrechterhalten lässt, sobald das BVerfG aus dem Schatten dieser Vergangenheit trat. Ein sehr ungünstiges Licht warfen bereits das KPD-Verbotsurteil,4 dessen sich das Gericht aber anfangs im‐ merhin mit unverblümten Missfallensbekundungen gegenüber den Antragstellern

1 Für Kritik und Anregungen danke ich herzlich Vivien Bohm. 2 Dazu jüngst Neiman 2020. 3 Die DDR war dadurch gerade in den Anfangsjahren ein Sammelbecken für das „andere Deutschland“, während Rechtsextreme in großer Zahl nach Westdeutschland flohen. Vgl. ein‐ drücklich und mit zahlreichen Nachweisen: Grams 2020, S. 105-112. 4 BVerfGE 5, 85.

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zu „erwehren“ versucht hatte,5 und der Entscheid zur Homosexuellenkriminalisie‐ rung6 voraus, unzweifelhaft ein moralisch-intellektueller Tiefpunkt der Gerichtsge‐ schichte. Immerhin verlängerte das Gericht in beiden Fällen die Verfolgung von NS-Opfergruppen. Allerdings trafen beide Entscheide in der BRD-Gesellschaft auf äußerst wenig Beachtung oder gar Empörung7 – ein untrügliches Zeichen für die mangelnde demokratische Reife der Westdeutschen in der späteren Nachkriegszeit. Die zweite Hälfte der 1960er Jahre brachte dann in dieser Hinsicht eine Zäsur, der Blick auf das Gericht wurde schärfer. Plötzlich erschien dieses manchen fast als Speerspitze der Reaktion. In dem Maße, wie die Regierung eines Emigranten, Willy Brandt, tiefgreifende Reformen ins Werk setzte, wandelte sich das BVerfG zum viel beklagten „Kampfinstrument“ der Opposition, das zahlreiche Vorhaben der Brandt-Regierung infrage stellte, zuvörderst die Legalisierung von Abtreibungen und die neue Ostpolitik. Gerade auch reformfreudige Bundesländer mussten sich vom BVerfG ausbremsen lassen, etwa in der Hochschulpolitik. Zugleich wurden regressive Teile der Regierungspolitik wie die Berufsverbote für Linke mit ähnlich schwachen Begründungen bestätigt. Selbst in moderateren Entscheiden, etwa zur Mitbestimmungsreform, finden sich überschießende und daher kaum legitimierte Formulierungen. Noch problematischer war, dass das Gericht sehr tiefgreifende rechtsdogmatische Figuren neu einführte, vor allem die staatliche Schutzpflicht für das menschliche Leben im kontroversen Abtreibungsurteil. Insgesamt muss man daher bereits nach 20 Jahren von einer ersten tiefen Vertrauenskrise des BVerfG in weiten Teilen von Bevölkerung und Wissenschaft sprechen, während es in den 1950er und 60er Jahren noch vor allem die Bundesregierung selbst gewesen war, die gegen das Gericht Stellung bezogen hatte. Zwischen etwa 1978 und 1996 darf man sicher auch gerade, weil Karlsruhe sich die heftige Kritik von progressiver Seite zu Herzen nahm, von einer teils verkannten Hochphase der Rechtsprechung sprechen. Dafür steht einerseits die Ent‐ wicklung einer effektiven Gleichheitsrechtsprechung vor allem in mehreren Trans‐ sexuellen-Entscheidungen,8 andererseits das vehemente Bekenntnis zu kommunika‐ tiven Freiheitsrechten im Brokdorf-Beschluss,9 in „Soldaten sind Mörder“10 oder dem Kruzifix-Entscheid11. Gerade letztere riefen zwar zunächst teils die Empörung konservativer Kreise hervor, doch versöhnten sich diese spätestens dann mit dem

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Ausführlich Foschepoth 2017. BVerfGE 6, 389. Vgl. etwa die kritischen Anmerkungen Helmut Ridders in: Ridder 1957. BVerfGE 49, 286; 60, 123; 88, 87. BVerfGE 69, 315. BVerfGE 93, 266. BVerfGE 93, 1.

Gericht, als es seine äußerst vermögens- und familienfreundliche Steuerrechtspre‐ chung intensivierte.12 Die Hochphase, in der große Fortschritte wie die Entscheidungen zur Anglei‐ chung der Lebenspartnerschaften an die Ehe13 im Keim angelegt wurden, enthielt freilich auch die Ansätze zu fragwürdigeren Entwicklungen. Das gilt vor allem für die EU-Rechtsprechung des Zweiten Senats. Der diesbezüglich maßgebende Satz lautet: „Gibt der Deutsche Bundestag Aufgaben und Befugnisse auf, insbesondere zur Gesetzgebung und zur Wahl und Kontrolle anderer Träger von Staatsgewalt, so berührt das den Sachbereich, auf den der demokratische Gehalt des Art. 38 GG sich bezieht.“ (BVerfGE 89, 155, 172) Im Maastricht-Urteil hat das BVerfG sich durch diese schwer begründbare prozessrechtliche Volte selbst ermächtigt, die deutsche „Eigenstaatlichkeit“ zu überwachen. Mit der Gewährleistung demokratischer Rechte hat das wenig zu tun. Umso mehr mit der Sicherung eigener Kompetenzen gegen fö‐ deral-europäische Fortschritte. Das Gericht erscheint in dieser Linie der Judikatur bis heute als eifersüchtiger und zugleich schwacher Patron einer teils mit seiner Hil‐ fe errungenen demokratischen Reife, die die „anvertraute“ Nation, nunmehr „flüg‐ ge“, längst über sich hinaus getragen hat.14 Gegenwärtig hat das BVerfG gerade deshalb wieder Schwierigkeiten, seine Rolle zu finden. Dabei geht es nicht einfach um eine „Konkurrenz der Gerichte“, die von den Beteiligten als Kooperation verbrämt wird. Das BVerfG ringt vor allem darum, ob es sich weiter als „Hüter“ verstehen kann – der demokratischen Verfas‐ sung eines Gemeinwesens, das ihm zunehmend entgleitet. Das ist zunächst einmal eine gute Nachricht. Es scheint, dass die deutsche Gesellschaft nicht nur immer „europäischer“ tickt, was naturgemäß nicht ohne größere Konflikte abgeht, weil die EU seit einigen Jahren endlich im großen Stil politisiert wird, sondern dass sie auch immer weniger auf eine Justiz als „gesellschaftliches Über-Ich“ (Ingeborg Maus) an‐ gewiesen ist. Die Justiz mitsamt dem BVerfG oder dem EuGH erscheint zunehmend als das, was sie sein soll: ein Instrument zur Herstellung von Rechtsfrieden, das Frieden durch Gerechtigkeit nur dank der Kläger*innen erstreiten kann, dann aber als nur ein „Spieler“ unter vielen wahrgenommen wird. In erster Linie vertrauen die Deutschen zunehmend auf sich selbst, ihre eigene Fähigkeit zur Selbstorganisation und Solidarität, was sich in erster Linie an dem zivilgesellschaftlichen Engagement verschiedenster Intensität, von „Slacktivism“ über Bloggen bis zu „direct action“, ablesen lässt. Dafür spricht also nicht zuletzt der enorme Bedeutungsgewinn aller Protestformen „von unten“, die keinen negativen, sondern einen durch Konflikt errungenen positiven Frieden anbahnen. Die Deutschen brauchen das BVerfG als Autorität immer weniger, sie begreifen es immer mehr als einen potentiellen Bünd‐ 12 Unter Federführung des Richters Paul Kirchhof, s. z. B. BVerfGE 93, 121. 13 BVerfGE 124, 199; 126, 400; 131, 239; 133, 59; 133, 377. 14 Vgl. zur Kritik nur Möllers 2011a.

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nispartner beim Streit für eine bessere Gesellschaft. Es emanzipiert sich so eine Zivilgesellschaft, die seit den 1970er Jahren beschworen wird, aber gerade erst zu sich selbst kommt.15 Das BVerfG wird damit von einem autoritären Teil des Staats‐ apparats zu einem Kooperationspartner engagierter Citoyens unter vielen. Diese Rolle muss es nun unverkrampft annehmen. Dass das BVerfG auf einem guten Weg sein könnte, zeigt das Urteil zur Aus‐ landsaufklärung des BND vom Mai 2020.16 Damit hat sich das BVerfG nicht zum ersten Mal, aber vielleicht erstmals so selbstbewusst zum Verbündeten einer politi‐ schen Öffentlichkeit – der Zivilgesellschaft – gemacht, die auf der Kläger*innenseite durch Organisationen wie Reporter ohne Grenzen und die Gesellschaft für Freiheits‐ rechte (GFF) vertreten war. Es urteilte – ganz anders als im äußerst schwachen Beschluss zur Aufklärung über die NSA-Selektorenlisten ein paar Jahre zuvor17 – dass der BND keine etatistisch abgeschirmte „Black Box“ der Grundrechte sein kann. Das Parlament und die Öffentlichkeit haben ein Recht auf Kontrolle auch der besonders arkan arbeitenden Staatsorganisationen. Das kümmerliche Symbol einer zu Ende gehenden Rechtsprechungslinie des Ge‐ richts war demgegenüber der fast gleichzeitig ergangene Entscheid zu den EZB-An‐ leihekäufen.18 Man mag von diesen, vor allem aber auch von der mangelnden Kon‐ trolle der EZB halten, was man will. Deren problematische Unabhängigkeit beruht vor allem auf Wünschen der deutschen Regierung, die das Modell Bundesbank un‐ bedingt in die EU exportieren wollte. Es ist beruhigend, mit welcher Gelassenheit die deutsche Öffentlichkeit mit dem Urteil umgeht. Der Bundestag erweckt den Ein‐ druck, einer reinen Pflichtübung nachzukommen, wenn er die EZB um Verhältnis‐ mäßigkeitsbescheinigungen bittet. Die praktisch indifferenten Reaktionen nach kur‐ zer überraschter Aufwallung trügen nicht.19 Auch wenn das BVerfG in Gestalt ein‐ zelner Richter versuchte, sich noch einmal als wichtiger europäischer Akteur in Stel‐ lung zu bringen, ist das Urteil nur formal ein großes, indem es den EuGH abqualifi‐ ziert. Substantiell ist es winzig, weil der Rückzug auf den Inbegriff deutscher Grundrechtstheorie, die abwägende Verhältnismäßigkeitsprüfung,20 im Angesicht einer EU-Institution kläglich provinziell anmutet. Es ist möglich, wie die drei abwei‐ chenden Stimmen in der Entscheidung zum EU-Patentgericht zeigen,21 dass mit dem Richter*innenwechsel im Zweiten Senat Mitte 2020 auch hier eine Abkehr von der Post-Maastricht-Judikatur, die Art. 38 I 1 GG ungebührlich aufgepumpt hat, erfolgen

Im deutschen juristischen Diskurs bedeutsam: Rödel/Frankenberg/Dubiel 1989. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2835/17. BVerfGE 143, 101. Dazu Möllers 2017. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 05. Mai 2020 - 2 BvR 859/15. Vgl. v. a. die Beiträge in der Fachöffentlichkeit auf verfassungsblog.de und in der Presse. Vgl. zur Einordnung der deutschen in andere Traditionen der Grundrechtstheorie: Wihl 2019, S. 73-128. 21 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 13. Februar 2020 - 2 BvR 739/17. 15 16 17 18 19 20

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wird. Damit könnte sich das BVerfG aus seiner selbst gebauten verfassungsprozess‐ rechtlichen Falle befreien. Im Verbund mit einer zurückhaltend-kooperativen Grund‐ rechtsrechtprechung zu EU-Konstellationen22 (etwa gemäß einer Art Menschenwür‐ dekontrolle als wahrer „Identitätskontrolle“ wie in den Haftbefehl-Fällen23) könnte das BVerfG zu seiner neuen Rolle als Wächter einer Öffentlichkeit als politischen Gesellschaft24 finden. Wie die „Recht auf Vergessen“-Entscheidungen des Ersten Senats erkennen lassen, ist es entgegen der bisherigen Tendenz des Zweiten Senats sehr gut möglich, europäischen Föderalismus und sogar effektiveren Grundrechts‐ schutz als bisher – in einer Art EU-Grundrechte PLUS deutsche Grundrechte-Prüf‐ programm – in Einklang zu bringen. Dazu muss man lediglich alten Etatismus hinter sich lassen und konsequent von den europäisch-deutschen Bürger*innen mit ihren individuellen Rechten her denken, wie es eine Hälfte des BVerfG vorgeführt hat. Mit einer abgedroschenen Phrase ließe sich daher sagen, dass das BVerfG an einem Scheideweg steht, oder auch, dass wir Zeitzeug*innen einer verfassungspro‐ zessualen Zäsur sind. Die nunmehr darzustellenden Probleme der demokratischen Legitimation und machtpolitischen Verortung des Gerichts münden daher in die große Frage nach Reformen gerade im Angesicht der beiden genannten Tendenzen – Autonomisierung und Europäisierung der Bürgerschaft.

2. Das BVerfG im Gewaltengefüge – Die formale Legitimationsfrage Wenn das BVerfG als Ausübung von rechtsförmiger Herrschaft nach Legitimation verlangt, gelingt dies nur über eine Verortung im Gewaltengefüge. Dabei stellt sich bereits zu Anfang die Frage, ob wir es hierbei mit einem Teil der Staatsmacht zu tun haben. Diese Frage ist weniger naiv, als sie klingt. Denn als Gegenspieler der Exekutive, aber auch der mit dieser im Machtverbund stehenden legislativen Mehrheit könnte das BVerfG auch ein Bestandteil der Gesellschaft in politischer Hinsicht, also der Zivilgesellschaft der Citoyens respektive der Öffentlichkeit sein. Das BVerfG hat die Frage einst resolut selbst beantwortet, indem es sich trotz eines fehlenden eigenen Abschnitts im Grundgesetz (GG) in Statusbericht und -denkschrift 1952 zum Staats- und Verfassungsorgan promoviert hat.25 Die im an‐ gelsächsischen Raum geläufige Annäherung der Justiz an die Gesellschaft, wie sie gerade im Privatrecht durchaus naheliegend scheint, zumal wenn Richter*innenrecht unabhängig von staatlicher Gesetzgebung kultiviert wird, hat das BVerfG auf diese Art implizit zurückgewiesen. Die Debatte um die sog. Statusdenkschrift des BVerfG 22 Weitgehend in diese Richtung: BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 06. November 2019 - 1 BvR 276/17; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 06. November 2019 - 1 BvR 16/13. 23 Bspw. BVerfGE 140, 317. 24 Im Sinne eines „enablement“. 25 JöR NF Bd. 6 (1957), S. 110, 144.

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aus der Feder von Gerhard Leibholz drehte sich zwar vorwiegend um andere Probleme, doch lag das daran, dass man die Staatlichkeit des BVerfG für einen seiner unumstrittenen Züge hielt – im Gegensatz vor allem zur Budget- und Perso‐ nalhoheit. Das Verfassungsgericht nicht als Teil des Staates zu denken, wäre als seltsame Vorstellung erschienen, obwohl das BVerfG gerade über die Staatsgewalten in ihrer Gänze zu Gericht sitzt. Wäre ein solch universalisierter Kontrollauftrag nicht eine klassische Gesellschaftsaufgabe? Dafür sprach bereits, dass die Verfassungsbe‐ schwerde die Bürger*innen in neuartiger Weise zu den Initiator*innen dieser Kon‐ trolle erhob. Freilich konnte man seinerzeit den späteren Erfolg dieser Prozessart und seinen paradigmatischen Stellenwert für das Gericht nicht vorausahnen; man betrachtete das BVerfG noch überwiegend als (wenn auch beträchtlich) erweiterten Staatsgerichtshof. Insbesondere Gerhard Leibholz war zudem ein Repräsentant einer staatsfixierten Verfassungstheorie, die sich selbst mit politischen Parteien als Macht‐ trägern nur anfreunden mochte, soweit sie diese geistig und rechtlich verstaatlichen konnte.26 Daher musste ein Selbstverständnis als Citoyen-Gericht fremd erscheinen, wenngleich doch die eigene Rolle über die Ausübung von Checks and Balances in der Regierungsgewalt hinausging und außerdem die Bürger*inneninitiative in Grundrechtsfragen als legalisierter Nachfolger des vormodernen Widerstandsrechts gelten durfte.27 Nicht zuletzt die politische Theoretikerin Ingeborg Maus wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass es bei der Institution des BVerfG wegen dessen Normenkontroll‐ befugnis – also der Frontstellung gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber – nicht zu einer Gewalten-, sondern vielmehr zu einer Souveränitätsteilung komme.28 Denn die moderne, im Gefolge von Locke, Rousseau und Kant errungene Volkssou‐ veränität könne man nur als eine von unten nach oben einheitlich und ungebrochen ausgeübte verstehen; sonst komme es eben zu einer Souveränitätsteilung, wie sie beim Aristokraten Montesquieu, aber gerade nicht beim (Proto-) Demokraten Kant angelegt sei. Eine solche Souveränitätsteilung sei von Übel und eine gesetzesnor‐ menverwerfende Institution wie das BVerfG daher gefährlich für das postrevolutio‐ när-demokratische Prinzip der Volkssouveränität. Unabhängig von den kontroversen Deutungen der genannten politischen Denker könnte man aber aus Maus´ Befund auch die ganz anders geartete, namentlich offen‐ sive statt defensive Folgerung ziehen, dass das BVerfG sich dann eben konsequent auf die Seite der Gesellschaft stellen muss, statt (nicht unbeträchtliche) Restbestände eines etatistischen Selbstverständnisses zu pflegen. Das würde bedeuten, sich in der Tendenz als Anwalt des Parlaments (insbesondere der Opposition) oder der Grund‐ rechtsträger*innen gegenüber dem Komplex der Regierung samt ihrer Parlaments‐ 26 Kaiser 2013. 27 James Iredell, zit. bei Wihl 2019, S. 18. 28 Zuletzt Maus 2018, S. 204-226.

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mehrheit zu begreifen und sich in den nicht seltenen Grundrechtskollisionslagen, in denen Bürger*innen gegen Bürger*innen kämpfen, weitergehend zurückzuhalten als in anderen Fällen – es sei denn als „Enabler“ von funktionierenden Öffentlichkeits‐ strukturen. Schwarz-Weiß-Lösungen sind hier so oder so nicht zu erwarten; es kann nur darauf ankommen, aufgrund der eigenen selbstverständlichen Verortung mit ten‐ denziellen Zielen zu judizieren – weniger als Staatsorgan, mehr als Ombudsstelle, um statt einem ideellen Staatsgesamtwillen einen Baustein des reellen Bürger*in‐ nengemeinwillens zu repräsentieren. Die übersehenen Rechtspositionen muss das BVerfG dann ins Licht rücken und zum Bestandteil des im Parlamentsentscheid er‐ mittelten, noch (und immer) defizitären Gemeinwillens machen. Es kommt dabei auf die Richtung oder Tendenz an, nicht ein logisch unmöglich „richtiges“ Ergebnis. Zweifelhaft bleiben dann immerhin all solche materiellen Entscheidungen, die einen staatlich-exekutiven Kern- oder Arkanbereich gegen Grundrechtsträger*innen ver‐ teidigen oder auch die von Ingeborg Maus und vielen anderen zu Recht kritisierten „Rechtsgüter“ erfinden, die Grundrechtspositionen in zahlreichen Einzelfällen in „Abwägungen“ entwerten (Funktionsimperative bestimmter Einrichtungen, zuletzt etwa im Fall des Kopftuchverbots für Rechtsreferendarinnen29). Letzlich muss das Gericht eine Art innere Bremse ziehen, sobald es in Abwägungen gedrängt wird, die besser Parlamente oder das protestierende Volk vornehmen. So würde die Problema‐ tik der Gesetzesgeltung von Verfassungsgerichtsentscheidungen (vgl. § 31 BVerfGG) und somit eine eventuelle Souveränitätsteilung doch beträchtlich ent‐ schärft. Das dürfte auch im Sinne des oft als Wegbereiter des BVerfG eingestuften Rechtstheoretikers Hans Kelsen sein, dem es insgesamt um die Stärkung der Selbst‐ bestimmungsgrade der Gesellschaft – in Mehrheit und Minderheit(en) – ging.30 Der Autorität des Gerichts dürfte ein solcher Wandel besonders zuträglich sein. Denn diese erwächst nicht, wie oft insinuiert, aus dem faktischen Nullsummenspiel von Geheimnischarakter der Entscheidungsfindung, dem „Schleier des Beratungsge‐ heimnisses“, und öffentlicher Transparenz der rechtlichen Beweggründe, symboli‐ siert auch durch die sinnfällige moderne Architektur des BVerfG. Sondern sie ist das direkte Ergebnis der Möglichkeit der Bürger*innen, sich das BVerfG in der Ver‐ fassungsbeschwerde zu eigen zu machen.31 Man vergleiche das mit der Stellung des EuGH, der nicht einfach nur weniger bekannt ist, sondern auch viel weniger legitim erscheint, gerade weil es keinen nicht staats- (inkl. gerichts-)vermittelten Zugang zu ihm als Machthaber gibt. Daraus erwächst eine echte Chance für das BVerfG, sich aus Anlass der (im Streit gegründeten) Europäisierung, aber auf Grund der Autonomisierung der Gesellschaft als Gesellschaftsorgan neu zu erfinden. Seine

29 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Januar 2020 - 2 BvR 1333/17. 30 Lepsius 2013. 31 Ähnlich Möllers 2011, S. 366.

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Autoritätsquelle wäre dann eine genuin demokratische, nämlich Unparteilichkeit32 im Dienste der gesamten Öffentlichkeit, die keinen „im Dunkeln“ des Gesetzgebers lässt. Auch der berühmte Kelsensche Ausdruck des „negativen Gesetzgebers“ Ver‐ fassungsgericht erhielte so seine wahre Bedeutung: es geht nicht um die Negation des einen institutionellen Gesetzgebers als konkurrierendes staatliches Organ, son‐ dern um die Negation des Staates als Teil des einheitlichen Gesetzgebers politische Bürger*innengesellschaft respektive Öffentlichkeit. Das BVerfG muss sich daher entscheiden, wessen Teil es sein will – gerade weil Staat und Gesellschaft keine Dichotomie bilden, sondern ein Kontinuum, das durch die Aufsprengung beider in verschiedene Machtfaktoren oder Gewalten entfaltet wird. Auf der Seite des Staates ist das die futuristische Legislative im Verbund mit der passeistischen Justiz, idealtypisch (nicht tatsächlich) der Mund des Gesetzes, gegenüber der sich stets zu verselbständigen drohenden Exekutive mit ihrer präsentischen Zwangsgewalt;33 auf der Seite der Gesellschaft die Citoyen-Öffentlichkeit („Zivilgesellschaft“) gegenüber der kommerzialisierten Marktbürger*innen-Sphäre („Markt“). Wie verhält sich diese Legitimationsquelle, wonach sich die Gesellschaft ihr Verfassungsgericht zueigen macht, zu den in der Literatur genannten Legitimations‐ momenten des BVerfG?34 Einerseits ist es die schiere Legalität des BVerfGG, des Gesetzes über das BVerfG, welche Legitimation spendet. Diese ist aber begrenzt, weil die Bindungen durch das Prozessrecht schwach ausgestaltet sind. Die Verfassungsgarantien selbst (Art. 93, 100, aber auch andere Art. des GG) sind nur erschwert abänderbar, so dass eine Aktualisierung jedenfalls nicht in den Händen einer einfachen Mehrheit liegt. Andererseits sind es verfassungstheoretische Überlegungen, die politisch Legi‐ timation verschaffen können, indem sie die Bedingungen einer funktionierenden Demokratie ausbuchstabieren und auf die Leistungen des BVerfG beziehen. Dazu zählt (1.) die Sicherung demokratischer Verfahren. Allerdings macht diese nur einen kleinen Teil der Entscheidungstätigkeit des Gerichts aus. Außerdem ist fraglich, wo die Grenze prozeduraler Fragen zu substantiellen Fragen zu ziehen ist. Spielregeln sind im politischen Raum nicht Regeln eines Spiels, das seinen Reiz aus deren Unveränderlichkeit bezöge. Zur Politik gehört, dass man auch über die Verfahren diskutieren kann. Nicht zuletzt für Basisdemokratie-Praxis ist es kaum eine unty‐ pische Situation, viel Zeit mit Geschäftsordnungsdebatten zu verbringen. In der Demokratie ist die Form stets substantiell. So hebt das Prinzip einfacher Mehrheit eine bestimmte Vorstellung von Gleichheit auf.35

32 Rosanvallon 2008. 33 Vgl. zu diesen idealtypischen Zeitlichkeiten der „Gewalten“ Möllers 2008. 34 Im Folgenden lehne ich mich an die ersichtlich vollständigste Diskussion der Legitimations‐ quellen des BVerfG an: Möllers 2011, S. 329-355. 35 Deutlich Sadurski 2008.

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(2.) handelt es sich um den Schutz von Minderheiten. Das mag eine klassisch kelsenianische Legitimationsstrategie sein. Sie leidet aber an gravierenden logischen Fehlern. Um Minderheiten kann es hier nicht gehen, weil nicht nur Minderheiten Grundrechtsträger*innen sind. Minderheiten haben keinen Eigenwert über die Tat‐ sache hinaus, dass sie in der Form der Opposition oder als individuelle Rechtsträ‐ ger*innen Schutz verdienen. Wenn eine „Tyrannei der Mehrheit“ droht, scheint der Tyrann bereits einen Maßstab normativer Gleichheit anzulegen, ohne den er keine ausschlaggebende Mehrheit von einer Minderheit unterscheiden könnte. Mehrheiten und Minderheiten sind in der Demokratie gerade nicht stabil, und der Schutz ihrer Angehörigen lässt sich nur individualistisch begründen – mit dem Wert individuel‐ ler gleicher Autonomie, nicht kollektiver Identitäten. Daher ist die Rezeption der berühmten „Footnote Four“ des Carolene Products-Urteils des US-Supreme Court, in der von schutzbedürftigen „discrete and insular minorities“ die Rede ist,36 nur für die egalitäre Struktur jeder individuellen Grundrechtsberechtigung von Bedeutung,37 nicht für den Schutz solcher „minorities“ per se. (3.) ist der Grundrechtsschutz selbst die vielleicht wichtigste Legitimationsüberle‐ gung. Problematisch daran ist, dass hier erst einmal zu bestimmen ist, welche Form von Rechten es zu schützen gilt. Aus der formalen Natur der Rechte ergibt sich je ein verschiedenes ideales Kontrollarrangement.38 Unterscheiden lassen sich ein „angelsächsisches“ und ein „deutsches“ von einem „französischen“ Modell des Grundrechts in formaler Hinsicht. Während ersteres sich durch Absolutheit und als vorpolitisch gedachte Freiheitsräume auszeichnet, ergeht sich das zweite in relativierender Abwägung, und das dritte sucht nach idealer Gestaltung in politischen Gesetzen. Das Verfassungsgericht hat dann jeweils eine verschiedene Funktion. Im angel‐ sächsischen Typus – grob vereinfacht: „My home is my castle“ – kann letztlich jedes Gericht sinnvoll dezentral entscheiden, weil es recht konkrete Anweisungen des Textes der Rechte zu exekutieren gilt. Das „BVerfG“ wäre dann lediglich ein Letztkorrekturorgan in einer sehr innerjuristischen Angelegenheit, in der es darum geht, das Reservat natürlichen Rechts gegen politische Einmischung als Zumutung zu verteidigen. Ersichtlich entspricht das eher selten dem Selbstverständnis des deut‐ schen BVerfG. Es würfe aber auch geringere demokratietheoretische Probleme auf, insofern die meist eher engen absoluten „domaines réservés“ konkret verfassungs‐ textlich abgezirkelt sind. Eine Selbstermächtigung des Gerichts wäre hier nur bei Strafe des unmittelbaren Ertapptwerdens wegen missachteter Verfassungsbindung denkbar, wenn auch natürlich – gerade angesichts der idealtypischen Natur der drei Modelle – keineswegs ausgeschlossen. So vermag der US-amerikanische Supreme 36 304 U.S. 144. 37 Wihl 2019, S. 170-210. 38 Die folgenden Gedanken unter (3.) entstammen teils: Wihl 2019, S. 73-128.

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Court Geld als „speech“ einzustufen und so seine Entscheidungsgewalt ungebührlich zu erweitern,39 worauf nur noch auf das Ableben der Protagonist*innen und/oder Court Packing gesetzt werden kann. Eine schädliche Überpolitisierung des Gerichts wird in diesem System viel offenkundiger sichtbar als in den beiden anderen. Im französischen Formmodell der Grundrechte ist ein Verfassungsgericht fast überflüssig; es könnte allerdings kontrollieren, wieweit das Parlament seiner Pflicht zur Ausgestaltung und Effektuierung der Grundrechte in Gesetzen nachkommt und ob es evident diese seine „treuhänderische“ Pflicht zur Entfaltung der politisch gedachten Rechte verletzt. Meist begnügt sich der französische Verfassungsrat auch genau damit, menschenrechtliche Prinzipien in Gesetzen nachzuweisen und nur aus seiner Sicht grob falsche Gewichtungen zu beanstanden. Der damit verbundene ar‐ gumentative Aufwand steht in proportionalem Verhältnis zum daher angemessenen geringen Textumfang der Entscheidungen des „CC“ (Conseil Constitutionnel). Der deutsche Formtyp der Grundrechte bewegt sich zwischen beiden Extremen, ohne die „goldene Mitte“ zu bezeichnen. Im Gegenteil wirft die hierzulande beliebte Abwägungspraxis besondere Legitimationsfragen auf. Anders als (idealtypisch) das US‑Höchstgericht kontrolliert das BVerfG keine konkret umrissenen vorpolitisch gedachten Freiheiten, noch vollzieht es wie in Frankreich politische Entscheidun‐ gen hinsichtlich ihrer Prinzipienverwirklichung nach. Es billigt vielmehr eine har‐ monische Zuteilung von Rechten auf verschiedene Träger*innen oder stellt diese selbstständig her, ohne („angelsächsisch“) vom Text des Grundgesetzes oder („fran‐ zösisch“) von Gesetzestexten allzu viele Anregungen zu empfangen. Das BVerfG ist wirklich auf sich allein gestellt. Daraus erwächst seine, je nach Perspektive, heroi‐ sche oder demokratiegefährdende Kompetenz. Weder ist das BVerfG unter Grund‐ rechtsgesichtspunkten, die es nicht zufällig regelmäßig objektiviert – in den Maßstä‐ beteilen seiner Entscheidungen40, und prozessrechtlich hinsichtlich der Beschwerde‐ befugnis („allgemeine Bedeutung“, selbst nach Tod des Beschwerdeführers) und des Prüfumfangs (auch nicht gerügte Beeinträchtigungen) –, in erster Linie ein Ad‐ vokat einzelner Bürger*innen gegenüber der Staatsgewalt. Noch verdeutlicht es vor allem dem legislativpolitischen Prozess, wo dieser noch einmal nacharbeiten muss, weil er zu berücksichtigende Prinzipien übersehen hat. Das BVerfG funktioniert grundlegend anders. Es approbiert oder verwirft die verhältnismäßige Zuteilung von Rechten gegenüber den verschiedenen Gruppen, die von einer Gesetzgebung adressiert sind. Es ist daher beständig in Gefahr, seine in der Tat schillernde Rolle im Verfassungsprozess misszuverstehen. Denn es kann sich bei dieser Aufgabe der ver‐ hältnismäßigen Zuteilung sowohl als Verbündeter einzelner Bürger*innen verstehen, 39 „Citizens United“ v. FEC ist und bleibt der epochale Missgriff nach Dred Scott, Plessy, Lochner und Korematsu. In allen Fällen entfernt sich das Gericht, mit verschiedenen Mitteln, vom US-Formtyp der Rechte. 40 Lepsius 2011.

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insbesondere soweit ein Gesetz eine klare und begrenzte Zielrichtung hat, als auch als Staatsorgan, das die legislative Interessenaustarierung nachkalibriert, so dass das BVerfG letztlich als Agent der staatlichen Prozesse fungiert, denen sich einzelne Citoyens unterworfen fühlen oder von denen sie schlicht Nachteile erleiden. Wäre das BVerfG klar der Gesellschaft zugeordnet, könnte es eindeutigere Urteile fällen, dies aber wesentlich seltener als derzeit. Wäre es unzweifelhaft bloß Staatsorgan, würde es zu einer Art Ständigem Ausschuss der Gesetzgebungskalibrierung. Es hätte dann durch Harmonisierung im doppelten Sinne – Ausgleich und Kalmierung – zuvörderst den „öffentlichen Frieden“ zu wahren, also die Öffentlichkeit gerade ruhig zu stellen, nicht zu beleben. Aus der Widersprüchlichkeit der Verortung des BVerfG im Gewaltengefüge des übergreifenden Gemeinwesens (Staat-Gesellschaft-Kontinuum) erwächst in der Hauptsache das spezifische Legitimationsproblem dieses Gerichts. Man könnte sa‐ gen, das BVerfG muss sich entscheiden, wer es sein will: krönender Abschluss des Staatswesens als dessen ständiger gerichtlicher Ausschuss (nicht unähnlich einem „Staatsrat“-Modell)41 oder unparteilich, vor allem aber reflexiv42 kämpfende Advo‐ katur einer lebendigen Öffentlichkeit, die selbstverständlicher, namentlich negatori‐ scher Teil des demokratischen Prozesses sein darf. Dass dem Gericht diese Entscheidung schwer fällt, ist ihm nicht zu verdenken. Gerade in Deutschland wirkt die Imago einer „richtigen“, unpolitischen Gesetzge‐ bung stark weiter, während der Interessenkampf, gar von „Minderheiten“, jedenfalls derer, die im politischen Prozess der Alternativenbildung und -auswahl Unterstüt‐ zung nötig haben, argwöhnisch beäugt wird. Dennoch stellt sich die Frage trotz aller petrifizierten Dogmatik in jedem Fall neu. Die oben erwähnten Fälle EZB und BND zeigen die unterschiedlichen Richtungen auf, in die sich das BVerfG lehnen kann. Es kann – diesmal sogar gegen den politischen Prozess insgesamt (minus die vermeintliche deutsche Kleinsparerlobby) – Notausschuss der deutschen Staatlich‐ keit oder das Organ sein, das dem politischen Prozess als Ganzem (insbesondere Parlament plus – teils mediale – Öffentlichkeit) zu seinem Recht gegen arkane Reservate der Staatlichkeit verhilft. Hätte man nicht mit den besseren Gründen, aber gegen die Maastricht-Linie die EZB-Klage schon als unzulässig verworfen, wäre es sinnvoll möglich gewesen, die Unabhängigkeit der Bundesbank aufzuheben – nicht mehr und (vor allem) nicht weniger. Ein solcher Entscheid hätte eher dem Selbstverständnis des Streiters für die ideelle Gesamt-Öffentlichkeit entsprochen.43 Dann wäre nicht offen geblieben, was der Bundestag nun genau gegenüber einer 41 Vgl. zum französischen Conseil d´État nur Latour 2016. 42 Vgl. die demokratischen Legitimitätsbedingungen der Unparteilichkeit und Reflexivität bei Rosanvallon 2008. 43 Grundlegend für diese verfassungstheoretische Richtung einer emphatischen Hinwendung zur Sphäre des Öffentlichen Ridder 1960 und Ridder/Ladeur 1973. Ferner Henne 2006, S. 145-147, zu Wilhelm Hennis als frühem Vordenker im von Adolf Arndt unterzeichneten

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unabhängigen EZB ausrichten soll, die ihm nicht verantwortlich ist, sondern offen wären echte politische Alternativen gewesen, über die es sich zu streiten lohnte. Daraus folgt, dass das BVerfG, wenn es sich richtig versteht, vor allem ein Streiter für die politische Gesellschaft, die Öffentlichkeit der Citoyens sein muss. Es muss Alternativen öffnen, nicht schließen, es sei denn, die grundrechtlichen Grundlagen der Alternativenbildung sind durch Gesetzgebung konkret bedroht. Die Bedingungen der Politisierung zu sichern44 ist eine wahrlich anspruchsvolle Aufga‐ be. Sie steht im direkten Gegensatz zur Politisierung der Rechtsprechung selbst, die sich als Entfernung von den Verfahrensbeteiligten,45 objektivierende Tendenz zum Gesetzgebungsausschuss und Schließung von Alternativen übersetzen lässt.46 Das BVerfG darf und sollte sich als Grundrechte schützender Politisierungsagent begreifen und legitimieren.47 Seine expertokratische Gestalt oder sein „Weisenrat“Charakter (die „Sages“ in Frankreich, die „Justices“ in den USA) fügen seiner Legitimation hingegen nichts Positives hinzu, jedenfalls keine Legitimation durch (streng egalitär zu organisierende) Deliberation. Als Fazit lässt sich festhalten: Das BVerfG kann ein formal öffentliches Gericht werden und sich dadurch formal-demokratische Legitimation verschaffen, indem es sich insbesondere auf der Ebene der Grundrechtsformtypen vom harmonisierenden Typ entfernt und sich auch darüber hinaus als Politisierungsagent begreift, nicht notwendig zum Zweck oder anhand des Kriteriums der Repräsentationsverstärkung von Minderheiten, des „representation-reinforcement“ (John Hart Ely),48 aber häufig mit diesem Ergebnis. Dies ist die erste, notwendige und idealistische Bedingung seiner demokratischen Legitimation. Es fehlt noch die hinreichende Legitimations‐ bedingung, die anhand der realen Machtstellung im Gemeinwesen zu diskutieren ist.

3. Das BVerfG zwischen Staat, Öffentlichkeit und Markt – Die inhaltliche Legitimationsfrage Wo situiert sich das BVerfG im Gemeinwesen? Statt die Frage rein idealistisch unter Verweis auf die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (Peter Häberle) zu

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Schriftsatz im Lüth-Verfahren; dort auch zum EGMR als späteren Verteidiger des Ansatzes, S. 149. Ein solcher, an Alternativenöffnung orientierter Politisierungsbegriff etwa bei Möllers 2011, S. 323-326. Diesen Aspekt betont Möllers 2011, S. 350. Der krasseste und gleichwohl nicht untypische Fall ist die Berücksichtigung von Rechten zum Zwecke der Rechtsverkürzung, insbesondere wenn es an subjektiv aufgerufenen Rechtsverlet‐ zungen fehlt, vgl. Möllers 2011, S. 401. Zum Gegensatz von Grundrechten als Statussicherung und Bewegungsform Möller 2020. Der Gegensatz lässt sich auf die Rollen der Verfassungsgerichtsbarkeit übertragen. Ely geht von der berühmten Footnote 4 des Carolene Products-Urteils des US Supreme Court aus.

beantworten,49 also die ehedem staatliche Verpflichtung der Untertanen in eine ge‐ sellschaftliche Citoyen-Idealität von Verfassungstreuen umzumodeln, haben wir das Gemeinwesen als Gefüge von Machtfaktoren zu lesen. Es ist dann in Anlehnung an Häberles eigene Unterscheidung50 statt dem hergekommenen, in seiner Schlichtheit zu Unrecht auf Hegel zurückgeführten Dualismus Staat/Gesellschaft ein triadisches Kontinuum Staat/Bürger*innengesellschaft/Markt zugrunde zu legen. Bisher haben wir dem BVerfG empfohlen, sich resolut als Advokat der Citoyens im Gemeinwesen statt als Staatsorgan zu begreifen. Über welche Ressourcen verfügt das Gericht, diesem Selbstverständnis auch materiell zu entsprechen? Einerseits sind alle Mittel dienlich, die den öffentlichen Charakter des BVerfG stärken. Beim Prozess der Richter*innenauswahl beispielsweise muss die Verant‐ wortung des Parlaments abgesichert sein. Die Auswahl einer Hälfte der Richter*in‐ nen durch den Bundesrat – ein Organ des Exekutivföderalismus – erscheint in dieser Hinsicht zweifelhaft. Bei der Nachfolgeregelung für den Richter Masing ist ein weiteres Mal zu erleben, dass der intransparente Auswahlprozess mit mächtigen Länderregierungschefs im Zentrum dem Gericht schadet,51 ihm vor allem aber eine allzu große Staatsnähe ansinnt. Wenn der Bundestag hingegen entscheidet, ist mittlerweile die Beteiligung des Plenums verankert. Der dubiose Richterwahlausschuss ist zurückgestutzt. Forde‐ rungen, Plenumsanhörungen durchzuführen, konnten sich allerdings nicht durchset‐ zen.52 Dass das nicht zu bedauern sei, wird gerne mit Verweis auf die US-Erfahrun‐ gen behauptet. Dort ist es aber keineswegs der ausschlaggebende Faktor für die in der Tat zu beklagende übermäßige Politisierung des Gerichts. Zudem geht es um die Kontrolle eines anderweitig getroffenen Entschlusses, während der Bundestag nicht im Interesse seiner Selbstbehauptung in einem überpolarisierten Land für oder gegen einen Präsidenten handeln müsste, sondern genuin eigenständig beratschlagen würde. Da er das in Vertretung des Volkes tut, um dessen Advokaten zu bestimmen, muss er es in maximaler Öffentlichkeit vollziehen. Dass sich dann andere informelle Gremien bilden würden, ist kein Gegenargument; denn das lässt sich stets sagen, wenn Kreationsprozesse ins Licht treten sollen. Kurz: Wenn Öffentlichkeit die Norm ist, wird Geschacher wenigstens zum Skandal. Auch das beliebte Traditionsargu‐ ment zieht nicht, weil das BVerfG selbstverständlich auch ein besseres Gericht hätte sein können, als es tatsächlich war. Angesichts der erforderlichen Zweidrittelmehr‐ heiten und einer immer noch (zu) starken Konsenskultur sind auch keine Spektakel mit verrückten Kandidat*innen zu erwarten. Eine konsequente Publifizierung des Auswahlprozesses ist daher geboten. 49 Aktualisierung in: Häberle 2006, S. 35-46. 50 Ebd. 51 Vgl. dazu nur: https://www.lto.de/recht/justiz/j/bverfg-nachfolger-vosskuhle-masing-praesiden t-vizepraesident-wahlen-neue-richter-karlsruhe/. 52 Anders dann mit schlechter Begründung 9. BVerfGGÄndG, BT-Drucks. 18/2737.

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Andererseits geht es aber als weitere Ressource auch um das Verfahrensrecht und sogar um materielles Verfassungsrecht, über das das BVerfG letztentscheiden kann. Erstens bedeutet Öffentlichkeit der Verfahren nicht unbedingt (obwohl auch das denkbar wäre!), Einzelvoten zu veröffentlichen. Die Einheitsentscheidung soll‐ te aber doch in Senatsverfahren die Ausnahme sein. Sondervoten sind jedenfalls (zu) selten geworden; sie sind eine wichtige Ressource, die öffentliche Debatte zu begünstigen, also die Citoyens direkt herauszufordern, vor allem weil sie mysteriöse Autorität brechen und luzide Argumente fordern. Zweitens sollten Richter*innen gezwungen sein, immer wieder in direkten Aus‐ tausch mit Bürger*innen zu treten – etwa in Justizforen, in Schulen und Hochschu‐ len oder Gewerkschaftsversammlungen. Man könnte auch an zufällig (per Los) aus‐ gewählte ständige Gremien am Gericht denken, in denen rechtspolitische Ratschläge stattfinden können. Drittens sollten Gerichte die Diversität der Gesellschaft spiegeln, also angesichts der sinnvollen verpflichtenden Juraqualifikation zumindest Gender-, Race- und Class-Vielfalt abbilden. Politiker*innen und insbesondere Anwält*innen am Gericht sind auch deshalb wünschenswert. Viertens ist im Sinne einer partizipativen Demokratie auch die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher, öffentlicher Akteure zu normalisieren. Amicus Curiae-Briefe müssen Standard werden. Die Beteiligung von Gruppen wie dem Chaos Computer Club, der Gesellschaft für Freiheitsrechte, dem LSVD oder von Bürgerinitiativen kann der gerichtlichen Entscheidungsfindung auch jenseits weithin informatorischer mündlicher Senatsverhandlungen nur guttun. Es ist demgegenüber zu berücksichti‐ gen, dass Lobbygruppen des Marktes aufgrund ihrer finanziellen Ausstattung und ihrer kraft Konzentration und Konservationsinteresse der Beteiligten leichten Orga‐ nisierbarkeit keine Repräsentationsverstärkung am und durch das BVerfG benötigen. Gerade hier zeigt sich der entscheidende Unterschied zwischen Markt und Öffent‐ lichkeit: Wer scheut das Licht, wer sucht es? Am prägnantesten hat Ulrich K. Preuß es auf den Punkt gebracht: „In der Wirklichkeit der interessengespaltenen Gesellschaft unterscheiden sich die bestehenden sozialen Verbände daher danach, ob sie bestehende ökonomische, kulturelle und andere nicht demokratisch legitimierte Positionen verteidigen und dadurch die politische Macht dieser Verbände nur die Summe der ökonomischen usw. Macht ihrer Mitglieder ist, oder ob erst die demo‐ kratisch-solidarische Organisation verfügungsunterworfener Individuen politische Macht konstituiert. Es ist der Unterschied zwischen Realverbänden und politischen beziehungsweise sozialen Willensverbänden. Nur die letzteren beruhen ausschließ‐ lich und unmittelbar auf der demokratischen Teilnahme ihrer Mitglieder, sie sind existentiell auf die Teilnahmerechte des Grundrechtskatalogs des Grundgesetzes

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angewiesen.“53 Und weiter: „Willensverbände sind der organisatorische Ausdruck für den verfassungsrechtlich anerkannten Anspruch auf Politisierung privat verfügter Besitzstände, während die Realverbände der organisatorische Ausdruck eben jener Besitz- und Verfügungsreservate sind.“54 Negatorische Politisierung steht also ge‐ gen positive private Verfügung.55 Und fünftens kann sich auch das materielle Recht als kraftvolle Ressource erwei‐ sen, um die politische Gesellschaft gegenüber Staat und Markt, die sich über man‐ nigfache Kanäle leicht verständigen, deutlich zu stärken. Zu denken ist hier insbe‐ sondere an eine besser begründete Interpretation des Art. 19 III GG in Verbindung mit den Grundrechten der Art. 3, 12 und 14 GG. Es ist schwer nachvollziehbar ge‐ worden, warum das BVerfG sich in mittlerweile zahlreichen Entscheidungen auf eine vermeintliche Grundrechtspersonalität juristischer Personen bei der Verteidi‐ gung von deren privaten Besitzständen bezogen hat. Die wesensmäßige Anwendbar‐ keit der Grundrechte (Art. 19 III GG) auf juristische Personen ist nur als Ausnahme‐ formel zu verstehen, namentlich für den Fall, dass juristische Personen gleichsam zufällig an die Stelle der in ihnen vertretenen Mitglieder treten. Nur in diesem selte‐ nen Fall kann die streng natürlich-personale Bedeutung der Grundrechte als bürger‐ lich-revolutionäres Erbe auch durch die Hülle einer juristischen Form verwirklicht werden. Keinesfalls kann das aber gelten, wenn juristische Personen (1.) gar nicht für alle ihre Mitglieder sprechen können und (2.) handgreifliche Interessenunter‐ schiede sowie Machthierarchien bestehen, wie sie insbesondere für Unternehmen ty‐ pisch sind. Dann ist jede Anwendung der Grundrechte (insbesondere Art. 3, 12, 14 GG) eine intellektuelle Verirrung, die auf einer Anmaßung einzelner Machtträ‐ ger*innen beruht. Leider ist dieser Missgriff fast die Norm geworden, wie man ins‐ besondere in steuerlichen56 und enteignungsnahen57 Konstellationen nachweisen kann.58 Orientiert sich das BVerfG in den genannten Weisen um, kann es dank plausi‐ bler Nutzung seiner verfahrens- und materiellrechtlichen Ressourcen ein auch sub‐ stantiell öffentliches Gericht sein. Es erfüllt dann die oben genannte hinreichende Bedingung für ein Citoyen-Gericht der politischen Gesellschaft oder Öffentlichkeit. So entsteht materielle demokratische Legitimation aus einer Reflexion des bürger‐ lich-revolutionären Erbes, des Verfassungsursprungs, des „peuple-principe“ (Pierre Rosanvallon) und materiell-formaler Unparteilichkeit. Ein stets drohender Macht‐ verbund Staat/Markt ist etwas unwahrscheinlicher geworden.

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Preuß 1969, S. 170. Preuß 1969, S. 171. Preuß 1969, S. 173. Bspw. BVerfGE 145, 106. BVerfGE 143, 246. Vgl. auch Groß 2019.

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4. Das BVerfG als öffentliches Gericht Insgesamt erweist sich das Verhältnis von Recht und Politik in Ausgestaltung und Wirkweise des BVerfG als weiterhin umkämpft. Derzeit hat das Gericht abermals die Chance, dieses Verhältnis neu zu justieren, weil es sich im Umbruch befindet. Dafür stehen personelle Veränderungen, aber auch Krisen des eigenen Selbstver‐ ständnisses, die weit über den Tag hinausreichen. Das BVerfG hat die Chance, sich durchgehend am Selbstverständnis eines Gerichts der Staatsbürger*innengesell‐ schaft, der politischen Gesellschaft oder Öffentlichkeit zu orientieren. Es würde dann zu einem wahrhaft öffentlichen Gericht. Es wäre indes nicht weniger dafür nö‐ tig als eine Wendung gegen den angestaubten Statusbericht aus Leibholz´ Feder. Das BVerfG hätte sich anlässlich, wenn auch nicht aufgrund der Einordnung in den EUGerichtsverbund neu zu gründen und nicht mehr als Trutzburg einer verflossenen deutschen Eigenstaatlichkeit zu verstehen. Stattdessen sollte es seine demokratische Legitimität stärker von unten als Öffentlichkeits- statt von oben als Staatsorgan suchen. Die wichtigsten Reformanstöße müssten daher aus dem Gericht selbst kommen, bei der Interpretation des Prozessrechts und auch von Teilen des materiellen Rechts der Verfassung. Nur in wenigen Fragen wäre der Gesetzgeber gefragt, etwa was die Öffentlichkeit der Richter*innenauswahl anbelangt. Der Erste Senat hat in einigen wichtigen Entscheidungen der jüngsten Vergangenheit den Weg gewiesen, der Zwei‐ te Senat sollte folgen.

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Autor:innenverzeichnis

Ino Augsberg, Prof., Dr. phil. Dr. iur., Lehrstuhlinhaber für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht und Co-Direktor des Hermann Kantorowicz-Instituts für juristi‐ sche Grundlagenforschung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Marta Bucholc, Prof., Dr. habil., Universitätsprofessorin an der Fakultät für So‐ ziologie der Universität Warschau, Cercheuse associée am Centre de recherche en science politique, Université Saint-Louis Bruxelles Hubertus Buchstein, Prof., Dr. phil., Lehrstuhlinhaber für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald Jens Hacke, Prof., Dr. phil., Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin, seit 2020 Vertretung des Lehrstuhls für Vergleichende Politische Kulturforschung an der Universität der Bundeswehr München Gábor Halmai, Prof., D.Sc., Ph.D., J.D., Lehrstuhlinhaber für Comparative Con‐ stitutional Law am Law Department des European University Institute Sabine Hark, Prof., Dr., Professor:in für Gender Studies und Leiter:in des Zen‐ trums für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Technischen Universität Berlin Oliver W. Lembcke, Prof., Dr. phil., apl. Professor für Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum Marina Martinez Mateo, Prof., Dr. phil., Inhaberin der Juniorprofessur für Medi‐ en- und Technikphilosophie an der Akademie der Bildenden Künste München Herlinde Pauer-Studer, Univ.-Prof., Mag. Dr. MA, Lehrstuhlinhaberin für Philo‐ sophie an der Universität Wien Arnd Pollmann, Prof., Dr. phil., Professur für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin Christian Schmidt, Dr. phil., Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin und wissenschaftlicher Referent am dortigen Humanities and Social Change Center Grit Straßenberger, Prof., Dr. phil., Lehrstuhlinhaberin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Frieder Vogelmann, Prof., Dr. phil., Privatdozenten an der Goethe-Universität Frankfurt/Main, seit 2021 Vertretung des Lehrstuhls für Epistemology & Theory of Science am University College Freiburg und der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Tim Wihl, Prof., Dr. iur., seit 2020 Gastprofessor für Politische Theorie, Verfas‐ sungstheorie und rechtliche Bezüge der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin

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Benno Zabel, Prof., Dr. iur., Lehrstuhlinhaber für Strafrecht und Rechtsphiloso‐ phie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

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