Poetologien der Kontingenz: Zufälligkeit und Möglichkeit im Diskursgefüge der Moderne 9783412213947, 9783412206642


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Poetologien der Kontingenz: Zufälligkeit und Möglichkeit im Diskursgefüge der Moderne
 9783412213947, 9783412206642

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Kölner Germanistische Studien Herausgegeben von

Günter Blamberger, Rudolf Drux, Erich Kleinschmidt und Hans-Joachim Ziegeler

Neue Folge Band 11

Martin Dillmann

Poetologien der Kontingenz Zufälligkeit und Möglichkeit im Diskursgefüge der Moderne

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: François Morellet: Répartition aléatoire de triangles suivant les chiffres pairs et impairs d’un annuaire de téléphone 1958 © VG Bild-Kunst, Bonn 2011

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20664-2

Inhaltsverzeichnis

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Forschungsbericht und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Erster Teil des Forschungsberichts . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Kontingenz aus der Perspektive von Diskurs- und Medientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Kontingenz als Grundbegriff der Systemtheorie . . . . . . . . 1.1.4 Fortsetzung des Forschungsberichts . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Kontingenz-Poetiken der modernen Naturwissenschaft . . . . . . . . . . 2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Theoretische Grundlagen einer Poetologie des naturwissenschaftlichen Wissens der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 C. P. Snows Kulturmodell: Kultur als universelle Bildung . . . 2.2.2 Diskursanalytische Entgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Systemtheoretische Wiederentdeckung der Grenzen . . . . . . 2.2.4 Theoretische und methodische Konsequenzen . . . . . . . . . 2.3 Moderne Naturwissenschaft und Kultur der Moderne . . . . . . . . . 2.3.1 Die Physik ist nie modern gewesen: Moderne Naturwissenschaft als Kontingenzbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Katastrophen: Moderne Naturwissenschaft in den Untergangsgesängen des Abendlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Poetologie der Statistik: Musils Werk im Kontext katastrophischer Deutungen der modernen Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Statistik und Beobachtung zweiter Ordnung in Musils Erzählung Die Amsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Poetologie der Statistik: Der Mann ohne Eigenschaften als diabolisches Liebesgedicht der Moderne . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Statistisch-diabolische Beobachtung und traditionelle Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Teuflische Beobachter: Reflexionen der Poetologie der Statistik im Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII 1 5 8 15 18 22 33 39 39 46 47 50 57 62 64 67 78 91 91 96 102 107 116

VI

Inhaltsverzeichnis

3.3.3 Diabolische Listen: Die Statisten der Geschichte . . . . . . . . 4 Die Obersten der Saboteure: Avantgarde und „Kleine Form“ als Konstituenten des Kontingenzdiskurses der Moderne . . . . . . . . . 4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Kontingenz und Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Beobachtung der Avantgarde: Die „Kleine Form“ . . . . . . . . . . 4.4 Die „Kleine Form“ als Kontingenzgattung der Moderne . . . . . . . 4.4.1 Obdachlosigkeit als Obdach: Die vagabundische Signatur der „Kleinen Form“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Ästhetik der Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Kontingenz und Essayismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Möglichkeits-Sinne: Kontingenz und Utopie . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Utopische Kontingenz-Poetiken der modernen Naturwissenschaft: Physik als Realisierung des Möglichen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Verwirrungen: Probleme der wissenspoetischen Universalisierung des Essayistischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Theologie des Essayismus: Kontingenz als Medium eines anderen Zustands im Werk Musils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Heiliges Rauschen: Andere Zustände in Musils Erzählung Die Amsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Schwellenterrain: Die andere Seite des Mann ohne Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Reflektierte Theologie des Essayismus . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Helden der Theologie des Essayismus . . . . . . . . . . . . . 6 Schluss: Auf der Suche nach einer leisen Moderne . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung Sehr herzlich möchte ich mich bei Frau Professorin Dr. Dorothee Kimmich für die hervorragende Betreuung in allen Entstehungsphasen dieser Studie bedanken. Ebenso gilt mein Dank Herrn Professor Dr. Andreas B. Kilcher. Den Herren Professoren Hans-Joachim Ziegeler, Günter Blamberger, Rudolf Drux und Erich Kleinschmidt danke ich für das Interesse an meiner Studie und die freundliche Aufnahme in die Kölner Germanistischen Studien. Auch dem BöhlauVerlag, besonders Frau Dorothee Rheker-Wunsch, danke ich sehr. Für die vielfältige Unterstützung durch Familienmitglieder und Freunde kann ich gar nicht genug danken. Hervorheben muss ich hier freilich meine Eltern, die mich in jeder erdenklichen Weise unterstützt haben, und meine Frau Frauke Ritter: Ihr danke ich von ganzem Herzen, nicht zuletzt dafür, dass sie immer auch über ganz anderes mit mir gesprochen hat, und widme ihr dieses Buch.

1 Einleitung Die Diskussion um die Bedeutung von Kontingenz in der Kultur und insbesondere im literarischen Diskurs der Klassischen Moderne1 setzt, unter ihren Vertretern ebenso wie in literaturwissenschaftlichen Studien, fast ausnahmslos mit kulturhistorischen Hinweisen auf die wirkmächtigen Traditionen ein, die all das, was weder notwendig noch unmöglich ist – nach modallogischem Verständnis des Terminus also kontingent –, aus ethischen, ästhetischen oder epistemologischen Gründen marginalisieren: So stellt Christoph Brecht im Rahmen seiner Überlegungen zu „Poetiken der Kontingenz“2 fest, dass Kontingenz in der traditionellen Narratologie nur insoweit „zugelassen“ werde, „als sie mit dem prozessual gedachten Ganzen der Erzählung vermittelt wird.“3 Die „Norm, daß alles, was zunächst zufällig erscheint, am Ende doch notwendig gewesen sein wird“4 , gehöre bis in die Moderne – und darüber hinaus – zu den Grundmustern, an denen sich Produktion und Rezeption literarischer Texte orientieren. Zuletzt muss sich das Zufällige also ,aufheben‘ oder zumindest interpretatorisch ,aufheben‘ lassen.5 Dieses ästhetische Primat des Notwendigen gegenüber dem Kontingenten formuliert Lessing im 30. Stück der Hamburgischen Dramaturgie anhand einer Unterscheidung von „Genie“ und „Witz“ in paradigmatischer Weise: Das Genie können nur Begebenheiten beschäftigen, die in einander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurück zu führen, jene gegen diese abzuwägen, überall das Ungefehr auszuschließen, alles, was geschieht, so geschehen zu lassen, dass es nicht anders geschehen können: das, das ist seine Sache [. . .]. Der Witz hingegen, als der nicht auf das in einander Gegründete, sondern nur auf das Ähnliche oder Unähnliche gehet, [. . .] hält sich bei Begebenheiten auf, die weiter nichts mit einander gemein haben, als dass sie zu gleich geschehen. [Lessing 1985, 329], Hervorh. M.D.

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Ich verwende diese viel diskutierte Epochenbezeichnung zunächst im Sinne der folgenden Bemerkung von [Luserke-Jaqui 2005’, 9ff., hier 13], mit der er seine Ausführungen zur Begriffsdiskussion beschließt: „Letztlich bleibt beim derzeitigen Stand der Diskussion lediglich das Plädoyer für einen unideologischen Umgang mit diesem Terminus.“ Vgl. auch [Makropoulos 1997, 109]. Im Folgenden komme ich vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Kontingenzbegriffs noch mehrmals auf die Frage nach einer präzisieren Epochenbestimmung zurück. So die Überschrift eines Abschnitts des von Brecht mitverfassten Bandes Historismus und Moderne, vgl. [Baßler u.a. 1996, 56ff.]. [Baßler u.a. 1996, 56]. Ebd. Vgl. [Baßler u.a. 1996, 59].

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Einleitung

Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den für die Komposition dramatischer Handlung seit der Aristotelischen Poetik fundamentalen Kategorien von Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit fordert Lessing vom „Genie“ die Gestaltung ,zwingender‘, also nicht ,gekünstelter‘ Kausalität und eine an rationalen Kriterien orientierte Exaktheit der Darstellung. „Witz“, die negative Kehrseite des „Genies“, wird dagegen mit Kontingenz im Sinne bloßer Koinzidenz assoziiert, die als ästhetisch, aber auch epistemisch mangelhafte Aspekte der Wirklichkeit aufgefasst werden. Solange sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur an solchen normativen poetologischen Programmen orientierte, war Kontingenz zwangsläufig ein marginales, bestenfalls einmal ,witziges‘ Phänomen: Hätte nämlich Kontingenz eine über das banalerweise unvermeidbare Maß hinausgehende Rolle im ,Werk‘ eines ,Autors‘ gespielt, wären die betreffenden Texte kaum als ,Werke‘ und ihr Verfasser erst gar nicht als ,Autor‘ in Frage gekommen. Kontingenz war, sobald sie auffiel, schnell ,schlechte‘ Kontingenz. Trotz – oder gerade wegen – dieser durch die zentralen poetologischen und philosophischen Diskurse der Zeit um 1800 nachhaltig bekräftigten und heuristisch zunächst sicher auch plausiblen ästhetischen und wissenschaftlichen Allergie gegen das Zufällige ist Kontingenz besonders durch den zunehmenden Einfluss diskursanalytischer, medientheoretischer, dekonstruktivistischer und systemtheoretischer Ansätze in den letzten Jahren zu einem geistes-, literatur- und kulturwissenschaftlichen Modeterminus avanciert.6 Die Tatsache, dass die Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik einem Band mit dem vermeintlich sprechenden Titel Das Ende 1998 noch einen weiteren, nun tatsächlich letzten Band zum Thema Kontingenz7 folgen ließ, kann als Metakommentar auf das Verhältnis von Tradition und Moderne gelesen werden, das im Hinblick auf die Bewertung des Kontingenten deutlich gebrochen ist. Die aristotelisch verbürgte Orientierung am Ideal des Ganzen, das einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat und in das sich die einzelnen Teile gleichsam organisch einfügen, lässt sich mit der Faszination für das Mögliche, doch nicht Notwendige, die sich im Diskursgefüge der modernen Naturwissenschaft, Ästhetik, Philosophie und Literatur manifestiert, nicht ohne weiteres vereinbaren.8 Ein Blick auf Siegfried Kracauers filmkritische Schriften der 1920er Jahre9 genügt, um die ästhetische und poetologische Stoßrichtung dieses – die Moderne charakterisierenden – Paradigmenwechsels zu erkennen. In ironischer Anspielung auf die romantische Ästhetik entführt Kracauer seine Leser in einem Essay an einen ,verwunschenen‘ Ort „[m]itten im Grunewald“, an dem die „Natürlichkeit 6

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[Berger 2004, 11] betont gleich zu Beginn ihrer Studie Musil mit Luhmann, in der sie unter anderem die Bedeutung von Kontingenz im Werk Musils untersucht, die Rede vom „Möglichkeitssinn“ dekonstruiere „mit einem Federstrich [. . .] die Unantastbarkeit des christlichen Fundaments der abendländisch-europäischen Tradition und offenbart damit zugleich die Frag(-)würdigkeit der Wahrheitsansprüche, die von dieser Seins- und Heilsordnung ihren Ausgang nehmen.“ [von Graevenitz/Marquard 1998]. Vgl. [Dillmann 2009]. Vgl. [Kracauer 2004] und [Kracauer 2004’].

Einleitung

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draußen – Bäume aus Holz, Seen mit Wasser, Villen, die bewohnbar sind – [. . .] ihr Recht verloren“ haben:10 Zwar, die Welt kehrt wieder in ihm, ja, der ganze Makrokosmos scheint in dieser neuen Arche Noah eingesammelt: aber die Dinge, die sich hier ein Stelldichein geben, gehören nicht der Wirklichkeit an. Sie sind Abbilder und Fratzen, die man aus der Zeit gerissen und durcheinander gemischt hat. Unbewegt harren sie, vorne voller Bedeutung, hinten das blanke Nichts. Ein böser Traum von den Gegenständen, der in das Körperreich gezwungen worden ist. Man befindet sich in der Filmstadt der Ufa zu Neubabelsberg. Sie enthält auf einer Fläche von 350000 Quadratmetern die Welt aus Papiermaché. Alles garantiert Unnatur, alles genau wie die Natur. [Kracauer 2004, 191], Hervorh. im Original.

Das neue Medium Film birgt aus der Sicht des Zeitgenossen offenbar ein Maß an Phantastik, das den Romantikern noch kaum vorstellbar gewesen sein dürfte und das die (vermeintlich) natürliche Ordnung der Welt kontingent erscheinen lässt: Nach dem „Willkürregiment“ des Films sei „die Welt, die es gibt“ bloß noch „eine der vielen Möglichkeiten, die hin und her bewegt werden können, und das Spiel bliebe unvollkommen, nähme man sie als Fertigfabrikat hin“. Lapidar merkt der Essayist an, der „Kosmos“ erscheine in der durch den Film bestimmten Welt wie ein „Schleuderbällchen.“11 Nach dieser einführenden Karikatur der semantischen Entwertung von Natur und Wirklichkeit angesichts der medialen Konstellation der Moderne wendet sich der Erzähler den Verfahren zu, mit denen die Filmschaffenden aus der immensen Vielfalt unverbundener Bildfolgen doch wieder einen konsistenten Sinn konstruieren: „Nach der Art des Pointillismus“ entstehe der Film aus einem „Getüpfel von Aufnahmen, die an mannigfachen Orten entstehen und zunächst unverbunden bleiben. Ihre Abfolge richtet sich nach der des dargestellten Geschehens: das Schicksal mag gekurbelt werden, ehe es sich geknotet hat, die Versöhnung früher sich darbieten als der Streit, der um ihretwillen entbrannte. Der Sinn der Handlung ist erst im fertigen Film souverän; während der Schwangerschaft läßt er sich nicht ergründen.“12 Diese Aufgabe der Sinnstiftung obliege vor allem dem Regisseur: Er hat auch die schwierige Aufgabe, das Bildmaterial, das so schön ungeordnet wie das Leben selber ist, zu jener Einheit zu gestalten, die das Leben der Kunst verdankt. In seinem privaten Vorführungsraum schließt er mit den Streifen sich ein und läßt sie wieder und wieder entrollen. Sie werden ausgesiebt, ineinander geschoben, abgeteilt und beschriftet. Bis zuletzt dem großen Chaos ein kleines Ganzes entspringt. Ein Gesellschaftsdrama, eine historische Begebenheit, ein Frauenlos. [Kracauer 2004, 197], Hervorh. M.D.

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[Kracauer 2004, 191]. Ebd. [Kracauer 2004, 196f.].

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Einleitung

Das neue Medium macht aufgrund seiner komplexen Produktionsbedingungen den Konstruktionscharakter jeglicher narrativen Ordnung deutlich, wobei die Konstitution von Sinn vor allem als Reduktionsphänomen erscheint: Das abgerundete, kohärente Ganze erweist sich im Vergleich mit „dem großen Chaos“ des Ausgangsmaterials, das im Falle des technischen Mediums Film weit augenfälliger ist als etwa bei literarischen Erzählungen, plötzlich als „klein“. Das ,sinnvoll‘ und ,notwendig‘ Verknüpfte gerät grundsätzlich in den Verdacht, die Wirklichkeit weniger abzubilden denn zu trivialisieren. Diese Einsicht ist freilich eher der essayistischen Reflexion des Prozesses der Filmproduktion als der konkreten Rezeption zeitgenössischer Filme geschuldet: Beinahe resignativ merkt Kracauer abschließend an, dass die ,fertigen‘ Produkte der zeitgenössischen Filmindustrie die traditionellen Anforderungen an Kohärenz und Konsistenz bis zum obligatorischen happy end meist geradezu übererfüllten. Kracauers implizite Parteinahme für das „große Chaos“ verweist kultursemantisch auf die diabolische Signatur des Kontingenten, die sich auch im Hinblick auf die Rolle von Kontingenz im Diskursgefüge der Klassischen Moderne und insbesondere im Werk Musils als prägend erweisen wird. So stellt Monika SchmitzEmans fest, dass der Zufall ein „dämonisch anmutendes Faszinosum“ sei und auch der „säkulare Zufallsbegriff, die Kontingenz [. . .] jenen Beiklang von Dämonie nie ganz verloren“13 habe. Die – für den literarischen Diskurs von Aufklärung und Klassik etwa durch Lessing bekräftigte – biblische Tradition, der Ordnung bzw. Geordnetheit der Wirklichkeit einen göttlichen Charakter zuzusprechen, hat sich gegenüber der Säkularisierung offenbar als relativ immun erwiesen. Diese bis in die Moderne wirksame semantische Assoziation der binären Gegensatzpaare Notwendigkeit/Kontingenz und Gott/Teufel wird auch in der Literatur der Zeit um 1800 reflektiert, in der die Auseinandersetzung mit Zufall und Kontingenz und deren desemantisierender Wirkung nicht zuletzt prominenter Teufelsfiguren geführt wird: Kleists Dorfrichter Adam etwa wird im Prozess um den Zerbrochnen Krug14 durchgehend mit satanischen Attributen ausgestattet und personifiziert den Widerstand gegen das Ordnungs- und Rationalitätsideal der Aufklärung im Zeichen der Ambivalenz. Goethes Mephistopheles tritt – durchaus im Sinne Luhmanns – als Beobachter zweiter Ordnung auf, der Fausts verzweifeltes Streben nach höheren Wahrheiten, die keiner diskursiven Vermittlung mehr bedürfen, angesichts der Einsicht in die Kontingenz des von ihm akkumulierten konventionellen Wissens als Flucht aus der Sprache in eine phantasmatische Sphäre des ,Ursprünglichen‘ und ,Eigentlichen‘ darstellt.15 Dem setzt Goethes Teufelsfigur das – daher noch immer als ,diabolisch‘ markierte – moderne Projekt entgegen, das Bemühen um Substanz und Wesen durch die Freude an der Performanz und das Streben nach absoluter Vervollkommnung durch Einsicht in die Unhintergehbarkeit von Kontingenz zu ersetzen. Dies wird in Grabbes Lustspiel Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeu13 14 15

[Schmitz-Emans 1994, 289]. Vgl. [Kleist 1992]. Vgl. [Goethe 1998’].

Forschungsbericht und Methode

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tung16 , das bereits auf das absurde Theater verweist, noch deutlich forciert: Eine Teufelsfigur wird darin zum Sprachrohr der genuin modernen These einer vollständigen Kontingenz der Welt, in der zuletzt schon das Verlangen nach „tiefere[r] Bedeutung“ als Farce erscheint. Während diese als diabolisch markierten, zunehmend prinzipiellen Absagen an den ,höheren‘ Sinn von Welt und Wirklichkeit im Kontext der Klassischen Literatur noch episodischen Charakter haben, avanciert der dadurch präfigurierte diabolische Blick auf ,traditionelle‘ Formen der Sicherung von Sinn und Ordnung nicht zuletzt dank Nietzsches anti-christlicher Emphase zum zentralen Paradigma der kulturellen Selbstbeschreibung nach 1900,17 die Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein wird. Bevor ich mein Programm der Analyse einschlägiger ästhetischer, literarischer und wissenschaftlicher Diskurse formuliere, stelle ich nun zunächst die Entwicklung zentraler Positionen der Forschung dar. Es wird sich dabei als zweckmäßig erweisen, den Forschungsbericht durch eine knappe Methodendiskussion zu unterbrechen, ohne die sich die wissenschaftshistorischen Brüche der Bewertung des Verhältnisses von Kontingenz und Notwendigkeit nicht nachvollziehen lassen.

1.1 Forschungsbericht und Methode Kontingenz und Zufälligkeit haben eine lange, bis zu Aristoteles zurückgehende Begriffsgeschichte, die weiter über die Scholastik zu Leibniz und Kant reicht.18 Letzterer übersetzte das lateinische contingens mit zufällig ins Deutsche. Werner Frick stellt in der Einleitung seiner zweibändigen Studie Providenz und Kontingenz „zur Schicksalsthematik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts“19 eine eindrucksvolle Liste der Termini auf, die mit dem Gegensatzpaar Notwendigkeit/Kontingenz zusammenhängen und jeweils eigene Aspekte akzentuieren. Während die Begriffe „` αν α ´ γχη, ´ιµαρµ´ νη, πρ´ oνoια, fatum, providentia Dei, Verhängnis, Vorsehung [. . .] dem Notwendigkeits-Pol“ zuneigten, tendierten „,Urworte‘ (Goethe) wie τ υ`χη, α` υ τ o´µατ oν, fortuna, contingentia, chance, hasard, Glück, Zufall zum Gegenpol [. . .], der, als defizienter Modus von Sinn, Kohärenz und finaler Ordnung, durch negative Bestimmungen wie Nicht-Notwendigkeit, Irregularität, Unselbständigkeit, Unbeständigkeit, Unberechenbarkeit, Unvorhersehbarkeit etc. charakterisiert ist.“20 Angesichts dieses Befunds konstatiert schon Frick, dass es nicht mehr sinnvoll möglich sei, alle Aspekte der Kontingenzthematik im einzelnen zu verfolgen oder

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Vgl. [Grabbe 1967]. Vgl. dazu [Jander 2006, 144f.]. Den vielfältigsten und noch immer aktuellsten Überblick bieten hierzu die Beiträge des eingangs erwähnten, von [von Graevenitz/Marquard 1998] herausgegebenen Poetik und Hermeneutik-Bandes Kontingenz. [Frick 1988]. [Frick 1988, 10f.].

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Einleitung

zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zu verschmelzen.21 Dies impliziert natürlich, dass vor der skizzierten historischen Folie neben den folgenden Überlegungen zur Bedeutung von Kontingenz in einigen Diskursen der Klassischen Moderne auch andere Perspektivierungen und Fokussierungen möglich wären, die zumindest teilweise andere Ergebnisse liefern würden. Odo Marquards Eindruck, eine „Apologie des Zufälligen“22 verfassen zu müssen, um das fundamentale philosophische Verdikt gegen alles Kontingente, das im Deutschen Idealismus seine schärfste Fassung erhalten habe, zu relativieren, ist offenbar auch prägend für zahlreiche literaturwissenschaftlichen Untersuchungen der 1970er und 80er Jahre. Marquard verweist auf Hegel, der die Philosophie gerade durch vollkommenen Ausschluss von Kontingenz definiere, wenn er seine philosophische Absicht bekundet, „das Zufällige zu entfernen“23 . Marquard entwirft ein anthropologisches Gegenmodell zu der sich hier manifestierenden „Absolutmachung des Menschen“, indem er dieser die „sterblichkeitsgeprägte Wirklichkeit“ gegenüberstellt und dafür wirbt, „daß man das philosophisch anerkennt: durch Apologie des Zufälligen.“24 Marquard unterscheidet dabei zwischen „Beliebigkeitszufälligem“ und „Schicksalszufälligem“. Während – zumindest in der risikoabwägenden oder nachträglichen Reflexion – vielen Handlungen „Beliebigkeit“ zugeschrieben werden kann (worin sowohl der eher positiv konnotierte Aspekt von Freiheit als auch der eher negativ konnotierte Aspekt von Sinn- und Orientierungslosigkeit enthalten ist), gibt es auch Ereignisse (wie Geburt, Krankheit oder Tod), die dem menschlichen Handeln weitgehend unverfügbar sind und dadurch als schicksalhaft interpretiert werden können. Die Wahrnehmung und der Umgang mit beiden Formen des Zufälligen ist dabei freilich jeweils durch historisch und soziokulturell bedingte Konventionen bestimmt. Marquard weist nun Kunst und Religion jeweils eine Kompensationsfunktion zu: Sicher gehört zum Umgang mit dem Beliebigkeitszufälligen die Kunst: die Beliebigkeitsersparung durch Form; und sicher gehört zum Umgang mit dem Schicksalszufälligen die Religion: die Verwandlung von Grenzsituationen in Routinen. Beide – Kunst und Religion – sind Kontingenzbewältigungsversuche; jene – die Kunst – bewältigt (vielleicht) Beliebigkeitskontingenz; diese – 21

22 23 24

Bei [Frick 1988] finden sich in der Einleitung zahlreiche Verweise auf die umfangreiche einschlägige Forschungsliteratur. In ähnlichem Sinne bemerkt [Schmitz-Emans 1994, 288] in ihren Überlegungen zur „Modellfunktion des Zufälligen bei Hans Arp“: „Der Begriff ,Zufall‘, Entsprechung des lateinischen ,accidens‘, hat traditionell diverse Bedeutungen, und wo sich Dichter und Künstler auf diese Instanz berufen, changieren gelegentlich die damit verbundenen Konnotationen. Ihr Ambitus erstreckt sich von der göttlichen Schickung bis zum banalen Unfall oder ebenso banalen Glückstreffer.“ Im philosophischen Diskurs bezeichne das Wort ,Zufall‘ „neben dem Nicht-Wesentlichen auch das Nicht-Notwendige und das Nicht-Beabsichtigte“. Ferner bestehe zwischen „dem Begriff des ,Zufälligen‘ und dem des ,Kontingenten‘ [. . .] weitgehende Kongruenz, oft werden sie synonym verwendet.“ [Marquard 1986]. [Marquard 1986, 117]. Vgl. dazu auch [Utz 2005, 29ff.]. [Marquard 1986, 121].

Forschungsbericht und Methode

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die Religion – bewältigt (vielleicht) Schicksalskontingenz. [Marquard 1986, 130]

Marquard fasst also Geformtheit als zentrales Charakteristikum des Kunstwerks auf. Künstlerische Produktion ist somit stets mit einem Prozess des ,Formens‘ verbunden, und die Rezeption von Kunstwerken besteht in einer Rekonstruktion von Formen. Lässt man weitgehend offen, worin dieses ,Formen‘ besteht und was überhaupt als Form bezeichnet werden kann, dürfte es tatsächlich schwer fallen, Kunstwerke zu finden, die diese Definition nicht erfüllen.25 Welche Konsequenzen aus der Tendenz zur Auflösung verbindlicher Formgebung in der literarischen Moderne für die Kontingenzproblematik zu ziehen sind, gehört zu den zentralen Fragestellungen der vorliegenden Arbeit. Es wäre aber sicher verfehlt, Marquards Konzept für die Moderne gänzlich zu verabschieden, da auch die Stiftung von Unordnung als Ordnungsvorgang aufgefasst werden kann. Gerade die systematische De-Formierung wird in den Programmatiken der emphatischen Moderne26 oft als mimetische Abbildung von per se de-formierten Gegenständen wie Ich, Gesellschaft oder Welt verstanden. Eine literaturwissenschaftliche Arbeit zur Bedeutung von Kontingenz und Zufälligkeit muss also vor allem Diskurse in den Blick nehmen, die semantische und formale Ordnungen problematisieren. Dabei muss jedoch bewusst gehalten werden, dass auch ,kritische‘ Diskurse bestimmten semantischen und medialen Ordnungen folgen, also ihrerseits dekonstruiert werden können. Ein weiteres, bereits angedeutetes Problem der künstlerischen Kontingenzbewältigung durch Formgebung manifestiert sich eben beim Rezeptionsvorgang. Da keine Ordnung vollständig determinierend sein kann, ist mit der Deutung eines Kunstwerks stets ein komplexer, (bewusst wie unbewusst befolgten) Konventionen unterworfener Konstruktionsvorgang verbunden, im Zuge dessen die Grenze zwischen Kontingenz und Ordnung immer wieder infrage gestellt und verschoben wird. Auch dieser rezeptionstheoretische Aspekt ist beim Umgang mit der Literatur des 20. Jahrhunderts besonders prekär, wo sich die Frage nach dem angemessenen Maß der Ordnungsstiftung durch Lektüre häufig als literaturtheoretische Grundsatzfrage erweist. Da wissenschaftshistorisch bedingte Wertungsstrukturen diesbezüglich besonders relevant sind, ist es sinnvoll, paradigmatische Positionen der Forschung in ihrer historischen Folge darzustellen. Erst vor dem Hintergrund der Erkenntnis, wie sehr (nicht zuletzt historisch bedingte) theoretische und methodische Grundentscheidungen den Umgang mit dem Kontingenzproblem beeinflussen, lässt sich die Frage nach der Systematik einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung in ihrer vollen Komplexität stellen. 25

26

Grenzfälle, auf die im Rahmen dieser Arbeit noch einzugehen sein wird, stellen dabei natürlich aleatorische Verfahren und Readymades dar, die programmatisch auf künstlerische Formung von Gegenständen verzichten bzw. Zufälligkeit und Beliebigkeit gerade funktionalisieren, also nicht in einem unvermittelten Sinn ersparen, wie Marquard behauptet. Vgl. dazu grundlegend [Baßler 1994].

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Einleitung

1.1.1 Erster Teil des Forschungsberichts In den 1970er Jahren sieht sich die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Zufall noch deutlich in der Pflicht, eine Apologie der eigenen Thematik mitzuliefern. Ausgehend von der Frage nach der literarischen Repräsentierbarkeit und Repräsentation des Zufalls stoßen die einschlägigen poetologischnarratologischen Überlegungen und literaturhistorischen Studien von Ernst Nef, Erich Köhler und Klaus-Detlef Müller – zumindest implizit – bereits auf das allgemeine Problem literarischer Ordnung. Ernst Nef entwickelt im Schlusskapitel seines germanistisch-komparatistischen Beitrags eine narratologische Synthese der vorangehenden „monographische[n] Untersuchungen“ zum „Zufall in der Erzählkunst“27 von Voltaire bis hin zu Döblins Berlin Alexanderplatz. Die Grundthese, Zufall sei nicht als „künstlerischer Mangel“, sondern – unter gewissen Bedingungen – auch als „legitimes Mittel der Erzählkunst“28 anzusehen, verrät deutlich, welchen literarischen und literaturwissenschaftlichen Verdikten sich die Thematisierung des Zufälligen in der Entstehungszeit der Studie gegenübersieht. Nach einer knappen erzähltheoretischen Erörterung bestimmt Nef den „erzählerischen Zufall“ als „eine Koinzidenz von Begebenheiten, die zum Fortgang der Handlung beiträgt und weder direkt durch den Erzähler noch unmittelbar in der Handlung hergeleitet wird.“29 Zumindest reflexiv weist Nef bereits deutlich auf die diskurs- und medientheoretische Dimension des Problems hin: Da jede Kontingenz, jede Zufälligkeit logisch an eine Ordnung gebunden ist, ohne die sie gar nicht feststellbar würde, steht mit dem Zufall in einem Erzählkunstwerk auch jenes erwähnte Ordnungsprinzip zur Diskussion, von dem sich dieser Zufall abhebt. Was man gelegentlich im Hinblick auf die moderne Erzählkunst als Krise des Erzählens bezeichnet, hat wesentlich mit der Gültigkeit beziehungsweise dem Außerkrafttreten dieses Ordnungsprinzips zu tun. Bei einer Betrachtung der Rolle des Zufalls in Werken von Dichtern aus dem ausgehenden 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert wird also notwendig zugleich von einem Stück Vorgeschichte der Schwierigkeiten modernen Erzählens die Rede sein. [Nef 1970, 7f.]

Für den angegebenen Untersuchungszeitraum diagnostiziert der Verfasser eine literaturhistorische Entwicklung von „großen“ zu „kleinen“ Zufällen, da sich „[m]etaphysische Implikationen des Zufalls“ zunehmend auflösten: „Der Zufall verliert den Charakter einer Kontingenz, in der ein Sinn versteckt ist.“30 Auch wenn die hier behauptete Kontinuität in der vorliegenden Arbeit sachlich zum Teil widerlegt werden wird, ist der Hinweis auf den konstitutiven Zusammenhang von Zufall 27 28 29 30

[Nef 1970]. [Nef 1970, 5]. [Nef 1970, 7]. [Nef 1970, 109].

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und Semantik von hoher literaturwissenschaftlicher Bedeutung. Zufälle verweigern sich zunächst der Sinnzuschreibung und durchkreuzen anderweitig etablierte Ordnungen, eröffnen daher aber narratologisch das Potential der Konstruktion eines höheren Sinns, dessen Dignität sich gerade dadurch konstituiert, dass er sich dem (der ,conditio humana‘ unterworfenen) Menschen erst nachträglich erschließt. Döblins Berlin Alexanderplatz wird unter diesem Blickwinkel erwartungsgemäß zum Paradigma moderner Entprovidentialisierung, in der die omnipräsenten „kleinen“ Zufälle die „ganz profane Kompliziertheit der Welt“31 zeigen. Für Nef ist Kontingenz als literarisches Phänomen in der Moderne mithin semantisch wie narratologisch weit weniger interessant als in den vorangegangenen Epochen: Geschichten, in denen der Zufall – wie etwa in Döblins Großstadtroman – letztinstanzlich sei, also nicht auf einen Notwendigkeits-Horizont zurückbezogen werde, würden zu „zufälligen Geschichten“32 . Immerhin weist der Verfasser auf Analogien zwischen soziokulturellem Wandel und Veränderungen der narratologischen Organisation hin. Die von ihm postulierte „Enthierarchisierung der Erzählwelt“33 stehe mit der semantischen und strukturellen Bedeutung des Zufalls in einem dialektischen Verhältnis: Das bedeutet, dass mit dem Zufall zugleich die Darstellbarkeit von Totalität, von Welt als einem organischen Ganzen problematisch wird. Die Problematisierung des erzählerischen Zufalls ist gleichzeitig die Problematisierung der Darstellbarkeit einer alle Partikularität aufhebenden Sinnerfülltheit des Ganzen. [. . .] Die Säkularisierung des Zufalls als historischer Prozeß ist zu verstehen als der allmählich sich durchsetzende Verzicht auf Darstellung dieser Sinnerfülltheit, als allmähliches Zurücknehmen der erzählerischen Objektivation von Totalität. [. . .] Nur mehr als negative Folie ist die Objektivation von Totalität dann schließlich in Döblins Berlin Alexanderplatz vorhanden. [Nef 1970, 111]

Die zentrale Aufgabe der hier angedeuteten literaturwissenschaftlichen Verknüpfung der Probleme von Sinnstiftung und Zufälligkeit wird von Nef dabei offenbar nicht wahrgenommen: Sinn-, Orientierungs- und Totalitätsverlust entstehen nämlich keineswegs als bloße ,Abfallprodukte‘ von Sinn und Orientierung, sondern stellen mindestens ebenso komplexe semantische Konstruktionen dar wie ihre oft unhinterfragt als ,positiv‘ betrachteten Gegenbegriffe. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werde ich zeigen, wie der Kontingenzbegriff als Grundkonzept moderner Semantik positioniert wird, um irreduziblen Pluralismus und diverse Vorstellungen von Sinnleere und Chaos zum Ausgangspunkt ästhetischer und epistemischer Praktiken und Entwürfe machen zu können. Kontingenz könnte mit Blumenberg also als „absolute Metapher“ der Moderne bezeichnet werden, mit deren Hilfe man – auf festem Boden – über Bodenlosigkeit oder – wortreich – über Sprach31 32 33

Ebd. Ebd. [Nef 1970, 111].

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krisen sprechen kann.34 Auch Nefs Versuch, die von ihm beschriebene literarische Entwicklung mit dem soziokulturellen Prozess der Säkularisierung zu korrelieren, ist nicht unproblematisch. In der Einleitung zu seiner eingangs zitierten Studie weist Werner Frick auf das „in vielen Spielarten verbreitete Theorem der Säkularisierung“ hin, das bereits für Umbrüche an der Jahrhundertwende um 1700 bzw. in der Epoche der Aufklärung vielfach geltend gemacht werde, und listet beinahe parodistisch anmutend und unter detailliertem Verweis auf die jeweiligen Verfechter einige weitere Bezeichnungen des angesprochenen „Theorems“ auf: Genannt werden u.a. „Entzauberung“ der bürgerlich-kapitalistischen Welt, „Decline of Magic“, „From a Closed World to the Infinite Universe“, „Mechanisierung und Kausalisierung des Weltbildes“, „Prozeß der theoretischen Neugierde“, „Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild“, „Dialektik der Aufklärung“, „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, „Crise de la conscience européenne“ und „Age of Crisis“.35 Mit Blick auf die Frage nach einem einschlägigen Gesamtkonzept spricht er polemisch von den akademischen ,Kulturen‘ der Heterogenität, Rivalität und wechselseitigen Nichtbeachtung verschiedener Ansätze und schlägt in Ermangelung einer befriedigenden Synthese eine reflektiert-selektiv verfahrende Anwendung der konkurrierenden Konzepte vor.36 Dieses Niveau der Auseinandersetzung mit geistesgeschichtlichen Konstruktionen lässt Nefs Überlegungen mit ihrem pauschalen Verweis auf die Säkularisierung entsprechend recht naiv erscheinen und soll der vorliegenden Untersuchung als Mahnung dienen, mit kulturgeschichtlichen Topoi sparsam umzugehen, vor allem aber nicht der Illusion zu verfallen, mit solchen Verweisen werde die Argumentation automatisch profunder. Konzeptuell deutlich anspruchsvoller als Nefs Monographiensammlung ist Erich Köhlers romanistische Studie Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit37 . Darin steht weniger der Zufall als Konstituent der Erfahrung von ,Wirklichkeit‘ im Mittelpunkt des Interesses, sondern vielmehr die Reflexion und Ästhetisierung des Zufälligen, die in literarischen Texten besonders in der Moderne zu beobachten sei. Köhler operiert häufig mit dialektischen Denkfiguren, in denen Zufall, Möglichkeit und Notwendigkeit in sich wechselseitig dementierenden und also bestimmenden Verhältnissen gezeigt werden. Er stellt dabei heraus, dass die Seite des Zufälligen bzw. Möglichen in der Neuzeit und – forciert – in der Moderne durch eine generelle kulturgeschichtlich bedingte Schwächung von Providenz- und Teleologiepostulaten überhaupt erstmals in eine ernstzunehmende Gegenposition zur Sphäre des Determinierten bzw. Notwendigen gebracht werde.38 Nach literaturgeschichtlichen Fallstudien, die der Verfasser 34 35 36 37 38

Vgl. [Blumenberg 1999, 10]. Vgl. [Frick 1988, 3ff.]. Vgl. [Frick 1988, 4]. [Köhler 1973]. Beispielhaft für Köhlers Argumentation im Spannungsfeld der genannten Pole ist folgende Ausführung: „Dem Roman ist eigen, Möglichkeit in Fülle zu präsentieren und gerade darin auf die Notwendigkeit zu verweisen. Die Begegnung einer Romangestalt mit einer Person, die ihr zum Schicksal wird, ist zufällig und hat doch, weil sie zum Schicksal wird, ihren Grund in einer

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seinem dreigliedrigen historischen Modell gemäß in die Abschnitte „Das Ende der Providenz“, „Entfremdete Kausalität und Kontingenz“ und „Absurdität – Glück und Elend der Herrschaft des Möglichen“ einteilt,39 stellt Köhler umfangreiche, doch teils etwas unsystematisch wirkende Überlegungen zu den literaturwissenschaftlichen Konsequenzen dieses Bedeutungszuwachses der Kontingenz an, die von einer Auseinandersetzung mit Jauß’ zur Entstehungszeit der Studie gerade neu entwickelter Rezeptionsästhetik sowie dem Zusammenhang der Dialektik von Zufall und Notwendigkeit mit der Poetik der literarischen Hauptgattungen Novelle, Roman, Lyrik und Drama flankiert werden. Köhlers These eines Zusammenhangs des ,Wesens‘ von Literatur mit einer Sphäre des „Möglichen“ muten aus der Perspektive des heutigen wissenschaftlichen Diskurses etwas emphatisch an. Gleichwohl sind sie als literarische und literaturwissenschaftliche Grundvorstellung z.T. noch immer oder immer wieder in neuem Gewand virulent: Die viel berufene „Seinsweise“ der Dichtung hat eben darin ihren scheinbar geheimnisvollen Grund, daß sie, obgleich und weil selbst der historischen Dialektik unterworfen, im Möglichen angesiedelt ist. Sie genießt das allein ihr zustehende – und für sie als eine Disziplin der Kunst konstitutive – Recht, vom empirisch realisierten Möglichen ganz oder teilweise zu abstrahieren und an seine Stelle das gar nicht oder unzulänglich realisierte Mögliche zu setzen als zwar nur fiktiv zur Existenz gelangte, jedoch im Wirklichen enthaltene Notwendigkeit. [Köhler 1973, 117]

Aufschlussreich für den fundamentalen Wandel literaturwissenschaftlicher Grundpositionen ist Köhlers insistierender Rekurs auf die Position der „Notwendigkeit“ des im Medium der Literatur Ausgedrückten, der heute als weitgehend inakzeptabel empfunden werden dürfte. Ebenso wie die Rede von der „Wahrheit“ ei-

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Notwendigkeit, die durch Möglichkeit vermittelt ist.“ [Köhler 1973, 129] Die anthropologische Dimension von Köhlers Denken wird besonders angesichts seines nachgerade feierlich formulierten letzten Absatzes deutlich: „Die Einführung des Zufalls in die historische Dialektik hat nicht zum Preis, daß diese aufgegeben werden müßte. Sie sichert sie vielmehr ab gegen die ständige Gefahr des Rückfalls in einen Determinismus, welcher der menschlichen Tätigkeit keinen Spielraum ließe, die Zukunft in zugleich freier und notwendiger, humaner Praxis zu gestalten. Wäre der Zufall nicht, und mit ihm das Mögliche, wäre Utopie schon längst nicht erstrebenswerte, sondern entsetzliche Wirklichkeit. Absolute Notwendigkeit ohne Möglichkeit ist zwar denkmöglich, aber unrealisierbar, weil Möglichkeit niemals abgeschlossen werden kann, es sei denn, es gelänge dem Menschen aufzuhören, Mensch zu sein. Das wäre dann seine allerletzte Möglichkeit – und das Ende der Geschichte.“ [Köhler 1973, 137]. Köhler selbst sieht diese Aufteilung in Übereinstimmung mit der von Hans Blumenberg (im Aufsatz Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit im Roman, vgl. [Blumenberg 2001]) vertretenen Abfolge verschiedener Wirklichkeitskonzepte. Er parallelisiert seine Epoche der „Providenz“ mit dem Wirklichkeitsbegriff der „garantierten Realität“, die Phase der „Kausalität“ mit dem Wirklichkeitsverständnis der „Realität eines in sich einstimmigen Kontexts“ und erkennt eine Entsprechung von „Absurdität“ und der Auffassung, Realität sei „das dem Subjekt nicht Gefügige“. [Köhler 1973, 136f.] Ich verzichte an dieser Stelle auf eine allgemeine Beschäftigung bzw. Bewertung mit diesem historischen Raster, und befasse mich mit derartigen kulturhistorischen Fragen dort detaillierter, wo dies für konkrete Lektüren erhellend ist.

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nes Kunstwerks werden solche Vorstellungen mittlerweile als spezifische Elemente poetischer bzw. poetologischer Diskurse betrachtet. Köhler hingegen verweist auch aus der Perspektive des Literaturwissenschaftlers explizit zustimmend auf ein ästhetisches Postulat Schillers, „der Eindruck der Vollkommenheit eines Werkes der Literatur beruhe auf dem Grad von Notwendigkeit, der sich in ihm mitteilt.“40 Die Tatsache, dass derartige affirmativ auf ,klassische‘ Diskurse bezogene Vorstellungen von Notwendigkeit im literaturwissenschaftlichen Diskurs inzwischen als nicht mehr zulässig betrachtet werden – und es entsprechend relativ einfach geworden ist, für Kontingenz zu plädieren –, sollte indes nicht zu einer simplen Negation traditioneller Notwendigkeitspostulate verleiten. Ein echter Erkenntnisgewinn ist erst zu erwarten, wenn man keiner der beiden Seite konzeptuell einen privilegierten Status einräumt. Kontingenz und Möglichkeit werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit ebenso wie Notwendigkeit immer bloß als Konzepte, Begriffe oder strukturelle Parameter von Diskursen aufgefasst. Die Frage nach dem ,wesenhaften‘, ,wirklichen‘ Verhältnis von Kontingenz und Notwendigkeit wird also methodisch bewusst ausgeklammert, da es sich hierbei nicht um eine kulturoder literaturwissenschaftliche, sondern um eine philosophische Frage handelt.41 Klaus-Detlef Müllers Aufsatz Der Zufall im Roman. Anmerkungen zur erzähltechnischen Bedeutung der Kontingenz42 , in dem er neben allgemeinen narratologischen Überlegungen die Bedeutung des Zufalls in einigen Romanen des 18. bis 20. Jahrhunderts zu bestimmen versucht, ist konzeptionell wie argumentativ die überzeugendste einschlägige Arbeit der 1970er Jahre.43 Der Verfasser geht zunächst von einer kulturell allgemein verbürgten Vorstellung von Zufälligkeit als 40

41

42 43

[Köhler 1973, 129]. Die Tatsache, dass Köhler dem Diskurs der Klassik noch weit über hundert Jahre später Anspruch auf exklusive Gültigkeit einräumt, zeigt nicht zuletzt die Machtimplikationen diskursiver Konstruktionen. Um seiner Beschäftigung mit dem Zufälligen und Möglichen dennoch eine gewisse Dignität zu sichern, kommt Köhler nicht umhin, – einmal mehr auf dialektischem Wege – die Behauptung aufzustellen, Notwendigkeit zeige sich gerade durch den Einbezug des Möglichen oder Zufälligen: „Für den Roman aber muß gesagt werden, daß solche Notwendigkeit nicht zustande kommt ohne die Einbeziehung des breiten Spektrums von Möglichkeiten, durch die allein sich per Zufall die allgemeine Gesetzlichkeit der Totale im Einzelschicksal durchsetzen kann.“ [Köhler 1973, 129f.]. Vgl. dazu etwa die Philosophie des Zufalls von [Utz 2005]. Aus dieser Perspektive ist es im Rahmen kulturwissenschaftlicher Untersuchungen insbesondere nicht mehr nötig, Notwendigkeitsfigurationen mit allzu kritisch-subversivem Gestus zu begegnen, wie dies etwa bei [Schmitz-Emans 1994, 290] auffällt: „Zufälle – selbst ,relative‘ – irritieren, denn sie wirken destabilisierend, brüskieren den an Kausalrelationen interessierten Verstand und den zweckrationalen Willen.“ Wenn sie außerdem mit der Feststellung fortfährt, das „Bewußtsein, die eigene Existenz dem Spiel von Zufällen zu verdanken“, erzeuge ebenso wie das Wissen, „handelnd einem Unberechenbaren ausgesetzt zu sein und bei der Erkenntnis von Zusammenhängen immer wieder auf ,black boxes‘ zu stoßen“, ein „Gefühl von Bodenlosigkeit“, so ist hier analytisch gerade die Frage anzuschließen, welche Diskurse dieses „Gefühl“ erzeugen. Die Neigung der Autorin zur Apodiktik manifestiert sich im zitierten Aufsatz immer wieder und setzt gerade da, wo es um die diskursiven und medialen Bedingungen der Kontingenzsemantik geht, rhetorisch ,Selbstverständlichkeiten‘ ein: „Auch und gerade die Oberfläche des Alltäglichen ist ja anfällig für den Einbruch des Unbegreiflichen.“ [Schmitz-Emans 1994, 291]. [Müller 1978]. [Müller 1978] untersucht Wielands Agathon, Goethes Wilhelm Meister, Kellers Grünen Heinrich und Frischs Homo Faber.

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,natürlichem‘ Teil der Wirklichkeit aus: „Die so begründete Erfahrung der Kontingenz des Wirklichen gilt selbstverständlich auch für den Roman. Sofern es sich dabei um die einfachen, gewissermaßen natürlichen Zufälle in der Wirklichkeit handelt, bedarf es keiner Erklärung.“44 So plausibel diese Feststellung – vor allem im Hinblick auf realistisch-mimetische Erzählliteratur – zunächst auch erscheint, verbirgt sie doch ein narratologisches Grundproblem. Gesteht man dem Erzähler nämlich zu, über die Kausalität in der erzählten Welt zu verfügen, so trägt er doch auch für die Zufälle in der Handlung die Verantwortung, „d.h. der Zufall hat jeweils einen ausdrücklichen Sinn: er wird als eine verkürzte Motivation eingeführt und als solche verdeutlicht.“45 Werner Frick formuliert diese Problematik in seiner oben genannten Untersuchung – unter expliziter Berufung auf Müllers Studie – etwas ausführlicher mit Bezug auf die modallogische Definition des Kontingenzbegriffs:46 Von den beiden in der Modalkategorie des Kontingenten implizierten Negationsverhältnissen wird in unserem Zusammenhang nur eines wesentlich, dieses aber zentral: die Negation der Notwendigkeit. Denn aus dem logischen Aspekt des Auch-anders-Möglichen im Zufall, der ebensogut hätte ausbleiben können, wie er im konkreten Fall eingetreten ist, folgt ein fundamentales Begründungproblem für jeden Erzähler, der kontingente Ereignisreihen nicht um ihrer selbst und um ihrer interessanten Einmaligkeit willen, sondern als prozessuale Stadien einer Mittel-Zweck-Relation, als ,Wege‘ zu einem vorgegebenen ,Ziel‘ konstruiert. [Frick 1988, 18]

Wie Köhler arbeitet auch Müller mit einer – allerdings eher soziokulturell begründeten – dreistufigen Epocheneinteilung: Im „vorbürgerlichen Roman“ stelle der Zufall die wichtigste Motivations- und Verknüpfungsform dar, sei „im eigentlichen Sinne“ aber gar kein Zufall, da gemäß der poetologischen Grundkonzepte der Epoche die „Zweideutigkeit der Vorgänge, die im Augenblick ihrer Realisierung sinnlos oder rätselhaft erscheinen, vom Ende der Handlung her aber rückblickend als Teile eines großen Plans erkennbar werden“, den Zufall als „ästhetisches Kalkül“ legitimiere, „das aus dem religiös fundierten Geschichtsbewußstein hervorgeht und dieses repräsentiert“.47 Der Zufall wird vom Ende der Geschichte her als solcher negiert und markiert lediglich die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens gegenüber dem göttlichen Heilsplan. Da dieser als Bezugspunkt der kulturellen Semantik (bedingt durch die „Säkularisation des theologi44 45 46

47

[Müller 1978, 266]. Ebd. Schon angesichts der divergierenden Untersuchungszeiträume ist es im Rahmen dieser Arbeit nicht sinnvoll, sich mit den konkreten Studien Fricks zu befassen. Die Einleitung, aus der schon zitiert wurde, und das im Folgenden zitierte Schlusskapitel sind jedoch in ihrer ausgewogenen Argumentation außergewöhnlich informativ und waren für meine Untersuchungen entsprechend anregend. [Müller 1978, 267]. Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zur Argumentation bei [Nef 1970, 109], der in diesem Zusammenhang gerade von den „großen“, da mit metaphysisch fundiertem semantischem Mehrwert ausgestatteten Zufällen spricht.

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schen Geschichtsbilds“) seit der Aufklärung obsolet bzw. brüchig werde und sich der Roman „im 18. Jahrhundert immer stärker am Modell der pragmatischen Geschichtsschreibung“ und damit am Satz vom zureichenden Grund orientiere, sei die narrative Einsetzbarkeit des Zufalls zu Beginn der von Müller in den Blick genommen Epoche eingeschränkt.48 Gleichwohl sei die „Erzählfunktion“ des Zufalls in dieser mittleren Epoche am interessantesten. Ähnlich wie Nef beurteilt Müller die narratologische Bedeutung der Kontingenz in der Moderne skeptisch. Die Omnipräsenz des „Zufälligen“ und „Sinnlosen“ im ästhetischen Diskurs des 20. Jahrhunderts, in dem „sowohl das Ereignismuster der Geschichte in der Fabel als auch die Kontinuität des Ichs nicht länger als verbindliche Erzählnormen Gültigkeit beanspruchen“ können und (auch) die epischen Formen zusehends „zugunsten deskriptiver, assoziativer, simultaner oder registrierender Darstellung“ aufgelöst würden, ihre eigene Kohärenz und Geschlossenheit also nicht einmal mehr prätendierten, schränke die narratologische Bedeutung des Zufalls stark ein: Wo „alles zufällig wird, hat der Zufall als kompositorisches Moment ausgespielt. Die Zufälligkeiten des modernen Romans von Rilke über Joyce und Beckett bis Handke sind in ihrer Universalität Negation eines artikulierbaren Zufalls.“49 (Aufgrund dieser Überlegung untersucht Müller als Beispiel für die „erzähltechnische Bedeutung der Kontingenz“ in der Moderne Frischs Roman Homo Faber, da dieser konventionell genug erzählt sei, um mit den Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts überhaupt vergleichbar zu sein.) Im Hinblick auf die emphatisch moderne Literatur begnügt sich Müller damit, die Vermittlungsleistung zu umreißen, die für eine sinnvolle Beschäftigung mit der Bedeutung von Kontingenz und Zufälligkeit zu erbringen sei: [. . .] [W]o der Zufall als bestimmendes Realitätsmoment und beherrschende Realitätserfahrung verstanden wird, wo er etwa für die chaotische und entfremdete Wirklichkeit steht, wie in vielen Werken seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, ist er nicht einfach das Abbild von Realität, sondern ästhetisch vermittelt. Zufall an sich läßt sich offenbar nicht dichterisch gestalten. Um ihn als solchen zu begründen oder zu objektivieren, bedarf es des Umwegs über die theoretische Reflexion, die dargestellte Gegenständlichkeit als ästhetische ausweist. Das Zufällige selbst wirkt nicht als Darstellung von Zufall, sondern bestenfalls als Abwesenheit von Sinn, die mit der Zufallsthematik erst vermittelt werden muß. Das setzt die Thematisierung der Ordnung voraus, deren Verlust dargestellt werden soll. [Müller 1978, 266]

Wie diese „Vermittlungsleistung“ in den einschlägigen Studien der letzten Jahre erbracht wird, lässt sich aufgrund der durch die ,Theoriedebatte‘ ausgelösten Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft nur mit explizitem Bezug auf grundlegende Konzepte und Theoreme der Diskurs-, Medien- und Systemtheorie nachvollziehen, denen ich mich nun zunächst zuwende. 48 49

Vgl. [Müller 1978, 267]. Vgl. [Müller 1978, 277].

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1.1.2 Kontingenz aus der Perspektive von Diskurs- und Medientheorie Die bislang dargestellten literaturwissenschaftlichen Ansätze zur Bedeutung des Zufalls lassen sich als hermeneutisch-philologisch charakterisieren. Der linguistic turn in der literaturwissenschaftlich relevanten Theoriebildung führt in dieser Frage in den 1980er Jahren zu grundsätzlichen Veränderungen.50 Diskursanalyse und Dekonstruktion knüpfen als poststrukturalistische Konzepte an das strukturalistische Sprachmodell de Saussures an,51 in dem Kontingenz eine zentrale Rolle einnimmt, da das Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Signifikant und Signifikat darin explizit als arbiträr betrachtet wird. Die Bedeutung dieser Kontingenz wird bei de Saussure konzeptuell zwar – mit Verweis auf die weitgehende Determination dieses Verhältnisses durch Konventionen – wieder eingeklammert, doch eben diese Klammerung wird im Poststrukturalismus ihrerseits eingeklammert, indem radikal konstruktivistisch die Unhintergehbarkeit des SprachlichDiskursiven postuliert wird. So werden auch die vermeintlich außersprachlichen Signifikate als Signifikanten betrachtet, und jede sprachliche Äußerung eröffnet ein potentiell unendliches Spiel, bei dem man nie bei einer letzten, endgültigen oder eindeutigen Bedeutung ankommen kann.52 Diese Freisetzung von Arbitrarität und Kontingenz wird allerdings flankiert von der radikal gedachten Unverfügbarkeit von Sprache und Diskursen, die kein autonomes Subjekt beherrschen kann, da eben dieses autonome Subjekt selbst sprachlich-diskursiv produziert wird.53 In seiner berühmten Studie Aufschreibesysteme 1800 · 190054 entwickelt Friedrich Kittler auf der Grundlage diskursanalytischer Theoreme ein medientheoretisch akzentuiertes historisches Modell von Klassik und Moderne; der Terminus „Aufschreibesystem“ steht dabei für eine spezifische mediale Konstellation. Kittler rekonstruiert den fundamentalen Wandel vom „klassischen“ Aufschreibesystem der Zeit um 1800 zum „modernen“ Aufschreibesystem an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Mit prononciertem Innovationsgestus bezieht Kittler dabei die Materialität und Technizität der Medien in seine Überlegungen ein, deren Einfluss auf die ,transferierten‘ Inhalte nicht zu überschätzen sei. Während Medien nach traditioneller Auffassung idealerweise weitgehend ,neutrale‘ Vermittlungsinstanzen darstellen, sieht Kittler sie in einer analogen Rolle zu den oben beschriebenen Diskursen. Sie steuern und reglementieren häufig subtil und unbemerkt jegliches Wahrnehmen und Verstehen und gelangen im theoretischen Konzept so in eine gleichsam transzendentale Rolle, da sie als Bedingungen der Möglichkeit der Konstitution von Sinn betrachtet werden. Kittlers Theorie erklärt implizit, warum radikal diskurs- und medientheoretische Konzepte lange Zeit auf heftige Gegenwehr stießen. Ein Grund dafür kann im fortdauernden Einfluss des Aufschreibesystems 50 51 52 53 54

Vgl. dazu [Mills 2007]. Vgl. [de Saussure 1967]. Vgl. [Bogdal 1999, 23ff.]. Vgl. [Mills 2007, 36ff.]. [Kittler 2003].

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1800 auf die kulturelle Semantik gesehen werden. Die Zeit um 1800 ist – infolge einer systematischen Alphabetisierung der Bevölkerung – die erste Epoche, in der das Medium Schrift eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung erhält. Von literarischen, philosophischen und pädagogischen Diskursen flankiert, dementiert dieses Medium aber seine eigene Medialität und tritt mit dem Anspruch auf, den Menschen direkt mit der Welt zu vermitteln. Die zugehörigen diskursiven Konstrukte von Eigentlichkeit, Autonomie und Identität bestimmen noch immer zahlreiche kulturelle, politische und pädagogische Praktiken. Welche Implikationen die Bedingungen des klassischen Aufschreibesystems für den Spielraum von Zufälligkeit und Kontingenz haben, lässt sich besonders deutlich an Kittlers Umdeutung der berühmtesten deutschsprachigen Dramenszene verdeutlichen: Das Aufschreibesystem 1800, das auf die Transgression des Sprachlich-Materiellen in die Sphäre des Geistes zielt, beschneide und steuere „das Würfelspiel der Reden“ und sorge dafür, dass Fausts – philologisch oft genug seriös reflektierte – Übersetzung des biblischen „logos“ letztlich in einem recht engen Rahmen variiert und nicht etwa zum „Blabla“ werden kann.55 Dem entspricht die ,Einklammerung‘ der Kontingenz durch Konventionen im strukturalistischen Sprachmodell, das in dieser Hinsicht im Horizont des klassischen Aufschreibesystems bleibt. Klassische Diskurse verhindern also durch diskursive Strategien Einbrüche von radikaler Zufälligkeit, Beliebigkeit und Desorientierung. Fausts existentielle Krise, die häufig als Beweis seiner Exzentrizität aufgefasst wird, macht ihn aus medientheoretisch-diskursanalytischer Perspektive also gerade zum prototypischen Repräsentanten des klassischen Diskurses. Gleichwohl gerät – aufgrund des medientechnischen Fortschritts – das Geist-Ideal der klassisch-romantischen Epoche in der Zeit um 1900 in die Schusslinie literarischer, philosophischer und wissenschaftlicher Kritik. Pointiert formuliert Kittler eine Grundauffassung des Aufschreibesystems der Moderne im Zusammenhang mit der Philosophie Nietzsches: Schreiben und Schreiber sind Zufallsereignisse in einem Rauschen, das selber Zufallsgenerator ist und darum von ihnen nie beseitigt werden kann: So nahe kommt Nietzsche der Poetologie Mallarmés. [Kittler 2003, 223]

Kittler erklärt den Wandel mit der Medienkonkurrenz von Schrift einerseits und Grammophon und Film andererseits.56 Vor allem im Film lässt sich – so suggeriert das Aufschreibesystem 1900 – die Welt ,direkter‘ und ,unmittelbarer‘ repräsentieren als im Medium der Literatur, wodurch diese Aufgabe für ambitionierte Literatur zunehmend entfällt. Um 1900 werde diese entsprechend dezidiert zur Wort-Kunst: Aus „Autoren“ werden „Schreiber“, die nicht mehr „Ideen“, sondern eben „Worte“ als ihr Arbeitsmaterial betrachten. In der klassischen Moderne ende somit die „Verwechslung“ von Ideen und Worten, auf der das gesamte klassische 55 56

Vgl. [Kittler 2003, 24]. Vgl. dazu auch [Kittler 1986].

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Aufschreibesystem gründe.57 In Auseinandersetzung mit Nietzsche vollzieht Kittler die Dekonstruktion der klassischen Instanzen von Autorschaft und Natur nach, die sich um 1900 ereignet;58 die Natur, die um 1800 durch Metaphern wie Mutter oder Mensch beschrieben wird, erscheint um 1900 als bloßes „Rauschen“:59 Damit ist ein zentraler Terminus der Kybernetik, einer wichtigen medientheoretischen Innovation des 20. Jahrhunderts, angesprochen, womit zugleich jegliche Semantik im Sinne einer natürlichen, notwendigen oder sicheren Bedeutungskonstitution fundamental infragegestellt wird, was die Statistik zur letzten Instanz der Kontingenzbewältigung macht: Im Aufschreibesystem 1900 sind Diskurse Outputs von ZUFALLSGENERATOREN. Die Konstruktion solcher Rauschquellen fällt der Psychophysik zu, ihre Speicherung neuen technischen Medien, die psychophysische Meßwerte als Apparate implementieren. [Kittler 2003, 249], Hervorh. im Original.

Anhand der – für das moderne Aufschreibesystem paradigmatischen – Gedächtnisexperimente von Ebbinghaus, auf die Kittler hier anspielt, erläutert er den Unterschied zum klassischen Aufschreibesystem: In dessen Versuchen müssen Probanden zufällige, also in der Regel sinnlose Buchstabenfolgen auswendig lernen, um die quantitative Speicherkapazität des Gehirns zu ermitteln.60 Daran hätte das Aufschreibesystem 1800, in dem Buchstaben praktisch nur als Teile von Wörtern vorkommen, die ihrerseits beinahe bruchlos mit Signifikaten identifiziert werden, keinerlei Interesse gehabt, da schon die Aufgabenstellung als völlig geistlos und dem Menschen als autonomem Subjekt unwürdig betrachtet worden wäre. Die Jahrhundertwende um 1900 wird medientheoretisch also durch Mathematisierung und grundsätzliche Infragestellung der traditionellen Semantik (als beinahe automatisch funktionierender Übersetzungsinstanz zwischen ,Worten‘ und ,Ideen‘) charakterisiert. In diesem Zusammenhang deutet Kittler die Experimente der modernen Avantgarde etwa mit „écriture automatique“ als konsequente Forcierung der medientechnisch präfiguierten Abkehr vom Primat der Mimesis in der literarischen Produktion.61 Auch wenn Kittlers im Titel anklingender Universalitätsanspruch sicher nicht eingelöst wird (dafür verfährt er schon bei der Wahl literarischer Referenztexte zu selektiv), kommt seinem diskurs- und medientheoretischen Grundlagenwerk das Verdienst zu, den Blick insbesondere auf die moderne Literatur neu perspektiviert zu haben. Für eine literaturwissenschaftliche Arbeit zur Bedeutung von Kontingenz in der Kultur der Moderne ist eine Orientierung an der Unterscheidung der beiden Aufschreibesysteme einerseits also hilfreich. Andererseits wird sich 57 58 59 60 61

[Kittler 2003, 223f.]. Zur Rolle Nietzsches für die moderne und insb. dadaistische Faszination angesichts des Zufälligen vgl. [Schmitz-Emans 1994, 291ff.]. Schon [Nietzsche 1954, 1038] stellt in diesem Sinne fest: „Die Natur ist der Zufall.“ Vgl. dazu auch [Schmitz-Emans 1994, 291ff.]. Vgl. [Kittler 2003, 249ff.]. Vgl. [Kittler 2003, 289].

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für diese Thematik gerade auch das Phänomen der Überlagerung von Diskursen beider Aufschreibesysteme als wichtig erweisen, da das für die Moderne charakteristische Diskurs- und Kontingenzbewusstsein in vielen Texten der Zeit nach 1900 mit klassischen Geist- und Notwendigkeitsidealen verknüpft wird, was die Komplexität des Diskursgeflechts der Moderne maßgeblich steigert. 1.1.3 Kontingenz als Grundbegriff der Systemtheorie Der Kontingenzbegriff gehört zu den basalen Elementen von Luhmanns Systemtheorie, die den geistes- und kulturwissenschaftlichen Theoriediskurs der letzten Jahre deutlich geprägt hat. Ich werde seine Bedeutung im Folgenden anhand der kunstsoziologischen Schrift Die Kunst der Gesellschaft62 , des historisch argumentierenden Aufsatzes Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft63 sowie der systematischen Überlegungen in Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung64 darstellen, wo Luhmann den Derridaschen Dekonstruktivismus mithilfe des von George Spencer Brown entwickelten kybernetischen BeobachtungsKonzept zu beschreiben versucht, das zu den epistemologischen Grundbegriffen der soziologischen Systemtheorie gehört.65 In beinahe allen Schriften Luhmanns nimmt die Unterscheidung zwischen weitgehend kontingenzblinder „Beobachtung erster Ordnung“ und kontingenzbewusster „Beobachtung zweiter Ordnung“ eine Schlüsselrolle ein. Nach diesem Konzept bedürfen Beobachtungen grundsätzlich der Einführung einer Unterscheidung, die die ,Welt‘66 in einen „marked“ und einen „unmarked space“ aufteilt.67 Die Festlegung auf bestimmte Unterscheidungen, die oft auch als „Codes“ bezeichnet werden, konstituiert bestimmte Subsysteme des Gesamtsystems „Gesellschaft“.68 Beobachtungen im Rechtssystem müssen z.B. durch die Unterscheidung legal/illegal codiert sein, Beobachtungen im Wissenschaftssystem durch die Unterscheidung wahr/falsch. Während sich der Beobachter erster Ordnung auf das konzentriert, was er beobachtet, und dem Beobachteten damit implizit einen objektiven Status zuschreibt, beobachtet ein Beobachter zweiter Ordnung als ein Beobachter dieses Beobachtens erster Ordnung, wie Beobachter erster Ordnung beobachten: Diese erleben und handeln „in einem Horizont relativ geringer Information“ und in einer „,wahrscheinlichen‘ Welt“.69 Beobachter zweiter Ordnung erkennen dagegen „die Unwahrscheinlichkeit des Beobachtens erster Ordnung.“ Dass nur Beobachtung ers62 63 64 65 66

67 68 69

[Luhmann 1997]. [Luhmann 1992]. [Luhmann 2001]. Vgl. zur Bedeutung der Luhmannschen Systemtheorie im Zusammenhang mit dem Werk Musils insb. [Berger 2004]. Die Anführungszeichen sind hier wörtlich zu nehmen, da der konstruktivistische Ansatz die mit dem traditionellen Terminus Welt konnotierten Vorstellungen bereits prä- oder metasystemisch existierender Entitäten vermeiden muss. [Luhmann 1992, 98ff.]. Vgl. [Schmitz-Emans 1994, 292f.]. [Luhmann 1997, 103].

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ter Ordnung ,alltagstauglich‘ ist, ergibt sich schon daraus, dass man nie würde „anfangen können, wenn man alle Möglichkeiten des Anfangens gegeneinander abwägen müsste.“70 Die Figuration von Notwendigkeiten durch Komplexitätsreduktion bzw. Verzicht auf weitere Reflexion ist in dieser Hinsicht also eine grundsätzliche Voraussetzung für Handlungsfähigkeit. Erst im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung manifestiert sich die vom Beobachter erster Ordnung meist unbewusst vollzogene Komplexitätsreduktion als solche: [. . .] [A]ls Beobachtung zweiter Ordnung kann sie die Unwahrscheinlichkeit der Beobachtung erster Ordnung (einschließlich ihrer eigenen) noch thematisieren. Sie kann zumindest größere Auswahlbereiche erfassen, kann dort Kontingenzen feststellen, wo der Beobachter erster Ordnung glaubt einer Notwendigkeit zu folgen oder ganz natürlich zu handeln. [Luhmann 1997, 104]

Das Kontingenzbewusstsein, das sich durch den Übergang zur Beobachtung zweiter Ordnung konstituiert, charakterisiert in Luhmanns Grundkonzeption den historischen Prozess der Modernisierung. Die zunehmende Bedeutung von Kontingenz exemplifiziert er an der Positivierung des Rechts. Während die in der Vorstellung des Naturrechts apostrophierte ,Natur‘ als eine Sphäre menschlicher Willkür gänzlich entzogener Notwendigkeit erscheint, wird durch das Konzept des positiven Rechts gerade dessen Kontingenz ausgestellt. Luhmann postuliert, dass im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft durch diesen und vergleichbare Paradigmenwechsel (erwähnt werden Regierungsform, Kapitalinvestition, Naturgesetze und Zeichengebrauch) Kontingenz ,eingeübt‘ werde, womit zugleich eine ,Korrosion‘ des zuvor sicher geglaubten Notwendigen und a priori Gültigen einhergehe.71 Im Zuge der Modernisierung nimmt die Interpretationsbedürftigkeit der Welt aus Luhmanns Perspektive fortwährend zu, da durch die Etablierung von Kontingenzbewusstsein und Beobachtung zweiter Ordnung das traditionelle Postulat einer präexistenten, intersubjektiven und verbindlichen Objekt- bzw. Außenwelt fragwürdig wird: Beobachten zweiter Ordnung läßt – und das ist ein weiteres Beispiel für Komplexitätssteigerung – die Wahl offen, ob man bestimmte Bezeichnungen dem beobachteten Beobachter zurechnet und ihn dadurch charakterisiert oder sie als Merkmale dessen ansieht, was er beobachtet. Beide Zurechnungen, Beobachterzurechnung und Gegenstandszurechnung, bleiben möglich. Ihre Ergebnisse können deshalb als kontingent aufgefaßt werden. [. . .] In der modernen Welt wird mehr und mehr auch, oder in vielen Fällen nur, auf Beobachter zugerechnet. Das mag als ein Symptom für das Kontingentwerden aller Welterfahrungen gelten. Über den immer möglichen Zweifel hinaus, ob ein anderer etwas richtig oder falsch bezeichnet, benutzt man die Beobachtung seines Beobachtens, um ihn selbst zu beobachten, zu kennzeichnen, zu verstehen. [Luhmann 1992, 101f.] 70 71

Ebd. Vgl. [Luhmann 1992].

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Die beobachtungstheoretische Herleitung des „Kontingentwerden[s] aller Welterfahrungen“ in der Moderne stellt aus Luhmanns Sicht eine Verbindung zwischen seiner systemtheoretischen Soziologie und Derridas Dekonstruktion her. Obgleich er den Grundgestus der Texte des französischen Philosophen ironisch mit dem „Tanz ums goldene Kalb“72 vergleicht und dessen Tendenz zu „verschwommener Verbalakustik und paradoxen Formulierungen“73 kritisiert, die dem dekonstruktivistischen Diskurs – vor allem angesichts seiner epigonalen Multiplikation – eine gewisse Penetranz verleihe,74 stimmt er mit Derridas Argumentation grundsätzlich überein. Luhmann teilt Derridas Kritik an der Hermeneutik, die der Auffassung folge, man „habe die Oberfläche eines Objekts (eines Textes) oder eines Subjekts (eines Bewußtseins) zu durchdringen, um in einer Tiefenschicht wahrheitsfündig zu werden“75 . Die Orientierung an Unterscheidungen wie Innen/Außen, Text/Kontext oder Inhalt/Form werden ebenso wie die Hegelsche Dialektik und die Peircesche Semiotik abgewiesen: „Die Dekonstruktion wurde demgegenüber entworfen – wenn sie überhaupt entworfen wurde –, um diese Positionen zu vermeiden. Sie scheint das Lesen von Formen als Differenzen zu empfehlen, die Fokussierung auf Unterscheidungen ohne jede Hoffnung, die verlorengegangene Einheit auf höherer Ebene oder zu späterem Zeitpunkt wiedererlangen zu können, und sogar ohne einen Interpretanden im Sinne von Peirce anzubieten.“76 Angesichts der Allgemeinheit des systemtheoretischen Beobachtungsbegriffs kann man auch die Rezeption eines Kunstwerks als Beobachtungsakt auffassen. Dies wird schon durch Luhmanns Vergleich von Dekonstruktion und Beobachtung zweiter Ordnung nahe gelegt. Ich werde nun kurz skizzieren, welche Probleme sich für die Frage nach der Bedeutung von Kontingenz in der Moderne aus der Unterscheidung von Text und Interpretation ergeben. Nicht erst die Interpretation kann nämlich als Beobachtungsvorgang konzeptualisiert werden. Schon das Kunstwerk selbst muss als Dokument eines solchen Akts betrachtet werden. Aus dieser Perspektive befindet sich der Rezipient eines Kunstwerks gleichsam automatisch in der Position eines Beobachters von Beobachtung. Während hermeneutische Interpreten versuchen, diese Differenz ihrer eigenen Beobachtung und der sich im Kunstwerk manifestierenden Beobachtung durch ,Horizontverschmelzung‘ im Laufe des Deutungsprozesses zu minimieren, bemüht sich die dekonstruktivistische Lektüre, die Inkommensurabilität beider Beobachtungsformen und die Kontingenz der bedeutungskonstitutiven Differenzen nachzuweisen. 72 73 74

75 76

[Luhmann 2001, 268]. [Luhmann 2001, 271]. Der Befund: „Die Dekonstruktion scheint einem intellektuellen Klima zu entsprechen, das sich auf dem Weg zur kulturellen Diversität befindet“ [Luhmann 2001, 267] deutet an, dass der Dekonstruktivismus trotz der zunächst heftigen akademischen Abwehrreaktionen zum politischkulturellen Gefüge seiner Entstehungszeit insgesamt keineswegs quersteht, sondern womöglich eher wissenschaftlich salonfähig macht, was sich etwa in bestimmten Bereichen der ,Popkultur‘ bereits zuvor weitgehend etabliert hatte. [Luhmann 2001, 266]. [Luhmann 2001, 266f.].

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Vor allem mit Blick auf die Kunst der Moderne muss man aber auch auf der Ebene der sich im Kunstwerk manifestierenden Beobachtung schon zwischen Beobachtung erster und zweiter Ordnung unterscheiden. Können bestimmte, z.B. realistische oder naturalistische Kunstwerke (in Übereinstimmung mit deren Programmatik) als künstlerische Präsentationen von Beobachtungen erster Ordnung betrachtet werden, stellen insbesondere moderne Kunstwerke in häufig auffallender Form selbst schon Dokumente von Beobachtungen zweiter Ordnung dar und reflektieren diesen forcierten Beobachtungsmodus zudem in ihrer poetologischen Programmatik. Dieser Befund stellt eine system- bzw. beobachtungstheoretische Reformulierung der Feststellungen zahlreicher Untersuchungen zur Zufallsthematik dar, die ein Zunahme und Universalisierung von Kontingenz in der Kunst der Moderne diagnostizieren. Wird im Kunstwerk eine relativ konsistente fiktionale Wirklichkeit präsentiert bzw. konstruiert, so sind damit zugleich Kontingenz und Zufälligkeit eingeschränkt. Hermeneutische Interpreten bemühen sich nun, kontingent erscheinenden Elementen des zu deutenden Werks, welche die aufgefundene Ordnung als semantische Brüche stören, entweder interpretatorisch die Relevanz abzusprechen, oder Kontingenzen zum Anlass zu nehmen, eine weitere – höhere – Sinn-Ebene zu postulieren, in deren Rahmen das zuvor Kontingente dann letztlich doch als Notwendigkeit verstanden werden kann. Unten wird zu sehen sein, wie sich diese Vorgehensweise unter dem Einfluss des Poststrukturalismus tendenziell umkehrt: Dekonstruktivistische Interpretationen sind gerade bemüht, die sich im Kunstwerk manifestierenden beobachtungskonstitutiven Differenzen selbst zu beobachten und damit deren Kontingenz zu erweisen. Als Ergebnis wird nicht mehr die Rekonstruktion einer konsistenten Sinneinheit betrachtet, sondern der Nachweis der sich im Text manifestierenden Brüchigkeit solcher Postulate von Einheit und Sinn. Ist – wie bei moderen Kunstwerken nicht unüblich – eine solche Brüchigkeit offensichtlich, weil etwa das Kunstwerk seine eigene Geschlossenheit und Einheit offensiv dementiert, vertauschen sich die Rollen von hermeneutischer und poststrukturalistischer Interpretation in teils überraschender Weise. Stellt ein Text seine eigene Kontingenz heraus, mutet die Applikation hermeneutischer Verfahren nicht selten geradezu dekonstruktivistisch an, während poststrukturalistische ,Lektüren‘ zu einem Nachvollzug der im Text vorgefundenen Un-Ordnung werden, die letztlich hermeneutische Züge trägt. Wer also die literarische Bedeutung von Kontingenz in der Moderne auf poststrukturalistischem Argumentationsweg ohne weitere Reflexion zu eruieren versucht, gerät in diesem Sinne in Gefahr, gerade die Fehler zu wiederholen, die er in der hermeneutischen Praxis sieht. Aus dieser Perspektive kann auch Luhmanns These, die Bedeutung von Kontingenz im Kunstsystem der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft bestehe in einer Art Mimesis zweiter Ordnung, nur teilweise zugestimmt werden: Mehr als irgendeinem anderen Funktionssystem scheint es der Kunst zu gelingen, oder jedenfalls ist ihr daran gelegen, die moderne Gesellschaft in der modernen Gesellschaft darzustellen, also – mit einer glücklichen Formulie-

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rung von David Roberts – die „Emanzipation der Kontingenz“ als Modell der Gesellschaft ins Werk zu setzen. [. . .] Es zeigt an sich selbst, daß die Zukunft durch die Vergangenheit nicht mehr garantiert ist, sondern unvorhersehbar geworden ist. Operative Schließung, Emanzipation von Kontingenz, Selbstorganisation, Polykontexturalität, Hyperkomplexität der Selbstbeschreibungen oder einfacher und unverständlicher formuliert: Pluralismus, Relativismus, Historismus, all das sind nur verschiedene Anschnitte dieses Strukturschicksals der Moderne. Die Kunst zeigt in der Form des Leidens an sich selbst, daß es so ist, wie es ist. Wer dies wahrnehmen kann, sieht in der modernen Kunst das Paradigma der modernen Gesellschaft. [Luhmann 1997, 497ff.]

In dieser Textpassage fällt eine – gerade vor dem Hintergrund der Luhmannschen Theoriebildung – m.E. nicht statthafte Faktifizierung der durch Beobachtung zweiter Ordnung gewonnenen ,Erkenntnisse‘ auf, wenn etwa die „Emanzipation von Kontingenz“ zum „Strukturschicksal“ der Moderne erklärt wird. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werde ich daher dafür plädieren, moderne Kunstwerke als Beobachter von Beobachtungen zweiter Ordnung, d.h. als Beobachter dritter Ordnung zu lesen, um jegliche – positive oder negative – Form der Sinnstiftung klar als solche beschreiben zu können. Es geht mir also nicht darum, anhand literarischer Texte durch eine ,Anwendung‘ von Luhmanns Theorie die ,objektive‘ Bedeutung von Kontingenz in ,der‘ modernen Kultur nachzuweisen und in diesem Sinne die von Odo Marquard vorgeschlagene „Apologie des Zufälligen“77 fortzusetzen. Stattdessen beschränke ich mich methodisch auf die Frage, wie Kontingenz und Zufälligkeiten im konkreten Diskursgefüge der Moderne relevant werden und welche Aporien sich bei ihrer Darstellung ergeben. Ich fasse Kontingenz also genau wie Notwendigkeit als ein Resultat spezifischer Beobachtungsformen auf.78 1.1.4 Fortsetzung des Forschungsberichts Gabriele Brandstetters Aufsatz über die Poetik der Kontingenz79 in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften80 ist die Rezeption der ,Theoriedebatte‘ deutlich 77 78

79 80

Vgl. [Marquard 1986]. Gerade hierin unterscheidet sich mein Ansatz grundlegend von dem Ingrid Bergers, die bereits eine Studie zu Musil und Luhmann vorgelegt hat und darin offenbar Kontingenzbewusstsein durch eine Synthese der einschlägigen modernitätstheoretischen ,Erkenntnisse‘ Luhmanns und Musils zu profilieren versucht: „Was Musil hier im Zusammenhang von Kunst und Literatur fordert, nämlich die Umstellung auf eine andere Form der Erkenntnis, liegt in der Systemtheorie ausgearbeitet vor. Beide Autoren teilen die Einsicht in die Notwendigkeit funktionalen Denkens.“ [Berger 2004, 18]. Vgl. auch ebd., 20. [Brandstetter 1995]. [Brandstetter 1995] folgt einer bei [Frick 1988] angedeuteten Idee: Dieser konzediert in seinem abschließenden Kapitel, die Kultur der Moderne sei zwar (etwa angesichts des durch Nietzsche berühmt gewordenen Wortes vom „Tod Gottes“) wesentlich durch ihre Depotenzierung des Providenzglaubens bestimmt. Gleichwohl könne man von einem subtilen Fortleben der Providenzkonzepte (als semantischem Grundbestand der westlichen Kultur) unter anderem Namen ausgehen. Als „moderne Surrogat- und Substitutionsformen der Providenz“ nennt Frick eben „die chemische Gleichnisrede der ,Wahlverwandtschaften‘“ und weiter die „geschichtsphilosophischen

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anzumerken. Die Verfasserin nimmt insbesondere die Veränderungen der „Strategien und [. . .] Muster des Erzählens von Lebensgeschichten“ in den Blick, die sich ergeben, wenn deren Protagonisten sich im Gefolge der Depotenzierung des Providenzdenkens „in einem nicht mehr erklärbaren Konnex zwischen Schicksalsordnung, Sozialordnung und subjektiven Spontanimpulsen“ befinden.81 Wie Müller und Frick weist sie auf das grundsätzliche narratologische Problem hin, dass es in fiktionalen Texten der Erzählinstanz obliegt, die „Beziehung zwischen providentieller Ordnung und Einbrüchen der Kontingenz“82 zu organisieren. Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften entfalte diese Kontingenz-Providenz-Problematik, die sie „einerseits auf der Ebene der Figuren und ihrer subjektiven Deutungskonzepte, andererseits auf der Meta-Ebene der Erzählinstanz in der Reflexion narrativer Legitimationsstrategien“83 verfolgt, in einer für den Beginn des 19. Jahrhunderts paradigmatischen Weise. Wenn etwa – auf der Ebene der Figuren – Eduard die Kontingenzen seiner Interaktion mit Ottilie in eine „Serie notwendig aufeinander bezogener Fügungen“84 umdeutet, werde das fiktionale Subjekt zum „dilettantische[n] Erzähler“85 seiner eigenen Liebesgeschichte, in der nichts mehr zufällig ist, sondern alle Dinge und Ereignisse zu „Symbole[n] der Verheißung“86 werden. Dieses Handlungsmuster der Romanfigur spiegelt zugleich den Prozess jeder um die Rekonstruktion des Sinns einer gewissen Folge von Ereignissen bemühten Deutung. Besonders der Befund, bestimmte Textelemente seien „symbolisch“ aufzufassen, dementiert schließlich nachdrücklich deren Kontingenz. Auf der Ebene der Narration entfaltet sich die von Brandstetter ausgemachte „Poetik der Kontingenz“ durch die Spaltung des Erzählers „in verschiedene Erzählerrollen, die einander relativieren: [. . .] [D]en Erzähler als Regisseur, den Erzähler als wissenschaftlichen Experimentator und schließlich den Erzähler als Mythologen“87 : Die Wahlverwandtschaften exponieren diese Problematik in einer immer wieder abreißenden Kette von Legitimationsexperimenten, im Wechsel sich gegenseitig relativierender Erzähler-Rollen, in der Überschichtung, Störung und Auslöschung unterschiedlicher Liebes-Codes und in der symbolischen Verknüpfung von Buchstaben- und Bilder-Reihen. Die Dialektik von Providenz und Kontingenz im Funktionszusammenhang narrativer Strukturen wird durch diese Verfahren nicht gelöst. Die Spannung bleibt ausgehalten bis zum Schluß. [Brandstetter 1995, 144f.]

81 82 83 84 85 86 87

Partien in Tolstois ,Krieg und Frieden‘, die Quasi-Metaphysik von Kafkas ,Schloß‘ oder das mystische Modell des ,Ulysses‘ ebenso wie die Wertzerfallstheorie in Brochs ,Schlafwandlern‘ und das Ökonomiekonzept in Brechts ,Dreigroschenroman‘.“ [Brandstetter 1995, 131]. [Brandstetter 1995, 132]. Ebd. [Brandstetter 1995, 134]. Ebd. [Brandstetter 1995, 133]. [Brandstetter 1995, 136].

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Besonders das „Sinnkonzept“, dem Eduard beim ,Verfassen‘ seiner „LiebesAutobiographie“ folgt, werde auf dieser „höheren Erzählebene des Romans“ wieder vollständig desorganisiert, da die „Ambiguität und Arbitrarität der Zeichen und ihrer Deutungen“ letztlich zu einem Zerbrechen der Symbolkonstruktionen führten.88 Für den historischen Untersuchungszeitraum und die Grundkonzeption meiner Untersuchungen ist vor allem Brandstetters epochale Einordnung der Wahlverwandtschaften und deren Begründungen bedeutsam. Die Tatsache, dass der Roman keinem teleologischen Prinzip, sondern einer „Poetik des Zufalls“ folge, veranlasst Brandstetter, den Text am „Beginn der Moderne“ zu verorten.89 Besonders den außergewöhnlich vielschichtigen, produktiven Umgang mit unterschiedlichen, nicht genuin literarischen Diskursen der Zeit um 1800 (wie z.B. Architektur, Ökonomie und natürlich Chemie)90 , die im Roman „zu einem Kultur-Text geknüpft“91 seien, sieht Brandstetter als entscheidenden Faktor des sich im Text manifestierenden Kontingenzbewusstseins und daher als Maßstab seiner Modernität an: Wenn es ein Kennzeichen moderner Kultur ist, daß sie sich als wissenschaftlich reflektierte Kultur repräsentiert, so stehen Goethes Dichtungen – vom Faust und Wilhelm Meister bis zu den Wahlverwandtschaften und ihrem Kontext der Wanderjahre – am Beginn solcher Text-Arbeit: Mit der Problematisierung der Providenz-Kontingenz-Beziehung ist der Akt der Bedeutungsproduktion grundsätzlich thematisiert, – als semiotische Arbeit des Subjekts in seinem kulturellen Umfeld: in der Providentialsierung des Zufälligen. In der Verknüpfung des Unverbundenen; in der Prägung des Gleichgültigen zu einem Gleichnis. [Brandstetter 1995, 245]

Die Texte und Diskurse der Klassischen Moderne, deren Analyse den Hauptgegenstand der vorliegenden Arbeit bilden wird, knüpfen an den hier benannten „Beginn solcher Text-Arbeit“ unter den forcierten Bedingungen des Aufschreibesystems 1900 an. Im Hinblick auf die Semantik und Pragmatik des Kontingenzbegriffs im literaturwissenschaftlichen Diskurs markiert Brandstetters Beitrag einen entscheidenden Paradigmenwechsel. Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten hat sich die Bewertung von Kontingenz im Kunstwerk beinahe vollständig von einer negativ konnotierten, tendenziell bedrohlichen, nur sparsam einsetzbaren, die Dignität des Kunstwerks infrage stellenden zu einer positiv konnotierten, Modernität und unabschließbare semantische Brüchigkeit anzeigenden Kategorie verwandelt. Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Diskussion hat dazu sicher auch Petersens Studie über den „deutsche[n] Roman der Moderne“92 beigetragen. Anhand 88 89 90 91 92

[Brandstetter 1995, 134f.]. [Brandstetter 1995, 145]. Vgl. dazu auch den ebenfalls von [Brandstetter 2003] herausgebenen Sammelband zum Verhältnis von Erzählen und Wissen in den Wahlverwandtschaften. [Brandstetter 2003, 245]. [Petersen 1991].

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von Rilkes Malte, Einsteins Bebuquin, Kafkas Proceß, Musils Mann ohne Eigenschaften, Thomas Manns Josephs-Roman und Frischs Gantenbein entwickelt er darin eine „Typologie“ der modernen Epik,93 die am Leitbegriff der „Möglichkeit“94 orientiert ist. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das Postulat einer „Entfaltung der Wirklichkeit als reine[r] Möglichkeit in der Moderne“.95 Für konstitutiv hält Petersen, der sich argumentativ noch deutlicher als Brandstetter auf zentrale Positionen der Diskurs- und Medientheorie bezieht, hierbei die Suspension des Glaubens an eine intersubjektiv verbindliche, vom Beobachter unabhängige Wirklichkeit: „[N]icht nur das dinglich und sinnlich Existierende, sondern auch jeder moralische Maßstab“ habe in der Moderne die Eigenschaft verloren, „etwas unabänderlich Wirkliches zu sein“, stellt der Verfasser (in deutlicher Anlehnung an Musils berühmtes Kapitel über den „Möglichkeitssinn“96 seines Mannes ohne Eigenschaften) fest:97 Das Ganze der Welt stellt sich, da es in die Hand des Menschen gegeben wurde, als konstruierbar heraus. Konstruktion, Entwurf, Setzung und Herstellung bilden Kategorien, mit denen das Verhältnis des Menschen zur Welt beschreibbar geworden ist. Während das Wirkliche – also das den Menschen dinglich Umgebende ebenso wie die als wirklich vorgestellten sittlichen Normen – bislang als festgelegt und bestimmend galt, unterliegt es nun der willkürlichen Veränderbarkeit durch den Menschen. Wirklich ist nicht mehr das Vorhandene, sondern die Konstruktion, d. h. die Veränderbarkeit und Herstellbarkeit der Welt im Ganzen. [Petersen 1991, 16], Hervorh. im Original.

Dieser epistemische und moralische Übergang vom „So-und-nicht-anders“ zum „So-oder-auch-anders“98 wird unter dem Einfluss der ,Theoriedebatte‘ vor allem im Hinblick auf prononciert moderne Literatur nun – entgegen den Erwartungen der früheren, hermeneutisch-philologisch argumentierenden Studien – gerade zum entscheidenden Anlass einer Revision und Rekonzeptualisierung der damit verbundenen ästhetischen Entwicklungen, die die klassisch-normative Orientierung an Sinn, Homogenität und Kohärenz literarischer Werke fragwürdig erscheinen lassen. Die Inversion der grundsätzlichen Bewertung von Kontingenz und Notwendigkeit, die sich bei Brandstetter und Petersen andeutet, ist in Michael Baums Studie Kontingenz und Gewalt über „[s]emiotische Strukturen und erzählte Welt in Al93 94 95 96 97

98

Eine Auseinandersetzung mit Petersens konkreten Textanalysen führe ich parallel zu meinen eigenen Lektüren der einschlägigen Texte. [Petersen 1991, 17]. [Petersen 1991, 6ff.]. Die Termini Kontingenz und Zufall/Zufälligkeit kommen im Sachregister bemerkenswerterweise nicht vor, vgl. [Petersen 1991, 423f.]. [Musil 19781 , 16]. [Petersen 1991, 16]. Hier schließt auch die Studie Musil mit Luhmann von [Berger 2004] an, mit deren Positionen ich mich im Folgenden immer wieder im Zusammenhang mit konkreten Deutungsproblemen auseinandersetzen werde. [Petersen 1991, 17].

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fred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz“99 unübersehbar und zeigt besonders deutlich, dass der Kontingenzbegriff im poststrukturalistisch geprägten Diskurs der Literatur- und Kulturwissenschaft des letzten Jahrzehnts zur zentralen Deutungskategorie – und zum Modeterminus – avanciert ist.100 Baum sieht den Roman durch die beiden im Titel genannten Pole von Kontingenz und Gewalt bestimmt, die er als antagonistisch beschreibt. Die Bedeutung der Kontingenz ist dabei zunächst auffälliger, da der Text sprachlich, strukturell und narrativ die Omnipräsenz und -potenz des Zufalls im ,Chaos‘ der modernen Großstadt zur Schau stelle, in dem sich die Figuren und die Kohärenz der Handlung auflösen. Die narrative Instanz überlasse die ,Regie‘ entsprechend assoziativen Verknüpfungen, was die Erfahrung des modernen Subjekts abbilde, dass individuelle Determinationsversuche sich unter den gegebenen Bedingungen als obsolet erweisen. Unter den Prämissen der modernen – zumal großstädtischen – Wirklichkeit könne [. . .] keine der Stimmen, kein Textteil, kein Objekt des diegetischen Universums eine Vorrangstellung beanspruchen [. . .]. Der Zusammenhalt des Ganzen entsteht durch die indirekte Verknüpfung der einzelnen Zeichen, die über jeweils mehrere Anschlussmöglichkeiten verfügen. Man kann deshalb von einer Kontingenzästhetik sprechen. [Baum 2003, 12]

Diese „Kontingenzästhetik“ wird – im Rekurs auf die oben beschriebene poststrukturalistische Lektüre von de Saussures strukturalistischer Linguistik – durch die prinzipielle semiotische Eigenschaft von Zeichen begründet, nur über Konventionen an Signifikate gebunden zu sein. Als Kennzeichen moderner Literatur bestimmt Baum nun gerade die Auflösung dieser Bindungen und die Suspension des ästhetischen Ideals einer ,Verdichtung‘ von Bedeutung in Symbolen zugunsten einer fortwährenden ,Aufschiebung‘ von Bedeutung. Weniger überzeugend sind Baums allgemeinere Ausführungen „Zum Begriff der Kontingenz und seiner Bedeutung für die Literatur der Moderne“101 , die insbesondere den Ersten Weltkrieg – m.E. unangemessen emphatisch – zu einem universellen Hintergrund stilisieren, der jeglichen Sinnzusammenhang ,zertrümmert‘ habe und das Beharren auf Kausalität grundsätzlich diskreditiere. Damit faktifiziert der Verfasser den Kontingenzbefund und versäumt daher, die Diskursivität und Metaphorizität auch solcher Konstruktionen des Sinnentzugs zu reflektieren. Entsprechend sind die von Baum fokussierten Akte der Gewaltausübung, die den Tendenzen der ,Zerstreuung‘ entgegenlaufen und mittels derer Figuren und Erzähler trotz aller Kontingenz wieder Herr der Lage zu werden versuchen, von vornherein als ästhetisch und ethisch unangebracht markiert und werden jeweils 99 100

101

[Baum 2003]. Im Zuge dieser Entwicklung ist Kontingenz zum Sammelbegriff für die ästhetischen, poetologischen und epistemologischen Tendenzen der Moderne geworden: So charakterisiert [Baum 2003, 137ff.] die „kontingenten Strukturen“ des Romans durch die drei sehr allgemeinen Schlagworte „Kollision“, „Dekonstruktion“ und „Verschiebung“. [Baum 2003, 35ff.].

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,dekonstruiert‘. Baums Lektüren gewinnen dadurch gelegentlich den Charakter einer ,negativen‘ Hermeneutik, die statt auf harmonischen Sinn eben auf harmonischen Nicht-Sinn zielt. Hatte sich Ernst Nef gut 30 Jahre zuvor noch vorsichtig bemüht, der Kategorie des Zufälligen einen Spiel-Raum in einer dem Ideal der ,künstlerischen‘ Notwendigkeit verpflichteten Ästhetik zu eröffnen, haben sich bei Baum die Präferenzen vollständig umgekehrt. Nicht mehr Notwendigkeit, sondern Kontingenz und dekonstruktivistisch grundierte Vorstellungen von Ambiguität und Unmöglichkeit eines durchgängigen Sinns werden nun ,gepredigt‘, und jegliche Tendenzen der narrativen und narratologischen Ordnungsstiftung erregen den Argwohn des Interpreten. Ist Döblins Roman für Nef eine „zufällige Geschichte“, die hermeneutische Ratlosigkeit evoziert, lobt Baum mit Blick auf dasselbe textuelle Phänomen Döblins avantgardistischen Stil. Auch die für die Moderne als charakteristisch ausgegebenen Schlagworte eines – in radikaler Weise – offenen Weltbilds oder eines irreduziblen kulturellen Pluralismus werden nicht nur konstatiert, sondern auf eine ins Paradoxe tendierende Art apodiktisch festgeschrieben: „Ein verbindliches Inventar von kulturellen Codes, die von den meisten Interpreten verstanden und auf ihre Weltdeutung angewendet werden können, existiert in der literarischen Moderne nicht.“102 Zum Abschluss des Forschungsberichts stelle ich nun noch drei paradigmatische Beiträge zur Kontingenzthematik aus den 1990er Jahren vor, die die interdisziplinäre Spannweite der Problematik verdeutlichen. Während Richard Rortys (im englischen Original schon 1989 erschienene) Schrift Kontingenz, Ironie und Solidarität103 der philosophischen Anthropologie zuzurechnen ist und die Postmodernität des Kontingenzbegriffs betont, vertritt Michael Makropoulos in seiner kultursoziologischen Studie Kontingenz und Modernität104 unter Berufung auf Blumenberg und Luhmann die These, Kontingenz sei der zentrale und epochenspezifische Reflexionsbegriff im Diskursgeflecht der Klassischen Moderne. Der von Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard herausgegebene Poetik und Hermeneutik-Band Kontingenz105 schließlich versammelt Beiträge verschiedener geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen sowie Ansätze zu einer interdisziplinären Vermittlung verschiedener Dimensionen von Kontingenz und Zufälligkeit. Rortys an der analytischen Philosophie orientierter Text stellt ein engagiertes, zum Teil sogar pathetisches Plädoyer für Kontingenz dar. Der Philosoph beschreibt in Form einer provokanten anthropologische Utopie einen Menschen, der Kontingenz nicht länger als zu ,bewältigende‘ Kategorie versteht, sondern als unhintergehbare und letztlich positiv zu bewertende Grundbedingung seiner Existenz auffasst. Eine solche Person, „die der Tatsache ins Gesicht sieht, daß ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind, die so nominalistisch und historistisch ist, dass sie die Vorstellung aufgegeben hat, jene 102 103 104 105

[Baum 2003, 81]. [Rorty 1992]. [Makropoulos 1998’]. [von Graevenitz/Marquard 1998].

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zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse bezögen sich zurück auf eine Instanz jenseits des raumzeitlichen Bereichs“, nennt Rorty einen „liberale[n] Ironiker“ oder einen „Postmoderne[n]“.106 Den – ebenfalls bereits kontingenzbewussten – philosophischen Diskurs der Klassischen Moderne kritisiert Rorty aufgrund der Tatsache, dass darin die Sphäre des Privaten, wo einzelne Individuen sich selbst verwirklichen bzw. „erschaffen“, und des Öffentlichen, wo es um politische und moralische Fragen geht, die sich durch das Zusammenleben verschiedener Individuen ergeben, gegeneinander ausgespielt werden, indem die Legitimität eines der beiden Ansprüche jeweils zugunsten des anderen bestritten werde.107 Der Verfasser wirbt dafür, auch die Kontingenz ethischer Fragen anzuerkennen, da er Notwendigkeitspostulate als philosophische Anachronismen betrachtet: „Wer glaubt, es gäbe wohlbegründete theoretische Antworten auf Fragen dieses Typs – Algorithmen zur Lösung moralischer Dilemmata dieser Art –, ist im Herzen immer noch Theologe oder Metaphysiker.“108 Rorty hält den Anspruch einer unumstößlichen Begründung von Ethik grundsätzlich für illusionär. Konsequenterweise wird das – ebenfalls kontingente – Solidaritätsgebot bewusst als willkürliches Postulat betrachtet, für das aber die Kunst der Moderne in besonders eindringlicher Weise streite. Der Literatur wird in Anlehnung an Foucault eine ,subversive‘ Rolle als „Gegendiskurs“ und gerade für philosophische Fragestellungen eine Leitfunktion zuerkannt.109 Rortys Gewährsleute für diesen recht emphatischen, strategisch eingesetzten Literaturbegriff sind Nietzsche, Proust, Heidegger, Nabokov, Orwell und Derrida. Literarische Werke besitzen in seinem Konzept eine besondere Affinität zu einer Sphäre des Singulären, in der allgemeingültige Gesetze im Bereich der Natur und Moral, wie ,metaphysische‘ Theorien sie anstreben, suspendiert werden (können). Sein Ziel ist der Entwurf der „liberalen Utopie“110 eines universellen, mit dem Solidaritätspostulat verträglichen Ironismus. 106 107

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[Rorty 1992, 14]. Rorty nennt Nietzsche und Heidegger als Prototypen moderner privatistischer Philosophen, die ethische Fragen marginalisieren, und Marx und Habermas als Sozialphilosophen, die das Wohl der Gemeinschaft den Selbstverwirklichungsbedürfnissen des Einzelnen hierarchisch überordnen; vgl. [Rorty 1992, 13]. [Rorty 1992, 15]. Rorty, der sich als einen Intellektuellen präsentiert, der einen ,subversiven‘ Minderheitendiskurs gegen die kulturell noch immer maßgeblichen Bastionen von Metaphysik und Religion propagiert, mangelt es im Hinblick auf den eigenen Entwurf m.E. freilich selbst an Ironie, was diesem in gewissem Maße selbst einen theologischen Charakter verleiht. Nach Rortys Auffassung hatten in der vormodernen „metaphysischen“ Phase der Neuzeit Mathematik und Naturwissenschaften eine analoge Leitfunktion. Ich werde im Rahmen der vorliegenden Arbeit zeigen, dass die von Rorty betriebene ,Abblendung‘ des mathematischnaturwissenschaftlichen Diskurses im Hinblick auf sein Programm einer Apologie des Kontingenten gar nicht nötig wäre, da sich im 20. Jahrhundert auch auf diesem Feld fundamentale Umbrüche ergeben, die etwa den zuvor sicher geglaubten Determinismus von Naturvorgängen infrage stellen. Rorty orientiert sich offenbar an einem relativ simplen Grundmodell des Verhältnisses von Literatur und Naturwissenschaft, das nur ersterer das Potential einer Repräsentation von Kontingenz zuschreibt und letztere in der Sphäre der Notwendigkeit und der Hoffnung auf allgemeingültige Gesetze verhaftet sieht. [Rorty 1992, 15].

Forschungsbericht und Methode

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Die zentrale Bedeutung von Kontingenz wird zunächst für die Sprache und sodann für das „Selbst“ und das „Gemeinwesen“ begründet, wobei Rorty die Inkongruenz traditioneller philosophischer bzw. theoretisch-wissenschaftlicher Termini wie „begründen“, „zeigen“ oder „beweisen“ und seiner philosophischen Zielsetzung intensiv reflektiert.111 Einschlägigen Einwänden sucht er mit der selbstkritischen These zu begegnen, solche Setzungen seien im philosophischen Diskurs auch bei forciertem Kontingenzbewusstsein nie vollständig zu vermeiden, und plädiert für eine Bewussthaltung dieses Grundproblems. In Übereinstimmung mit ähnlichen Überlegungen Derridas – etwa aus dem Aufsatz Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen112 – stellt Rorty heraus, dass im Rahmen des eigenen Konzepts letztlich jeder Versuch, Begründungsfragen zu beantworten, abgewiesen werden müsse, da sich solche Fragen nur sinnvoll stellen lassen, wenn man metaphysische Grundlagen als gegeben annimmt. In Anknüpfung an die analytische und poststrukturalistische Tradition wird die Sphäre des Sprachlichen daher als strikt unhintergehbar betrachtet. Den spezifischen ,Sprachen‘ von Literatur und Film spricht Rorty zugleich die Berechtigung zu, theoretische und theologische Moraldiskurse abzulösen, die auf ein ,Jenseits‘ der Sprache zielten: Eine solche Wendung wäre das Zeichen dafür, daß wir den Versuch aufgegeben haben, alle Seiten unseres Lebens in einer einzigen Vision zusammenzusehen, sie mit einem einzigen Vokabular zu beschreiben. Sie würde darauf hinauslaufen, daß wir akzeptieren, was ich im ersten Kapitel die „Kontingenz der Sprache“ genannt habe – die Tatsache, daß wir keine Möglichkeit haben, uns außerhalb der diversen Vokabulare in unserem Gebrauch zu stellen und ein Metavokabular zu finden, das irgendwie alle möglichen Vokabulare, alle möglichen Weisen des Denkens und Urteilens erfaßt. Eine historistische, nominalistische Kultur, wie ich sie mir vorstelle, würde sich statt dessen auf Erzählungen einstellen, die unsere Gegenwart einerseits mit Vergangenheit, andererseits mit zukünftigen Utopien verbinden. Mehr noch: sie würde die Verwirklichung von Utopien und die Vorstellung noch fernerer Utopien als einen unendlichen Prozeß auffassen – als unendliche, immer weiter ausgreifende Verwirklichung von Freiheit, nicht als Konvergieren gegen eine schon existierende Wahrheit. [Rorty 1992, 16f.]

Zahlreiche Texte aus dem literarischen Diskurs der Klassischen Moderne, die im Folgenden in den Blick genommen werden, antizipieren derartige Rortysche Thesen. Besonders mein Befund, die „Kleine Form“113 stelle die zentrale Kontingenzgattung der Moderne dar, ist von seinem Konzept angeregt. Gleichwohl halte ich die von Rorty betriebene Faktifikation von Kontingenz – ähnlich wie oben mit Blick auf Luhmanns Systemtheorie ausgeführt – für problematisch, da sich der Verfasser m.E. etwas zu sehr in seiner kritisch-elitären Rolle gefällt, vor allem aber 111 112 113

Vgl. [Rorty 1992, 21ff.]. [Derrida 1976]. [Polgar 1984, 369-373].

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nicht hinreichend reflektiert, dass sich seine Subversion des Glaubens an Notwendigkeiten selbst diskursiver Strategien und Mechanismen bedient, die divergierende Perspektiven – teils sogar bewusst – ausgrenzt. Dem letzten, dem Thema Kontingenz114 gewidmeten, von Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard115 herausgegebenen Poetik und Hermeneutik-Band ist eine epochale Dreiteilung als Arbeitshypothese vorangestellt: Während in der Antike (fast) alles als notwendig, also (fast) nichts als kontingent betrachtet worden sei, werde in der christlich fundierten kulturellen Semantik des Mittelalters die Welt als Schöpfung eines als ,notwendig‘ aufgefassten Gottes kontingent. Dies radikalisiert sich mit dem Aufbruch in die Neuzeit bzw. Moderne, welche unter anderem durch naturwissenschaftliche, technische und entdeckerische Fortschritte geprägt sind, die infolge der Depotenzierung Gottes zu einer erheblichen Schwächung des Glaubens an feste Notwendigkeiten und mithin zu einer Ausprägung eines Kontingenzbewusstseins führen. Die historisch also tendenziell stetig zunehmende Bedeutung des Zufälligen bzw. Kontingenten wird in den Einzelbeiträgen philosophisch und begriffsgeschichtlich,116 literaturwissenschaftlich,117 medien114 115 116

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[von Graevenitz/Marquard 1998]. Die verglichen mit Rorty weit weniger radikal konzeptionierte Apologie des Zufälligen des Herausgebers Odo Marquard wurde eingangs schon besprochen. Für die vorliegende Arbeit sind hierbei vor allem die beiden Beiträge von Franz Josef Wetz über Die Begriffe „Zufall“ und „Kontingenz“ und zur Frage Kontingenz der Welt – ein Anachronismus? relevant, vgl. [Wetz 1998] und [Wetz 1998’]. Wetz beschreibt zunächst vier geistesgeschichtliche Epochen, in denen Kontingenz jeweils eine recht konträre Bedeutung hat. Neben den beiden Extrempositionen der „Notwendigkeit der Welt“ sowie der „nihilistischen Kontingenz der Welt“ beschreibt er die Funktion von Kontingenz im christlich-metaphysischen sowie vernunftphilosophischen Weltbild. Während diesen vier mehr oder minder kritischen Positionen die (positive oder negative) Orientierung an einer obersten, sinnstiftenden Instanz gemeinsam sei, konstituiere sich in der (Post-)Moderne ein Weltbild, das – zumindest vorgeblich – gänzlich auf große Sinnhorizonte und -entwürfe verzichtet. Unter dem Titel Der Zufall der Geburt beschäftigt sich [Wellbery 1998] anhand von Tristram Shandy mit „Sternes Poetik der Kontingenz“, die sich im Zusammenspiel von Komik und Selbstreflexivität entfalte. [Neumann 1998] befasst sich in seinem Beitrag Ritualisierte Kontingenz u.a. mit der Rolle des Zufalls in der Gattung Novelle. [Lachmann 1998] schließlich stellt Überlegungen Zum Zufall in der Literatur, insbesondere der phantastischen an und setzt sich dabei mit dem (für die vorliegende Arbeit ebenfalls anregenden) von Linda von Mengden und Bernhard Holeczek herausgegebenen kunsthistorischen Sammelband Zufall als Prinzip zu „Spielwelt, Methode und System in der Kunst des 20. Jahrhunderts“ auseinander, vgl. [Holeczek/von Mengden 1992]. Lachmann bezeichnet Aleatorik, écriture automatique und ars combinatoria als Formen „autopoetischer“ künstlerischer Arbeit mit dem Zufall, da die Kunstproduktion hier dem Zufall partiell überlassen bleibe. Gleichwohl sei auch hier stets ein Künstler als Arrangeur beiteiligt, der das Ergebnis als Kunstwerk „kultiviert“. Die Verfasserin sieht darin eine Analogie zu jeglicher kulturellen Figuration von Notwendigkeit, welche stets als Kultivierung von kontingent Entstandenem aufgefasst werden könne, und weist ferner darauf hin, dass sich gerade die Produkte der Aleatorik stets innerhalb eines mathematisch-statistisch genau erfassbaren Rahmens bewegen. Wesentlich für diese Kunstform sei also weniger ihre Zufälligkeit, sondern vielmehr die systematische Depersonalisierung der Produktion und die damit verbundene Deindividualisierung der Produkte. Die Analogien zu diskursiv reflektierten modernen literarischen, philosophischen und wissenschaftlichen Konzepten von Gesellschaft als einem System, das bloß noch statistisch reguliert ist, nicht aber durch individuelles, intentionales Handeln einzelner Mitglieder, die be-

Forschungsbericht und Methode

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wissenschaftlich,118 wissenschaftsgeschichtlich,119 kunstgeschichtlich und soziologisch erörtert. Der soziologische Beitrag von Michael Makropoulos umreißt die „Konturen“120 des Konzepts, das er in seinem Buch Modernität und Kontingenz121 detailliert darlegt, und erreicht dabei das höchste Abstraktionsniveau der Beiträge des Poetik und Hermeneutik-Bands. Makropoulos vertritt in seinen einschlägigen Schriften die These, Kontingenz stelle die zentrale Kategorie für das (Selbst-)Verständnis von Moderne bzw. Modernität dar. Neben literarischen Reflexionen Brechts, Benns, Valérys und Musils zieht er philosophische, soziologische, geschichtswissenschaftliche und architekturtheoretische Texte zum Beleg heran. Ansatzpunkt seiner Argumentation ist die Feststellung, dass in der Moderne verhandelt werde, wie Kontingenz als Gestaltungsspielraum genutzt werden kann. Damit wendet sich Makropoulos gegen die

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sonders Musils Mann ohne Eigenschaften prägen, gehören zu den zentralen Gegenständen der vorliegenden Arbeit. Dem so verstandenen autopoetischen setzt die Verfasserin einen poetischen Umgang mit dem Zufall entgegen, der den Zufall mimetisch abzubilden versucht. Gerade durch ihre Ausstellung werde Kontingenz so poetisch ausgeschaltet. Für phantastische Literatur sei die Problematisierung der Grenze von Kontingenz und Notwendigkeit, Ambiguität und Eindeutigkeit, Diskontinuität und Kontinuität bzw. Unerklärbarkeit und Erklärbarkeit konstitutiv. [Wellbery 1998’] skizziert in einem weiteren, für die vorliegende Arbeit besonders anregenden Beitrag „[m]ediale Bedingungen der Kontingenz-Semantik“ und weist darauf hin, dass auch Zufälle als Erfahrungen der Abwesenheit von Ordnung und Sinn gewisse – historisch variable – Bedingungen erfüllen müssen, um als solche erkennbar zu sein. Er geht dabei u.a. auf den aristotelischen sowie auf verschiedene moderne, auch mathematisch-naturwissenschaftliche Zufallsbegriffe sowie auf die Rolle von Kontingenz in der Fotografie ein. [Preisendanz 1998] beantwortet die Frage Gibt es Kontingenz-Gattungen? mit Blick auf den Lessingschen Geniebegriff. Demnach seien Burleske und Farce als Gattungen im wesentlichen dadurch bestimmt, dass sie Kontingenz als „Letztwirklichkeit“ präsentierten. [Hahn 1998] befasst sich mit der kommunikationstheoretischen Bedeutung des Begriffs der „doppelten Kontingenz“ in den systemtheoretischen Ansätzen von Talcott Parsons und Niklas Luhmann. Dabei geht es um die Frage, wie Kommunikation zwischen zwei Personen überhaupt möglich ist, wenn die Selektion von Handlungsmöglichkeiten auf beiden Seiten als kontingent betrachtet wird. Insbesondere versucht der Verfasser, emphatische Wechselseitigkeits- und Intersubjektivitätskonzepte der philosophischen Tradition ebenso wie den vorschnellen Verweis auf gemeinsame kulturelle Horizonte zu vermeiden, wozu die abstrakte Rede von Menschen als psychischen Systemen oder black boxes dient. So gelangt er zu einem Kommunikationsmodell zeitlich linear ablaufender wechselseitiger Determination unter Einsatz von „symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien“, welche die Erwartbarkeit von Reaktionen erhöhen, also unwahrscheinliches in wahrscheinliches Handeln transformieren. In der Schlusspassage warnt Hahn vor einer allzu dogmatischen Verknüpfung von Moderne und Kontingenz, die sich an der schwerlich bestreitbaren Unendlichkeit kontingenter Einzelheiten aufhält und darüber vergisst, dass deren Verknüpfungspotentiale vergleichsweise knapp sind. Kontingenzen schränken sich also relativ unabhängig vom spezifischen kulturellen Horizont immer wechselseitig ein. Diese kommunikationstheoretischen Überlegungen eignen sich insbesondere für die Analyse der avantgardistischen literarischen Praxis der Moderne, welche sich dadurch auszeichnet, dass sie derartige Kommunikationsregeln programmatisch suspendiert. [Ströker 1998] untersucht das Verhältnis von Faktizität und Kontingenz aus wissenschaftstheoretischer Perspektive, [Gierer 1998] befasst sich mit Blick auf die moderne Biologie mit „Zufall und naturgesetzliche[r] Notwendigkeit“, und [Lübbe 1998] behandelt „Topik“, „Sinn“ und die Geschichte der Zufallstheorie. [Makropoulos 1998]. [Makropoulos 1997].

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Einleitung

noch immer weit verbreitete Neigung, Kontingenz nach traditionellem Muster primär als etwas zu Bewältigendes aufzufassen. Neben Niklas Luhmanns Systemtheorie bildet Hans Blumenbergs metaphorologisch-begriffsgeschichtlicher Ansatz den Hauptbezugspunkt seiner Überlegungen. Mit Blumenberg sieht Makropoulos das entscheidende Charakteristikum der Neuzeit in einer radikalen Neubewertung der anthropologischen Frage nach der conditio humana. Anhand einer metaphorologischen überlegung zur nautischen Metaphorik zeigt er, dass die seefahrerische Überwindung der – im Sinne der Unverfügbarkeit durch den Menschen – besonders natürlich anmutenden Grenze zwischen Land und Meer in Antike und Mittelalter als blasphemischer Akt bzw. als Überschreitung markiert war, in der Neuzeit aber euphorisch zum Bild einer berechtigten menschlichen Glückssuche umgedeutet wird:122 Der Mensch sieht sich im Zuge der Aufklärung nun berechtigt, vermeintlich natürliche und unumstößliche Ordnungsvorgaben zu hinterfragen oder sogar zu umgehen und Sphären, die wie Ozeane zuvor als chaotisch oder ordnungswidrig galten, mit dem fortschrittsoptimischen Ziel eines „möglichen Neuen“ eine eigene Ordnung zu geben.123 Abstrakt formuliert zeichnet den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit also eine umfassende Variabilisierung der Vorstellung vom sozialen und ontologischen Ort des Menschen aus, der nun im historisch bislang radikalsten Sinne als frei betrachtet wird. Durch den Determinierungsverlust stellt sich die Frage nach Formen und Zielen seiner „Selbstverwirklichung“ somit weit grundsätzlicher als zuvor.124 Makropoulos plädiert dafür, die dem Kontingenzbegriff seines Erachtens eigentümliche systematische Ambivalenz und historische Variabilität stark zu machen, setzt diesen also selbst kontingent: Schließlich könne auch die Frage, was es überhaupt bedeutet, dass etwas auch anders möglich ist, stets anders beantwortet werden. Diese Reflexion zeigt, dass insbesondere auch die Unterscheidungen notwendig/nicht notwendig oder möglich/unmöglich nicht als unumstößliche logischontologische Bezugspunkte aufgefasst werden können. Daraus lässt sich der literaturwissenschaftliche Anspruch ableiten, im Hinblick auf Kontingenz einschlägige Termini wie möglich, notwendig oder zufällig nicht ,vor‘ der konkreten Textanalyse vermeintlich festen Konzepten zu subsumieren, sondern im Einzelfall – mit philologischen skills – die spezifische Bedeutung derartiger Ausdrücke zu bestimmen. Eine literaturwisschenschaftliche Studie zur literarischen Semantik und Funktionalisierung eines bestimmten Konzepts verfehlt also ihr Ziel, wenn sie mit ,allgemeiner‘ theoretischer Begriffsbestimmung beginnt, um deren Resultate dann auf Literatur ,anzuwenden‘.125 Als Soziologe sieht Makropoulos die Einführung des Kontingenzbegriffs in die Soziologie als besonders fruchtbar an, da dieser sich als 122 123 124 125

Diesbezüglich verweist Makropoulos auf Foucaults Heterotopie-Konzept: Das Schiff biete das größte „Imaginationsarsenal“ und sei die „Heterotopie schlechthin“ [Makropoulos 1997, 11]. [Makropoulos 1997, 57]. Ebd. Dass dies immer mit dem (zumindest subjektiven) Eindruck des Erfolgs möglich ist, ist nicht besonders überraschend. Gerade die im Rahmen dieser Arbeit in den Blick genommenen Texte reflektieren extensiv die potentielle ,Blendungswirkung‘ begrifflicher Dispositionen.

Programm

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(dia- wie synchroner) Maßstab der Gesellschaftstypologie eigne. So sei der „Möglichkeitshorizont“ jeweils konstitutiv für die spezifische ,Identität‘ einer bestimmten Gesellschaft. Die Neuzeit zeichnet sich gegenüber Antike und Mittelalter etwa durch eine „Fiktionalisierung des Möglichkeitshorizonts“ aus, wonach nicht mehr nur einzelne Ereignisse als kontingent verstanden werden können, sondern ganze Ereignishorizonte.126 Insbesondere an Makropoulos’ einschlägige Überlegungen zu Musils Mann ohne Eigenschaften, dessen Protagonist – statt Eigenschaften – einen „Möglichkeitssinn“ besitzt, schließe ich im Folgenden an.127 Sowohl bei der Lektüre des Texts als auch im Hinblick auf die Kontextualisierungen werden dabei aber vor allem poetologische Fragestellungen im Vordergrund stehen.

1.2 Programm Das Werk Robert Musils und insbesondere sein monumentales Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften bilden das inhaltliche und programmatische ,Gerüst‘ der folgenden Untersuchungen zur Kontingenzsemantik der Klassischen Moderne, da dort für die gesellschaftliche Modernisierung zentrale kulturelle und ästhetische Transformationen in paradigmatischer Weise literarisch gestaltet und reflektiert werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der ,Einheit‘ der modernen Kultur und den Möglichkeiten und Problemen der Sinnkonstitution unter der Bedingung einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft, deren ,Subsysteme‘ nicht mehr in größeren ontologisch-metaphysischen Kontexten verankert sind. Musils Kontingenz-Poetiken konstituieren sich vor allem durch den Bezug auf die zeitgenössische poetologische Diskussion um die Gattung des Essay sowie auf die modernen Naturwissenschaften und deren epistemologische Basis, insbesondere aber auf Mathematik und Physik. Diesen beiden zentralen Bezugsdiskursen werde ich im Folgenden vor dem Hintergrund der Kontingenzproblematik ausführlich nachgehen. Zunächst wende ich mich den Naturwissenschaften zu. In der Physik kommt es im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu fundamentalen Paradigmenwechseln, die im Kern mit der Frage nach der Relevanz und Bedeutung von Zufälligkeit und Kontingenz in den wissenschftlichen Methoden und Resultaten zusammenhängen.128 Einerseits liefert die Quantentheorie gewichtige Anhaltspunkte für die physische Faktizität des Zufälligen, und andererseits lassen Theoreme wie die berühmte Heisenbergsche Unschärferelation oder epistemologische Erklärungsansätze wie der Dualismus von Welle und Teilchen erkennen, dass auch das physikalische Denken der Moderne von der Problematik der Interpretation ihrer Forschungsergebnisse bestimmt ist und daher an dem die moderne Kultur prägenden 126 127 128

[Makropoulos 1997, 19]. [Makropoulos 1997, 129ff.]. Vgl. [Balibar 2002].

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Einleitung

Kontingenzbewusstsein partizipiert. Ähnliches gilt für die – unter den Zeitgenossen besonders bekannte und äußerst umstrittene – Relativitätstheorie, die nach der Jahrhundertwende in Konkurrenz zur Newtonschen Mechanik tritt, obwohl diese ,klassische‘ Mechanik sowohl durch die Erfahrung bestätigt wurde als auch bereits vielfach technisch bewährt war. Einsteins physikalische Neukonzeption entsteht zwar durch den Versuch, abstraktere und allgemeinere Erklärungen der ,Naturgesetze‘ zu finden, zeugt aber für viele Zeitgenossen vor allem von dem für die moderne Gesellschaft charakteristischen hohen Spezialisierungsgrad und scheint die Möglichkeit, Welt und Wirklichkeit im traditionellen Sinne als Ganzheiten zu verstehen, nachhaltig infrage zu stellen. Dies führt zu teils heftigen wissenschaftstheoretischen und allgemeinen philosophischen Auseinandersetzungen. Bei der Untersuchung der Rolle und Bedeutung der Naturwissenschaften in der Kontingenzsemantik der Moderne gehe ich von einer kritischen Revision der kulturwissenschaftlichen Debatten um die „Poetologie des Wissens“129 (Josoph Vogl) aus, die auf der Grundlage von diskurs- und systemtheoretischen Überlegungen Foucaults und Luhmanns eine Neuvermessung und -beschreibung der Grenze zwischen Literatur und Wissen vorschlagen (und dabei in ihrer Argumentation teils selbst explizit auf moderne physikalische Konzepte wie die Quantenmechanik rekurrieren). Vor diesem Hintergrund entwickle ich eine Typologie verschiedener Deutungen der Resultate Einsteins, Bohrs und Heisenbergs, die im Hinblick auf die Kontingenzsemantik der Kultur und Literatur der Klassischen Moderne anschlussfähig ist. Als Paradigma einer neutralen Interpretation der einschlägigen Ergebnisse untersuche ich zunächst die Position Ernst Cassirers, der sich aus Kantianischer Perspektive zu zeigen bemüht, dass die wissenschaftlichen Neuerungen gerade keinen epochalen Bruch implizieren, sondern in epistemologischer Kontinuität mit dem neuzeitlichen Wissen stehen, was mit einer Marginalisierung der entsprechenden Kontingenzdiagnosen einhergeht. Cassirers Schriften zielen also darauf, die Irritationswirkung gewisser Ergebnisse von Relativitätstheorie und Quantenmechanik – mit deutlich aufklärerischem Impetus – zu neutralisieren. Im Gegensatz dazu betont eine andere Deutungstradition genau diese Wirkung und stellt heraus, dass in der Moderne nun sogar die Physik die traditionelle Erwartung einer ,objektiven‘ Abbildung bzw. eines ,eindeutigen‘ Verständnisses der Realität nicht mehr erfüllen zu können scheint. Zu diesem Eindruck trägt vor allem auch die Tatsache bei, dass die moderne Physik und andere Wissenschaften zunehmend auf Mittel der Statistik zurückgreifen, in gewissem Sinne also Wahrheit durch Wahrscheinlichkeit ersetzen und dem Zufälligen somit – zumindest methodisch – den Rang eines zentralen Merkmals der Wirklichkeit zuerkennen. Zu den maßgeblichen Vertretern dieser Variante, die ich als katastrophische Deutung bezeichnen werde, gehört vor allem Oswald Spengler, der in einer wirkmächtigen Schrift den Untergang des Abendlandes prophezeit und diese Prophezeiung nicht nur im Bereich der modernen Wissenschaften, sondern auch im Hinblick auf die allgemeine zeitgenössische Kultur an deren Kontingenzbewusstsein festmacht. 129

[Vogl 1997].

Programm

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Wichtig ist hierbei der Hinweis, dass sich meine Darstellung dieser beiden Traditionslinien vornehmlich als Diskursanalyse versteht, und sich – schon aus methodischen Gründen – weitgehend des Urteils enthält, welche Deutung ,richtiger‘ oder auch nur ,angemessener‘ ist.130 Gleichwohl ist festzustellen, dass sowohl die ,neutralen‘ als auch die ,katastrophischen‘ Deutungen an den Krisendiskursen partizipieren, die die Moderne vornehmlich negativ als Verlust bestimmter Gewissheiten konzeptualisieren. Dass dieser Deutungsansatz, in dem Kontingenz als negative Kategorie in Betracht gezogen wird, nicht selbstverständlich ist, zeige ich anhand der Epistemologie Gaston Bachelards, die ich als drittes Interpretationsparadigma der Resultate der modernen Physik lese. Darin wird die traditionelle Hierarchie zwischen Notwendigkeit und Kontingenz invertiert, und gerade die Entdeckung der Bedeutung der Kontingenz in den Naturwissenschaften wird zum Ausgangspunkt einer utopischen Neukonzeption von Wissenschaftlichkeit, in der Wissenschaft nicht mehr primär auf die Gewinnung fester Gewissheiten zielt, sondern im Gegenteil als Institution der produktiven Irritiation fungiert. Aus kompositorischen Gründen stelle ich der Darstellung dieser emphatisch möglichkeitsoffenen Deutungstradition aber ein erstes Kapitel zum Werk Musils voran, in dem ich zeige, wie der österreichische Autor an die katastrophischen Deutungen der modernen Naturwissenschaft anschließt. Ich rekonstruiere dabei die Poetologie der Statistik, die insbesondere die Parallelaktions-Handlung des Mann ohne Eigenschaften prägt. Während das Romanpersonal – mit Ausnahme des Protagonisten – weitgehend von den Untergangs-Diskursen Spenglerscher Prägung bestimmt ist und insbesondere die Naturwissenschaften und ihrer Methodik aufgrund ihrer desintegrativen kulturellen Wirkung ablehnt, teilen Protagonist und Erzähler ein statistisch inspiriertes Kontingenzbewusstsein. Im Gegensatz zu den übrigen Figuren forciert der Mann ohne Eigenschaften die Wahrnehmung der Kontingenz der modernen ,kakanischen‘ Kultur und agiert – mit ironisch-diabolischem Gestus – als Beobachter zweiter Ordnung, der sich in Komplizenschaft mit dem Erzähler bemüht, jegliche Sinnordnung aufzulösen. Musils Poetologie der Statistik knüpft somit an bestimmte Deutungsmuster naturwissenschaftlichen Denkens an, transformiert diese aber im Medium des Romans, indem sie das narrative und narratologische Potential der Dekonstruktion von Sinnfigurationen nutzt und reflektiert. Diese im Hinblick auf die Konstitution von Sinn radikal negative Erzählhaltung manifestiert sich im Roman nicht nur durch interdiskursive Bezüge auf mathematisch-naturwissenschaftliches Denken, sondern auch durch gattungspoetische Überlegungen zum Essayismus. Nach der interdiskursiven Kontextualisierung von 130

Ich wende mich diesbezüglich gegen den Ansatz von [Könneker 2002], der in seiner kulturwissenschaftlichen Analyse der Rezeption der Relativitätstheorie – im Anschluss an ein von [Hentschel 1990, 55-66] entwickeltes wissenschaftsgeschichtliches Ordnungsschema – gerade die ,Richtigkeit‘ der betreffenden Deutungen fokussiert, wie schon der Titel seines Aufsatzes deutlich macht: „Ungereimtheiten und Abstrusitäten“. Zur Vulgarisierung der Relativitätstheorie im 2. und 3. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

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Einleitung

Musils Werk verfolge ich im vierten Kapitel diese intradiskursiven Kontexte und lese die – von Alfed Polgar so benannte – „Kleine Form“ als Kontingenzgattung der Moderne. Neben den Texten dieses literaturwissenschaftlich bislang recht wenig beachteten Wiener Feuilletonisten stehen hier Werke Carl Einsteins und Siegfried Kracauers im Vordergrund. Im Zusammenhang der Kontingenzproblematik erweist sich dabei der Bezug zu den historischen Avantgardebewegungen und zum Expressionismus als zentral. Die Futuristen, Dadaisten und Surrealisten experimentieren in besonders radikaler Weise mit der Integration des Zufälligen und setzen es als Depersonalisierungsinstanz – etwa zur Subversion von Autorschaftsvorstellungen – und Dekompositionsinstanz – zur Destruktion von literarischen Form- und Gattungskonventionen – ein. Die Entdeckung der materiellen Dimension der Zeichen durch verschiedene Collage-Verfahren trägt dabei wesentlich zur Freisetzung des Kontingenzpotentials der Sprache bei, und der Bruch literarischer Formkonventionen stellt deren – durch die Konvention gerade verdeckte – Kontingenz aus. Die avantgardistischen Experimente mit dem Zufall antizipieren aber nicht bloß Positionen des radikalen Konstruktivismus, sondern münden nicht selten in die Vorstellung, die Hingabe an das Zufällige ermögliche den Zugang zu einer durch die diskursive bzw. rationale Kontrolle nicht ,verfälschten‘, also ,ursprünglicheren‘ oder ,natürlicheren‘ Sphäre. Ich zeige vor diesem Hintergrund, inwiefern sich die „Kleine Form“ durch eine kritisch-distanzierte Beobachtung der Avantgarde konstituiert. Ihre Vertreter nehmen deren die traditionelle oder konventionelle Sinnbildung störenden Impulse auf und entwickeln daraus ihre literarisch-philosophischen Miniaturen, in denen das ,Aushalten‘ der kontingenzbedingten Negativität der zeitgenössischen Kultur zum Signum reflektierter Modernität wird, und lassen sich daher treffend als die „Obersten der Saboteure“131 (Walter Benjamin) beschreiben. Im Sinne dieser Rolle wenden sie sich dezidiert gegen die beschriebene, in der emphatisch modernen Literatur nicht seltene und häufig mit religiöser Rhetorik einhergehende Umdeutung der Zertrümmerung von konventionell vermitteltem Sinn zum Medium eines ,tieferen‘ Sinnes, und versuchen stattdessen – aus dieser Perspektive nun ganz konsequent als Essayisten und Feuilletonisten – die Beschäftigung mit den Oberflächen, dem Peripheren und Kontingenten der konkreten Wirklichkeit zum poetologischen Zentrum der „Kleinen Form“ als Kontingenzgattung der Moderne zu machen. Abschließend stelle ich in diesem Kapitel Adornos wirkmächtiges Plädoyer für den Essay als (philosophische) Form dar, in dem er maßgeblich an diese spezifische, im Namen der „Kleinen Form“ in den 1920er Jahren entwickelte Gattungskonzeption anknüpft. Die langewährende ästhetische Marginalisierung des Essayismus und seine prononcierte Offenheit machen den Essay zum Genre des – Kontingenzbewusstsein implizierenden – Traditionsbruchs, auf den Adorno zielt. Während dieses im Kern negative Essay-Konzept deutlich mit den narrativen und kompositorischen Prinzipien von Musils zuvor skizzierter Poetologie der Sta131

So bezeichnet [Benjamin 1972, 200] Alfred Polgar in einer Rezension.

Programm

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tistik korrespondiert, erweist sich der Essayismus-Diskurs selbst im Mann ohne Eigenschaften gerade als Scheidepunkt zu einer ganz anderen Poetologie der Kontingenz, der ich mich im fünften Kapitel zuwende. Darin zeige ich, dass die „Utopie“ des Essayismus, der der Protagonist anhängt, wie dessen „Möglichkeitssinn“ und die Sphäre des „Nicht-ratioïden“ zum Motiv-Komplex des „anderen Zustands“ gehört, der sich programmatisch von der negativen Kontingenzsemantik unterscheidet, der die „Obersten der Saboteure“ folgen. Diese erkennen als Beobachter zweiter Ordnung die Kontingenz jeder durch Differenzen organisierten Sinnbildung, stellen also fest, dass man stets auch anders beobachten kann. Diese Alternativen besitzen aus konstruktivistischer Sicht keine eigene Wertigkeit, sondern erscheinen gleichsam als eine (potentiell unendliche) Liste von Möglichkeiten. Der „Möglichkeitssinn“ des Mannes ohne Eigenschaften geht nun aber weit über den so verstandenen Möglichkeitsbegriff hinaus, da er diesen in folgenreicher Weise semantisch auflädt und zur Chiffre einer – in Musils Texten poetisch konstruierten – religiösen Dimension der Kontingenz macht. Deutlich parallel zu den zuvor erwähnten avantgardistischen Projekten werden Kontingenzerfahrungen in Musils Werk so in paradoxer Weise zum Medium des „anderen Zustands“, in dem eine utopische, ,nicht-ratioïde‘ Form der Sinnstiftung stattzufinden scheint. Das Spektrum möglicher Reaktionsformen angesichts des heterogenen und komplexen Gattungs- und Diskursgefüges der Moderne manifestiert sich somit in der Gattungspoetik des Essay, der einerseits als Genre der Suspension des Anspruchs auf feste Sinnordnungen, also als radikal negative Kontingenzgattung konzipiert werden kann, andererseits aber auch Anknüpfungspunkte für utopische Möglichkeitsdiskurse und Versuche nicht-differentieller Sinnbildung bietet. Beide Pole der dadurch implizierten Poetologie der Kontingenz lassen sich durch den Begriff der Indifferenz beschreiben, der im Folgenden mehrfach aufgegriffen werden wird. Dieser bezeichnet im ersten Fall die Wirkung der Desemantisierung, also der semantischen Entwertung durch das Bewusstsein, dass alles auch anders möglich ist. Im zweiten Fall ist er hingegen im Sinne eines spezifischen, utopisch-experimentellen Versuchs der Resemantisierung zu verstehen, in dem eine im Kern positive Sinnstiftung jenseits der konventionell- differentiellen Bedeutungskonstitution projektiert wird. Wie oben anhand theoretischer Überlegungen und mit Blick auf die einschlägige Literatur dargelegt, bemühe ich mich im Folgenden, die Position eines Beobachters dritter Ordnung einzunehmen, aus methodischen Gründen also jede mögliche – affirmativ oder subversiv, theoretisch, wissenschaftlich oder literarisch erscheinende – Position zum Thema gleichermaßen als diskursiv vermittelt zu betrachten. Wenn ich in dieser Weise von bestimmten konstruktivistisch-diskursanalytischen Prämissen ausgehe, so bedeutet dies freilich, dass genau diese Voraussetzungen innerhalb meiner Überlegungen nicht zur Disposition gestellt werden und somit einen unvermeidlichen blinden Fleck der Untersuchung darstellen. Gleichwohl scheint mir diese Perspektivierung dem Gegenstand der Untersuchung, das in der Kultur der Moderne äußerst komplexe und teils aporetische Wechselverhältnis von

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Einleitung

Sinn, Notwendigkeit und Ordnung einerseits und Kontingenz und Unordnung andererseits, angemessen.

2 Kontingenz-Poetiken der modernen Naturwissenschaft 2.1 Einleitung In seiner Poetologie des „offenen Kunstwerks“ überlässt Umberto Eco der Wissenschaft zunächst geradezu strategisch die Rolle eines „autorisierte[n] Bereich[s] der Welterkenntnis“ und verortet das für die Moderne paradigmatische offene Kunstwerk stattdessen in einer Sphäre des Möglichen, wo es „Komplemente“ der Welt „hervor[]bring[e], autonome Formen, die zu den schon existierenden hinzukommen und eigene Gesetze und persönliches Leben offenbaren.“1 Diese klare Trennung, durch die er die Kunst zunächst vom traditionellen Anspruch eines mimetischen Wirklichkeitsbezugs und von der Konkurrenz mit der Wissenschaft entlastet, unterläuft Eco allerdings sogleich wieder, wenn er mit Blick auf die (u.a. von Bohr und Heisenberg formulierte) Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik eine Analogie zwischen dem Übergang vom traditionellen zum offenen Kunstwerk und der Ablösung der klassischen durch die moderne Physik postuliert. So sei es „bemerkenswert, daß eine Poetik des Kunstwerks auftritt, die kein notwendiges oder vorhersagbares Ergebnis kennt, in der die Freiheit des Interpretierenden als ein Element jener Diskontinuität auftritt, die die moderne Physik nicht mehr als mangelndes Wissen, sondern als unausmerzbaren Aspekt jeder wissenschaftlichen Verifikation und als verifizierbares und unbestreitbares Verhalten der subatomaren Welt anerkannt hat.“2 Abgesehen von solchen ,inhaltlichen‘ Aspekten – Eco spielt hier auf die ,indeterministische‘ Interpretation der Quantenmechanik an, wonach dem Zufall die Rolle eines ,objektiven‘ physikalischen Phänomens zukommt – ist der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vollzogene Übergang von der klassischen zur modernen Physik von fundamentalen und Aufsehen erregenden Umstrukturierungen geprägt, die die traditionelle Vorstellung der ,Notwendigkeit‘ physikalischer Konzepte und Gesetze infrage stellen und damit die epistemologische Grundlage der Naturwissenschaften kontingent erscheinen lassen.3 Die Relativitätstheorie stellt hierfür das prominenteste Beispiel dar: Heisenberg 1

2 3

[Eco 1973, 46]. Ähnlich weist auch [Luhmann 1997, 229] der Kunst ein subversives Potential gegenüber der Wirklichkeit und damit einen konstitutiven Kontingenzbezug zu: „Das Kunstwerk etabliert eine eigene Realität, die sich von der gewohnten Realität unterscheidet. Es konstituiert, bei aller Wahrnehmbarkeit und bei aller damit unleugbaren Eigenrealität, zugleich eine dem Sinne nach imaginäre oder fiktionale Realität. [. . .] Die imaginäre Welt der Kunst [. . .] bietet eine Position, von der aus etwas anderes als Realität bestimmt werden kann.“ (Hervorh. im Original) Vgl. auch [Kilcher 2003, 437]. [Eco 1973, 48f.]. Vgl. dazu auch [Utz 2005, 20ff.].

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betont, Einsteins Resultate hätten kurz nach der Jahrhundertwende klar gemacht, „daß selbst solche grundlegenden Begriffe wie Raum und Zeit auf Grund von neuen Erfahrungen verändert werden konnten und sogar verändert werden mußten. Diese Veränderungen betrafen zwar nicht die nur ungenauen Raum- und Zeitbegriffe der gewöhnlichen Sprache, aber sie betrafen ihre exakte Formulierung in der wissenschaftlichen Sprache der Newtonschen Mechanik, die man irrtümlich für etwas Endgültiges angenommen hatte.“4 Diese Einschätzung legt insbesondere nahe, dass beide Aspekte der naturwissenschaftlichen Bedeutung von Kontingenz eng mit der Frage nach der für die Naturwissenschaft angemessenen Sprache zusammenhängen, was ebenfalls auf einen strukturellen Bezug zur Sphäre des Literarischen hindeutet.5 Die theoretische Physik stützt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend auf eine axiomatisch-deduktiv verfasste, von der Anschauung weitgehend unabhängige Mathematik, die in ganz neuem Sinne als Sprache der physikalischen Wirklichkeit aufgefasst werden muss: Wird doch diese Wirklichkeit nicht mehr primär als anschaulich-außermathematisch vorgegebener Rahmen hingenommen, innerhalb dessen Naturwissenschaftler Phänomene mit mathematischen Methoden untersuchen, sondern – gerade umgekehrt – immer deutlicher mit axiomatisch fundierten mathematischen Modellen identifiziert.6 Soll der Zusammenhang von Literatur und Wissen(schaft) in der Moderne thematisiert werden, stellt sich zunächst die Frage nach einem gemeinsamen Rahmen dieser beiden Bereiche. Wer diese, wie Musils „Mann ohne Eigenschaften“, zu expansiv beantwortet, begibt sich auf unsicheres Terrain: So würden Ulrichs ehemalige Ingenieurskollegen „den Vorschlag, die Kühnheit ihrer Gedanken statt auf ihre Maschinen auf sich selbst anzuwenden, ähnlich empfunden haben wie die Zumutung, von einem Hammer den widernatürlichen Gebrauch eines Mörders zu machen.“7 Statt mich Musils eigensinnigem und subversivem Protagonisten kurzerhand anzuschließen (was letztlich doch Ausdruck einer naiven, identifikatorischen Lektüre des Romans wäre), werde ich im Folgenden auf der Basis aktueller kulturwissenschaftlicher Ansätze zur ,Wissenspoetik‘ und in Auseinandersetzung mit der vorliegenden Literatur zunächst eine möglichst offene Diskussion darüber führen, in welchen ,Sphären‘ ein Austausch zwischen Wissenschaft und Literatur überhaupt stattfinden kann und welche semantischen und pragmatischen Strukturen dabei relevant sind.8 Insbesondere soll der Befund einer eher stiefmütterlichen 4 5 6

7 8

[Heisenberg 1959, 193]. [Balibar 2002, 47] hält diesen Zusammenhang zwischen Literatur und Wissenschaft der Moderne für den gewichtigsten. [Könneker 2001, 110] betont in diesem Sinne: „Erstmals in der Geschichte der exakten Naturwissenschaften eilten die Theorien den Erfahrungstatsachen weit voraus. Plötzlich suchte man nach Experimenten und Meßapparaturen, die mathematisch bereits ausgereifte Gedankengebäude überprüfen könnten – und nicht mehr nach formal schlüssigen Erklärungen für hinlänglich bekannte Phänomene. Einsteins Rede vom ,rein fiktiven Charakter‘ der modernen Physik bringt diesen revolutionären Umbruch auf den Punkt.“ Könneker bezieht sich hier auf Einsteins Mein Weltbild. [Musil 19781 , 38]. [Balibar 2002, 45f.] stellt die Frage, welche Folgen die nicht zuletzt durch die moderne Physik

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Behandlung dieser Fragestellung durch kultur-, sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen nicht pauschal zum Skandal erklärt werden, um dadurch – rhetorisch – die Relevanz des eigenen Tuns zu untermauern und jeden Widerstand als Konsequenz bloßer disziplinärer Borniertheiten abzutun.9 Genau von dem hier angesprochenen Problem der Grenze zwischen Sphären, die sich in der modernen Gesellschaft einerseits als jeweils eigenständige etabliert haben und andererseits dennoch gewisse Beziehungen zu haben scheinen, gehen die gegenwärtigen Beiträge zur „Poetologie des Wissens“10 aus, und setzen sich auf der Grundlage systemtheoretischer und poststrukturalistischer Überlegungen sowohl von der Diltheyschen Tradition der Hermeneutik mit ihrer konstitutiven Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften als auch von der durch C. P. Snow geprägten Vorstellung der Beziehung der sog. „two cultures“ ab. Stattdessen wenden sie sich – genealogisch im Sinne Foucaults oder systemtheoretisch im Gefolge Luhmanns – den Bedingungen der Entstehung von Wissen und Literatur zu,11 plädieren für die Untersuchung der Transformationsvorgänge zwischen ,gelehrtem‘ und ,literarischem‘ Wissen12 oder entwickeln ein sowohl systemtheoretisch als auch diskursanalytisch anschlussfähiges Kulturmodell.13 Aus der Auseinandersetzung mit diesen Positionen leite ich das methodische Postulat ab, im Rahmen kulturwissenschaftlicher Arbeiten programmatisch von der Orientierung an ,Inhalten‘ oder ,Fakten‘ abzusehen und stattdessen die kulturellen Interpretationen naturwissenschaftlicher Theorien und Resultate ohne Rekurs auf den wissenschaftsspezifischen Code wahr/falsch gerade in ihrer Vielfalt zu fokussie-

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ausgelöste „Krise der europäischen Wissenschaften [. . .] seitens der Literatur gehabt haben mag. Und zunächst: Hat es überhaupt solche Folgen gegeben?“ Tatsächlich sei es auffällig, „wie wenig die Literatur auf die Quantentheorie Bezug genommen hat“. Exemplarisch für dieses Phänomen ist die Behauptung bei [Könneker 2001], es sei skandalös, dass Heidegger die Relativitätstheorie in Sein und Zeit in einer einzigen Fußnote ,abhandelt‘ (vgl. [Heidegger 2001, 417, Anm. 1]). Heidegger begründet in seiner Anmerkung allerdings seine Ansicht, dass die Frage nach der Zeit, wie moderne Physiker sie stellen, für seine Philosophie schlicht irrelevant sei. Unabhängig von der Frage nach der ,Richtigkeit‘ dieser Einschätzung zeigt sich hier die Gefahr, im Zuge der eigenen Suche nach einer Sphäre, in der sinnvoll zugleich über Philosophie und Naturwissenschaft gesprochen werden kann, alle kulturellen Akteure eines historischen Untersuchungszeitraums an diesem Wunsch zu messen und damit implizit das Idealbild einer vollkommenen Universalität sämtlicher wissenschaftlichen, literarischen und kulturellen Bestrebungen zu unterstellen, das der Moderne wohl noch weniger angemessen sein dürfte als den vorangegangenen Epochen, die entsprechende Ideale von universeller Bildung geprägt haben. Für eine eingehende Interpretation der Beurteilung der Relativitätstheorie durch die phänomenologischen Philosophie (u.a.) Husserls und Heideggers s. auch [Hentschel 1990, 254ff., hier 261], wonach die Phänomenologen „der nicht-metrisierten Zeit und dem nicht-metrisierten ,eigentlichen‘ Raum eine Vorrangstellung einräumten. Entsprechend vertraten sie auch die Auffassung, daß die Phänomenologie als die Wissenschaft, die diese ,primären‘ Anschauungsformen untersucht, gegenüber der Mathematik und Physik methodische Vorrangstellung habe.“ Die Bezeichnung stammt von [Vogl 1997]. Vgl. [Vogl 1997] und [Pethes 2001]. Vgl. [Alt 2004]. Vgl. [Koschorke 2004].

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ren.14 Damit soll keineswegs bestritten werden, dass es ,Tatsachen‘ oder (Natur-)Gesetze ,gibt‘, die man ,besser‘ oder ,schlechter‘, ,richtig‘ oder ,falsch‘ interpretieren kann – diese Fragen und Probleme gehören m.E. bloß nicht zum (vorrangigen) Gegenstand literatur- und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen, sondern vielmehr ins Feld der Philosophie, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte.15 Bekennt man sich zu dieser arbeitsteiligen Programmatik, kann man als Kulturwissenschaftler guten Gewissens auf die losgelöste Darlegung von ,Fakten‘ und ,Hintergründen‘ verzichten, die als solche keinerlei kulturelle Anschlussfähigkeit haben. Dies darf freilich nicht mit der Forderung verwechselt werden, den (gerade im Zusammenhang mit physikalischen Resultaten meist präsenten) Faktizitätsdiskurs einschlägiger Dokumente künstlich auszublenden, sondern soll lediglich verhindern, dass die kulturelle ,Bedeutung‘ eines Beitrags primär an seiner Kongruenz mit einer ,übergeordneten‘ Sphäre des Faktischen gemessen wird. Eine solche literaturwissenschaftlich akzentuierte kulturwissenschaftliche Interpretation von Interpretationen wissenschaftlicher ,Inhalte‘ zielt explizit auf die Semantik kultureller Selbstbeschreibung. Insbesondere bleibt damit auch die Frage, ob und wie Wissen, Wissenschaft, wissenschaftliche Fakten und Vorstellungen ,wirklich‘ gesellschaftlich wirksam sind, der Soziologie vorbehalten, die diese allgemeine Fragestellung nur auf der Basis eigener theoretischer Erwägungen, vor allem aber empirischer Untersuchungen beantworten kann.16 Mit meinen Untersuchungen möchte ich also das kultursemantische Potential von Resultaten der modernen Naturwissenschaft beschreiben und kategorisieren, wobei für die Kategorisierung die strukturelle Bedeutung von Kontingenz leitend ist. Eine erste Gruppe von Texten stellt die naturwissenschaftlichen Resultate der Moderne in einen katastrophischen Kontext, indem sie diese als Beleg oder sogar Auslöser einer Universalisierung von Kontingenz auffassen. Gerade dadurch, dass diese Texte nicht sehr detailliert auf konkrete ,Inhalte‘ eingehen, wird deutlich, dass Mathematik und Naturwissenschaften in der Moderne vielfach als eigenständige diskursive Entitäten wahrgenommen werden, deren kulturelle Rolle entsprechend holistisch beurteilt wird. Das etwas sperrige Wort ,katastrophisch‘ 14

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Ich schließe mich darin folgender methodischen Reflexion von [Baßler 1994, 8] an: „Gegenstand der Untersuchung sind Textverfahren und Diskurse, nicht Philosopheme. Eine germanistische Studie ist nicht der Ort, zu diskutieren, ob z.B. die spirituellen, produktionspsychologischen und geschichtsphilosophischen Vorstellungen Einsteins (= Carl Einsteins, M.D.) oder Kandinskys ,richtig‘ oder ,falsch‘ sind, und wenn etwa von einem Subjekt die Rede ist, dann als Ergebnis oder Bedingung eines Textverfahrens – was ein Subjekt oder Ich ,eigentlich‘ ist, tut hier nichts zur Sache. Ähnliches gilt für Inhalte politischer, psychologischer, historischer und erkenntnistheoretischer Natur usw. Diese Beschränkung in Anspruch und Kompetenz erscheint mir unerläßlich und methodisch konsequent. Andernfalls droht ein Dilettantismus der Methodik, der sehr viel bedenklicher ist als der vom Literaturwissenschaftler so oft gescheute Dilettantismus gegenüber literaturexternen Gegenständen.“ (Hervorh. im Original). Vgl. [Hentschel 1990]. Dabei können die hier angestrebten literatur- und kulturwissenschaftlichen Resultate immerhin produktiv einbezogen werden, insofern philosophische und literarische Diskurse sicher als Dokumente der Reflexion und Produktion gesellschaftlicher ,Wirklichkeiten‘ gelten können.

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benutze ich dabei, um anzuzeigen, dass die betreffenden Texte zwar metaphorisch und diskursiv – nicht selten unter Berufung auf die Philosophie Nietzsches – einer negativen Katastrophen- und Kontingenzsemantik folgen, diese aber als poetologisches Movens lyrisch-hymnischer Untergangsgesänge fruchtbar machen und in paradoxer Weise gerade als identitätsstiftenden Ausdruck einer genuin brüchigen modernen ,Wirklichkeit‘ betrachten. Dezidiert gegen derartige Katastrophenszenarien im Namen eines universalisierten Kontingenzbewusstseins konstituiert sich eine Interpretationslinie, deren Protagonisten die Gültigkeit dieser verbreiteten Modernitätssemantik und besonders ihrer Kontingenzdiagnosen bestreiten. Paradigmatisch ist hier die Position Ernst Cassirers: Während der katastrophische Diskurs die Meldung von der ,Widerlegung‘ Kants durch die moderne Physik problemlos als weiteres Motiv integrieren kann, bemüht sich Cassirer zu zeigen, dass die Kantische Philosophie nur einer behutsamen Revision unterzogen zu werden braucht, um mit Relativitätstheorie und Quantenmechanik vereinbar zu sein. Einerseits behauptet Cassirer also, formelhaft formuliert, die moderne Physik sei nie modern gewesen, wenn er eine historische Kontinuität zwischen klassischer und moderner Physik postuliert und insbesondere Kants kritische Philosophie auch in der Moderne ,im Kern‘ als haltbar betrachtet. Von Gegnern kann diese Kontinuitätsbehauptung dann rhetorisch leicht als Zeichen einer dogmatischen ,Verschanzung‘ hinter traditionellen metaphysischen Konzepten, also einer ,Flucht‘ aus der modernen ,Realität‘ gedeutet werden. Andererseits kritisiert Cassirer aber gerade die bei diesen Gegnern verbreitete Behauptung einer synchronen Kontinuität, und setzt deren emphatischem Modernitätsbewusstsein ein Plädoyer für die Diskontinuität zwischen den Sphären von Naturwissenschaft, Ethik und Kunst entgegen. Gerade weil Cassirer damit eine zu prononciert (post-)modernen Auffassungen inkommensurable Position vertritt und die Bedeutung von Kontingenz marginalisiert, darf eine Diskursgeschichte des Grenzgebiets zwischen Naturwissenschaft, Literatur und Kultur sie nicht übergehen – erst recht nicht, wenn sie sich selbst der Kontingenz verschrieben hat. Ein drittes Deutungsparadigma, das ich aus kompositorischen Gründen erst in einem späteren Kapitel darstellen werde,17 nimmt vom katastrophischen Diskurs das Geschichtsmodell und die Einschätzung auf, Kontingenz spiele in der Moderne auch und gerde in den Naturwissenschaften eine zentrale Rolle, akzentuiert dieses Kontingenzbewusstsein aber semantisch ganz anders. Nicht zuletzt die wirkmächtigen Beiträge, in denen Bohr und Heisenberg ihre ,Kopenhagener Interpretation‘ der Quantenmechanik entwickeln, tragen zur Einführung eines emphatischen Möglichkeitsbegriffs in die Interpretation der modernen Physik bei. Dabei spielt die Mathematisierung der Physik eine zentrale Rolle. Wenn Heisenberg mit Blick auf die Quantenmechanik zur Einschätzung gelangt, „daß die mathematischen Symbole der theoretischen Physik nur das Mögliche, nicht das Faktische abbilden“18 , deutet dies auf eine grundsätzliche Neubewertung des Verhältnisses 17 18

Vgl. dazu das fünfte Kapitel. [Heisenberg 1969, 100].

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zwischen ,Realität‘ und Mathematik hin. Auf der Schwelle zur Moderne bemerkt der Physiker Boltzmann – wenn auch noch mit rationalistischem Vertrauen in die „innere Vollkommenheit“ logischer Zusammenhänge – bereits die Tendenz, mathematischen Objekte in ihrem abstrakt-formalen Zusammenspiel in Strukturen und Theorien eine eigenständige Wirklichkeit zuzuschreiben: So kann es dem Mathematiker geschehen, daß er, fortwährend beschäftigt mit seinen Formeln und geblendet durch ihre innere Vollkommenheit, die Wechselbeziehungen derselben zueinander für das eigentlich Existierende nimmt und von der realen Welt sich abwendet. Was der Dichter klagt, das gilt dann auch für ihn, daß seine Werke mit Herzblut geschrieben sind und die höchste Weisheit an den höchsten Wahn grenzt.19

Während Boltzmann hier noch – in Analogie zum literaturhistorisch-poetologischen Problem, eine ,angemessene‘ Balance zwischen Mimesis und Poiesis bzw. Realität und Fiktion zu halten – die Abwendung „von der realen Welt“ beklagt, vollzieht Gaston Bachelard in seiner Schrift Le nouvel esprit scientifique von 1934 den bei Boltzmann nur angedeuteten Schritt in den mathematisch-physikalischen Konstruktivismus: Der wissenschaftliche Geist kann sich nicht damit begnügen, die Erfahrung in ihren hervorspringenden Zügen zu denken; er muss vielmehr alle Erfahrungsmöglichkeiten denken [. . .]. In solch einer Lehre ist das Mögliche gleichsam an das Reale herangerückt, hat einen Ort und eine Funktion in der Organisation der Erfahrung erlangt. [. . .] Und die Realität findet sich als ein Spezialfall des Möglichen wieder. Ohne Zweifel ist diese Sicht geeignet, die Erweiterung des wissenschaftlichen Denkens zu kennzeichnen. [Bachelard 1988, 61]

Bachelard weist der modernen Mathematik bei dieser Erkundung des Möglichen eine zentrale Rolle zu, wenn er sie als eine Sprache auffasst, die der natürlichen Sprache weit überlegen ist, da sie Aspekte der Realität aufzudecken vermag, die sonst grundsätzlich unzugänglich wären. Dabei wird insbesondere die traditionelle Anforderung der Anschaulichkeit suspendiert:20 Die emphatische Moderne vertraut hier mit einem eigentümlichen Fortschrittspathos in die Fähigkeit des poetisch arbeitenden Forschers, diese Leere utopisch als virtuell unendlichen Möglichkeitsspielraum aufzufassen. Damit schließt sich zugleich auch der Kreis zu der eingangs zitierten Passage aus Umberto Ecos Das offene Kunstwerk: Wie die Ästhetik des offenen, amimetischen Kunstswerks suchen die utopischen Interpretationen der modernen, ebenfalls amimetischen Wissenschaft neue Formen der Selbstbeschreibung, und versuchen 19 20

Zitiert nach [Kleinschmidt 1992, 195]. Tatsächlich werden die Ergebnisse der modernen theoretischen Physik immer dann problematisch, wenn nach ihrer anschaulichen Deutung gefragt wird, also nach dem ,Bild‘ der Wirklichkeit, das sie entwerfen. Vgl. dazu [Baumann/Sexl 1984, 2].

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damit, die von Gottfried Benn in seinem Essay Goethe und die Naturwissenschaften21 von 1931 gestellte Fangfrage grundsätzlich neu zu beantworten: Wie verhält sich das Weltbild des ,anschaulichen Denkens‘, in dem ,der Geist in seine alten Rechte wieder eingesetzt wird, sich unmittelbar gegen die Natur zu stellen‘ (,gegen‘ im Sinne des gleichwertigen, gleichrangigen Gegenüber ohne die theologischen und teleologischen Zwischenschaltungen der vergangenen Jahrhunderte), von dem Goethe meinte, daß es die bedeutendste Hinterlassenschaft seiner Epoche an das 19. Jahrhundert darstelle, zu dem dann von diesem Jahrhundert tatsächlich entwickelten mathematischphysikalischen, also gänzlich unanschaulichen Weltbild? [Benn 1987, 374]

Während die katastrophischen Interpretationen der modernen Naturwissenschaft und Kunst zumindest implizit einem solchen Goetheschen „Weltbild“ anhängen, in dem eine unverbildet betrachtete und „anschaulich [gedachte]“ Natur sich zu einem organischen und durchgängig verständlichen und daher ,notwendigen‘ Ganzen fügt,22 und entsprechend mit dem „mathematisch-physikalischen, also gänzlich unanschaulichen Weltbild“ hadern, begrüßen die utopischen Interpretationen von Kunst und Wissenschaft – auch innerhalb der beiden Sphären freilich auf sehr heterogene Weise – den radikalen Bruch mit dem Anspruch auf derartige ,Verständlichkeit‘ und freunden sich mit der modernen Wirklichkeit als einem kontingenten Ganzen an.

21 22

[Benn 1987, 350ff.]. In seiner Geschichte des Essay stellt [Schärf 1999, 29ff.] die Rolle Goethes als „Antipode[] des Essayismus“ heraus, mit der sich gerade die Protagonisten der modernen Essayistik auseinandersetzen mussten. Er geht dabei auch auf Benns hier in Rede stehenden Text ein: Dieser zitiere in paradigmatischer Form „im Naturwissenschaftler Goethe jene vorzivilisatorische Einheit heran, die er, der Essayist, unwiderruflich verloren hat.“ [Schärf 1999, 30] Gerade als genuin offene Form verfalle der Essay immer wieder der Sehnsucht nach der durch Goethe personifizierten ästhetischen Perfektibilitätsideale: „Was bei Goethe zum großen Werk geronnen ist, kann als Wunschprojektion durchaus verglichen werden mit den Gegenentwürfen der Modernen, die jenes Phänomen überwinden sollen, von dem Benn immer wieder gesprochen hat – den Nihilismus. Zwischen Goethe und die Modernen stellt sich aber ein Bewußtsein für die nicht verwindbaren Zerreißungsprozesse jener Modernität, die im Verlust aller Glaubensordnungen und aller Wertdispositionen erfahrbar wird. Darin tritt Goethes Schaffen in den Zustand vollkommener Historizität, und es dämmert gleichzeitig die Stunde derjenigen Essayisten herauf, als deren Inaugurator Nietzsche gilt.“ [Schärf 1999, 30f.]

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2.2 Theoretische Grundlagen einer Poetologie des naturwissenschaftlichen Wissens der Moderne Jacques Derrida stellt seinem Aufsatz Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen eine Montaignesche Mahnung als Motto voran, die auch für meine Auseinandersetzung mit der modernen Naturwissenschaft wegweisend sein soll: „Il y a plus affaire à interpréter les interprétation qu’à interpréter les choses.“23 Tatsächlich wurden in den letzten Jahren einige ambitionierte und umfangreiche Monographien zum Zusammenhang von Physik und Literatur vorgelegt. Diese interprétations gilt es nun vor dem Hintergrund der aktuellen ,wissenspoetischen‘ Theoriebildung zur Neubestimmung des Verhältnisses von literarischen und wissenschaftlichen Diskursen24 kritisch auszuwerten.25 Die aktuellen Konzepte teilen die theoretische Ambition, nicht nur Hintergrundüberlegungen zum konkreten Studium entsprechender intertextueller Bezüge zwischen Literatur und Wissen(schaft) anzustellen, die sich an den durch die hermeneutische Tradition der ,Geisteswissenschaften‘ konstatierten bzw. konstruierten ,Einheiten‘ von Autor oder Werk orientieren,26 sondern die grundsätzlichere Frage zu stellen, „auf welche Weise [. . .] wissenspoetische Konstellationen über positiv nachzuweisende Einflussnahmen, Abbildungsverhältnisse, exemplarische Thematisierungen und programmatisch verkündete ,Analogien‘ oder ,Wechselwirkungen‘ hinaus gleichermaßen poetologische wie epistemologische Relevanz gewinnen können.“27 Neben der traditionellen Hermeneutik Diltheyscher Prägung28 wird dabei besonders das vom englischen Physiker und Schriftsteller Charles Percy Snow propagierte (und implizit oft noch immer prägende) Modell des prekären Verhältnisses der „two cultures“ infrage gestellt. Verstünde man Montaignes Aufforderung aber nur im Sinne einer solchen ,Auswertung‘, unterstellte man der ,zugrundeliegenden‘ chose zu leichtfertig eine zentrierende Wirkung und nähme die angemahnte Aufgabe einer interprétation der interprétations noch nicht ernst genug: Im Hinblick auf die Frage nach der Interak23 24

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[Derrida 1976, 422]. Ausführlich beschäftige ich mich im Folgenden mit [Koschorke 2004], [Vogl 1997], [Alt 2004] und [Pethes 2001]. Wichtig sind außerdem die beiden von [Erhart 2004] und [Maillard/Titzmann 2002] herausgegebenen Sammelbände. Für Monographien zur Wissenspoetik, die aber explizit anderen Epochen gewidmet sind als der Klassischen Moderne, vgl. [Brandstetter 2003] sowie [Vogl 1999]. Dies ist insbesondere deshalb nötig, weil sowohl [Emter 1995] als auch [Könneker 2001] die methodisch-theoretischen Probleme der Wissenspoetik vergleichsweise knapp abhandeln. Im Zuge der folgenden Musil-Lektüren setze ich mich außerdem fortlaufend mit [Kassung 2001] auseinander, der sich in ähnlich emphatischer Form wie [Vogl 1997] auf diskursanalytische Überlegungen stützt. Vgl. für eine emphatische Kritik dieser Tradition besonders [Vogl 1997, 109]. [Pethes 2001, 344]; ebd. listet der Verfasser noch weitere wegweisende Fragen auf: „Was qualifiziert die Literatur dazu, zum Gegenstand wissenschaftshistorischer Untersuchungen zu werden? Und seit wann sind diese Kopplung und ihre Problematisierung nachweisbar?“ Vgl. [Vogl 1997, 107ff.].

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tion literarischer und wissenschaftlicher Diskurse fällt nämlich besonders deutlich auf, wie schon die theoretisch-methodischen Interpretationsprämissen die Auffassung der in den Blick genommenen choses maßgeblich präfigurieren. Dabei genügt es nicht, zwischen den üblichen Antagonisten ,Hermeneutik‘ und ,Poststrukturalismus‘ zu unterscheiden, da auch zwischen diskursanalytisch und systemtheoretisch fundierten Konzepten erhebliche Differenzen bestehen. Wenn ich mich nun zunächst kurz dem – m.E. völlig überschätzten – Snowschen Kulturmodell zuwende,29 so vor allem aufgrund der Tatsache, dass noch aktuelle kulturwissenschaftliche Arbeiten zum Zusammenhang literarisch-philosophischer und naturwissenschaftlicher Diskurse in problematischer Weise daran anknüpfen. 2.2.1 C. P. Snows Kulturmodell: Kultur als universelle Bildung Charles Percey Snow konstatiert in seiner berühmten Rede-Vorlesung eine tiefe Kluft zwischen den „cultures“ der „scientists“ und der „literary intellectuals“,30 die sich insbesondere in einer fundamentalen Ignoranz der „literary intellectuals“ gegenüber naturwissenschaftlichen Erkenntnissen manifestiere: It is bizarre how very little of twentieth-century science has been assimilated into twentieth-century art. Now and then one used to find poets conscientiously using scientific expressions, and getting them wrong – there was a time when ,refraction‘ kept cropping up in verse in a mystifying fashion, and when ,polarised light‘ was used as though writers were under the illusion that it was a specially admirable kind of light. Of course, that isn’t the way that science could be any good to art. It has got to be assimilated along with, and as part and parcel of, the whole of our mental experience, and used as naturally as the rest. [Snow 1964, 16]

Snow spottet über eine solche ,fehlerhafte‘, metaphorische Verwendung physikalischer Termini wie „refraction“ (Lichtbrechung) und „polarised light“ (polarisiertes Licht) in ,mystifizierender‘ Dichtung, da er selbst mit der Semantik und Pragmatik der zeitgenössischen Fachsprache vertraut ist. Die zunehmende Trennung der „two cultures“, die sich hier manifestiere, beklagt er ausdrücklich als zu behebenden Missstand. Daher lässt er seine Ausführungen in einen – gleichsam aufklärerischen – Appell an die „literary intellectuals“ zum Ausgang aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit einmünden und leitet daraus konkrete bildungspolitische Vorschläge zur Reform von Lehrplänen und Curricula ab. Der Begründer 29 30

[Braungart/Jakobs 2006, 52ff.] gelangen zu einer ähnlichen Einschätzung der Überlegungen und der Bedeutung Snows. Den Terminus „culture“ gebraucht [Snow 1964, 9] v.a. im Hinblick auf die scientists durchaus in seiner ethnologischen Bedeutung: „[. . .] [T]here are common attitudes, common standards and patterns of behaviour, common approaches and assumptions. This goes surprisingly wide and deep. It cuts across other mental patterns, such as those of religion or politics or class. Snow verwendet mehrfach die Metapher einer fundamentalen ,Sprachverwirrung‘, die wechselseitiges Verständnis von vornherein ausschließe. Für eine Auseinandersetzung mit der Rolle Snows vgl. auch [Pethes 2001, 341].

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des – nicht selten als Postulat missverstandenen – Topos der Kluft zwischen den „zwei Kulturen“ hofft also auf eine Konvergenz beider Kulturen in der persönlichen Bildung zukünftiger Universalgelehrter, die sich in beiden Kulturen gleichermaßen zurechtfinden. Die von den jeweiligen ,Gegenstandsbereichen‘ vorgegebenen Grenzen sollen dabei aber inhaltlich streng aufrechterhalten bleiben. Elisabeth Emters umfangreiche Monographie zur Rezeption der Quantentheorie in literarischen und philosophischen Texten deutschsprachiger Autoren im Zeitraum von 1925 bis 1970 folgt argumentativ diesem Modell Snows.31 Wie dieser ersetzt sie semantische und strukturelle Überlegungen zu möglichen Bezügen zwischen literarischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Texten weitgehend durch rhetorisch scharfe Angriffe gegen „literary intellectuals“, die sich der modernen Physik gegenüber ,ignorant‘ verhalten. Gleich zu Beginn inszeniert Emter ein wissenschaftsgeschichtliches Gericht und lädt als „Kronzeugen“ den Autor Wolfgang Koeppen vor, um im Ton der Prozessberichterstatterin zu konstatieren: „Anstelle von Literatur und Philosophie nannte Koeppen die Physik als Inspirationsquelle. Die Literaturwissenschaft reagiert mit Schweigen.“32 Damit steht das Urteil fest: Schuld sind die „literary intellectuals“, deren ,Kultur‘ sich durch Desinteresse und Kenntnislosigkeit gegenüber der ,Kultur‘ der „scientists“ geradezu konstituiere und entsprechend die zentrale poetologische Rolle, die Koeppen der Physik explizit zuerkennt, marginalisiere, indem sie intertextuelle Bezüge auf Quantenmechanik und Relativitätstheorie bestenfalls als kontingente Elemente einer Montage-Komposition in Betracht ziehe. Emter fasst diesen Befund in der – wie sie meint – rhetorischen Frage zusammen: „Gibt es einen zwingenden Grund, der Kierkegaard, Heidegger, Gide oder Baudelaire als geistesgeschichtlichen Hintergrund für die Analyse eines poetischen Textes sinnvoller erscheinen läßt als Schrödinger, Jordan oder Planck?“33 Emters Studie versteht sich also – in 31

32 33

[Emter 1995, 67] stellt in der Einleitung ihres Kapitels zur philosophischen Auseinandersetzung mit der Quantentheorie fest, dass sich die moderne Physik hervorragend dazu eigne, „in ganz unterschiedlicher Akzentuierung in die jeweiligen philosophischen Denksysteme integriert zu werden. Berücksichtigt man nur die Äußerungen, die sich direkt auf die moderne Physik beziehen [. . .], finden sich Hinweise auf die Quantentheorie bei so unterschiedlichen Denkern wie Hans Driesch, Martin Heidegger, Max Scheler, Edmund Husserl, Ernst Cassirer, Moritz Schlick, Karl Raimund Popper, Hans Reichenbach Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Hermann Weyl, Ernst Bloch, Eduard Spranger und José Ortega y Gasset.“ Diese beeindruckende Liste arbeitet die Verfasserin sukzessive ab. Leider hat das Kapitel – ähnlich wie das folgende, poetologische Texte fokussierende – vor allem additiven Charakter, da Emter über den nachvollziehenden Nachweis der mehr oder weniger intensiven ,Auseinandersetzung‘ der Autoren mit der Physik hinaus m.E. nicht zu tiefer greifenden strukturellen Analysen zur Position der Physik in der philosophischen Kultur der Zeit durchdringt. [Emter 1995, 5]. [Emter 1995, 5f.]. Mit ähnlicher Stroßrichtung stellt [Könneker 2001, 24ff.] fest, dass die germanistische Forschung den Bezügen der Texte von Albert und Carl Einstein bislang kaum Beachtung geschenkt habe. Schließt man sich seiner Lektüre Einsteins mit Einstein an, hätte der Bebuquin „ohne die theoretische ,Vorarbeit‘ von – Albert – Einstein“ [Könneker 2001, 27] nicht zu einem derart maßgeblichen Grundtext der ästhetischen Moderne werden können. Um diese Behauptung auch auf dem eigentlichen Feld der Ästhetik halten zu können, muss [Könneker 2001, 26]

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der Nachfolge Snows – als Beitrag zum interkulturellen Brückenbau und mündet in das – m.E. ebenso unzutreffende wie kitschige – Postulat, [. . .] daß Naturwissenschaft, Kunst und Philosophie längerfristig gesehen einander angenähert werden könnten. Es bestand die Hoffnung, daß sich Glauben und Wissen nicht unbedingt für immer ausschließen mussten, daß das Unsichtbare und Unexakte einen festen Platz im Wirklichkeitsverständnis finden würde. Die unbewußten Kräfte wären dann neben die kognitiven Fähigkeiten des Menschen in den Prozeß der Erkenntnisgewinnung integriert. Eine geläuterte Naturwissenschaft und Technik werde dem Menschen mit der Beherrschung der Naturkräfte dienen, ohne zwangsläufig zur Ausbeutung der Umwelt und zur Versklavung oder Vernichtung des Menschen führen zu müssen. [Emter 1995, 176f.]

Teilt man diese Utopie einer harmonischen Wiedervereinigung aller modernen Diskurse, wird man sich bereitwillig Emters Überzeugung anschließen, dass ,eigentlich‘ kein Grund bestehe, Heidegger gegenüber Schrödinger oder Baudelaire gegenüber Planck vorzuziehen, wenn man bloß einmal seine Denkgewohnheiten durchbreche. Ohne Snow oder Emter ihre persönlichen Utopien vorschreiben zu wollen, kann aber doch festgestellt werden, dass derartig emphatische Bekenntnisse gerade nicht dazu beitragen können, die Bedeutung der modernen Naturwissenschaften für die Selbstbeschreibungen der modernen Kultur in ihrer Diversität und damit in ihrer vollen Komplexität zu klären, sondern eher einer unreflektierten Umkehrung der (vermeintlich) herrschenden kulturellen Wertschätzung im Namen einer – letztlich zweifelhaften – Berichtigung Vorschub leisten. Die von Snow geprägte und von Emter übernommene Utopie einer kulturellen Integration im Medium persönlicher Bildung ist mit den systemtheoretischen und diskursanalytischen Modellen, die den aktuellen wissenspoetischen Diskurs prägen, grundsätzlich nicht vereinbar, da sich beide Theorien gegen die subjektphilosophisch verbürgte Vorstellung wenden, die moderne Kultur könne im wesentlichen als kognitives Substrat einer Summe von Individuen verstanden werden. Darin folgen sie der Epochenreflexion zentraler Texte der klassischen Moderne, die das Postulat einer Identität bzw. Kongruenz von Kultur und gebildetem freilich die Relativitätstheorie weniger im Sinne A. Einsteins und mehr im Sinne der von ihm andernorts ausführlich geschmähten ,Vulgarisierungen‘ deuten: „Es lohnt sich, an dieser Stelle auch den ästhetisch-stilistischen Errungenschaften des Bebuquin-Romans Beachtung zu schenken. Carl Einsteins durch die spezielle Relativitätstheorie inspirierter Leitgedanke, entgegen der herkömmlichen Anschauung seien Raum und Zeit keine absoluten Kategorien menschlichen Erkennens, fand nicht nur auf der inhaltlichen, sondern auch auf der Sprachebene seine Umsetzung. So wird der Leser wiederholt im Unklaren darüber gelassen, welche Romanfigur gerade spricht, auf welche Bezugssysteme Äußerungen und Dialoge zu beziehen sind. Die Vagheit des Textes ist hier Prinzip: Verschiedene Leser ziehen unterschiedliche Schlüsse. Der Autor gestattet es (sich) nicht, verbindliche Angaben zu machen. Auch auf semantischer Ebene wird die Spracheinheit gesprengt. Die Auflösung konventioneller Bedeutungszusammenhänge erstreckt sich bis in einzelne Sätze hinein: ,Die neue Weltanschauung kristallisierte sich zur Ziege, die ein Bein gebrochen hat.‘“

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Individuum bereits entschieden in Zweifel ziehen.34 Im Folgenden stelle ich einige einschlägige Positionen dar und erörtere, in welchem Sinne sich verschiedene poststrukturalistische Positionen vom Snowschen Kulturmodell absetzen. 2.2.2 Diskursanalytische Entgrenzung Während C. P. Snow einen interdiskursiven Dialog anzuregen versucht, ohne dabei die Grenzen der verschiedenen Diskurse infragezustellen, zielt die von Foucault geprägte Diskursanalyse programmatisch auf die Subversion institutionell oder diskursiv vorgegebener Grenzlinien und Beschränkungen, wendet sich also entschieden gegen die bei Snow leitenden Universalbildungs- und Perfektibilitätskonzepte, die aus poststrukturalistischer Perspektive selbst als problematische diskursive Konstruktionen erscheinen. Unter den Protagonisten der wissenspoetischen Theoriebildung nimmt besonders Joseph Vogl mit seinem Plädoyer Für eine Poetologie des Wissens35 eine dezidiert diskursanalytische Position ein, wenn er die „genealogische Frage nach dem Diskurszusammenhang des Wissens“36 in den Vordergrund zu stellen versucht und dabei den Glauben an die Unterscheidbarkeit zwischen Fakten und Fiktionen problematisiert, der nicht zuletzt die Diltheysche Differenz zwischen ,verstehenden‘ Geisteswissenschaften und ,erklärenden‘ Naturwissenschaften präge:37 „Wie kommt die Welt in den Text? Wie wird das Faktum zum Fiktum? Wie faltet sich der Text auf den Kontext zurück? Welches Organ ist die Literatur in der Zirkulation des Wissens?“38 Diese kritische Revision des Tatsachenbegriff sei vom „Zweifel am Wissensideal der Abbildung, an der referentiellen Funktion der Zeichen, [. . .] der Übersetzung des Sichtbaren ins Sagbare, an einer adaequatio intellectus et rei“39 angeregt, der gerade durch Resultate der modernen Naturwissenschaften und deren Interpretation durch Wissenschaftstheoretiker wie Ludwik Fleck und Gaston Bachelard nahegelegt werde: 34

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An erster Stelle ist hier sicher die Philosophie Nietzsches zu nennen, auf die sich Foucault explizit beruft. Zu den prominentesten Belegen in der deutschsprachigen Literatur der Moderne gehört außerdem folgende Passage aus Musils Mann ohne Eigenschaften: „Heute [. . .] hat die Verantwortung ihren Schwerpunkt nicht im Menschen, sondern in Sachzusammenhängen. Hat man nicht bemerkt, daß sich die Erlebnisse vom Menschen unabhängig gemacht haben? [. . .] Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht beinahe so aus, als ob im Idealfall der Mensch überhaupt nichts mehr privat erleben werde und die freundliche Schwere der persönlichen Verantwortung sich in ein Formelsystem von möglichen Bedeutungen auflösen solle. Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so lange für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahren im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt, denn der Glaube, am Erleben sei das wichtigste, daß man es erlebe, und am Tun, daß man es tue, fängt an, den meisten Menschen als eine Naivität zu erscheinen.“ [Musil 19781 , 150]. [Vogl 1997]. [Vogl 1997, 110]. Zum Zusammenhang dieser diskursanalytischen Kritik am Tatsachenbegriff mit Nietzsches Perspektivismus vgl. [Jander 2006, insb. 144]. [Vogl 1997, 109f.]. [Vogl 1997, 108].

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Wie Bachelard am Beispiel des Prinzips der Unbestimmtheit bei Heisenberg zeigt, kann die Verwendung der Zeichen nicht mehr auf ihre vermeintliche Fähigkeit zur Bezeichnung, zur zeitlichen und räumlichen Lokalisierung eingegrenzt werden. Die Wissenschaft ist nicht real durch ihre Gegenstände, diese sind vielmehr bloß hypothetisch und „Metaphern“, deren Verbindung und Relation selbst als Realität figuriert. [Vogl 1997, 110f.]

Die Pointe dieser zeichen- und erkenntniskritischen Deutung eines zentralen quantenmechanischen Resultats liegt offenbar in der Feststellung, dass vermeintlich poetische oder literarische Phänomene wie Polysemie, Metaphorizität und Fiktionalität auch in den Wissenschaften auftreten, die sich nach herkömmlichem – etwa Diltheyschem – Verständnis durch (zumindest potentiell) klare, eindeutige Begrifflichkeit auszeichnen und mit ihrer Forschung eine beobachterunabhängige, intersubjektive Sphäre objektiver Realität adressieren. Aus Vogls diskursanalytischer Perspektive dürfen demnach auch die ,Objekte‘ der Natur, wie die Naturwissenschaften sie thematisieren, nicht als Signifikate betrachtet werden, und wissenschaftliche Diskurse sind, wie jedweder Sprachgebrauch, als unendliches Spiel von Signifikanten zu konzeptualisieren.40 Bachelard und Fleck sind aus Vogls Sicht also Vorreiter der diskursanalytischen Überzeugung, dass auch die vermeintlich logisch-begriffliche Sprache der Naturwissenschaften keineswegs von der allgemeinen diskursiven Ordnung unabhängig ist. Daher schlägt er die Einnahme einer „poetologischen Perspektive“ vor, „die im Abbild den Prozeß seiner Verfertigung erkennt, die Tatsache als kollektive Schöpfung begreift und somit auf neue Weise mimesis und poiesis miteinander verknüpft.“41 Schon vor ihrer Formulierung durch Vogl folgt Erich Kleinschmidt in seinem Buch Gleitende Sprache über „Sprachbewußtsein und Poetik der literarischen Moderne“42 dieser Programmatik der Poetologie des Wissens, wenn er befindet, dass sich „[s]prachpoetologische Vorstellungen der ,Moderne‘ [. . .] in ihrer strukturellen Konfiguration mit erkenntnislogischen Entwicklungen der Physik“43 berühren, und dabei – im diametralen Gegensatz zu C. P. Snows Position – für nebensächlich erklärt, dass die Resultate der Quantenphysik von den Trägern des ästhetischpoetischen Diskurses „nicht unmittelbar und in angemessener Komplexität rezi40

41 42 43

Die illustriert [Vogl 1997, 113] im Anschluss an Ludwik Flecks Überlegungen zu einem medizinischen Phänomen: „[. . .] [S]chon der Name der Syphilis verweist nicht auf eine homogene Einheit klinischer Erscheinungen. Er ist vielmehr selbst ein heterogener Komplex, in dem sich unterschiedliche Linien sammeln, überkreuzen und unerwartete Verbindungen eingehen: die alte Vorstellung der Lustseuche etwa, eine therapeutische Idee, die aus der Quecksilberbehandlung hervorgegangen ist, moderne experimentelle Intuitionen, schließlich der überkommene Gedanke des verdorbenen Blutes – divergierende Begriffsgeschichten also. Und die pragmatische Wirksamkeit des medizinischen Begriffs erklärt sich nicht aus seinem Verweis- und Abbildcharakter, sondern aus einem komplexen Aussagengefüge von ethischen, empirischen und praktischen Momenten. Sie erklärt sich nicht aus seinem Objektverhältnis, sondern aus seiner heterogenen inneren Struktur.“ [Vogl 1997, 117]. [Kleinschmidt 1992]. [Kleinschmidt 1992, 190].

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piert [worden seien], sondern zumeist nur in großer, trivialisierender Allgemeinheit“. Sind Carsten Könneker und Elisabeth Emter in ihren Monographien zum Verhältnis von Physik und Literatur stets bemüht, die Originalität der Resultate der modernen Physik hervorzuheben und den physikalischen Diskurs als ,Quelle‘ für poetologische, ästhetische und literarische Diskurse auszuweisen,44 dreht Kleinschmidt diese Hierarchie sogar ausdrücklich um. Die Physik habe mit der Quantenmechanik letztlich erst das ,Wissen‘ eingeholt, das die literarische Avantgarde der klassischen Moderne schon vorher ,praktiziert‘ habe: Die von Max Planck ab 1900 eingeleitete Entwicklung einer Quantenphysik, die den Abschied von der absoluten Gültigkeit der theoretischen Grundlagen der ,klassischen‘ Physik bedeutete, führte in der Folge auch zu Erkenntnissen, die von allgemeiner Gültigkeit für die Bedingungen der menschlichen Begriffsbildung und in der Folge davon für jede Art von sprachlicher Beschreibung sind. Ihre gedankliche Präzisierung ist wesentlich dem dänischen Physiker Niels Bohr zu verdanken, der mit seiner Formulierung des Komplementaritätsprinzips 1927 erkenntnistheoretisch einholte, was die literarischen Avantgarden praktisch antizipiert hatten.45

Ähnlich wie schon Umberto Eco gelangt Kleinschmidt so zu einem zweistufigen Geschichtsmodell: Während klassische Philosophie, Literatur und Naturwissenschaft – zumindest dem programmatischen Anspruch nach – mit einer stabilen Subjekt-Objekt-Differenz und einer als präexistent angenommenen Wirklichkeit operieren, werden Ambiguität und Kontingenz in der Moderne zu konstitutiven Elementen sowohl ästhetischer und philosophischer als auch naturwissenschaftlicher Diskurse, wie die quantenmechanische Entdeckung einer bedeutsamen „Wechselwirkung zwischen Objekt und (Beobachtungs-)Apparat“ belege, die zu einer „Überlagerung von Beobachter und Beobachtungsobjekt“ führe und „klassische Objektivierungsprinzipen der Physik“ radikal in Frage stelle:46 44 45

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Vgl. z.B. [Emter 1995, 17] und [Könneker 2001, 113]. [Kleinschmidt 1992, 120f.]. Das implizite Überlegenheitspostulat der poetologischen gegenüber der naturwissenschaftlichen Epistemologie wird durch eine Bemerkung bei [Held 1998, 15f.] konterkariert. Dieser deutet die von Kleinschmidt hier angesprochene ,frühe Deutung‘ der Quantenphysik durch Bohr, wonach Atome aspektuell mal Wellen-, mal Teilchencharakter zeigten – „doch wie es insgesamt und ,wesentlich‘ ist, bleibt uns verborgen“ –, nicht als spezifisch ,moderne‘ Einsicht in einem positiven Sinne, sondern negativ als „naiven Realismus“. Nach 1930 habe Bohr aber in Auseinandersetzung mit Einstein einen anderen, anspruchsvolleren Begriff von physikalischer Wirklichkeit entwickelt und sei erst 1935 zur erkenntnistheoretischen Einsicht vorgedrungen, dass letztlich das Beobachtete und Gemessene allein als wirklich gelten können: „Phänomene sind nicht etwas an wirklichen Objekten Auftretendes, sie sind das ursprüngliche Auftreten wirklicher Objekte für uns.“ [Held 1998, 20] Besonders das von Kleinschmidt im obigen Zitat als von Bohr entdecktes ,Faktum‘ präsentierte „Komplementaritätsprinzip“ hält [Held 1998, 45ff.] philosophisch für haltlos, da dieser Schlüsselbegriff bei eingehender Analyse keinen klaren Sinn habe. Vgl. [Kleinschmidt 1992, 189], der Bohr hier nach dem Sammelband von [Baumann/Sexl 1984, 159] zitiert.

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Zwischen der sprachkritisch um 1900 bewußt werdenden Unschärfe der Begriffe gegenüber den Signifikaten und der von Heisenberg in der Quantentheorie formulierten „Unbestimmtheitsrelation“, die besagt, daß Impuls und Lage eines Teilchens nicht gleichzeitig, sondern nur alternativ erfasst werden können, besteht eine gedankliche Verwandtschaft des Ansatzes. Das intentionale Beschreibungsdilemma der Sprache kehrt wieder im physikalischen Ordnungsraum. [. . .] Das ,subjektive‘ Interpretationsmedium beeinflußt den Status des zu beschreibenden Objektes. Genau dies vollzieht sich auch bei der sprachlichen Verortung der Welt. Die sich wahrnehmungsmäßig diskontinuierlich bewegende, subatomare Welt, die nur im eingreifenden und dadurch verwischenden Moment ihrer Beobachtung ,ist‘, sonst aber nur ,sein könnte‘, wirkt im Hinblick auf ihre gedankliche Durchdringung kaum anders gestellt als die Lebenswelt bei ihrer Erfassung durch den Text. [Kleinschmidt 1992, 190f.]

Kleinschmidt argumentiert hier explizit genealogisch, wenn er eine „gedankliche Verwandtschaft des Ansatzes“ zwischen Quantenphysik und moderner Sprachkritik postuliert, indem er die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation als physikalisches ,Erbe‘ eines allgemeinen „intentionale[n] Beschreibungsdilemma[s] der Sprache“, der „Unschärfe der Begriffe gegenüber den Signifikaten“ deutet, und die Faktizität von Kontingenz und Indeterminismus in Atomphysik und Alltag „im Hinblick auf ihre gedankliche Durchdringung“ nahezu identifizieren zu können meint. Cum grano salis sind die aktuellen einschlägigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Beiträge mit dieser Form diskursanalytischer Analogiebildung zwischen Physik und „Lebenswelt“ vereinbar, die der Moderne strukturell wieder ein homogenes und konsistentes, übergreifendes ,Weltbild‘ verleiht.47 Erweitert man jedoch den Blick über den engeren Kreis kulturwissenschaftlicher Arbeiten, so stellt man fest, dass das von Montaigne und Derrida betonte Interpretationsproblem im Falle der Quantenmechanik sogar innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses virulent ist, im kulturwissenschaftlichen Diskurs aber offenbar weitgehend abgeblendet wird: So betonen Baumann und Sexl im Zuge ihrer wissenschaftshistorischen Überlegungen zu den „Deutungen der Quantentheorie“, diese sei zwar als chose – als nützliche, leistungsfähige und mit der Empirie vereinbare mathematische Grundlage der Mikrophysik – unter Physikern kaum strittig. „[A]n den Deutungen der Quantentheorie“ aber „scheiden sich die Geister wie nur an wenigen anderen Problemen der Physikgeschichte.“48 Dies konstatiert bereits Ernst Cassirer in seiner erkenntnistheoretischen Studie zur Quantentheorie aus den 1930er Jahren,49 und noch im Jahr 1998 gelangt Carsten Held in seiner philosophisch-historischen Analyse der Bohr-Einstein-Debatte50 zu der durch die 47 48 49 50

Dies gilt für die einschlägigen kultursoziologischen Überlegungen von [Makropoulos 1997, 142ff.] ebenso wie für den literaturwissenschaftliche Grundsatzstudie von [Petersen 1991, 23f.]. [Baumann/Sexl 1984, V]. Vgl. [Cassirer 2004, 38]. [Held 1998].

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Quantenmechanik neu problematisierten Frage nach der physikalischen Wirklichkeit zu dieser Diagnose, wenn er den ersten Abschnitt mit „Das Rätsel Quantenmechanik“ überschreibt und feststellt, dass die Quantentheorie „radikal mit der klassischen Newtonschen Physik und ihrem Ideal einer vollständigen, deterministischen Beschreibung physikalischer Objekte in Raum und Zeit“ breche und damit „tatsächlich das alte Newtonsche Fundament aller Naturwissenschaft auf[löse]“, bei genauer Betrachtung aber kein alternatives physikalisches Weltbild anbiete:51 Die Quantenmechanik legt nicht wirklich ein neues Fundament der Naturwissenschaft, weil sie zwar konsistent zu formulieren und anzuwenden, doch nicht verständlich zu deuten ist. Stattdessen gibt sie bis heute ungelöste Paradoxien auf, bis heute ist sie im Grunde unverstanden. [Held 1998, 9]

Vergleicht man aus dieser Perspektive aktuelle Interpretationen der Quantenmechanik aus verschiedenen ,geisteswissenschaftlichen‘ Disziplinen, so erscheint die so oft beschworene Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften plötzlich weniger tief als der Hiat zwischen den epistemologischen Prämissen des literatur- bzw. kulturwissenschaftlichen und des philosophischen Diskurses:52 Während Emter in ihrer literaturwissenschaftlichen Studie – durchaus affirmativ – zu dem erkenntniskritischen Schluss gelangt, dass „[d]ie meisten hier analysierten Kommentare zur modernen Physik [. . .] die neuen Erkenntnisse dahingehend [deuteten], daß die Königin der Wissenschaft nun endlich selbst an die Grenzen des von der Aufklärung verabsolutierten Vernunftprinzips und des auf Berechenbarkeit fixierten Wirklichkeitsverständnis gestoßen sei“53 , und Könnecker feststellt, dass angesichts von „Längenkontraktion, Zeitdilatation und WelleTeilchen-Dualismus“, die das „vorderhand Unmögliche“ lehrten, „das Paradoxon“ sukzessive „zum neuen Paradigma der Physik“ avanciert sei,54 wendet sich Held scharf gegen die bislang vorgelegten Deutungen – insbesondere auch die Heisenbergs –, gerade weil sie nur „um den Preis der fröhlich in Kauf genommenen Paradoxie“55 als philosophisch akzeptable Theorien der physikalischen Wirklichkeit gelten könnten. In einem weiteren Seitenhieb auf ,fehlgeleitete‘ Rezipienten stellt er klar, es gehe Bohr und Einstein in ihrer Debatte um die Interpretation der Quantenmechanik „gerade nicht darum, etwa ,philosophische Konsequenzen‘ aus den scheinbar unauflöslichen Rätseln der Quantenmechanik zu ziehen (wie es ebenfalls heute vielerorts Mode ist). Es geht ihnen stattdessen um philosophische, genauer erkenntnistheoretische Reflexion, die einen Weg bahnen soll zu einem echten Verständnis der neuen Physik.“56 Während der Philosoph seine Unzufriedenheit mit den bisherigen Interpretationen zum Anlass nimmt, nach einer 51 52 53 54 55 56

[Held 1998, 9]. Vgl. [Emter 1995], [Könneker 2001] und [Held 1998]. [Emter 1995, 176]. [Könneker 2001, 111], Hervorh. M.D.; s. dazu auch [Balibar 2002]. [Held 1998, 9]. [Held 1998, 14]. Freilich gibt es auch bei den philosophischen Deutungen Unterschiede: Während Held – zum Entsetzen jedes auf Polysemie und Ambiguität fixierten Literaturwissenschaftlers –

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,besseren‘ Interpretation Ausschau zu halten,57 schließen sich die Kulturwissenschaftler offenbar vor allem der in den 1920er Jahren durch Bohr und Heisenberg entwickelten Interpretation der Quantenmechanik weitgehend kritiklos an:58 Diese sogenannte „Kopenhagener Deutung“ der Quantenmechanik ist durch emphatische Möglichkeitsoffenheit,59 Prominenz des Wahrscheinlichkeitsbegriffs,60 Skepsis gegenüber dem traditionellen Objektivitätsideal61 sowie Betonung einer fundamentalen Beobachterabhängigkeit der Wirklichkeit62 geprägt, was sie für literatur- und kulturwissenschaftliche Deutungen offenbar gut anschlussfähig macht. Besonders Heisenberg gehört zu den Wegbereitern der diskursanalytischen Deutung des Verhältnisses von moderner Physik und Kultur, und seine Texte stellen ergiebige Quellen für Belege der diskursiven bzw. strukurellen ,Relevanz‘ von Resultaten der modernen Physik für die ästhetisch-philosophische Moderne dar: So stellt er etwa fest, „daß die Veränderungen in den Grundlagen der modernen Naturwissenschaften ein Anzeichen sind für tiefgreifende Veränderungen in den Fundamenten unseres Daseins, die ihrerseits sicher auch Rückwirkungen in allen

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explizit und durchgängig nach ,der‘ Interpretation der Quantenmechanik sucht und die Deutungen Bohrs und Heisenbergs dezidiert aufgrund der Tatsache ablehnt, dass sie Polysemie, Ambiguität und Kontingenz als Kategorien des physikalischen Wirklichkeitsverständnis zulassen wollen (womit er sich immerhin auf Einstein berufen kann), bemüht sich [Hentschel 1990] in seinem Buch über „Interpretationen und Fehlinterpretationen“ der Relativitätstheorien deutlicher um Distanz und betont das grundlegende philosophische Problem der Bindung an gewisse „Denkstile“, die die philosophische und ,weltanschauliche‘ Interpretation naturwissenschaftlicher Theorien (für die jeweiligen Verfechter oft unbemerkt) kanalisieren, was innerhalb gewisser ,Schulen‘ zur Homogenisierung, zwischen verschiedenen ,Schulen‘ aber nicht selten zur Inkommensurabilität führe. Schon ein flüchtiger Blick in seine Studie macht dabei klar, dass der aus emphatisch-moderner Perspektive naheliegende Vorwurf, er mache es sich durch seine skeptische bzw. ablehnende Haltung gegenüber Kontingenz, Zufälligkeit und Paradoxa leicht, nicht berechtigt ist. [Könneker 2001, 109] weist immerhin darauf hin, dass die konstruktivistischen Interpretationen physikalischer Resultate (etwa durch Bohr und Heisenberg) in den 1920er und 30er Jahren bestimmend gewesen, seither aber vielfach problematisiert bzw. z.T. widerlegt worden seien. Vgl. dazu auch [Balibar 2002, 46]. Z.B. befindet [Heisenberg 1969, 94]: „Das Mögliche, das zu Erwartende, ist ein wichtiger Bestandteil unserer Wirklichkeit, der nicht neben dem Faktischen einfach vergessen werden darf.“ [Heisenberg 1959, 140] stellt fest, dass der Begriff der Wahrscheinlichkeit durch die Quantentheorie eine „neue[] Art von ,objektiver‘ physikalischer Realität“ gewinne. [Emter 1995, 58f.] postuliert mit Verweis auf Äußerungen Bohrs und Heisenbergs, die Ergebnisse der modernen Physik erschütterten die Vorstellung von der Physik als der Wissenschaft, die „denjenigen Teil der Wirklichkeit zum Gegenstand ihrer Forschung macht, der als unabhängig vom Menschen existent betrachtet wird“. [Heisenberg 1959, 41] gibt in diesem Sinne zu bedenken: „Zu beachten ist, daß das, was wir beobachten, nicht die Natur selbst ist, sondern Natur, die unserer Art der Fragestellung ausgesetzt ist.“ Bohr erklärt etwa in Das Quantenpostulat: „Nun bedeutet aber das Quantenpostulat, daß jede Beobachtung atomarer Phänomene eine nicht zu vernachlässigende Wechselwirkung mit dem Messungsmittel forderte, und daß also weder den Phänomenen noch dem Beobachtungsmittel eine selbständige physikalische Realität im gewöhnlichen Sinne zugeschrieben werden kann. Überhaupt enthält der Begriff der Beobachtung eine Willkür, indem er wesentlich darauf beruht, welche Gegenstände zu dem beobachteten System gerechnet werden.“ (Zitiert nach [Baumann/Sexl 1984, 16]).

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anderen Lebensbereichen hervorrufen.“63 An anderer Stelle konstatiert Heisenberg ganz im Sinne der diskursanalytischen Interpretationen, „daß der Begriff der Komplementarität, der von Bohr in die Deutung der Quantentheorie eingeführt worden ist, die Physiker dazu ermutigt hat, lieber eine zweideutige, statt eine eindeutige Sprache zu benützen“. Dieser Sprachgebrauch ähnle dem „Gebrauch der Sprache im täglichen Leben oder in der Dichtung [. . .]. Wir stellen fest, daß die Situation der Komplementarität keineswegs auf die Welt der Atome beschränkt ist.“64 Held kann sich in seiner kritischen Haltung immerhin auf Albert Einstein berufen, der die Kopenhagener Deutung aufgrund seiner – leicht als beruhigend bzw. religiös kritisierbaren – Überzeugung, Gott würfle nicht,65 seinerseits als „BohrHeisenbergsche Beruhigungsphilosophie“66 ablehnt und in einem Brief an Schrödinger klagt: „Die Heisenberg-Bohrsche Beruhigungsphilosophie – oder Religion? – ist so fein ausgeheckt, daß sie dem Gläubigen einstweilen ein sanftes Ruhekissen liefert, von dem er sich nicht so leicht aufscheuchen läßt.“67 Aus dieser Perspektive wird die potentielle Schwäche der oben charakterisierten, von prominenten modernen Physikern selbst maßgeblich propagierte ,diskursanalytischen Entgrenzung‘ zwischen Naturwissenschaft, Kultur und Literatur deutlich. Gerade eine radikal diskurstheoretisch fundierte Poetologie des Wissens läuft Gefahr, mit dem Impetus der Komplexitätssteigerung die Komplexität des interdiskursiven Gefüges von Literatur und Wissen zu verringern, indem sie vor allem ihre eigenen epistemologischen Überzeugungen in der Physik wiederzufinden oder zu beglaubigen versucht.68 Die diskursiven Grenzen, die sie dabei programmatisch unterläuft, können aber nicht bloß – negativ – als beengende Reglementierungen aufgefasst werden, die es entsprechend infrage zu stellen gilt, sondern durchaus auch – positiv – als Irritations-Quellen. Vor diesem Hintergrund muss die kulturwissenschaftliche Einigkeit hinsichtlich der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik also irritieren, und es drängt sich der Verdacht auf, die omnipräsente Rede einer von radikalen Paradigmenwechseln, Ambiguität, Diskontinuität, Heterogenität, Polysemie, Kontingenz und Indeterminismus bestimme eher die

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[Heisenberg 1955, 7]. [Heisenberg 1959, 173f.]. Vgl. [Held 1998, 38]; Einsteins Äußerung fällt sinngemäß in Briefen, die er im April 1926 an Max Born schrieb. [Baumann/Sexl 1984, VI]. [Baumann/Sexl 1984, 24]. Weit radikaler behauptete der Wissenschaftshistoriker und -soziologe [Forman 1994] in den 1970er Jahren diesbezüglich sogar, die rasche Entwicklung der Quantenmechanik und die physikalische Verabschiedung des Determinismus ließen sich selbst auf die intellektuellen Dominanz ,indeterministischer‘ und gegenüber mathematisch-naturwissenschaftlicher, kausaler und mechanischer Wirklichkeitsbeschreibung fundamentalkritischer Diskurse in der Zeit der Weimarer Republik zurückführen: Die Quantentheorie sei nicht zuletzt infolge eines – anhand von Briefen und Selbstzeugnissen vieler beteiliger Physiker dokumentierten – ,Drucks‘ zur Anpassung an das allgemeine kulturelle ,Milieu‘ entstanden.

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kulturwissenschaftliche Rhetorik als ihre Methodik.69 Statt der Montaigneschen Mahnung „interpréte[z] les interprétations[!]“ nachzukommen, schließt sich der kulturwissenschaftliche Diskurs de facto selbst einer ganz bestimmten Interpretation an und partizipiert damit nicht zuletzt an deren Faktifikation.70 Unabhängig von der Frage nach der ,Richtigkeit‘ dieser oder jener Interpretation zeigt sich also, dass wissenspoetische Interpreten, die bestimmte Elemente der poststrukturalistischen Epistemologie durch die Quantenmechanik bestätigt sehen, dabei selbst schon einer sehr spezifischen Deutung dieser Tradition folgen. Gerade die neuesten theoretischen Beiträge zur Wissenspoetik orientieren sich nun verstärkt an Luhmanns Systemtheorie und ihrem rigideren Grenz-Konzept. Mit ihrer Kritik an tradtionell hermeneutischen ebenso wie an diskursanalytischen Programmatiken zielen sie darauf, dem Begriff ,Kultur‘ und damit der ,Kulturwissenschaft‘ ein präziseres Profil zu verleihen. Daher verspricht das resultierende Kulturmodell vor allem auch eine Komplexitätssteigerung für die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den modernen Naturwissenschaften. Entsprechend kann Moritz Baßlers Postulat, „[a]lles“ lasse „sich vergleichen, und zwar sowohl innerhalb ausdifferenzierter Disziplinen als auch zwischen oder außerhalb von ihnen – weshalb die autopoietische Geschlossenheit irgendwelcher Subsysteme kulturwissenschaftlich nicht als ultima ratio gelten kann“71 , mit dem er offenbar gegen allzu systemtheoriegläubige kulturwissenschaftliche Grundsatzreflexionen rebelliert, seinerseits nicht ultima ratio kulturwissenschaftlicher Theoriebildung sein, so berechtigt seine Kritik in manchen Fällen sein mag. 2.2.3 Systemtheoretische Wiederentdeckung der Grenzen Die Beiträge Koschorkes, Pethes’ und Alts zur Programmatik der ,Poetologie des Wissens‘ in dem von Walter Erhart herausgegebenen Band Grenzen der Germanis69 70

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Vgl. [Balibar 2002]. Dass diese Deutung von vielen Physikern als ,faktisch‘ akzeptiert wurde bzw. wird – viele aktuelle akademische Lehrbücher der Quantenmechanik orientieren sich ebenso wie populärwissenschaftliche Darstellungen an der Kopenhagener Deutung – ist eben nicht gleichbedeutend mit der Faktizität des von Bohr und Heisenberg vertretenen ,Weltbilds‘ der Physik. Wissenspoetisch aufschlussreich ist gerade die Frage, wie das Verhältnis der zeitgenössischen Interpreten zur (emphatischen) Moderne mit ihrer Interpretation der Quantenmechanik zusammenhängt. Strapp gelangt bzgl. der Frage nach der ,Überzeugungskraft‘ und Konsistenz der Kopenhagener Deutung zu folgender polemischen Einschätzung: „Lehrbuchdarstellung[en] der Kopenhagener Deutung übergehen die heiklen Punkte im allgemeinen. Bezüglich näherer Details werden die Leser meist auf die Schriften Bohrs und Heisenbergs verwiesen. Aber auch dort ist es schwer Klarheit zu gewinnen. Die Schriften Bohrs sind außerordentlich schwer erfaßbar und scheinen nie zu sagen, was man eigentlich wissen will. Sie weben einen Schleier von Worten rund um die Kopenhagener Deutung, sagen aber nicht, was sie nun wirklich ist. Heisenbergs Schriften sind direkter. Seine Aussagen scheinen aber auf eine subjektive Deutung hinauszulaufen, die scheinbar den Intentionen Bohrs diametral widerspricht.“ (H. P. Strapp: The Copenhagen Interpretation. Ann. J. Phys. 40, 1098 (1972), zitiert nach [Baumann/Sexl 1984, 16].) Zur Bewertung der „Kopenhagener Deutung“ vgl. auch [Held 1998, 13f.]. [Baßler 2005, 174].

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tik72 orientieren sich – aufgrund einer gewissen Skepsis gegenüber der diskursanalytischen ,Subversion‘ diskursiver Grenzziehungen – vor allem an der Luhmannschen Systemtheorie. Luhmann potenziert in seinem Gesellschaftsmodell nämlich Snows (scheinbar so skandalöse) Behauptung einer Kluft zwischen zwei verschieden ausgebildeten und geprägten Gruppen Intellektueller ganz wesentlich, wenn er die moderne Gesellschaft viel grundlegender in diverse autonome Subsysteme zerfallen lässt und die Hoffnung auf übergreifende Integration für obsolet erklärt.73 Indem er die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die unterschiedliche autopoietisch geschlossene Subsysteme hervorbringt, welche nur noch sehr eingeschränkt miteinander kommunizieren können (und müssen), als zentrales Merkmal moderner Gesellschaften betrachtet, macht er die Unmöglichkeit einer holistischen Repräsentierbarkeit von ,Kultur‘ bzw. ,Gesellschaft‘ geradezu zu einem Axiom der Sozialsemantik. Aus Luhmanns Sicht ist in der Moderne allgemein davon auszugehen, dass wissenschaftliche Fakten, Theorien und Wissensbestände im strengen Sinne des funktional ausdifferenzierten Wissenschaftssystems der modernen Gesellschaft außerhalb der betreffenden Wissenschaft, insbesondere also kulturell stets nur rudimentär verarbeitet werden können. Dies illustriert eine paradigmatische Episode aus Musils Mann ohne Eigenschaften, in der das NichtZustandekommen interdisziplinärer Kommunikation nachgerade zum Signum der modernen Kultur wird:74 „Diotimas Gesellschaften waren berühmt dafür, daß man dort an großen Tagen auf Menschen stieß, mit denen man kein Wort wechseln konnte [. . .]: Es gab da Kenzinisten und Kanisisten, es konnte vorkommen, daß ein Grammatiker des Bo auf einen Partigenforscher, ein Tonkologe auf einen Quantentheoretiker stieß [. . .].“75 Auch der von Snow in Anschlag gebrachte emphatische Begriff von Bildung muss aus systemtheoretischer Perspektive abgelehnt werden, da dieser den Code des Wissenschaftssystems, d.h. die Forderung der Klassifizierbarkeit aller systeminternen Kommunikation hinsichtlich der Differenz wahr/falsch, in Anknüpfung an die Tradition der Aufklärung in unzulässiger Weise generalisiert, also etwa auch die literarische Beschäftigung mit Versatzstücken des Wissenschaftssystems auf dieses Schema verpflichtet.76 72 73

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[Erhart 2004]. Vgl. [Braungart/Jakobs 2006, 55], wo Braungart und Jakobs im Hinblick auf Wilhelm Bölsches (um die Popularisierung der biologischen Evolutionstheorie bemühte) Essayistik herausstellen: „Bölsches populärwissenschaftliches Schreiben um 1900 fällt zeitlich zusammen mit einem neuerlichen Höhepunkt des wissenschaftlichen Differenzierungsprozesses. Zwar ist um 1900 die Großstruktur des wissenschaftlichen Systems insgesamt längst ausdifferenziert und institutionalisiert. Aber erst jetzt werden die verschiedenen Wissenschaftskulturen benannt und ihre Methodik intensiver reflektiert. Die einzelnen Wissenschaftskulturen nehmen sich so nun deutlich als eigenständige und voneinander unterschiedene wahr.“ (Hervorh. im Original). Vgl. dazu auch [Könneker 2001, 107]. [Musil 19781 , 98]. [Luhmann 1997, 408] verortet die programmatische Emanzipation der Kunst gegenüber der Wahrheitscodierung der Wissenschaft historisch schon deutlich früher: „Die Abgrenzung gegen wahrheitsorientierte Wissenschaft ist im 16. und 17. Jahrhundert diejenige Front, an der das früh-

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Schon mit dem Untertitel seines Aufsatzes Poetik/Wissen: „Konzeptionen eines problematischen Transfers“77 , markiert Nicolas Pethes dieses ,neue‘ systemtheoretisch induzierte Grenzbewusstsein: Er geht zwar – in expliziter Anknüpfung an Joseph Vogls Konzept der „Poetologie des Wissens“ – diskursanalytisch von der Unmöglichkeit „trennscharfe[r] Definitionen“ des Ästhetischen und des Wissenschaftlichen aus, und sieht in dieser ,Unschärfe‘ ein wesentliches Potential wissenspoetischer Untersuchungen, die „nach der Bedeutung wissenschaftlichen Wissens für literarische Werke bzw. nach der Funktion poetologischer Prinzipien für die Ordnung des Wissens“ fragen,78 betont aber sogleich, dass diese Unschärfe nicht überbetont werden dürfe, da mit einer zu weitgehenden Infragestellung der Grenzen zwischen Literatur und Wissen auch das Grenzgebiet selbst verschwinden müsste, dessen Studium gerade begründet werden soll. Entsprechend plädiert Pethes dafür, die Grenze zwischen den umrissenen Bereichen zu beobachten, statt sie konzeptionell zu ziehen: Wenn das Modell einer Wissenspoetik sowohl auf eine begründete Abgrenzung als auch auf eine praktikable Vorstellung des Transfers zwischen seinen Komponenten angewiesen ist, dann muß seine theoretische Modellierung sich stets gleichzeitig der Grenze und ihrer Überschreitung, der Einheit wie der Differenz zwischen den ,Diskursen‘ und ,Systemen‘ von Poetik und Wissen widmen. [Pethes 2001, 343]

Auch Peter-André Alt bekundet seine Affinität zur Systemtheorie bereits im Titel seines Beitrags Beobachtungen dritter Ordnung. Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte kulturellen Wissens79 : Darin gesteht er den modernen Wissenschaften unter Berufung auf Luhmanns Gesellschaftsmodell zu, ein ganz eigenes Wissen zu haben, das durch Deduktion, Experiment und Beweis in Form gebracht wird. Die Rede von einer Poetologie dieses – im systemtheoretischen Sinne – wissenschaftlichen Wissens lehnt er als Leitbild für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhältnis von Literatur und Wissen explizit ab.80

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moderne Kunstverständnis – und das ist in erster Linie das Verständnis der Dichtkunst – kristallisiert. Sie muß die Zeitgenossen umso stärker beeindruckt haben, als man in den davorliegenden hundert Jahren, also in der Epoche von Alberti, Dürer, Leonardo da Vinci, Palladio und Cardano, gerade die Einheit von wissenschaftlichem Wissen und Schönheit suchender Kunst betont hatte [. . .].“ Eine wesentliche Etappe der gesellschaftlichen Evolution und Ausdifferenzierung des Kunstsystems sieht Luhmann – gegen Snows zweifelhafte Wiedervereinigungssehnsüchte – gerade darin, dass die Kunst schließlich „ein eigenes Reich errichtet, das weder der Abstraktion der Mathematik noch der Pedanterie der Faktenkenntnis nacheifert, sondern für das Gelingen ihrer Darstellung eigene Kriterien entwickeln und auch eigene Publikumseffekte suchen darf.“ [Luhmann 1997, hier 413, außerdem 225f., 277 und 408ff.]. [Pethes 2001, 343], Hervorh. M.D.; der Verfasser stellt eingangs auch die Geschichte (in weiterem Sinne) wissenspoetischer Konzeptionen seit dem späten 19. Jahrhundert in sehr instruktiver Weise dar. [Pethes 2001, 341]. [Alt 2004]. In diesem Sinne weist auch [Pethes 2001, 357] darauf hin, dass die Frage nach dem Zusammenhang von Literatur und Wissen eine literaturwissenschaftliche Frage ist.

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Stattdessen plädiert er für eine Besinnung auf die – in der Debatte um die Neugründung der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften vielbeschworenen – philologischen ,Kernkompetenzen‘, wenn er die Aufgabe literaturwissenschaftlicher Wissenspoetik vor allem in der Analyse der Transformationsvorgänge beim Übergang vom ,wissenschaftlichen‘ Wissen zum ,Wissen‘ der Literatur fokussiert: Die spezifische Leistung der Fiktionalisierung des gelehrten Wissens resultiert aus der funktional bedingten Suspension seiner heuristischen Zwecke und dem damit verbundenen Umbau von epistemischen in zeichenhafte Konstruktionen. Das Gewusste wird unter dem Gesetz der Fiktion zum Zeichenarsenal, dessen Elemente eigenen Kompositionsregeln gehorchen. Der spielerische Charakter poetischer Wissensfiktionen, auf den Iser nachdrücklich hingewiesen hat, entspringt zwangsläufig der Überführung der Sozialreferenz des gelehrten Wissens in eine semiotische Ordnungsstruktur mit Anschlussmöglichkeiten für genuin literarische – narrative oder dramatische, allegorische oder satirische – Darstellungsverfahren. [Alt 2004, 193]

Alt versucht also, die Differenz von Kunst und Wissen methodisch stark zu machen: Während wissenschaftlich generiertes Wissen sich gerade durch seine Bindung an restriktive epistemische Ordnungen und seinen Bezug auf (etwa technische) Zwecke konstituiert, stellt die Kunst den kulturellen Ort der spielerischen Reflexion von Zeichenhaftigkeit dar, in dem Metaphorizität und Polysemie eine zentrale Rolle spielen. Wird im Zuge der „Fiktionalisierung“ von Elementen aus dem Wissenschaftssystem die Orientierung am wissenschaftsspezifischen Code wahr/falsch suspendiert, macht dies insbesondere die Frage nach der ,Korrektheit‘ der Darstellung von Wissens-Elementen in einem Kunstwerk weitgehend irrelevant. Zudem ist es aus dieser Perspektive nicht notwendig, etwa quantenmechanische Resultate als ,Beleg‘ der Statthaftigkeit indeterministischer Poetologien heranzuziehen. Im Gegenteil erschiene dies aus Alts Perspektive als ,Rückfall‘ in eine mimetische Grundkonzeption der Kunst. Der cultural turn bietet in diesem Sinne die Möglichkeit einer neuen literaturwissenschaftlichen Selbstbestimmung als Fiktions-Wissenschaft, die Versatzstücke der Kommunikation gesellschaftlich ganz anders funktionalisierter Systeme gerade deshalb in den Blick nimmt, weil an ihnen die Akte der Desemantisierung und Resemantisierung besonders deutlich verfolgt werden können. In seinem Aufsatz Codes und Narrative81 verbindet Albrecht Koschorke in gewisser Weise die Überlegungen Pethes’ und Alts. Er setzt bei einer kritischen Analyse verschiedener Kulturbegriffe an, um den Gegenstandsbereich kulturwissenschaftlicher Untersuchungen zu spezifizieren, und plädiert zunächst dafür, die noch immer verbreiteten „nostalgischen beziehungsweise kompensatorischen Modelle“ zu verabschieden, die auf eine integrale Gesamtkultur als „Restbestand von Rationalisierungsprozessen [. . .] oder [. . .] [als] Remedium gegen deren Folgeschäden“82 Bezug nehmen. Mit Luhmann und gleichermaßen gegen Snow und radikal 81 82

[Koschorke 2004]. [Koschorke 2004, 179].

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diskursanalytische Modelle warnt er dabei vor einem zu weitgefassten Kulturbegriff, der sachlich die dezentrale und polyphone Organisation der modernen Gesellschaft verkenne und methodisch einen kulturwissenschaftlich nicht zu bewältigenden Universalitätsanspruch impliziere. Da Luhmann selbst bekanntlich kein Freund des Kulturbegriffs war,83 bleibt die Frage nach einem systemtheoretisch akzeptablen Verständnis von ,Kultur‘ in seinem umfangreichen Werk weitgehend offen. Vor dem Hintergrund der historischen Variabilität des Verhältnisses der verschiedenen Subsysteme schlägt Koschorke nun vor, den „chaotischen, in seinen Koordinaten stets veränderlichen Raum des Dazwischen und Davor, in dem sich die verschiedenen Rationalitätstypen berühren, kreuzen, mischen, verstärken und widerstreiten, mit dem Begriff der Kultur zu belegen.“84 Fasst man Potentialität und Polysemie als zentrale Merkmale des Literarischen auf, lässt sich die Kommunikation dieser von Koschorke in den Blick genommenen „Zwischenräume“ in einem weiten Sinne als literarisch bzw. narrativ charakterisieren. Diese Konzeptualisierung wird für Korschorke vor allem von der Tatsache nahegelegt, dass sich der Roman in der Moderne zur Gattung der Modellierung komplexer, nicht notwendigerweise konvergierender Diskurszusammenhänge entwickelt habe. Damit Koschorkes Modell – über seine bildliche Plausibilität hinausgehend – tatsächlich als Grundlage einer „Kulturalisierung der Systemtheorie und [. . .] des soziologischen Funktionalismus“85 taugt, macht er die so verstandene Kultur selbst zu einem Subsystem, indem er als Code die „Differenz von Ungeschiedenheit und Differenzierung, von Nicht-Code und Code“86 vorschlägt. Kommunikation gehört also zum Subsystem Kultur, wenn sich ihr Sinn gerade dadurch konstituiert, dass sie nicht durch den Code eines festen Subsystems bestimmt wird: Während die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation ein physikalisches Theorem darstellt, weil sie im Sinn der wissenschaftlichen Theorie wahr ist (und daher in den anderen abgeschlossenen Subsystemen wie Recht oder Wirtschaft schlicht irrelevant), kann sie gerade dadurch zum Bestandteil der Kultur werden, dass ihre Bindung an das Herkunftssystem und die damit verbundene Sinnzuschreibung partiell gelöst wird. Ihr kultureller Sinn ergibt sich dann genau aus diesem Determinierungsverlust. Der ursprünglich konstitutive Aspekt der ,Wahrheit‘ und ,Faktizität‘ des wissenschaftlichen Resultats bleibt zum Teil erhalten, doch es werden auch andere CodeApplikationen möglich, wie sich unten in der konkreten Auseinandersetzung mit der kulturellen Bedeutung physikalischer Resultate zeigen wird. Während Alts Konzept eine literaturwissenschaftliche Beschränkung auf Texte fordert, die im systemtheoretischen Sinne dem Literatursystem angehören, was die Grenzsphäre zwischen Literatur und Wissenschaft tendenziell zu einer ,Ein83

84 85 86

Sein berühmtes Diktum „Der Begriff ,Kultur‘ ist einer der schlimmsten, die je gebildet worden sind“ bildet etwa den selbstironischen Klappentext der von [Burkart/Runkel 2004] herausgegebenen Aufsatzsammlung Luhmann und die Kulturtheorie; vgl. [Luhmann 1997, 398]. [Koschorke 2004, 179]. Ebd. Ebd.

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bahnstraße‘ macht, versucht Koschorke die von Pethes (bzw. der Diskursanalyse) in Aussicht gestellte Produktivität der wechselseitigen ,Unschärfe‘ zwischen Literatur und Wissen mit seinem systemtheoretischen Kulturbegriff zu spezifizieren, ohne dabei den Zuständigkeitsbereich der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft theoretisch ebenso wie methodisch wieder unzulässig zu universalisieren. Alts auf das Literatursystem gemünzte Überlegungen bleiben aber für die Beschreibung der nach Koschorke literarisch organisierten Sphäre der Kultur durchaus fruchtbar. Auch Koschorkes Modell steckt freilich – in der für systemtheoretische Überlegungen charakteristischen Weise – bloß einen sehr abstrakten und allgemeinen Rahmen eines theoretisch und methodisch akzeptablen Kulturbegriffs ab, ermöglicht aber konkreten wissenspoetischen und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen, eigene theoretische Prämissen und Vorgehensweisen zu reflektieren, und nicht orientierungslos zwischen traditioneller, literaturfixierter Philologie und einem – etwa radikal-textualistisch begründeten – Anspruch zu oszillieren, schlechthin alles gehöre zum Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft. Nicht zuletzt ermöglicht eine solche konzeptionelle Synthese aus Diskursanalyse und Systemthorie im Sinne Pethes’ und Koschorkes, dem gegen die Kulturwissenschaft gern erhobenen Dilettantismus-Vorwurf entgegenzutreten, kann und muss diese doch dann nicht mehr en passant über Resultate der Physik oder Medizin als Elemente der Kommunikation hochspezialisierter und fest codierter Systeme urteilen. 2.2.4 Theoretische und methodische Konsequenzen In folgender Reflexion kultursemantischer Transformationsvorgänge weist der Wissenschaftshistoriker Ludwik Fleck auf die kulturwissenschaftliche Dimension des von Montaigne und Derrida betonten Interpretationsproblems hin: In eine fremde Gruppe übertragen, macht ein Gedanke Verschiedenes durch. Er kann zu einem mystisch unfassbaren Motiv werden, um das herum sich ein hintergründiger Kult gruppiert (Apotheose des Gedankens). In einem anderen Fall wird er lächerlich und Gegenstand des Spottes (Karikieren des Gedankens). Überwiegend befruchtet und bereichert er den fremden Stil, wobei er sich umstilisiert und assimiliert: Der Inhalt verändert sich bisweilen bis zur Unkenntlichkeit, selbst wenn das Wort das gleiche blieb. [Fleck 1983, 95], Hervorh. im Original.

Die Vorstellung, kulturelle interprétations einer chose seien im Wesentlichen durch den Bezug auf diese chose zu verstehen, wird hier als geradezu irreführend zurückgewiesen. Daher ist es aus kulturwissenschaftlicher Perspektive sinnvoll, die Frage nach der ,Gültigkeit‘ oder ,Richtigkeit‘ bestimmter Deutungen wissenschaftlicher Fakten oder Theorien möglichst auszublenden und auf die losgelöste Darstellung naturwissenschaftlicher Fakten zu verzichten. Klaus Hentschel weist

Theoretische Grundlagen

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im Zuge seiner Auseinandersetzung mit „Interpretationen und Fehlinterpretationen“ der Relativitätstheorie sogar darauf hin, dass die Sphäre des Faktischen angesichts des „im 20. Jahrhundert erreichten Komplexitätsgrad[s] physikalischer Theorien [. . .] praktisch ausschließlich von ausgebildeten Physikern“, also im Sinne Luhmanns nach den ausdifferenzierten Regeln des Wissenschaftssystems thematisiert werden kann und ,kulturell‘ so gut wie nicht anschlussfähig ist. Neben diesen physikalischen „Primärtexten“ gebe es eine Vielzahl von „Interpretationen“, die „,Sinn‘ oder ,Gehalt‘ einzelner Aussagen der Theorie in verbaler Form“ zu umschreiben versuchen;87 da bei diesem Übersetzungs- und Rekontextualisierungsprozess der enge Rahmen der theoretischen Physik verlassen wird, der relativ fachspezifische Beurteilungskriterien (etwa mathematische Korrektheit und Übereinstimmung theoretischer Vorhersagen mit experimentellen Daten) bereitstellt, ist es im Rahmen kulturwissenschaftlicher Untersuchen methodisch prinzipiell nicht sinnvoll, bestimmte Interpretationen implizit oder explizit als Fakten zu behandeln, und die komplizierte Intertextualität zwischen moderner Wissenschaft und allgemeiner Kultur stattdessen ohne Rekurs auf die Dimension des Faktischen zu beschreiben. Dadurch wird es möglich, ganz verschiedene Formen der Faktizitätsunterstellung und -erwartung zu vergleichen, die im Hinblick auf Mathematik und Physik auch in der modernen Kultur sicher eine zentrale Rolle spielen, und man gerät nicht in Rechtfertigungsnöte, wenn man sich auch ,offensichtlich‘ kruden ,Fehlinterpretationen‘ zuwendet: Schließlich ist in der Moderne kaum mehr von einem isomorphen Verhältnis der kulturellen Bedeutung bestimmter Wissens-Interpretationen und ihrer – wie auch immer verstandenen – wissenschaftlichen ,Adäquatheit‘ auszugehen.88 Die interprétation gewisser choses wird also erst dadurch kulturwissenschaftlich, dass sie selbst schon die interprétations derselben ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, also ernst nimmt, dass die im Wissenschaftssystem durch spezifische Strukturen bis zu einem gewissen Grade gewährleistete Zentrierung auf die choses im der viel komplexeren Sphäre der Kultur weitgehend entfällt.89 Schon 87 88

89

[Hentschel 1990, XII]. Diese Reflexion fehlt m.E. im Ansatz von [Könneker 2001], der sich einerseits des – wissenschaftsgeschichtlich durchaus gerechtfertigten – Schemas von [Hentschel 1990] bedient, indem er zwischen Interpretationen und Fehlinterpretationen der modernen Physik unterscheidet, seine Studie aber andererseits deskriptiv in ,Segen‘ und ,Fluch‘ der modernen Physik aufteilt: Damit unterstellt er nämlich fälschlicherweise eine Korrelation zwischen ,richtiger‘ Interpretation und ,Segen‘ sowie ,falscher‘ Interpretation und ,Fluch‘. [Baßler 2005, 168f.] weist darauf hin, dass dies in der Moderne schon aufgrund der prinzipiellen Unüberschaubarkeit der produzierten Wissensmengen unvermeidlich sei: „Im Zuge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften seit 1800, und noch einmal verschärft im Zuge des positivistischen Historismus vor 1900, etablieren sich zahlreiche wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Disziplinen, die aus literaturwissenschaftlicher Sicht vor allem als Textgeneratoren fungieren. Als solche produzieren sie eine quantitativ und qualitativ zuvor beispiellose Fülle an Fakten- und Textmaterial. Die Selektions- und Bewertungskriterien werden dabei von jeder Disziplin bzw. von disziplinären Komplexen wie den Naturwissenschaften fachspezifisch festgelegt, wobei vor- und übergeordnete Relevanzkriterien (z.B. didaktische, lebensweltliche) weitgehend entfallen. Jedes Faktum ist tendenziell gleich viel und damit auch gleich wenig wert.“

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aufgrund der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der autopoietischen Geschlossenheit des Wissenschaftssystems ist davon auszugehen, dass kulturell – wenn überhaupt – vor allem holistische Vorstellungen bestimmter wissenschaftlicher oder disziplinärer Konglomerate bestehen. Insbesondere ist es kulturwissenschaftlich damit nicht nur möglich, sondern oft unumgänglich, ,die‘ modernen Naturwissenschaften, ,die‘ mathematische Physik oder ,die‘ Relativitätstheorie insgesamt zum Gegenstand zu machen. Im Rahmen meiner folgenden wissenspoetischen Untersuchungen verzichte ich weitgehend darauf, nach Spuren nichteuklidischer Geometrien und raumzeitlicher Verquickungen in modernen Gedichten zu fahnden oder Literaten auf die Quantensprünge zu helfen,90 oder umgekehrt poetische oder narrative Strukturen in der physikalischen Wirklichkeitsbeschreibung aufzudecken, sondern verfolge drei verschiedene Interpretationslinien der modernen Naturwissenschaft, in denen Kontingenz und Zufälligkeit jeweils eine ganz unterschiedliche Rolle spielen. Im Gegensatz v.a. zu den oben dargestellten diskursanalytischen Arbeiten soll damit nicht die physikalische Faktizität von Kontingenz und Zufälligkeit ,bewiesen‘, sondern stattdessen die strukturelle und semantische Funktion des Kontingenzbezugs analysiert werden. Determinismus und Indeterminismus werden im Rahmen der folgenden Rekonstruktion der Kontingenzpoetiken der modernen Naturwissenschaft gleichermaßen als komplexe diskursive Konstruktionen betrachtet.

2.3 Moderne Naturwissenschaft und Kultur der Moderne Die Relativitätstheorie gehört – zumindest dem Namen nach – sicher zu den bekanntesten wissenschaftlichen Theorien des 20. Jahrhunderts,91 und auch die Quantentheorie hat es seit ihrer mathematischen Formulierung in den 1920er Jah90

91

Das leistet bereits [Könneker 2001, 69ff.] mit seinem – recht thetischen – Kapitel über „Geistige Quantensprünge“ bei Musil und Broch. Insbesondere der Bezug zwischen „anderem Zustand“ und Quantensprung scheint mir zu oberflächlich auf eine – dann sehr weit zu fassende – Ablehnung ,des‘ Determinismus zurückgeführt, die beiden Phänomenen gemeinsam sei. Ähnliches gilt für AusführungenP zur „Literarisierte[n] Ψ-Funktion“: Darin stellt [Könneker 2001, 90] die n Formel ΨMensch = i=1 ci Ψi auf, wobei Ψ1 , Ψ2 , . . . , Ψn alle ,denkbaren‘ Eigenschaften und c1 , c2 , . . . , cn die zugehörigen Wahrscheinlichkeiten des Auftretens bezeichnen sollen, um die formale Verwandtschaft von Musils anthropologischem Wirklichkeits-/Möglichkeits-Diskurs und der in der Quantenmechanik zentralen Wellenfunktion Ψ zu ,verdeutlichen‘. Musil gehe sogar noch über die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik hinaus, stehe doch dem Musilschen Menschen im Gegensatz zum physikalischen Teilchen auch der Weg vom Faktischen ins Potentielle offen: „Indem Ulrich und Agathe sich den un-möglichen Zustand aller Möglichkeiten wieder erschließen, machen sie die ,Selbstbeschränkung des Ich‘, durch die sie bei Eintritt in die konventionsbelastete Erwachsenenwelt zu zwei offiziellen Fakten gemacht worden waren, wieder rückgängig.“ [Könneker 2001, 92] Diese Form der Homogenisierung von literarischem und mathematisch-physikalischem Diskurs ist für sich genommen amüsant und harmlos. Abzulehnen ist sie nur deshalb, weil sie die Poetologie des Romans, der das Verhältnis von Naturwissenschaft, Literatur und Philosophie als komplex und prekär beschreibt, in unzulässiger Weise simplifiziert. Vgl. [Balibar 2002] und [Könneker 2002].

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ren zu einer beträchtlichen Prominenz gebracht.92 In diesem Kapitel gehe ich der Frage nach, wie solche oft ihrer Unverständlichkeit und Abstraktheit geziehenen und vornehmlich mathematisch formulierten Theorien überhaupt für die allgemeine Kultur relevant erscheinen können:93 Versichert einer der Wegbereiter der Relativitätstheorie,94 der Physiker und Wissenschaftstheoretiker Henri Poincaré, doch selbst in seiner wissenschaftstheoretischen Schrift Wissenschaft und Methode von 1912, man müsse sich aufgrund der Relativitätstheorie im Alltag „nicht gerade [. . .] beunruhigen“95 , da sie erst bei Geschwindigkeiten relevant werde, die völlig außerhalb sinnlicher Erfahrbarkeit lägen. Daher warnt Poincaré eindringlich vor einer übermäßigen Berücksichtigung der relativistischen Mechanik im Unterricht. Erstes Ziel der naturwissenschaftlichen Bildung müsse auch nach Einstein die ,Verinnerlichung‘ der approximativ richtigen klassischen Mechanik bleiben:96 „Mit der gewöhnlichen Mechanik allein haben sie (= die Schüler) es im Leben zu tun. Sie allein werden sie anzuwenden haben. So groß auch die Fortschritte des Automobilismus sein mögen, unsere Wagen werden niemals Geschwindigkeiten erreichen, bei denen die gewöhnliche Mechanik versagt. Die neue Mechanik ist nur ein Luxus, und an Luxus darf man erst denken, wenn man das Unentbehrliche gesichert hat.“97 Dieser Warnung zum Trotz erregte besonders die Relativitätstheorie im deutschsprachigen Raum hohes Aufsehen: So bemerkt Klaus Hentschel in der Einleitung seines Buchs Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie durch Zeitgenossen Albert Einsteins, er sei von der Frage angeregt, „warum derartig vielfältige, einander mitunter diametral entgegengesetzte Interpretationen einer wissenschaftlichen Theorie vorgelegt wurden.“98 Dass sich die Deutungsdebatte keineswegs auf naturwissenschaftliche oder gelehrte Kreise beschränkte, sondern tatsächlich von einer Massen-Rezeption der Einsteinschen Theorie ausgegangen werden kann, belegt etwa folgende – freilich parodistisch überspitzte – Einschätzung:99 „An allen Ecken und Enden tauchten 92 93

94 95 96

97 98 99

Zur Quantenmechanik liegt mittlerweile sogar ein von [Rae 1996] verfasster Reclam-Band mit dem schönen Untertitel „Illusion oder Realität?“ vor; vgl. dazu auch [Balibar 2002]. [Könneker 2001, 107] zitiert einen entsprechenden Bericht der Kölner Zeitung vom 30.9.1920 über Vorträge zur Relativitätstheorie: „Insbesondere waren die Anforderungen an die mathematische Schulung der Hörer so groß, daß einige der Vortragenden nicht minder gut verstanden worden wären, wenn sie chinesisch gesprochen hätten.“ Vgl. dazu [Mette 1986, insb. 99ff.]. [Poincaré 1914, 183]. [Mette 1986, 111] spricht diesbezüglich von Poincarés „interpretatorische[m] Konservatismus“. Die Tatsache, dass diese Auffassung auch noch dem heutigen Physikunterricht zugrunde liegt, zeigt, dass die fortwährende Vertiefung der Kluft zwischen allgemeiner Schulbildung und wissenschaftlichem Wissenstand zu den konstitutiven Merkmalen der modernen Gesellschaft gehört. Entsprechend ist es bestenfalls ein frommer Wunsch, im Medium von ,Bildung‘ jemals wieder zu einer echten Form der kulturellen ,Geschlossenheit‘ zu kommen. [Poincaré 1914, 229]. S. außerdem [Heisenberg 1959, 168ff.]. [Hentschel 1990, XI], Hervorh. im Original. Vgl. diesbezüglich auch das Vorwort einer Sammlung naturphilosophischer Vorträge von [Classen 1908, I]: „Bei dem großen Interesse, das zurzeit naturphilosophischen Fragen von Lai-

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gesellschaftliche Unterrichtskurse auf, fliegende Universitäten mit Wanderdozenten, welche die Leute aus der dreidimensionalen Misere des täglichen Lebens in die freundlicheren Gefilde der Vierdimensionalität führten. Die Damen vergaßen dabei ihre häuslichen Sorgen und unterhielten sich über Koordinatensysteme, über das Prinzip der Gleichzeitigkeit und negativ geladene Elektronen.“100 Diese satirische Beschreibung hat offenbar dieselbe Stoßrichtung wie Poincarés Warnung, wenn sie indirekt darauf hinweist, dass der Inhalt der Relativitätstheorie im Verständnis der etablierten, nicht fliegenden Universitäten und ihrer sesshaften Dozenten keinerlei Auswirkungen auf die „häuslichen Sorgen“ des „täglichen Lebens“ habe. Entsprechend skeptisch steht sie jeder Transformation der Relativitätstheorie zu einem intellektuell ,interessanten‘ Gesprächsgegenstand gegenüber, und das freie Hantieren mit Versatzstücken von Begriffen und Inhalten und abenteuerlichen Spekulationen über deren Veranschaulichung wird als ridiküler Eskapismus gedeutet. Derartige Einschätzungen, die sich offenbar gegen die emphatische Rede von der ,modernen‘ Physik wenden, nimmt Ernst Cassirer in seinen philosophisch voraussetzungsreichen einschlägigen Ausführungen auf. Er wendet sich strikt gegen universalisierende Deutungen im Sinne von ,Anwendungen‘ auf Epistemologie, Ethik und allgemeines ,Weltbild‘. Dies legt zugleich nahe, dass die von Cassirer vertretene Position eine relativ geringe Anschlussfähigkeit an den dezidiert ,modernen‘ ästhetischen bzw. literarischen Diskurs aufweist. Obwohl er eingesteht, dass sich im 20. Jahrhundert bedeutende wissenschaftsgeschichtliche Transformationen vollzogen haben, fasst er die Physik weiterhin als eine (im Sinne Kants für jede der Vernunft verpflichtete Philosophie vorbildliche) Wissenschaft auf, die vornehmlich auf Kontingenzbewältigung zielt, indem sie immer differenziertere Modelle des Naturgeschehens entwickelt und deren Gültigkeit empirisch überprüft. Dieser konservativ-optimistischen Deutung von Relativitätstheorie und Quantenmechanik als wichtige Schritte eines wissenschaftlich-kulturellen Fortschritts in Kontinuität mit zentralen Idealen der Aufklärung stehen zwei Deutungstraditionen gegenüber, die als ,utopisch‘ und ,katastrophisch‘ charakterisiert werden können und auf je unterschiedliche Weise die Bedeutung von Kontingenz in der modernen Naturwissenschaft herausstellen. Beide lassen sich nur vor dem Hintergrund des Nimbus und der kulturellen Breitenwirkung der Relativitätstheorie verstehen, die darin einem philosophischen oder literarischen ,Werk‘ ähnelt, was

100

enkreisen entgegengebracht wird und bei den Gegensätzen, die zurzeit hierin noch durcheinanderlaufen, schien es mir zeitgemäß, in meinen sonst nur rein physikalischen Gegenständen gewidmeten Vorlesungen auch auf diese Fragen einzugehen und eine Uebersicht über die wichtigsten zurzeit um den Vorrang ringenden Systeme der Naturphilosophie zu geben.“ Alexander Moszkowski: Einstein. Einblicke in seine Gedankenwelt. Berlin 1922. 26; zitiert nach [Könneker 2001, 117], der dieses Zitat seinem Kapitel über die „Popularisierung und Vulgarisierung“ (ebd.) der modernen Physik in der Presse als Motto voranstellt und in diesem Zusammenhang noch viele weitere Beispiele aus der deutschsprachigen Tagespresse und diversen zeitgenössischen Zeitschriften und Monographien anführt; s. dazu auch [Könneker 2002] sowie für einen weiteren sehr reichhaltigen einschlägigen Überblick die Monographie von [Hentschel 1990].

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nicht zuletzt mit dem für naturwissenschaftliche Theorien ungewöhnlichen Phänomen zusammenhängt, dass sie von der Öffentlichkeit vor allem der Person Albert Einsteins, also einer Autor-Figur zugeschrieben wurde.101 Man versah den Physiker teils mit Genie-Attributen goethezeitlicher Provenienz, teils wurde er als Protagonist einer wissenschaftlichen Version der zeitgenössischen Avantgardebewegungen in Kunst und Literatur betrachtet. Insbesondere die Rolle des subversivavantgardistischen Rebellen öffnete dabei einen weiten Rezeptionsspielraum von schroffer Ablehnung bis hin zu euphorischer Begeisterung.102 Werner Heisenberg verknüpft beide Attribute, wenn er in offensichtlicher Bewunderung Einsteins betont, die Formulierung der Relativitätstheorie sei „eine ganz unerwartete und radikale Veränderung, zu der es des ganzen Mutes eines jungen und revolutionären Genies bedurfte.“103 Die Tatsache, dass Heisenberg der Relativitätstheorie in seinem – eigentlich vor allem mit der Quantenphysik befassten – Buch über Physik und Philosophie ein eigenes Kapitel widmet, in dem er ihr eine Schlüsselrolle für die Genese der modernen Physik zuweist, zeigt freilich, dass die Einschätzung der besonderen Bedeutsamkeit der Relativitätstheorie von den wissenschaftlichen Protagonisten der Physik des 20. Jahrhunderts geteilt wurde. Heisenberg begründet diese Einschätzung mit dem Hinweis, dass die Relativitätstheorie „zum erstenmal die Notwendigkeit gezeigt [habe], die grundlegenden Prinzipien der Physik zu verändern“104 , betont also die epistemologisch-wissenschaftshistorische Bedeutung des Kontingenzbefunds hinsichtlich der klassischen Physik. Anhand der Lektüre einer Schrift des französischen Wissenschaftsphilosophen Gaston Bachelards zeige ich schließlich – aus kompositorischen Gründen allerdings erst im fünften Kapitel –, wie dieser die von Heisenberg vertretene Position zu einer utopischen, prononciert ,modernen‘ Interpretation der Physik nach 1900 ausbaut: Kontingenz und Möglichkeit werden dabei zu neuen Grundbegriffen einer Philosophie, die den Bruch mit traditionellen ,Gewissheiten‘ emphatisch begrüßt. Insbesondere Bachelards – gegen Konzepte der Mimesis gerichtete – Überlegungen zur ,poetischen‘ Funktion der modernen Mathematik eignen sich diesbezüglich, den Inhalt der Rede von der ,Modernität‘ der mathematischen Physik des 20. Jahrhunderts genauer zu bestimmen. 2.3.1 Die Physik ist nie modern gewesen: Moderne Naturwissenschaft als Kontingenzbewältigung Albert Einstein, der vermeintliche ,Revolutionär‘ der Physik, versuchte besonders in seinen populärwissenschaftlicheren Schriften selbst stets dem Eindruck entgegenzuwirken, die Relativitätstheorie stelle ein wissenschaftshistorischen Bruch 101 102 103 104

Vgl. [Balibar 2002, 46]. Für einschlägige Textbeispiele, in denen Einsteins Theorie in negativem Sinne als ,phantastisch‘ und als ,wissenschaftlicher Dadaismus‘ bezeichnet wird, vgl. [Könneker 2001, 130f.]. [Heisenberg 1959, 103]. Für weitere Analysen der Charakterisierungen der Relativitätstheorien und Einsteins als ,revolutionär‘ s. [Hentschel 1990, 106ff.] und [Balibar 2002, 39f.]. [Heisenberg 1959, 99].

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dar, sei vollkommen unverständlich oder auch nur unanschaulich. In seinem Aufsatz Geometrie und Erfahrung erläutert er etwa, dass und warum „das menschliche Anschauungsvermögen keineswegs vor der nichteuklidischen Geometrie zu kapitulieren braucht“:105 Zwar werde auf die Frage, ob man sich ein endliches, doch grenzenloses Universum anschaulich vorstellen könne, „meist mit ,nein‘ geantwortet, aber mit Unrecht. Ich will zeigen, daß wir uns ohne sonderliche Mühe zu der Theorie von der Endlichkeit der Welt ein anschauliches Bild machen können, in dem wir uns bei einiger Übung leicht heimisch fühlen.“106 Bei aller Begeisterung für die revolutionäre Neuheit und die fundamentale Erschütterung vermeintlicher Gewissheiten durch die Relativitätstheorie betont auch Werner Heisenberg, dass besonders die spezielle Relativitätstheorie „auf einer großen Anzahl von sehr genau untersuchten experimentellen Tatsachen“ beruhe, „also zu den festen, gesicherten Grundlagen der modernen Physik“ gehöre und „in unserer gegenwärtigen Lage nicht bestritten werden“ könne.107 Ähnliches gilt dem Wissenschaftssoziologen Paul Forman zufolge für die Quantenmechanik. In kaum überbietbarer Weise stellt er deren Irrelevanz für Fragen der philosophischen ,Weltanschauung‘ heraus: Als „grundlegende physikalische Theorie der atomaren und subatomaren Welt“ enthalte sie „die dem Theoretiker zur Verfügung stehenden Grundregeln, auf die er zurückgreift, wenn er in einem Industrielabor den elektrischen Widerstand eines zu bauenden neuen Halbleiters berechnet oder wenn er die Masse eines in einem Teilchenbeschleuniger zu erzeugenden Teilchens bestimmt.“108 Da „zwischen der Quantenmechanik und den auf ihr beruhenden philosophischen Gedankensystemen oder den aus ihr abgeleiteten Weltanschauungen [. . .] nur ein geringer Zusammenhang“109 bestehe, erteilt er außerphysikalischen ,Anwendungen‘ der Theorie eine scharfe Absage. Die Quantentheorie sei „lediglich eine statistische Theorie“ und könne nicht [. . .] als angemessene begriffliche Grundlage für eine Darstellung unserer makroskopischen Welt angesehen werden, in der wir es zweifelsohne mit individuellen Gegenständen und Ereignissen und nicht mit statistischen Gesamtheiten zu tun haben. Selbst die kategorischen Aussagen über die Ungültigkeit des Kausalgesetzes für die physikalische Welt gehen viel zu weit, und dies nicht zuletzt, weil sie die Tatsache verwischen, daß die Quantenmechanik eine deterministische Theorie der Wahrscheinlichkeiten ist. Es muß jedoch betont werden, daß die der Quantenmechanik zugeschriebenen noch weitreichenderen weltanschaulichen Folgerungen – die Zusicherung der Willensfreiheit oder die Unmöglichkeit einer physikalisch-chemischen Erklärung des Lebens –, völlig ungerechtfertigt sind. [Forman 1994’, 186f.]

105 106 107 108 109

[Einstein 1921, 20]. [Einstein 1921, 14]. [Heisenberg 1959, 111]. [Forman 1994’, 182]. [Forman 1994’, 199f.].

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Derartige zurückhaltende oder abwehrende Aussagen hinsichtlich des revolutionären Charakters und der weiteren kulturellen Bedeutung der modernen Physik nimmt Ernst Cassirer auf, dessen umfangreiches philosophisches Werk von einer intensiven Auseinandersetzung mit Relativitätstheorie und Quantenmechanik flankiert wird.110 Aufgrund einer deutlichen Absage an philosophische Popularisierung und sensationelle Thesen ist Cassirers – zudem sprachlich und inhaltlich im akademisch-philosophischen Diskurs verwurzelte – Argumentation relativ wenig anschlussfähig für eine breite Rezeption und insbesondere auf eine scharfe Abgrenzung zur ästhetischen und literarischen Sphäre bedacht. Indem er sich gegen die Konstruktion eines neuen, homogenen ,Weltbilds‘ der Moderne wendet, betont er unter den hier in den Blick genommenen Positionen aber die Heterogenität und Vielstimmigkeit des Diskursgefüges der Moderne in überraschender Form besonders deutlich. In seinem Aufsatz über Philosophische Probleme der Relativitätstheorie, der 1920 in der Neuen Rundschau erschien – was zugleich die ,kulturelle‘ Bedeutsamkeit dieser „Probleme“ belegt –111 referiert Cassirer eingangs die unter Zeitgenossen verbreitete Auffassung, die Relativitätstheorie begnüge sich nicht damit, „diesen oder jenen Zug in unserem Bilde der Natur zu verändern“, sondern bedeute eine „Revolutionierung unseres Weltbilds“ und mache es erforderlich, „den Begriff der Natur und der Naturerkenntnis von Grund auf umzugestalten“.112 Entsprechend weist Cassirer in seiner Spätschrift über Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik, in der er sich „historisch[] und systematisch[]“ mit dem durch die Quantenmechanik neu aufgeworfenen „Kausalproblem“ beschäftigt,113 darauf hin, dass diese neuesten Entwicklungen der theoretischen Physik sogar in noch grundlegenderer Form als „Sprengkörper“ wahrgenommen würden, als dies bei der Relativitätstheorie der Fall gewesen sei.114 Tatsächlich erkennt Cassirer an, dass die – von ihm klar als Fortschritte begrüßten – naturwissenschaftlichen Resultate von Physikern wie Einstein und Heisenberg „unserer Auffassung der Welt“115 einschneidend verändert hätten, und postuliert daher eine gewisse Offenheit auf Seiten der Epistemologie: „Der Bereicherung und Vertiefung, die die moderne theoretische Physik durch die neue und schärfere Fassung ihrer Grundbegriffe erfahren hat, kann und soll sich die Erkenntnistheorie nicht verschließen, und ihr muß sie durch die ständige Revision ihrer eigenen Voraussetzungen entgegenkommen.“116 Gleichwohl wendet sich Cassirer entschieden gegen expansive Deutungen der modernen Physik, indem er nachzuweisen ver110 111 112 113 114 115 116

[Hentschel 1990, 199ff.] weist Cassirers Deutung der Relativitätstheorie eine herausragende Stellung unter den ,neukantianischen‘ Interpretationen zu. [Cassirer 1921]. Der Verfasser verweist darin selbst auf seine ausführlichere Darstellung Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen. [Cassirer 1921, 1338]. [Cassirer 2004]. [Cassirer 2004, 4]. [Cassirer 1921, 1338]. [Cassirer 2004, 5].

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sucht, dass deren Grundkonzepte im Kern mit den Grundsätzen transzendentalphilosophischer Erkenntnistheorie vereinbar seien:117 Cassirer bestreitet also, dass Relativitätstheorie und Quantenmechanik eine Veränderung der „Auffassung von den Normen und Regeln, von den Bedingungen des Wissens“ erfordere,118 und gelangt – gegen die Mehrzahl der zeitgenössischen Interpreten – zu dem Ergebnis, dass sie den „stetige[n] Gang“ der Physik in erkenntnistheoretischer Hinsicht gerade nicht „ein für allemal“ unterbrochen, sondern im Gegenteil „in neuer und überraschender Weise bestätigt“ habe.119 Cassirer betont, dass auch und gerade eine philosophische Auseinandersetzung mit der modernen Naturwissenschaft nur möglich sei, wenn man sich zunächst deren „Erkenntnisbedingungen“ unterwerfe: „Mathematische und mathematischphysikalische Lehrsätze lassen sich von der ihnen gemäßen Darstellungsweise nicht ablösen, ohne damit auch den besten Teil ihres Gehalts zu verlieren.“120 Schon aufgrund dieser zentralen Bedeutung mathematischer Terminologie und Verfahren sei die für viele Zeitgenossen „reizvoll und lockend erscheinen[de]“, „rasche Erweiterung dieser Theorie über ihr ursprüngliches Gebiet hinaus, – eine Wendung ihrer Ergebnisse ins schlechthin Allgemeine, ins SpekulativMetaphysische“ nicht statthaft: „[S]ie käme einer Vernichtung ihres eigentlichen, ihres prinzipiellen Sinns gleich.“121 Insbesondere wendet sich Cassirer damit gegen einen vorschnellen, ,inhaltlich‘ begründeten Kurzschluss, der der Relativitätstheorie ein ,Wissen‘ von der ,Relativität‘ von Raum und Zeit entnimmt, um diese naturwissenschaftlich verifizierten ,Fakten‘ in anderen Bereichen – wie Erkenntnistheorie, Ontologie und Ethik – ,anzuwenden‘: „Die eigentlichen Begründer der Relativitätstheorie und ihre bedeutendsten wissenschaftlichen Vertreter haben denn auch den Versuch einer solchen Grenzverrückung, der sich hier und da

117

118 119

120 121

In der Vorrede seiner späteren Schrift zur Quantenmechanik wird deutlich, dass sich Cassirer einem starken intellektuellen Druck ausgesetzt sieht. Besonders die Einordnung als „Neukantianer“ wurde offenbar oft ins Feld geführt, um ihm die Berechtigung abzusprechen, sich philosophisch mit der ,modernen‘ Physik auseinanderzusetzen, da es zum Gemeinplatz geworden war, dass Relativitätstheorie und Quantenphysik in unüberwindlichem Gegensatz zu den Grundauffassungen der kantischen Transzendentalphilosophie stünden: Vgl. [Cassirer 2004, 6ff.]; s. außerdem [Hentschel 1990, 211]. [Cassirer 1921, 1338]; Hervorh. im Original, dort gesperrt. [Cassirer 1921, 1339]. Cassirer betrachtet diesen Aspekt als ,Gretchenfrage‘ der Vereinbarkeit transzendentalphilosophischer Erkenntnistheorie und moderner Naturwissenschaft, da Kant seine Kritik der reinen Vernunft explizit auf die in der Physikgeschichte von Kepler bis Newton bestimmenden Ideale von Kontinuität, logischer Stringenz und epistemologischer Kohärenz verpflichtet. Falls sich zeigen lasse, „daß die Relativitätstheorie dieses Gefüge nicht nur unangetastet läßt, sondern daß sie es schärfer als zuvor in seiner eigentümlichen Bestimmtheit und Bedingtheit erfaßt hat, dann müßte ihr philosophischer Ertrag in einer ganz anderen Richtung gesucht werden, als es gewöhnlich geschieht – dann würde sich ergeben, daß ihr wesentlicher Gehalt nicht an dem liegt, was sie negativ und kritisch zerstört, sondern was sie nach dieser Zerstörung als den positiven Sinn des physikalischen Erkenntnisbegriffs herausstellt.“ [Cassirer 1921, 1339]. [Cassirer 1921, 1337]. Ebd.

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in populären Darstellungen zeigt, niemals unternommen [. . .].“122 Entsprechend betrachtet Cassirer die ,Destruktion‘ des Newtonschen Weltbilds durch die ,wundersame‘, zum Teil kontraintuitive und unanschauliche Relativitätstheorie bloß als äußerliches Phänomen, die der Seite der Wissens-Inhalte zuzuordnen seien. Dagegen sieht er keinen grundsätzlichen epistemologischen Bruch zwischen Newton und Einstein, sondern fasst die Relativitätstheorie als komplexere Einheit auf, die die simplere Einheit der Newtonschen Mechanik vertiefend fortsetzt. Hentschel macht diesbezüglich deutlich, in welch subtiler Form sich Einsteins Theorie gegen die klassische Mechanik wendet: „Einstein sagt eben nicht: ,Es gibt keinen absoluten Raum, keinen Äther‘, sondern weit schwächer: ,je n’ai pas besoin de cette hypothèse‘, womit er eben nicht ausschließt, daß es sie gibt, ohne daß sie sich bemerkbar machen.“123 Das – abstrakt leicht kritisierbare – Prädikat des ,Fortschritts‘ hat hier also eine sehr konkrete Bedeutung: Es gelingt Einstein mit der Relativitätstheorie, unter schwächeren Voraussetzungen zu einer physikalischen Fundamentaltheorie zu gelangen, die der Newtonschen Mechanik hinsichtlich der Erklärung des Naturgeschehens zumindest ebenbürtig ist. Diese Feststellung ist umso wichtiger, als auch Newtons Theorie die Existenz des „absoluten Raums“ keineswegs beweist, sondern ohne weitere Begründung voraussetzt. Ebenso wenig folgt aus Einsteins Theorie, dass es keinen absoluten Raum gibt; diese ,Größe‘ wird einfach nur irrelevant. Mit Blick auf die zum Teil parallel verlaufende Wissenschaftsgeschichte von Physik und Philosophie seit Newton – insbesondere den einschlägigen Disput zwischen Newton und Leibniz und Kants Orientierung und Kritik an Newton – verfolgt Cassirer die Frage, warum Newtons dogmatisches Postulat der Absolutheit von Raum und Zeit wissenschafts- und mentalitätsgeschichtlich so wirkmächtig waren. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass die Newtonschen Begriffe von absolutem Raum und absoluter Zeit gar keine physikalischen, sondern psychologische Begriffe darstellen, in die sich zudem „unbemerkt bereits bestimmte psychologische Theorien eingemischt haben“: Die vermeintlich reinen und strengen Begriffe Newtons machen also plausibilisierende Anleihen bei der „psychologischen Evidenz, die unserer Raum- und Zeiterfahrung innezuwohnen scheint“. In diesem Sinne stellt der relativistische Verzicht auf diese Anleihen aus wissenschaftsphilosophischer Sicht einen bedeutenden Schritt in der Geschichte der Physik dar, der nur aufgrund der enormen Leistungsfähigkeit der Newtonschen Mechanik in Theorie und Praxis erst vergleichsweise spät erfolgt sei.124 Cassirer erläutert den Wandel in Kants – von der orientierenden Auseinandersetzung mit Newton bestimmtem – Konzept von Raum und Zeit, und im Gegensatz zu vielen Wissenschaftshistorikern postuliert er gerade die Unvereinbarkeit der Position Newtons mit der Transzendentalen Ästhetik Kants: Während Newton Raum und Zeit als objektive Begriffe bzw. Dinge aufgefasst habe, konzeptualisiert Kant sie als subjektive Formen der 122 123 124

[Cassirer 1921, 1356]. [Hentschel 1990, 17]. S. zur Haltung Poincarés außerdem [Mette 1986, 105]. [Cassirer 1921, 1342].

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Anschauung, wobei bewusst offen gelassen wird, ob etwa die „Dinge an sich“ überhaupt in einer räumlichen und/oder zeitlichen Ordnung stehen.125 Erst im 19. Jahrhundert reichte die psychologische Evidenz der ,Absolutheit‘ von Raum und Zeit angesichts des Fehlens empirischer Hinweise auf die Existenz diese Größen (und einiger theoretischer Substitute wie das Postulat eines das ganze Weltall durchdringenden „Äthers“126 ) und aufgrund wissenschaftsimmanenter Probleme nicht mehr aus, wodurch der Weg für Einsteins Theorie geebnet wurde: „Alle Phänomene müssen daher derart beschrieben und unter Gesetze geordnet werden, daß in diese Beschreibung niemals die Bewegung eines Körpers gegen den absoluten Raum, sondern immer nur die relativen Bewegungen der Körper gegen einander eingehen.“127 Dieses Zitat verdeutlicht den physikalischen Sinn des Terminus ,Relativität‘: Statt sämtliche Bewegungsvorgänge auf einen experimentell nicht nachweisbaren ,absoluten‘ Raum zu beziehen, werden die experimentell beobachtbaren Bewegungen verschiedener Körper gegeneinander als Grundlage für die Formulierung der Theorie gewählt. Das oft als physikalische Universalisierung des ,Relativismus‘ gehandelte „Relativitätsprinzip“ hat also mit einem ,prinzipiellen‘ Relativismus nichts zu tun, sondern „spricht aus, daß die Gesetze, nach denen sich das physikalische Geschehen abspielt, unabhängig davon sind, auf welches von zwei relativ zueinander in gradlinig-gleichförmiger Bewegung befindlichen Koordinatensystemen dieses Geschehen bezogen wird.“128 Im Gegensatz zu vielen anderen Interpreten sieht Cassirer also die Physik erst mit Einsteins Relativitätstheorie konzeptuell auf dem Stand der transzendentalphilosophischen Reflexion von Raum und Zeit angekommen: Wie für Kant seien Raum und Zeit nun auch in der relativistischen Physik „reine Form- und Ordnungsbegriffe, keine Sach- und Dingbegriffe“ mehr;129 Einsteins Theorie habe also die Spannung zwischen Physik und Philosophie vermindert: Einstein bezeichnet es als das Ergebnis vor allem der allgemeinen Relativitätstheorie, daß durch sie dem Raum und der Zeit der letzte Rest von Gegenständlichkeit genommen wird. [. . .] Die naive Sachvorstellung des Raumes und der Zeit, als der unendlichen dinglichen Gefäße, in die alles Sein und alles Geschehen eingebettet ist, hat, wie für die philosophische, so auch für 125 126

127 128 129

[Cassirer 1921, 1344]. Die mit der Relativitätstheorie konkurrierende Äther-Theorie wurde etwa von Einsteins Zeitgenossen Philipp Lenard vertreten: Dieser war ebenfalls Nobelpreisträger, begründete aber nach 1933 die „Deutsche Physik“, die die nationalsozialistische Rassenideologie zum Fundament der Physik zu machen versuchte. Angesichts der Konkurrenzsituation zwischen Einstein und Lenard liegen die Motive Lenards auf der Hand, den inhaltlichen Dissens mit Einsteins Judentum in Verbindung zu bringen und die unliebsame, aber zunehmend anerkannte Relativitätstheorie zum Musterbeispiel „jüdischer Physik“ zu stilisieren. Vgl. zur „Deutschen Physik“ den Aufsatz von [Richter 1980] aus dem für die hier verfolgte Thematik insgesamt wichtigen, von [Mehrtens/Richter 1980] herausgegebenen Band Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. [Cassirer 1921, 1350]. [Cassirer 1921, 1350f.]. [Cassirer 1921, 1352].

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die physikalische Anschauung jede Geltung verloren. [Cassirer 1921, 1352]; Hervorh. im Original, dort gesperrt.

Für die Position Cassirers ist charakteristisch, dass diese Einsicht als gänzlich unproblematisch betrachtet wird. Die vermeintlich ,beruhigende‘ Vorstellung, es müsse einen ,absoluten‘, für alle Menschen verbindlichen Raum und eine ebensolche Zeit geben, wird als reiner Psychologismus gedeutet. Entsprechend fragt Cassirer bloß rhetorisch, wenn er typische erkenntnistheoretische Einwände gegen die Relativitätstheorie formuliert: „Wird diese ,Form der Erfahrung‘ [. . .] nicht aufgehoben, wenn für jeden Beobachter nur die Raum- und Zeitmaße seines Systems gelten und wenn er nicht erraten und fordern kann, daß ein anderer Beobachter in einem anderen System die gleichen Raum- und Zeitwerte finden werde? Zerfällt damit nicht das, was wir Welt, was wir Ordnung der Natur nennen, in lauter getrennte Einzelansichten, deren keine die alleinige, die unbedingte Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann?“130 Cassirer entkräftet diese gängigen, gerade mit Blick auf die Frage nach der Bedeutung der Relativitätstheorie für die Kontingenzsemantik der modernen Kultur offenbar zentralen Bedenken angesichts der Destruktion klassischer, geschlossener, ,objektiver‘ Weltbilder durch die Einsteinsche Physik, indem er ihre Fragmentierungswirkung und ihren vermeintlich schrankenlosen Subjektivismus und Relativismus seinerseits relativiert: Wer nicht bei der „Außenseite“ der relativistischen Resultate stehen bleibe, sondern den mathematischen Kern der Relativitätstheorie in den Blick nehme, erkenne, dass sie lediglich eine recht simple, letztlich bloß psychologisch ,legitimierte‘ Vorstellung von der Einheit der Welt „zerschlagen [habe], um sie begrifflich um so vollkommener wieder aufzubauen.“131 In deutlicher Nähe zu einer zentralen Grundüberzeugung von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ Ulrich erscheint es Cassirer simplifizierend, verbindliche Wahrheiten und Wirklichkeiten durch die dogmatische Behauptung ,objektiver‘, absoluter Werte zu erreichen. Er betont aber, dass der Verzicht auf Absolutheitspostulate nicht bedeute, dass den betreffenden Werten „überhaupt keine ,Wahrheit‘ zukommt, sondern nur, daß diese Wahrheit sich erst in der Beziehung zu anderen Systemen, und schließlich in der Beziehung auf die Gesamtheit der möglichen Systeme ergibt.“132 Während die Debatte um die kulturelle Bedeutung der Relativitätstheorie vor allem um die Einsteinsche Rekonzeptualisierung und Verknüpfung von Raum und Zeit, ihre Unanschaulichkeit und den Eindruck eines revolutionären Bruchs mit dem physikalischen Weltbild Newtons und dem epistemologischen Konzept insbesondere der Kantischen Tradition kreist, stehen mit Blick auf die Quantenmechanik die Frage nach der Möglichkeit objektiver Beschreibung mikrophysikalischer Vorgänge und die Rolle von Kausalität, Determinismus und Indeterminismus im 130 131 132

[Cassirer 1921, 1352f.]; Hervorh. im Original, dort gesperrt. [Cassirer 1921, 1353]. Ebd. Vgl. dazu auch [Musil 19781 , z.B. 251 und 650]. Im Gegensatz zu Musils Protagonist Ulrich bemüht sich Cassirer freilich, diese Überlegung in einen transzendentalphilosophischen Rahmen zu integrieren.

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Mittelpunkt:133 Cassirer beginnt seine einschlägige Studie mit einer historischen Analyse des „strengen Determinismus“, da die zeitgenössische Rede vom ,Ende des Determinismus‘ häufig Produkt einer eher oberflächlichen antimetaphysischen oder modernistischen Vorstellung des Kausaldenkens sei.134 Die „Kausalforderung von Kepler und Galilei, von Descartes und Leibniz“ drücke etwa „nichts anderes aus als die Überzeugung der Identität von Mathematik und Natur. Wer mathematisch denkt und schließt, der treibt damit kein leeres Gedankenspiel; er bewegt sich nicht in einer engen Welt selbstgeschaffener Begriffe, sondern rührt an das Fundament der Wirklichkeit selbst.“135 Entsprechend bemüht sich Cassirer darum, die Dignität der alten Grundüberzeugung Natura non facit saltus herauszustellen und nicht aus moderner Perspektive als bloße Naivität erscheinen zu lassen:136 Insbesondere Leibniz habe eine ,sprunghafte‘ Natur keineswegs für unmöglich gehalten, sie aber aufgrund seiner rationalistischen Grundüberzeugung einer fundamentalen Kongruenz von Sein und Denken für unplausibel gehalten, da das – von ihm maßgeblich mitgeprägte – mathematische Denken seiner Zeit bloß die Beschreibung stetiger, also nicht sprunghafter Prozesse zuließ:137 Man begreift jetzt, daß und warum der strenge und unverbrüchliche Determinismus des Geschehens eine unausweichliche Folgerung und eine unbedingte Forderung ist. Wäre das Band der Kausalität an irgendeiner Stelle des Weltgeschehens gesprengt, so bräche auch die Realität und Substantialität in sich zusammen. Ein Geschehen, das nicht mehr durch das der Reihe bestimmbar und aus ihr ableitbar wäre, fiele auch nicht mehr in die Reihe hinein – es könnte keinem bestimmten Subjekt mehr zugeschrieben werden und bliebe somit gleichsam im Leeren schweben. Diese Leere aber würde zugleich den Tod aller Erkenntnis bedeuten. Das ,Prinzip des zureichenden Grundes‘ muß überall und in voller Strenge anwendbar sein: Denn es gibt kein wahrhaftes Sein, es gibt keine objektive Realität, außer in der Form der Einheit. [. . .] So wird der Determinismus für Leibniz zur letzten und unaufheblichen Grundlage aller metaphysischer Erkenntnis: Auf ihm beruht jegliche Aussage nicht nur über den Wirkungszusammenhang, sondern über das Sein, über die Realität überhaupt. [Cassirer 2004, 23]

Auch Heisenberg geht im Zuge seiner Beschäftigung mit dem „Naturbild der heutigen Physik“ der Geschichte des durch seine physikalischen Resultate infrage gestellten Begriffs der Kausalität nach. In der Zeit Newtons habe sich dieser zu der Vorstellung zugespitzt, dass die gesamte Zukunft im Prinzip vorausbestimmt wäre, 133 134 135 136

137

Vgl. [Baumann/Sexl 1984, 22]. [Cassirer 2004, 13]. [Cassirer 2004, 20]. Manch postmoderner Interpret profiliert sich durch einen solchen Gestus – dabei geht [Kassung 2001, 416] rhetorisch am subtilsten vor, wenn er die klassische Physik immerhin klassisch lateinkundig verabschiedet, indem er ihr klassisches Motto ins Präteritum setzt und zur Kapitelüberschrift macht: „Natura non fecit saltus.“ [Cassirer 2004, 190].

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wenn man einen festen ,Jetzt-Zustand‘ der Natur mit absoluter Genauigkeit kennen würde: „Wenn man das Wort Kausalität so eng interpretiert, spricht man auch von Determinismus und meint damit, daß es feste Naturgesetze gibt, die den zukünftigen Zustand eines Systems aus dem gegenwärtigen eindeutig festlegen.“138 Heisenberg spielt hierbei auf ein berühmtes Gedankenexperiment von Laplace an, in dem einem Geist oder Dämon die Fähigkeit unterstellt wird, in einem gegebenen Augenblick die Lage sämtlicher Objekte und alle darauf wirksamen Kräfte exakt zu kennen. Unter dieser Voraussetzung wäre das hypothetische Wesen Laplace zufolge prinzipiell dazu in der Lage, die gesamte Vergangenheit und Zukunft des Universums zu bestimmen. Damit wurde er zum Geburtshelfer eines neuen Ideals der theoretischen Physik, der Suche nach der universellen ,Weltformel‘, die dieser Dämon bei seiner ,Berechnung‘ der Zukunft anwenden müsste. Cassirer befasst sich ebenfalls mit dem Laplaceschen Dämon und weist eingangs darauf hin, dass insbesondere eine Rede des Physiologen Emil DuBois-Reymond aus dem Jahr 1872 dazu beigetragen hatte, dieses Ziel zum festen Topos innerhalb des naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses zu machen. Tatsächlich erfährt der Leser in einer 1908 erschienenen populärwissenschaftlichen Schrift zur Philosophie und Naturwissenschaft in dem DuBois-Reymond gewidmeten Kapitel: Ein Laplacescher Geist, der die Lagen und Bewegungen aller Atome im Raume in einem Augenblick übersieht und die Kräfte kennt, die alle diese Atome verbinden, und sie alle in eine Weltformel zusammengefaßt hat, würde imstande sein, durch eine mathematische Diskussion seiner Weltformel alle Vergangenheit und alle Zukunft mit voller Sicherheit zu bestimmen. In diesem Weltbilde des Materialismus gibt es keinen Zufall und auch keinen freien Willen, denn nicht um den milliontel Teil eines Millimeters könnte je ein Atom aus seiner gesetzmäßigen Lage herausgedrängt werden. [Classen 1908]

Mit Kant kritisiert Cassirer diese Vorstellung des Determinismus, die nicht zuletzt aufgrund ihrer literarischen Qualität von Gegnern ebenso wie Befürwortern als unhintergehbare Basis der Auseinandersetzung mit dem Kausalitätsproblem betrachtet werde. Indem DuBois-Reymond das Kausalprinzip „über alle Grenzen der empirischen Anwendbarkeit hinausgehoben“ habe, propagiere er eine „Naturerkenntnis“, die „alle zufälligen, bloß empirischen Schranken“ überschreiten und „innerhalb ihres eigenen Umkreises [. . .] eine Art von Allwissenheit“139 erlangen könne, durch diese metaphysische Verallgemeinerung aber gegen eine Grundregel der kritischen Epistemologie verstoße.140 Neben dieser metaphysischen Allmachtsphantasie im empiristischen Gewand bekämpft Cassirer eine weitere, in alltäglichen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Diskussionen ebenso verbreitete Auffassung, das Kausalgesetz mache eine Aussage über die Relation von Dingen. Dieses epistemologisch ,schwache‘ 138 139 140

[Heisenberg 1955, 25]. [Cassirer 2004, 10f.]. [Cassirer 2004, 30ff.].

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Konzept des Determinismus liege nicht zuletzt auch Heisenbergs eigenen, unter Interpreten der Quantentheorie prominenten Aussagen zugrunde, wonach die von ihm gefundenen „Unbestimmtheitsrelationen“ das Kausalprinzip widerlegten und entsprechend die Faktizität des Indeterminismus bewiesen:141 In seinen Vorlesungen über Das Naturbild der heutigen Physik etwa postuliert Heisenberg, das Ende des Determinismus sei durch Max Plancks berühmte Entdeckung eines unstetig ablaufenden atomaren Vorgangs im Jahr 1900 (die neben Einsteins Beitrag aus dem ,annus mirabilis‘ 1905 den Anstoß zur Entwicklung der Quantenphysik gab) eingeläutet worden. Bis zum Jahr 1927 habe sich „herausgestellt, daß die Quantentheorie tatsächlich sogar dazu zwingt, die Gesetze eben als statistische Gesetze zu formulieren und vom Determinismus grundsätzlich abzugehen.“142 In der Sache stimmt Cassirer hier völlig mit Heisenberg überein, bezweifelt also weder dessen physikalische Resultate noch ihre physikalische Interpretation, schlägt aber eine philosophisch differenziertere Sichtweise des Zusammenhangs mit dem Kausalitätsproblem im Sinne eines von Kant vertretenen, epistemologisch ,starken‘ Determinismus vor:143 Dieser sage [. . .] nichts über den ,Grund der Dinge‘ aus, ja er bezieht sich nicht einmal unmittelbar auf die empirischen Dinge als solche. Er ist vielmehr ein Prinzip der empirischen Begriffsbildung: eine Behauptung und eine Vorschrift darüber, wie wir unsere empirischen Begriffe fassen und gestalten sollen, damit sie ihrer Aufgabe, der ,Objektivierung‘ aller Phänomene, gerecht werden. Wenn unsere Kausalbegriffe diese Forderung erfüllen, so ist es vergeblich, für sie nach einer anderen Rechtfertigung und einer angeblich höheren Dignität zu suchen. [Cassirer 2004, 28]

Entsprechend sei es philosophisch anspruchsvoller, die Quantenmechanik, deren Resultate mit der trivialen Vorstellung einer ,objektiven‘ Determination von empirischen ,Dingen‘ konfligieren, als wichtigen Beitrag zur „Reinigung“ des Kausalitätsbegriffs zu betrachten, zumal die pauschale Rede vom universellen Ende des 141 142

143

Vgl. [Cassirer 2004, 139ff.]. [Heisenberg 1955, 28], Hervorh. im Original. Für eine aktuelle, sehr kritische philosophische Interpretation der Bedeutung der Heisenbergschen Unschärferelation s. auch [Held 1998, 39ff.], der insbesondere die im obigen Zitat formulierte, seines Erachtens unnötig starke Interpretation Heisenbergs zurückweist, wonach die Unbestimmtheitsrelationen nicht bloß ein zentrales Merkmal der Quanten-Theorie seien, sondern tatsächlich ein Merkmal der Wirklichkeit selbst. Held weist außerdem darauf hin, dass paradoxerweise gerade vermeintlich radikal-konstruktivistische Aussagen Heisenbergs und einiger Wissenschaftshistoriker und -theoretiker im Zusammenhang mit der Quantenmechanik dazu tendieren, in einen ,naiven Realismus‘ zurückzufallen: Wenn [Könneker 2001, 36] etwa die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie durch Bohr und Heisenberg referiert, auf die auch Bachelards und Vogls Argumentationen maßgeblich zurückgreifen, wonach „[d]er Mensch der Natur durch die Wahl seines Experiments von vornherein auf[oktroyiere], welche Seite ihres ambivalenten Charakters sie im Verlauf der Messung tatsächlich offenbart“, postuliert er damit selbst wieder die Existenz einer Natur ,an sich‘, die ,entscheiden‘ kann, welchen ihrer ,Aspekte‘ sie dem Experimentator offenbart. Vgl. [Cassirer 2004, 24ff.].

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Determinismus gerade den – von Cassirer und Heisenberg gleichermaßen abgelehnten – katastrophischen Deutungen der modernen Physik Vorschub zu leisten drohe. Anhand der Metapher einer „Landkarte“ entwickelt Cassirer sein Plädoyer für die epistemologisch ,starke‘ Version des Kausalgesetzes, die mit der Quantenmechanik und insbesondere der Heisenbergschen Unschärferelation vollkommen vereinbar sei: Das Kausalgesetz fordert, wenn wir es in seiner wirklichen Allgemeinheit verstehen, nichts anderes, als daß eine solche „Landkarte“ besteht, ohne etwas über ihre besondere Form auszusagen. Wir müssen in der Erforschung des Naturgeschehens stets irgendein allgemeines Orientierungsnetz benutzen, aber wir brauchen die Maschen dieses Netzes nicht von vornherein festzulegen. Jeder neue Horizont, der sich uns erschließt, kann eine Wandlung der Orientierung von uns fordern. Aber die Forderung der Gesetzlichkeit, der funktionalen Bestimmung überhaupt, wird dadurch nicht berührt, sie erweist sich vielmehr immer wieder als die eigentliche Invariante. [Cassirer 2004, 199]

Während in dieser grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Aussage durchaus eine moderate Form von epistemologischem Kontingenzbewusstsein deutlich wird, wendet sich Cassirer vehement gegen eine ethisch-anthropologische ,Ausnutzung‘ der durch die Quantenmechanik aufgefundenen ,Lücken‘ im Determinismus, die nicht zuletzt in aktuellen wissenspoetischen Studien zur modernen Physik beliebt ist. Carsten Könneker etwa sieht die (nicht nur) Musilsche Dekonstruktion des Gegensatzes von gut und böse durch die Kopenhagener Deutung des quantenmechanischen Dualismus von Welle und Teilchen gerechtfertigt,144 und Elisabeth Emter präsentiert – ihrer eigenen Beschäftigung mit Cassirer zum Trotz – als wichtigste Bedeutung der Quantenmechanik ein „Gefühl der Erleichterung angesichts des neuen physikalischen Weltbildes“, das mit seiner Infragestellung des klassischmechanistischen, streng deterministischen Weltbilds möglich mache, „sich freier [zu] fühlen“.145 Eine solch harmonisierende Interpretation des physikalischen Indeterminismus als Spielraum für eine – unterschiedlich deutbare – Freiheit lehnt Cassirer ab: Man glaubt damit eine höhere Einheit zwischen Physik und Ethik zu gewinnen und den Abgrund, der beide voneinander trennt, überbrücken zu können. Aber bedeutet dieser ,Abgrund‘ für ein kritisch geschultes Denken wirklich eine Gefahr? Können und dürfen wir uns hier der Tendenz der Vereinheitlichung und Vereinfachung der Probleme überlassen – oder kommt nicht alles darauf an, jeden Problemkreis in seiner scharfen Besonderung zu sehen und ihn in seiner charakteristischen Eigenart zu erhalten? [Cassirer 2004, 237]

Es ist durchaus bemerkenswert, dass sich gerade ein Interpret in der Nachfolge Kants (dem man schon deshalb sicher keinen Mangel an Systematisierungswil144 145

Vgl. [Könneker 2001, 103]. [Emter 1995, 174].

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len unterstellen kann) besonders deutlich gegen die Konstruktion eines homogenen modernen Weltbilds wendet, in dem Physik und Ethik ineinander münden. Im Anschluss an diese Mahnung, die Ethik nicht zur Lückenbüßerin der Physik zu machen,146 kann auch die oben als ,diskursanalytisch‘ charakterisierte, u.a. von Eco, Vogl und Kleinschmidt vertretene poetologisch-kunsthistorische Interpretation der Quantenmechanik grundsätzlich in Frage gestellt werden. So fruchtbar der interdiskursive Charakter der Literatur auch sei, so braucht sich diese bei der ,Abweichung‘ von klassischen, etwa aristotelisch verbürgten Notwendigkeitspostulaten keineswegs der Rückendeckung durch physikalische ,Fakten‘ zu versichern. Selbst – und gerade – wenn die Physik bei ihrer klassischen Meinung Natura non facit saltus bliebe, kann die Kunst schließlich antworten: Ars facit saltus. 2.3.2 Katastrophen: Moderne Naturwissenschaft in den Untergangsgesängen des Abendlands In einem Brief an Gershom Scholem147 typisiert Walter Benjamin Kafkas Literatur als die eines „modernen Großstadtmenschen“, der sich nicht nur einer „unübersehbaren Beamtenapparatur ausgeliefert“ wisse, sondern nicht zuletzt „Zeitgenosse[] der heutigen Physiker“ sei;148 statt diese Relevanz der modernen Physik für Kafkas Werk auf dem Wege philologischer Erörterungen nachzuweisen, zitiert Walter Benjamin eine längere Passage aus Eddingtons Weltbild der Physik, in der der Verfasser ironisch die physikalischen „Schwierigkeiten“ beim Übertreten einer Türschwelle beschreibt: Ich stehe auf der Türschwelle, im Begriff, ein Zimmer zu betreten. Ein kompliziertes Unternehmen. Erstens muß ich gegen die Atmosphäre ankämpfen, die mit einer Kraft von 1 Kilogramm auf jedes Quadratzentimeter meines Körpers drückt. Ferner muß ich auf einem Brett zu landen versuchen, das mit einer Geschwindigkeit von 30 Kilometer in der Sekunde um die Sonne fliegt; nur den Bruchteil einer Sekunde Verspätung, und das Brett ist bereits meilenweit entfernt. Und dieses Kunststück muß fertiggebracht werden, während ich an einem kugelförmigen Planeten hänge, mit dem Kopf nach außen in den Raum hinein, und ein Ätherwind von Gott weiß welcher Geschwindigkeit durch alle Poren meines Körpers bläst. Auch hat das Brett keine feste Substanz. Darauftreten heißt auf einen Fliegenschwarm treten. Werde ich 146 147 148

Vgl. dazu auch [Cassirer 2004, 249ff.]. Vom 12.6.1938, vgl. [Benjamin 2000, 105-115]. [Benjamin 2000, 110]. Wird in literatur- und kulturwissenschaftlichem Kontext nach der Rolle oder Bedeutung naturwissenschaftlicher Resultate der Moderne gefragt, so ist Kafka ein eher unüblicher Verdächtiger; [Könneker 2001, 111] nimmt Kafka unter den Autoren der klassischen Moderne sogar explizit aus. Stattdessen wird der wissenspoetische Blick bevorzugt auf Autoren gerichtet, in deren Werk sich explizite intertextuelle Bezüge zu zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Überlegungen finden oder deren Biographien (bzw. autobiographische Dokumente) nahelegen, dass sie sich mit derartigem Wissen intensiver auseinandergesetzt haben. So gelangt man schnell zu Broch und Musil, deren Texte zudem ein hohes selbstreflexives Niveau aufweisen und entsprechend leicht als Metatexte der Moderne gelesen werden können.

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nicht hindurchfallen? Nein, denn wenn ich es wage und darauftrete, so trifft mich eine der Fliegen und gibt mir einen Stoß nach oben, ich falle wieder und werde von einer anderen Fliege nach oben geworfen, und so geht es fort. Ich darf also hoffen, das Gesamtresultat werde sein, daß ich dauernd ungefähr auf gleicher Höhe bleibe. Sollte ich aber unglücklicherweise trotzdem durch den Fußboden hindurchfallen oder so heftig emporgestoßen werden, daß ich bis zur Decke fliege, so würde dieser Unfall keine Verletzung der Naturgesetze, sondern nur ein außerordentlich unwahrscheinliches Zusammentreffen von Zufällen sein. . . . Wahrlich, es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Physiker eine Türschwelle überschreite. Handle es sich um ein Scheunentor oder eine Kirchentüre, vielleicht wäre es weiser, er fände sich damit ab, nur ein gewöhnlicher Mensch zu sein, und ginge einfach hindurch, anstatt zu warten, bis alle Schwierigkeiten sich gelöst haben, die mit seinem wissenschaftlich einwandfreien Eintritt verbunden sind.149

Benjamin glaubt hier „Kafka zu hören“, kenne er doch „in der Literatur keine Stelle, die im gleichen Grade den Kafkaschen Gestus aufweist“;150 „ohne Mühe“ könne man „fast jede Stelle dieser physikalischen Aporie mit Sätzen aus Kafkas Prosastücken begleiten, und es spricht nicht wenig dafür, daß dabei viele von den ,unverständlichsten‘ unterkämen.“151 Die Gemeinsamkeit von Eddingtons Text mit denen Kafkas besteht darin, dass jeweils scheinbar ganz ,einfache‘ und ,alltägliche‘ Vorgänge in einer Weise kontextualisiert werden, die sie äußerst kompliziert und verfremdet erscheinen lässt, wobei der Eindruck der „Unverständlichkeit“, auf den Benjamin hinweist, gerade dadurch forciert wird, dass das Wissen um die ,Einfachheit‘ und ,Alltäglichkeit‘ textuell präsent gehalten wird. Ähnlich wie die von Eddington charakteriserten Physiker müssten sich Kafkas – zugleich ganz einfache und äußerst komplexe – Protagonisten bloß „damit ab[finden], nur [. . .] gewöhnliche[] Mensch[en] zu sein“, doch nach Benjamins Lektüre gleichen sich moderne Literatur und moderne Physik darin, nicht „einfach hindurch“ gehen zu können, obwohl sie um diese Möglichkeit wissen, sondern sich programmatisch auf die Suche nach anderen Konzeptualisierungsmöglichkeiten der Realität zu begeben. Diese künstlerisch und wissenschaftlich – freilich auf unterschiedliche Weise – generierten alternativen „Weltbilder“ suspendieren dabei in der Moderne zunehmend den Bezug auf übergeordnete, allgemein verbindliche ,Horizonte‘. Dieser sich in der Moderne zunehmend manifestierende Kontingenzbezug von Kunst und Wissenschaft bildet den zentralen Ansatzpunkt einer Interpretationslinie, die die moderne Wissenschaft in einen katastrophischen Kontext stellt: „Die Tatsache, daß die Physik revolutionäre Behauptungen allein aus scheinbar ad libertum gewählten Postulaten und nicht mehr aus ,gesicherten Erfahrungsgrundsätzen‘ ableitete, berührte die ersten Kommentatoren mehr als unangenehm. Gil149

150 151

[Benjamin 2000, 110f.] zitiert hier [Eddington 1931]; in der Passage, die Benjamin auslässt, weist Eddington darauf hin, dass die beschriebenen Probleme durch die moderne Physik sogar noch deutlich forciert worden seien. [Benjamin 2000, 110]. [Benjamin 2000, 111].

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bert schrieb, das ,hochnotpeinliche Relativitätsprinzip‘ und der Formelapparat der ,Relativisten‘ seien ,von einem seltsamen Elternpaar gezeugt, die Mutter war die Absurdität, der Vater die mathematische Exaktheit.‘“152 Hatte die klassische Physik versprochen, ein geordnetes, objektiv gültiges Weltbild und kosmische Notwendigkeiten zu offenbaren, scheint die Relativitätstheorie den katastrophischen Interpreten von Anthropomorphismus und Subjektivismus geprägt zu sein, da sie das Naturgeschehen durch kontingent wirkende Grundannahmen und „mathematische[] Scholastik“ zu beschreiben suche und zudem (vermeintlich) konstante Eigenschaften natürlicher Objekte wie Gestalt und Masse in gewissem Sinne ebenfalls kontingent erscheinen lässt: „Das erinnert doch wirklich an jene talmudische oder hindostanische Weisheit, die das Längenmaß ihres persönlichen Gottes nach so und so vielen Meilen bezifferte!“153 Im Folgenden wende ich mich der Tradition solcher katastrophischen Interpretationen naturwissenschaftlicher Resultate zu, in der die moderne Naturwissenschaft als Symptom oder sogar als Wegbereiterin eines soziokulturellen Zustands aufgefasst wird, der maßgeblich durch Subjekt- und Wirklichkeitszerfall, Destruktion des überkommenen Naturbegriffs und die Infragestellung der ,Verlässlichkeit‘ von ,gesundem Menschenverstand‘154 , Wahrnehmung und Anschauung geprägt ist. Dass es sich – zumindest aus kulturwissenschaftlicher Perspektive – grundsätzlich verbietet, diese Form der Deutung (etwa aufgrund ihrer Vagheit und Pauschalität) als ,Fehlinterpretation‘ zu marginalisieren, belegt neben dem von Benjamin zitierten Eddington-Text auch folgendes „enzyklopädische[] Stichwort“ zur Geschichte des Naturbegriffs aus einer populärwissenschaftlichen Schrift Werner Heisenbergs, das in Katastrophenszenarien geradezu schwelgt: Heute sind wir so weit gekommen, daß sich die gesamte wahrgenommene Welt in ein Meer von Täuschungen verwandelt hat; Vorhang auf Vorhang wurde beiseitegezogen, bis wir endlich vor einem letzten Vorhang der Wirklichkeit zu stehen glauben, auf dem nur noch Elektronenschatten vorüberhuschen, gespenstisch und kaum zu fassen. Der rechnende Verstand hat hier das letzte Wort; aus dem Vordergrund der Wahrnehmung rückt die Welt in den Hintergrund des Gedankens. [Heisenberg 1955, 138]

Relativiert der Verfasser dieses ,Naturbilds‘ zuletzt dessen katastrophischen Charakter, indem er die Letztinstanzlichkeit – und Legitimität – des „rechnende[n] Verstand[s]“ konzediert, bildet die radikale Mathematisierung der modernen Physik oft gerade den Ansatzpunkt der Kritik:155 So weist Alexander Moszkowski zu 152 153 154 155

[Könneker 2001, 15]. [Moszkowski 1911, 277]. [Hentschel 1990, 74ff.] widmet den gegen die Relativitätstheorie vorgebrachten „Common-senseArgumenten“ ein eigenes Kapitel. [Horkheimer/Adorno 2003, 37] stellen in der Dialektik der Aufklärung etwa – mit beachtlicher Apodiktik – fest: „Wenn im mathematischen Verfahren das Unbekannte zum Unbekannten einer Gleichung wird, ist es damit zum Altbekannten gestempelt, ehe noch ein Wert eingesetzt ist. Natur ist, vor und nach der Quantentheorie, das mathematisch zu Erfassende; selbst was nicht eingeht,

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Beginn seiner Auseinandersetzung mit Einstein spöttisch-satirisch darauf hin, sein Vorhaben, die Relativitätstheorie ohne Mathematik darzustellen, gleiche der Aufgabe, „die Weltgeschichte auf eine bequeme Gedächtnisformel zu bringen, Keplers Gesetze aus dem kleinen Einmaleins zu beweisen, den Spinoza als Pantomime aufzuführen oder die Neunte Symphonie für eine Soloflöte einzurichten.“156 Auch Gottfried Benn beschwört in seinen Texten immer wieder den wissenschaftlich induzierten „Realitätszerfall“, den selbst Goethes lautstarker Einspruch gegen Weltbild und Methodik Newtons nicht nachhaltig habe aufhalten können. In der Akademie-Rede beschreibt er die moderne Kultur als neue, „frigidere, kältere“ „Zerebralisationsstufe“, in der Relations- und Funktionsbegriff über die Mathematisierung der Physik zu einer umfassenden Desubstantialisierung geführt hätten: „Der Erdboden ist zerrüttet von purer Dynamik und von reiner Relation. Funktionalismus, wissen Sie, heißt die Stunde, trägerlose Bewegung, unexistentes Sein. [. . .] Die alten Realitäten Raum und Zeit Funktionen von Formeln; Gesundheit und Krankheit Funktion von Bewusstsein; überall imaginäre Größen, überall dynamische Phantome, selbst die konkretesten Mächte wie Staat und Gesellschaft substantiell gar nicht mehr zu fassen, immer nur der Prozeß an sich, immer nur die Dynamik als soche [. . .].“157 Wird hier schon deutlich auf die Relativitätstheorie angespielt, die „Raum und Zeit“ als die „alten Realitäten“ zu „Funktionen von Formeln“ degradiere, beschreibt Benn im Zusammenhang mit seinen Überlegungen Zur Problematik des Dichterischen seinen Eindruck einer eigenartigen Koinzidenz von mathematischer Komplexität und Kontingenz, die das klassische philosophisch-wissenschaftliche Ideal der Entwicklung und Darstellung des Wissens ,more geometrico‘ konterkarieren: Raum und Zeit! Eben war die Geometrie ein axiomatisches System, in euklidischen Formeln ergab sich die Natur, und Kant schloß jahrhundertelange Gedankengänge für immer und entscheidend ab. Dreißig Jahre dauerte diese Wahrheit. Der nie rastende Menschengeist, in Sonderheit das fortschrittliche 19. Jahrhundert, fand, daß mehrere Parallelen zu einer Geraden möglich seien, nichteuklidische Gleichungen, sphärische Geometrie. Vier Jahrzehnte dauerte diese Wahrheit. Seitdem spricht man nur noch von Zuordnungsdefinitionen, Raum und Zeit sind Bezugssysteme zwischen starren Körpern, die berühmte und wahrhaft große Theorie. Aber schon scheint es unstatthaft, den Raum in das physikalisch Kleine, das Atom, hineinzunehmen, für die Quantenmechanik gilt die Kausaltheorie des Raumes nicht. Jedoch besteht die berechtigte Hoffnung, daß der nie rastende Menschengeist in kürzester Frist auch hierfür wieder allgemeingültige dauernde, wenn auch etwas kompliziertere Formeln finden wird, so daß auch in dieser Richtung bald ein befriedigendes und har-

156 157

Unauflöslichkeit und Irrationalität, wird von mathematischen Theoremen umstellt.“ Diese Form der Argumentation zeigt zugleich, dass die kulturelle Rolle von Mathematik und Naturwissenschaften nicht primär durch ihre Inhalte, Theorien oder Resultate verständlich gemacht werden kann, sondern nur im Kontext verschiedener kultureller Interpretationsmuster. [Moszkowski 1911, 257]. [Benn 1987, 388], Hervorh. im Original.

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monisches Denkergebnis die Arbeit des Forschers, wenn man sich eines etwas bildhaften und idealistischen Ausdrucks bedienen darf: krönt. [Benn 1987, 235f.]

Diesen – angesichts der umwundenen Schlussformulierung offenbar katastrophisch pointierten – Kontingenzbefund lässt Benn in einen sarkastisch vorgetragenen Fragenkatalog münden, wem der Künstler in dieser Lage nun „seine Kräfte leihen“158 solle: „Die euklidische oder die sphärische Geometrie entfalten, Relation oder Apriori?“159 Wenn „das Kausalgesetz selbst Sprünge zeigt“ und sich „in geradezu panischer Weise“ offenbare, „bis zu welcher Tiefe alles launisch war, wo soll dann der Dichter sich befinden, jede neue Bulle des wissenschaftlichen Ordens erst studieren, feststellen, was die Haute Couture diese Saison liefert, euklidische Muster oder akausale Dessous, oder genügt er schon seiner Charge, wenn er einstimmt in das allgemeine Gejodel über die Größe der Zeit und den Komfort der Zivilisation?“160 Während derartige essayistische, kultur- und wissenschaftskritische Überlegungen bei Benn vor allem motivischen Charakter im Rahmen seiner komplexen – und ihrerseits keineswegs stringenten – Auseinandersetzung mit den Nihilismen und Relativismen der klassischen Moderne haben, wird die von Benn angedeutete katastrophische Interpretation in vielen zeitgenössischen Schriften ausgebaut. Der oben bereits erwähnte Beitrag Alexander Moszkowskis aus dem Jahr 1911 nimmt Benns konservativ-kulturkritische Einschätzungen auf ,inhaltlicher‘ Ebene weitgehend vorweg: „Pulverisiert, in Atome aufgelöst, erscheinen plötzlich die sichersten Pfeiler aller Selbstverständlichkeiten, und aus dem gestaltlosen Chaos steigt eine neue Denkform empor, unfaßbar und dennoch zwingend: das Prinzip der Relativität.“161 Der Verfasser nimmt die Klage über die Verunsicherungswirkung der zeitgenössischen Physik vor allem zum Anlass, Kontingenz nachgerade hymnisch zur – radikal negativen – Signatur der modernen Kultur zu erklären. Obschon unter dem nüchternen Titel Das Relativitätsproblem im Archiv für systematische Philosophie veröffentlicht, fällt Moszkowskis Text weniger durch profunde philosophische Systematik als vielmehr durch emphatische Katastrophen-Ästhetik auf. Der Text beginnt mit einer (inhaltlich und vor allem rhetorisch) dramatischen anthropologisch-epistemologischen These: „Seit wenigen Jahren rüttelt es an den Grundvesten (sic!) menschlichen Denkens. Keine der organisierten, eingewurzelten Vorstellungen hält ihm stand. Mit einem Gemisch von Erstaunen und Verzweiflung steht das Gehirn vor den Trümmern seiner ältesten, besten Besitztümer.“162 Das hier präsentierte „Gehirn“ wird von einem physikalisch induzierten Kontingenzeinbruch heimgesucht, stellen die jüngsten Resultate doch sämtliche „Gedan158 159 160 161 162

[Benn 1987, 236]. [Benn 1987, 237]. Ebd. [Moszkowski 1911, 255]. Ebd.

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kenrevolutionen früherer Zeiten“163 in den Schatten, destruieren dabei aber die wohlgeordnete Architektur des naturwissenschaftlichen Wissens und ersetzen altehrwürdige Notwendigkeiten durch moderne Kontingenzen: „Die Geometrie verkündet einfach den Generalstreik, und die sonst so arbeitswillige alte Mechanik beteiligt sich daran auf ganzer Linie. Beide vereinigt begehen nunmehr schwerste Exzesse gegen die alte Ordnung der Dinge.“164 Der Verfasser beschwört immer wieder das Idyll der klassischen wissenschaftlichen Ordnung, die in einer Kontinuität mit den Ahnungen der Vorsokratiker und in Kongruenz „mit dem Intuitiven, Vorausgeahnten“165 stünden, wohingegen die „mathematische[] Diktatur“166 der Relativitätstheorie das erschreckte Gehirn nötige, allerlei Abstrusitäten hinzunehmen: Das „Minkowskische Lehrgebäude“167 (als mathematische Grundlage der Relativitätstheorie), in das der Verfasser mit Hilfe eines Mathematikers „zitternd“168 eingedrungen sei und in dem er „Schrecknisse“169 erlebt habe, zwinge dazu, „eine geradezu okkulte Vorstellung, nämlich die Vierdimensionalität, in unsere Einsicht aufzunehmen.“170 Angesichts dieser Wirren bietet sich Moszkowski dem Leser, den er in der Rolle eines umherirrenden Parzivals sieht, als Gurnemanz an,171 und spart auch sonst nicht mit weltliterarischen Anspielungen, um die immensen anthropologischen Folgen der aktuellen wissenschaftlichen Umbrüche zu betonen: „[W]ie die Figuren in Dantes Hölle“ wälzten sich im Menschenhirn etwa allerlei widersprüchliche und abstrakte Thesen in dem „infernalischen Feuer“, das die Relativitätstheorie dort entfacht habe und nur noch „eine grenzenlose Qual, eine Hoffnungslosigkeit“ als letzte Absolutheit „in dieser Welt der Relativitäten“ zurücklasse;172 weiterhin illustriert Moszkowski eine prominente (Einsteins Abhandlung Zur Elektrodynamik bewegter Körper entnommene) ,Aussage‘ der Relativitätstheorie, wonach die Länge eines bewegten Körpers sich immer mehr Null nähert, je näher die Bewegungsgeschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit kommt, mit Verweis auf Chamissos berühmtesten Helden:er referiert das Postulat der speziellen Relativitätstheorie, wonach eine (dreidimensionale) Kugel bei Lichtgeschwindigkeit in eine (zweidimesionale) „Kreisoblate“173 übergehen würde, und wählt ein für sein Katastrophenszenario besonders suggestives Beispiel: [W]enn diese Kugel zum Beispiel ein Planet ist, dessen Translation bis zum Lichttempo anschwillt, so saust er fortan in aller Körperlosigkeit durch den 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173

Ebd. [Moszkowski 1911, 268]. [Moszkowski 1911, 256]. Ebd. Ebd. [Moszkowski 1911, 258]. Ebd. [Moszkowski 1911, 256]. Vgl. [Moszkowski 1911, 257]. [Moszkowski 1911, 256]. [Moszkowski 1911, 268].

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Weltenraum als schattenhafte Kreisscheibe. Er selbst kann es nicht merken, ebenso wenig seine Bewohner, die allesamt plattgedrückt sind, ohne sich ihrer Plattheit bewußt zu werden. Denn ihre Beobachtungsinstrumente und ihre Sinneswerkzeuge haben alle die nämliche Deformation durchgemacht. [. . .] [N]ur der draußenstehende Unparteiische würde erkennen, daß sie sich sämtlich in umgekehrte Peter Schlemihle verwandelt haben: in Schatten, die ihre Körper verloren. [Moszkowski 1911, 268], Hervorh. im Original, dort gesperrt.

Aus Moszkowskis Sicht ist die Naturwissenschaft mit der Relativitätstheorie an einen Punkt gelangt, an dem sie wieder ins Märchenhafte übergeht; er fragt: „Ist die Geometrie umgefallen? Schießt die Logik Kobolz? Ist eine feste Strecke nicht mehr identisch mit sich selbst?“174 , und postuliert, wortgewaltig resignierend: „[S]o bleibt nur übrig, bis zum Eintritt einer weiteren Erleuchtung an einen Hexenspuk zu glauben, der die Geometrie verwirrt.“175 Zu purzelbaumschlagenden Kobolden und Hexen gesellen sich in Moszkowskis Text wenig später noch „ein Dämon in Gestalt einer veränderlichen Zeitgröße, die zugleich Zeit und Raum sein soll, ein Gespenst, das sich mit der Lichtkonstanten verkuppelt, zu Null zusammenschrumpft, zu Unendlich auswächst, das rechnerische Monstrositäten hervorzaubert und jeder anschaulichen Möglichkeit ins Gesicht schlägt“176 – fehlt bloß noch „[j]ener Werwolf der Geschwindigkeit, der im Relativitätsprinzip nistet“ und „seine Krallen zugleich nach der Figur und nach der Substanz“ schlägt.177 Während die „Kopernikanische Revolution“ „aus einer Welt der Absurdität in eine[] Welt der Klarheit“ geführt habe – „Tausend Unklarheiten verschwanden, eine kosmische Durchsichtigkeit tat sich auf“ – charakterisiert Moszkowski die ,moderne‘ Einsteinsche Revolution durch eine apokalyptisch pointierte Liste: Sie verursache bei ihren Rezipienten „lauter Denkverzweiflungen“, sie „zersäg[e]“ „das Gehirn in zwei Teile, von denen der eine mathematisch befiehlt und der andere erkenntnistheoretisch den Gehorsam verweigert“, und aus ihrem „gärenden Schoß“ sieht der Verfasser „mystisch verlarvte Ungeheuer“ aufsteigen.178 Diese wortgewaltigen Satiren verdeutlichen, wie sich die katastrophische Interpretation der modernen Naturwissenschaft als Textgenerator einsetzen lässt, um in paradoxer Weise Moszkowskis Wirklichkeitskonzept zu beglaubigen – versteht man die ,Wirklichkeit‘ einer historischen Epoche im Sinne Blumenbergs strukturell als „das, was ihr trivial, nicht der Rede wert scheint“179 : Radikalisierend an Nietzsche anknüpfend verleiht Moszkowski nämlich abschließend seiner eigenen nihilistischen Überzeugung Ausdruck, „daß die Wahrheit weder ein Weib noch ein Mann, noch überhaupt irgend etwas ist außer der Wurzel einer transzenden174 175 176 177 178 179

[Moszkowski 1911, 267]. [Moszkowski 1911, 268]. [Moszkowski 1911, 269]. [Moszkowski 1911, 270]. [Moszkowski 1911, 267f.]. [Blumenberg 2001, 49].

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ten Gleichung, und daß alle Bemühungen der Philosophen wie der Physiker hier nichts anderes umwerben als ein reines Vakuum.“180 Auch Oswald Spengler, der mit seiner monumentalen, durch Goethe und Nietzsche inspirierten181 Prophezeiung vom Untergang des Abendlands182 die Katastrophensemantik der klassischen Moderne gewiss maßgeblich geprägt hat, befasst sich ausführlich mit der kulturellen Bedeutung von Mathematik und Naturwissenschaft:183 Als Verfechter eines radikalen diachronen und synchronen Kultur-Relativismus lehnt er das Selbstverständnis der zeitgenössischen „abendländischen“ Mathematik als bislang ,höchster‘ Entwicklungsstufe einer seit der Antike im wesentlichen kontinuierlich verlaufenden und durch zunehmende ,Vertiefung‘ der Methoden und Inhalte geprägten Wissenschaftsgeschichte vehement ab und stellt stattdessen die These auf, jede der von ihm unterschiedenen „Kulturen“ habe eine ganz eigene Mathematik hervorgebracht:184 „Eine Zahl an sich gibt 180 181 182 183

184

[Moszkowski 1911, 281]. [Spengler 1990, IX]. [Spengler 1990]. [Spengler 1990, 10] unterscheidet grundsätzlich zwischen Natur und Geschichte als zwei nebeneinander stehenden und wechselseitig inkommensurablen Ordnungsschemata: „Die Mathematik und das Kausalitätsprinzip führen zu einer naturhaften, die Chronologie und die Schicksalsidee zu einer historischen Ordnung der Erscheinung. Beide Ordnungen umfassen, jede für sich, die ganze Welt.“ Diese strikte Trennung ermöglicht es Spengler, Mathematik und Naturwissenschaft in ihrer kulturellen Bedeutung voll zu würdigen, ohne dadurch die Sphäre des Historischen überhaupt zu tangieren: „Natur ist das Zählbare. Geschichte ist der Inbegriff dessen, was zur Mathematik kein Verhältnis hat. Daher die mathematische Gewißheit der Naturgesetze, die staunende Einsicht Galileis, daß die Natur ,scritta in lingua matematica‘ sei und die von Kant hervorgehobene Tatsache, daß die exakte Naturwissenschaft genau so weit reicht wie die Möglichkeit der Anwendung mathematischer Methoden.“ [Spengler 1990, 77] Dies relativiert [Spengler 1990, 82] allerdings implizit dadurch, dass er für selbstverständlich erklärt, dass (innerhalb einer gewissen Kultur) von einer „Verwandtschaft der Formensprache einer Mathematik mit derjenigen der benachbarten großen Künste“ ausgegangen werden könne. Auch [Heisenberg 1959, 196f.] weist – zunächst in scheinbarer Nähe zu Spengler – auf die Frage der interkulturellen ,Gültigkeit‘ von Wissen im 20. Jahrhundert hin: „Diese moderne Naturwissenschaft dringt also in unserer Zeit in andere Teile der Welt ein, wo die kulturelle Überlieferung von der europäischen Zivilisation vollständig verschieden ist.“ Ironischerweise gelangt er aber zur Diagnose, dass dieser ,Import‘ in den betreffenden Kulturen Ängste vor einem abendländisch induzierten Untergang des Morgenlands wecken dürfte: „Man muß erwarten, daß diese neue Aktivität an vielen Stellen als ein Verfall der älteren Kultur erscheint, als eine rücksichtslose und barbarische Haltung, die das empfindliche Gleichgewicht stört, auf dem alles menschliche Glück beruht.“ Es folgt eine weitere ironische Wendung, die das starre Spenglersche Schema endgültig ad absurdum führt, wenn Heisenberg feststellt, dass insbesondere einige japanische Forscher sehr rasch zu international bedeutenden theoretischen Physikern geworden seien, und die Vermutung äußert, dies könne „als Anzeichen für gewisse Beziehungen zwischen den überlieferten philosophischen Ideen des Fernen Ostens und der philosophischen Substanz der Quantentheorie angesehen werden. Es könnte sein, daß man sich leichter an den quantentheoretischen Wirklichkeitsbegriff gewöhnen kann, wenn man nicht durch die naive materialistische Denkweise hindurchgegangen ist, die noch in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in Europa vorherrschend war.“ Die historische Wirklichkeit der kulturellen Identitätsbildung ist aber noch deutlich komplizierter: So bezeichnet Albert Einstein den nichtjüdischen Dänen Bohr, der mit Heisenberg die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie und damit ähnliche Vorstellungen von der Notwendigkeit einer Öffnung der klassischen europäischen Epistemologie vertrat, in Briefen an Erwin

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es nicht und kann es nicht geben. Es gibt mehrere Zahlenwelten, weil es mehrere Kulturen gibt. [. . .] Es gibt demnach mehr als eine Mathematik.“185 Spengler bemüht sich besonders, die Vollständigkeit und Geschlossenheit der antiken Mathematik zu beweisen, die der modernen Mathematik an Dignität in nichts nachstehe: „Die moderne Mathematik, ein Meisterstück des abendländischen Geistes – ,wahr‘ allerdings nur für ihn –, wäre Plato als lächerliche und mühselige Verirrung auf dem Wege erschienen, der wahren Mathematik, der antiken nämlich, beizukommen.“186 In einem umfangreichen Kapitel erläutert Spengler so, warum etwa die (nach heutiger Terminologie irrationale) Zahl π – dem Symbol zum Trotz – für die Mathematiker des antiken Griechenland als Zahl gar nicht in Betracht gekommen wäre;187 wenn seine Überlegungen schließlich in eine Auseinandersetzung mit den komplexen Zahlen einmünden, die im 19. Jahrhundert fest in die (sich zu dieser Zeit erst als solche konstituierende) akademische Mathematik aufgenommen wurden, lässt die von Untergangs-Metaphorik grundierte Bewertung des modernen Zahlkonzepts, das die wissenschaftlich seriöse Beschäftigung mit komplexen Zahlen erst ermöglicht, deutlich erkennen, wo Spengler die ,Wurzel‘ des prognostizierten Untergangs sieht: Für den antiken Geist gibt es zwischen 1 und 3 nur eine Zahl, für den abendländischen eine unendliche Menge. Mit der Einführung der imaginären √ −1 = i und komplexen Zahlen (von der allgemeinen Form a + bi) endlich, welche das lineare Kontinuum zu dem höchst transzendenten Gebilde eines Zahlkörpers (des Inbegriffs einer Menge gleichartiger Elemente)188 erweitern, [. . .] ist jeder Rest antik-populärer Greifbarkeit zerstört worden. Diese Zahlenebenen, die in der Funktionentheorie seit Cauchy und Gauß eine wichtige Rolle spielen, sind reine Gedankengebilde. Selbst die positive √ irrationale Zahl wie 2 konnte aus dem antiken Zahlendenken gewissermaßen wenigstens negativ konzipiert werden, indem man sie als Zahl ausschloß [. . .]; Ausdrücke der Form x + yi liegen aber jenseits aller Möglichkeiten des antiken Denkens. [Spengler 1990, 105]

Spengler führt hier seine Vorstellung einer grundsätzlichen Inkommensurabilität des antiken und modern-abendländischen Zahlbegriffs aus. Er spielt zunächst darauf an, dass schon die Pythagoreer den Beweis fanden, dass sich die Länge der

185 186 187 188

Schrödinger abfällig als „Mystiker“ und „Talmudiker“; vgl. [Held 1998, 212]. Es bedarf kaum weiterer Argumente, zumindest im kulturwissenschaftlichen Diskurs das Denkmuster zu vermeiden, wonach cum grano salis von einer stabilen Zuordenbarkeit zwischen kulturellen Merkmalen bestimmter Gruppen und den kulturellen Überzeugungen einzelner Repräsentanten ausgegangen werden kann. [Spengler 1990, 79]. Zur Bedeutung Spenglers für das Kulturverständnis der Klassischen Moderne vgl. auch [Musil 19782 , 1043-1059]. [Spengler 1990, 90f.]. Vgl. [Spengler 1990, 88ff.]. Musil weist in seinem Spengler-Essay u.a. anhand dieser Stelle nach, dass dessen Kenntnisse der zeitgenössischen akademischen Mathematik doch recht oberflächlich sind, da keineswegs jede „Menge gleichartiger Elemente“ einen „Zahlkörper“ im Sinne der modernen Algebra bildet; vgl. [Musil 19782 , 1043].

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√ Diagonale eines Quadrats mit Kantenlänge 1 – die heute mit 2 bezeichnet wird und konzeptuell wohlbestimmt ist – nicht als Verhältnis (d.h. Bruch) zweier natürlicher Zahlen darstellen lässt, und daraus schlossen,√dass es sich bei dieser Größe nicht um eine Zahl handeln kann. Während π und 2 nach antikem Verständnis zwar keine Zahlen darstellen, aber immerhin noch mit elementaren, auch in der griechischen Mathematik sinnvoll stellbaren geometrischen Fragestellungen (etwa Kreisumfang und Diagonallänge) zusammenhängen, war die Einführung komplexer Zahlen zunächst tatsächlich nicht geometrisch-anschaulich motiviert. Historisch als eine Art ,Notlösung‘ entstanden, Gleichungen wie x3 − 2x2 + x − 2 = 0 zu lösen, haben erst Mathematiker des 19. Jahrhunderts – etwa Gauß und Riemann – zur vollen Akzeptanz der komplexen Einheit i als legitimer ,Zahl‘, für die i2 = −1 gilt, beigetragen. Wie Musils Zögling Törleß seinem Mathematiklehrer gegenüber versieht Spengler das mit der Etablierung der komplexen Zahlen verbundene moderne algebraische Konzept des Zahlkörpers mit dem Attribut des ,Transzendenten‘:189 Jede „antik-populäre[] Greifbarkeit“ destruierend und angeblich „jenseits aller Möglichkeiten des antiken Denkens“ angesiedelt stelle es bloß noch ein „reine[s] Gedankengebilde“ dar. Die naturwissenschaftliche Anwendung dieser zunehmend konstruktivistischamimetischen Mathematik läutet nun im Feld der Naturwissenschaften den „Untergang des Abendlandes“ ein. Nachdem die „westeuropäische Physik“ bis zur Wende zum 20. Jahrhunderts „an die Grenzen ihrer inneren Möglichkeiten“ zu einem „Optimum von Deutlichkeit“ gelangt sei, betrachtet Spengler die neuesten Entwicklungen, also die Thermodynamik, die (durch die Erkenntnis der mathematischen Möglichkeit nicht-euklidischer Geometrien vorbereitete) Relativitätstheorie und die Quantenmechanik bereits als Degenerationserscheinungen der Wissenskultur.190 Mit beträchtlicher Überheblichkeit gegenüber den zeitgenössischen Physikern begründet er diese Diagnose mit Verweis auf das von ihm gefundene kulturhistorische ,Gesetz‘, wonach die wissenschaftliche ,Energie‘, die bis zur Jahrhundertwende „in Richtung einer inneren Vollendung, einer wachsenden Reinheit, Schärfe und Fülle“ des Naturbilds ,gewirkt‘ habe, nun „plötzlich auflösend“ wirke, ohne dass dies den „hohen Intelligenzen der modernen Physiker“ überhaupt bewusst sei:191 Daher erheben sich plötzlich vernichtende Zweifel an Dingen, die noch gestern das unbestrittene Fundament der physikalischen Theorie bildeten, am Sinne des Energieprinzips, am Begriff der Masse, des Raumes, der absoluten Zeit, des kausalen Naturgesetzes überhaupt. Das sind nicht mehr jene schöpferischen Zweifel des frühen Barock, die einem Erkenntnisziel entgegenführen; diese Zweifel gelten der Möglichkeit einer Naturwissenschaft überhaupt. [Spengler 1990, 539] 189 190 191

Vgl. [Musil 19782 , 76f.]. [Spengler 1990, 538]. Ebd.

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Spengler operiert hier mit der Vorstellung einer fundamentalen Differenz zweier skeptischer ,Kulturen‘: Dem „schöpferischen“, da teleologisch fundierten Zweifel „des frühen Barock“ stellt er einen destruktiven, sprunghaften und universalen Skeptizismus gegenüber, der die zeitgenössische Naturwissenschaft präge, und arbeitet mit suggestiver Untergangsmetaphorik, wenn er die Genese und Transformation moderner wissenschaftlicher Theorien und Modelle mit dem Bau von „Kartenhäuser[n] aus ganzen Hypothesenreihen“192 vergleicht, bei dem „man jeden Widerspruch durch eine neue, schnell entworfene Hypothese überdeckt.“193 Insbesondere die Relativitätstheorie betrachtet Spengler als „Arbeitshypothese von zynischer Rücksichtslosigkeit“194 , die sich – aus seiner Sicht – bruchlos in sein Bild einer hoffnungslos brüchigen Wissenschaftskultur der Moderne einreihen lässt. Nach einem äußerst knappen Hinweis auf die sachlichen und methodischen Hintergründe ihrer Entwicklung (Einsteins Theorie stütze sich „auf die Versuche von Michelson [. . .], wonach die Lichtgeschwindigkeit von der Bewegung des durchdrungenen Körpers unabhängig bleibt“, und sei „von Lorentz und Minkowski mathematisch vorbereitet“) marginalisiert er die inhaltliche Bedeutung rhetorisch, indem er im Sinne seiner katastrophischen Deutung die „Zerstörung des Begriffs der absoluten Zeit“ als die „eigentliche Tendenz“ der Relativitätstheorie angibt.195 In diametralem Gegensatz zu Bachelards utopischer Bewertung des epistemologischen Wandels und der Bedeutung von Kontingenz, auf die ich unten genauer eingehen werde, beklagt Spengler ein überbordendes Kontingenzbewusstsein der modernen Wissenschaft, das dem „strengen Bild der Barockdynamik widerspreche“, wodurch „man endlich zu der Überzeugung [gelange], daß der große Stil des Vorstellens zu Ende ist und wie in Architektur und bildender Kunst einer Art Kunstgewerbe der Hypothesenbildung Platz gemacht hat; nur die äußerste Meisterschaft der experimentellen Technik, die dem Jahrhundert entspricht, vermag den Verfall der Symbolik zu überdecken.“196 Spengler vermutet, dass dieser – von ihm als Indiz des in der gegenwärtigen abendländischen Kultur omnipräsenten „Verfall[s] der Symbolik“ betrachtete – Paradigmenwechsel nicht zuletzt durch die moderne Statistik als Sprache bzw. Methode der Naturwissenschaft getragen bzw. gefördert wird, und interpretiert dieses Phänomen katastrophisch im Sinne einer modernen Depotenzierung traditioneller philosophischer Kategorien wie Wahrheit, Geschlossenheit und Exaktheit: Welche tiefe und von ihren Urhebern offenbar noch gar nicht gewürdigte Skepsis liegt allein in der rasch zunehmenden Benützung abzählender, statistischer Methoden, die nur eine Wahrscheinlichkeit der Ergebnisse erstreben und die absolute Exaktheit der Naturgesetze, wie man sie früher hoffnungs192 193 194 195 196

[Spengler 1990, 541]. [Spengler 1990, 542]. [Spengler 1990, 541]. Ebd. Vgl. [Spengler 1990, 542].

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voll verstand, ganz aus dem Spiele lassen! Wir nähern uns dem Augenblick, wo man die Möglichkeit einer geschlossenen und in sich widerspruchslosen Mechanik endgültig aufgibt. [Spengler 1990, 539]

Publizistisch forciert konnte dieser Spenglersche Katastrophendiskurs nach 1933 leicht von nationalsozialistischen Autoren instrumentalisiert werden, um jüdische Naturwissenschaftler persönlich zu verunglimpfen und einen ideologischgeistesgeschichtlichen Gegensatz zwischen einer typisch ,jüdischen‘ und ,nordischen‘ Physik zu konstruieren;197 in einer rassistischen Hetzschrift, die in der 1936 neu gegründeten mathematischen Zeitschrift mit dem sprechenden Namen Deutsche Mathematik veröffentlicht wurde, bestreitet B. T. Thüring etwa vehement, dass Einsteins Relativitätstheorie eine produktive Erweiterung des physikalischen Wissens darstellt, die als Fortsetzung oder gar Verallgemeinerung der Konzepte Keplers und Newtons aufgefasst werden kann. Im Gegenteil müsse das relativistische Denken als „Kampfansage“198 an die „germanische“199 Tradition aufgefasst werden, da es „bewußt auf die Möglichkeit anschaulicher, unserem Geist angemessener Vorstellungen Verzicht leistet zugunsten einer rein symbolischen, mathematisch-formalistischen und unanschaulichen Naturdarstellung.“200 Der Verfasser parallelisiert diese Entwicklung im Bereich der modernen Physik mit dem „Kubismus in der bildenden Kunst und der melodie- und harmonielosen, rein rhythmischen Atonalität der Musik der vergangenen Jahre“201 und schließt daran einen für die kulturelle Wertung von Kontingenz in der durch den Nationalsozialismus schroff beendeten Klassischen Moderne aufschlussreichen Schlussappell an:202 „Nicht willkürlich dilettantische Weltsysteme und Vorstellungen hervorzaubern kann der Inhalt einer neuen, nationalsozialistischen Wissenschaft sein [. . .], sondern ehrfurchtsvolles Sichhineinversenken in die Natur selbst und ihre großen nordischen Forscher und Sinndeuter, um dort deutsches Wesen in herrlicher Fülle zu finden.“203 Der vom nationalsozialistischen Agitator beschworene „nordische“ ,Geist‘ konstituiert sich also in aggressiver Abhebung von all denjenigen kulturellen Entwicklungen, die im weiteren Sinne konstruktivistische Elemente haben, da sie nicht von einem fest vorgegebenen (und daher ,Ehrfurcht gebietenden‘), vom erkennenden Subjekt unabhängigen Naturkonzept ausgehen, sondern – gemäß einem Einsteinschen Diktum – die Wirklichkeit als 197

198 199 200 201 202 203

Für eine umfassende Analyse und Kritik der nationalsozialistischen und antisemitischen ,Interpretationen‘ der Relativitätstheorie vgl. [Hentschel 1990, 131ff.]. Unter dem Schlagwort „Fluch der modernen Physik“ beschäftigt sich [Könneker 2001] ausführlich mit dem Zusammenhang der modernen Naturwissenschaften und der NS-Ideologie. [Thüring 1936, 706]. [Thüring 1936, 709]. [Thüring 1936, 707]. [Thüring 1936, 710]. Speziell zum Verhältnis zwischen nationalsozialistischer Ideologie und künstlerischer Avantgarde vgl. [Plumpe 1995, 223ff.]. [Thüring 1936, 711].

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„nicht gegeben, sondern aufgegeben (nach Art eines Rätsels)“204 betrachten. Die nationalsozialistische Ideologie wendet sich also programmatisch gegen die durch katastrophische Diskurse emphatisch beschworene Kontingenz einer sich ins Unübersehbare diversifizierenden modernen Kultur und verfolgt damit vorgeblich das Ziel, den von Spengler prognostizierten „Untergang des Abendlands“ für einen – vermeintlich ausgezeichneten – Teil desselben durch eine ,Rückbesinnung‘ auf eine ideologisch übersteigerte und rassistisch purifizierte Tradition abzuwenden.

204

Albert Einstein: Bemerkungen zu den in diesem Bande vereinigten Arbeiten. P. A. Schilpp (Hg.): Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher. Stuttgart 1955. 505; zitiert nach [Held 1998, 243], wo sich auch eine eingehende Interpretation des Diktums vor dem Hintergrund der „Bohr-Einstein-Debatte“ zur Deutung der Quantenmechanik findet. Zum Zusammenhang von „Common-sense-Argumenten“ und Rassismus im Zusammenhang mit der Ablehung der Relativitätstheorie s. auch [Hentschel 1990, 86].

3 Poetologie der Statistik: Musils Werk im Kontext katastrophischer Deutungen der modernen Naturwissenschaft 3.1 Einleitung Zu den Hauptgründen der anhaltend intensiven literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit den Texten des österreichischen Schriftstellers Robert Musil gehört sicher das ungewöhnliche, vielfältige Ausbildungsprofil des Autors, das seine Werke und Figuren deutlich prägt.1 Wie Törleß, dessen „Verwirrungen“ Musil in seinem Erstlingsroman beschreibt, war er Zögling in verschiedenen Internaten, und wie bei Ulrich, dem „Mann ohne Eigenschaften“ in seinem gleichnamigen Roman-Fragment, mangelt es auch in seinem Leben nicht an „Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden“2 : Nach Abbruch der Offizierslaufbahn studierte Musil Technik in Brünn und war kurzzeitig an der Technischen Hochschule in Stuttgart tätig, promovierte aber schließlich nach einem Studium der Philosophie, Psychologie und Mathematik bei Carl Stumpf in Berlin über die Schriften Ernst Machs.34 Dies prädestiniert Musils Texte zum Untersuchungsgegenstand der im Zuge des cultural turn ,wissenspoetisch‘ rekonzeptualisierten Literaturwissenschaft, die das Verhältnis von Kunst bzw. Literatur zu nicht genuin ,geisteswissenschaftlichen‘ Diskursen (wie etwa Technik, Medizin, experimentelle Psychologie, Mathematik und Naturwissenschaft) ins Zentrum des kulturwissenschaftlichen Interesses gerückt hat.5 Abgesehen von einigen einschlägigen hermeneutisch-philologischen Versuchen wurde diese Entwicklung maßgeblich durch die literaturtheoretische

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Vgl. den Aufsatz von [Pott 1993’] sowie die weiteren Beiträge in dem von ihm herausgegebenen Band [Pott 1993]. [Musil 19781 , 35]. Vgl. dazu [Strutz 1993]. Im Folgenden verwende ich für den Mann ohne Eigenschaften, [Musil 19781 ], die Abkürzung MoE und weise Zitate aus diesem Werk im fortlaufenden Text nach. [Classen 1908, 83ff., hier 83] weist dem Werk Machs eine Schlüsselrolle für das Naturbild der Klassischen Moderne zu und betont zugleich, wie problematisch dessen Popularität ist: „Ernst Mach ist unter den mondernen Naturphilosophen derjenige, dessen Gedankengänge wohl am wenigsten sich eignen, populär verständlich gemacht zu werden, und doch ist er zugleich derjenige, der in wissenschaftlichen Kreisen zur Zeit sich in immer wachsendem Maße an Ansehen gewinnt.“ [Sebastian 2005, 10ff.] geht in seiner Monographie zur „intersection of science and literature“ im MoE insbesondere den biographisch induzierten Bezugsdiskursen nach. Von dieser Diagnose geht auch [Berger 2004, 21] aus; vgl. dazu ausführlich das vorangegangene Kapitel.

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Rezeption der von Foucault vorgeschlagenen Diskursanalyse6 und Derridas Konzept der Dekonstruktion7 vorbereitet, wobei inzwischen besonders Anleihen bei Luhmanns Systemtheorie zu einer Systematisierung der Grundüberlegungen beigetragen haben. Der in dessen soziologischen Schriften entwickelte Systembegriff fokussiert und problematisiert besonders klar die Fragestellung, in welchem Sinne verschiedene Subsysteme des Gesellschaftssystems (wie Kunst, Literatur, Ökonomie, Recht und Religion) untereinander kommunizieren können. Dies ist besonders in der Moderne relevant, da sich die Systemevolution durch eine historisch zunehmende funktionale Ausdifferenzierung auszeichnet, die das Prozessieren der Subsysteme immer systemspezifischer macht. Auf die Interdiskursivität von Musils Werk und insbesondere des MoE hinzuweisen, gehört seit langem zu den Gemeinplätzen der Forschung.8 Die Beschrei6

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Die ehrgeizigste wissenspoetische Analyse des Romans stellt die diskursanalytisch konzipierte Arbeit von [Kassung 2001] dar, der den MoE in der ,Wissensgeschichte‘ der Thermodynamik verorten will. Im Schlusskapitel formuliert er seine – für die vorliegende Untersuchung anregende – Sicht der poetologischen Grundkonzeption des Texts. Dieser betreibe „die Umverwandlung von unterschiedlichstem Wissen in die Reflexion auf dessen epistemologische Bedingungen. In exakt dieser Bewegung besteht die Poetologie des Romans. Dieser schreibt sich als die Dekonstruktion nicht-selbstreflexiven Wissens, als die Transformation von Positivitäten in deren Epistemologie, von ,literarischem‘ Wissen in dessen poetische Möglichkeitsbedingungen. Und insofern ist die Poetologie des ,Mannes ohne Eigenschaften‘ mit dessen Epistemologie – zumindest für den Bereich physikalischer Wissensstrukturen – vergleichbar.“ [Kassung 2001, 471]. Auch wenn der Verfasser hier den Terminus Dekonstruktion offenbar affirmativ verwendet, grenzt er seine auf Bachelard, Foucault und vor allem Serres rekurrierende Methodik scharf von Derridas Philosophie ab, die er für die Wissenspoetik vor allem aufgrund ihrer fundamentalen Ablehnung von Referenz- und Inhalts-Konzepten für weniger brauchbar hält. Gleichsam an der Schwelle zwischen traditioneller Philologie und den genannten postmodernen Theorieimporten steht die einflussreiche Arbeit von [Moser 1980], der den MoE als romangewordenes Konglomerat von „Diskursexperimenten“ liest. Er unterscheidet in Auseinandersetzung mit Roland Barthes und Michel Foucault „das Literarische“ von „anderen Diskursarten“ (ebd. 170ff.), plädiert aber dafür, deren Betonung von Subversion und ,An-Archie‘ – wofür das Literarische als Kreuzungspunkt unterschiedlicher Diskurstypen prädestiniert zu sein scheint – zugunsten einer präziseren Beschreibung diskursiver Mechanismen zunächst zurückzustellen. Für Musils Werk und besonders den MoE sei ein weit reichendes – doch bemerkenswerterweise vor allem positiv bewertetes – historisches Krisenbewusstsein und das damit verquickte Problem literarischer Reaktionsmöglichkeiten von grundlegender Bedeutung (ebd., 173). Angesichts seines Essayismus-Konzepts wird der plot des Romans nebensächlich: Der Text werde zum Feld „interdiskursiven Experimentierens“ (ebd., 177) und entledige sich so traditioneller Mimesisgebote. An diese diskursanalytischen Grundbestimmungen werde ich wie die überwiegende Mehrzahl der heutigen Musil-Forscher anknüpfen, den Text aber vor allem auf seine (selbst interdiskursive) poetologische Motivation dieses Verfahrens befragen. Dadurch gerät ein deutlicher Bruch in Musils Wissenspoetik in den Blick, den Moser wie viele andere übersieht, da er Ulrichs Positionierung im diskursiven Gewebe der modernen Wirklichkeit weitgehend unhinterfragt als maßgeblich auffasst („seine maximale Disponibilität macht ihn zum Experimentator, zum Essayisten par excellence“, ebd., 186). Für eine überzeugende Kritik an dieser Privilegierung des Protagonisten vgl. [Arntzen 1983, 163f.]. Einen wichtigen Beitrag zur Applikation (bzw. zur Frage nach der Applizierbarkeit) diskurstheoretischer Ansätze auf Musils Texte hat [Honold 1995, insb. 331ff.] geleistet. Vgl. dazu die instruktive Einleitung von [Kümmel 2001] sowie [Könneker 2001], [Moser 1980, 172] und [Baumann 1981].

Einleitung

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bung des Romans als ,Interdiskurs‘ ist jedoch zu pauschal, um für eine Lektüre anregend sein zu können, die sich nicht mit einer nacherzählenden Deutung einiger darin enthaltener Versatzstücke unterschiedlicher wissenschaftlich-diskursiver Provenienz begnügen will. Deutlich treffender ist es, den MoE als eine – Foucault oder Barthes in vielem vorgreifende – (Inter-)Diskurs-Analyse zu qualifizieren, da seine wissenspoetische Praxis mit zahlreichen Ansätzen zu wissenspoetologischen Theorien verbunden wird. Gleichwohl muss (im Fall des MoE schon aufgrund des enormen Umfangs und der für einen literarischen Text außergewöhnlichen Reflexionsdichte) jede Interpretation, die ,die‘ Bedeutung bestimmter Diskurse oder Wissenschaften erfassen will, hinter deren analytisches ebenso wie subversives Potential zurückfallen, führt der Text doch ganz unterschiedliche, heterogene Modelle von integrativem und desintegrativem Umgang mit dem Wissen der Moderne vor.9 Für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung ist dies von besonderer Bedeutung, da Kontingenz im Œuvre des österreichischen Autors explizit als epistemologische und ästhetische Kategorie verhandelt wird, deren Wahrnehmung stark von interpretatorischen Prämissen und – sowohl auf der Ebene der erzählten Realität als auch auf der Seite der Rezipienten – vom Beobachtungsmodus abhängt.10 So wird jeder Leser des MoE mit der Grundproblematik konfrontiert, wie mit dem darin inszenierten komplexen Verhältnis verschiedener Beobachterpositionen umgegangen werden kann, denen gänzlich heterogene Konzepte von Wirklichkeit, Narration, Wissen und Kultur korrespondieren;11 auf der Mikroebene legt der Text zwar – durch ironische Akzentuierungen –12 häufig recht klare Hierarchien nahe, doch die so gewonnenen Resultate lassen sich in größere Zusammenhänge oft nur unbefriedigend einordnen.13 9 10 11

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Vgl. im Gegensatz dazu die Position von [Berger 2004, 68]. Vgl. [Dillmann 2009, 198ff.]. Für eine aktuelle narratologische Studie vgl. [Glander 2005]; die Verfasserin beschäftigt sich in einem kurzen Abschnitt mit Kontingenz (vgl. [Glander 2005, 54ff.]), erörtert dabei aber anhand programmatisch-reflexiver Passagen vor allem Musils kritisch-ablehnende Haltung gegenüber traditionellen Kausalitätskonzepten. Für ausführliche Bezugnahmen zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund vgl. [Sebastian 2005, 60ff.]. Vgl. zur „Ironie als Paradox“ im MoE [Berger 2004, 178ff.]. Bei [Kümmel 2001, 308f.] findet sich eine amüsante Beschreibung dieses auf die Komposition des Texts zurückgeführten Dilemmas: „Das Hin- und Herblättern, zu dem diese Montage den Leser nötigt, erzeugt netzwerkartige Verknüpfungen und ihr Zusammenhalt wird nun Gegenstand halluzinatorischer Imagination, m.a.W., nicht Szenen einer Handlung, sondern die Ordnung selbst wird als Fata Morgana sichtbar. Der Anreiz, Ideen, Bilder, Worte zueinander in Beziehung zu setzen, führt dazu, immer mehr Analogien ausfindig zu machen. Auf diese Weise entsteht eine zunehmend assoziative Bahn rund um ein imaginäres Zentrum. Daß es leer ist, verstärkt seine Anziehungskraft sogar. Einmal auf dieser Bahn befindlich, stabilisieren sich die Ähnlichkeiten wechselseitig, jede Betrachtung enthüllt neue, die es möglich machen, schließlich einfach alle Teile des Romanganzen auf potentielle Analogisierbarkeiten abzutasten. So entstehen MoEDissertationen. Und der Text liefert gleich auch die Garantie dafür, daß ihrer kein Ende sein wird, denn jede Lektüre enthüllt, daß das Attraktionszentrum leer ist. Weist einen niemand anders darauf hin, stellt man es selbst beim Wiederlesen fest – irgendetwas fängt an, querzuschlagen, aus der Reihe zu springen, zu stören, sich nicht länger gefügig zu zeigen. Gleichzeitig mit diesem Gefühl entsteht auch der Eindruck, daß da ein anderer Bezugspunkt sein müsse, um den der Roman

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Poetologie der Statistik

Gerade diskursanalytisch, dekonstruktivistisch oder systemtheoretisch orientierte Deutungen weisen diesbezüglich (nur scheinbar paradoxerweise) oft blinde Flecken auf, da sie in Gefahr geraten, sich der vom Erzähler und Ulrich bestimmten Sicht, die den eigenen theoretischen Prämissen nahe steht, kurzerhand anzuschließen. Es gilt also im Auge zu behalten, dass auch ein Weltbild, das die Wirklichkeit als bloßes Konstrukt und Kontingenz als Letzthorizont betrachtet, unter zahlreichen anderen nur eine mögliche Beobachtungsform darstellt.14 Im Folgenden werde ich zeigen, wie sich Musils Werk in die im vorigen Kapitel beschriebenen Kontexte katastrophischer Interpretationen der modernen Naturwissenschaften einordnen lässt. Im Sinne der dort angestellten wissenspoetischen Überlegungen geht es dabei nicht (oder nur am Rande) um die literarische Repräsentation bestimmter wissenschaftlicher ,Inhalte‘. Schon Kümmel übt überzeugende Kritik an den in der Forschung immer wieder reproduzierten inhaltlichen Vergleichen zwischen Romantext und „Relativitätstheorie und Quantenmechanik“15 , wenn er deutlich macht, dass Musil mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine substantiellen Kenntnisse davon gehabt haben kann: „Musil war – trotz aller Begeisterung über den ,mathematischen Menschen‘ – kein Grundlagenforscher, sondern Ingenieur, Techniker.“16 Will man die Frage nach den Relationen von Musils Texten und diesen zeitgenössischen Kontexten in ihrer vollen Komplexität stellen, muss man also zwangsläufig die einschlägigen Deutungsdiskurse und ihre semantische Struktur als Bezugspunkte wählen, statt vage ,direkte‘ Korrespondenzen zwischen prominenten Resultaten der modernen Physik (wie der

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sich organisiert. Und erneut greift Paranoia um sich –“. Dagegen kann man zwar einwenden, moderne philologische Ansätze hätten die Suche nach einem Gesamtsinn literarischer Texte längst aufgegeben, doch der Reiz des MoE besteht, wie Kümmel zurecht ausführt, in der Tat gerade im Wechselspiel von monumentalem Sinn-Versprechen und – ebenso monumentalem – Sinn-Entzug, dem man sich als Leser kaum entziehen kann. Vgl. dazu auch [Berger 2004, 15f.]. Den hier skizzierten Vorwurf kann man etwa dem Beitrag von [Baumann 1981] machen, der das Werk Musils insgesamt theologisierend liest und so – gerade durch seine Übereinstimmung mit den kritischen Positionen des Texts und aufgrund von deren Korrespondenzen zu bestimmten Positionen der ,Postmoderne‘ – die Differenzen aus dem Blick verliert, anhand derer diese ihren Sinn konstruieren. Ähnliches gilt für manche Passagen der Entropiegeschichten von [Kassung 2001]: Der Verfasser erliegt – freilich auf einer beeindruckenden inter- und transdisziplinären Grundlage – aufgrund seines postmodernen Methodenarsenals gelegentlich der Versuchung, den im Roman inszenierten Kampf der Moderne mit sich selbst und (vermeintlichen) Gegnern nicht nur zu beschreiben, sondern selbst in emphatischer Weise die als modern betrachtete Position einzunehmen und als ,richtig‘ zu verteidigen, insbesondere wo er deren Konvergenz mit den physikalischen Neukonzeptualisierungen der Thermodynamik behauptet; vgl. etwa ebd. 347, 366, 400, 411, 444. Beispielhaft ist etwa die (thermodynamisch hergeleitete) Identifikation des „Möglichkeitssinns“ und der „Eigenschaftslosigkeit“ mit einer ,angemessenen‘ Sicht der modernen Wirklichkeit: „Eigenschaftslos heißt physikalisch reformuliert: Die Welt ist komplex, sie inter(re-)feriert; die Störungen sind das Wesentliche. Weil es somit nicht mehr möglich ist, von geschlossenen Systemen oder linearen Ordnungen zu sprechen, ist Eigenschaftslosigkeit genau diejenige Eigenschaft, die einer solchen, naturwissenschaftlichen Bestandsaufnahme des 20. Jahrhunderts am angemessensten ist.“ [Kümmel 2001, 16]. S. dazu auch [Balibar 2002, 46]. [Kümmel 2001, 16].

Einleitung

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Heisenbergschen Unschärferelation) und dem literarischen Text zu postulieren. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird daher die epistemologische und narratologische Bedeutung dieser interdiskursiven Zusammenhänge fokussiert. Grundsätzlich ist diesbezüglich zu beobachten, dass sich Musils Texte gegen ihren eigenen Status als literarische Werke richten, indem sie zahlreiche ,nichtliterarische‘ Diskurse aufnehmen, in semantische Bewegung bringen und zugleich in bemerkenswerter und oft eigenwilliger Form Diskursanalysen, Dekonstruktionen und Systemtheorien avant la lettre entwickeln. Die etwa im Zusammenhang mit mathematischnaturwissenschaftlichen Diskursen – deren konstitutive Bedeutung für die Moderne die Texte nicht nur konstatieren, sondern oft zelebrieren – betriebene literarische Selbstreflexion wendet sich insbesondere gegen zeitgenössische Versuche, Kultur und Kunst in simpler Form als „Restbestand von Rationalisierungsprozessen [. . .] oder [. . .] Remedium gegen deren Folgeschäden“17 zu profilieren. Musils Texte operieren oft im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung, postulieren also die unhintergehbare Kontingenz jeglicher (vermeintlich noch so festen und verbindlichen) Sinnstiftung. Weite Teile von Musils magnum opus sind vom fundamentalen Antagonismus einiger (auf Kontingenzbewältigung bedachter) Verfechter von Einheit, Ordnung und homogener kultureller Identität und dem Protagonisten Ulrich bestimmt, der – inspiriert vom statistisch-naturwissenschaftlichen Diskurs – Kontingenz als epistemischen Letzthorizont der modernen Realität anerkennt und in Komplizenschaft mit dem Erzähler die einschlägigen Bewältigungsbemühungen anderer als Belege eines ,Geists‘ des „primitiv Epische[n]“ (MoE, 650) bewertet.18 Nicht nur theologisch-metaphysische Vergewisserungs-Strategien werden – im Gefolge Machs und Nietzsches19 – in dieser Poetologie der Statistik, die Gegenstand dieses Kapitels sein wird, als solche entlarvt. Gerade auch jegliches emphatisch-irrationalistische Vertrauen auf die Originalität und Bedeutsamkeit des Emotionalen bzw. Affektiven wird dabei in seiner Diskursivität herausgestellt. Ich wende mich nun aber zunächst der Novelle Die Amsel aus dem Nachlaß zu Lebzeiten20 zu, da diese als Nukleus der zuvor umrissenen Poetologie des Wissens gelesen werden kann, die Musils Œuvre prägt.21

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[Koschorke 2004, 179]. Vgl. [Berger 2004, 104f. u. 162]. Vgl. dazu grundlegend [Dresler-Brumme 1987] sowie [Gies 2003]. Für eine ausführliche Bibliographie zur Amsel s. die Monographie von [Hake 1998] zu den Texten aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt [Eibl 1982] in seiner Deutung der Novelle, der die vorliegende Untersuchung wesentliche Anregungen verdankt.

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3.2 Statistik und Beobachtung zweiter Ordnung in Musils Erzählung Die Amsel Musils – verglichen mit dem MoE recht überschaubare – Erzählung Die Amsel ist in auffallender Weise22 von Versatzstücken statistisch-nachrichtentechnischer Diskurse23 geprägt, die – darin durchaus an Spengler anschließend – als ,Geist‘ der modernen Naturwissenschaft präsentiert werden. Schon die lakonische Benennung der beiden Figuren im ersten, metapoetischen Satz der Novelle („nennen wir sie Aeins und Azwei“24 – eigentlich eine Durchnummerierung) belegt die statistisch-wissenschaftlichen Tendenzen des Texts:25 Statt literarisch gebräuch22 23 24 25

Vgl. [Siegert 1993] und [Vatan 2000]. Zur Diskussion des Diskursbegriffs an der Schnittstelle zwischen Literatur und Naturwissenschaft im Hinblick auf Musils Werk vgl. ausführlich [Kassung 2001, 64ff.]. [Musil 19782 , 548]. Gerade der erste Satz der Novelle, der zunächst kaum literarischen Konventionen zu folgen scheint, weist freilich Goethes Wahlverwandtschaften – ursprünglich ebenfalls als Novelle konzipiert – als Intertext aus. Auch Goethes Text markiert schon im ersten Satz die narrative Bedeutung von Kontingenz durch ein programmatisches Nicht-Verbergen des Benennungsakts („Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter [. . .]“ [Goethe 1998”, 242]) und entfaltet ein komplexes Buchstaben- und Zeichen-Spiel mit den Figuren(namen). In einem ausführlichen (und sehr berühmten) Dialog setzen sich die Figuren (als Wissenspoetologen avant la lettre) mit der Frage nach der Übersetzbarkeit zwischen Erkenntnissen der zeitgenössischen Chemie und zwischenmenschlichen Beziehungen auseinander (vgl. dazu den von [Brandstetter 2003] herausgegebenen Band). Eduard warnt seine Gattin zunächst vor einer allzu unmittelbaren Übersetzung: „Hier wird freilich nur von Erden und Mineralien gehandelt, aber der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter.“ [Goethe 1998”, 270] Schließlich fasst der Hauptmann aber die chemische Theorie in der Hoffnung, „daß es nicht pedantisch aussieht“ [Goethe 1998”, 276], in der „Zeichensprache“ zusammen: „Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu D, C zu B werfen, ohne daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem anderen zuerst verbunden habe.“ (Ebd.) Nun überwindet Eduard seine eingangs geäußerten Bedenken und schlägt vor, „diese Formel als Gleichnisrede“ zu betrachten, „woraus wir uns eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen. Du stellst das A vor, Charlotte, und ich dein B; denn eigentlich hänge ich doch nur von dir ab und folge dir wie dem A das B.“ (Ebd.) Eduard plädiert – angesichts seiner baldigen Abwesenheit – dafür, Ottilie einzuladen, die dann die Position des D einnehmen, sich also an seiner Stelle mit Charlotte ,verbinden‘ könnte. Charlottes Einwand, dass „das Beispiel [. . .] nicht ganz auf unsern Fall paßt“ (ebd.), deutet klar darauf hin, dass diese Gleichnisrede im Roman nicht in ganz so harmloser Form bedeutsam werden wird, sondern bereits den kommenden doppelten Ehebruch vorzeichnet. Ebenfalls anhand eines Buchstaben-Spiels interpretiert der Protagonist Eduard im weiteren Romanverlauf bestimmte Ereignisse, die ein ,neutraler‘ Beobachter (als ein solcher wird Aeins in der Amsel präsentiert) als zufällig bzw. bedeutungslos betrachten würde, analog zu Azwei als schicksalhafte, zutiefst bedeutsame Erlebnisse. Der Erzähler berichtet etwa von der ,Rettung‘ eines Glases, das für Eduard angefertigt worden war und seine Initialen EO trägt: „Dort hinauf flog das Glas und wurde von einem aufgefangen, der diesen Zufall als ein glückliches Zeichen für sich ansah. Er wies es zuletzt herum, ohne es aus der Hand zu lassen, und man sah darauf die Buchstaben E und O in sehr zierlicher Verschlingung eingeschnitten.“ [Goethe 1998”, 303] Der Buchstabe O steht in Eduards Deutung nun nicht mehr für seinen eigenen Zweitnamen, sondern für Ottilie. Diese Form der eigensinnigen Providenz-Konstruktion bzw. Kontingenzreduktion geht ebenso wie Azweis spätere Interpretationen seiner Erlebnisse mit

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licher Namen wird eine Bezeichnungsweise gewählt, die beim Formulieren mathematischer Aussagen üblich ist, wenn zwei verschiedene Objekte (z.B. Vektoren) eines gemeinsamen Objektbereichs (z.B. Vektorraum) thematisiert werden sollen.26 Der Aspekt der Nummerierung dementiert die Individualität der Personen und macht sie nominell zu ,Daten‘. Azwei wird als Binnenerzähler eingeführt, der seinem Jugendfreund Aeins eine Sequenz von drei ,Geschichten‘ erzählt, dabei aber immer wieder die Legitimität seiner narrativen Komposition infragestellt. In der Tat sind die drei Episoden ,inhaltlich‘ zunächst nur lose miteinander verbunden bzw. haben gar keine klaren ,Inhalte‘. Durch diese Dopplung der Erzähler- bzw. Beobachter-Instanz wird die Novelle zugleich zu einem Metatext, der die literarische Kommunikationssituation zwischen Erzähler und Rezipient im Figurenensemble abbildet und die Beobachter- und Interpretationsabhängigkeit der Wirklichkeit reflektiert. Passend zur Benennungspraxis des Erzählers trägt Azweis Narration zunächst nüchtern-statistische Züge. Der Ich-Erzähler folgt einer Ästhetik distanzierter Beobachtung, die traditionellen Formen der Sinnstiftung und christlich-religiös grundiertem Providenzdenken äußerst skeptisch gegenübersteht. In der ersten explizit poetologischen Aussage der Novelle wird die Kontingenz von Azweis Erzählung deutlich herausgestellt: Der Protagonist erzähle „das nun Folgende in der Art, wie man vor einem Freund einen Sack mit Erinnerungen ausschüttet, um mit der leeren Leinwand weiterzugehen“27 . Azweis Bewusstsein wird hiermit als Daten-Speicher („Sack mit Erinnerungen“) qualifiziert, doch die erzählerische Wiedergabe der „Erinnerungen“ wird nicht als kommunikative Übermittlung eines wohlgeordneten, sinnhaltigen Datensatzes, sondern als Löschungsvorgang gekennzeichnet, der das Bewusstsein wieder in eine „leere[] Leinwand“, eine tabula rasa verwandelt. Im Vorspann, in dem die bisherigen Lebenswege der Protagonisten umrissen werden, gibt der Erzähler wichtige Hinweise zur Genese dieses statistisch-kontingenzbewussten narratologischen Konzepts. Als Internats-Zöglinge betätigen sich Aeins und Azwei schon früh als Beobachter zweiter Ordnung. Ihre Erziehung, in deren Rahmen religiösen Prinzipien „gebührende[r] Nachdruck“28 verliehen wird, betrachten sie als Programmierungsversuch,29 mit dem sie auf feste Beobachtungsweisen eines (eigentlich kontingenten)

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einer Theologisierung einher. Diese Hinweise auf den intertextuellen Bezug zu Goethes Roman (sowohl im Hinblick auf die Wissenspoetik als auch auf das Kontingenzproblem; vgl. zu letzterem den Aufsatz von [Brandstetter 1995] und dazu die Einleitung der vorliegenden Studie) mögen genügen, um deutlich zu machen, wie bezugreich die darin angestellten poetologischen bzw. narratologischen Erörterungen sind. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Sätze wie der folgende in mathematischen Formulierungen von Aussagen oder Beweisen üblich: ,Sei V ein Vektorraum, und seien a1 und a2 zwei verschiedene Vektoren in V .‘ [Musil 19782 , 543]. [Musil 19782 , 548]. Zur Bedeutung und zum Konzept der „Programmierung“ in Musils Leben und Werk vgl. [Kümmel 2001, 26ff.]: Der Verfasser liest Musils Erziehungs- und Ausbildungs-Erlebnisse beim Militär und an verschiedenen (Hoch-)Schulen als Programmierungsprozesse, beschreibt, „[w]ie

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Wertesystems festgelegt werden sollen, und setzen entsprechend „ihren ganzen Ehrgeiz darein, nichts davon zu halten“30 . Das für die Moderne charakteristische Kontingenzbewusstsein wird so zunächst negativ als entschiedene Ablehnung traditioneller Formen der Sinnstiftung (und der entsprechenden auf Einheit, Kohärenz und Sinntotalität zielenden Narrationsmodi) bestimmt.31 Dieser Hang zur Subversion wird durch die akademische Ausbildung und Prägung der beiden Figuren noch verschärft: Die beiden Freunde werden Anhänger einer [. . .] materialistische[n] Lebenserklärung [. . .], die ohne Seele und Gott den Menschen als physiologische oder wirtschaftliche Maschine ansieht, was er ja vielleicht auch wirklich ist, worauf es ihnen aber gar nicht ankam, weil der Reiz solcher Philosophie nicht in ihrer Wahrheit liegt, sondern in ihrem dämonischen, pessimistischen, schaurig-intellektuellen Charakter. [Musil 19782 , 549]

In dieser Passage wird en passant darauf hingewiesen, dass (insbesondere dezidiert ,modernes‘) Wissen für die Zöglinge – und damit den fiktionalen Erzähler Azwei – nicht primär von epistemischer,32 sondern vor allem von ästhetischer Bedeutung ist.33 Im Anschluss an diesen Befund werde ich im Folgenden weniger nach einer inhaltlich bestimmbaren ,Grundüberzeugung‘ suchen, sondern stattdessen zeigen, mit welchen narrativen Mitteln und anhand welcher epistemologischen und poetologischen Reflexionen Musils Texte die Bedingungen der Welt- und Wirklichkeitsbeobachtung, d.h. die ,Produktion‘ von Inhalten ergründen.34 Es wird sich zeigen, dass nicht nur Aeins und Azwei, sondern auch Ulrich, der Protagonist des MoE – und dessen Erzähler – der in der Textstelle angedeuteten modernen Ästhetik der Dämonie, des Pessimismus und Intellektualismus folgen, die keinerlei feste oder vorgegebene Ordnungen als verbindlich anerkennt. Entsprechend übersetzen sie wissenschaftliche Resultate (etwa der Physiologie oder Wirtschaftswissenschaft), die traditionelle Formen der kulturellen Ordnungsstiftung – in obiger Passage etwa die humanistische Anthropologie – konterkarieren und so komplexitätssteigernd

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aus solcher Programmierung Musils Texte, vor allem Der Mann ohne Eigenschaften, emergieren“ (ebd., 11) und „lässt sich von den verschiedenen Berufen Musils irritieren, die in aller Divergenz immer wieder auf einem Wissenstableau von Steuerung, Regelung, Lenkung, Ordnung, kurz, Organisation zueinanderfinden“ (ebd.). [Musil 19782 , 548]. Vgl. zur Bedeutung von „Beobachtungsverhältnissen“ im Werk Musils auch [Berger 2004, 138ff.]. Zur Konjunktur des Materialismus in den (Natur-)Wissenschaften seit dem späten 19. Jahrhundert und den erkenntnistheoretischen Konsequenzen vgl. z.B. [Classen 1908, 29f.]. Damit ist die Problematik angedeutet, inwiefern es überhaupt berechtigt oder sinnvoll ist, in Musils (und allgemeiner: in literarischen) Texten auf ,inhaltlicher‘ Ebene nach epistemischen Konzepten zu fahnden; vgl. für einen einschlägigen Versuch [Wallner 1983]. Ich teile damit die Grundposition von [Glander 2005, 9]; vgl. diese Monographie für bibliographische Angaben und einen Forschungsbericht zum Problemkomplex Narratologie und Mimesis. In seiner Einführung in die Romananalyse verleiht [Bode 2005, VIII] einem ähnlich lautenden Postulat mit einem Wort Nabokovs aus Strong Options Nachdruck: „By all means place the ,how‘ above the ,what‘.“

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wirken, in Narrative, die die Tradition – auch die literarische – und ihren Sinnstiftungsimpetus subvertieren.35 36 Das so entstehende moderne Weltbild bleibt inhaltlich konsequenterweise weitgehend leer, da es in radikaler Weise die Kontingenz und Diskursivität jeglicher Einsicht und Aussage, aber auch sämtlicher emotionaler Äußerungen herausstellt, ohne überhaupt noch an einem fassbaren, nicht-kontingenten oder nichtdiskursiven Substrat interessiert zu sein.37 Mit Benn lässt sich dieses anthropologische Konzept auf den Einfluss Nietzsches zurückführen: Nietzsche, sehen wir heute, inaugurierte [. . .] den Menschen mit dem „Verlust der Mitte“, die man romantisch wieder zu erwecken sucht. Der Mensch ohne moralischen und philosophischen Inhalt, der den Form- und Ausdrucksprinzipien lebt. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, der Mensch habe noch einen Inhalt oder müsse einen haben. Der Mensch hat Nahrungssorgen, Familiensorgen, Fortkommenssorgen, Ehrgeiz, Neurosen, aber das ist kein Inhalt im metaphysischen Sinne mehr. Das ist nicht mehr der Animismus der frühen Stufen, der in magischer Verbundenheit mit der Natur und ihren bildenden Kräften im Menschen selber noch Kräfte und Verwandlungen bewog. Dieser beschwörende Mensch ist nicht mehr da. Es ist überhaupt kein Mensch mehr da, nur noch seine Symptome. [Benn 1991, 207]

Vor allem die ersten beiden ,Episoden‘ von Azweis ,Geschichte‘ beginnen jeweils mit Szenarien, die dieser dämonisch-desemantisierenden Ästhetik verpflichtet sind. Mit dem Gestus eines wissenschaftlich-distanzierten Beobachters zeichnet der erzählende Protagonist nach, wie sich die Individualität des Einzelnen in 35

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Hierin unterscheidet sich Musils Wissenspoetik von der Goethes und profiliert ihre Modernität in Absetzung von klassisch-romantischen Grundpositionen: Die „Gleichnisrede“ aus den Wahlverwandtschaften geht noch von einer inhaltlichen Beziehbarkeit (natur-)wissenschaftlicher Resultate und recht konkreter sozialer Phänomene aus. Die ,Natur‘ ist anthropomorph konzipiert, den an physischen bzw. chemischen Prozessen beteiligten Substanzen werden Intentionalität und charakteristische Qualitäten unterstellt. In der Moderne erscheinen solche inhaltlichen Analogien zunehmend illusionär, schon weil naturwissenschaftliche Ergebnisse auf abstrakter epistemischer Basis und in mathematischer ,Sprache‘ formuliert werden. Die Grundstruktur der Auseinandersetzung der Zöglinge mit der klerikalen Autorität reflektiert den neuzeitlichen Säkularisierungsprozess und seine Folgen für die kulturelle Semantik, wie [Heisenberg 1959, 190f.] sie am Fall Galilei darstellt: „Der berühmte Prozeß gegen Galilei wegen seines Eintretens für das Copernikanische System bezeichnete den Beginn eines Kampfes, der über ein Jahrhundert gedauert hat. In diesem Streit konnten die Vertreter der Naturwissenschaft geltend machen, daß die Erfahrung eine unbestreitbare Wahrheit enthält, daß es nicht irgendeiner menschlichen Autorität überlassen bleiben kann, zu entscheiden, was wirklich in der Natur geschieht, sondern daß diese Entscheidung durch die Natur oder in diesem Sinne durch Gott selbst getroffen wird. Die Vertreter der überlieferten Religion andererseits konnten sagen, daß wir dann, wenn wir unsere Aufmerksamkeit zu sehr auf die materielle Welt, auf das sinnlich Wahrnehmbare richten, die Verbindung mit den wesentlichen Werten des menschlichen Lebens verlieren, nämlich eben mit jenem Teil der Wirklichkeit, der jenseits der materiellen Welt liegt. Diese beiden Argumente treffen sich nicht, und daher konnte das Problem nicht durch irgendeine Art von Übereinkommen oder Entscheidung gelöst werden.“ Vgl. dazu [Moser 1980, 177f.].

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der Moderne vollständig auflöst.38 Die Poetologie der Statistik weist Schicksalhaftigkeit als metaphysisch oder religiös grundiertes Phantasma ab und betont Regularitäten, die außerhalb des subjektiv Wahrnehmbaren liegen, aber dennoch nicht als transzendent aufgefasst werden können.39 Entsprechend plausibilisiert und radikalisiert der statistische Diskurs die Rede vom Tod bzw. Ende des Subjekts in der Moderne.40 Musils Texte zelebrieren dieses Epochenmerkmal immer wieder im Rahmen epistemologischer und poetologischer Reflexion und folgen darin Bachelards Interpretation der modernen Naturwissenschaft als produktiver Kontingenzkultur:41 Dieser betont, das zeitgenössische wissenschaftliche Denken sei vor allem mit dem Problem „der Aufnahme dieser Vorstellungen von den Gesetzen des Zufalls, von statistischen Beziehungen zwischen Phänomenen ohne reale Beziehung“42 beschäftigt, wodurch die traditionelle Unterscheidung von Subjekt und Objekt obsolet werde: „Über dem Subjekt und jenseits des unmittelbaren Objekts gründet die moderne Wissenschaft im Projekt. Im wissenschaftlichen Denken nimmt das Denken des Objekts durch das Subjekt stets die Form des Projekts an.“43 Azweis Erzählung beginnt mit einer beinahe soziologischen Schilderung des ,Lebensgefühls‘ in einer Berliner Mietskaserne um 1900, deren Bewohner aus Sicht des Erzählers schon durch die gleichförmige architektonische Gestaltung der Wohnungen ihrer Individualität beraubt sind, da diese sie auf homogene Wahrnehmungsmodi festlegt. Azwei betätigt sich dabei aber weniger als Sozialkritiker denn als engagierter Statistiker. Er gibt Aeins gegenüber zu, „daß etwas Gewaltiges in dieser Regelmäßigkeit liegt [. . .]“44 , und nimmt für sich selbst die Rolle eines Beobachters zweiter Ordnung in Anspruch, der die baulichen Determinismen umgehen kann: „Ich bin einmal auf einen Schrank geklettert, nur um die Vertikale auszunutzen, und kann sagen, daß das unangenehme Gespräch, das ich zu führen hatte, von da ganz anders aussah.“45 Azwei beschreibt die Konstitution von Persönlichkeit als Resultat einer diskursiv bedingten Determination der Wahrnehmungsformen:46 38

39 40 41 42 43 44 45 46

Ich verzichte hier und im Folgenden auf die – bereits mehrfach – überzeugend und umfassend geleistete Aufarbeitung der Rolle Ernst Machs, dessen Werk Gegenstand von Musils Dissertation ist und die Literatur der Klassischen Moderne – insbesondere durch das dank Bahr bekannt gewordene Postulat der ,Unrettbarkeit des Ich‘ entscheidend beeinflusst hat; vgl. [Mach 1991, 20] und dazu exemplarisch [Sebastian 2005, 10ff.] und [Gies 2003]. Für eine zeitgenössische Darstellung s. [Classen 1908, 100f.]. Vgl. zum „Gesetz der großen Zahl“ [Kassung 2001] und [Könneker 2001, 61ff.]. Für eine entsprechende Erörterung der narratologischen Konsequenzen im Kontext dieser Debatte vgl. [Moser 1980, 183]. Vgl. dazu ausführlich den entsprechenden Abschnitt des fünften Kapitels der vorliegenden Arbeit. [Bachelard 1988, 116]. [Bachelard 1988, 17], Hervorh. im Original. [Musil 19782 , 550]. Ebd. Vgl. für eine ausführliche Herleitung vor dem Hintergrund Foucaultscher Theoreme [Makropoulos 1997, 33ff.].

Musils Erzählung Die Amsel

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Etagenweise sind die Ehebetten übereinander geschichtet; denn alle Schlafzimmer haben im Haus die gleiche Lage, und Fensterwand, Badezimmerwand, Schrankwand bestimmen den Platz des Bettes fast auf den halben Meter genau. Ebenso etagenweise türmen sich die Speisezimmer übereinander, das Bad mit den weißen Kacheln und der Balkon mit dem roten Lampenschirm. Liebe, Schlaf, Geburt, Verdauung, unerwartete Wiedersehen, sorgenvolle und gesellige Nächte liegen in diesen Häusern übereinander wie die Säulen der Brötchen in einem Automatenbüfett. Das persönliche Schicksal ist in solchen Mittelstandswohnugen schon vorgerichtet, wenn man einzieht. Du wirst zugeben, daß die menschliche Freiheit hauptsächlich darin liegt, wo und wann man etwas tut, denn was die Menschen tun, ist fast immer das gleiche: Da hat es eine verdammte Bedeutung, wenn man auch noch den Grundriß von allem gleich macht. [Musil 19782 , 548]

Die für die industrielle Moderne charakteristische automatisierte Genese der Lebensumstände – sei es bei der Ernährung aus dem „Automatenbüfett“, sei es bei der gleichförmigen Gestaltung der Wohnräume – überträgt sich auf das Bewusstsein der modernen Individuen: „Freiheit“ und „Schicksal“ der Bewohner werden zu illusionären Begriffen, da die Individualität der ,Lebenswege‘ letztlich nur noch aus der kombinatorisch hohen Zahl der Möglichkeiten resultiert, ein vorgegebenes Muster konkret zu realisieren. In ähnlicher Form analysiert Azwei seine Kriegserlebnisse (zunächst) mit statistischer Nüchternheit: „Jeden Tag holt sie sich ihre Opfer, einen festen Wochendurchschnitt, soundsoviel vom Hundert, und schon die Generalstabsoffiziere der Division rechnen so unpersönlich damit wie eine Versicherungsgesellschaft. Übrigens man selbst auch. Man kennt instinktiv seine Chance und fühlt sich versichert, wenn auch nicht gerade unter günstigen Bedingungen.“47 Den militärstrategischen Nutzen der „Fliegerpfeile“ beurteilt der Protagonist analog: „[T]rafen sie den Schädel, so kamen sie wohl erst bei den Fußsohlen wieder heraus, aber sie trafen eben nicht oft, und man hat sie bald wieder aufgegeben.“48 Damit werden zwei zentrale kulturgeschichtliche Konstruktionen von Individualität für die Moderne verabschiedet. Weder stellen Lebensraum und Wohnung eine ,Privatsphäre‘ dar, noch können sich einzelne Soldaten im Krieg als ,Helden‘ bewähren. Implizit wird so die narratologische Frage aufgeworfen, wer in der Moderne überhaupt noch von wem oder was erzählen kann oder sollte, wenn Sinnstiftung und Bedeutungskonstitution sich nicht im Horizont menschlicher Intentionalität vollziehen, doch ebenso wenig von einer transzendenten Instanz reguliert zu sein scheinen. Im Folgenden werde ich zeigen, wie der MoE – von ähnlichen epistemisch-poetologischen Grundproblemen der modernen Kultur und Literatur ausgehend – eine Poetologie der Statistik entwirft, die mit viel Liebe zum DatenDetail im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung unterschiedliche Formen der 47 48

Vgl. [Musil 19782 , 555]. Ebd.

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Ordnungsstiftung nachzeichnet und nicht müde wird, deren Kontingenz auszustellen.

3.3 Poetologie der Statistik: Der Mann ohne Eigenschaften als diabolisches Liebesgedicht der Moderne Im 40. Kapitel von Musils monumentalem Romanfragment wird Ulrich, der sich von seinen Freunden gerne als „Mann ohne Eigenschaften“ bezeichnen lässt und nach drei nicht restlos zufriedenstellenden Versuchen, „ein bedeutender Mann zu werden“ (MoE, 35), beschlossen hat, „Urlaub von seinem Leben“ (MoE, 47) zu nehmen, zufällig Zeuge des Konflikts zwischen einem Betrunkenen und der Polizei. Unvorsichtigerweise mischt er sich ein, indem er darauf hinweist, dass der Delinquent aufgrund seines gegenwärtigen Zustands die ihm vorgeworfene Majestätsbeleidigung gar nicht begehen könne, und wird selbst verhaftet. Während des Verhörs behauptet er kurzerhand, Sekretär der vom einflussreichen Patrioten Graf Leinsdorf geleiteten „Parallelaktion“ zu sein, um sich schnellstmöglich aus der Polizei-Maschinerie zu befreien. Ironischerweise hätte ihn dieser tatsächlich bereits dazu ernannt, wenn er bloß seine Adresse gekannt hätte. Diesbezüglich hatte der Graf kurz zuvor den Polizeipräsidenten, der „schließlich doch die Adresse eines jeden Staatsbürgers herausbringen“ (MoE, 141) müsse, vergeblich aufgesucht. Nun gelangt Ulrich – durch eine Kette von ,Zufällen‘ – zu eben diesem Polizeipräsidenten. Ohne den Zusammenhang der Ereignisse zu erwähnen, fühlt sich Ulrich nach seiner Freilassung verpflichtet, Graf Leinsdorf „an dem Tag, der auf den Majestätsbeleidigungsabend folgte, seine Aufwartung zu machen, und wurde bei dieser Gelegenheit sofort ehrenamtlicher Sekretär der großen patriotischen Aktion. Graf Leinsdorf, wenn er den Zusammenhang gewusst hätte, würde nichts anderes gesagt haben können, als es sei wie durch ein Wunder geschehen.“ (MoE, 162) Der Erzähler selbst stellt die Konstruiertheit dieser Handlungsabfolge deutlich zur Schau, und die kaum mehr zu überbietende semantische Opposition des anfänglichen Einsatzes für einen Majestätsbeleidiger und der abschließenden Einsetzung ins Patrioten- und Royalistenamt vollendet die Subversion jeglicher aristotelisch verbürgten poetologischen Forderung nach Geschlossenheit, Wahrscheinlichkeit und Kausalzusammenhang.49 Der Erzähler weigert sich, in dieser Hinsicht geradezu avantgardistisch, die tradierten narrativen Forderungen literarischer Kontingenzbewältigung zu erfüllen. Auch dies dürfte ein Grund für die in Forschung und Kritik omnipräsente Diagnose sein, dem Roman mangele es an Handlung. Aufschlussreicher für das Verständnis der Poetologie des MoE ist aber die aufwendige, kunstvoll-indirekte, bezeichnenderweise konjunktivische Formulierung der Leinsdorfschen Deutungsvariante des Zusammenhangs als „Wunder“: Der Er49

Mit [Eco 1973, 37ff.] lässt sich die Poetologie der Statistik damit dem Paradigma des „offenen Kunstwerks“ zuordnen.

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zähler, der die Forderung der Komposition einer ,notwendigen‘, als bedeutungsvolle Sinneinheit interpretierbaren Handlung offensiv ignoriert, betätigt sich stattdessen als Beobachter von Beobachtern.50 Statt selbst Sinn zu produzieren oder gar Providenz zu postulieren bzw. poetisch zu gestalten, legt er im Prozess der Narration dar, wie andere Beobachter Sinn (oder gar Wunder) in bestimmten ,Wirklichkeiten‘ finden, und dekonstruiert dieses Finden, indem er es als eine ideologische oder psychologische Konstruktion darstellt, die nie ontologisch oder prädiskursiv begründet werden kann und mithin auch anders möglich gewesen wäre. Die kritische Dimension dieses Konzepts einer sich selbst endlos reproduzierenden, lediglich innerhalb individuell unverfügbarer Diskurse und Systeme notwendig erscheinender Wirklichkeit wird im folgenden Zitat deutlich. Im fortlaufenden Text kommt darin erstmals die berühmte Musilsche Formel des ,Seinesgleichen‘ vor, von dem es in der Überschrift des zweiten, etwa 600 Seiten umfassenden Romanteils des ersten Buches heißt, es ,geschehe‘:51 „Es sind die fertigen Einteilungen und Formen des Lebens, was sich dem Mißtrauen so spürbar macht, das Seinesgleichen, dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle.“ (MoE, 129) Besonders wichtig ist Musil in einigen seiner Essays wie auch im MoE dabei der Hinweis, dass nicht nur die (gerne als ,rational‘ bezeichnete) Sphäre des Wissenschaftlichen, Öffentlichen und sprachlich Bestimmten durch schwer überblick- und kaum hintergehbare ,Grammatiken‘, also diskursive Regelwerke, bestimmt sind, sondern gerade auch die (entprechend als ,irrational‘ betrachtete) Sphäre von Trieben, Gefühlen und Intuitionen. Die im Folgenden zu rekonstruierende Poetologie der Statistik ist stets darum bemüht, diese Differenz und die darauf basierenden Kultur- und Kunstkonzepte im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung zu unterlaufen.52 Die (wissenspoetische) Motivation und die narrativen Strategien eines solchen Kontingenz und Diskursivität zelebrierenden ,observierenden Erzählens‘ wird 50

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Diesen Aspekt haben in der Musilforschung (die noch immer eine Tendenz hat, vor allem im Text aufgespürte philosophisch-wissenschaftliche Systeme zu rekonstruieren, vgl. etwa die Monographie von [Gies 2003]) vor allem Helmut Arntzens Untersuchungen zum „satirischen Stil“ des MoE stark gemacht. Dessen Ansatz ist ebenso wie sein (von Musil selbst stammendes) Motto „es kommt nicht darauf an, was, sondern wie man darstellt“ (ebd., 40) für die vorliegende Untersuchung und m.E. für jegliche Forschung im Bereich der Wissenspoetik besonders instruktiv: Bewahrt sie doch vor einer unproduktiven Schlacht um (vermeintliche) Fakten, indem sie ebenso lapidar wie konkret auf die faktische Relevanz der sprachlich-narrativen Verfasstheit und Präsentation jeglicher (Wissen-)Inhalte hinweist. Vgl. [Sebastian 2005, 1]. Vgl. das Kapitel „Moyenne et aléas“ bei [Vatan 2000, 101ff.], zu dessen Beginn die Verfasserin die (berechtigte) Frage formuliert, inwiefern eine Kontamination von Statistik und Poetik überhaupt möglich ist: „Mais en quoi ce mode de pensé peut-il (= le raisonnement probabiliste) être utile au romancier? Fondée sur l’impersonnel et la répétition, l’approche probabiliste semble difficilement conciliable avec la forme romanesque.“ (Ebd., 101f.) [Könneker 2001, 64] vermutet angesichts von Musils nachweisbarer Beschäftigung mit Lehrbüchern der Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik (etwa Heinrich Timerdings Analyse des Zufalls): „[G]leichermaßen bedrohlich wie faszinierend wirkte der Gedanke einer vollkommenen Beliebigkeit der Welt, [die] lediglich durch das Gesetz der großen Zahlen überspielt“ werde.

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in dem Kapitel auf zwei textuell ganz verschiedene Weisen, aber jeweils sehr pointiert formuliert.53 Es beginnt mit einer ausführlichen essayistischen Reflexion der ,Eigenschaftslosigkeit‘ des Protagonisten und deren Zusammenhang mit der für diesen Romanteil zentralen Diagnose, die moderne Wirklichkeit zeichne sich durch Polysemie, Variabilität, irreduzible Komplexität und Zentrumslosigkeit aus:54 Der „Mann ohne Eigenschaften“ wird als seelisch beweglicher, angriffslustiger, egoistischer, wenig sensibler und rücksichts- bzw. verantwortungsloser, ,negativ‘ geprägter „männlicher Kopf“ (MoE, 151) beschrieben, der von sich selbst nur wisse, „daß er es gleich nah und gleich weit zu allen Eigenschaften hätte und daß sie ihm alle [. . .] in einer sonderbaren Weise gleichgültig“ (ebd.) seien.55 Common sense, gesunden Menschenverstand und das traditionelle christlichabendländische Weltbild lehnt Ulrich samt den damit einhergehenden ästhetischen und ethischen Normen und Pflichten in der Annahme ab, jegliche ,Eigenschaft‘ sei bloß eine diskursiv präfigurierte Rolle, die Notwendigkeit oder Natürlichkeit vortäusche, eigentlich aber ein historisch variables kulturelles Konstrukt darstelle.56 Die Eigenschaftslosigkeit des Mannes ohne Eigenschaften wird somit als Mangel an Rollenengagement gedeutet, also als Weigerung, etwas als kontingent Betrachtetes voll ,anzunehmen‘.57 Traditionellen moralischen, metaphysischen und theologischen Diskursen, die ihre eigene Diskursivität – institutionell forciert – bestreiten und Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben (wozu insbesondere auch der von seinem Vater repräsentierte juristische Diskurs gehört),58 begegnet der 53

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In diesem Zusammenhang wird der Unterschied zwischen meinem Deutungsansatz und dem von [Berger 2004, 165] besonders deutlich; für fragwürdig halte ich insbesondere, ob es zulässig ist, die Betrachtungsweise des „Seinesgleichen“ als „Fehlhaltung“ der im Roman vorkommenden „Männer mit Eigenschaften“ zu betrachten und dieser die Sichtweise des Mannes ohne Eigenschaften entgegenzusetzen. Gerade Bergers Befund, Ulrich ziele auf eine „Mitwirkung des Einzelnen“, lässt sich in dieser Pauschalität wohl kaum aufrechterhalten, zumal die Verfasserin selbst Ulrichs Rolle als Möglichkeitsmensch bzw. Beobachter zweiter Ordnung im Sinne Luhmanns betont: Als solcher hebt sich der Protagonist vom übrigen Romanpersonal eben durch seine – bisweilen kapriziert wirkende – Handlungsverweigerung ab. Vgl. zu den Merkmalen und zur Reflexion von Modernität bei Musil ausführlich [Haslmayr 1997, 183ff.]. Georg Simmel bietet in seinem Essay Die Großstädte und das Geistesleben eine simple soziologische Erklärung derartiger ,komplexer‘ charakterlicher Dispositionen an, indem er diese als psychische Reaktion auf die moderne Reizüberflutung deutet: Das „Unterscheidungsbedürfnis“ der Großstadtbewohner verführe „zu den spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums, deren Sinn gar nicht mehr in den Inhalten solchen Benehmens, sondern nur in seiner Form des Anderssein, des Sich-Heraushebens und dadurch Bemerklichwerdens liegt.“ [Simmel 1995, 128] Vgl. zur „Aneignung der modernen Stadt durch Künstler und Schriftsteller“ allgemein und im Besonderen durch Musil und Simmel [Hård/Stippak 2005, 46]. In diesem Sinne lässt sich auch Musils Bemühung um die Legitimation der künstlerischen Beschäftigung mit dem „Unanständigen und Kranken“ – das in seinen beiden Romanen jeweils (mit dem Geschehen um Basini bzw. mit den Gestalten Clarisse und Moosbrugger) breiten Raum einnimmt – auf die Kontingenzproblematik beziehen; vgl. [Musil 19782 , 977-983] sowie [Goltschnigg 1983]. An anderer Stelle wird dies, besonders deutlich auf Kontingenz bezogen, auf folgende paradoxe Formel gebracht: „Ich bin nur zufällig, feixte die Notwendigkeit.“ (MoE, 128). Weit vorsichtiger als im Roman weist [Musil 19782 , 941] auch im berühmten Interview zur Ver-

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Protagonist nun mit subversiven Argumenten mathematisch-wissenschaftlicher Provenienz: Er bringt durcheinander, löst auf und hängt neu zusammen. Gut und bös, oben und unten sind für ihn nicht skeptisch-relative Vorstellungen, wohl aber Glieder einer Funktion, Werte, die von dem Zusammenhang abhängen, in dem sie sich befinden. Er hat es den Jahrhunderten abgelernt, daß Laster zu Tugenden und Tugenden zu Lastern werden können, und hält es im Grunde bloß für eine Ungeschicklichkeit, wenn man es noch nicht fertigbringt, in der Zeit eines Lebens aus einem Verbrecher einen nützlichen Menschen zu machen. Er anerkennt nichts Unerlaubtes und nichts Erlaubtes, denn alles kann eine Eigenschaft haben, durch die es eines Tages teil hat an einem großen, neuen Zusammenhang. Er haßt heimlich wie den Tod alles, was so tut, als stünde es ein für allemal fest, die großen Ideale und Gesetze und ihren kleinen versteinten Abdrucke, den gefriedeten Charakter. Er hält kein Ding für fest, kein Ich, keine Ordnung [. . .]. (MoE, 153f.)

Paraphrasen dieser subversiven, aber philosophisch-argumentativ verfahrenden essayistischen Passage, die ein ,negatives‘ Wirklichkeitskonzept der Moderne entwerfen, in dem Kontingenz logisch-ontologische oder religiös-metaphysische Kategorien als ,Letzthorizont‘ abgelöst hat, sind im MoE omnipräsent.59 Semantisch knüpft der Erzähler offenbar an die im vorigen Kapitel erörterten katastrophischen Interpretationen der modernen Wissenschaften an, begrüßt aber im Gegensatz zu den dort analysierten Texten gerade die störende Wirkung des wissenschaftlichen Denkens auf die traditionelle Kultur. Neben solchen reflexiv-essayistischen Auseinandersetzungen finden sich im Roman noch zahlreiche weitere textuelle Strategien, mit denen die epistemische Relevanz und das wissenspoetologische Potential von Kontingenz zur Geltung gebracht werden können. Ich werde im Folgenden zeigen, dass das erwähnte polizeiliche Verhör Ulrichs als Allegorie des poetologischen Konzepts gelesen werden kann und zudem ein stilistisches, narratologisches60 und kompositorisches Modell für die zuvor charakterisierte Erzählhaltung der statistisch-distanzierten Beobachtung zweiter Ordnung darstellt. Ulrichs Vernehmung konterkariert zunächst die Bedeutung seiner Eigenschaftslosigkeit, indem sie diese in drastischer Form faktifiziert, den Mann ohne Eigenschaften also seiner Eigenschaften, Individualität und Personalität beraubt: Name? Alter? Beruf? Wohnung? . . .: Ulrich wurde befragt. Er glaubte, in eine Maschine geraten zu sein, die ihn in unpersönliche, allgemeine Bestandteile zergliederte, ehe von seiner Schuld und Unschuld auch

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öffentlichung des MoE auf die zentrale Rolle der Kontingenzproblematik für die Identitätskonstitution seines Protagonisten hin: „Der junge Mensch kommt darauf, daß er zufällig ist, daß er seine Wesentlichkeit erschauen, aber nicht erreichen kann. Der Mensch ist nicht komplett und kann es nicht sein. Gallertartig nimmt er alle Formen an, ohne das Gefühl der Zufälligkeit seiner Existenz zu verlieren.“ Vgl. dazu [Pott 1993’, 9], [Kilcher 2003, 435] und ausführlich [Ego 1992, 46ff.]. Zur Erzähltheorie im Zusammenhang mit Musils Werk vgl. [Deutsch 1993].

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nur die Rede war. Sein Name, diese zwei vorstellungsärmsten, aber gefühlsreichsten Worte der Sprache, galten hier gar nichts. Seine Arbeiten, die ihm in der wissenschaftlichen Welt, die doch sonst für solid gilt, Ehre eingetragen hatten, waren in dieser Welt hier nicht vorhanden; er wurde nicht ein einziges Mal nach ihnen gefragt. (MoE, 159)

Wie wenig wörtlich Ulrichs Eigenschaftslosigkeit zu nehmen ist, wird deutlich, wenn der Erzähler die polizeiliche Einschätzung wiedergibt – „besondere Kennzeichen hatte er keine“ –, doch sofort betont, dass Ulrich „eine ganz andere Meinung davon besaß“ (es folgt eine ausführliche Schilderung der Komplexität von Ulrichs Selbstbild, vgl. MoE, 159). Völlig verfehlt wäre es aber, diese Szene als kritisch akzentuierte Zeitsatire über die inhumane Behandlung durch die Staatsgewalt zu lesen61 – entscheidend ist nämlich Ulrichs62 Faszination für eben diese ,Inhumanität‘:63 Er besaß darum selbst in diesem Augenblick noch Sinn für die statistische Entzauberung seiner Person, und das von dem Polizeiorgan auf ihn angewandte Maß- und Beschreibungsverfahren begeisterte ihn wie ein vom Satan erfundenes Liebesgedicht. (MoE, 160, Hervorh. M.D.)

Der MoE kann im Sinne dieser Ausführung als „ein vom Satan erfundenes Liebesgedicht“ der Moderne aufgefasst werden, in dem der Erzähler und Ulrich als poetische Statistiker fungieren. Worin diese Poetologie der Statistik besteht, welche Formen der Verhältnisbestimmung von Literatur, Kultur und Wissen damit einhergehen und welche narrativen und ästhetischen Verfahren daraus resultieren, soll im Folgenden anhand größerer Zusammenhänge des Romans gezeigt werden.64 Insbesondere soll dabei erörtert werden, wie sich die so verstandene Poetologie der 61

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Intertext einer solchen Lektüre sind nicht zuletzt Heideggers Überlegungen zum „Man“ in Sein und Zeit, die sehr deutlich auf die moderne Kulturtechnik der Statistik Bezug nehmen: „Das Vorfinden einer Anzahl von ,Subjekten‘ wird selbst nur dadurch möglich, daß die zunächst in ihrem Mitdasein begegnenden Anderen lediglich noch als ,Nummern‘ behandelt werden. Solche Anzahl wird nur entdeckt durch ein bestimmtes Mit- und Zueinandersein. Dieses ,rücksichtslose‘ Mitsein ,rechnet‘ mit den Anderen, ohne daß es ernsthaft ,auf sie zählt‘ oder auch nur mit ihnen ,zu tun haben‘ möchte.“ [Heidegger 2001, 125] Vgl. dazu auch das Schlusskapitel der vorliegenden Studie. Ulrichs Schwester Agathe äußert im zweiten Buch in einem ausführlichen Gespräch zur statistischen Deutbarkeit traditioneller Individualitäts- und Schicksalskonzepte ein ganz ähnliches Bedürfnis, wenn sie rhetorisch fragt: „[W]äre es denn nicht wunderbar, wenn man von der Statistik aufgelöst würde; die Liebe bringt das ja doch längst nicht mehr fertig.“ (MoE, 723). Im Zusammenhang mit Musils Novelle Die Vollendung der Liebe geht [Lönker 2002, 135ff.] der „Kontingenz des Ichs“ nach und gelangt für die – in Auflösung begriffene – ,Protagonistin‘ Claudine zu einer ähnlichen Diagnose: „Es ist aber nicht so, daß die Erfahrung von Vereinzelung und Kontingenz nur mit Angst verbunden ist. Ganz im Gegenteil ist etwa vom ,tiefste[n], abschiedhaft menschliche[n] Glück der Fremdheit in der Welt‘ die Rede, ,mit dem Gefühl nicht in sie eindringen zu können, zwischen ihren Entscheidungen keine für sich bestimmt zu finden“ [. . .], oder davon, daß Claudine im Gespräch mit den Lehrern eine ,Lust‘ fühlt, „bei sich selbst nur ein Zufälliges zu sein [. . .]‘“. (Ebd., 148) Faszination für Kontingenz und Ich-Dissoziation kann also als Grundcharakteristikum Musilscher Hauptfiguren gelten. Vgl. [Haslmayr 1997, 36].

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Statistik von den im Text erwogenen narrativen, wissenschaftlichen und philosophischen Alternativkonzepten absetzt und auf diese bezieht.65 3.3.1 Statistisch-diabolische Beobachtung und traditionelle Poetik In welchem Spannungsverhältnis die diabolische Liebespoetik zu klassischer, auf die Postulate der aristotelischen Poetik rekurrierender (Roman-)Poetik steht,66 ist im einleitenden Abschnitt dieses Kapitels bereits angedeutet worden und soll nun anhand von zwei prominenten Textpassagen exemplifiziert werden, in denen der Erzähler nicht von Figuren oder Vorgängen erzählt, sondern Beobachter beobachtet und ihre Beobachtungsformen reflektiert. Dabei werden wissenschaftlichstatistisch inspirierte Narrative entwickelt, die traditionelle (im Allgemeinen als ,poetisch‘ betrachtete) Narrative und Strategien der (holistischen) Sinnproduktion ironisch subvertieren, diese Dekonstruktion aber in einer poetischen Weise betreiben und damit die allegorische Formel des vom Teufel erfundenen Liebesgedichts mit poetologischem Inhalt füllen. Kein Romananfang als Romananfang Schon der besonders berühmte erste Absatz des berühmten ersten Romankapitels67 ist von einer komplexen Auseinandersetzung mit dem Statistikdiskurs und seinem Spannungsverhältnis68 zum poetischen Diskurs geprägt und belegt die Grundtendenz des Texts, mittels (stilisierter) statistisch-nüchterner Beobachtung traditionelle Formen poetischer Rede zu konterkarieren:

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Vgl. [Moser 1980, 185]. Vgl. [Eco 1973, 37ff.]. [Honold 1995, 36] weist darauf hin, dass selbst im Rahmen von Monographien eine umfassende Darstellung der vorliegenden Lektüren des Eingangskapitels nicht mehr möglich sei; vgl. aber im Zusammenhang der Kontingenzproblematik insb. [Berger 2004, 35 u. 142f.], die herausarbeitet, dass schon im Romaneingang die hohe Bedeutung des (reflektierten) Beobachtungsakts für den MoE deutlich wird. [Kassung 2001, 263ff.] beschäftigt sich ausführlich mit der Interdiskursivität des Eingangskapitels. Dort findet sich ebenfalls eine – recht polemische, doch aktuelle – Auseinandersetzung mit der reichhaltigen Forschungsliteratur, die für die Rekonzeptualisierungsbemühungen der Literaturwissenschaft als Wissenspoetik besonders aufschlussreich ist.

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Poetologie der Statistik Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering.

Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913. (MoE, 9)

Der – hier rechts gedruckte – letzte Satz dieser Eingangspassage karikiert offenbar traditionelle Einleitungssätze literarischer Erzähltexte. Schon seine abschätzige Qualifikation als „etwas altmodisch“ deutet an, in welchem Sinne aus diesem Kapitel „bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht“ (MoE, 9):69 Auch wenn der Erzähler zum Teil mit realistischem70 Romanpersonal arbeitet und – gleichwohl spöttisch – realistische Handlungsstränge komponiert, ist er strategisch stets darum bemüht, die bindende Wirkung einmal getroffener narrativer Entscheidungen zu depotenzieren oder zu dementieren.71 Entsprechend kündigt die Überschrift des ersten Romanteils bloß „[e]ine Art Einleitung“ (MoE, 7) an.72 Diese Auflösung des narrativen Gefüges, die etwa aus bestimmten kompositorischen Verfahren (wie essayistische Einschübe oder forcierte Intertextualität) und der ironischen Erzählhaltung resultiert, wird im Roman wiederholt als die der modernen Wirklichkeit einzig ,angemessene‘ Poetologie herausgestellt. In einem häufig zitierten essayistischen Kapitel benennt der Erzähler ein verbreitetes Mittel der ,Kontingenzbewältigung‘, das er und sein Protagonist Ulrich ablehnen: Es ist diese perspektivische Verkürzung des Verstandes, die diesen allabendlichen Frieden zustandebringt, der in seiner Erstreckung von einem zum anderen Tag das dauernde Gefühl eines mit sich selbst einverstandenen Lebens ergibt. Denn der Menge nach ist es ja bei weitem nicht die Hauptvoraussetzung des Glücks, Widersprüche zu lösen, sondern sie verschwinden zu machen, wie sich in einer langen Allee die Lücken schließen, und so, wie sich allenthalben die sichtbaren Verhältnisse für das Auge verschieben, daß ein von ihm beherrschtes Bild entsteht, worin das Dringende und Nahe groß erscheint, weiter weg aber selbst das Ungeheuerliche klein, Lücken sich schließen und endlich das Ganze eine ordentliche glatte Rundung erfährt, tun es eben auch 69 70

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Vgl. dazu auch [Berger 2004, 93ff.]. Systematisch behandelt [Karthaus 1983] die Frage nach Musils ,Realismus‘ und bezeichnet Musil zum Schluss als „utopisch denkenden Romantiker – obwohl seine Dichtung die Wirklichkeit ihrer Epoche mit einer Schärfe fast ohne gleichen durchdringt.“ (Ebd., 23). Vgl. [Sebastian 2005, 53]. Auch [Kümmel 2001, 13] situiert in diesem Sinne „den Erfolg des Textes in einem geregelten Nichtfunktionieren“.

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die unsichtbaren Verhältnisse und werden von Verstand und Gefühl derart verschoben, daß unbewußt etwas entsteht, worin man sich Herr im Hause fühlt. (MoE, 648f.)

Derartige Vergleiche aus der Wahrnehmungstheorie, die traditionelle, auf lineare Kausalität und homogenen Sinn zielende Konzepte unterlaufen, prägen Musils Werk poetologisch, ästhetisch und epistemologisch: Triëdere73 stellt als kunstvoll stilisierte Versuchsbeschreibung ein in seiner literarischen Qualität herausragendes essayistisches Beispiel dar,74 erzählerische Gestaltungen finden sich in etwas traditionellerer Form schon im Törleß und in den Drei Frauen, besonders aber in den stilistisch avantgardistischen, experimentellen Novellen der Vereinigungen,75 und die Tatsache, dass Musil dieses Konzept auch als Dramatiker umzusetzen versucht, dürfte ein wesentlicher Grund für die Aufführungsproblematik der Schwärmer sein. Auch im MoE finden sich noch zahlreiche weitere Passagen, die anhand von verfremdeter Wahrnehmung den Glauben an eine beobachtungs- und diskursunabhängige Wirklichkeit infrage stellen.76 An den wahrnehmungstheoretischen Vergleich schließt sich eine poetologische Reflexion an, in der die tra73 74

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[Musil 19782 , 518-522]. [Kimmich 2000, 191ff.], die Musils Werk nach seiner Dingdarstellung befragt und Triëdere entsprechend vor medien- und wahrnehmungstheoretischem Hintergrund liest, stellt fest, dass das „Sichtbarmachen von Dingen und Menschen“ bei Musil – im Gegensatz zu Béla Balázs und anderen Theoretikern der Moderne – keine humanistischen Motive habe, sondern vielmehr „eine Zerstörung herkömmlicher Ordnungen“ (ebd., 193) mit nachhaltiger Verstörungswirkung impliziere: „Die geradezu dekonstruktiv verfahrenden Verfremdungsmethoden, die als Formen der Sichtbarmachung gepriesen und angewendet werden, verbieten offenbar die einfache Wiederaneignung und Wiedereingliederung der so ,befreiten‘ Dinge und scheinen das beobachtende Subjekt, den Menschen, in weit größerem Maße zu affizieren, als dies zunächst angenommen wurde.“ (Ebd., 194) Vgl. speziell zu diesem Prosastück außerdem [Sebastian 2005, 71ff.] (der Verfasser überschreibt den betreffenden Abschnitt mit dem Titel „Binoculars – A Literary Experiment in nuce“) und zur Wahrnehumgsproblematik bei Musil auch [Lethen 1987, 200ff.]. [Lönker 2002] liest die Vereinigungen in seiner Monographie als Poetische Anthropologie und führt den oft konstatierten ,hermetischen‘ Charakter der beiden Novellen auf die ungewöhnliche Bilderfülle des Textes zurück, die den plot der Erzählungen in den Hintergrund treten lassen: „Es stellt sich der Eindruck ein, als gehe die doch offenbar angestrebte Genauigkeit der Darstellung schließlich in einen Präzisionswahn über, der das Gemeinte schließlich aus den Augen geraten lässt.“ (Ebd., 8f.). Im MoE ist diesbezüglich auch Ulrichs Unentschlossenheit bei der Auswahl einer ,passenden‘ Inneneinrichtung für sein neues Haus symptomatisch: „Von der stilreinen Rekonstruktion bis zur vollkommenen Rücksichtslosigkeit standen ihm dafür alle Grundsätze zur Verfügung, und ebenso boten sich seinem Geist alle Stile, von den Assyrern bis zum Kubismus an. Was sollte er wählen?“ (MoE, 19) Der Erzähler bezieht Ulrichs Entscheidungsschwierigkeiten auf die mit dem forcierten Kontingenzbewusstsein der Moderne einhergehende Dezentrierung von Ich und Welt: „Es war das [. . .] die bekannte Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihre Ausbreitung ohne Mittelpunkt, die für die Gegenwart kennzeichnend ist und deren merkwürdige Arithmetik ausmacht, die vom Hundersten ins Tausendste kommt, ohne eine Einheit zu haben. Schließlich dachte er sich überhaupt nur noch unausführbare Zimmer aus, Drehzimmer, kaleidoskopische Einrichtungen, Umstellvorrichtungen für die Seele, und seine Einfälle wurden immer inhaltsloser.“ (MoE, 20) Kurz nach ihrem Einzug erfährt der Leser von Agathes Unbehagen bzgl. Ulrichs Einrichtung: „Es war etwas teilnahmlos, in gleichgültigen Launen Angehäuftes in diesem Haus, das sie erschreckte.“ (MoE, 893). Zur Rede gestellt führt Ulrich gerade die Kontingenz der Einrichtung

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ditionelle, lineare „erzählerische Ordnung“ als die „bewährteste ,perspektivische Verkürzung des Verstandes‘“ (MoE, 650) gedeutet wird, die offenbar „schon zum Leben selbst“ (ebd) gehöre.77 Viele sehnten sich „überlastet und von Einfalt träumend“ nach dem „primitiv [e]pische[n]“ Ordnungsmuster, das durch seine Präferenz chronologischer Verknüpfung gekennzeichnet wird:78 Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: „Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!“ Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, ebene jenen berühmten „Faden der Erzählung“, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. Wohl dem, der sagen kann ,als‘, ,ehe‘ und ,nachdem‘! [. . .] Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. [. . .] [S]ie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen „Lauf“ habe, irgendwie im Chaos geborge. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ,Faden‘ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet. (MoE, 650, Hervorh. M.D.)

Erzähler und Protagonist verstehen Wirklichkeit also als kontingente Datenmenge und sind skeptisch gegenüber jeglicher Ordnungsstiftung, indem sie als statistisch informierte Beobachter zweiter Ordnung darauf hinweisen, dass stets auch andere Ordnungen möglich sind.79 Besonders die Vergleiche aus dem Bereich der Wahrnehmung verdeutlichen dabei, dass der Erzähler nicht nur die Kontingenz von Ordnungsmustern postuliert, die relativ unstrittig als kulturspezifische Artefakte betrachtet werden, sondern gerade auch die vermeintlich ,natürlicher‘ psychischer bzw. biologischer ,Fakten‘ und Prozesse.

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als Grund für deren provisorischen Charakter an und weist explizit auf sein statistisch basiertes Persönlichkeits- und Wirklichkeitsverständnis hin: „,Warum ich es so gemacht habe?‘ fragte er. ,Wahrscheinlich, weil man es ebensogut anders hätte machen können. Ich habe keine Verantwortung gefühlt. Weniger sicher wäre es, wenn ich dir erklären wollte, daß die Unverantwortlichkeit, in der wir heute unser Leben führen, schon die Stufe zu einer neuen Verantwortung sein könnte. [. . .] [D]as Leben einer einzelnen Person ist vielleicht nur eine kleine Schwankung um den wahrscheinlichsten Durchschnittswert einer Serie. Und ähnliches.‘“ (MoE, 894) Bewusstes Bekenntnis für Provisorium und Zufälligkeit werden in Ulrichs Wirklichkeitsverständnis zur einzig adäquten Antwort auf Stilfragen in der Moderne: „Heute fühlt fast jeder, daß ein formloses Leben die einzige Form ist, die den vielfältigen Willen und Möglichkeiten entspricht, von denen das Leben erfüllt ist [. . .].“ (MoE, 895). Vgl. [Berger 2004, 151]. [Makropoulos 1997, 129] beginnt seinen kurzen, zitatreichen Abschnitt über die Bedeutung von Kontingenz in Musils Roman mit dieser Romanpassage. Der Verfasser ignoriert allerdings den Bruch im Kontingenzkonzept Musils, der im Rahmen der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet werden soll. Gerade dieser – semantisch komplexe – Bruch ist nämlich für die Konzeptualisierung der Moderne als ästhetisch-epistemischem Phänomen konstitutiv. Vgl. [Moser 1980, 177].

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Vor dem Hintergrund der nun umrissenen Poetologie der Kontingenz, die Notwendigkeitspostulate als das „primitiv Epische“ zurückweist,80 geht aus dem ersten Romankapitel klar hervor, in welchem Sinne „bemerkenswerter Weise nichts“ aus ihm hervorgeht: Würde der Text mit dem Satz „Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913“ beginnen, so würden unweigerlich diverse kulturell präfigurierte Erwartungen geweckt und insbesondere ein leicht weiter besetzbarer Horizont für eine anhebende Handlung gesetzt. Gerade weil er ungemein stereotyp ist, erzeugt er sofort die Illusion einer fiktionalen Realität, d.h. es geht etwas aus ihm hervor.81 Würde der kontrastive Bezug auf einen narrativen Anfangstopos gänzlich fehlen und wäre bloß von atmosphärischen Prozessen und ihren statistisch kalkulierbaren (Ir-)Regularitäten die Rede, so ginge in der Tat einfach nichts aus dem Romanbeginn hervor.82 Durch die Konfrontation und gegenseitige Kontamination von wissenschaftlichem und poetischem Diskurs aber wird der narrative Fokus auf den Konstruktionscharakter von Ordnung, Kausalität und linearen Sinnzusammenhängen gelegt, der insbesondere durch poetisch-narrative und semantische Konventionen leicht verborgen wird.83 ,Bemerkenswert‘ ist am ersten Kapitel und schon an dessen erstem Absatz also, dass es von einer Beobachterwarte einen möglichen Roman- und Handlungsbeginn skizziert, dessen semantische Bindewirkung aber durch die ironsiche Konfrontation verschiedener, inkompatibler Beschreibungsformen auflöst. Damit ist die semantische Stoßrichtung charakterisiert, die dem MoE zugrundeliegt: Statt Handlungsstränge zu komponieren und sich so unweigerlich in die Tradition literarischer Erzählwerke einzufügen, beobachtet der Erzähler andere Beobachter und ihre Formen der Weltdeutung und Wirklichkeitskonstruk80

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Vgl. das Kapitel „Multiple Subjects: The Construction of a Hypothetical Narrative“ bei [Sebastian 2005, 80ff.]; für problematisch halte ich die Zustimmung des Verfassers zu einer (vermeintlich) didaktischen Absicht des Erzählers („to make the reader think [. . .] requires a break with simple storytelling“, ebd., 83) und die Qualifikation von Ulrichs Diagnose als das ,richtige‘, mittlerweile akademisch-literaturwissenschaftlich nachgewiesene narratologische Konzept („it anticipated today’s knowledge (!) long before the study of narrative became an academic field“, ebd., 84). Hier fällt der Verfasser deutlich hinter das reflexive Potential der in den aktuellen Debatten zur Poetologie des Wissens entwickelten Überlegungen zurück. Vgl. in diesem Zusammenhang die interessanten poetologischen und interpretationstheoretischen Ausführungen von [Kümmel 2001, 284ff.]. Vgl. [Sebastian 2005, 64f.]. [Zima 1985, 199ff.] beschreibt unter der sprechenden Überschrift „Essayismus als Dekonstruktion“ (ebd., 199) die Dekomposition des „Kausalitätsprinzips“ (mit Querverweisen zu Kafka und Adorno) als zentrale narratologische Strategie der Literatur der Klassischen Moderne (insb. ebd., 200). In der unvermeidlichen Aporie einer solchen literarischen Subversion des Literarischen erkennt Zima ein Grundproblem verwandter ,dekonstruktivistischer‘ Positionen: „Den drei Autoren Musil, Adorno und Derrida ist ein paradoxes Anliegen gemeinsam: Im Rahmen einer bestimmten Form gegen diese Form vorzugehen. Musil setzt den Roman im Roman einer radikalen Kritik aus, Adorno nimmt das Paradoxon einer ,negativen Dialektik‘ auf sich, und Derrida weiß, daß er nur mit Begriffen und Gegensätzen (Relevanzkriterien) gegen das begriffliche Raster der etablierten Philosophie vorgehen kann [. . .]. Um die Herrschaft des Begriffs brechen zu können, waren Adorno und Derrida gezwungen, neue Begriffe einzuführen; um den Roman und dessen System in Frage stellen zu können, schrieb Musil den Roman, ,den man nicht schreiben kann.‘“ (Ebd., 202f.).

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tion und betont damit deren Kontingenz.84 Dennoch gerät diese Textdimension des Romans nicht zu einem Klagelied, sondern stellt tatsächlich ein diabolisches Liebesgedicht der Moderne dar: ,Die Geschichte‘ und ,das Epos‘ werden darin zwar zu Grabe getragen, dafür aber durch eine Fülle neuer Geschichten ersetzt.85 Ein Charakteristikum von Musils MoE stellt diesbezüglich die Sympathie für eine genuin unpoetische, nämlich statistisch-wissenschaftliche Beobachtungsform dar, die vom Zeitpunkt und von der Wetterlage auch auf den Schauplatz Wien übertragen wird.86 Diese zweifellos bedeutende Metropole der europäischen Geschichte und Kultur wird erwähnt, der Erzähler bemüht sich jedoch – wiederum mit stilistischen und inhaltlichen Anleihen aus der Statistik –, die Kontingenz auch dieser Information nachzuweisen. Dadurch wird gerade dieser Kontingenz eine wichtige Rolle zugeschrieben, denn wäre der Schauplatz einfach nur irrelevant, genügte es völlig, ihn zu verschweigen oder knapp zu erwähnen:87 Wie alle großen Städte • bestand sie – aus Unregelmäßigkeit, – Wechsel, – Vorgleiten, 84 85 86

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– Nichtschritthalten, – Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, – bodenlosen Punkten der Stille dazwischen,

Vgl. [Berger 2004, 101]. Vgl. [Kümmel 2001, 181f.]. Immer wieder wird in der Forschung diesbezüglich auf Georg Simmels berühmten Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben, [Simmel 1995], hingewiesen: Ausgehend von der These, die Sozialgeschichte sei bestimmt vom Kampf der Individuen, sich im Gesellschaftsapparat nicht zerreiben zu lassen, charakterisiert Simmel den in der Moderne entstehenden Typus „großstädtischer Individualitäten“ durch die Bedrohung der „Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.“ [Simmel 1995, 116] Entsprechend wachse – „als ein Präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigungen der Großstadt“ [Simmel 1995, 118] – bei Großstadtbewohnern (im Vergleich zur Landbevölkerung) der Anteil ,verstandesmäßiger‘ kognitiver Betätigung, was zur Vorherrschaft ,rechnerischer Vernunft‘ führe: „Der moderne Geist ist mehr und mehr ein rechnender geworden. Dem Ideale der Naturwissenschaft, die Welt in ein Rechenexempel zu verwandeln, jeden Teil ihrer in mathematischen Formeln festzulegen, entspricht die rechnerische Exaktheit des praktischen Lebens, die ihm die Geldwirtschaft gebracht hat.“ [Simmel 1995, 119] Eine charakterliche bzw. kognitive Konsequenz dieser Disposition sei die in Großstädten verbreitete „Blasiertheit“: „Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, daß sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit die Dinge selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen vorgezogen zu werden.“ [Simmel 1995, 121]. M.E. radikalisiert die in der vorliegenden Arbeit rekonstruierte Poetologie der Statistik im MoE Simmels Konzept, indem sie „Blasiertheit“ und „Abstumpfung“ als mathematisch-naturwissenschaftlich induzierte Deindividualisierung nicht nur zelebriert, sondern, gleichfalls von Mathematik und Statistik inspiriert, jegliche Versuche der konzentrierenden Stiftung von Sinn und Ordnung als Belege des „primitiv Epischen“ deutet. Für eine ausführliche poetologisch-diskursanalytische Deutung der im MoE inszenierten Anfangsschwierigkeiten vor dem Hintergrund des Problemkomplexes der modernen Großstadtrealität vgl. [Honold 1995, 27ff.].

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– aus Bahnen und Ungebahntem, – aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, • und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem

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Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von – Häusern, – Gesetzen, – Verordnungen – und geschichtlichen Überlieferungen besteht. (MoE, 10, Hervorh. M.D.)

Angesichts der (von mir durch das Schriftbild hervorgehobenen) Listenhaftigkeit belegt diese Passage einerseits die Kontamination der Narration durch den Statistikdiskurs,88 andererseits ist die Auflistung ihrerseits durch den poetischen Diskurs kontaminiert, wenn man die Formulierung der ,Items‘ beachtet („bodenlosen Punkte der Stille“, „Bahnen und Ungebahntem“ oder „kochenden Blase“). Der Erzähler betont unmittelbar im Anschluss an diese Passage die Diskrepanz zwischen dieser Beschreibung der kontingenten Wirklichkeit moderner Großstädte und der Wahrnehmung zweier „Menschen“ in dieser erzählten Welt, die ihre Umgebung ganz anders, nämlich sinnvoll und wohlgeordnet ,erleben‘: Die beiden Menschen, die darin eine breite, belebte Straße hinaufgingen, hatten natürlich gar nicht diesen Eindruck. Sie • gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, • waren vornehm in – Kleidung, – Haltung – und in der Art, wie sie miteinander sprachen, • trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche gestickt,

• und ebenso, das heißt nicht nach außen gekehrt, wohl aber in der feinen Unterwäsche ihres Bewußtseins wußten sie, wer sie seien und daß sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt auf ihrem Platze befanden. Angenommen, sie würden Arnheim und Ermelinda Tuzzi heißen, was aber nicht stimmt, denn Frau Tuzzi befand sich im August in Begleitung ihres Gatten in Bad Aussee und Dr. Arnheim noch in Konstantinopel, so steht man vor dem Rätsel, wer sie seien. (MoE, 10, Hervorh. M.D.)

Es bleibt bei der statistisch inspirierten Erzählhaltung: Der Erzähler inszeniert sich als extrem distanzierter Beobachter (in dessen Großstadtbild „Menschen“ tatsächlich nur in Anführungszeichen passen), dessen Beobachtung nicht auf die in fiktionalen Texten übliche Deskription äußerer Umstände oder konkreter kognitiver Prozesse der Figuren beschränkt bleibt, sondern die gesamte kognitive Struktur der Figuren reflektiert, wenn er die Mechanismen ihrer Wahrnehmung erörtert, die ihnen 88

Vgl. [Haslmayr 1997, 51].

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den Eindruck völliger Kontingenz des Großstadttreibens erspart. „[B]edeutsam“ sind in diesem Zusammenhang bestimmte Benennungsakte, drückt sich doch gerade in der irreversiblen Namensgebung das Konzept einer weitgehend stabilen Individualität aus, die dann auch als Basis für weitere Akte der Sinnzuschreibung dient und etwa Wien von der austauschbaren Großstadt zu einer bedeutenden und stolzen „Haupt- und Residenzstadt“ macht.89 Der Erzähler ist hier als diabolischer Beobachter zweiter Ordnung bemüht, selbst jegliche Form von Sinnstiftung zu vermeiden und ,Sinn‘ und ,Bedeutung‘ und die damit zusammenhängenden Formen emphatischer Individualitäts- und Personalitätskonzepte als naiv-illusionäre Resultate einer Kontingenzreduktion im Modus der Beobachtung erster Ordnung zu kennzeichnen.90 Nach der Wetter- und Stadt-Wahrnehmung wird dies – übrigens mit besonders deutlichem und explizitem Bezug auf Statistiken – im Eingangskapitel noch einmal anhand der Beobachtung eines Unfalls durchgespielt.91 Gleichwohl resultiert aus dem Kontingenzbewusstsein des Erzählers (als diabolischem Liebespoeten der Moderne) keine kompositorische Hingabe an den Zufall:92 Schon im folgenden Abschnitt sollte deutlich werden, dass die im obigen Textabschnitt angestellte narrative ,Hypothese‘, die beiden Passanten „würden Arnheim und Ermelinda Tuzzi heißen“ (wobei letztere im weiteren Romanverlauf meist Diotima genannt wird), bestens zu deren Stellung im narrativen Spiel der Konfrontation verschiedener Beobachtungskonzepte und -modi passt. Romantische vs. satanische Verse: Diotima und Ulrich Anlässlich eines Ausflugs, bei dem der Erzähler die kulturbeflissene Diotima zur Trägerin eines emphatisch-poetischen Diskurses macht, der die erhabene Schönheit der Natur preist und ihren Begleiter Ulrich zu einer diabolisch-poetischen Replik herausfordert,93 zeigt sich, dass die Poetologie der Statistik dem ,schönen Wald‘ ebenso skeptisch-ironisch gegenübersteht wie schönen Augusttagen und stolzen Metropolen: So war es einmal bei einer Ausfahrt über Land vorgekommen, daß der Wagen an entzückenden Tälern vorbeirollte, zwischen denen von dunklen Fichtenwäldern bedeckte Berghänge nahe an die Straße herantraten, und Diotima mit den Versen „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben?“ darauf hindeutete. Sie zitierte diese Verse selbstverständlich als Gedicht, ohne den dazugehörigen Gesang auch nur anzudeuten, denn das wäre ihr verbraucht und nichtssagend erschienen. (MoE, 280) 89 90 91 92

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Vgl. [Kümmel 2001, 297f.]. Vgl. [Lönker 2002, 202]. Vgl. dazu ausführlich [Kassung 2001, 311ff.]. Dies behauptet [Sebastian 2005, 85], argumentiert dabei aber weniger auf der Basis des konkreten Texts, sondern versucht, die andernorts formulierte Ablehnung des „primitiv Epischen“ schon im Eingangskapitel in direkter Form zu exemplifizieren. Zu Ulrichs Rolle und ihrer Nähe zur Position des Erzählers (oder, wie die ältere Forschung noch ungeniert behauptet, des Autors) vgl. die exzellenten Überlegungen bei [Arntzen 1983, 165ff.].

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Darauf erwidert Ulrich: „Die Niederösterreichische Bodenbank. Das wissen Sie nicht, Kusine, daß alle Wälder hier der Bodenbank gehören? Und der Meister, den Sie loben wollen, ist ein bei ihr angestellter Forstmeister. Die Natur hier ist ein planmäßiges Produkt der Forstindustrie, ein reihenweise gesetzter Speicher der Zellulosefabrikation, was man ihr auch ohne weiteres ansehen kann.“ (MoE, 280)

Wie im ersten Romankapitel kontaminieren sich in dieser Passage der poetische und der statistische Diskurs gegenseitig: Diotima ist sichtlich um Kitschvermeidung bemüht, indem sie darauf verzichtet, das Lied zu singen, prosaifiziert also den lyrischen Diskurs, um ihn für die Moderne tragbar zu machen. Ulrich poetisiert im Gegenzug seine – im traditionellen Wortsinne unüberbietbar prosaische – Antwort, indem er die darin gestellte rhetorische Frage als Frage missversteht und die implizite Antwort auf die poetische Frage, die die Schönheit des Waldes als Metonymie einer göttlich durchwirkten, emphatisch universalisierten Natur zelebriert, durch eine diabolisch-explizite ersetzt:94 An die Stelle Gottes bzw. der Natur treten Angestellte der Niederösterreichischen Bodenbank, und die romantische Ästhetik wird durch eine ökonomisch-funktionalistische ersetzt, wodurch das von Diotima zitierte Naturkonzept als obsolete Ursprünglichkeits-Figuration, also als diskursives Konstrukt lesbar wird.95 Man braucht aber nur an Benns MorgueGedichte zu denken, die geradezu als Anleitung betrachtet werden können, Ulrichs Antwort ebenfalls als Gedicht zu lesen, um festzustellen, dass der (in beiden Fällen naturwissenschaftlich inspirierte) diabolische Beobachterblick durchaus auch als poetischer Blick aufgefasst werden kann.96 Die Parallelaktionshandlung ist durchgehend von einer solchen ironisch-subversiven Konfrontation verschiedener Beobachtungsformen geprägt. Die folgende (vor dem Hintergrund meiner auf der Rolle der Statistik basierenden Interpretation wiederum nicht zufällig) listenförmig komponierte Passage kann als Fortsetzung und Reflexion der Entgegensetzung von statistisch-meteorologischem und poetischem Wetterbericht gelesen werden und verdeutlicht die Komplizenschaft des Erzählers und seiner Hauptfigur bezüglich der Poetologie der Statistik. Auch hier agiert Diotima als prototypische Beobachterin erster Ordnung, wenn sie als Anwältin eines kulturell bzw. durch die ,Natur‘ verbürgten tieferen Sinns auftritt (wodurch, wie bereits angedeutet, besonders klar wird, warum der Erzähler im ersten Kapitel gerade Diotima als Passantin und Unfallzeugin ,einsetzt‘): 94

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Für die Entwicklung der hier bedeutsamen Differenz vor dem Hintergrund der Geschichte der Naturwissenschaft, die als Prozess der Entgöttlichung der Natur verstanden wird, vgl. [Heisenberg 1955, 7ff.], der darauf hinweist, dass nach Newton der Glaube an das ,Ganze‘ der Natur sukzessive erschüttert worden sei; die fortschreitende Mathematisierung habe eine Abwendung vom ,Lebendigen‘ zugunsten des ,Gesetzlichen‘ bewirkt. [Musil 19782 , 528ff.] beschäftigt sich auch in Wer hat dich, du schöner Wald. . .?, einem kurzen Prosatext aus dem Nachlaß zu Lebzeiten, mit dem Konflikt verschiedener Formen der kulturell jeweils unterschiedlich konnotierten Naturbeobachtung. Vgl. [Benn 1986, 11ff.].

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• Wenn sie von Schönheit sprach, sprach er von einem Fettgewebe, das die Haut stützt. • Wenn sie von Liebe sprach, sprach er von der Jahreskurve, die das automatische Steigen und Sinken der Geburtenziffer anzeigt. • Wenn sie von den großen Gestalten der Kunst sprach, fing er mit der großen Kette der Entlehnungen an, die diese Gestalten untereinander verbindet. • Es kam eigentlich immer so, daß Diotima zu sprechen begann, als ob Gott den Menschen am siebenten Tag als Perle in die Weltmuschel hineingesetzt hätte, worauf er daran erinnerte, daß der Mensch ein Häuflein von Pünktchen auf der äußeren Rinde eines Zwergglobus sei. (MoE, 280, Hervorh. M.D.)

Auch hier arbeitet der Erzähler mit einem ganzen Arsenal genuin poetischer sprachlicher Mittel: Besonders auffällig sind auf syntaktischer Ebene der Parallelismus, Stabreime und Wortwiederholungen, die die schroffe semantische Opposition zwischen Neben- und Hauptsatz spiegeln. Ulrichs diabolischer Beobachterblick betont gnadenlos die Diskursivität und den Reduktionscharakter jeder Form poetisch-metaphysisch-religiös vermittelter Stiftung von Sinn und Ordnung, um die sich Diotima bemüht. Der nun folgende Abschnitt nimmt einige Passagen des Romans genauer in den Blick, die die Motivation, Genese und Konzeption dieser Poetik der Beobachtung höherer Ordnung reflektieren. Dabei wird zugleich die Bedeutung der Attribute des Statistischen und des Diabolischen weiter untermauert. 3.3.2 Teuflische Beobachter: Reflexionen der Poetologie der Statistik im Roman Bereits im vorigen Abschnitt wurde anhand von Textstellen, die jede verbindliche Deskription verweigern und stattdessen statistisch-desemantisierende Beobachtungskonstellationen präsentieren, nachgezeichnet, wie der Erzähler seinen Protagonisten Ulrich, den Clarisse und Walter „wie einen bösen Geist“ (MoE, 48) verehren, zum Komplizen seiner Beobachtungsakte zweiter Ordnung macht.97 In diesem Kapitel soll diese Poetologie des Kontingenz anhand einiger reflexiver Textpassagen in ihrer grundsätzlichen Konzeption und in ihrem Verhältnis zu den im vorigen Kapitel dargestellten katastrophischen Interpretationen der modernen Wissenschaft beschrieben werden. 97

Zum intertextuellen Bezug dieser Einschätzung zur Philosophie Nietzsches vgl. [Greif 2006, 137].

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Anlässlich (der Karikatur) eines Fachgesprächs, das Ulrich mit seiner Universitätskollegin Fräulein Strastil führt, wird der Protagonist des Romans beiläufig in die Nähe der radikalen Umbrüche gerückt, die sich im Feld der Naturwissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts ereignen und mit fundamentalen Krisen einhergehen, die eng mit der Frage verbunden sind, ob traditionelle epistemologische Kategorien (wie ,Wahrheit‘) in der Moderne noch Gültigkeit beanspruchen können:98 „Er gehörte zu jenen, Logistiker genannten, Mathematikern, die überhaupt nichts richtig fanden und eine neue Fundamentallehre aufbauten.“ (MoE, 865)99 Im Dialog der beiden ungleichen Wissenschaftler stattet der Erzähler Fräulein Strastil unverkennbar mit Attributen aus, die auch Fausts Famulus Wagner kennzeichnen, wodurch wie in Goethes ,Gelehrtentragödie‘ vor allem Ulrichs Ausnahmestatus betont wird. Intertextuelle Bezüge zu Faust sind bereits zu Romanbeginn unübersehbar, wo der Erzähler – mit deutlichem Bezug auf den berühmtem Eingangsmonolog – in einem ausführlichen Rückblick Ulrichs beruflich-wissenschaftliche Versuche beschreibt, „ein bedeutender Mann zu werden“ (MoE, 35).100 Unter anderem hat Ulrich eine Ingenieursausbildung durchlaufen, doch Ulrich wird von seinen Ingenieurskollegen explizit als exzentrischer Wissenspoet charakterisiert, würden diese doch bei allem beruflichen Enthusiasmus im Gegensatz zum Mann ohne Eigenschaften „den Vorschlag, die Kühnheit ihrer Gedanken statt auf ihre Maschinen auf sich selbst anzuwenden, [. . .] ähnlich empfunden haben wie die Zumutung, von einem Hammer den widernatürlichen Gebrauch eines Mörders zu machen.“ (MoE, 38) Ulrichs Umgang mit der Wissenskultur der Moderne wird damit klar als Produkt einer eigenwilligen Interpretation bzw. Transformation von wissenschaftlichen Inhalten und Methoden markiert. Seine Motive für diese Übertragung werden im Zusammenhang mit seinem dritten und „wichtigste[n] Versuch“ benannt, der Beschäftigung mit der modernen Mathematik, die der Erzähler zu den basalen Elementen von Ulrichs Epistemologie zählt: „[D]a ist die neue Denklehre selbst, der Geist selbst, liegen die Quellen der Zeit und der Ursprung einer ungeheuerlichen Umgestaltung.“ (MoE, 38f.) Ulrichs Begeisterung gründet also gerade auf der Möglichkeit einer „ungeheuerliche[n] Umgestaltung“ der Kultur, die insbesondere die klassische, durch das Ziel möglichst vollständiger Kontingenzbewältigung und Sinnstiftung bestimmte, auf Konstitution eines homogenen und holistischen Weltbilds bedachte Hochkultur verabschiedet. In diesem Kontext ist nun die bekannte und aus dem Munde eines Literaten provokant klingende wissenspoetische ,Maxime‘ Musils zu lesen, in der er Repräsentanten zweier als opponierend betrachteter Sphären gegenüberstellt, die Schriftstellerkollegen aber als Vorbilder ablehnt:101 „Nicht von Göthe, Hebbel, Hölderlin werden wir lernen, sondern von Mach, Lorentz, Einstein, Minkowski, von Cou98 99 100 101

Zu den naturwissenschaftlichen (insb. physikalischen) Paradigmenwechseln im 20. Jahrhundert vgl. ausführlich [Kochs 1996, 15ff.] sowie [Kümmel 2001]. Vgl. [Könneker 2001]. Vgl. zum kulturhistorischen Kontext der „drei Versuche“ [Strutz 1993]. Vgl. [Kümmel 2001, 69ff.] und [Könneker 2001, 54ff.].

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turat, Russel, Peano. . .“102 Die Präferenz für die Mathematiker begründet Musil mit Verweis auf die durch sie zu erlangende Inspiration zu „mathematische[m] Wagemut: Seelen in Elemente auflösen, unbeschränkte Permutationen dieser Elemente, alles hängt dort mit allem zusammen und läßt sich daraus aufbauen.“103 Der zweite Teil dieser Stellungnahme macht deutlich, dass Musils subversive Haltung gegenüber der literarisch-künstlerischen Hochkultur tatsächlich dekonstruktiv ist: Er unterläuft deren Konstruktions- und Analyse-Verfahren, die er aufgrund ihres Traditions- und Konventionsbezugs für unzureichend hält,104 und projektiert für Kunst, Literatur und Geisteswissenschaft eine ähnliche Form von Kunstsprache, die zu qualitativ neuen Einsichten befähigt.105 Diesen utopisch-semiologischen Aspekt belegt besonders eindrucksvoll folgende Liebeserklärung Ulrichs an die Mathematik, in der er seine ,Gefühle‘ dieser Wissenschaft gegenüber auf ihre Fähigkeit zurückführt, ein produktives Kontingenzbewusstsein106 zu wecken: Er war weniger wissenschaftlich als menschlich verliebt in die Wissenschaft. Er sah, daß sie in allen Fragen, wo sie sich für zuständig hält, anders denkt als gewöhnliche Menschen. [. . .] Der Mann war noch nicht auf der Welt, der zu seinen Gläubigen hätte sagen können: Stehlt, mordet, treibt Unzucht – unsere Lehre ist so stark, daß sie aus der Jauche eurer Sünden schäumend helle Bergwässer macht; aber in der Wissenschaft kommt es alle paar Jahre vor, daß etwas, das bis dahin als Fehler galt, plötzlich alle Anschauungen umkehrt oder daß ein unscheinbarer und verachteter Gedanke zum Herrscher über ein neues Gedankenreich wird, und solche Vorkommnisse sind dort nicht bloß Umstürze, sondern führen wie eine Himmelsleiter in die Höhe. Es geht in der Wissenschaft so stark und unbekümmert herrlich zu wie in einem Märchen. Und Ulrich fühlte: die Menschen wissen das bloß nicht; sie haben keine Ahnung, wie man schon denken kann; wenn man sie neu denken lehren könnte, würden sie auch anders leben. (MoE, 40f.)

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[Musil 19782 , 1318]. Ebd. Vgl. zum „Begriff der Tradition“ und seiner Bedeutung in Musils Texten [Nyíri 1985]. Vor allem der hier erbrachte Nachweis der Parallelisierung von Tradition und „ratioïdem“ Bereich ist für meine Argumentation von großer Wichtigkeit. Der Erzähler legt Arnheim, der im Romanpersonal einzigen Ulrich intellektuell ebenbürtigen Figur, entsprechend die Überlegung in den Mund, moderne Wissenschaftler zerlegten „die Welt in Atome, Gesetze, Hypothesen und wunderliche Rechenzeichen, und die Techniker bauen aus diesen Fiktionen eine Welt neuer Dinge auf.“ (MoE, 507). Im Essay Der mathematische Mensch erläutert Musil ironisch, warum er die von Seiten der Naturwissenschaft in der Moderne formulierten radikalen Zweifel an vermeintlich selbstverständlichen Strukturen der Wirklichkeit und Wahrnehmung für überzeugender hält als ähnlich lautende Philosopheme: „Ich könnte noch andere Beispiele anreihen, wo etwa die mathematischen Physiker mit einemmal wild darauf aus waren, das Vorhandensein des Raums oder der Zeit zu leugnen. Aber nicht so träumelig von weitem, wie das die Philosophen zuweilen auch tun – was jedermann dann sofort mit ihrem Beruf entschuldigt – sondern mit Gründen, die ganz plötzlich mit der Präsenz eines Automobils vor einem auftauchten und schrecklich glaubwürdig waren.“ [Musil 19782 , 1007].

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Im Kapitel mit der sprechenden Überschrift Das in den Bart Lächeln der Wissenschaft oder erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen wird die Geschichte dieser Epistemologie ausführlich erörtert. Darin postuliert der Essayist die „eigenartige[] Vorliebe [. . .], die das wissenschaftliche Denken für statistische, materielle Erklärungen hat, denen gleichsam das Herz ausgestochen ist“107 , und die „im Zauberkunststück der menschlichen Illusionen gewissermaßen den Trick bloßlegen“ (MoE, 304). In deutlicher Anknüpfung an den Konflikt zwischen Diotima und Ulrich listet der Erzähler einige Beispiele auf. Es gelte demnach als „besonders wissenschaftlich“ (ebd.),

• Güte nur für eine besondere Form des Egoismus anzusehn; • Gemütsbewegungen in Zusammenhang mit inneren Ausscheidungen zu bringen; • festzustellen, daß der Mensch zu acht oder neun Zehnteln aus Wasser besteht; • die berühmte sittliche Freiheit des Charakters als ein automatisch entstandenes Gedankenanhängsel des Freihandels zu erklären; • Schönheit auf gute Verdauung und ordentliche Fettgewebe zurückzuführen; • Zeugung und Selbstmord auf Jahreskurven zu bringen, die das, was freieste Entscheidung zu sein scheint, als zwangsmäßig zeigen; • Rausch und Geisteskrankheit als verwandt zu empfinden; • After und Mund als das rektale und orale Ende derselben Sache einander gleichzustellen [. . .]. (MoE, 303f., Hervorh. M.D.)

In einem berühmten Gespräch Ulrichs mit Gerada Fischel beschäftigt sich der Protagonist mit seiner wissenschaftlich generierten „Vorliebe für Desillusion, Zwang, Unerbittlichkeit, kalte Abschreckung und trockene Zurechtweisung“ (MoE, 304) nochmals eingehender mit dem – kulturhistorisch komplex konnotierten – Phänomen des Selbstmords, an dem sich der Hiat zwischen diabolischer Liebespoetik samt der ihr zugrundeliegenden Poetologie der Statistik und traditioneller Poetik in kaum zu überbietender Deutlichkeit manifestiert. Gerade aufgrund von dessen Zugehörigkeit zum Epochenkonglomerat von Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm und Drang lässt sich dieser besonders deutlich durch den Hinweis auf die Gestaltung des Leidens und Sterbens von Goethes WertherFigur belegen: Werther wäre wohl kaum vom Ansinnen angetan, den „Selbstmord auf Jahreskurven zu bringen, die das, was freieste Entscheidung zu sein scheint, als zwangsmäßig zeigen“. Dieser Passus verdeutlicht, dass die Poetologie der 107

MoE, 303. S. dazu auch [Joung 1996, 275ff.]. Für eine zeitgenössische – deutlich neutralere, ,populärwissenschaftliche‘ – Darstellung des naturwissenschaftlichen Materialismus vgl. [Classen 1908, 12ff.].

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Statistik keineswegs von einem naiv-universalisierten Kontingenzbewusstsein getragen wird, sondern im Wesentlichen auf die Subversion tradierter (subjektivistischer) Verfahren der Kontingenzbewältigung zielt: Als solche wird hier gerade die um 1800 besonders virulente Frage nach der positiven Bestimmbarkeit von Kontingenz als persönlicher (moralischer) Freiheit betrachtet, deren subjektund identitätsphilosophische Basis attackiert wird.108 Das essayistische, explizit anlässlich eines besonders wichtigen Treffens in Diotimas Salon eingeschobene Kapitel beschreibt die Reaktion der „Gelehrten“ auf die dort gehaltenen Vorträge von „Schöngeistern“ und schreibt den Wissenschaftlern einen – meist unbewussten – „Hang zum Bösen“ (MoE, 301) zu.109 Der Essayist, weit davon entfernt, diesen „Hang“ zu kritisieren,110 stellt ihn in einen komplexen wissens- und kul108

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Auch im MoE wird daher die Frage nach einer Semantik gestellt, die Bedeutungskonstitution erklären kann, ohne – zumindest implizit – auf die genannten, als metaphysisch abgewiesenen Grundlagen zurückzugreifen; Ulrich erklärt Gerda die epistemologischen Grundprobleme der statistischen Bedeutungskonstitution (vgl. dazu ausführlich [Kassung 2001, 350ff.]): „Man nennt das etwas schleierhaft das Gesetz der großen Zahlen. Meint ungefähr, der eine bringt sich aus diesem, der andere aus jenem Grunde um, aber bei einer sehr großen Anzahl hebt sich das Zufällige und Persönliche dieser Gründe auf, und es bleibt – ja, aber was bleibt übrig? [. . .] [O]hne Zweifel wäre es mir persönlich sehr wichtig, zu wissen, ob dahinter unverstandene Gesetze der Gemeinschaft stecken oder ob einfach durch Ironie der Natur das Besondere daraus entsteht, daß nichts Besonderes geschieht, und der höchste Sinn sich als etwas erweist, das durch den Durchschnitt der tiefsten Sinnlosigkeit erreichbar ist.“ (MoE, 488) Vgl. zum „Gesetz der großen Zahlen“ auch MoE, 116f., 572 und 799 sowie die berühmte Passage, die traditionelle Moralkonzepte versuchsweise durch einen Vergleich mit der „kinetischen Gastheorie“ unterläuft: „Nehmen wir an, daß es im Moralischen genau so zugehe, wie in der kinetischen Gastheorie: alles fliegt regellos durcheinander, jedes macht, was es will, aber wenn man berechnet, was sozusagen keinen Grund hat, daraus zu entstehen, so ist es gerade das, was wirklich entsteht! Es gibt merkwürdige Übereinstimmungen! Nehmen wir also auch an, eine bestimmte Menge von Ideen fliegt in der Gegenwart durcheinander; sie ergibt irgendeinen wahrscheinlichsten Mittelwert; der verschiebt sich ganz langsam und automatisch, und das ist der sogenannte Fortschritt oder der geschichtliche Zustand; das Wichtigste aber ist, daß es dabei auf unsere persönliche, einzelne Bewegung gar nicht ankommt, wir können rechts oder links, hoch oder tief denken und handeln, neu oder alt, unberechenbar oder überlegt: es ist für den Mittelwert ganz gleichgültig, und Gott und Welt kommt es nur auf ihn an, nicht auf uns!“ (MoE, 491) Für weitgehend erschöpfende Deutungen dieser prominenten Problematik vgl. [Kassung 2001, 363ff.], [Könneker 2001, 61ff.] sowie [Vatan 2000, 108ff.]. Vgl. dazu [Albertsen 1968, 29ff.]. Die Verfasserin arbeitet in unprätentiöser Form grundlegende wissenspoetische Strukturen in Musils Werk heraus, ergreift aber in ihrer philosophischhermeneutischen Lektüre m.E. zu stark für die vom Erzähler und Ulrich besetzte Position Partei. An anderer Stelle versieht der Erzähler auch die Hauptfigur Ulrich mit dieser psychischen Disposition: „Alles, was er an Neigung zum Bösen und Harten besaß, lag in dem Wort Gewalt, es bedeutete den Ausfluß jedes ungläubigen, sachlichen und wachen Verhaltens. Hatte doch eine gewisse harte, kalte Gewalttätigkeit auch bis in seine Berufsneigungen hineingespielt, so daß er vielleicht nicht ganz ohne eine Absicht auf das Grausame Mathematiker geworden war. [. . .] Dieser Drang zum Angriff auf das Leben und zur Herrschaft darüber war jederzeit deutlich zu bemerken gewesen, mochte er sich als Ablehung bestehender oder als wechselndes Streben nach neuer Ordnung, als logisches, moralisches oder sogar bloß als das Verlangen nach athletischer Vorbereitung des Körpers dargestellt haben.“ (MoE, 591) Erkennbar auf Nietzsches Spuren (vgl. dazu z.B. [Olmi 1983] und [Dresler-Brumme 1987]) begründet der Erzähler im Zusammenhang der ausführlichen Gespräche Agathes und Ulrichs, des ,verbrecherischen‘ Geschwisterpaars, das

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turhistorischen Kontext und analysiert die Ursachen des Konflikts zwischen Naturwissenschaftlern und den als „Schöngeistern“ diffamierten Repräsentanten der ,offiziellen‘ Hochkultur: Der für die neuzeitlich-moderne Entwicklung entscheidende Paradigmenwechsel wird im sechzehnten Jahrhundert, „einem Zeitalter stärkster seelischer Bewegtheit“ (MoE, 301) verortet, und mit Verweis auf Galileo Galilei und seiner Auseinandersetzung mit der Kirche an einer folgenschweren Verlagerung der Forschungsmethoden und -ziele von „religiöser und philosophischer Spekulation“ (MoE, 301f.) und den „Geheimnissen der Natur“ (MoE, 302) zur „Erforschung ihrer Oberfläche“ (MoE, 302) festgemacht.111 Dieser „neue Geist“ (ebd.) schere sich wenig darum, „aus welchem in ihrem Wesen liegenden Grund die Natur eine Scheu vor leeren Räumen habe, sodaß sie einen fallenden Körper solange Raum um Raum durchdringen und ausfüllen lasse, bis er endlich auf festem Boden anlange, und begnügte sich mit einer viel gemeineren Feststellung: er ergründete einfach, wie schnell ein solcher Körper fällt, welche Wege er zurücklegt, Zeiten verbraucht und welche Geschwindigkeitszuwüchse er erfährt.“ (Ebd.) Nicht mehr die qualitative Frage nach dem ,Wesen‘ der Natur, sondern die quantitative Analyse ganz alltäglicher Naturvorgänge bildet nun die Basis und den Mittelpunkt wissenschaftlicher Forschung.112 Der Erzähler berichtet, die „Nüchternheit“, von der Galileo „beseelt“ gewesen sei, habe sich epidemieartig in der wissenschaftlichen Welt ausgebreitet, und rechtfertigt diese in der Moderne paradox anmutende Ausdrucksweise:113 „[S]o anstößig das heute klingt, jemanden

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ein Altersunterschied von fünf Jahren nicht daran hindert, sich zu (gar Siamesischen) Zwillingen zu erklären, den ,Vorsprung‘ des (emphatisch verstandenen, stets leidenschaftlich vollbrachten) ,Bösen‘ gegenüber dem mediokren ,Guten‘: „Es ist das eine allgemeine Erscheinung: denn in Geschehnissen, die sie in Gegensatz zu ihrer Umgebung bringen, entfalten alle ihre Kräfte, während sich dort, wo sie nur ihre Schuldigkeit tun, begreiflicherweise nicht anders verhalten als beim Steuerzahlen. Woraus es sich ergibt, daß alles Böse mit mehr oder weniger Phantasie und Leidenschaft vollbracht wird, wogegen sich das Gute durch eine unverkennbare Affektarmut und Kläglichkeit auszeichnet.“ (MoE, 822) An anderer Stelle heißt es dazu mit explizitem Bezug auf die Kategorie der Kontingenz: „Das Gute ist beinahe schon seiner Natur nach Gemeinplatz, das Böse bleibt Kritik! Das Unmoralische gewinnt sein himmlisches Recht als eine drastische Kritik des Moralischen! Es zeigt uns, daß das Leben auch anders geht. Es straft lügen.“ (MoE, 959) Vgl. zum Zusammenhang von moralischem Funktionalismus und moderner Kontingenzsemantik [Makropoulos 1997, 131f.]. S. dazu auch [Berger 2004, 212]. Vgl. dazu auch die mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Überlegungen zur Genese der neuzeitlichen Naturwissenschaften bei [Heisenberg 1959, 181ff.]: Im 16. Jahrhundert erschien Heisenberg zufolge „eine neue Autorität, die von der christlichen Religion und Philosophie oder von der Kirche völlig unabhängig war, die Autorität der Erfahrung, der empirischen Tatsache. Man kann die Anfänge dieser Autorität zu älteren philosophischen Richtungen hin zurückverfolgen, z.B. zur Philosophie von Occam oder Duns Scotus, aber sie wurde erst vom 16. Jahrhundert ab eine entscheidende Kraft in der Entwicklung des menschlichen Denkens.“ [Heisenberg 1959, 189]. Vgl. [Berger 2004, 164]. Vgl. dazu nochmals [Heisenberg 1959, 190]: „Galilei wollte nicht nur über die mechanischen Bewegungen, das Pendel und den fallenden Stein nachdenken, sondern er untersuchte durch Experimente quantitativ, wie diese Bewegungen stattfanden. Diese neue Tätigkeit war zu Anfang sicherlich nicht als eine Abweichung von der traditionellen christlichen Religion gemeint. [. . .] Aber der große Wert, der auf die Erfahrung gelegt wurde, führte doch zu einer langsamen und allmählichen Veränderung in der ganzen Auffassung der Wirklichkeit. Während im Mittelalter

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von Nüchternheit beseelt zu nennen, wo wir davon schon zuviel zu haben glauben, damals muß das Erwachen aus der Metaphysik zur harten Betrachtung der Dinge nach allerhand Zeugnissen geradezu ein Rausch und Feuer der Nüchternheit gewesen sein!“ (Ebd.) Süffisant bietet der Erzähler eine entwicklungspsychologische Analogie als Erklärung an und vergleicht die sich in Metaphysik ergehende antikmittelalterliche Menschheit mit einem Kind, das „zu früh versucht hat, zu laufen: sie setzt sich auf die Erde und berührte diese mit einem verläßlichen und wenig edlen Körperteil, es muß gesagt werden: sie tat es mit eben jenem, auf dem man sitzt.“ (Ebd.). Erstaunlicherweise habe gerade das zu einem Erkenntnisfortschritt geführt, der die Menschheit in die Lage versetzte, endlich begründete Hypothesen auch über das ,Wesen‘ der ,Natur‘ zu machen und dieser „Erfindungen, Bequemlichkeiten und Erkenntnisse in einer Fülle“ entlockt, „die ans Wunder grenzt.“ (Ebd.) Der Erzähler weist explizit auf die diabolische Konnotation des „Anstandslosen“ (MoE, 303) seines Berührungsgleichnisses hin und bezeichnet die neuzeitlich-moderne Welt, deren Gestalt maßgeblich von den von Nüchternheit Beseelten geprägt worden sei, als „Wunder des Antichrist“ (MoE, 302).114 Ironisch wird das dem besagten neuen wissenschaftlichen ,Geist‘ inhärente „Element des Urbösen“ (MoE, 303) charakterisiert, das „alles menschlich Hohe“ (MoE, 303) zu unterlaufen trachte, anthropologisch aber mindestens ebenso basal sei: Wer kennt nicht die boshafte Verlockung, die bei der Betrachtung eines schönglasierten üppigen Topfes in dem Gedanken liegt, daß man ihn mit einem Stockhieb in hundert Scherben schlagen könnte? Zum Heroismus der Bitterkeit gesteigert, daß man sich im Leben auf nichts verlassen könne, als was niet- und nagelfest sei, ist sie ein in die Nüchternheit der Wissenschaft eingeschlossenes Grundgefühl, und wenn man es aus Achtbarkeit nicht den Teufel nennen will, so ist doch zumindest ein leichter Geruch von verbranntem Pferdehaar daran. (MoE, 303)

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das, was wir heutzutage die symbolische Bedeutung einer Sache nennen, in einer gewissen Weise ihre primäre Wirklichkeit war, verwandelte sich die Wirklichkeit in das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Was wir sehen und berühren können, wurde primär wirklich. Und dieser neue Wirklichkeitsbegriff konnte mit einer neuen Aktivität verbunden werden: wir können experimentieren und herausfinden, wie die Dinge wirklich sind. Man kann leicht erkennen, daß diese neue Haltung den Aufbruch des menschlichen Denkens in ein unendliches Feld neuer Möglichkeiten bedeutete, und man kann gut verstehen, daß die Kirche in der neuen Bewegung mehr die Gefahren als die Hoffnungen sah.“ Auch in Benns Essay Das moderne Ich von 1919 wird der Durchsetzung statistischer Verfahren eine zentrale zeitdiagnostische Rolle zugeschrieben: Während „noch um Achtzehnhundert herum die Beschreibung einer Ameisenart als Beschreibung von Gottes Allmacht und Wunderwirken im Einzelfall der hier vorliegenden Rüssel und Facettenaugen, als Fachwissenschaft im Rahmen der Theologie“ [Benn 1987, 102] aufgefasst worden sei, sei das 20. Jahrhundert ein „Jahrhundert des Wirklichen und des Erkennens, in dem der Geist Statistik schuf und Urinkontrolle, wo die Tabelle hoch ging und die Schöpfung sank, wo man Ordinarius wurde, wenn man die Nebenhöhlen der Nase beherrschte, und Vorsitzender von Kongressen, wenn man drei Pickel gesehen hatte und der Nebenmann nur zwei, wo kein Haus in keiner Straße war, wo nicht ein Zahnklempner wohnte und ein Patentanwalt, ein Harnarzt oder ein Geodäte – zur Eroberung der Erde und zur Beherrschung der Welt.“ [Benn 1987, 98].

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Die Ulrich (als naturwissenschaftlich informierter und inspirierter Figur) hier metaphorisch zugeschriebene Zerstörungslust wird im Text in unterschiedlicher Form theoretisch reflektiert und praktisch vorgeführt und häufig mit der Tendenz einer explosiven Zunahme wissenschaftlichen Wissens in der Moderne enggeführt. Während Ulrich diese Entwicklung emphatisch begrüßt, beklagt die Mehrzahl des Romanpersonals die damit zusammenhängende kulturelle Transformation, wodurch es zu ausgedehnten Debatten mit seinem Jugendfreund Walter (z.B. MoE, 63ff.115 und 610), seinem Vater (z.B. MoE, 13ff., 316 und 537)116 , Arnheim 115

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In dem Kapitel mit dem bezeichnenden Titel „Wirkung eines Mannes ohne Eigenschaften auf einen Mann mit Eigenschaften“ führt der damit als prototypischer „Mann mit Eigenschaften“ qualifizierte Walter zunächst seine abschätzige Sicht der modernen Mathematik vor, die er als wichtige Quelle von Ulrichs ,Eigenschaftslosigkeit‘ erkennt: „Ein Mathematiker sieht nach gar nichts aus; das heißt, er wird so allgemein intelligent aussehen, daß es keinen einzigen bestimmten Inhalt hat! Mit Ausnahme der römisch-katholischen Geistlichen sieht heute überhaupt niemand mehr so aus, wie er sollte, weil wir unseren Kopf noch unpersönlicher gebrauchen als unsere Hände; aber Mathematik, das ist der Gipfel, das weiß bereits so wenig von sich selbst, wie die Menschen, wenn sie sich dereinst statt von Fleisch und Brot von Kraftpillen nähren werden, noch von Wiesen und jungen Kälbern wissen dürften!“ (MoE, 64) Seine hier rousseauistisch gefärbte (vgl. zum „Rousseauismus“ in Musils Werk [Dreis 1992]) Kritik an der forcierten Abstraktheit des modernen mathematisch-wissenschaftlichen Diskurses, dessen Zeichen- und Axiomensysteme kaum noch am Bezug der in ihm verwendeten Zeichen zu bezeichneten ,Inhalten‘ oder (etwa anschaulichen) ,Bedeutungen‘ interessiert zu sein scheint, mündet in eine Charakterisierung des Mannes ohne Eigenschaften und seines Kontingenzbewusstseins: „Wenn er zornig ist, lacht etwas in ihm. Wenn er traurig ist, bereitet er etwas vor. Wenn er von etwas gerührt wird, lehnt er es ab. Jede schlechte Handlung wird ihm in irgendeiner Beziehung gut erscheinen. Immer wird für ihn erst ein möglicher Zusammenhang entscheiden, wofür er eine Sache hält. Nichts ist für ihn fest. Alles ist verwandlungsfähig, Teil in einem Ganzen, in unzähligen Ganzen, die vermutlich zu einem Überganzen gehören, das er aber nicht im geringsten kennt. So ist jede seiner Antworten eine Teilantwort, jedes seiner Gefühle nur eine Ansicht, und es kommt ihm bei nichts darauf an, was es ist, sondern nur auf irgendein danebenlaufendes ,wie es ist‘, irgendeine Zutat, kommt es immer an.“ (MoE, 65). Zu Walters Ärger bekundet seine Frau Clarisse aber Sympathie für die wissenschaftlich inspirierte Subversion traditioneller Ordnungskategorien. Er kontert mit einer wiederum deutlich auf das Konzept der diabolisch-destruktiv wirkenden neuzeitlich-modernen Wissenschaft bezogenen Spottrede, in der er diese ad absurdum zu führen meint: „Erst werden aus den vier Elementen einige Dutzend, und zum Schluß schwimmen wir bloß noch auf Beziehungen, auf Vorgängen, auf einem Spülicht von Vorgängen und Formeln, auf irgendetwas, wovon man weder weiß, ob es ein Ding, ein Vorgang, ein Gedankengespenst oder ein Ebengottweißwas ist! Dann besteht zwischen einer Sonne und einem Zündholz kein Unterschied mehr, und zwischen dem Mund als dem einen Ende des Verdauungskanals und seinem anderen Ende auch keiner! Die gleiche Sache hat hundert Seiten, die Seite hundert Beziehungen, und an jeder hängen andere Gefühle. Das Menschenhirn hat dann glücklich die Dinge geteilt; aber die Dinge haben das Menschenherz geteilt!“ (MoE, 66) Wie Walter wird auch Ulrichs Vater bezüglich der Eigenschaftslosigkeit bereits im dritten Kapitel unter der Überschrift „Auch ein Mann ohne Eigenschaften hat einen Vater mit Eigenschaften“ (MoE, 13ff.) explizit als Antagonist seines Sohns eingeführt. Der Jurist ist Hochschullehrer und gehört dem „freisinnigen bürgerlichen Flügel[]“ (MoE, 15) an, dessen Liberalismus klassischkantischer Prägung ist. Er sei von demjenigen Pflichtbewusstsein erfüllt, das den „Geist des aufstrebenden Bürgertums“ (MoE, 15) verkörpere. Brieflich teilt er seinem Sohn seine Sicht ethischjuristischer und wissenschaftlicher Prinzipien mit, die den moralischen und wissenspoetischen Überzeugungen Ulrichs und des Erzählers in eklatanter Weise entgegengesetzt sind. Dabei exemplifiziert der Erzähler an ihm zugleich die seinem Berufsstand zugeschriebene déformation

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(z.B. MoE, 541ff.117 ), Diotima und dem Liebespaar Hans Sepp und Gerda Fischel kommt. Letzterer erläutert der Protagonist im Kapitel „Die Versuchung“ (MoE, 486) nach kontroversen Auseinandersetzungen ausführlich einige seiner wissenspoetischen Grundüberlegungen und betont dabei, dass die Statistik für eine adäquate Beschreibung der modernen Wirklichkeit eine zentrale Rolle spielt.118 Die Gegner der durch Mathematisierung geprägten modernen Wissenskultur machen diese für eine ,Mechanisierung‘ des Alltags verantwortlich, die den Geist und die Seele sowohl der einzelnen Individuen als auch der Gemeinschaft zerstöre, was mit einer Verarmung und Entindividualisierung der emotionalen Fähigkeiten einhergehe:119

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professionelle, den „Knaben Mensch“ (MoE, 537) stets väterlich-herablassend zu behandeln und sämtliche neueren Erkenntnisse der Psychologie zu ignorieren: „Die Welt zerrisse, wenn alles als wahr gelten dürfte, was dafür gehalten wird, und jeder Wille als erlaubt, der sich selbst so vorkommt. Es ist darum unser aller Pflicht, die eine Wahrheit und den rechten Willen festzustellen und, soweit uns dies gelungen ist, mit unerbittlichem Pflichtbewußtsein darüber zu wachen, daß es auch in der klaren Form wissenschaftlicher Anschauung niedergelegt werde.“ (MoE, 316) Im weiteren führt der Vater seine Sorge um den Zustand der abendländischen Kultur in einer Zeit aus, in der weite Bevölkerungs- und Wissenschaftskreise „den Einflüsterungen einer verworrenen Zeit erliegen“ (ebd.). Die konträre Auffassung, die Vater und Sohn von der Rolle der Wissenschaft haben, zeigt den unüberbrückbaren Hiat zwischen dem Liberalismus kantisch-aufgeklärter Provenienz und dem Kontingenzbewusstsein, das in der Poetologie der Statistik propagiert und praktiziert wird: Während dem Vater die (aus seiner Sicht vom Medium bürgerlich-aufgeklärter Vernunft bestimmte) Sphäre der Wissenschaften als letzte, in der Moderne freilich ebenfalls bedrohte Bastion von Klarheit, Wirklichkeit und Wahrheit erscheint, ist Ulrichs wissenschaftliche Betätigung gerade durch das darin entdeckte subversive, desemantisierende und Kontingenzbewusstsein weckende Potential motiviert. Arnheim wird am angegebenen Ort – bezeichnenderweise ausgehend von einer Sentenz aus Goethes Wilhelm Meister – die klassische Position in den Mund gelegt, die den mephistophelischen Beobachtungsmodus zweiter Ordnung und die damit einhergehende Faszination für Kontingenz als mentales Ungleichgewicht zwischen den in der Zeit um 1800 komplementär konzipierten geistigen Vermögen des Denkens und Fühlens deutet: „Es war ihm eingefallen, daß man auch das noch unter ,bloß Witz haben‘ verstehen könne. Er erkannte die Schwäche Ulrichs. Witz kommt von Wissen, eine sprachliche Weisheit, denn sie bezeichnet die intellektuelle Herkunft dieser Eigenschaft, ihre gespenstische, gefühlsarme Natur; der Witzige ist immer vorwitzig, er setzt sich über die gegebenen Grenzen hinweg, an denen der voll Fühlende haltmacht.“ (MoE, 541) Arnheim selbst habe zeitlebens „eine fast krankhaft empfindliche Abneigung gegen Witz und Ironie besessen“ (MoE, 546), gelten ihm diese doch „für den Inbegriff des unadeligen und pöbelhaft Intellektuellen“ (MoE, 546). Die Zitate entstammen einer (ironischen) Passage, in der Arnheims Bewunderung für seinen nicht akademisch gebildeten, ökonomisch aber sehr erfolgreichen Vater dargestellt wird. Insbesondere die Zuschreibung von „Intuition“ entlarvt die im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung operierende narrative Instanz als phantasmatische Form der Homogenisierung und simplifizierend-sinnstiftenden Komplexitätsreduktion. (MoE, 542 und 545f.). Vgl. dazu [Vatan 2000, 60f.]. Ähnliche Ausführungen wiederholt Ulrich später (in noch komplexerem Kontext) im Gespräch mit seiner Schwester Agathe, vgl. MoE, 894ff. Im Sinne der Poetologie der Statistik bekämpft auch [Cassirer 2004, 185] dieses in der Klassischen Moderne offenbar äußerst präsente und erfolgreiche Argumentationsmuster: „Man kann die ,mechanische Naturanschauung‘, die Anschauung, daß alles Naturgeschehen sich auf die Bewegung kleinster Massenteilchen zurückführen lasse, aus erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten bekämpfen und ihre Mängel aufzuweisen versuchen, aber es ist ein ganz unzulässiges und unzulängliches Kampfmittel, wenn man sich hierbei darauf beruft, daß die mechanistische Physik einer ,materialistischen‘ Denkungsart entstammt. Nicht nur in der populären Diskussion, sondern

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Vielleicht glauben nicht alle diese Menschen an die Geschichte vom Teufel, dem man seine Seele verkaufen kann. Aber alle Leute, die von der Seele etwas verstehen müssen, weil sie als Geistliche, Historiker und Künstler gute Einkünfte daraus beziehen, bezeugen es, daß sie von der Mathematik ruiniert worden sei und daß die Mathematik die Quelle eines bösen Verstandes bilde [. . .]. Die innere Dürre, die ungeheuerliche Mischung von Schärfe im Einzelnen und Gleichgültigkeit im Ganzen, das ungeheure Verlassensein des Menschen in einer Wüste von Einzelheiten, seine Unruhe, Bosheit, Herzensgleichgültigkeit ohnegleichen, Geldsucht, Kälte und Gewalttätigkeit, wie sie unsere Zeit kennzeichnen, sollen nach diesen Berichten einzig und allein die Folge der Verluste sein, die ein logisch scharfes Denken der Seele zufügt! Und so hatte es auch schon damals, als Ulrich Mathematiker wurde, Leute gegeben, die den Zusammenbruch der europäischen Kultur voraussagten, weil kein Glaube, keine Liebe, keine Einfalt, keine Güte mehr im Menschen wohne [. . .]. (MoE, 40)

Ulrich, der die Mathematik – die für seine intellektuelle Entwicklung maßgebliche Wissenschaft – gerade „wegen der Menschen, die sie nicht ausstehen mochten“ (MoE, 40) schätzt, fühlt sich von dieser Attribuierung des Diabolischen freilich vor allem geschmeichelt;120 dennoch dekonstruiert er in einem Gespräch mit General Stumm, der sich als militärbehördlicher Teilnehmer der Parallelaktion zum Ziel setzt, „Ordnung in den Zivilverstand zu bringen“ (MoE, 370), die landläufige Selbstverständlichkeit der Differenz von Verstand und Gefühl und der vermeintlich natürlichen Kopplung von Verstand und Regelhaftigkeit einerseits und Gefühl und Individualität andererseits: „Lieber Stumm, [. . .] sehr viele Menschen werfen der Wissenschaft vor, daß sie seelenlos und mechanisch sei und auch alles, was sie berühre, dazu mache; aber wunderlicherweise bemerken sie nicht, daß in den Angelegenheiten des Gemüts eine noch weit ärgere Regelmäßigkeit steckt als in denen des Verstandes! Denn wann ist ein Gefühl recht natürlich und einfach? Wenn sein Auftreten bei allen Menschen in gleicher Lage geradezu automatisch zu erwarten ist! [. . .] [W]enn du vor dieser öden Regelmäßigkeit in die dunkelste Tiefe deines Wesens fliehst, wo die unbeaufsichtigten Bewegungen zuhause sind, in diese feuchte Kreaturtiefe, die uns vor dem Verdunsten am Verstande schützt, was findest du? Reize und Reflexbahnen, Einbahnung von Gewohnheiten und Geschicklichkeiten, Wiederholung, Fixierung, Einschleifung, Serie, Monotonie! Das ist Uniform, Kaserne, Reglement, lieber Stumm, und es

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auch in ,Widerlegungen‘, die sich einen streng philosophischen Anschein zu geben versuchen, ist immer wieder von diesem Kampfmittel Gebrauch gemacht worden. Man wirft dem Mechanismus vor, daß er eine äußerliche, ,ungeistige‘ Betrachtungsweise sei – daß er keinen Sinn für die ,Ganzheit‘ des Naturgeschehens habe, sondern sich mit der Erfassung der Teile begnüge. Aber so wirksam diese Argumentation auch sein mag, so irrig und oberflächlich ist sie.“ [Joung 1996, 244] deutet Ulrichs mit einer „Rhetorik des Bösen“ einhergehende Leidenschaft für die Mathematik vor dem Hintergrund des Konzepts der „konstruktiven Ironie“ (ebd., 243). [Klingenberg 1997] weist mit Blick auf Dürers Werk auf die Affinität von Melancholie und Mathematik hin.

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hat die zivile Seele merkwürdige Verwandtschaft mit dem Militär.“ (MoE, 377f.)

Die von Erzähler und Protagonist belächelten „Fachleute“ für „Geist“ und „Seele“121 fassen die Mathematisierung der Kultur also (inhaltlich weitgehend kenntnislos) als Ursache einer individuellen und globalen ,Verarmung‘ und als Verlust auf, indem sie diese für die Depotenzierung integrativer kognitiver Fähigkeiten verantwortlich machen, die ontologisch-anthropologisch als Ursprungsort der Individualität konzipiert werden und immer bloß metaphorisch (etwa als „dunkelste Tiefe deines Wesens“ oder als „feuchte Kreaturtiefe“) apostrophiert werden können, da sie als prädiskursives, außersprachliches und ,natürliches‘ Substrat der Person aufgefasst werden. Genau diese Differenz, die der Kritik an der modernen Mathematik und Wissenschaft überhaupt erst Sinn verleiht, wird von Ulrich dekonstruiert: Der „Mann ohne Eigenschaften“ behauptet im oben zitierten Gespräch mit dem General, dass gerade die vermeintlich individuellsten, subjektivsten kognitiven Sphären immer schon (und nicht etwa erst durch Fortschritte in den Wissenschaften) am stärksten diskursiv, d.h. überindividuell und intersubjektiv bestimmt und weitgehend ,automatisiert‘ seien.122 Das folgende Zitat beschreibt genau die dekonstruierende Wirkung des Zur-Sprache-Bringens der ,tieferen‘ Bedeutung bzw. des ,tieferen‘ Sinns: „[E]rgreifende große Ideen [bestehen] aus einem Leib, welcher wie der des Menschen kompakt, aber hinfällig ist, und aus einer ewigen Seele, die ihre Bedeutung ausmacht, aber nicht kompakt ist, sondern bei jedem Versuch, sie mit kalten Worten anzufassen, sich in nichts auflöst.“ (MoE, 110) An dieser Stelle wird besonders deutlich, in welchem Sinne Musils Poetologie der Statistik an die katastrophischen Deutungen der modernen Wissenschaften anknüpft: Im MoE treten zahlreiche – vom Erzähler und seinem Protagonisten meist belächelte – Kritiker der Mathematisierung der Kultur auf, welche die modernen Wissenschaften im Spenglerschen Sinn vor allem als Ursprung heilloser Kontingenz und kultureller Desintegration wahrnehmen, die damit einhergehende Forcierung von Polysemie oder Desemantisierung beklagen und dabei an der traditionellen Differenz von ,nüchternem‘, unpersönlichem Verstand und einer tendenziell ,emotional‘ konnotierten Sphäre festhalten, in der Individualität und integrative Sinnstiftung verortet werden. Eben diese Differenz dekonstruiert der diabolischstatistische Beobachter, indem er sie als kulturelles Konstrukt kenntlich zu machen versucht. In dem von ihm propagierten Modus der Beobachtung zweiter Ordnung wird die für die katastrophischen Deutungen konstitutive Klage über die Kontin121 122

Vgl. [Moser 1980, 174]. Besonders plastisch drückt [Musil 19782 , 1007] seine Verachtung zeitgenössischer Diskurse, die ,Seele‘ oder ,Gefühl‘ einfordern, vor dem Hintergrund seiner Faszination für die moderne Mathematik im Essay Der mathematische Mensch aus: „Wir plärren für das Gefühl gegen den Intellekt und vergessen, daß Gefühl ohne diesen – abgesehen von Ausnahmefällen – eine Sache so dick wie ein Mops ist. Wir haben damit unsere Dichtkunst schon so weit ruiniert, daß man nach je zwei hintereinander gelesenen Romanen ein Integral auflösen muss, um abzumagern.

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genz der modernen Kultur letztlich gegenstandslos.123 Die Mathematisierung wird im MoE also vor allem als epistemologische Inthronisation der Beobachtung zweiter Ordnung und als ironische Verabschiedung ästhetischer, philosophischer und literarischer Konzepte präsentiert, die im Modus der Beobachtung erster Ordnung verharren, indem sie bestimmte Differenzen für vorgegeben halten oder Sinn und Bedeutungen festschreiben wollen, ohne die Unhintergehbarkeit von deren diskursiver Genese einzugestehen.124 Für Ulrichs fiktionales ,Weltbild‘ ist die von ihm immer wieder durchgespielte Kontamination technischer und mathematisch-naturwissenschaftlicher Methoden mit der Sphäre der Moral besonders bedeutsam. Schon im zweiten Kapitel wird ein moralisches Credo Ulrichs ausgesprochen: „,Man kann tun was man will;‘ sagte sich der Mann ohne Eigenschaften achselzuckend ,es kommt in diesem Gefilz von Kräften nicht im geringsten darauf an!‘“ (MoE, 19). Dessen statistischwissenschaftlicher Kontext und semantische Implikationen sind bereits oben im Zusammenhang mit dem Gedankenexperiment erörtert worden, in dem thermodynamische Resultate (der „kinetischen Gastheorie“) in Moral- und Geschichtstheorien transformiert werden.125 Nicht nur die klassisch-humanistische Ästhetik und Hochkultur wird also von der Poetologie der Statistik verabschiedet, sondern auch die zugehörigen anthropologischen und ethischen Konzepte: Wen soll das tausendjährige Gerede darüber, was gut und bös sei, fesseln, wenn sich herausgestellt hat, daß das gar keine ,Konstanten‘ sind, sondern ,Funktionswerte‘, so dass die Güte der Werke von den geschichtlichen Umständen abhängt und die Güte der Menschen vom psychotechnischen Geschick, mit dem man ihre Eigenschaften auswertet! (MoE, 37)

Diese Form der statistisch und (natur-)wissenschaftlich motivierten Moraltheorie zweiter Ordnung kehrt an vielen zentralen Passagen wieder und wird wie hier oft mit Kontingenz zelebrierenden ästhetisch-poetologischen Reflexionen verknüpft. Auch im berühmten Kapitel über Ulrichs Essayismus werden seine moralischen Überlegungen mit technisch-naturwissenschaftlicher Funktionsmetaphorik unterlegt:126 123 124 125

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Vgl. auch die zusammenfassende Bewertung von Beobachtung erster und zweiter Ordung bei [Berger 2004, 170f.]. Vgl. dazu [Monti 1983, 208] sowie [Kümmel 2001, 69ff.]. [Kassung 2001, 343ff.] beschäftigt sich in seiner Monographie anhand des MoE mit den interdiskursiven Bezügen zwischen moderner Literatur und Physik und kritisiert diesbezüglich immer wieder die verbreitete Vorgehensweise, die dem Roman inskribierten naturwissenschaftlichen Bezüge ,vorschnell‘ mit Philosophemen zu kontaminieren und damit die Bedeutsamkeit der Interdiskursivität des Romans implizit zu depotenzieren. Der Verfasser rekonstruiert die Genese des Entropiediskurses, der sich im 19. Jahrhundert dezidiert von der klassischen Physik Newtonscher Prägung absetzt. Im Zuge dieser Entwicklung bildet sich unter anderem die neue physikalische Theorie der Thermodynamik heraus, Kassung ist aber – mit wiederholter, nicht unproblematischer Polemik gegen das ,tote‘ physikalische Lehrbuchwissen – darum bemüht, einen offen konzeptualisierten Entropiediskurs als zentrale epistemologische Position der modernen ,Gesamtkultur‘ lesbar zu machen und Musils Romanfragment darin zu verorten. Vgl. [Ego 1992, 89ff.].

128

Poetologie der Statistik Der Wert einer Handlung oder Eigenschaft, ja sogar deren Wesen und Natur, erschienen ihm (= Ulrich) gänzlich abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten. Das ist übrigens nur die einfache Beschreibung der Tatsache, daß uns ein Mord als ein Verbrechen oder als eine heroische Tat erscheinen kann und die Stunde der Liebe als die Feder, die aus dem Flügel eines Engels oder einer Gans gefallen ist. Aber Ulrich verallgemeinerte sie. Dann fanden alle moralischen Ereignisse in einem Kraftfeld statt, dessen Konstellation sie mit Sinn belud, und sie enthielten das Gute und das Böse wie ein Atom chemische Verbindungsmöglichkeiten. Sie waren gewissermaßen das, was sie wurden, und so [. . .] erschienen ihm alle moralischen Geschehnisse in ihrer Bedeutung als die abhängige Funktion anderer. (MoE, 250f.)

In epistemisch-zeitdiagnostischer Auseinandersetzung mit Ulrichs ,Eigenschaftslosigkeit‘ wird, argumentativ wiederum auf moderne statistische Methoden gestützt, schließlich die für die Klassische Moderne (zugleich drohende und faszinierende) topische Überzeugung von der ,Unrettbarkeit des Ich‘127 formuliert. Nach Ästhetik, Hochkultur, Moral und ontologisch oder metaphysisch fundierter Semantik verabschiedet der Erzähler (im Kapitel mit dem bezeichnenden Titel Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann“ (MoE, 148ff.)) traditionelle Vorstellungen geschlossener bzw. ganzheitlicher Identitäts- und Subjektkonstitution:128 Heute [. . .] hat die Verantwortung ihren Schwerpunkt nicht im Menschen, sondern in Sachzusammenhängen. Hat man nicht bemerkt, daß sich die Erlebnisse vom Menschen unabhängig gemacht haben? [. . .] Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht beinahe so aus, als ob im Idealfall der Mensch überhaupt nichts mehr privat erleben werde und die freundliche Schwere der persönlichen Verantwortung sich in ein Formelsystem von möglichen Bedeutungen auflösen solle. Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so lange für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahren im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt, denn der Glaube, am Erleben sei das wichtigste, daß man es erlebe, und am Tun, daß man es tue, fängt an, den meisten Menschen als eine Naivität zu erscheinen. (MoE, 150)

Wiederum maßgeblich getragen von Funktionsmetaphorik präsentiert der Erzähler hier Ulrichs zu Beginn des Romans noch als ,eigentümlich‘ gekennzeichnete Wissenspoetik weitgehend verallgemeinert als moderne ,Wirklichkeit‘, die durch

127 128

In der Antimetaphysischen Vorbemerkung seiner Analyse der Empfindungen stellt [Mach 1991, 20] apodiktisch fest: „Das Ich ist unrettbar.“ Vgl. [Monti 1983, 221f.].

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verschiedene rhetorische Mittel plausibilisiert wird, indem die Gegenposition ironisiert („freundliche Schwere“) und ihre Anhänger als ,naiv‘ bezeichnet werden.129 Es wurde bereits dargelegt, in welchem Sinne Erzähler und Protagonist moderne Technik und Statistik als Kulturtechniken der Kontingenzerhöhung verstehen. In strategisch-unorthodoxer wissenspoetischer Praxis übertragen sie deren Methoden und Resultate in Bereiche, die nach allgemeiner Auffassung in scharfem Kontrast zur wissenschaftlichen Sphäre stehen, um tradierte Formen kultureller Sinnstiftung obsolet erscheinen zu lassen: So weist der Erzähler etwa auf die ästhetisch-poetologische Signifikanz des technischen Forschritts für die Moderne hin, beginne man „in der Zeit Ulrichs“ doch endlich, „das Lied der Maschinensäle, Niethämmer und Fabriksirenen [. . .] zu entdecken“ (MoE, 36). Friedrich Kittlers Konzept der Differenz zwischen den Aufschreibesystemen 1800 und 1900 vorgreifend, weist der technologiefreudige Erzähler klassische anthropozentrische Konzepte ab, indem er bestimmten Maschinen einen klassischen Kunstwerken überlegenen ästhetischen Status zuspricht:130 „Wozu braucht man noch den Apollon von Belvedere, wenn man die neuen Formen eines Turbodynamo oder das Gliederspiel einer Dampfmaschinensteuerung vor Augen hat!“ (MoE, 37) Ich werde im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch zahlreiche Belege dafür anführen, dass die hier reflexiv propagierte Poetologie der Technik und Statistik durch die kunstvolle Komposition ,offener‘ Listen, einem der wichtigsten stilistischen Mittel des Romans, in die poetische Praxis überführt wird. Dies konterkariert insbesondere den häufig repetierten, durch Musilsche Äußerungen (vermeintlich) legitimierte Befund, der Roman sei vor allem inhaltlich progressiv und modern, stilistisch131 aber eher konservativ und traditionell. Ulrichs Replik auf Diotimas romantischen Gesang etwa ist als praktisches Beispiel eines solchen „Lieds der Maschinensäle“ zu lesen, das Diotimas an klassischen Kunstwerken wie dem „Apollon von Belvedere“ gebildeter Ästhetik entgegengesetzt wird, und im eben erwähnten Gespräch setzt Ulrich Gerda Fischel sichtlich begeistert (und als wolle er sie „mit Wissenschaft [. . .] hypnotisieren“, MoE, 487) das Prozedere statistischer Datenanalyse auseinander:

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Für eine Analyse der Maschinen- und Technikmetaphorik vor dem Hintergrund seines Metaphorologie-Konzepts vgl. [Blumenberg 1999, 91ff.]. Vgl. [Kittler 2003]. In einem Aphorismus äußert sich Musil im Zusammenhang mit Joyces Werk zur Frage und Bedeutung stilistischer Modernität: „Eine andere Kennzeichnung Joyce’s und der ganzen Richtung der Entwicklung ist: Auflösung. Er gibt dem heutigen aufgelösten Zustand nach und reproduziert ihn durch eine Art freien Assoziierens. Das hat etwas Dichterisches oder den Schein davon; etwas Unlehrhaftes und Wiederanstimmen eines Urgesangs.“ [Musil 19782 , 868] Ohne Häme deutet er dessen Stil somit als moderne Form der Mimesis – im Umkehrschluss kann man somit gerade den konservativ-traditionellen Stil als Ausdruck poetischer Verfremdung, in jedem Fall aber als Ironisierung auffassen, die skeptisch gegen die angesprochenen ,Urgesänge‘ bleibt.

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Poetologie der Statistik • Dann macht man zunächst aus seinem Haufen von Beobachtungen einen Zahlenhaufen; • man macht Ausschnitte – welche Zahlen liegen zwischen diesem und jenem, dem nächsten und dem übernächsten Wert? und so weiter – und bildet daraus Verteilungsreihen; • es zeigt sich, daß die Häufigkeit des Vorkommens eine systematische Zuoder Abnahme hat oder nicht; • man erhält eine stationäre Reihe oder eine Verteilungsfunktion,

• man berechnet – das Maß der Schwankung, – der mittleren Abweichung von einem beliebigen Wert, – den Zentralwert, – den Normalwert, – den Durchschnittswert, – die Dispersion – und so weiter – und untersucht mit allen solchen Begriffen das gegebene Vorkommen. (MoE, 487, Hervorh. M.D.)

Im folgenden Abschnitt werde ich zeigen, dass dieses vor dem Hintergrund der hier vorgeschlagenen Lektüre des Romans nachgerade poetologisch zu nennende ,Gedicht‘ keineswegs nur der Hypnose Gerdas (und der Leser) dient, sondern tatsächlich als Muster von Ulrichs Agieren in der Parallelaktion gelesen werden kann und programmatisch für die Erzählhaltung des Romans ist. Insbesondere diejenigen Figuren, deren fiktionales Weltbild sich nicht mit Ulrichs Faszination für den statistischen Diskurs verträgt, werden im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung regelrecht de-figuriert,132 so dass gerade die Gestalten, die noch einen klassischindividualistischen Gestaltungswillen aufweisen, am deutlichsten als bloße Statisten der Geschichte präsentiert werden.133 3.3.3 Diabolische Listen: Die Statisten der Geschichte Angesichts seiner im vorigen Abschnitt zuletzt zitierten enthusiastischen Auflistung des methodischen Arsenals der modernen Statistik ist es nur konsequent, dass Ulrich seine Rolle als Sekretär der Parallelaktion – nicht ganz im Sinne von Graf Leinsdorf und Diotima – vor allem als deren mephistophelischer Statistiker ausübt;134 seine Datenanalysen sind entsprechend nicht einheitsstiftend und fokussierend, sondern desintegrativ und zerstreuend. Am deutlichsten durchschaut Arnheim, Ulrichs verhasster Gegenspieler, dessen subversives Spiel: Als abgesehen von Ulrich einziger Figur schreibt ihm der Erzähler das intellektuelle Potential zu, selbst als Beobachter zweiter Ordnung zu agieren, stattet ihn aber ebenso mit ,Idealen‘ aus, die ihm dessen Aktualisierung verbieten. Der Erzähler steht diesbezüglich deutlich auf Ulrichs Seite und dekonstruiert Arnheims integratives Wirken ebenso wie Diotimas bereits angedeutetes emphatisches Kultur-, Kunst- und Bildungsverständnis durch diabolische Listenkompositionen, die jede Hoffnung auf einen 132 133 134

Vgl. [Moser 1980, 182]. Vgl. in diesem Sinne ausführlich [Kümmel 2001, 382ff.]. Daher halte ich die Deutung von [Könneker 2001], der Ulrich tatsächlich aufgrund von dessen ,überlegenem‘ intellektuellem Profil für die beste Wahl hält, für verfehlt: Der Protagonist lehnt die auf Sinn- und Identitätsstiftung zielende Parallelaktion prinzipiell ab.

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gemeinsamen und verbindlichen Sinnhorizont illusionär erscheinen lassen.135 Die Figur General Stumms von Bordwehr, die in der Parallelaktionsgeschichte zuächst völlig heteronom wirkt und zu einem passiven Dasein als (bestenfalls drolliger) Statist der Geschichte verdammt zu sein scheint,136 eignet sich gerade aufgrund ihrer Ungeschicklichkeit und Unerfahrenheit in Sachen Hochkultur als Statisitiker und Ethnologe der modernen Geistesgeschichte im Sinne Ulrichs und des Erzählers.137 Sein scheiternder Versuch, „Ordnung in den Zivilverstand zu bringen“ (MoE, 370), eine narrativ grandios komponierte und hochmetaphorisch geschlagene Schlachtenfolge, stellt einen Höhepunkt des Mann ohne Eigenschaften in dieser Lektüre des Romans als diabolisches Liebeslied der Moderne dar. Ein wesentliches Merkmal der statistischen Romanpoetik ist das häufige Auftreten von Listen, also Auflistungen und Reihungen, die nicht selten als Resultate regelrechter Datenerhebung präsentiert werden, doch freilich nie zu greifbaren Ergebnissen kommen, sondern im Gegenteil stets ihre ,Offenheit‘ zur Schau stellen, um so jede Form der Abgeschlossenheit illusionär erscheinen zu lassen.138 Diese Listenkomposition kann als offensives Gegenmodell zum (oben bereits thematisierten) „primitiv Epische[n]“ (MoE, 650) aufgefasst werden:139 Der Erzähler imitiert die textuelle Form des „primitiv Epische[n]“ durch zahllose Auflistungen (die ja in sehr wörtlichem Sinne ein „ordentliche[s] Nacheinander von Tatsachen“ (ebd.) präsentieren), doch verfremdet und radikalisiert das bewährte Ordnungsschema so, dass es gerade keiner „Notwendigkeit gleichsieht“ (ebd.), raubt mithin den Figuren nachhaltig „den Eindruck, daß ihr Leben einen ,Lauf‘ habe“ und dekonstruiert ihr ,Gefühl‘ einer ,Geborgenheit‘ im „Chaos“. Diese subversive kompositorische Strategie verfolgt in immer neuen Arrangements das Ziel, die Simplizität und Brüchigkeit tradierter, insbesondere literarisch vermittelter Kontingenzbewältigungsstrategien aufzuzeigen, an denen selbst in der Moderne „das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ,Faden‘ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.“ (Ebd.) Im Essay Analyse und Synthese referiert Musil die verbreiteten Bedenken gegen die intellektuelle Tendenz zur Analyse, um sogleich deutlich zu machen, dass er zeitgenössische Synthese-Versuche weit unbefriedigender findet: „Man sei gegen nichts so mißtrauisch wie gegen alle Wünsche nach Entkomplizierung der Literatur und des Lebens, nach homerischer oder nach religiöser Stimmung, nach Einheitlichkeit und Ganzheit.“140 Maliziös führt der Erzähler ein derartiges poetologisches Gegenkonzept vor: Regierungsrat Meseritscher, 135 136 137 138 139 140

Vgl. [Kilcher 2003, 437]. Im Folgenden werde ich zeigen, dass sich [Moser 1980, 187] irrt, wenn er diesen Befund für ausreichend hält. Vgl. zur „[g]eistige[n] Organisation als Aufgabe des Dichters“ ausführlich [Kümmel 2001, 121ff.]. Dieser Befund fehlt m.E. bei [Kümmel 2001, 328ff.], der eine Übersicht über textuelle und kompositorische Strategien des MoE (bzw. seiner Deuter) gibt. Vgl. [Sebastian 2005, 90]. [Musil 19782 , 1009]. Vgl. dazu [Berger 2004, 66].

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Poetologie der Statistik

ein einflussreicher Journalist, wird spöttisch141 für seine Fähigkeit gelobt, „eine blendende Gesellschaftsschilderung bloß dadurch zu geben, daß man aufzählt: der und die waren da, hatten dies und das an und äußerten das und jenes; worauf allerdings gerade das hinausläuft, was von vielen für die echteste erzählerische Kunst gehalten wird.“ Bezeichnenderweise wird dem Dichter Feuermaul, einer stets mit vernichtender Ironie gezeichneten Figur, eine – explizit als ,zeitgemäß‘ bezeichnete – ,Lobrede‘ dieser Auffassung von gelungenem Erzählen in den Mund gelegt: „Er (= der Journalist Meseritscher) ist eigentlich der Homer unserer Zeit! Nein, ganz im Ernst, [. . .] das episch unerschütterliche ,Und‘, mit dem Sie alle Menschen und Ereignisse aneinanderreihen, hat in meinen Augen etwas ganz Großes!“ (MoE, 1014) Da der Text selbst immer wieder auf die Doppeldeutigkeit des Terminus ,Geschichte‘ hinweist, ist es an dieser Stelle auch aus narratologischer Sicht sinnvoll, das Geschichtsbild zu rekonstruieren, das der Parallelaktionsgeschichte zugrunde liegt bzw. in ihr zum Ausdruck kommt.142 Die ausgedehnte Parallelaktionshandlung, die um die Suche nach einem Konzept kreist, wie das donaumonarchische Jubiläumsjahr 1918 angemessen begangen werden kann, weist der Geschichte zunächst eine wichtige Rolle zu. Die Parallelaktion erscheint als Paradebeispiel eines historischen ,Ereignisses‘, das Geschichts-Schreibung im Sinne des „primitiv Epischen“ anvisiert. Doch schon die Tatsache, dass der Roman erst nach 1918 entstanden und erschienen ist, versieht diese Bedeutsamkeit mit einem ironischen Bruch: Wissen Erzähler und Leser doch zu jedem Zeitpunkt, dass hier Pläne für ein Ereignis geschmiedet werden, das nie stattfinden wird. Entsprechend kann die Parallelaktionshandlung im Ganzen als Beleg der Unangemessenheit des literarischen und historischen Modells des „primitiv Epischen“ gelesen werden.143 Der Text macht dabei durch seine narrative Faktur als diabolisches Liebeslied der Moderne im Geist der Statistik lesbar, dass nicht erst der Weltkrieg die politische und soziokulturelle Ordnung Europas irreversibel zertrümmert. Im Gegenteil lässt der Erzähler die Vorstellungen von Integration, holistischer Sinnstiftung und Wesenhaftigkeit schon in der Vorkriegszeit als Gespenster und Illusionen erscheinen, die in einem sehr direkten Sinne bloß noch flottierende Signifikanten ohne Signifikate sind, und arbeitet vor allem an der Dekonstruktion derjenigen kakanischen Sprachspiele, die ihren eigenen Sprachspielcharakter und ihre Diskursivität nicht eingestehen.144 In zwei essayistisch verfassten, für das Geschichts- und Gegenwartsbild des Erzählers aufschlussreichen Einleitungskapiteln des MoE, die sich ausführlich mit der ,Wirklichkeit‘ des modernen Kakaniens beschäftigen, zeichnet der Essayist 141 142 143 144

Vgl. [Arntzen 1983, 55]. Für eine neuere ausführliche Monographie zum Themenkomplex Geschichte und Modernität und einschlägige Literaturhinweise vgl. [Haslmayr 1997]. Vgl. [Sebastian 2005, 94ff.], wo in erhellender Weise auf die Geschichtskonzepte Freuds und Kants Bezug genommen wird. Vgl. [Sebastian 2005, 39].

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zunächst die historischen Kontexte seit 1880 aus der Perspektive der zu diesem Zeitpunkt geborenen und von der ,Erfahrung‘ der Jahrhundertwende geprägten Generation nach und fällt ein vernichtendes Urteil über das 19. Jahrhundert.145 Vor allem dessen zweite Hälfte charakterisiert er als pedantisch und epigonal: „Es war klug im Technischen, Kaufmännischen und in der Forschung gewesen, aber außerhalb dieser Brennpunkte seiner Energie war es still und verlogen wie ein Sumpf. Es hatte gemalt wie die Alten, gedichtet wie Goethe und Schiller und seine Häuser im Stil der Gotik und Renaissance gebaut. Die Forderung des Idealen waltete in der Art eines Polizeipräsidiums über allen Äußerungen des Lebens.“ (MoE, 54) Trotz der kollektiven Ablehnung der ,Werte‘ des 19. Jahrhunderts kristallisiert sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts keine übergreifende positive Gegenbestrebung heraus. Die Europäer „waren so verschieden wie nur möglich, und die Gegensätze ihrer Ziele waren unübertrefflich“ (MoE, 55).146 Entsprechend vermochte „niemand [. . .] zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle“ (ebd.):

• Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; • es wurde die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; • man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; • man war gläubig und skeptisch, • naturalistisch und preziös, • robust und morbid, • man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. (MoE, 55, Hervorh. M.D.)

Im Essay Das hilflose Europa prägt Musil für diese kulturelle Lage des modernen Kakaniens und Europas einen sehr markanten Begriff:147 Es ist ein babylonisches Narrenhaus; aus tausend Fenstern schreien tausend verschiedene Stimmen, Gedanken, Musiken gleichzeitig auf den Wanderer ein, und es ist klar, daß das Individuum dabei der Tummelplatz anarchischer Motive wird, und die Moral mit dem Geist sich zersetzt. [Musil 19782 , 1088]. 145 146 147

Vgl. [Moser 1980, 174]. Vgl. zum kulturellen und historischen Kontext der 1920er Jahre [Kucher 1983, insb. 89f.]. Vgl. Helmut Arntzens Interpretation der Bedeutung „Kakaniens“ im Rahmen des von ihm im MoE ausgemachten „satirischen Systems“: [Arntzen 1983, 94ff., insb. 96f. und 117f.].

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Poetologie der Statistik

Diese kritische, seelenärztlich anmutende Diagnose, die der Moderne ein bedenkliches (und nach Heilung verlangendes) Kontingenz-Leiden attestiert,148 entspricht im MoE vor allem Diotimas Einschätzung.149 Im Gegensatz dazu forciert Ulrich solche Kontingenzbefunde: Im berühmten Kapitel „Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte“ (MoE, 357ff.) spielt der Protagonist verschiedene Antworten auf die Frage durch, „warum Diotimas vaterländische Aktion unsinnig“ (MoE, 360) ist, und lässt seine meisterhaft mit dem Handlungskontext verwobenen ,abschweifenden‘150 essayistischen Reflexionen über die Prinzipien(losigkeit) der Weltgeschichte in ein modernes Geschichtsbild münden, das seinem (vom Erzähler geteilten) radikalen Kontingenzbewusstsein und der davon implizierten Depotenzierung des Glaubens an verbindliche Vorgaben und Notwendigkeiten eher entspricht als klassische Modelle, die – religiös, ästhetisch oder philosophisch motiviert – bestrebt waren, historische Prozesse als kohärente, sinnvolle, also insbesondere nicht-kontingente Vorgänge zu konzeptualisieren.151 Selbst wo die Weltgeschichte der Literaturgeschichte ähnele, historische Ereigniszusammen148

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151

Vgl. [Bachmann 1969, 166f.], der Das hilflose Europa in seinem Kapitel über Musils Essayistik und Essayismus exemplarisch interpretiert und abschließend zu Kritikpunkten gelangt, die aus heutiger Sicht bemerkenswert sind: So sei „die mangelhafte Komposition“ des Textes „unessayistisch“; auch die nach seinem Essaybegriff unangebrachte Einteilung in Abschnitte, die „Zerfahrenheit der Argumentation“ (Hervorh. im Original) und die sprachliche Ungefeiltheit kritisiert [Bachmann 1969, 177], womit sein Urteil feststeht: „Robert Musil ist kein Essayist, wenn man darunter einen Schriftsteller versteht, dessen Werk, mindestens zu einem wichtigen Teil, aus nach den Gesetzen der Form komponierten Essays besteht. [. . .] Alle ,Essays‘ Robert Musils sind im Ton traktathaft, ironisch zwar, aber nicht spielerisch, sondern zerfahren, mangelhaft komponiert, wenn man die Gesetze der Gattung anlegt.“ Auch wenn die neuere Essayforschung die ,Undefinierbarkeit‘ ihres Gegenstands bis zum Überdruss bemüht, kann man doch froh sein, dass die Zeiten derartiger gattungspoetischer und -historischer Rasterfahndung und Aburteilung, deren Kategorien der modernen Ästhetik in so erschreckender Weise unangemessen sind, vorbei sind. Wie präsent diese Diagnose im zeitgenössischen intellektuellen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts gerade bei naturwissenschaftlich Informierten war, belegt etwa folgende Bemerkung aus einer naturphilosophischen Vorlesung von [Classen 1908, 5] über ein „philosophische[s] Lesebuch“ mit dem Titel „Moderne Philosophie“: „In diesem finden wir durch alle Gebiete philosophischer Fragen hindurch von den bedeutendsten Vertretern Abschnitte vorgeführt, derart, daß jedes Mal der einen Aeußerung die des Gegners gegenübergestellt ist, die den ersteren widerlegt oder doch wenigstens gerade das Gegenteil von dem für richtig hält, was jener auseinandergesetzt hatte. Die Zahl derartiger Widersprüche in der gegenwärtigen philosophischen Literatur könnte leicht noch um beliebig viele vermehrt werden, und es erscheint danach wenig erfreulich, sich in dieses Wirrsal der Anschauungen hineinzuwagen; auch scheint nur wenig Aussicht vorhanden zu sein, wenn man schließlich hindurchgedrungen ist, daß man dann klüger geworden ist als vorher.“ Vgl. außerdem [Moszkowski 1911, 280f.]. U.a. diese ,Abschweifungen‘ liest [Kassung 2001, 382] als „Entropiegeschichte“ und begründet so seine These, der MoE stelle eine Episode der „Entropiegeschichte“, also des vom Verfasser offen und genuin interdiskursiv konzeptualisierten Entropiedskurses dar. Viele seiner Überlegungen finden sich – teils wörtlich – auch im eben bereits zitierten Essay Das hilflose Europa oder die Reise vom Hundertsten ins Tausendste von 1922, in dem Musil die Gründe bzw. Grundlosigkeit der historischen Entwicklungen reflektiert, die zum Weltkrieg geführt haben. Die darin entworfene Sicht auf das Europa des 20. Jahrhunderts ist offenbar ein Modell für die Parallelaktion; vgl. [Musil 19782 , 1075-1094].

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hänge also „wie alle anderen Geschichten“ (MoE, 360) entstünde, sei nach Ulrichs Urteil wenig Originalität zu erwarten: „Es fällt den Autoren nichts Neues ein, und sie schreiben einer vom anderen ab.“ (MoE, 360). Er betrachtet diesen Fall einer durch ,Autoren‘ intentional bestimmten Historie aber als Ausnahme: „Größtenteils entsteht Geschichte ohne Autoren. (MoE, 361) Sie entsteht nicht von einem Zentrum her, sondern von der Peripherie. Aus kleinen Ursachen.“ (MoE, 360f.) Keinerlei Vertrauen setzt der moderne Beobachter in vernunftbasierte philosophische Modelle der Zeit um 1800, da er die anthropologischen Voraussetzungen vermeintlich ganz verschiedener kultureller Praktiken ohne weiteres für vergleichbar hält: „[. . .] [D]as menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft; es kann mit den gleichen Überzeugungen und Eigenschaften beides schaffen, wenn die Umstände danach sind, und sehr großen äußeren Unterschieden entsprechen dabei sehr kleine innere.“152 Auch die weiteren Antworten nehmen das ,Ding‘ Geschichte getreu der berühmten Essay-Definition im MoE „von vielen Seiten [. . .], ohne es ganz zu erfassen“ (MoE, 250), umspielen aber alle die Sichtweise, dass kontingente, dem Individuum nicht verfügbare Prozesse ,die‘ Geschichte bestimmen, etwa das bei jeder medialen Nachrichtenübermittlung unvermeidliche ,Rauschen‘. Die Erfahrung aus der Militärzeit lehrt Ulrich, dass die soldatische ,Flüsterpost‘ aus dem Befehl „Der Wachtmeister soll vorreiten“ (MoE, 361) im Handumdrehen eine semantisch nicht verwandte und kausal nicht darauf zurückführbare Aufforderung macht: „Acht Reiter sollen sofort erschossen werden“ (MoE, 361). Am explizitesten wird die zentrale Bedeutung von Kontingenz und Statistik jedoch in folgender Passage behauptet:153 Der Weg der Geschichte ist also nicht der eines Billardballs, der, einmal abgestoßen, eine bestimmte Bahn durchläuft, sondern er ähnelt dem Weg der Wolken, ähnelt dem Weg eines durch die Gassen Streichenden, der hier von einem Schatten, dort von einer Menschengruppe oder einer seltsamen Verschneidung von Häuserfronten abgelenkt wird und schließlich an eine Stelle gerät, die er weder gekannt hat, noch erreichen wollte. Es liegt im Verlauf der Weltgeschichte ein gewisses Sich-Verlaufen. (MoE, 361)

Das daraus resultierende Problem, wie es in einem solchen Geschichtsbild überhaupt noch Figuren oder gar Hauptfiguren und ,Helden‘ geben kann, wird in diesem Kapitel auf ironische Weise ,gelöst‘.154 Der Protagonist Ulrich, der während seiner Reflexion „bald in ein vorübergleitendes Gesicht [. . .], bald in eine Geschäftsauslage“ (MoE, 361) blickt, hat sich auf seinem Heimweg „ein wenig vergangen und mußte einen Augenblick anhalten, um zu begreifen, wo er war [. . .].“ (MoE, 362) Anhand einer Liste von aktuellen Zeitungsnachrichten wird das essayistisch entwickelte Konzept narrativ ausgestaltet und zugleich die Weltbild-Genese unter den 152 153 154

Vgl. MoE, 361; s. auch die nahezu gleich lautenden Passagen im Essay Das hilflose Europa, [Musil 19782 , 1081]. Vgl. dazu [Vatan 2000, 73ff.]. Vgl. [Berger 2004, 46]. Vgl. [Vatan 2000, 123].

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massenmedialen Bedingungen der (offenbar bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts globalisiert wahrgenommenen) Moderne reflektiert. Die simultane Verfügbarkeit einer nie da gewesenen Informationsfülle, auf deren Grundlage die Rede von einem globalen Weltbild abstrakt überhaupt erstmals sinnvoll erscheint, führt zu einer beispiellosen Relativierung und Desemantisierung der Information. Selbst wenn man – medienkritisch – berücksichtigt, dass Medien prinzipiell nie gänzlich kontingente ,Inhalte‘ übermitteln, sondern diese immer schon in eine (etwa ideologische oder auch bloß der Eingliederung in eine bestimmte Rubrik geschuldete) Sinnordnung bringen oder, mit Friedrich Kittler noch radikaler formuliert, dass Medien überhaupt die Bedingungen der Möglichkeit von Sinnstiftung darstellen,155 ergibt sich in ihrer bloßen Pluralität keine klare Komposition, sondern geradezu automatisch ein collagenhaftes Bild, das kaum mehr die emphatische Bezeichnung ,Weltbild‘ verdient:156

• War eigentlich Balkankrieg oder nicht? Irgendeine Intervention fand wohl statt; aber ob das Krieg war, er wußte es nicht genau. Es bewegten so viele Dinge die Menschheit. • Der Höhenflugrekord war wieder gehoben worden; eine stolze Sache. Wenn er sich nicht irrte, stand er jetzt auf 3700 Meter, und der Mann hieß Jouhoux. • Ein Negerboxer hatte den weißen Champion geschlagen und die Weltmeisterschaft erobert; Johnson hieß er. • Der Präsident von Frankreich fuhr nach Rußland; man sprach von Gefährdung des Weltfriedens. • Ein neuentdeckter Tenor verdiente in Südamerika Summen, die selbst in Nordamerika noch nie dagewesen waren. • Ein fürchterliches Erdbeben hatte Japan heimgesucht; die armen Japaner. (MoE, 359, Hervorh. M.D.)

Der Erzähler forciert durch die sprachliche Gestaltung der Liste den Eindruck der Desemantisierung. Der Listencharakter wird durch die programmatische Verweigerung betont, zwischen den einzelnen Elementen der Liste einen Zusammenhang herzustellen. Zusätzlich werden die einzelnen Elemente entweder rhetorisch (durch Frageform oder sonstige Unsicherheit ausdrückenden Formulierungen wie „man sprach von. . .“) als ,unscharfe‘, möglicherweise einem nicht überschaubaren, aber relevanten größeren Kontext entrissene Fakten präsentiert oder durch lapidare Kommentare („die armen Japaner“) die Hilflosigkeit des Zeitungslesers 155 156

Vgl. [Kittler 2003]. Vgl. für eine narratologische Deutung [Glander 2005, 52]. Die Verfasserin verweist diesbezüglich auch auf das Chock-Konzept, mit dem Benjamin die Moderne charakterisiert.

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bzw. die Belanglosigkeit der Informationen betont. Gerade letztere Reaktion auf das Erdbeben ist kulturgeschichtlich besonders aussagekräftig, hatte doch das Erdbeben von Lissabon 1755, also gut 150 Jahre zuvor, noch die theologische, philosophische und literarische Elite Europas zur besorgten Bekräftigung oder Revision ihrer gesamten Grundkonzeptionen anzuregen vermocht. Die statistisch aufgeklärte und nüchtern beobachtende Moderne rechnet also im buchstäblichen Sinne mit Katastrophen und registriert sie genau, misst ihnen aber meist kaum noch eine eigenständige tiefere Bedeutung bei. Semantisch ist Ulrichs folgende Radikalisierung deshalb nur konsequent:157 Man konnte es abkürzen: • Das neue Heilmittel gegen die Lues machte –; • in der Erforschung des Pflanzenstoffwechsels wurden –; • die Eroberung des Südpols schien –; • die Steinlachexperimente erregten –; man konnte auf diese Weise gut die Hälfte der Bestimmtheit weglassen, es machte nicht viel aus. (MoE, 359, Hervorh. M.D.)

Wie bereits angedeutet, teilen Ulrichs Antagonisten diese Begeisterung für die zunehmende Universalität des Kontingenten nicht, sondern sehen in der Parallelaktion eine Möglichkeit, diesem Zustand entgegenzuwirken. Ihre Bemühungen werden aber von einem Erzähler gestaltet, der als diabolischer Liebespoet immer nur von ihrem Scheitern erzählt und den Konstruktionscharakter ihrer Sinnstiftungsversuche deutlich macht. Diotimas (Alp-)Traum einer österreichischen ,Leitkultur‘ Die Darstellung von Ulrichs Kusine Diotima ist besonders deutlich von der diabolischen Poetologie der Statistik geprägt.158 Wieder und wieder beschreibt und verspottet er ihr Sendungsbewusstsein, ihr emphatisches Verständnis von Hochkultur und Bildung und ihre quasireligiöse Sehnsucht nach (präkulturell verbürgter) kultureller Einheit, um all dies als diskursive Konstruktion zu entlarven. Narrativ gestaltet er seine Dekonstruktion etwa in folgender Liste, die Diotimas Vorstellung von „Kultur“ beschreibt:159 157

158 159

In diesem Sinne sogar noch radikaler ist das vom Erzähler wiedergegebene Verzeichnis juristischer Schriften, auf die Ulrichs Vater in einem Brief verweist, bleibe doch vom Fall Moosbrugger „nicht mehr als ungefähr das übrig [. . .]: AH. – AMP. – AAC. – AKA. – AP. – ASZ. – BKL. – BGK. – BUD. – CN. – DTJ. – DJZ – FBgM. – GA. – GS. – JKV. – KBSA. – MMW. – NG. – PNW. – R. – VSgM. – WMW. – ZGS. – ZMB. – ZP. – ZSS. – Addickes a. a. O. – Aschaffenburg a. a. O. – Beling a. a. O. usw. usw. [. . .] in kürzesten Abkürzungen eine Seite lang.“ (MoE, 533). Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt [Arntzen 1983, 130f.]. In seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben diagnostiziert auch Georg Simmel eine Depotenzierung des Individuums durch die zunehmende Beschleunigung der Divergenz „subjektiver“ und „objektiver“ Kultur: „Jedenfalls, dem Überwuchern der objektiven Kultur ist das Indi-

138

Poetologie der Statistik

• Die schönen Bilder von Velasquez und Rubens, die in den Hofmuseen hingen. • Die Tatsache, daß Beethoven sozusagen ein Österreicher gewesen ist. • Mozart, Haydn, den Stefansdom, das Burgtheater. • Das von Traditionen schwere höfische Zeremoniell. • Den ersten Bezirk, wo sich die elegantesten Kleider- und Wäschege-

schäfte eines Fünfzigmillionenreichs zusammengedrängt hatten. • Die diskrete Art hoher Beamter. • Die Wiener Küche. • Den Adel, der sich nächst dem englischen für den vornehmsten hielt, und seine alten Paläste. • Den, manchmal von echter, meist von falscher Schöngeistigkeit durchsetzten Ton der Gesellschaft. (MoE, 101f., Hervorh. M.D.)

Diese (freilich komisierende) listenförmige Bestandsaufnahme betont vor allem die Kontingenz der Zugehörigkeit bestimmter gänzlich heterogener kultureller Praktiken und Objekte zur Sphäre der Hochkultur und lässt deren Anhänger als Fetischisten oder Jünger erscheinen, die ihren Habitus durch aggressive Diskursstrategien als natürlich und homogen deklarieren und gerade aufgrund der Kontingenz dieses Kultiviertheits-Konzepts auf scharfe Ausgrenzung all derjenigen achten, die dessen Codes missachten. Nicht zufällig bewundert Diotima das Mittelalter als eine historische Epoche, die eine geschlossene, allgemein verbindliche und literarisch komplex gestaltete höfische Kultur hervorgebracht hat.160 Schon durch die ironisch zugespitzte Kompliziertheit mancher Kapitelüberschriften (z.B. „Der Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät beginnt zu tagen“, MoE, 296) macht der Erzähler deutlich, dass die Parallelaktion schlechte Erfolgschancen hat, und stellt im entsprechenden Kapitel die Hoffnungen der Protagonisten der Parallelaktion auf die sinnstiftenden Fähigkeiten der einbestellten kulturellen Eliten äußerst süffisant auf harte Proben: Es zeigt sich nämlich, dass diese Eliten gänzlich außerstande sind, eine kontingenzreduzierende, einheitsstiftende kulturelle Leitfunktion zu übernehmen. Zwar lassen es sich diese – mit durchaus ritterlichem Gestus – nicht nehmen, „kurz, das heißt in etwa fünf bis fünfundvierzig Minuten, der Parallelaktion einen Rat [zu] geben [. . .], den befolgend, sie nicht mehr fehlgehen könne, mochten auch spätere Redner die Zeit mit zwecklosen und falschen Vorschlägen vergeuden“ (MoE, 297f.), doch natürlich stellt Diotima schon bald verärgert fest, „daß jeder etwas anderes sage, ohne daß sie imstande sei, es auf

160

viduum weniger und weniger gewachsen. Vielleicht weniger bewusst, als in der Praxis und in den dunklen Gesamtgefühlen, die ihr entstammen, ist es zu einer quantité négligeable herabgerückt, zu einem Staubkorn gegenüber einer ungeheuren Organisation von Dingen und Mächten, die ihm alle Fortschritte, Geistigkeiten, Werte allmählich aus der Hand spielen und sie aus der Form des subjektiven in die eines rein objektiven Lebens überführen. Es bedarf nur des Hinweises, daß die Großstädte die eigentlichen Schaupläzte dieser, über alles Persönliche hinauswachsenden Kultur sind.“ [Simmel 1995, 129f.] Vgl. dazu auch [Hård/Stippak 2005]. Vgl. [Bumke 1986].

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einen gemeinsamen Nenner zu bringen.“ (MoE, 298) In ihrer Rolle als Organisatorin der Vorbereitungen zur Parallelaktion muss sie erkennen, dass die konkreten Ausprägungen von ,Erziehung‘ und ,Bildung‘ in der Moderne kein homogenes überindividuelles Zentrum mehr besitzen: Diotimas Gesellschaften waren berühmt dafür, daß man dort an großen Tagen auf Menschen stieß, mit denen man kein Wort wechseln konnte, weil sie in irgend einem Fach zu bekannt waren, um mit ihnen über die letzten Neuigkeiten zu sprechen, während man den Namen des Wissensbezirks, in dem ihr Weltruhm lag, in vielen Fällen noch nie gehört hatte: • Es gab da Kenzinisten und Kanisisten, • es konnte vorkommen, daß ein Grammatiker des Bo auf einen Partigenforscher, • ein Tonkologe auf einen Quantentheoretiker stieß, • abzusehen von den Vertretern neuer Richtungen in Kunst und Dichtung, die jedes Jahr die Bezeichnung wechselten und neben ihren arrivierten Fachgenossen in beschränktem Maße dort verkehren durften. (MoE, 98)

Verglichen mit der ,höfischen Kultur‘ verhält es sich also in der Moderne sogar umgekehrt: Gerade die ,Bildung‘ der Salongäste, die allesamt der gesellschaftlichen Elite angehören, verursacht eine (aus Diotimas und Graf Leinsdorfs Sicht heillose) Forcierung von Kontingenz.161 Auch von Gerda Fischel berichtet der Erzähler, sie habe in ihrer Schul- und Hochschul-Ausbildung die epochentypische Erfahrung gemacht, dass der klassische, Perfektibilität und Geschlossenheit implizierende Begriff von ,Bildung‘ den Herausforderungen der Lernenden im 20. Jahrhunderts nicht mehr angemessen ist und der Anspruch humanistischer Erziehung illusionär erscheint: „[S]ie hatte eine Unmenge neuen Wissens berührt, das nicht mehr in den alten Fassungen des klassischen und humanistischen Geistes unterzubringen war; in vielen jungen Leuten hinterläßt solcher Bildungsgang heute das Gefühl, daß er gänzlich ohnmächtig sei, während vor ihnen die neue Zeit wie eine neue Welt liegt, deren Boden mit den alten Werkzeugen nicht bearbeitet werden kann.“ (MoE, 487) Entsprechend macht auch Diotima die schmerzliche Erfahrung, dass nicht die Tiefe der Bildung, „sondern ihre Breite das Unüberwindliche war. Sogar die dem Menschen unmittelbar nahegehenden Fragen wie die edle Einfachheit Griechenlands oder der Sinn der Propheten lösten sich, wenn man mit Kennern sprach, in eine unüberblickbare Vielfältigkeit von Zweifeln und Möglichkeiten auf.“ (MoE, 102) Diotima ist jedoch nicht willens, diese Kontingenz einfach hinzunehmen, und bedient sich einer topischen Unterscheidung der zeitgenössischen Kulturkritik, um zumindest ihr Problem konzeptuell beherrschen zu können. Dass der Erzähler darin gar kein Problem, sondern eine neuerliche Möglichkeit erblickt, Kontingenz ironisch zu zelebrieren, wird wiederum an einer 161

Vgl. [Honold 1995, 351ff., insb. 358].

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Poetologie der Statistik

diabolisch beobachtenden Auflistung der Ärgernisse kultur- und bildungsbeflissener Kreise deutlich: Damit hatte Diotima aber an sich das bekannte Leiden des zeitgenössischen Menschen entdeckt, das man Zivilisation nennt. Es ist ein hinderlicher Zustand, voll von • Seife, • drahtlosen Wellen, • der anmaßenden Zeichensprache mathematischer und chemischer Formeln, • Nationalökonomie, • experimenteller Forschung und • der Unfähigkeit zu einem einfachen, aber gehobenen Beisammensein der Menschen. (MoE, 103, Hervorh. M.D.)

Der Erzähler führt eine regelrechte Diskursanalyse der Sehnsüchte Diotimas durch: Es mag sein, daß einstmals etwas Ursprüngliches in Diotima gewesen war, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit, was sie jetzt Seele nannte und in der gebatikten Metaphysik Maeterlincks wiederfand, in Novalis, vor allem aber in der namenlosen Welle von Dünnromantik und Gottessehnsucht, die das Maschinenzeitalter als Äußerung des geistigen und künstlerischen Protests gegen sich selbst eine Weile lang ausgespritzt hatte. (MoE, 103)

Die Tatsache, dass der junge Musil seinem Erstlingsroman selbst ein MaeterlinckMotto voranstellt und im Törleß das darin ausgedrückte semantische Konzept durchaus ernst nimmt, ist werkgeschichtlich sehr aufschlussreich. Die angedeutete Problematik spielt auch im MoE eine wichtige Rolle, wird aber erst im Kontext der im Roman (parallel zu der in diesem Kapitel fokussierten Poetologie der Statistik) entwickelten Theologie des Essayismus in voller Komplexität lesbar.162 Während Diotima immerhin die Problematik der Übertragung traditioneller Kulturkonzepte in die historische Realität der Moderne sieht und unter dem Scheitern ihrer Suche nach verbindlichen Sinnstrukturen leidet,163 wird Ulrichs Geliebte Bonadea als mustergültige Beobachterin erster Ordnung dargestellt, die nicht in der Lage ist, die Maßstäbe ihrer Beobachtung zu hinterfragen oder diese gar als kulturelle Konstrukte zu erkennen. Sie exemplifiziert damit eine Person, die etwa Diktate der Mode bereitwillig erfüllt und sich dabei dermaßen von deren Notwendigkeit überzeugt zeigt, dass Abweichungen nicht einmal mehr als Möglichkeiten in Betracht gezogen werden. Ohne das geringste Kontingenzbewusstsein geht sie vollständig in den Diskursen auf: 162 163

Vgl. dazu ausführlich das fünfte Kapitel der vorliegenden Arbeit. Zur historisch bedeutsamen und offenbar von Diotima besetzten Verfalls- und Verlust-Metaphorik vgl. [Haslmayr 1997, 149ff.].

Musils Der Mann ohne Eigenschaften

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Sie nahm den Zwang der Welt rein in sich auf, und die Zeiten, wo man die Besuchskarten an einer Ecke umbog oder seinen Freunden Neujahrswünsche ins Haus schickte oder auf dem Ball die Handschuhe abstreifte, lagen in den Zeiten, wo man das nicht tat, so weiter hinter ihr wie für jeden anderen Zeitgenossen die Zeit vor hundert Jahren, nämlich ganz und gar im Unvorstellbaren, Unmöglichen und Überholten. (MoE, 525)

Wie Bonadea ist auch Graf Leinsdorf völlig in den einmal geprägten Strukturen seiner Beobachtung gefangen: Religiös und feudal erzogen, niemals im Verkehr mit bürgerlichen Menschen dem Widerspruch ausgesetzt, nicht unbelesen, aber durch die Nachwirkung der geistlichen Pädagogik, die seine Jugend behütet hatte, zeitlebens gehindert, in einem Buch etwas anderes zu erkennen als Übereinstimmung oder irrende Abweichung von seinen eigenen Grundsätzen, kannte er das Weltbild zeitgemäßger Menschen nur aus den Parlaments- und Zeitungskämpfen [. . .]. (MoE, 89f.)

Die folgenden beiden Zitate machen anhand wahrnehmungs- und medientheoretischer Vergleiche die fundamentale Differenz des (deutlich als eskapistisch, phantasmatisch und prämodern markierten) gräflichen Weltbilds (siehe linke Spalte) und des (medialitäts- und diskursivitätsbewussten modernen) ,Welt-Bilds‘ deutlich, das Ulrich und der Erzähler als diabolische Beobachter teilen (siehe rechte Spalte):164 Er (= Graf Leinsdorf) dachte dann an Felder, Bauern, kleine Landkirchen und jene fest von Gott wie die Garben auf einem geschnittenen Feld gebundene Ordnung, die so schön, gesund und lohnend ist, [. . .]. Hat man aber diese ruhige Weite des Blicks, so erscheinen in ihr Schützenvereine und Molkereigenossenschaften, mögen sie noch so abseits zu Hause sein, als ein Stück fester Ordnung und Bindung [. . .]. (MoE, 322f.)

[. . .] ein kurzflügeliges Schlößchen (= Ulrichs neues Haus), ein Jagd- oder Liebesschlößchen vergangener Zeiten. Genau gesagt, seine Traggewölbe waren aus dem siebzehnten Jahrhundert, der Park und der Oberstock trugen das Ansehen des achtzehnten Jahrhunderts, die Fassade war im neunzehnten Jahrhundert erneuert und etwas verdorben worden, das Ganze hatte also einen etwas verwackelten Sinn, so wie übereinander photographierte Bilder [. . .]. (MoE, 12)

In beiden Textpassagen werden zunächst (trivial-)romantische Natur- und Kunstkonzepte aufgerufen: Graf Leinsdorf versteht diese durch panoramatische, medial (vermeintlich) unverfremdete, ,authentische‘ Wahrnehmung über das (seine Medialität dementierende) ,innere Auge‘ als Mechanismen identitätsstiftender und Kontingenz bewältigender Ursprünglichkeitsfiguration zu nutzen, was der Erzähler freilich mit unerbittlicher Ironie als rousseauistische Illusion entlarvt.165 Dagegen wird Ulrichs „kurzflügeliges Schlößchen“ in der ähnlich beginnenden Beschreibung (in Übereinstimmung mit den subversionsfreudigen Wahrnehmungsgewohnheiten des Protagonisten) statistisch-architekturhistorisch regelrecht seziert 164 165

Vgl. [Berger 2004, 152ff.]. Vgl. [Dreis 1992].

142

Poetologie der Statistik

und mit einem (Polysemie explizit betonenden) Verweis auf das (ohnehin als weniger ,authentisch‘ geltende) Medium Fotografie als ein Artefakt präsentiert, welches das von Diotima und Graf Leinsdorf geteilte Kulturkonzept und deren Homogenisierungs- und Zentrierungsbestrebungen im Zuge der Parallelaktion in kaum mehr zu überbietender Weise unterläuft. Dies lässt bereits den Charakter von Ulrichs Wirken als Sekretär derselben erahnen, dem ich mich jetzt zuwenden will. Ulrich als mephistophelischer Statistiker der Parallelaktion Schon kurz nach Gründung des Komitees, das die Parallelaktion gestalten soll, führt der Erzähler genüsslich vor, wie sehr sich deren Initiator und Oberhaupt, Graf Leinsdorf,166 hinsichtlich der gesellschaftlich-kulturellen Komplexität der k. u. k. Monarchie verrechnet hat:167 „[E]r rechnete mit den patriotischen Parteien, mit dem ,gesunden Sinn‘ des Bürgertums, das an Kaisers Geburtstag die Fahnen herausstreckt, und mit der Beihilfe der Hochfinanz, ja er rechnete auch mit der Politik, denn er hoffte insgeheim, durch sein großes Werk gerade sie überflüssig zu machen, indem er sie auf den gemeinsamen Nenner Vaterland brachte, den er später durch Land zu dividieren beabsichtigte, um den väterlichen Herrscher als einzigen Rest übrig zu behalten.“ (MoE, 141) Es kommt freilich ganz anders: Der konservative, philanthropisch-pragmatische Aristokrat wird von einer Flut von Vorschlägen überrascht, die sich nicht mit Hilfe der anvisierten Bruchrechnung bewältigen lassen: „[E]r war nicht vorbereitet auf Erfindungen, Theorien, Weltsysteme und Menschen, die von ihm die Erlösung aus geistigen Kerkern verlangten.“ Da er selbst nur „politisch und philosophisch [. . .], aber durchaus nicht naturwissenschaftlich und technologisch“ gebildet ist, wird er „in keiner Weise klug daraus, ob an diesen Vorschlägen etwas dran sei oder nicht“ (MoE, 141), und setzt diesbezüglich große Hoffnungen in Ulrichs einschlägige Fähigkeiten. Der Leser weiß aus der Einleitung zwar, dass es Ulrich nicht an technisch-naturwissenschaftlichen Kenntnissen mangelt, doch die Hoffnung auf dessen patriotisches Engagement (im Sinne des Grafen) wird bereits im fünften Kapitel zunichte gemacht, das von einem Schulaufsatz handelt, in dem sich das außergewöhnliche Kontingenzbewusstsein des Protagonisten bereits ankündigt: „Ulrich schrieb in seinem Aufsatz über die Vaterlandsliebe, daß ein ernster Vaterlandsfreund sein Vaterland niemals das beste finden dürfe; ja mit einem Blitz [. . .] hatte er diesem verdächtigen Satz noch den zweiten hinzugefügt, daß wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche (hic dixerit quispiam = hier könnte einer einwenden. . .), denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein.“ (MoE, 18f.) Neben der hier explizit erwähnten grammatischen Form des Konjunktivs, de166 167

Vgl. für eine psychoanalytisch argumentierende, auf die Rolle der Väter in der Vaterländischen Aktion blickende Deutung [Kremer 1993, 33]. Vgl. [Arntzen 1983, 130ff.].

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ren Bedeutung für Musils Werk bereits früh von Albrecht Schöne nachgewiesen und seither oft bekräftigt wurde,168 deutet sich in Ulrichs Schulaufsatz bereits eine andere, für die Parallelaktionshandlung und die damit verbundenen Analysen der modernen Kultur m. E. wichtigere grammatische Form an, die sich nicht in einzelnen Syntagmen manifestiert, sondern in größeren Zusammenhängen: Das in der Formel „es könnte ebensogut anders sein“ explizit ausgesprochene Kontingenzbewusstsein des Protagonisten drückt sich narrativ insbesondere in Listenarrangements aus, die ihre Offenheit nicht selten mit Abschlussformeln wie „und so weiter“, „und vieles andere“ o.ä. betonen und so die ,faktische‘ sprachliche Abgeschlossenheit ,inhaltlich‘ dementieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der (in der Ausführlichkeit seiner Schilderung zunächst etwas unmotiviert wirkende) erbitterte Streit zwischen Ulrichs Vater und seinem Kollegen Professor Schwung deuten, der sich an der Frage entzündet, ob in einer Gesetzesformulierung die Konjunktion ,und‘ angebracht sei oder ob man nicht vielmehr ,oder‘ verwenden müsse:169 Der Erzähler als Beobachter zweiter Ordnung, dessen Kontingenzbewusstsein schon die Bemühung um definitive denotative Präzision sprachlicher Äußererungen absurd erscheinen lässt, konterkariert mit seiner Narration des und so weiter genau diese sprachliche Manifestation des – auf Verbindlichkeit beharrenden – Festhaltens am Beobachtungsmodus erster Ordnung. Mit einer (ironisch präsentierten) kombinatorischen Überlegung dekonstruiert der mathematisch-statistisch informierte Erzähler die (mittlerweile interdisziplinären, u.a. auf Theologie und Philosophie ausgeweiteten) akademischen Streitgespräche, die um die „gute alte Frage der Willensfreiheit“ (MoE, 536) kreisen: „Es ist schwer, der Gerechtigkeit in Kürze Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Kommission bestand aus ungefähr zwanzig Gelehrten, denen es möglich war, einige tausend Standpunkte zueinander einzunehmen, wie sich leicht nachrechnen läßt.“ (MoE, 536) Nach einiger Amtszeit setzt Ulrich dem bereits sichtlich verärgerten Leiter sein Bild der Kultur des modernen Kakaniens auseinander. Dabei zeigt sich, dass der Protagonist seine Rolle als Sekretär der Parallelaktion vor allem als deren (mephistophelischer) Statistiker ausfüllt. Er teilt dem Grafen mit, dass es ihm zwar geglückt sei, die von der Bevölkerung eingereichten Vorschläge für eine Leitidee der patriotischen Aktion zu ordnen. Seine Systematisierung ist jedoch nicht homogenisierend und integrativ, sondern führt im Gegenteil sofort vor Augen, dass das Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. Ulrich präsentiert zwei Mappen mit den Aufschriften „Zurück zu. . .!“ (MoE, 233) und „Vorwärts zu. . .!“ (MoE, 234), und listet mit diabolischer Freude – bezeichnenderweise ist Ulrich für Leinsdorfs Empfinden „in diesem Augenblick ein wenig zu heiter“ (MoE, 233) – zunächst einige Vorschläge der ersten Kategorie auf. Die Kontingenz der vorgeschlagenen Kontin168

169

Vgl. [Schöne 1982] und [Joung 1996, 289ff.]; im Zusammenhang mit „Ironie als Paradox“ fasst [Berger 2004, 178] zusammen: „Neben dem Gebrauch des Konjunktivs als Stilform zählt Ironie und der Tropus des Paradoxon zu den wichtigsten Stilformen des Negierens, die Musil verwendet, um seine Kultur- und Gesellschaftskritik zu ästhetisieren.“ Vgl. z.B. MoE, 536.

144

Poetologie der Statistik

genzbewältigungsstrategien wird dabei u.a. durch die ,abschließende‘ usw.-Formel betont: Wenn ich von dem selbstverständlichen Verlangen Zurück zum Glauben absehe, so ist noch ein Zurück • zum Barock,

• zum deutschen Recht,

• zur Gotik,

• zur Sittenreinheit

• zum Naturzustand,

• und etliches andere. (MoE, 233, Hervorh. M.D.)

• zu Goethe vertreten,

Die nämliche Formel findet sich auch am Ende seines Vorschlags zur Formulierung eines pauschalen Antwortschreibens, dessen ironische Wirkung sich nicht zuletzt dadurch ergibt, dass Ulrich ein nachgerade beamtenhaftes Rollenengagement prätendiert: „[. . .] [W]ie soll man antworten? Ihr Geschätztes vom Soundsovielten reiflich erwogen, halten wir derzeit den Zeitpunkt noch nicht geeignet. . .? Oder: Mit Interesse gelesen, bitten wir Sie um detailliertere Bekanntgabe Ihrer Wünsche für Wiedereinrichtung der Welt in Barock, Gotik, und so weiter?“ (MoE, 234) Nach diesen Ausführungen des Sekretärs verzichtet Graf Leinsdorf verständlicherweise auf ein von Ulrich dienstbeflissen angebotenes Referat einiger Vorschläge aus der Kategorie „Vorwärts zu. . .!“. Als Ulrich aber wenig später Diotima von seinen Ergebnissen berichtet, forciert er seine Darstellung der unvereinbaren Heterogenität der kulturellen Bestrebungen Kakaniens noch, freilich nicht ohne nochmals darauf hingewiesen zu haben, dass es nicht einfach gewesen sei, „in die Wünsche, welche die Mitwelt an Graf Leinsdorf richtete, Ordnung zu bringen“ (MoE, 271). Ulrich erläutert eine von ihm festgestellte paradoxe doppelte Opposition: Zunächst zerfallen die Vorschläge strukturell in zwei Kategorien, die er mit dem Satz „Los von Rom bis Vorwärts zur Gemütskultur“ (MoE, 271) kennzeichnet (der Erzähler scheint hier einem bewussten narrativen Kalkül zu folgen, wenn er die im Gespräch mit dem Grafen bereits ,verbrauchte‘ Kategorie durch eine andere ersetzt). Zudem liegt aber zu jeder Forderung in jeder Kategorie auch die diametral entgegengesetzte Forderung vor:170 Ulrich zählt noch weitere, insbesondere ästhetisch-poetologische Fragen betreffende Konzepte auf, die im modernen Kakanien grassieren:171 170 171

Vgl. hier für ähnliche Befunde zur zeitgenössischen intellektuellen Lage nochmals [Classen 1908, 5] und [Moszkowski 1911, 280]. Mit autobiographischen Anspielungen zur existenziellen und wirtschaftlichen Unsicherheit von Schriftstellern findet sich diese Diagnose zur Wertschätzung künstlerischer Produktion und kultureller Praktiken in der Moderne in ähnlicher Form im Essay Bücher und Literatur von 1926 wieder, wo von einer „Unzahl“ von „Sekten“ die Rede ist, „welche die Befreiung des Geistes durch den Einfluß des Kirschenessens, vom Theater der Gartensiedlung, von der rhythmischen Gymnastik, von der Wohnungseinrichtung, von der Eubiotik, vom Lesen der Bergpredigt oder einer von tausend anderen Einzelheiten erwarteten“. [Musil 19782 , 1164] Besonders betroffen zeigt sich der Essayist von einem Verdikt, das auch im MoE unter der suggestiven Bezeichnung

Musils Der Mann ohne Eigenschaften So ließen denn die Zuschriften der zweiten Gruppe etwa mit freudiger Verneinung verlauten, daß man mit dem lächerlichen Kultus der Künste endlich brechen möge, weil das Leben ein größerer Dichter sei als alle Skribenten, und forderten Sammlungen von Gerichtssaalberichten und Reisebeschreibungen zu allgemeinem Gebrauch;

145 wogegen im gleichen Fall die Zuschriften der ersten Gruppe mit freudiger Bejahung behaupteten, daß das Gipfelgefühl der Bergfahrer über alle Erhebungen der Kunst, Philosophie und Religion hinausreiche, weshalb man statt dieser lieber Alpenvereine fördern solle.

In solcher doppelwegigen Weise wurde • die Verlangsamung des Zeittempos ebenso gefordert wie • ein Preisausschreiben für das beste Feuilleton, weil das Leben • unerträglich oder • köstlich kurz sei, man wünschte die Befreiung der Menschheit durch und von • Gartensiedlungen, • Entsklavung der Frau, • Tanz, • Sport oder • Wohnkultur ebenso wie durch unzählig anderes von unzählig anderem. (MoE, 272, Hervorh. M.D.)

Aus der Kategorie „Los von“, deren Vorschläge „für den Mißstand der Zeit eine bestimmte Einzelheit verantwortlich“ (MoE, 271) machen und deren „Beseitigung“ (MoE, 271) verlangen, listet Ulrich einige angesichts der weiteren geschichtlichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts besonders bedeutsame Beispiele auf: [S]olche Einzelheiten waren nichts geringeres als • die Juden oder die römische Kirche, • der Sozialismus oder der Kapitalismus • die mechanistische Denkweise oder die Vernachlässigung der technischen Entwicklung, • die Rassenmischung oder die Rassenentmischung, • der Großgrundbesitz oder die Großstädte, • die Intellektualisierung oder der ungenügende Volksunterricht. (MoE, 271)

„Nur Literatur“ vorkommt und die Relevanz literarischer Werke aufgrund einer zeitgenössischen Vorliebe für das ,Authentische‘ herunterspielt. Folgende Überlegung steht offenbar in engem intertextuellen Bezug zum vorangeganenen Zitat aus dem MoE: „Nur Literatur bezeichnet so etwas wie Mottenseelen, die um künstliche Lichter flattern, während draußen der Tag scheint. Der tätige Mensch fühlt sich durch ihre Unruhe belästigt, und wer hätte ihn noch nicht kurz entschlossen erklären hören, daß er in Gerichtssaalberichten, Reisebeschreibungen, Biographien, politischen Reden, gesellschaftlichen Aussprachen, in den Erfahrungen am Krankenbette, auf Bergfahrten oder in der Fabrik mehr Poesie und Erschütterung findet als in der zeitgenössischen Literatur.“ [Musil 19782 , 1164].

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Poetologie der Statistik

Die tatsächlichen historischen Ereignisse haben auf tragische Weise gezeigt, dass der hier beschriebene, durch den spielerisch-beobachtenden Narrationsmodus des MoE eher ,harmlos‘ und absurd wirkende ,Kampf der Kulturen‘ von genügend Zeitgenossen sehr ernst genommen wurde. Die spielerische Dekonstruktion derartiger Differenzen, die z.B. in rassistischen und sozialrevolutionären Konzepten ,Sinn‘ und ,Ordnung‘ stiften und deren Kontingenz durch Ulrichs konfrontative Auflistung bloßgestellt wird, trägt dabei kompositorisch und sprachlich wiederum überraschend lyrische Züge. Diese diabolische Liebespoesie wendet sich zuletzt aber auch gegen sich selbst und unterläuft ironisch die eigene wissenspoetologische Basis. Ein „den ,besseren Ständen‘ angehöriger Mann von einigen dreißig Jahren, der intelligent und fröhlich dreinsah“ (MoE, 349), entpuppt sich durch seinen Vorschlag einer Leitidee der Parallelaktion als veritabler Statistik-Fetischist, fordert er doch eine Verordnung, „die bei Firmenbezeichnungen die Wahl von vierbalkigen Buchstabenfolgen begünstige und die Verwendung einbalkiger wie O, S, I, C möglichst unterdrücke“ (MoE, 349). Zur Begründung setzt er Ulrich (der im zweiten Kapitel selbst den „Unsinn“ treibt, das Wiener Verkehrsgeschehen vor seinem Haus statistisch zu beobachten)172 auseinander, dass seinen bisherigen Untersuchungen zufolge ein Durchschnitt von 2,5 herauskomme, wenn man die Anzahl der ,Balken‘ der Buchstaben eines Wortes durch die Anzahl der Buchstaben teile; „ersichtlich sei dies aber keineswegs unverbrüchlich und könne sich mit jeder neuen Straße ändern: so wird man von großer Sorge bei Abweichungen, von großer Freude beim Zutreffen erfüllt, was den läuternden Wirkungen ähnle, die man der Tragödie zuschreibt.“ (MoE, 348f.) In unverkennbarer Nähe zu den wissenspoetischen Grundüberzeugungen, die Ulrich und den Erzähler miteinander verbinden, verteidigt der Besucher seine eigenartige Leidenschaft in einem Plädoyer für die moderne Statistik, die er der ,Lesekultur‘ entgegensetzt, indem er anführt, „daß die Statistik schon oft tiefe Zusammenhänge viel früher sichtbar gemacht habe, als man ihre Erklärung besaß, daß der tiefe Schaden, den die Lesebildung anrichte, bekannt sei und daß schließlich die große Erregung, die seine Feststellungen bisher noch jedem bereitet hätten, der sich entschloß, sie zu wiederholen, für sich selbst spräche“ (MoE, 349). Mit dieser satirischen Episode wird die statistisch-distanzierte, jegliche Form der Sinnstiftung infrage stellende Poetologie selbst ironisiert, die die Erzählhaltung der Parallelaktionshandlung bestimmt. Der intellektuell anspruchsvollste Gegenentwurf zu dem vom Erzähler und seinem Protagonisten propagierten und ironisch präsentierten, essayistisch-kontingenzbewussten Geschichtsbild des Sich-Verlaufens wird im Roman anhand der schillernden Figur des preußischen Industriellen Arnheim gestaltet, der im Gegensatz zum Protagonisten noch das Zeug zum klassischen Helden zu haben scheint. Im folgenden Abschnitt zeige ich, wie diese Gestalt vom diabolischen Liebespoeten als Fehl-Gestaltung dekonstruiert wird. 172

Vgl. MoE, 12; s. dazu ausführlicher [Kassung 2001, 343ff.].

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Arnheim als Diskurs-Integrator Arnheim und Ulrich sind als intellektuell ebenbürtige Figuren konzipiert, die sich vor allem in ihrem Umgang mit der in der Moderne virulenten Kategorie der Kontingenz unterscheiden. Arnheim bemerkt zwar deren Relevanz, sucht sie aber zu ,bewältigen‘, wohingegen Ulrich Kontingenz als epistemischen Letzthorizont betrachtet, vor dessen Hintergrund jegliche Ordnung immer erst konstruiert wird. Arnheim beurteilt Ulrichs leidenschaftlich-universelles Kontingenzbewusstsein in zahlreichen Zusammenhängen als Zeichen der Unreife und des Mangels an konkreten Aufgaben173 und betrachtet es als eine Art Skeptizismus, dessen Überzeugungen er nicht als basale epistemische, ästhetische oder ontologische ,Fakten‘ anerkennt. Trotz gewisser Zweifel sei Arnheim „weit davon entfernt“, sich über die Bestrebungen der Parallelaktionsteilnehmer „lustig zu machen, wie es Ulrich getan hatte, denn er war überzeugt, daß es weit weniger Mut und Überlegenheit anzeige, großen Gedanken zu folgen, als in solchen alltäglichen und etwas lächerlichen Gemütern von gutem Aussehen den rührenden Kern von Idealismus gelten zu lassen.“ (MoE, 187). Umgekehrt fühlen sich Ulrich und der Erzähler gerade angesichts von Arnheims Vertrauen auf einen tieferen Sinn herausgefordert, den Konstruktionscharakter jeglicher Sinnstiftung zu betonen und als Formen der Kontingenzbewältigung kenntlich zu machen. Nicht ohne kompositorische Ironie ist diesbezüglich Diotimas Wunsch, Arnheim an Ulrichs Stelle zum Sekretär der Parallelaktion zu machen, was an Graf Leinsdorfs Vorbehalten gegenüber dessen Juden- und Preußentum scheitert: Schließlich hätte Arnheim im Gegensatz zu Ulrich alle Qualitäten eines Helden und beweist, dass er mit großem publizistischem Erfolg in der Lage ist, weite Diskursfelder der Moderne zu integrieren.174 Arnheim fungiert also als Schattenheld, der die diabolische Poetologie der Statistik, in der kein Platz für Helden ist, nicht bloß als Ulrichs Gegenspieler, sondern als Inkorporation einer opponierenden Poetologie des Wissens konturiert, und so in paradoxer Weise zur ,Sinnstiftung‘ des MoE als diabolischem Liebesgedicht der Moderne beiträgt: Als solches produziert der Roman eine Art ,Sinn zweiter Ordnung‘, indem er die Differenzen Sinn/Sinnlosigkeit, Ordnung/Unordnung und Notwendigkeit/Kontingenz umspielt und die zweitgenannte Seite der Differenzen als der Moderne angemessene Sichtweise favorisiert: Ulrich beobachtete Arnheim, während Diotima sprach. Aber es waren nicht Einzelheiten der Physiognomie, woran sein Unwille hängen blieb, sondern das Ganze schlechtweg. [. . .] Das gute Verhältnis, in dem alles zueinander stand, war es, was Ulrich reizte. Diese Sicherheit besaßen auch Arnheims Bücher; die Welt war in Ordnung, sobald sie Arnheim betrachtet hatte. In Ulrich erwachte eine Gassenjungenlust, mit Steinen oder Straßendreck nach 173

174

[Marquard 1986, 117] leitet seine Überlegungen zur „Apologie des Zufälligen“ mit einem HegelWort ein, wonach es zu den Hauptanliegen philosophischer „Betrachtung“ gehöre, „das Zufällige zu entfernen“. Arnheim fungiert also – auch bezüglich der Frage nach Kontingenz – als Figur, die klassische Philosopheme in die Moderne zu übertragen versucht. Vgl. dazu [Utz 2005, 29ff.]. Vgl. [Moser 1980, 182].

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Poetologie der Statistik

diesem in Vollkommenheit und Reichtum aufgewachsenen Menschen zu werfen [. . .]. (MoE, 178f.)

Nicht zufällig reflektiert Ulrich seine Ablehnung des (in dieser Textpassage Arnheim als Person und Arnheims Büchern angelasteten) „primitiv Epische[n]“ im Kapitel Heimweg auf dem Heimweg von einer „Aussprache“ (MoE, 634ff.) mit seinem Rivalen, die vor allem Ulrichs forciertes Kontingenzbewusstsein zum Gegenstand hat.175 Arnheim wird dabei vom Erzähler als Figur gekennzeichnet, die Ulrichs Kontingenzdiagnosen inhaltlich nachvollziehen kann, aber dennoch in der Lage ist, sich als „Herr im Hause“ (Ebd.) zu fühlen: Man begriff neben ihm (= Arnheim), was Selbstbewußtsein heißt: Das Bewußtsein vermag nicht, das Wimmelnde, Leuchtende der Welt in Ordnung zu bringen, denn je schärfer es ist, desto grenzenloser wird, wenigstens vorläufig, die Welt; das Selbstbewußtsein aber tritt hinein wie ein Regisseur und macht eine künstliche Einheit des Glücks daraus. (MoE, 645)

Anhand dieses kognitionstheoretischen Modells176 lässt sich die Differenz zwischen Ulrich und Arnheim klar fassen. Die beiden stimmen darin überein, dass die Welt dem „Bewußtsein“ als kontingente Daten-Menge erscheint. Doch während Arnheim ganz selbstverständlich auf ein „Selbstbewußtsein“177 zurückgreift, das dem „Bewußtsein“ eine – aus seiner Sicht natürliche und objektive – Einheit und seinem Träger damit eine geschlossene Identität gibt, welche die Kontingenz der bloßen Daten reduziert und Sinnstrukturen erkennen lässt, mangelt es dem Protagonisten in diesem Sinne an „Selbstbewußtsein“. Bezeichnenderweise erinnert sich Ulrich auf seinem Heimweg an Fotografien, die ihn als Kind mit seiner 175 176

177

Vgl. [Sebastian 2005, 49f.]. Dieses Modell steht offenbar in engem intertextuellen Bezug zum psychologischem Grundkonzept, das Mach in seiner Analyse der Empfindungen entwickelt: „Das Ich ist unrettbar. Teils diese Einsicht, teils die Furcht vor derselben führen zu den absonderlichsten, pessimistischen und optimistischen, religiösen, asketischen und philosophischen Verkehrtheiten. Der einfachen Wahrheit, welche sich aus der psychologischen Analyse ergibt, wird man sich auf die Dauer nicht verschließen können. Man wird dann auf das Ich, welches schon während des individuellen Lebens vielfach variiert, ja im Schlaf und bei Versunkenheit in eine Anschauung, in einen Gedanken, gerade in den glücklichsten Augenblicken teilweise oder ganz fehlen kann, nicht mehr den hohen Wert legen.“ [Mach 1991, 20]. Vgl. dazu die zeitgenössische naturphilosophische Darstellung bei [Classen 1908, 100f.]. Folgende Passage aus Musils Essay Anmerkungen zu einer Metapsychik vom April 1914, in dem er sich mit Walter Rathenaus Schrift Zur Mechanik des Geistes auseinandersetzt, eignet sich in diesem Zusammenhang als Beleg der häufig konstatierten Vorbildfunktion Rathenaus für die Arnheim-Figur: „[. . .] Rathenau sagt, der richtige Mensch – er nennt ihn den seelenvollen – neigt zur Liebe, zur Entäußerung, zur Idee, zur Intuition, zur furchtlosen Wahrheit; sein Charakter sei Treue, Großmut, Unabhängigkeit; sein Benehmen Sicherheit, heitere Ruhe und Festigkeit; er sei eher stark als klug, selbstbewußt als erfahren; er habe heitere Freiheit des Lebens, Hang zu transzendenter Erhebung, intuitiver Frömmigkeit [. . .].“ [Musil 19782 , 1016] Polemisch listet Musil prominente „Ausnahmen“ (Dostojewski, Flaubert, Horaz, Schopenhauer, Nietzsche, Hölderlin, Wilde, Verlaine und van Gogh) auf, die fraglich erscheinen lassen, ob Rathenaus Psychogramm das eines modernen Künstlers sein kann. Vgl. zu Musils Rathenau-Kritik auch [Barnouw 1985].

Musils Der Mann ohne Eigenschaften

149

Mutter zeigen. Ähnlich wie die Erzähler- und Hauptfigur Azwei aus der Amsel befremdet Ulrich der Anblick seines fotografischen Abbilds, und er hat vergleichbare Identifikationsschwierigkeiten mit ,sich selbst‘: Wer diesen Eindruck erlebt hat, daß ihm seine Person, in einen gewesenen Augenblick der Selbstzufriedenheit gehüllt, aus alten Bildern entgegenblickte, als wäre ein Bindemittel ausgetrocknet oder abgefallen, wird das Gefühl verstehen, mit dem er sich die Frage vorlegte, wie dieses Bindemittel denn eigentlich beschaffen sei, daß es bei anderen nicht versage! (MoE, 648)

Diese Metaphorik kann als medientheoretische Reflexion von Ulrichs Eigenschaftslosigkeit und deren Zusammenhang mit seinem Kontingenzbewusstsein gelesen werden: Zwar werden gewisse ,Bindemittel‘ als Mechanismen konstatiert, die für den Eindruck von zusammenhängendem Sinn und homogener Ordnung sorgen.178 Die Erfahrung aber, dass diese mediale Vermittlungsleistung auch scheitern kann, lässt Ulrich an der Statthaftigkeit der ,selbstbewussten‘ Weltdeutung grundsätzlich zweifeln. Entsprechend desintegrierend wirkt sich diese Skepsis auf die Vorstellung aus, einen stimmigen ,Gesamtcharakter‘ aus irgendwelchen Eigenschaften bilden zu können.179 Wenn man Ulrichs Mangel an „Selbstbewußtsein“ entsprechend positiv gewendet als die Einsicht liest, dass jeder ,Charakter‘ als kontingente Liste gewisser austauschbarer Eigenschaften gedeutet werden kann, wirkt es entsprechend subversiv, wenn der ,selbstbewusste‘ Arnheim (dem es umgekehrt an dieser Einsicht mangelt) durch eine Liste charakterisiert wird: Der Leser erfährt, dass die Wiener Gesellschaft neugierig auf den Mann sei, „von dem es hieß, • daß sich Diotima ihm verschrieben habe,

• der Gedichte schrieb,

• einen deutschen Nabob,

• den Kohlenpreis diktierte

• einen reichen Juden,

• und der persönliche Freund des deutschen Kaisers war.“ (MoE, 188, Hervorh. M.D.)

• einen Sonderling,

Die Vielfalt der Betätigungsfelder des preußischen Industriellen wird durch die besonders schroff wirkende Konfrontation von Sphären ironisiert, die in dieser Kombination kaum vereinbar zu sein scheinen.180 Eben diese – vom Erzähler narrativ unterlaufene – Universalität prädestiniert Arnheim eigentlich für die Rolle eines epischen Helden der Parallelaktion: Diotimas Freund scheint immer „aus Paris, Rom, Berlin“ (MoE, 189) in ihrem Wiener Salon einzutreffen, in dem „Spezialisten der Ewesprache und Komponisten aufeinander[treffen], die voneinander 178

179 180

Metaphorologisch betrachtet deutet dies freilich gerade an, wie kognitive und philosophische Konzepte der Kohärenz und Einheit als Resultate geschickten Metaphern-Einsatzes verstanden werden können: Schließlich kennt jedes Kind Dinge, die ,ganz natürlich‘ zusammenhängen und Einheiten formieren – entsprechend plausibel erscheint die Übertragung dieser dinglichen Erfahrung auf mentale Strukturen. Zur desintegrativen Tendenz der modernen Wahrnehmungsformen vgl. [Lethen 1987, 196]. Vgl. [Könneker 2001, 54ff.].

150

Poetologie der Statistik

noch nie einen Ton gehört hatten, Webstühle und Beichtstühle, Menschen, die beim Wort Kurs an den Rennkurs, Börsenkurs oder Seminarkurs dachten“, und der Erzähler schreibt ihm die vermittelnde Fähigkeit zu, „mit jedem in seiner Sprache [zu] reden“ (MoE, 188). Er ist erstaunlicherweise in der Lage, nicht nur mit der dort versammelten wirtschaftlichen Elite zu sprechen, sondern „ebenso unumschränkt über Molekularphysik, Mystik oder Taubenschießen zu plaudern“ (MoE, 189).181 Die Wiener Gesellschaft, die Arnheim zunächst als Kuriosität betrachtet (man kommt in Diotimas Salon, „um einen verrückten reichen Juden zu sehn“ (MoE, 189)), ist von seinen rhetorischen und intellektuellen Fähigkeiten entsprechend beeindruckt: Arnheim gelingt es, trotz enormer Vielbezüglichkeit den Eindruck kohärenten Sinns zu erzeugen. Ulrich schlägt einen spöttischen Vergleich für Arnheims souveräne Kontingenzbewältigungs-Performance vor und beschreibt ihn explizit als Diskursintegrator:182 [D]as (= Arnheim) ist ein Phänomen wie ein Regenbogen, den man beim Fuß fassen und ganz richtig betasten kann. • Er spricht – von Liebe – und Wirtschaft, – von Chemie – und Kajakfahrten,

• er ist – ein Gelehrter, – ein Gutsbesitzer – und Börsenmann [. . .].

[W]as wir alle getrennt sind, das ist er in einer Person [. . .]. (MoE, 190, Hervorh. M.D.)

Arnheims Profil verweist literaturhistorisch auf den Kontext der Goethe- bzw. Geniezeit und konterkariert in kaum überbietbarer Weise die diabolisch-statistische Poetologie: „[W]enn er einmal angefangen hatte [zu reden], hörte er so wenig auf, wie man ein Buch abschließen kann, ehe darin alles gesagt ist, was zum Wort drängt; aber er hatte eine still vornehme, fließende Art zu sprechen, eine Art, die fast traurig über sich selbst war, wie ein von dunklen Büschen eingesäumter Bach, und das gab dem Vielreden gleichsam etwas Notwendiges.“ (MoE, 189) Während der Erzähler und Ulrich diesen Stil und die ihm zugrundeliegende Poetologie, Ästhetik und Epistemologie als prätentiös, obsolet und anachronistisch bewerten, verteidigt Walter Arnheims Motive anlässlich eines Gesprächs, in dem Ulrich Clarisse „die Schriften Arnheims erklären“ (MoE, 213f.) muss. Die Auseinandersetzung der beiden mittlerweile zerstrittenen Jugendfreunde stellt ein Musterbeispiel der Konfrontation der statistisch inspirierten, diabolischdesemantisierenden Wissenspoetik dar, wie Ulrich sie propagiert und der Erzähler sie praktiziert, und der von Arnheim verkörperten Wissenspoetik, die in der 181

182

Vgl. [Arntzen 1983, 136ff.]; im zweiten Buch übernimmt Agathes ungeliebter Ehemann Hagauer Arnheims Funktion als Diskursintegrator, dessen Form der Kontingenzbewältigung und Sinnstiftung das Geschwisterpaar in Gesprächen zu leidenschaftlichen Hassbekundungen herausfordert; vgl. z.B. MoE, 679ff. Zu Arnheims Rolle als Diskursintegrator vgl. [Honold 1995, 361f.].

Musils Der Mann ohne Eigenschaften

151

Moderne ,klassische‘ Ideale fortzuschreiben sucht. Der Erzähler listet – hier in offensichtlicher Komplizenschaft mit seinem Protagonisten – die von Arnheim behandelten Themen auf, destruiert damit den vom Autor konstruierten Sinnzusammenhang und unterläuft die vom Autor konstruierte Geschlossenheit, indem er die Liste in eine Offenheit und Kontingenz signalisierende usw.-Formel münden lässt: Es war darin

183

184

185

186

• von algebraischen Reihen183 die Rede und

• Hata 606,

• von Benzolringen184 ,

• der Bohrschen Atomistik,

• von der materialistischen Geschichtsauffassung185

• dem autogenen Schweißverfahren,

• und der universalistischen,

• der Flora des Himalaja,

• von Brückenträgern,

• der Psychoanalyse,

• der Entwicklung der Musik,

• der Individualpsychologie,

• dem Geist des Kraftwagens,

• der Experimentalpsychologie,

• der Relativitätstheorie186 ,

Der Erzähler behauptet im Zusammenhang mit Diotimas Vorstellungswelt, der Begriff „Seele“ sei „negativ leicht bestimmt: es ist eben das, was sich verkriecht, wenn man von algebraischen Reihen hört.“ (MoE, 103) Ulrich behauptet nach dieser Auflistung wortspielerisch, Arnheim könne Benzolringe tragen, „so viele er will“. Mangels chemischer Fachkenntnisse missversteht Clarisse diesen Scherz und fragt, „wie Benzolringe aussehen“ (MoE, 214). Dies kann als (spielerischer) intertextueller Verweis auf die chemische Gleichnisrede in Goethes Wahlverwandtschaften gelesen werden, in dem nicht nur Charlotte mehrmals Verständnisschwierigkeiten hat (mit Bezug auf den chemischen Fachausdruck ,Wahlverwandtschaft‘ bemerkt sie explizit, es sei „in der Gesellschaft nichts lächerlicher, als wenn man ein fremdes, ein Kunstwort falsch anwendet“ [Goethe 1998”, 271]), sondern auch Eduard klagt: „,Es ist schlimm genug,‘ daß man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.‘“ [Goethe 1998”, 270]. Gleichwohl ist die Naturwissenschaft der klassisch-romantischen Epoche um 1800 begrifflich noch so anthropo- bzw. soziomorph, dass sie leicht als Muster für intentionalindividuell konzipiertes Sozialverhalten – unter anderem – poetisch fruchtbar gemacht werden kann; entsprechend virulent bleibt der Traum einer universellen Integrierbarkeit aller Wissensformen und Diskurse und zumindest potentiell ganzheitlicher Sinnstiftung. In dem radikal modernen Konzept des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Kultur, das in diesem Kapitel als eine Poetologie der Statistik und Beobachtung zweiter Ordnung rekonstruiert wird, dient der unüberblickbare Wissensmengen produzierende wissenschaftliche Fortschritt gerade als Subversionsinstanz der um 1800 entworfenen (und freilich bis weit ins 20. und 21. Jahrhundert kulturell wirksame) Utopie von universellem, beobachterunabhängigem Sinn. Eben diese steht bei Diotima im Verdacht, „aus der Welt ein böses, zweckloses Spiel gemacht“ zu haben, „zwischen dessen Atheismus, Sozialismus und Positivismus ein seelenvoller Mensch nicht die Freiheit findet, sich zu seinem wahren Wesen zu erheben“. (MoE, 106). Hinsichtlich der einheitsstiftenden Wirkung moderner Wissenschaft bereits sichtlich desillusioniert urteilt Graf Leinsdorf: „Die Psychoanalyse und Relativitätstheorie, und wie das Zeug alles heißt, das ist ja alles nur Eitelkeit! Jeder möchte sich die Welt auf besondere Weise zurechtlegen!“ (MoE, 598)

152

Poetologie der Statistik

• der physiologischen Psychologie • und allen anderen Errungenschaften, die eine an ihnen

reich gewordene Zeit verhindern, gute, ganze und einheitliche Menschen hervorzubringen. (MoE, 214, Hervorh. M.D.)

Der diametrale Gegensatz der beiden wissenspoetischen Modelle wird im direkten Vergleich mit folgender, ihre Listenhaftigkeit und Unabschließbarkeit nicht verbergenden, sondern im Gegenteil ausstellenden Passage deutlich, die zudem einmal mehr die desemantisierende Wirkung des neuzeitlich-modernen Wissens betont und in paradoxer Weise die irreduzible Überlagerung völlig heterogener semantischer Cluster als Wesen der modernen Kultur bestimmt:187 [. . .] [N]achdem er (=Ulrich) sich mit dem Wasser als Beispiel beschäftigt hatte, war ihm nichts eingefallen, als daß • Wasser ein Wesen, dreimal so groß wie das Land ist, selbst wenn man bloß das berücksichtigt, was jeder als Wasser erkennt, Fluß, Meer, See, Quelle. [. . .] • Nach der Meinung der Griechen waren die Welt und das Leben aus dem Wasser hervorgegangen. Es war ein Gott; Okeanos. • Später erfand man Nixen, Elfen, Undinen, Nymphen. • Man hat Tempel und Orakel an seinen Ufern gegründet. [. . .] • Und natürlich hatte der Mann ohne Eigenschaften auch das neuzeitliche Wissen irgendwo im Bewußtsein, ob er daran gerade dachte oder nicht. Und da ist nun Wasser – eine farblose, – nur in dicken Schichten blaue, – geruch- und geschmacklose Flüssigkeit, was man so oft in der Schule aufgesagt hat, daß man es

nie wieder vergessen kann, obgleich physiologisch auch – Bakterien, – Pflanzenstoffe, – Luft, – Eisen, – schwefelsaurer und doppeltkohlensaurer Kalk dazugehören und das Urbild aller Flüssigkeiten physikalisch im Grunde gar keine Flüssigkeit, sondern je nachdem – ein fester Körper, – eine Flüssigkeit oder – ein Gas ist. Schließlich löst sich das Ganze in Systeme von Formeln auf, die untereinander irgendwie zusammenhängen, und es gibt in der weiten Welt nur einige Dutzend Menschen, die selbst von einem so einfachen Ding, wie es Wasser ist, das gleiche denken; alle anderen reden davon in Sprachen, die zwischen heute und einigen tausend Jahren früher irgendwo zu Hause sind. Man muß also sagen, daß ein Mensch, wenn er nur ein bißchen nachdenkt, gewissermaßen in recht unordentliche Gesellschaft gerät! (MoE, 112f.)

Ulrich und der Erzähler sind bemüht, Arnheims diskursintegratorische Sinnstiftungsstrategie zu ironisieren, die ihn in die Lage versetzt, die von ihm ,beschworene‘ Vielfalt kontingent erscheinender Wissensbereiche durch bestimmte Amalgamierungs- bzw. Homogenisierungsstrategien zu bändigen, und damit als 187

Vgl. [Sebastian 2005, 125].

Musils Der Mann ohne Eigenschaften

153

Konstrukt kenntlich zu machen, das auf der Marginalisierung dieser Kontingenz (durch mahnenden Verweis auf die Dignität prädiskursiver Ordnungsmuster) basiert: „[E]r versicherte, daß alles, was man nicht verstehe, nur eine Ausschreitung unfruchtbarer Verstandeskräfte bedeute, während das Wahre immer das Einfache, die menschliche Würde und der Instinkt für übermenschliche Wahrheit sei, den jeder erwerben könne, wenn er einfach lebe und mit den Sternen im Bunde sei“ (MoE, 214). Ulrichs Jugendfreund Walter übernimmt im oben bereits zitierten Gespräch die Rolle zeitgenössischer Anerkennung dieser Form des ,maßvollen‘ Diskurspanoramas, das den (vom Erzähler komisierend überbetonten) Listencharakter der eigenen Themenvielfalt verbirgt, indem es auf (vermeintlich) übergeordnete moralische, ästhetische und epistemische Prinzipien rekurriert. Aus Walters Sicht betreibt Arnheim Wissenspoetik in einem besonders anspruchsvollen Sinn: „[D]as sei neuer Geist! Zwar einwandfreie Wissenschaft, aber zugleich auch über das Wissen hinaus!“ (MoE, 214) Dieser Standpunkt widerspricht freilich der von Ulrich favorisierten diabolischen Liebespoetik in eklatanter Weise. Folglich greift Ulrich beide darin implizierten Wertungen scharf an: Weder gebe es jemals eine vollendete „einwandfreie Wissenschaft“ – er kennzeichnet wissenschaftliche Tätigkeit im Gegenteil als „ein Verhalten, eine Leidenschaft“ (MoE, 215), die „niemals fertig“ (ebd.) werden könne – noch sei den wissenschaftlichen Eliten an einer ganzheitlichen Sinnstiftung gelegen: Der Forscher leide vielmehr an einer „Trunksucht am Tatsächlichen“ (ebd.) und „schert sich den Teufel darum, ob ein Ganzes, Menschliches, Vollkommenes oder überhaupt aus seinen Feststellungen wird“ (ebd.). Entsprechend gelassen reagiert Ulrich auf Walters Einwand, damit der „österreichische[n] Staatsphilosphie des Fortwurstelns“ (MoE, 216) das Wort zu reden, ja verteidigt diese Haltung sogar:188 „Man kann aus einem leidenschaftlichen Bedürfnis nach Schärfe und Genauigkeit oder Schönheit dahin kommen, daß einem Fortwursteln besser gefällt als alle Anstrengungen im neuen Geiste!“ (Ebd.) Ulrich weigert sich vehement, einen Mann wie Arnheim zu bewundern, den Walter (dessen Hang zur bürgerlichen Lebensführung vom Erzähler dialogisch, deskriptiv und vor allem kompositorisch – ausgerechnet Walter wird eine wahnsinnige NietzscheJüngerin als Gattin zur Seite gestellt189 – mit oft dandyhaftem Degout190 bloßgestellt wird) dafür lobt, dass er „noch das Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein“ 188

189 190

Auch an anderer, prominenter Stelle werfen Ulrich und der Erzähler liebevoll-ironische Seitenblicke auf diese – intellektuell scheinbar unentschuldbare – Pseudo-Staatsphilosophie: Im berühmten Kapitel Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte? befindet Ulrich in Gedanken: „Das Gesetz der Weltgeschichte [. . .] ist nichts anderes als der Staatsgrundsatz des ,Fortwurstelns‘ im alten Kakanien. Kakanien war ein ungeheuer kluger Staat.“ (MoE, 361) So ironisch diese Überlegung auch formuliert ist, entsprechen viele andere von Ulrich angestellte, an thermodynamische und allgemein statistische Ergebnisse angelehnte geschichtstheoretische Überlegungen diesem Geschichtsbild zumindest hinsichtlich der Konsequenzen einer radikalen Depotenzierung von Individualität und Intentionalität. Vgl. dazu u.a. MoE, 47ff. [Vatan 2000, 114] betrachtet Walter im Zusammenhang mit der Bedeutung des statistischen Diskurses im MoE als fiktionale Gestaltung eines „homme moyen“.

154

Poetologie der Statistik

(MoE, 217), und formuliert seine Sicht einer kontingenten Wirklichkeit, die homogen nur erscheinen kann, wenn man sie homogenisierend beobachtet:191 „,Das gibt es heute nicht mehr!‘ meinte Ulrich. ,Du brauchst nur in eine Zeitung hineinzusehen. Sie ist von einer unermeßlichen Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so vielen Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal; man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit.“192 Im nächsten Abschnitt zeige ich, wie General Stumm von Bordwehr als ,Ethnologe‘ der modernen Kultur zunächst Arnheim nacheifert, mit seinen Bemühungen, „Ordnung in den Zivilverstand zu bringen“, aber ironischerweise gerade die ästhetisch-epistemischen Überzeugungen der Poetologie der Statistik furios bestätigt. General Stumm als Ethnologe der modernen Hochkultur Wie wenig ,realhistorisch‘ der Mann ohne Eigenschaften konzipiert ist, zeigt sich besonders deutlich an General Stumm von Bordwehr, einer Figur, der man keineswegs gerecht wird, wenn man sie pauschal als Inkorporation eines kriegslüsternen, imperialistischen oder militaristischen Diskurses am Vorabend des Ersten Weltkriegs betrachtet. Im Gegenteil betont der Erzähler, dass gerade die Repräsentanten des kakanischen Militärs nicht selten eine geheime, da institutionell unterdrückte Leidenschaft für die Zivilkultur hegen: Wenn es Zivilisten gibt, die kriegerisch sind, weshalb sollte es dann nicht Offiziere geben, die die Künste des Friedens lieben? Kakanien hatte von ihnen eine Menge. Sie malten, sammelten Käfer, legten Briefmarkenalbums an oder studierten Weltgeschichte. Die vielen Zwerggarnisonen und der Umstand, daß es dem Offizier verboten war, mit geistigen Leistungen ohne Approbation der Oberen an die Öffentlichkeit zu treten, gaben ihren Bestrebungen gewöhnlich etwas besonders Persönliches, und auch General Stumm hatte in früheren Jahren solchen Liebhabereien gefrönt. [. . .] [E]r hatte angefangen, wissenschaftlich Taschenmesser zu sammeln; zu einer Waffensammlung reichte sein Einkommen nicht, aber Messer, nach ihrer Bauart, mit und ohne Korkzieher und Nagelfeile geordnet, und nach den Stählen, der Herkunft, dem Material der Schale und so weiter, besaß er bald eine Menge, und hohe Kasten mit vielen 191 192

Vgl. dazu auch die Position von Gaston Bachelard, die im ersten Abschnitt des fünften Kapitels der vorliegenden Arbeit dargestellt wird. MoE, 217. Im zweiten Buch vertritt die Poetenfigur Meingast, die Walter und Clarisse als „Heilsbringer, der uns ganz macht“ bewundern und beherbergen, eine noch schroffere Gegenposition zu Ulrichs Konzepten, vgl. MoE, 784. An Meingast wird auch deutlich, dass die Sehnsucht nach Kontingenzbewältigung im 20. Jahrhundert nicht nur wissenschaftsfeindliche, sondern oft auch antidemokratisch-totalitäre Tendenzen hat: „Wir sind nicht imstande, uns selbst zu befreien, daran kann kein Zweifel bestehen; wir nennen das Demokratie, aber diese ist bloß der politische Ausdruck für den seelischen Zustand des ,Man kann so, man kann aber auch anders!‘“ (MoE, 832).

Musils Der Mann ohne Eigenschaften

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flachen Schubfächern und beschriebenen Zetteln standen in seinem Zimmer, was ihn in den Ruf der Gelehrsamkeit brachte. (MoE, 342)

Der Erzähler macht diesen ,wissenschaftlichen‘ Messersammler, der hier als drollig-komische Randfigur erscheint, zum Entdecker der epistemologisch-poetologischen Hauptthese seines diabolischen Liebeslieds der Moderne, wonach Kontingenz eine ,ursprünglichere‘ Kategorie darstellt als Ordnung und Notwendigkeit.193 Gerade weil der General auf den ersten Blick hoffnungslos im militärischen Diskurs gefangen zu sein scheint und große Scheu vor den von Diotima gepflegten Ritualen der high culture hat, agiert er hinsichtlich der ihm fremden gesellschaftlichen Systeme wider Willen als Beobachter zweiter Ordnung. In einem aufwendig komponierten und narrativ meisterlich gestalteten Handlungsstrang wird der Soldat zum Ethnologen der hochdifferenzierten und -spezialisierten Kultur der Moderne. Sein Handicap (die – für ethnologische Forschung konstitutive – Fremdheit) erweist sich im Sinne des Erzählers letztlich als epistemischer Vorteil, und seine militärspezifische Ordnungsliebe versetzt ihn in die Lage, Phänomene zu beobachten und Strukturen zu erkennen, die den ,Eingeborenen‘ der modernen Hochkultur aufgrund ihrer diskursiv antrainierten Akte der Sinnsupposition kaum ins Bewusstsein gelangen.194 Die Rolle als unbeholfen-pedantisches Pendant zu Diotimas Verehrer Arnheim – der sich selbst als Musterbeispiel eines ,Eingeborenen‘ inszeniert – wird besonders an Stumms Zuneigung zu dieser Frau deutlich, die schon angesichts ihres Kosenamens als Chiffre höherer kultureller Sphären erscheint: Ganz abgesehen von dem Eindruck ihrer Schönheit, hatte er (= General Stumm) zu allem Anfang schon, als er hörte, daß sie eine zweite Diotima sei, im Konversationslexikon nachschlagen müssen, was überhaupt eine Diotima bedeute; dann verstand er die Bezeichnung nicht ganz und bemerkte nur so viel, daß sie mit dem großen Kreis der zivilen Bildung zusammenhänge, von der er leider trotz seiner Stellung noch immer viel zu wenig wisse, und die geistige Übermacht der Welt verschmolz mit der körperlichen Anmut dieser Frau. (MoE, 345f.)

General Stumm, der sich seine Bildungsdefizite eingesteht und nicht zu fein ist, im Zweifelsfall Konversationslexika zur Hand zu nehmen, fehlt es offenbar entschieden an der kulturellen ,Sensibilität‘, die eine Amalgamierung kontingenter Wissensmengen zu einem stimmigen Gesamtbild erlauben. Der Roman demonstriert in der Binnenkomödie seines scheiternden ,Bildungsgangs‘, dass diese Fähigkeit in der Moderne nicht durch enzyklopädische Akkumulation oder auf Vollständigkeit zielende Ordungsstiftung erworben werden kann, sondern höchstens durch unscharf-holistische Wahrnehmungsmodi entsteht. 193 194

Vgl. [Arntzen 1983, 158ff.]. Vgl. [Honold 1995, 344].

156

Poetologie der Statistik

Die Ironie der Figurenkomposition besteht in diesem Zusammenhang gerade darin, dass General Stumm eigentlich (dem von Diotima verehrten) Arnheim nacheifert, dabei aber Ulrichs vom Geist der Statistik inspirierte Beobachtungen zweiter Ordnung reproduziert: Als skurriles Alter Ego des Protagonisten erkennt der Soldat, durch Diotimas Zurückweisung nur noch mehr angespornt, sein Alleinstellungsmerkmal unter den Partizipanten der Parallelaktion und verkündet Ulrich in einem Gespräch über die Früchte seiner „Bemühungen, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen“ (MoE, 370): „[A]uf Ordnung haben wir uns beim Militär immer verstanden.“ (MoE, 372). Der Erzähler berichtet von Ulrichs Erstaunen über Stumms elaborierte statistische Untersuchungen, die mit einer großangelegten, sogar methodisch reflektierten Datenerhebung beginnt. Als Kulturwissenschaftler in nuce teilt er Ulrich stolz den hohen personellen Aufwand seines Forschungsprojekts mit: „Ich habe einen Hauptmann, zwei Leutnants und fünf Unteroffiziere dazu gebraucht, um das in so kurzer Zeit fertigzustellen!“ (MoE, 372). Der erste Eindruck, wonach „eigentlich jeder etwas anderes für das Wichtigste“ (MoE, 372) hält, muss so zunächst nicht beunruhigen, erwartet doch ein Statistiker beim Blick auf einzelne Daten gar keine unmittelbar evidente oder ,natürliche‘ Ordnung. Der General appliziert auf der Suche nach einer Struktur, die die moderne Kultur als „Einheit ohne Widersprüche“ (MoE, 373) lesbar machen könnte,195 verschiedene militärwissenschaftliche Verfahren. Zunächst legt er mit Hilfe seiner Mitarbeiter ein „Grundbuchsblatt der modernen Kultur“ (MoE, 372) an:196 Es war nach der Art eines Meldezettels oder eben der militärischen Verzeichnisse durch Kreuz- und Querlinien in Felder geteilt, deren Eintragungen aus Worten bestanden, die einer solchen Anlage einigermaßen widerstrebten, denn er las in ärarischer Schönschrift die Namen • Jesus Christus; • Buddha, Gautama auch Siddharta; • Laotse; • Luther, Martin; • Goethe, Wolfgang; • Ganghofer, Ludwig; • Chamberlain • und noch viele andere, die offenbar auf einem anderen Blatt ihre Fortsetzung fanden;

sodann in einer zweiten Spalte die Worte an die sich in anderen Spalten andere • Imperialismus, Wortsäulen schlossen. (MoE, 372, Hervorh. • Jahrhundert M.D.) des Verkehrs • Christentum,

• und so weiter,

Nach dieser Bestandsaufnahme registriert Stumm mit „Bedauern“ die strukturalistisch noch recht leicht konzeptualisierbare Beobachtung, dass der aufgespürte 195 196

Vgl. [Kümmel 2001, 311], der in größerem organisationstheoretischem Rahmen die poetologische wie interpretatorische Problematik des Ordnens erörtert. S. dazu auch [Kilcher 2003, 435ff.]. Vgl. dazu auch [Baßler u.a. 1996, 304f.].

Musils Der Mann ohne Eigenschaften

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Ideenvorrat „aus lauter Gegensätzen bestehe“ (MoE, 373): „Dem gegenwärtigen Zeitalter sind eine Anzahl großer Ideen geschenkt worden und zu jeder Idee durch eine besondere Güte des Schicksals gleich auch ihre Gegenidee, so daß Individualismus Nationalismus Sozialismus Imperialismus Rationalismus

und und und und und

Kollektivismus, Internationalismus, Kapitalismus, Pazifismus, Aberglaube

gleich gut darin zu Hause sind, wozu sich noch die unverbrauchten Reste unzähliger anderer Gegensätze von gleichem oder geringerem Gegenwartswert gesellen.“ (MoE, 373, Hervorh. M.D.) Zu seiner Beunruhigung bemerkt der General jedoch die dekonstruktive Tendenz,197 „daß diese Gegensätze bei genauerer Beschäftigung mit ihnen ineinander überzugehen anfangen“ (MoE, 373), was auch die – für Stumm selbst schon unbefriedigende – binäre Ordnung ad absurdum führt.198 Wo die zivile Ordnung derart versagt, scheint dem General die Applikation militärwissenschaftlicher Kategorien unumgänglich zu sein, und seine kampferprobten Militärbeamten machen sich auf die Suche nach den Strategien der „Ideenbefehlshaber“, „welche in letzter Zeit sozusagen größere Heerkörper von Ideen zum Siege geführt haben“, ermitteln „Ordre de bataille“, „Aufmarschpläne“, „Depots oder Waffenplätze [. . .], aus denen Nachschub an Gedanken kommt“. (MoE, 374) Das solchermaßen metaphorisch erzeugte Schlachtfeld fällt jedoch militärästhetisch in eklatanter Weise durch: Es gleiche dem, „was bei uns jeder Vorgesetzte einen Sauhaufen nennen würde“ (ebd.), da „die heute im Gefecht stehenden Gedankengruppen“ (ebd.) [. . .] ihren Nachschub an Kombattanten und Ideenmaterial nicht nur aus ihrem eigenen Depot, sondern auch aus dem ihres Gegners bezieht; du siehst, daß sie ihre Front fortwährend verändert und ganz unbegründet plötzlich mit verkehrter Front, gegen ihre eigene Etappe kämpft; du siehst andersherum, daß die Ideen ununterbrochen überlaufen, hin und zurück, so daß du sie bald in der einen, bald in der anderen Schlachtlinie findest: Mit einem Wort, man 197

198

Vgl. zu diesem Zusammenhang von Musils Texten und Derridas Dekonstruktion [Zima 1985, 187]. Für eine ausführliche, ebenfalls diskurstheoretisch angelegte Lektüre vgl. [Honold 1995, 346ff.]; für eine allgemeine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Diskursivität und Dekonstruktion bei Musil s. auch [Moser 1980, insb. 174f.]. Hier korrespondiert Musils Poetologie der Statistik mit der katastrophischen Deutung der modernen Naturwissenschaft durch [Moszkowski 1911, 280], der in seiner satirisch-philosophischen Auseinandersetzung mit Einsteins Relativitätstheorie befindet, „Notwendigkeit und Zufall, freier Wille und Willensunfreiheit, Monismus und Dualismus, Theismus und Atheismus, Schöpfung und Urzeugung, Teleologie und Zweckleugnung, Ewigkeit und Zeitgrenze, bis zu allen persönlichen Lehrmeinungen, die sich kontradiktorisch um die Begriffe Gott und Teufel gruppieren“ seien als Grundlagen von Weltbildern jeweils ähnlich gut geeignet: „fast alle landläufigen Fragen der Schulphilosophie sind ihrem Wesen nach quadratische Gleichungen, die gleichzeitig eine positive und eine negative Wurzel liefern; [. . .] der Zufall erfüllt die Gleichung ebenso vortrefflich wie die Notwendigkeit [. . .]“.

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Poetologie der Statistik

kann weder einen ordentlichen Etappenplan, noch eine Demarkationslinie, noch sonst etwas aufstellen [. . .]. (MoE, 374)

Da auch seine „militärgeographischen“, „oro- und hydrographischen Darstellungsversuche“ gescheitert seien, sieht sich der General, der seine kulturwissenschaftliche Mission darin erblickt, „das Ganze in eine Einheit zu bringen“, zur Kapitulation gezwungen. (MoE, 374) Seine Erfahrungen für das sich bei der Erforschung der abendländische Kultur199 einstellende Gefühl fasst er mit einem derben epidemologischen Vergleich zusammen:200 „[. . .] [W]eißt du, wie das ist? So wie wenn man in Galizien zweiter Klasse reist und sich Filzläuse holt! Es ist das dreckigste Gefühl von Ohnmacht, das ich kenne. Wenn man sich lange zwischen Ideen aufgehalten hat, juckt es einen am ganzen Körper, und man bekommt noch nicht Ruhe, wenn man sich bis aufs Blut kratzt!“ (Ebd.) In ähnlich heiter-apokalyptischer Weise endet auch General Stumms berühmter Besuch in der Hofbibliothek, dessen romanpoetischer Status als satirischer Höhepunkt der Frage nach kultureller Ordnungsstiftung und Identitätskonstitution schon durch die Kapitelnummer 100 hervorgehoben wird: Die dort gesammelten „Erfahrungen über Bibliotheksdiener und geistige Ordnung“ (MoE, 459) stimmen selbst den General äußerst bedenklich, zeige doch der Drang nach oder der Vollzug von Ordnung eine Tendenz, „in das Bedürfnis nach Totschlag“ (MoE, 465) überzugehen. Solange Wissenschaft und Kunst eher ornamentale Funktionen übernähmen, also gleichsam „nebenbei“ einiges „an großen und bewundernswerten Gedanken“ (ebd.) hervorbrächten, seien sie freilich ehrenhaft und unbedenklich. Die von ihm selbst zuvor engagiert betriebene und von Diotimas einschlägigem Ehrgeiz beflügelte Suche nach der bedeutendsten Idee, die streng logisch dadurch ermittelt werden könne, dass man sämtliche bedeutenden Ideen in eine hierarchische Ordnung bringt,201 betrachtet Stumm nach dem Bibliotheksbesuch als ge199

200 201

Im Interview betont Musil selbst auf die (für das reflexive Niveau des Textes freilich viel zu pauschale) Frage, ob der Roman „pessimistisch“ sei: „Ich mache mich darin über alle Abendlandsuntergänge und ihre Propheten lustig. Urträume der Menschheit werden in unseren Tagen verwirklicht. Daß sie bei der Verwirklichung nicht mehr ganz das Gesicht der Urträume bewahrt haben – ist das ein Malheur? Wir brauchen auch dafür eine neue Moral. Mit unserer alten kommen wir nicht aus. Mein Roman möchte Material zu einer solchen neuen Moral geben. Es ist der Versuch einer Auflösung und die Andeutung einer Synthese.“ [Musil 19782 , 942] Die explizite Anspielung auf Oswald Spengler (als dessen Karikatur General Stumm durchaus gelesen werden könnte) und sein geschichtsphilosophisches Monumentalwerk, mit dem sich Musil übrigens in einem Essay ausführlich befasst, vgl. [Musil 19782 , 1042-1058], macht deutlich, dass eine Deutung der narrativ zelebrierten Kontingenz als Modernitätskritik in jedem Fall stark simplifizierend ist. Vgl. dazu die berühmten Ausführungen Foucaults über die von Borges zitierte „chinesische Enzyklopädie“: [Foucault 1974, 17]. Diese Überlegung stellt schon Aristoteles zu Beginn der Nikomachischen Ethik an: „Wenn es nun wirklich für die verschiedenen Formen des Handelns ein Endziel gibt, das wir um seiner selbst willen erstreben, während das übrige nur in Richtung auf dieses Endziel gewollt wird, und wir nicht jede Wahl im Hinblick auf ein weiteres Ziel treffen – das gibt nämlich ein Schreiten ins Endlose, somit ein leeres und sinnloses Streben –, dann ist offenbar dieses Endziel ,das Gut‘ und zwar das oberste Gut.“ [Aristoteles 1969, 5f.].

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scheitert.202 Das Kapitel ist als Gespräch zwischen Ulrich und dem General gestaltet, und gerade durch die indirekte Narration wirken die subtilen – von Stumm selbst kommentierten – Versuche, die diskursbedingten Kommunikationsschwierigkeiten zu überbrücken, ohne dabei seine genaue Intention artikulieren zu müssen, äußerst komisch;203 das satirische Potential des Kapitels verdankt sich dabei wesentlich General Stumms nomineller Zugehörigkeit zum militärischen Diskurs. Zur Begründung und zu Beginn seines Besuchs in der Bibliothek verwendet er militärische Metaphern: Seine Visite sei durch eine Grundregel der „Feldherrnkunst“ (MoE, 459) motiviert, „sich über die Stärke des Gegners Klarheit zu verschaffen“ (ebd.), und folglich sei er in Begleitung eines Bibliothekars „in die feindlichen Linien eingedrungen. Wir sind den kolossalen Bücherschatz abgeschritten, und ich kann sagen, es hat mich weiter nicht erschüttert, diese Bücherreihen sind nicht schlimmer als eine Garnisonsparade“ (MoE, 460). Auch das Bibliothekspersonal ist bemüht, den Gewohnheiten des Offiziers entgegenzukommen, indem man ihm Interesse für „Kriegsgeschichtliches“ (MoE, 461), „Julius Caesar, Prinz Eugen, Graf Daun“ (MoE, 463) oder das Wehrgesetz in den Mund zu legen versucht. Nach dieser ersten, mit Hilfe seiner militärischen Erfahrungen problemlos gemeisterten Etappe erlebt der General dann aber – in einem komisierenden Schnelldurchlauf – eine für die moderne Kultur konstitutive Fundamentalkrise,204 die durch die simple Rechnung ausgelöst wird, dass die Lektüre des Bestands ein einzelnes Individuum mindestens 10000 Jahre kosten würde: „In diesem Augenblick sind mir die Beine auf der Stelle stecken geblieben, und die Welt ist mir wie ein einziger Schwindel vorgekommen. Ich versichere dir noch jetzt, wo ich mich beruhigt habe: da stimmt etwas ganz grundlegend nicht!“ (Ebd.) Der Ethnologe der modernen Hochkultur kann sein Forschungsobjekt also unmöglich durch eine auch nur annähernd vollständige Sichtung einschlägiger Dokumente erfassen, und hofft daher auf die Hilfe des Bibliothekars, der tatsächlich als ,Eingeborener‘ beschrieben wird: „[D]ieser Mensch lebt doch zwischen diesen Millionen 202

203 204

Die ohnehin stark rezipierte und oft kommentierte Bibliotheksepisode ist in wissenspoetischen Arbeiten besonders prominent: [Kassung 2001, 391ff.] nutzt diese in Auseinandersetzung mit dem Entropiediskurs zu einer heftigen Polemik gegen thermodynamisch weniger informierte Literaturwissenschaftler, die nicht wissen, dass ein zentrales Theorem der Thermodynamik impliziert, dass zwischen Ordnung und Unordnung bzw. Chaos kein diametraler Gegensatz besteht: Dabei fällt Kassung, der sonst prononciert diskursivitätsbewusst argumentiert, deutlich hinter die eigenen epistemischen Maßstäbe zurück, faktifiziert bzw. ontologisiert er doch durch seine Argumentation einen Einzeldiskurs. Dieser Lapsus wird umso deutlicher, wenn er der Forschung im selben Zusammenhang ein Festhalten am berühmt-berüchtigten „Satz vom ausgeschlossenen Dritten“ vorwirft und zugleich selbst eine Unterscheidung ,richtiger‘ und ,falscher‘ erkenntnistheoretischer Konzepte propagiert. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist aber m.E. noch gewichtiger, dass in Kassungs Argumentation die Literarizität (vor allem die Komik) der Episode durch monumentale theoretische Funktionalisierung nicht mehr überzeugend reflektierbar ist. Auch [Kochs 1996, 38ff.], die den Roman vor dem Hintergrund der Chaostheorie liest, beschäftigt sich – leider mit ähnlicher Tendenz – ausführlich mit General Stumms Expedition. Vgl. [Moser 1980, 180]. Vgl. diesbezüglich die Ausführungen von [Joung 1996, 217ff.] zum intertextuellen Bezug von MoE und Hofmansthals Chandos-Brief, [von Hofmannsthal 1991, 44-55].

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Büchern, kennt jedes, weiß von jedem, wo es steht“ (ebd.). Wie ein erfahrener Kulturwissenschaftler vermeidet der General aber geschickt die Offenlegung seiner eigentlichen Forschungsabsichten, habe er doch „nicht ohne weiteres fragen wollen: wie finde ich den schönsten Gedanken von der Welt?“ (Ebd.) Statt solcher expliziter Fragen nach kulturellen Inhalten erkundigt sich Stumm nach den Kultur-Techniken, die den ,Eingeborenen‘ die Orientierung in dem „Bücherschatz“ ermöglichen, der ihm völlig kontingent erscheint, und fragt in bewunderndem Tonfall: „[A]ch, ich habe mich zu unterrichten vergessen, wie Sie es eigentlich beginnen, in diesem unendlichen Bücherschatz immer das richtige Buch zu finden?!“ (MoE, 460f.) So weicht der General weiteren inhaltlichen Fragen aus, bekundet nur sein allgemeines (im Roman zuvor bereits eindrucksvoll dokumentiertes) Interesse an einer „Zusammenstellung aller großen Menschheitsgedanken“ (MoE, 461) und äußert – geradezu programmatisch kulturwissenschaftlich – „etwas von Eisenbahnfahrplänen, die es gestatten müssen, zwischen den Gedanken jede beliebige Verbindung und jeden Anschluß herzustellen“ (ebd.). Diese Äußerungen sind dem Angestellten dermaßen suspekt, dass er dem General Zugang zum ,Zentrum‘ des Bibliotheks-Kosmos verschafft, das normalererweise bloß den Bibliothekaren (denen hierin offenbar eine priesterliche Funktion zukommt) offen stehe. Der General wird ins Katalogzimmer vorgelassen, „obgleich das eigentlich verboten ist, weil es nur von den Bibliothekaren benützt werden darf. Da war ich also wirklich im Allerheiligsten der Bibliothek.“ (Ebd.) War er – als Ethnologe der Moderne – von deren ,Ureinwohnern‘ zunächst als Fremder und Eindringling betrachtet worden, gelangt er so schließlich ins ,Allerheiligste‘ der von ihm untersuchten Kultur. Auch dort findet er jedoch keine Antwort auf seine Frage, sondern muss feststellen, dass moderne Verfahren der Ordnungsstiftung und Kontingenzreduktion stets mit radikaler Desemantisierung einhergehen: Das Zentrum der modernen Kultur erweist sich ,inhaltlich‘ als leer. Ist Stumm von Bordwehr anfangs von der Aura dieses ,Tempels‘ eingenommen, den er mit dem „Innere[n] eines Schädels“ (ebd.) assoziiert – ihm ist „andächtig und unheimlich“ (ebd.) zumute, und der dort versammelte „ganze Succus des Wissens“ verströmt den Geruch von „Gehirnphosphor“ (ebd.) –, tritt dann schnell Ernüchterung ein, wenn er die Metaorganisation dieser Kultur kennenlernt: Der General stellt fest, dass es im Katalogzimmer „nirgends ein vernünftiges Buch zum Lesen [gibt], sondern nur Bücher über Bücher“ (ebd.). Komisierend zugespitzt bietet ihm der Bibliothekar „eine Bibliographie der Bibliographien“ (ebd.) an, die er halb entsetzt, halb fasziniert als „das alphabetische Verzeichnis der alphabetischen Verzeichnisse der Titel jener Bücher und Arbeiten [identifiziert], die sich in den letzten fünf Jahren mit den Fortschritten der ethischen Fragen, ausschließlich der Moraltheologie und der schönen Literatur beschäftigt haben.“ (MoE, 462). Diese forcierte Form der Beobachtung höherer Ordnung, die mit emphatischen Vernunft-, Bildungs- und Aufklärungskonzepten kaum noch etwas gemein hat, lässt den Besucher kurz die Fassung verlieren. Die Stimmung des andächtigen Tempelbesuchs schlägt in den Eindruck um, in ein „Tollhaus“ (ebd.) geraten zu sein, und der Bibliothekar sieht sich (mit ängstlichem

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Blick auf den freilich nur zur Zierde getragenen Säbel des Generals) genötigt, „das Geheimnis dieser Wände aus[zu]sprechen“ (ebd.): „Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese!“ (Ebd.) In einem kurzen Dialog erfährt Stumm die Bedingung der Ordnungsstiftung in der Moderne:205 Es ist das Geheimnis aller guten Bibliothekare, daß sie von der ihnen anvertrauten Literatur niemals mehr als die Büchertitel und das Inhaltsverzeichnis lesen. ,Wer sich auf den Inhalt einläßt, ist als Bibliothekar verloren!‘ Ich frage ihn atemlos: ,Sie lesen also niemals eines von den Büchern?‘ ,Nie; mit Ausnahme der Kataloge.‘ ,Aber Sie sind doch Doktor?‘ ,Gewiß. Sogar Universitätsdozent; Privatdozent für Bibliothekswesen. Die Bibliothekswissenschaft ist eine Wissenschaft auch allein und für sich‘ erklärte er. ,Wieviele Systeme, glauben Sie, Herr General,‘ frägt er ,gibt es, nach denen man Bücher aufstellt, konserviert, ihre Titel ordnet, die Druckfehler und falschen Angaben auf ihren Titelseiten richtigstellt und so weiter?‘ (MoE, 462)

Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis über die ,Substanz‘ der modernen Kultur, in der Kontingenzreduktion und globale Ordnungstiftung bloß noch denen möglich sind, die sich auf die Lektüre von Titeln und Inhaltsverzeichnissen beschränken, wirkt der Vorschlag des besorgten Bibliothekars, Kant „über die Grenzen der Begriffe und des Erkenntnisvermögens zu lesen“, vollkommen obsolet: Begleitet vom Erzähler und seinem ehemaligen Kameraden Ulrich als leidenschaftlichdiabolischen Beobachtern hat der General damit die fundamentale Differenz der Aufschreibesysteme 1800/1900 im Sinne Kittlers entdeckt: Um 1900 haben die historischen Transformationen insbesondere im Bereich der Medien ,Inhalte‘, feste (oder gar ,tiefere‘) Bedeutungen oder transzendentale Erkenntnisansprüche unzeitgemäß gemacht.206 Das Aufschreibesystem 1900 bemüht sich – den Ambitionen der Parallelaktion zum Trotz – vor allem um die statistisch-technische Dimension der Organisation und Registratur von Wissens-Mengen: Es ist selbst – im großen Maßstab – zum Generator eines diabolischen Liebeslieds der geschichtslosen Moderne geworden, deren Geschichte der Mann ohne Eigenschaften schreibt.

205

206

Vgl. dazu auch folgenden Hinweis bei [Baßler u.a. 1996, 307]: „Diderot sieht im exponentiellen Wachstum der Buchproduktion schon jenen Zeitpunkt voraus, in dem es fast ebenso schwer sein wird, sich in einer Bibliothek zurechtzufinden wie im Weltall“. Vgl. [Kittler 2003].

4 Die Obersten der Saboteure: Avantgarde und „Kleine Form“ als Konstituenten des Kontingenzdiskurses der Moderne 4.1 Einleitung Anschließend an die Frage Gibt es Kontingenz-Gattungen?1 , die Wolfgang Preisendanz in einem kurzen Aufsatz stellt und mit Hinweis auf Burleske und Farce bejaht, untersuche ich im Folgenden, inwieweit das Problem bzw. das Bewusstsein von Kontingenz als Bestimmungsmerkmal ganzer Gattungen aufgefasst werden kann. Im Gattungsgefüge der Klassischen Moderne halte ich dabei allerdings ein anderes Genre für gewichtiger: die von Alfred Polgar so benannte „Kleine Form“2 , also ein Korpus von Texten, die in traditioneller Terminologie am ehesten als ,essayistisch‘ oder ,feuilletonistisch‘ zu bezeichnen wären.3 Versteht man den von Polgar geprägten Ausdruck vor allem im Hinblick auf den Gesamtumfang der Texte, so mag der Übergang von Musils monumentalem Mann ohne Eigenschaften zu solchen Dokumenten der „Kleinen Form“ zunächst verwundern. Beachtet man jedoch die im vorigen Kapitel nachgezeichnete kunstvoll komponierte De-Komposition von Musils Roman, so lässt er sich als monumentale Agglomeration von Textelementen begreifen, die sich – zumindest heuristisch – der „Kleinen Form“ zuordnen lassen:4 Die Herausgeber eines Sammelbandes zur „Theorie und Geschichte“ des „Textfeldes“ der „Kleine[n] Prosa [. . .] im Literatursystem der Moderne“5 weisen in ihrem Vorwort sogar ganz allgemein darauf hin, dass es in der Gattungspoetik des 20. Jahrhunderts zunehmend zum kompositorischen ,Normalfall‘ werde, dass sich [. . .] traditionelle Großgattungen wie der Roman [. . .] aus kleineren Textgebilden zusammen[setzen], sei es, daß letztere [. . .] in ein größeres Ganzes integriert werden, oder sei es, daß die Romanstruktur parzelliert wird, bis sie 1 2 3

4 5

[Preisendanz 1998]. [Polgar 1984, 369-373]. Als Kriterium zur Unterscheidung von Essayismus und Feuilletonismus schlagen [Braungart/Kauffmann 2006] in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Band zum Essayismus um 1900 den – freilich graduell – unterschiedlich starken Bezug der Autoren zum genuin wissenschaftlichen Diskurs vor, wobei der Essay dem wissenschaftlichen Pol zugeordnet wird. Vor dem wissenspoetologischen Hintergrund der vorliegenden Arbeit scheint es allerdings sinnvoller, solche vornehmlich institutionell fundierten Argumente zunächst nicht in den Vordergrund zu stellen und stattdessen mit dem bewusst allgemeineren Terminus der „Kleinen Form“ zu operieren. Vgl. dazu auch [Berger 2004, 143]. [Althaus u.a. 2007].

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in kleinere Textteile zerfällt. Und gerade weil sich der moderne Roman spätestens mit der Anwendung des Prinzips der Collagetechnik weit in Richtung der Alltagskommunikation öffnet, die heterogensten Textelemente in sich aufnimmt und damit zum Schnittpunkt der unterschiedlichsten Diskurse wird, präsentiert er sich oftmals als Ansammlung diverser Kleinformen. Die traditionelle Unterscheidung von ,großer‘ und ,kleiner Form‘ verliert hier ihren Sinn; der produktive Bezug der einen Form auf die andere hebt den Unterschied auf. [Althaus u.a. 2007’, XXI]

Das Genre der Kurzprosa, das sich in der Moderne grundsätzlich neu konstituiere, wird hier als eine Art Sprengstoff im Gattungsgefüge6 charakterisiert, das besonders die traditionelle epische Form des Romans nachhaltig verändert habe. Für dieses kompositorische Phänomen ist die durch den von mir als diabolischdesemantisierend beschriebenen Beobachtungsmodus zweiter Ordnung geprägte und im Rahmen der Poetologie der Statistik extensiv reflektierte Parallelaktionshandlung von Musils Romanfragment offenbar paradigmatisch. Im vorangegangenen Kapitel wurde gezeigt, dass Musils Roman bestimmte Elemente einer Diskurstradition katastrophischer Deutungen der modernen Wissenschaft aufnimmt, aber entscheidend transformiert, indem er deren ästhetisch-epistemische Voraussetzung der traditionellen Hierarchie von Notwendigkeit und Kontingenz invertiert und so gerade die Dekomposition jedweder Ordnung zu seinem zentralen Kompositionsprinzip macht. Während diese Auto-Dekonstruktion besonders von der älteren Forschung und Kritik häufig problematisiert wurde, die das ,Zerfallen‘ von Musils Text – etwa aufgrund der zahlreichen Einschübe essayistischer Reflexionen, deren Anteil den der konventionell erzählenden Passagen bei weitem übersteigt und den Fragmentcharakter des Gesamttexts auch auf der Mikroebene der Narration widerspiegelt – im (meist unreflektierten) Anschluss an die prominenten Katastrophendiskurse der Moderne selbst als Krisensympotome deutet, ist die neuere Forschung im Gefolge von Diskurs- und Medientheorie weitgehend davon abgekommen, den fragmentarischen Charakter moderner Kunst per se negativ zu deuten, was mit einer deutlichen Aufwertung des Kontingenten einhergeht. Nach der in gewissem Sinne interdiskursiven Kontextualisierung der Kompositionsprinzipien und des Kontingenzbezugs von Musils Werk soll der Roman im Folgenden im Zuge einer Lektüre der „Kleinen Form“ als Kontingenzgattung der Moderne intradiskursiv kontextualieriert werden. In seiner dem Phänomen bildungsbürgerlicher Bibliophilie gewidmeten Glosse Bücher7 gelangt der Wiener Feuilletonist Alfred Polgar zur folgenden, subtil blasphemisch eingeleiteten Einsicht: Im Buch der Bücher, dem Konversationslexikon, steht bei vielen Wörtern ein biblisch pathetisches: Siehe! Nämlich: suche anderswo, dort und dort, was du zu wissen wünschest. Und tut man so, trifft man oftmals wieder auf ein: 6 7

Vgl. dazu auch [Althaus u.a. 2007’, IX]. [Polgar 1984’, 249-251].

Einleitung

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Siehe! Ich könnte mir ein Wort denken, bei dem diese ,Siehe!‘-Kette sich ins Unendliche fortspänne. Ich könnte mir eigentlich kein Wort denken, bei dem es, ehrlichermaßen, nicht so sein müßte. Wort beruft sich auf anderes Wort, eine Materie wälzt die Verantwortung auf die andere, Instanz kriecht hinter Instanz, siehe!, siehe!, siehe! Schließlich mündet der Linie Ende in der Linie Anfang. Und zöge man den Kreis noch so groß, und schritte man ihn noch so gründlich aus, an jeder Stelle bliebe man gleich fern vom Mittelpunkt, wo die Wahrheit sitzt (ewig unerreichbar uns Peripherie-Gebannten), die Wahrheit, von der du um so mehr abrückst, je mehr sich dein ,Gesichtskreis erweitert‘. [Polgar 1984’, 250f.]

Was Musils Poetologie der Statistik an der komischen Randfigur General Stumms von Bordwehr als katastrophische Irrfahrt durch die zunehmend kontingent erscheinende Kultur der Moderne inszeniert, gerinnt in Polgars Feuilleton zu einer pointierten Absage an die Möglichkeit, die traditionell am „Mittelpunkt“ verortete „Wahrheit“ durch Akkumulation von Wissen zu erkennen: Polgar knüpft hier, scheinbar beiläufig, an prominente sprach- und erkenntniskritische Philosopheme wie Nietzsches Perspektivenlehre oder Saussures These der Arbitrarität des Verhältnisses von Signifikant und Signifikat an und gerät bereits in die Nähe der Konzeptionen Ecos und Deleuzes/Guattaris, deren epistemologischen Begriffsbildungen („nicht-hierarchisches Netzwerk“, „Geflecht“, „Labyrinth“ oder „Rhizom“8 ) offenbar ähnliche Bilder zugrundeliegen. Indem Polgars Text an die von Nietzsche inaugurierte rhapsodisch-aphoristische Philosophie anschließt und sich ähnlich wie Musils Poetologie der Statistik hinsichtlich deren ,negativer‘ Bestimmung von Modernität als Bruch metaphysischer Gewissheiten und Ordnungen informiert zeigt, schreibt er zugleich an einer Neubewertung der eigenen Gattung mit: Wird die Position eines „PeripherieGebannten“ zum Signum des modernen Subjekts, so avancieren die traditionell dem Peripheren gewidmeten Genres des Feuilletons und des Essays zu Leitgattungen innerhalb einer maßgeblich durch Kontingenzbewusstsein geprägten Kultur der Klassischen Moderne. In diesem Sinne nimmt Walter Benjamin Polgar in einer Rezension des 1929 bei Rowohlt erschienenem Bandes Hinterland9 gegen den Vorwurf in Schutz, bloß ein ,harmloser‘ Feuilletonist zu sein, habe der Krieg doch zu einer erstaunlichen Wandlung „dieses Epikuräers, des soignierten Herrn, der, was es nur Vertrauenswürdiges, Beruhigendes gibt, die Verläßlichkeit des jüdischen Arztes, des jüdischen Bankiers, des jüdischen Anwalts in sich vereint, zum Wortführer aller 8

9

Vgl. dazu genauer [Baßler u.a. 1996, 297], wo sich auch folgendes Zitat aus Ecos Semiotik und Philosophie der Sprache findet, das die Verwandtschaft der Metaphorik verdeutlicht: „Da diese Interpretanten nun ihrerseits interpretierbar sind, gibt es keinen zweidimensionalen Baum, der die globale semantische Kompetenz einer gegebenen Kultur darstellen kann. Eine solche globale Repräsentation ist nur ein semiotisches Postulat, eine regulative Idee, und nimmt das Format eines vieldimensionalen Netzes an.“ [Benjamin 1972, 199f.].

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Streitkräfte der passiven Resistenz“ geführt.10 Der von Polgar gepflegte Gestus des „Weltbeschauen[s]“11 ist also passiv im Sinne eines störenden, komplexitätserhöhenden Beobachtungsmodus, der sich jedem ,Aktivismus‘ entzieht, da ein solcher stets den affirmativen Bezug auf bestimmte Ordnungen voraussetzt. Polgars Feuilletons sind somit – systemtheoretisch formuliert – von der Haltung des Beobachters zweiter Ordnung bestimmt, die auch Musils Poetologie der Statistik prägt und aus Benjamins Sicht zu den Charakteristika der zeitgenössischen österreichischen Kulturdiagnostik gehört: Es ist nachgerade überhaupt die europäische Rolle des Österreichertums geworden, aus seinem ausgepowerten Barockhimmel die letzten Erscheinungen, die apokalyptischen Reiter der Bürokratie zu entsenden: Kraus, den Fürsten der Querulanten, Pallenberg, den geheimsten der Konfusionsräte, Kubin, den Geisterseher in der Amtsstube, Polgar, den Obersten der Saboteure. [Benjamin 1972, 200], Hervorh. M.D.

Anschließend an diese Charakterisierung analysiere ich in diesem Kapitel neben den Schriften Polgars Texte Carl Einsteins und Siegfried Kracauers als Akte textueller Sabotage, die sich – in je unterschiedlicher Ausprägung – als Subversionen, Störungen und Destruktionen von Sinnzusammenhängen manifestieren. Dabei werde ich die „Kleine Form“ als spezifisch moderne Kontingenzgattung in den Kontexten der Essayismusdebatte und der historischen Avantgardebewegungen fokussieren, da diese für den literarischen Diskurs der Klassischen Moderne besonders im Hinblick auf die Kontingenzproblematik insgesamt prägend sind. Das animalische Portät, das Franz Blei (den man selbst als weiteren Beleg in Benjamins Auflistung österreichischer Kulturbeobachter aufnehmen könnte12 ) in seinem Großen Bestiarium der Literatur13 von Polgar zeichnet, bekräftigt das Bild des Saboteurs: „[D]as Polgar“ sei demnach „eine Maus“, die man aufgrund ihrer geringen Größe und Possierlichkeit zunächst für harmlos halten muss. Gerade diese Unauffälligkeit prädestiniert das Polgar aber zum Saboteur, und tatsächlich enthalte das Mehl, das bei seinem symbolträchtigen Nagen an den „Fundamenten“ entstehe, den Sprengstoff Ekrasit – wobei nahegelegt wird, dass dieser nicht von der Maus hinzugefügt wird, sondern immer schon in den „Fundamenten“ enthalten ist.14 Damit ist bereits die Poetologie der „Kleinen Form“ skizziert: In ihrer programmatischen ,Kleinheit‘ entfaltet sie ein Zersetzungs-Werk, das die Kontingenz des vermeintlich Fundierten, ewig Gültigen und Monumentalen als Entdeckung 10

11 12 13 14

Insbesondere mit Blick auf Polgars pazifistisches und antichauvinistisches Engagement ist dieses Urteil berechtigt: In einer Glosse über die Aufforderung, einen Schaulaufsatz zum Thema „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“ zu verfassen, arbeitet er die Aporie der eingeforderten ,heldische Gesinnung‘ heraus; vgl. [Polgar 1982, 306-311]. [Benjamin 1972, 199]. Vgl. zur Rolle Franz Bleis, besonders auch für die Texte Musils, die Monographien von [Eisenhauer 1993] und [Nübel 2006]. Vgl. [Blei 1995]. Vgl. [Blei 1995, 57f.].

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des beiläufig räsonierenden Lexikonbenutzers und scheinbar unbeteiligten (und in diesem Sinne ,maushaften‘) Flaneurs durch die zeitgenössische Kultur inszeniert. Dass diese Koinzidenz von Feuilleton und Sabotage nicht bloß zufällig ist und, Benjamin zum Trotz, keineswegs ein spezifisch österreichisches Phänomen darstellt, sondern vielmehr zu den Paradigmen des literarischen Diskurses der Klassischen Moderne gehört, belegt eine gattungs- und mediengeschichtliche Untersuchung Pralles, der mit Blick auf Siegfried Kracauer in bemerkenswerter metaphorischer Analogie feststellt: „Die Orte seiner Feuilletonstrategien waren die Lücken des zwischen den Weltkriegen errichteten Welt-Baus. In ihnen die Sprengstoffe der Zeit zur Explosion zu bringen, sollte zur Konstitution eines integralen Gegenwartsraumes aus den von Illusionen freigesprengten Elementen des historischen Prozesses sein.“15 Auch Kracauer – als einer der prominentesten Essayisten der Weimarer Zeit16 – wird hiermit als Saboteur charakterisiert, der wie Polgar in dem Sinne passiv ist, dass er zunächst keine eigenen textuellen Ordnungen aufbaut, sondern vielmehr gerade die Ränder und Lücken des vorgefundenen „Welt-Baus“ aufsucht und deren inhärente Explosionskraft zu entfesseln sucht. Dabei werden Kracauers Texte und Figuren selbst zu den ersten ,Opfern‘ dieser „Sprengstoffe der Zeit“, zumal diese im Medium des Feuilleton bzw. des Essay gebildeten proto-dekonstruktiven Konzepte auch auf andere Medien und Gattungen übertragen werden bzw. mit ähnlichen, dort auftretenden Tendenzen korrespondieren, wie etwa Kracauers mittlerweile kanonisierter, bedingt autobiographischer Roman Ginster. Von ihm selbst geschrieben17 belegt: Dessen Protagonist bekundet in einer berühmten Passage, dass er „am liebsten zerrieselte“18 , und wurde nicht zuletzt deshalb schon von den Zeitgenossen oft mit den von Charlie Chaplin – einer der „Ikone[n] der Moderne“19 – verkörperten Figuren verglichen. Während die Schreibverfahren Polgars und auch Kracauers diese subversiven Qualitäten bis an den Rand der Unmerklichkeit hinter einer z.T. prononciert konventionellen Oberfläche verbergen und ihre ,Sprengkraft‘ meist nur in mikroskopischer Dosierung einsetzen – und daher vor allem mit den dezidiert essayistischen Passagen des MoE in intertextellem Bezug stehen –, handelt es sich, Bleis literaturzoologischer Expertise zufolge, beim „Einstein“ um eine kometarische Angelegenheit, sofern der Einstein ein Schwanz- und Irrstern des metaphysischen Himmels ist, aus dem er zuweilen, auf nicht erklärbare Weise, da seine Bahn nicht berechenbar, in die Erdatmosphäre abirrt, hier zum Glühen kommt und zum Sprühen und Spucken. Sein also irdisches 15 16 17 18 19

[Pralle 1996, 74]. [Perivolaropoulou 1996, 197] attestiert, Kracauer sei 1933, als er Deutschland verließ, „un des plus prestigieux feuilletonistes de son pays“ gewesen. [Kracauer 2004”, 9-256]. [Kracauer 2004”, 132]. So der Untertitel einer von [Kimmich 2003] herausgegebenen Textsammlung zur ChaplinRezeption.

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Auftauchen ist katastrophal für bürgerliche Hirne, deren breiige Substanz bei Einsteins größter Erdennähe vor Wut zum Kochen kommt. Worauf der Einstein wieder seine metaphysische Laufbahn fortsetzt, von der nicht einmal sein schärfster Beobachter Rowohlt weiß, wie sie verläuft. [Blei 1995, 31f.]

Im Gegensatz zu den Werken Musils, Polgars und Kracauers, deren Korrespondenz mit der Kunst der Avantgarde erst bei genauerer Analyse deutlich wird und in den Texten selbst meist schon reflektiert oder ironisch gebrochen ist, ist die spezifisch moderne Irritationskraft der Texte Einsteins nahezu unübersehbar: Diese antizipieren bzw. teilen zentrale Merkmale avantgardistischer Kunst, zu deren „Prophet[en]“20 Einstein oft gezählt wird. Tatsächlich verbindet Einsteins Œuvre eine gewisse Manifesthaftigkeit mit den Dokumenten der historischen Avantgardebewegungen und oszilliert in ähnlich radikaler Weise zwischen verschiedensten Diskursen, Textsorten, Stilen und Kompositionsprinzipien. In diesem Sinne steht er dem – maßgeblich in Manifesten proklamierten Selbstverständnis der avantgardistischen ,Revolutions-Künstler‘ näher, die der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft und insbesondere der Trennung von ,Kunst‘ und ,Leben‘ programmatisch den ,Krieg‘ erklären,21 und dabei Kontingenz oft strategisch als ,Waffe‘ einsetzen. Gleichwohl macht schon Bleis oben zitierte Charakterisierung der Rolle Einsteins deutlich, dass seine Texte nicht in ihrer schockierenden Wirkung auf „bürgerliche Hirne“ aufgehen, deren „breiige Substanz“ ohnehin außerstande ist, auf emphatisch-moderne Kunst anders als mit weitgehend undifferenzierter, stereotyper Empörung zu reagieren. Vielmehr gehört Carl Einstein neben Siegfried Kracauer und Alfred Polgar zu den paradigmatischen Vertretern der „Kleinen Form“, die den Prozess der Modernisierung aus der Perspektive des – abgesehen von gelegentlichen „kometarische[n]“ Ausschweifungen – unauffälligen und scheinbar unbeteiligten Beobachters begleiten. Deutlicher noch als Musil stellen die drei hier in den Blick genommenen Autoren ,Grenzgänger‘ des zeitgenössischen Kultur- und Literaturbetriebs dar: So weist schon der Untertitel eines von Andreas Volk herausgegebenen Sammelbandes Siegfried Kracauer als „Romancier[], Feuilletonist[], Architekt[], Filmwissenschaftler[] und Soziologe[]“22 aus,23 und Klaus Kiefer betont in seiner Studie mit dem bezeichnenden Titel Diskurswandel im Werk Carl Einsteins, dass die Einstein-Forschung in mehrfacher Hinsicht interdisziplinär ausgerichtet sein müsse: Der Autor sei „ein deutscher Schriftsteller und Intellektueller, wie er freilich 20 21

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Die von [Siebenhaar 1991] herausgegebene Sammlung von Texten Carl Einsteins trägt den Untertitel Prophet der Avantgarde. Die Bezeichnung ,Revolutions-Künstler‘ ist an die Terminologie bei [Plumpe 1995, 177] angelehnt, der der avantgardistischen „Revolutions-Literatur“ die ästhetizistische „LiteraturRevolution“ entgegensetzt. [Volk 1996]. In seinem Beitrag zum genannten Sammelband stellt [Heß 1996, 111] diesbezüglich pointiert fest: „,Film-Mann‘, ,Kulturphilosoph‘, ,Soziologe‘ und also ,Poet‘? Kracauer entzieht sich mit seinen Interessen und Fähigkeiten – und das stand in den letzten Jahren schon hinreichend zur Diskussion – einer eindeutigen Etikettierung.“

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nur im Spannungsfeld der europäischen Kultur nach 1900 entstehen konnte“, und sprenge sowohl die Grenzen einzelner Nationalliteraturen als auch die Grenzen der Literaturwissenschaft überhaupt.24 Während die Werke Einsteins und Kracauers in den beiden letzten Jahrzehnten immerhin Gegenstand recht gründlicher germanistischer Forschung wurden – was dazu führte, dass Einsteins ,Roman‘ Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders25 neben Rilkes Malte zu den Gründungstexten der Moderne gerechnet wird,26 und im Falle Kracauers nicht zuletzt mit dessen filmästhetischen Schriften zusammenhängt, die das Interesse medientheoretischer und -historischer Studien auf sich zogen2728 – ist Polgars hauptsächlich aus Feuilleton-Sammlungen bestehendes Œuvre auch literaturwissenschaftlich noch weitgehend unbeachtet geblieben.29 Will man die Texte Einsteins, Kracauers und Polgars als Dokumente einer spezifischen Kontingenzgattung würdigen, so gilt es mit Blick auf Foucaults Überlegungen zur Funktion des Autors30 nicht zuletzt, die in der Forschung zu beobachtende 24 25 26 27

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30

[Kiefer 1994, 3], Hervorh. im Original. [Einstein 1980, 73-114]. Außerdem liegt eine von Erich Kleinschmidt herausgegebene ReclamAusgabe des Bebuquin vor: [Einstein 1985’]. Vgl. [Petersen 1991, 68ff.]. [Perivolaropoulou 1996, 197] stellt zu Beginn eines Aufsatzes zu Kracauers „vision kaléidoscopique“ angesichts von Kino, Massenkultur und Modernität fest: „La toute relative renommée de Siegfried Kracauer a été, longtemps et presque exclusivement, due à ses deux ouvrages sur le cinéma, écrits en exil aux Etats-Unis, ,From Caligari to Hitler. A psychological study of the German film‘ (1947) et ,Theory of film. The redemption of physical reality‘ (1960).“ [Schlaffer 1996, 44] versteht Kracauer als einen Wegbereiter der Selbstreflexion der modernen Kultur: „Ein beträchtlicher Teil der Termini der Selbstauslegungen unseres [= des zwanzigsten, M.D.] Jahrhunderts, die doch immerhin bis in die siebziger Jahre gegolten haben, sind von Kracauer in den Zwanzigern gefunden oder zumindest mitgeprägt worden, wie z. B. die Vorstellung, daß diese Epoche bestimmt sei durch die Massengesellschaft, die Angestelltenkultur, die Traumwelt der Medien, die Großstadtexistenz.“ In den letzten Jahren hat die germanistische Forschung allerdings verstärkt die Literarizität der Texte Kracauers in den Blick genommen. Im Zuge der Beschäftigung mit den genuin literarischen Werken – zu nennen sind hier vor allem einige Erzählungen sowie die beiden Romane Ginster. Von ihm selbst geschrieben und Georg, vgl. [Kracauer 2004”] – wurde auch die poet(olog)ische Dimension des essayistischen, soziologischen, film- und geschichtstheoretischen Œuvre fokussiert; vgl. etwa [Stalder 2003, 5ff.] und [Oschmann 1999, 11ff.]. Der Hinweis von [Weinzierl 1978, 9], wonach Polgar „noch keinen unverrückbaren Platz innerhalb der Literaturgeschichte“ habe, gilt noch immer. Zum ,engeren‘ Umkreis Polgars rechnet [Bohn 1978, 153] Karl Kraus, Peter Altenberg, Adolf Loos und Egon Friedell. Die ersten beiden seien, wie Polgar, „Kenner und Ankläger einer ,verlogenen Wirklichkeit‘: sie sind unterschiedenen in der Art, wie sie ihre Kennerschaft stilisieren und ihre Anklage einkleiden. Dem Pathos, mit dem Kraus, der Emphase, mit der Altenberg auftritt, entspricht bei Polgar eine zugleich charmante und rigide Unauffälligkeit und Lautlosigkeit: jener von Kafka erkannte ,feste, unerschrockene Wille‘ ,unter dem Glacéhandschuh der Form‘.“ [Bohn 1978, 202] In seinem biographischen Kapitel beschreibt [Bohn 1978, 201] „das komplizierte Profil eines Mannes, der stets – auch im jeweils ,eigenen Lager‘ – Außenseiter war, ob als Angehöriger der Bürgerschreck-Bohème in der Friedens-Monarchie, als pazifistischer Publizist im Wien des ersten Weltkriegs, als Mitarbeiter der verschrieensten Blätter der Weimarer Republik, als Emigrant schließlich, der bis zum Tode, noch lange nach dem Ende der Nazi-Herrschaft, das ,Abelszeichen‘ zu tragen hatte.“ Vgl. dazu auch [Philippoff 1980, 1ff. und 343ff.]. Vgl. [Foucault 1988].

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Tendenz zu problematisieren, in diesen Texten bestimmte ,Entwicklungslinien‘, ,Grundüberzeugungen‘ und ,Programme‘ aufzuspüren, um so die Geschlossenheit der ,Werke‘ dieser ,Autoren‘ zu begründen. Inka Mülder etwa stellt in ihrem Nachwort zur dreibändigen Ausgabe einer Auswahl der Aufsätze31 Kracauers, die zu einem beträchtlichen Teil erstmals im Feuilleton der Frankfurter Zeitung erschienen sind, mit bemerkenswerter Apodiktik fest: Mit feuilletonistischer Beliebigkeit hat das nichts zu tun. Die erstaunliche und auf den ersten Blick disparate Vielfalt von Kracauers Aufsatzpublikationen ist vielmehr getragen von einem einheitlichen theoretischen Impuls, der darauf zielt, in der Analyse verschiedenartigster sozialer und kultureller Phänomene Bausteine zu einer materialen Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit zusammenzutragen, die in den spezialisierten Wissenschaften bis zur Unkenntlichkeit atomisiert wird oder sich zum leeren Begriff verflüchtigt.32

Die Bemühung, jeglichen – durch den nach den Maßstäben des Literatursystems peripheren Erscheinungsort beförderten – Vorwurf der Kontingenz der von Kracauer geschriebenen Texte im Keim zu ersticken, mündet hier in paradigmatischer Weise in die Immunisierungsstrategie, wonach die „erstaunliche [. . .] Vielfalt“ nur demjenigen „disparat“ erscheinen kann, der nicht gründlich genug liest und daher deren „einheitlichen theoretische Impuls“ verfehlt. Auch (bzw. gerade) in der nur aus wenigen Bänden bestehenden Polgar-Forschung lässt sich diese rhetorische Strategie beobachten: So betont Philippoff, „[h]inter dem anspruchslosen Äußern des Feuilletons“ verberge sich im Falle Polgars ein „Moralist[]“, der sich „nicht [. . .] aus anekdotischem Interesse an Einzelschicksalen“ für das „Tun und Lassen der Menschen“ interessiere, sondern sich für das Ephemere bloß interessiere, sofern es Aufschluss über anthropologische Universalien gebe.33 Diesen Versuchen, die Texte Einsteins, Polgars und Kracauers in das traditionelle, auf Autor- und Werkeinheit basierende Koordinatensystem des literarischen Diskurses zu integrieren, werde ich im Folgenden Lektüren gegenüberstellen, die die Korrespondenz der tendenziellen Marginalität der Autoren mit der (tatsächlich programmatischen) Marginalität ihrer Texte und ,Werke‘ hervorheben.34 Im Sinne von deren Zugehörigkeit zu einer spezifischen Kontingenzgattung der Moderne wäre nämlich nichts verfehlter, als diese ex post zu bislang verkannten Großwerken der modernen Literatur zu stilisieren. Die „Kleine Form“35 wird also ganz ausdrücklich als „Kleine Form“ gelesen. Den Abschluss des Kapitels bildet ein Blick auf das Essayismus-Konzept Adornos, das in verschiedener Hinsicht von der klassisch modernen Tradition der 31 32 33 34

35

Vgl. [Kracauer 1990], [Kracauer 1990’] und [Kracauer 1990”]. Vgl. [Kracauer 1990”, 366f.], Nachwort. [Philippoff 1980, 134]. Vgl. zur Frage nach der charakteristischen ,Marginalität‘ der Kurzprosa auch die Einschätzung in der Einleitung von [Althaus u.a. 2007’, IX] zu der von ihnen herausgegebenen einschlägigen Aufsatzsammlung. [Polgar 1984, 369-373].

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„Kleinen Form“ geprägt ist und diese zu einer philosophischen Textsorte fortzuentwickeln sucht. Adornos Umgang mit den Aporien seines Projekts der Gründung einer neuen philosophischen Tradition, in der Kontingenz als zentrales und unhintergehbares Merkmal jeglicher Theoriebildung anerkannt wird, leitet zum folgenden Kapitel über, in dem der bislang bewusst ausgeklammerte emphatische Möglichkeitsdiskurs fokussiert wird, der Musils Texten zugrunde liegt, die dem „anderen Zustand“ gewidmet sind.

4.2 Kontingenz und Avantgarde Carl Einsteins Essay Über den Roman von 1912 beginnt mit einer apodiktischen Absage an den „psychologische[n] Roman“, die „Anekdote“, den „Lyrismus“ und den „deskriptive[n] schildernde[n] Roman“ und mündet schließlich in eine explizite Narratologie der Kontingenz:36 Ein Ereignis mit Vorbedingungen und Folgen geben. Wo beginnen jene und endigen diese? Mit dem Tod der Beteiligten? Ich sehe nicht ein, warum nicht jeder, dem 7 Gattinnen, 4 hoffnungsvolle Söhne, 3 Töchter, 2 Väter, 1 Kind im Mutterleib verloren gingen, wenn er sich aufhängte, abgeknüpft werden kann? Der Abgeknüpfte ist wahrscheinlich bemerkenswerter und erfahrener als das Familienkaninchen. Jede Handlung kann auch anders endigen – wenn man nicht orthodox katholisch ist, und selbst hier gibt es die unerforschliche Güte Gottes, das Wunder usw. [Einstein 1980, 128]

Die aristotelisch verbürgte und literaturgeschichtlich schon zuvor intensiv befehdete Forderung einer Handlung, die sich dank Kausalität, Notwendigkeit und psychologischer Plausibilität zu einer Einheit fügt, lehnt Einstein mit dem programmatisch-fantastischen Argument ab, dass sogar der Tod einer Figur bloß aufgrund bürgerlicher Vorurteile als zwingendes Ende betrachtet werden könne. Dem traditionellen Roman, der sich der „Familienkaninchen“-Existenz ,lebendig‘ gezeichneter Figuren in ihrer diskursiv geregelten Konventionalität annimmt und deren potentielle Tragik Einstein durch die komisierend-absurde VerlustListe genüsslich persifliert, setzt er ein Plädoyer für die Darstellung ,toter‘ bzw. ,künstlicher‘ Figuren entgegen, die sich jeder psychologischen Entwicklungslogik entziehen, um so beweisen zu können, dass „[j]ede Handlung [. . .] auch anders endigen“ kann: „Das Künstlerische beginnt mit dem Wort anders“37 , lässt Einstein den Protagonisten seines Romans Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders verkünden, und auch im Essay Vathek über William Beckfords gleichnamiges 36

37

[Einstein 1980, 127]. Der Text ist stark texturiert im Sinne von [Baßler 1994] – eine Paraphrase des Gesamtkonzepts ist aufgrund eminenter innerer Widersprüche nicht sinnvoll: so wird etwa die „Anekdote“ abgewiesen, weil sie immer „willkürlich“ bleibe und „das nicht Seiende“ sei [Einstein 1980, 127], doch bloß eine Seite später beginnen gleich zwei aufeinander folgende Abschnitte mit der Beteuerung: „Also das Kunstwerk ist Sache der Willkür [. . .]“ bzw. „Das Kunstwerk ist Sache der Willkür, also der Wahl, des Wartens.“ [Einstein 1980, 128]. [Einstein 1980, 83].

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„Kunstmärchen“ verbindet Einstein die Merkmale des Toten, Künstlichen und der poetischen Kontingenzoffenheit: In diesem „Buch der artistischen Imagination, der Willkür“ habe der Verfasser „die Laune des Spleens [. . .] zur Technik gerundet“38 – er begründe grundsätzlich nichts, „um mit der Willkür die Kausalität zu beschämen“39 – und unterlaufe mimetische Repräsentationskonzepte zugunsten einer Poetik der irreduziblen Vermittlung: „Beckford ist der Vater der Heutigen, die entwicklungslos im Fieber ihres oft intellektuellen Spleens produzieren; dieser Künstlichkeit, wo der Stoff sich gewissermaßen aus ornamentalen literarischen Associationen weiterbildet, liegen ein ästhetischer Pessimismus, eine Anästhesie für das Lebendige, eine besonders reizbare Sensibilität zugrunde.“40 Einsteins Programmtexte antizipieren damit wesentliche Merkmale des avantgardistischen Diskurses, den Peter Bürger in seiner noch immer vielbeachteten Theorie der Avantgarde41 u.a. dadurch charakterisiert, „daß bestimmte, für die Beschreibung der voravantgardistischen Kunst wesentliche Kategorien (z.B. die der Organizität, der Unterordung der Teile unter ein Ganzes) im avantgardistischen Werk gerade negiert werden“42 . Mit seiner poetologischen Apologie des Morbiden kehrt Einstein kurzerhand die Problematik der – zur Epochensignatur der Jahrhundertwende avancierten – ,Sprachkrise‘ um, die Hugo von Hofmannsthal seinen Lord Chandos zur gleichen Zeit durchleben lässt: Während der berühmte fiktionale Verfasser des Briefs43 darunter leidet, dass ihm die Worte wie modrige Pilze im Mund zerfallen,44 also nicht mehr auf lebendige Bedeutungen hin durchsichtig sind, sucht der avantgardistische Programmatiker genau dieses traditionelle Ideal der ,Lebendigkeit‘ zu unterlaufen. Einstein gehört damit zu den „Entdeck[ern] der Textur“45 im Sinne Baßlers, die maßgeblich zu einer Nobilitierung des Kontingenten in der modernen Literatur beitragen: [D]ie Prosa, die dem kunstprogrammatischen Diskurs der emphatischen Moderne entsprechen soll, darf weder traditionell (d.h. über Kausalität, Motivation, notwendigen Aufbau) strukturiert sein noch mimetisch die Wirklichkeit darstellen. Diese Merkmale stimmen überein mit der [. . .] Definition des texturierten Textes. Die Avantgarde um 1910 wird also ihrem Programm gemäß genau solche Texte seligieren und protegieren, die ich abgekürzt als ,Texturen‘ bezeichne. Vorgängiges Kriterium ihrer Auswahl ist hier wie dort eine wie immer unbestimmte Unverständlichkeit. [Baßler 1994, 59]

Carl Einsteins Bebuquin stellt ein ebenso frühes wie radikales Dokument einer solchen spezifisch modernen Schreibweise der Textur dar: Es handelt sich um einen 38 39 40 41 42 43 44 45

[Einstein 1980, 28]. [Einstein 1980, 29]. [Einstein 1980, 30]. [Bürger 1974]. [Bürger 1974, 25]. S. dazu auch [Lukács 1971, 66 und 70] und [Oschmann 1999, 87f.]. Vgl. [von Hofmannsthal 1991, 44-55]. Vgl. [von Hofmannsthal 1991, 49]. [Baßler 1994].

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nicht oder kaum paraphrasierbaren Text, in dem es – wenn überhaupt – immer nur ,lokal‘ möglich ist, Strukturen zu ermitteln, anhand derer sich ein ,Sinn‘ jenseits des Texts nachvollziehen ließe. Einsteins Bebuquin antizipiert damit, bei aller oberflächlichen Unterschiedlichkeit, das autodekonstruktive Kompositionsprinzip von Musils Mann ohne Eigenschaften und zeigt, dass die dort entwickelte Poetologie der Statistik als Kontaminationsprodukt mathematisch-naturwissenschaftlicher Diskurse und der Programmatik der ästhetischen Avantgarde aufgefasst werden kann. Während die kanonischen Texte der Klassischen Moderne – neben Musils Mann ohne Eigenschaften also etwa die Werke Thomas Manns und Kafkas – noch hinreichend viele ,konventionelle‘ Elemente enthalten, um hermeneutische Interpretationsansätze statthaft erscheinen zu lassen,46 hat die Beschäftigung mit Texten wie Einsteins Bebuquin in der Forschung zur Einsicht geführt, dass es grundsätzlich problematisch ist, moderne Kunst und Literatur an Interpretationsparadigmen zu messen, denen implizit ,klassische‘ literarische Werke als Muster zugrundeliegen. So stellt Reto Sorg in seiner Monographie zu Einsteins Roman im Zusammenhang mit der Frage nach der Bewertung der strukturellen Merkmale emphatisch moderner Texte fest: „Disparatheit, Brüchigkeit, Ambivalenz und unvereinbar Gegensätzliches konstituieren solche ,Desorientierungstexte‘ und sind weder Hindernisse, die es aus dem Weg zu räumen gilt, noch Mängel, die es zu beklagen gälte. Es ist eine wesentliche Einsicht, daß die Irritation, von der diese Texte handeln, auch von ihnen ausgeht.“47 Das Motiv des Spiegels leitet die Lektüre von Einsteins Roman zu dieser Einsicht: Schon im ersten Kapitel – noch vor seiner ,Benennung‘ durch den Erzähler – wendet sich der Protagonist Bebuquin „von der Bude der verzerrenden Spiegel“ ab, „um allen Überlegungen über die Zusammensetzung seiner Person vorzubeugen“,48 um kurz darauf die tatsächlich irritierende Feststellung zu machen: „Ich bin ein Spiegel, eine unbewegte, von Gaslaternen glitzernde Pfütze, die spiegelt.

46

47 48

[Baßler 1994, 19] kündigt diesbezüglich selbstironisch an, es sei trotz seiner Überlegungen zum spezifisch modernen Phänomen texturierter Texte nicht zu erwarten, dass die Untersuchung konkreter einschlägiger Texte „gleich völlig neuartige Gebilde zutage fördert, reine Texturen, mit denen ein traditionelles Verständnis aber auch gar nichts mehr anzufangen wüßte. Schon das Spezifische von Literatur als Sprach-Kunst im Unterschied zu anderen Künsten spricht dagegen. Was heute als kanonische Malerei der klassischen Moderne gilt, ist bekanntlich wenigstens zum Teil wirklich ,abstrakt‘, gegenstandslos, während die großen Prosawerke dieser Zeit kaum reine Texturen im oben genannten Sinne darstellen (oder doch nicht als solche gelesen werden).“ In seiner Kunst der Gesellschaft merkt [Luhmann 1997, 205] hierzu an, dass das „Medium der Kunst“ noch immer dadurch „ausgewiesen“ sei, „daß es einen Bezug zur Geschichte der Kunst wahrt, also die historische Maschine des Kunstsystems von ihrem gegenwärtigen Zustand aus fortsetzt mit immer neuen, gewagteren Formen. Dekontextierte historische Referenzen mögen, wie in der Postmoderne, aufgenommen werden, wobei dann die Unwahrscheinlichkeit in eben dieser Dekonstextierung, also im wahlfreien Zugriff auf den geschichtlichen Formenvorrat besteht. Was gebunden war, kann nun frei verwendet werden, sofern die Wiedererkennbarkeit gesichert bleibt.“ [Sorg 1998, 61]. [Einstein 1980, 73].

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Aber hat ein Spiegel sich je gespiegelt?“49 Die mit dem Bild des Spiegels enggeführten Fragen potentieller Selbsterkenntnis und drohenden Selbstverlusts lassen sich trotz der eminenten hermeneutischen Probleme, vor denen jeder Leser des Bebuquin steht, als ,zentrale‘ Themen des Textes auffassen. Im vergleichsweise konsistent erzählten sechzehnten Kapitel wird diese Problematik in der für den Roman typischen Weise weiter vertieft:50 Während eines Radlertriks fuhr eine spiegelnde Säule in die Arena, blitzend [. . .]. Die Bürger sahen sich darin, bald strahlend übergroß, bald verzerrt; diese Spiegel zwangen, immer wieder hineinzuschauen. [. . .] Die Blicke versuchten, die hohe Spiegelsäule zu durchbrechen. [. . .] Die Menschen verwandelten sich in sonderliche Zeichen in den Spiegeln; das Publikum wurde leise irrsinnig und richtete in drehendem Schwindel seine Bewegungen nach denen der Spiegel; um die Spiegel sausten farbige Reflektoren. [. . .] Das Publikum raste weiter, die Verzerrung für wahr haltend. [Einstein 1980, 109]

Der Zirkus wird hier zu der eingangs angekündigten „Bude der verzerrenden Spiegel“, in der sich „Bürger“ bzw. „Menschen“ in „sonderliche Zeichen“ verwandeln, die nicht mehr zwischen ,der‘ Wirklichkeit und ihren möglichen ,Verzerrungen‘ unterscheiden können. (Der Eindruck narrativer Konsistenz entsteht hier gerade dadurch, dass der Erzähler deutlich als Beobachter dieser ,Verzerrung‘ auftritt, der sich weiter an der Differenz zwischen Zeichen und Wirklichkeit orientiert.) Die „[b]is in die öde Frühe“ sich hinziehenden orgiastischen Ausschweifungen, bei denen „Irre“ und Tote zu beklagen sind, münden in eine karnevalistische Phase: „In der Stadt war ein halb Jahr Fasching. Bürger leisteten Bedeutendes an Absurdität. Ein grotesker Krampf überkam die meisten. Ein bescheidener Spaß war’s, sich gegenseitig die Hirnschale einzuschlagen. Die Raserei wurde dermaßen schmerzlich, daß man begann zu töten.“51 Während die durch den Roman-Spiegel zu „Zeichen“ „verwandelten“ Menschen angesichts des „über der Stadt“ hängenden „gleißende[n] Schrecken der Spiegel“ schließlich bitten: „Gib uns wieder zurück, laß uns heraus, nimm die Spiegel weg“52 , verfolgt der Romantext die avantgardistische Poetologie der Kontingenz in der ,Gestaltung‘ der Figuren Euphemias und Nebukadnezar Böhms. Entsprechend der zuvor zitierten narratologischen Forderung überschreiten beide Figuren im Romanverlauf die Grenze zwischen Leben und Tod: „[I]ch zum Beispiel“, verkündet Böhm, „lebe nur, weil ich mich mir suggeriere; in Wirklichkeit bin ich tot.“53 Echauffiert sich Euphemia zu Beginn des neunten Kapitels noch über diese Unsicherheit („Böhm ist doch ein törichter Mensch, ich weiß nie, ob er lebt oder tot ist.“54 ) gerät sie schon im zehnten Kapitel 49 50 51 52 53 54

[Einstein 1980, 74]. [Sorg 1998, 113] qualifiziert diese Äußerung als eine „für den ganzen Roman zentrale Wendung“. [Sorg 1998, 68] betrachtet eine Verschränkung von „Destruktion der äußeren Realität“ und „Transformation des Ich“ als eines der konstitutiven Elemente der Einsteinschen Ästhetik. [Einstein 1980, 109f.]. [Einstein 1980, 110]. [Einstein 1980, 87]. [Einstein 1980, 92].

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in eine ähnliche Lage: Sie tritt dort unvermittelt als Zirkusakrobatin „Miß Euphemia“ auf, gleitet aber „beim dritten Male am Seil ab“ und beschließt „aus formalen Gründen, sich das Genick zu brechen.“55 Der Erzähler denaturalisiert die erzählte Welt hier in radikaler Weise: Im Falle eines Unfalls, wo die Figur nach konventioneller Handlungslogik gerade in prononcierter Weise keine Entscheidungsfreiheit über ihr ,Schicksal‘ hat, schreibt er sie ihr zu, um diese Entscheidung kurz darauf wieder zu dementieren. Euphemia lebt nämlich trotz Genickbruch weiter und macht „mit großer Sicherheit noch einige Salto mortales.“56 Obschon die ,Schicksalhaftigkeit‘ dieses Ereignisses damit völlig unglaubwürdig geworden ist, stellt der Erzähler unmittelbar darauf in einer weiteren paradoxen Wendung fest, Euphemia sei durch den Sturz „moralisch ruiniert“, und ergänzt lapidar: „Und sie fand es ziemlich, in ein Kloster einzutreten, um zu büßen.“57 Nach einem längeren Gespräch mit Bebuquin, das ihre ,Entscheidung‘ aber keineswegs plausibilisiert, beschreibt der Erzähler den von Euphemia anvisierten Ortswechsel noch einmal: Euphemia stieg beruhigt und äußerst heilig in eine Nonnenkutte und verließ den Zirkus. Ernst, die Fingernägel polierend, kopfschüttelnd und die Straffheit ihrer Brüste hie und da prüfend, begab sie sich gelassen zum Kloster des kostenlosen Blutwunders. [Einstein 1980, 98]

Die Beschreibung von Euphemias Zustand und Verhalten könnte kaum heterogener ausfallen: Zwar lassen sich zwei gegensätzliche Gruppen von Attributen bestimmen – einerseits ist sie „beruhigt“, „äußerst heilig“ und „[e]rnst“, andererseits poliert sie die Fingernägel und prüft „hie und da“ die „Straffheit ihrer Brüste“ –, doch vor allem der Leser bleibt „kopfschüttelnd“ zurück. Selbst wenn man – mit Blick auf moderne Modelle der menschlichen Psyche – nicht auf einen homogenen Gefühlshaushalt besteht, stellt man fest, dass auch komplexere Erklärungsmuster (etwa anhand der durch die gegensätzlichen Attribute angedeuteten Dialektik von ,Heiliger‘ und ,Hure‘) die Komplexität des bloßen Texts nicht widerspiegeln können, sondern aus einer heterogenen Liste eine homogene Struktur entnehmen. Der Roman unterläuft also selbst da, wo ,episodisch‘ eine Handlung oder die inneren Zustände oder Entwicklungen von Figuren auszumachen sind, systematisch die Möglichkeit einer strukturerfassenden Lektüre: Handlung und Figuren wären in diesem Sinne durchgehend auch anders möglich. Nebukadnezar Böhm, dessen Redebeiträge häufig Manifestcharakter haben, tritt im Roman als Sprachrohr einer Kontingenz zelebrierenden Avantgarde und eines radikalen Konstruktivismus avant la lettre auf. So rät er seinen Begleitern: „Vernichte die Identität, und Du fliegst rapide; aber fraglich, ob Du das Tempo aushalten wirst. Eins, Hallelujah, eins, Hallelujah, Amen, eins. O Notwendigkeit, Hallelujah, o Gesetz, o Gleichheit, wo alles in sich selbst schläft, o Stille, o Kontempla55 56 57

[Einstein 1980, 94]. Ebd. Ebd.

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tion, o Verdauung des Straußen, der den eigenen Kot frisst.“58 Wenn der Erzähler daraufhin die Frage stellt, ob dieser Beitrag als „Philosophie“ gelten könne oder vielmehr „ein Analphabet“ sei,59 so beschreibt er damit die für Avantgarde und emphatische Moderne insgesamt prägende Spannung zwischen einer möglichen ,philosophischen‘ Dimension des Unverständlichen und der ebenfalls bestehenden Möglichkeit, das Unverständliche sei tatsächlich schlicht Un-Sinn. Auch wenn die Position Böhms, der in seinen radikalen Plädoyers für den in diesem Sinne strategisch doppeldeutigen Un-Sinn als literarische Präfiguration der Protagonisten der Dada-Bewegung betrachtet werden kann, in deutlichem Spannungsverhältnis zu der der Titelfigur Bebuquin steht und somit zumindest nicht ungebrochen propagiert wird, ist der Text in seiner Ablehnung traditioneller, in einem weiten Sinne idealistischer oder vornehmlich logisch fundierter, vernunftorientierter philosophischer Konzepte recht deutlich: Der Erzähler beschreibt die Nebenfigur Ehmke Laurenz als „ein[en] dünne[n], ziemlich durchsichtige[n] Herr[n]“, der sich selbst bei seinem Auftritt sofort als „Platoniker“ vorstellt und bekennt, dass er „die ruhende, einsame Idee“ suche und „nur Nachts (sic!) aus[gehe], weil es da keine Farben gibt“60 . Betont konträr zu dem durch das Machsche Postulat der ,Unrettbarkeit des Ich‘61 begründeten kriseologischen Identitätsdiskurs erzählt Böhm „aus den Gärten der Zeichen die Geschichte von den Vorhängen“62 , in der er zunächst zu der ,Einsicht‘ gelangt, sein Ich sei die Sackleinwand des Vorhangs, womit er freilich vor allem klassische Philosopheme parodiert: „Es war die erste Selbsterkenntnis. Aber ich drang weiter.“63 Kurz darauf lässt der Binnenerzähler den Vorhang so auch zerreißen und berichtet, er habe dahinter ein „stählernes, auf dem Kopf stehendes Gebirge“64 vorgefunden: Zarte Seelenblumen kachierten die Abgründe, die mit keinem Schock Sofakissen auszufüllen waren. Ich begriff den ganzen Unsinn und merkte, daß ein Sandkorn bei weitem wertvoller sei, als eine unendliche Welt. Es ging mir nun auch das Infinitesimale, das Wunder der Qualität, auf, das weder historisch, noch sonst wie aufgelöst werden kann. [Einstein 1980, 79]

Böhm bemüht sich, die Komplexität seiner Schilderung, die noch immer als Beschreibung des eigenen ,Ich‘ ausgegeben wird, soweit zu erhöhen, dass sie „weder historisch, noch sonst wie aufgelöst werden kann“. Zwar lässt sich eine gewisser Bezug auf Topoi der Romantik feststellen – auffallend sind etwa der antibürgerliche Affekt („Abgründe, die mit keinem Schock Sofakissen auszufüllen waren“) und das Motiv des Unendlichen („unendliche Welt“/ „das Infinitesimale“) – doch 58 59 60 61 62 63 64

[Einstein 1980, 75]. [Einstein 1980, 100]. [Einstein 1980, 93]. Vgl. [Mach 1991, 20]. [Einstein 1980, 79f.]. Ebd. [Einstein 1980, 79].

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ihre schroffe Reihung und heterogene Kontextualisierung verfremdet diese in einer Weise, die inter- und erst recht intratextuelle Deutungsbemühungen sogleich ad absurdum führt. Tatsächlich lässt der weitere Fortgang vermuten, dass die wilde Akkumulation von Textelementen, die sich nicht ineinander fügen, sondern explosionsartig zu einem Aggregat aus Versatzstücken unterschiedlicher Diskurse anwachsen, vor allem als solche vorgeführt werden soll. Was in einer als subjektunanhängig vorausgesetzten Wirklichkeit, in der nicht nur Objekte und Sachverhalte als ,objektiv‘ betrachtet werden, sondern letztlich sogar Subjekte dem Anspruch unterworfen sind, sich selbst zu ,objektivieren‘, zunächst schwierig erscheint, gelingt dem Böhmschen Konstruktivismus, der die Wirklichkeit stattdessen als „Gärten der Zeichen“ aufzufassen scheint. Seine Geschichte von den Vorhängen mündet entsprechend in ein Plädoyer für die Akzeptanz der Kontingenz von Ich und Wirklichkeit: [. . .] [W]erde dich los. Alles Persönliche ist unproduktiv. Sei Vorhang und zerreiße dich. Beschimpfe dich so lange, bis du etwas anderes bist. Sei Vorhang und Theaterstück zugleich. [. . .] Ich habe stets gesagt, das Umgekehrte ist genau so richtig. [. . .] Sie sehen, meine silberne Gehirnschale ist asymmetrisch. Darin liegt meine Produktivität. Über den sich fortwährend verändernden Kombinationen verlieren Sie das unglückselige Gedächtnis für die Dinge und den peinlichen Hang zum Endgültigen. [Einstein 1980, 79]

Die hier vorkommende „silberne Gehirnschale“ Böhms, der er seine Kontingenzoffenheit verdankt, da er sich, wie der Leser gleich eingangs erfährt, mit ihr nach Belieben „eine neue Logik schaffen“ und zwischen verschiedenen Realitäten und Identitäten wechseln kann,65 gehört zu den Leitmotiven des Texts. Nach der Geburt eines Kindes, das Böhm mit Euphemia hat, kündigt die Mutter die Ankunft des Vaters an und berichtet von dessen Plänen: „[. . .] [E]r wird das Kind stillen, er hat jetzt eine solch milchfarbene Schädelplatte, seit er starb, und er benutzt seinen Schlingdarm, für den er keine Verwendung mehr hat, als Zither und singt sehr ergreifend den Pythagoreischen Lehrsatz. Er sagt, der Junge müsse ein ganz Intellektueller werden.“ „Ja, dein Embryo schieb doch eine philosophische Arbeit und doktorierte auf Geburt; nicht wahr, die Geschichte heißt: die zerstörte Nabelschnur oder das principium individuationis.“ „Ja“, flüsterte Euphemia, „er hat bereits der Welt entsagt, er wird geistig, ist ganz wunschlos, unreinlich und schweigsam. Außerdem hat er eine sensible Haut, die wechselt fortwährend die Farbe. Kann man ihn nicht als Reklametransparent benutzen? Man spart farbige Glühlampen.“ [Einstein 1980, 85]

Wie Euphemias Säugling haben auch die übrigen Figuren des Romans keine festen Konturen, sondern können sich jederzeit in verschiedenste Diskurse ,auflösen‘, aus denen sie der Text fortwährend rekombiniert: Der Topos elterlicher Bemühungen 65

[Einstein 1980, 75].

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um die Entwicklung ihres Kindes wird mehrfach aufgerufen – so vermittelt Böhm dem Knaben in der Hoffung, dass „der Junge [. . .] ein ganz Intellektueller“ wird, mathematische Grundkenntnisse, und Euphemia bescheinigt bereits dem Säugling voll mütterlichen Stolzes die rühmlichen Eigenschaften vergeistigter Schweigsamkeit und Innerlichkeit – doch immer sogleich wieder unterlaufen: durch die Morbidität des von den Zitherklängen des eigenen Darms begleiteten väterlichen Gesang, durch die pränatale Übererfüllung der Hoffungen auf akademischen Erfolg und schließlich durch die mütterliche Idee, ihr Sprössling könnte aufgrund seiner dermatologischen Probleme gewinnbringend als „Reklametransparent“ eingesetzt werden. Dieser fließende Übergang zwischen Person und Werbeplakat wird an anderer, exponierter Stelle tatsächlich vollzogen: „Die Hetäre zog allein weiter. Man ließ sie unbenutzt stehen, sie spannte ihren pfaufarbenen Schirm auf, sprang wild ein paar mal in die Höhe, dann fügte sie sich in die Fläche einer Litfaßsäule, sie war nur ein Plakat gewesen für die neueröffnete Animierkneipe ,Essay‘.“66 Die Bedeutung dieses Depersonalisierungsprinzips im Rahmen der Einsteinschen Narratologie der Kontingenz wird im Text durch selbstreflexive Kommentare hervorgehoben: Von der Schauspielerin Fredegone Perlenblick erfährt man unvermittelt, dass sie „außerdem auf den Namen Mah bei jüngeren Liebhabern, Lou, wenn sie dämonisch war, und Bea, wenn sie eine Familie zu ersetzen suchte“67 hört. Selbst ihre Mimik erweist sich im Gespräch mit Bebuquin als vollständig denaturalisiert: „Die Dame zog den Blick Nummer fünf.“68 Nach einem längeren Gespräch in der Bar lässt der Erzähler die Schilderung ihrer Abfahrt in den lapidaren metafiktionalen Kommentar münden: „Jetzt mag d’Annunzio weiterschreiben.“69 Ähnlich verhält es sich mit seinem Protagonisten: Schon im zweiten Kapitel bezeichnet sich Bebuquin selbst als „schlechte[n] Romanstoff“, da er „nie etwas tun werde“ und sich „in [sich] drehe“. Er könne über das Handeln nicht einmal „etwas Geistreiches sagen“, da er nicht wisse, was das sei.70 Diese für eine Romanfigur problematische Handlungsverweigerung wird wenig später noch weiter forciert, wenn Bebuquin bittet: „Herr, gib ein Wunder, wir suchen es seit Kapitel eins. Dann will ich normal sein, aber erst dann.“71 Der wundersuchende Dilettant darf zwar durchaus für ein solches beten, kann aber nicht davon wissen, dass er sich bloß auf einer fiktionalen Suche nach einem fiktionalen Wunder befindet, ohne die Bedeutung dieses Wunders in fundamentaler Weise zu unterlaufen. Einsteins Roman markiert mit diesen narrativen Strategien der Desementisierung und Dekomposition, die sich offensiv gegen das Erzählen und Schreiben selbst richten, den Auftakt der historischen Avantgardebewegungen, wenn man diese mit Niklas Luhmanns Kunst der Gesellschaft72 als Extremform eines für 66 67 68 69 70 71 72

[Einstein 1980, 90]. Ebd. Ebd. [Einstein 1980, 93]. [Einstein 1980, 78]. [Einstein 1980, 100]. [Luhmann 1997].

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Kunst und Literatur der Moderne insgesamt prägenden „structural drift“73 versteht: Im Rahmen seines systemtheoretischen Konzepts entwickelt Luhmann die These, moderne Kunst unterliege dem programmatischen Gebot einer „Unwahrscheinlichkeit der Komposition“, die der historisch unvermeidlich zunehmenden systeminternen Erhöhung von Redundanz und Wahrscheinlichkeit „abgetrotzt werden“ müsse.74 Aus dieser abstrakten Perspektive lässt sich die Genese avantgardistischer Kunst als Konsequenz des daraus resultierenden Unwahrscheinlichkeitsdrucks verstehen, „in dem nicht nur das Kunstwerk, sondern auch und vor allem seine Unwahrscheinlichkeit zum Selbstzweck wird. Man experimentiert dann schließlich mit der Möglichkeit, alles zur Kunst zu erklären, sofern nur die Behauptung durchgesetzt werden kann, es sei Kunst.“75 Im Sinne dieser Ausführungen liest sich folgende Anleitung Tristan Tzaras zum Schreiben bzw. Herstellen dadaistischer Gedichte, die zu den besonders provozierenden Dokumenten der avantgardistischen Begeisterung für den Zufall gehört, wie ein Experiment zur Auslotung der Grenzen einer solchen „Behauptung“:76 Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr Eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet den Artikel aus. Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte. Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt gewissenhaft ab in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind. Das Gedicht wird Euch ähneln. Und damit seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität.77

Hans Arp bekennt sich dazu, derartige Verfahren in der lyrischen Produktion tatsächlich angewandt zu haben: „Wörter, Schlagwörter, Sätze, die ich aus Tageszeitungen und besonders aus ihren Inseraten wählte, bildeten 1917 die Fundamente meiner Gedichte. Öfters bestimmte ich auch mit geschlossenen Augen Wörter und Sätze in Zeitungen, indem ich sie mit Bleistift anstrich.“78 Folgt man Tzaras Programm, so wird aus dem Zeitungstext, der einen Wirklichkeitsausschnitt relativ geschlossen und mimetisch beschreibt, eine kontingente Wort-Collage, die sich 73 74 75 76

77 78

[Luhmann 1997, 205]. Ebd. Ebd. Vgl. [Kuenzli 1982, 96f.]. S. zur Rolle von Kontingenz und Zufälligkeit in der Avantgarde auch [Riha 1995], [Schmitz-Emans 1994] sowie, im Kontext grundlegender epochentheoretischen Überlegungen, [Bürger 1974] und [Plumpe 1995, 177-230]. Zitiert nach der von [Riha 1982, 69] herausgegebenen Sammlung dadaistischer Gedichte. [Arp 1953, 6]. S. dazu auch [Schmitz-Emans 1994, 284f.].

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herkömmlichen hermeneutischen und strukturalisischen Verfahren der Sinnsuche prinzipiell entzieht. Schon die Auswahl des Zeitungstexts ist (abgesehen vom formalen Kriterium der ,Länge‘) explizit beliebig, und jede neue ,Ziehung‘ ergäbe (höchst wahrscheinlich) einen gänzlich anderen Text. Auch wenn sich selbst auf diese Weise keine ,abolute‘ Kontingenz erzeugen lässt,79 konterkariert Tzaras Vorschlag den vor dem Hintergrund der literarischen Tradition beinahe unhintergehbar erscheinenden produktionsästhetischen Anspruch, wonach die Struktur eines Kunstwerk der bewussten Komposition durch eine verantwortliche Autor-Instanz bedarf.80 Die Provokationskraft seiner Anleitung, nach der buchstäblich jeder zum Dichter werden kann,81 wird gerade dadurch potenziert, dass er ihr die konventionelle Form poetologischer Lyrik verleiht. Seine schulmeisterlichen Mahnungen, „sorgfältig“ auszuschneiden und „gewissenhaft“ abzuschreiben, erscheinen angesichts des inhaltlich konkret Vorgeschlagenen freilich vor allem als Persiflage traditioneller poetologischer Vorstellungen eines sorgfältigen Abwägens der Worte und einer gewissenhaften Niederschrift des Textes durch seinen Autor. Die Dadaisten knüpfen diesbezüglich forcierend an futuristische Experimente an:82 Während sich Luigi Russolo, der kontingentem Straßenlärm zum ,Material‘ seiner Kompositionen machte, noch explizit um eine ,harmonische‘ Anordnung und vollständige Erfassung der ,Klangrealität‘ moderner Großstädte bemühte,83 wendet sich die dadaistische Programmatik gerade gegen diesen Kompositionscharakter und den Anspruch, ,Kunstwerke‘ zu erschaffen: Darin, dass die Dadaisten selbst das Ziel aufgeben, „[d]as Leben als simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen“ abzubilden, sondern es „mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität“ übernehmen wollen, sieht das Dadaistische Manifest84 den „scharf markierte[n] Scheidepunkt, der den Dadaismus von allen bisherigen Kunstrichtungen, vor allem dem Futurismus trennt“.85 79

80 81

82 83 84 85

[Lachmann 1998], die diese avantgardistischen Programme in der literarischen Tradition der ars combinatoria verortet, weist etwa darauf hin, dass die Gesamtanzahl derartiger Gedichte, die sich nach diesem Rezept ,erzeugen‘ lassen, endlich ist und kombinatorisch ermittelt werden könnte. Vgl. [Schmitz-Emans 1994, 287] sowie [Bürger 1974, 72, 88 und 91]. [Bürger 1974, 72] weist darauf hin, dass der Rezeptcharakter von Tzaras Gedicht (ebenso wie der vergleichbarer Anleitungen Bretons zum Verfassen automatischer Texte) nicht nur als „Polemik gegen das individuelle Schöpfertum des Künstlers“ aufzufassen sei, sondern vor allem als „Hinweis auf eine mögliche Aktivität des Rezipienten“. Dahingehend sei auch die programmatische Forderung „pratiquer la poésie“ der Surrealisten zu verstehen: Als Überwindung der Trennung zwischen dem durch einen autonomen Künstler produzierten Kunstwerk und dessen weitgehend passiven Rezipienten. Deutlich weniger emphatisch nimmt auch [Plumpe 1995, 205] diesen Aspekt auf und stellt in unverkennbar systemtheoretischer Terminologie fest, dass die dadaistische performance „auf die Entdifferenzierung der Unterschiedung von Akteuren und Publikum“ ziele, d.h. „auf die Symmetrisierung des an ,Kunst‘ beteiligten Personals, auf die Einebnung der Asymmetrie ,Künstler‘/,Rezipient‘, die das moderne Kunst- und Literatursystem strukturiert“. Vgl. zum Folgenden die insgesamt sehr instruktiven Überlegungen bei [Plumpe 1995, 203ff.]. Vgl. [Schmidt-Bergmann 1993, 236ff.]. [Riha 1994, 91-94]. [Riha 1994, 92]. S. zum hier ebenfalls einschlägigen dadaistischen „Lautgedicht“ außerdem [Schlichting 1996, 56].

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Plumpe deutet dies „als Versuch, gleichsam kontingenten Lärm zu erzeugen und diesen Lärm – ohne ihn in seiner Differenz zur sonstigen Lärmumwelt irgend hören zu können – als ,Medium‘ auszustellen. Die dadaistischen Happenings in Zürich und Paris produzierten ,sinnlose‘ Geräusche und ,sinnlose‘ Aktionen, die sich in den Lärm der Räume – meist Lokale –, in denen sie stattfanden, kontingent einfügten und zumeist von der Absicht getragen waren, kontingenten Lärm – etwa durch die Provokation lautstarker Zuschauerreaktionen – noch zu potenzieren. Ziel war das optisch-akustische Tohuwabohu.“86 Schon Walter Benjamin weist in seinen Überlegungen zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit87 darauf hin, dass es den ,Schöpfern‘ der dadaistischen ,Kunstwerke‘ nicht zuletzt auf deren „Unverwertbarkeit als Gegenstände kontemplativer Versenkung“88 angekommen sei:89 Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenigsten durch eine grundsätzliche Entwürdigung ihres Materials zu erreichen. Ihre Gedichte sind ,Wortsalat‘, sie enthalten obszöne Wendungen und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache. Nicht anders ihre Gemälde, denen sie Knöpfe oder Fahrscheine aufmontieren. Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist eine rücksichtslose Vernichtung der Aura ihrer Hervorbringung [. . .]. [Benjamin 1974’, 502]

Der zentrale Unterschied zwischen Avantgarde und Ästhetizismus, dessen Werke ebenfalls amimetisch sind und daher beim Rezipienten prima specie einen ähnlichen Eindruck von Unverständlichkeit erzeugen mögen wie die Texte, die nach Tzaras Anweisung verfasst sind, liegt also in der produktionsästhetischen Zurschaustellung einer radikalen Suspension des Anspruchs künstlerischer Originalität. Zufallsgeneratoren, die Unsinn produzieren, „weil die einzelnen Selektionen keine codierte ,Information‘ mehr bilden, sondern lediglich den Horizont aller Selektionen, das beliebige ,Woraus‘, das Medium vorführen“90 , erweisen sich angesichts des dadaistischen Programmdiskurses geradezu als die „einzig legitime Produktionsmaschine Dadas“91 : „Ist jede sinnsetzende Selektion kontingent, d.h. anders möglich, und entscheidet erst ein systemisch ausdifferenzierter Kommunikationscode über die institutionelle Zurechenbarkeit und damit den kommunikationsfähigen ,Sinn‘ jeder Selektion, dann ist es eine konsequent ,subversive‘ Strategie, genau den ,Zufall‘ über die Selektionen entscheiden zu lassen.“92 Während der Eindruck kontingenter Verknüpfung in ästhetizistischen Texten also gerade 86 87 88 89 90 91 92

[Plumpe 1995, 203]. [Benjamin 1974’, 471-508]. [Benjamin 1974’, 502]. Vgl. dazu auch [Bürger 1974, 39f.]. Für eine umfangreiche Kritik an Bürgers Bezugnahme auf Benjamins Kunsttheorie in seiner Theorie der Avantgarde s. [Hillach 1976, 120ff.]. [Plumpe 1995, 207]. [Plumpe 1995, 206]. [Plumpe 1995, 206f.].

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Effekt einer forcierten operationalen Schließung des Kunstsystems ist, das im Unterschied zu Realismus und Naturalismus die Sinnkonstitution seiner Kunstwerke gänzlich zu internalisieren sucht, zielt der Dadaismus mit seiner „Antikunst“ ganz offen auf die Sprengung des Kunstsystems sowie letztlich jeglicher funktional geordneter und fest codierter sozialer Systeme: „Hatte der Expressionismus den ,Gegensatz‘ noch bewußt konstruiert, so ist Dada der Gegensatz selbst und seine Auflösung zugleich. Die Weiterentwicklung des expressionistischen Ideals wird zum ,Narrenspiel aus dem Nichts‘, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; eine Gladiatorengeste; ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln, das einer theoretisch-anarchistischen Vorstellung von Freiheit entspricht.“93

4.3 Beobachtung der Avantgarde: Die „Kleine Form“ In der Glosse Dada94 bekundet Alfred Polgar gleich eingangs seine „große Zuneigung“95 für die Dadaisten: Sie schienen mir der Schrei und Geste gewordene Widerspruch gegen die bürgerliche Vernunft und Vernünftigkeit. Sie pfiffen den gigantischen Unsinn des Lebens aus, und selbst das ,befreiende Gelächter‘ noch verlachten sie. Sie setzten dem scheußlich-behaglichen Kulturbau aus Zeitungspapier und Ziegelsteinen, inklusive seiner heiligsten, geistig-gestrichenen Räumlichkeiten und seiner Kunstkabinette mit esoterischer Wasserspülung, den roten Hahn der Verneinung aufs Dach. Sie störten die Comédie humaine-divine durch erquickend bübisches Dazwischenspielen und deckten die Szene mit einem Regen fauler Witze zu. Sie spieen ihren Haß in die Fratze der Zivilisation und nahmen überhaupt menschliche Beflissenheit als das, was sie ist: als dadaistische Angelegenheit. [Polgar 1984’, 228]

Der Wiener Feuilletonist, dessen Texte ebenfalls vom Widerstand gegen „bürgerliche Vernunft und Vernünftigkeit“ geprägt sind,96 teilt die Abscheu gegen die hier 93 94 95 96

Vgl. [Steinbrenner 1985, 105], der hier [Ball 1946, 91] zitiert. [Polgar 1984’, 228-230]. [Polgar 1984’, 228]. Gegen welche Bevölkerungsschicht sich diese auffallend emphatische Stellungnahme richtet, lässt sich mit Blick auf Alfred Polgars 1922 im Prager Tagblatt erschienenen Lokalbericht (vgl. [Polgar 1982, 317-322]) klären: In diesem polemischen Nekrolog auf den Mittelstand (dem übrigens auch Kracauer eine Schlüsselrolle in der Analyse der modernen Gesellschaft zuschreibt, vgl. [Kracauer 1971]), welchem es angesichts einer allgemeinen Wirtschaftskrise „so schlecht“ gehe, „daß es ihn gar nicht mehr gibt und für dessen Förderung, unter Hinweis, daß er nicht mehr vorhanden, sich die bürgerlichen Zeitungen das Herz aus dem Leibe schreiben“ [Polgar 1982, 319], distanziert sich der Erzähler deutlich von dieser paradoxen Klage der Kulturkritiker der „bürgerlichen Zeitungen“ und beschreibt die politisch-kulturelle Position dieser „Klasse, die sich noch nicht zur Oberklasse, aber nicht mehr zum Volk rechnete“, aus der Perspektive eines ironischsoziologischen Beobachters: „[A]ls Hauptbestandteil des sogenannten Publikums von Wichtigkeit“ wohne der Mittelstand allen „großen Ereignissen“ bei („Prof. Einstein begleitet die Relativitätstheorie auf der Geige“) und bilde „[g]eistig“ „eine unübersteigbare Menschenbarriere, die

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aufgelisteten Sphären,97 denen die im deutschsprachigen Raum wirkmächtigste Avantgardebewegung den Kampf erklärt habe: ,Kultur‘, ,Kunst‘ und ,Zivilisation‘ sind zu bourgeoisen Fassade verkommen, deren Sinnstiftungsmechanismen „den gigantischen Unsinn des Lebens“ durch ritualisierte Kulturtechniken zu verbergen suchen, zu denen nicht zuletzt auch die in der säkularen Gesellschaft der Moderne noch allgegenwärtige religiöse Grundierung der Kommunikation gehört. Die dadaistische ,Antikunst‘ dagegen verdeutlicht in besonderer Radikalität die spezifisch moderne Vorstellung, Kontingenz müsse bei aller „menschliche[n] Beflissenheit“ als Letzthorizont betrachtet werden. Polgars prononcierte Zustimmung zum dadaistischen Projekt, auch das „befreiende Gelächter“ noch zu verlachen, ist für die Poetologie der „Kleinen Form“ als Kontingenzgattung der Moderne aufschlussreich: Wenn der Wiener Feuilletonist Polgar in einer maliziösen Glosse Das Wiener Feuilleton98 als „Sorte dünnster Literatur“99 beschreibt, deren Produkte „nicht merkbar“ seien, da sie „sofort vom Gehirn [verdunsten], auf das man es schüttet“100 , verfolgt er offenbar das Ziel, die Gattung des Feuilleton von sich selbst zu unterscheiden: „[D]as Wesentliche des Wiener Feuilletons“101 sei [. . .] die Leere; die wässerige Visage, von gekräuselten Stil-Löckchen hold umscherzt. Sanftmut, Milde, Freundlichkeit überall. Nirgends eine grimmige Falte, eine tiefere Furchung, eine energische Willensgrimasse, von der die Glätte dieses Antlitzes unterbrochen würde. Vom Wiener Feuilleton kann man nur in Diminutiven sprechen. Es hat nicht Hand und Fuß, sondern Händchen und Füßchen; es geht nicht, sondern es hüpft, es singt nicht, sondern es tiriliert, es lacht nicht, sondern es lächelt, es ist nicht graziös, sondern grazil, es denkt nicht, sondern es sinnt, es redet nicht, sondern es plaudert. [Polgar 1984’, 200f.]

Während Polgar die dadaistische Sabotage des „befreienden Gelächters“ und der bloßen ,Unterhaltsamkeit‘ begrüßt, auf die das mit der kosmetischen Kompensation seiner Inhaltsleere beinahe zusammenfallende „Wiener Feuilleton“ zielt, zeigt er sich hinsichtlich der avantgardistischen Subversion jeglicher Unterschiede kritisch: „Lettern, Zahlen, Striche, Formen, Farben, Begriffe, Kausalitäten, Heiligkeiten, Betisen: alles stürzt, purzelbaumt durcheinander.“102 Das programmatische „Durcheinander“ dadaistischer Aktionen habe zwar potentiell etwas „faszinierend Höhnisches, das leere oder lug- und mistgefüllte Innere der Ordnung unbarmherzig

97 98 99 100 101 102

das Bestehende vor dem Ansturm sogenannter neuer Ideen sicherte und dem Klima jene kostbaren Eigentümlichkeiten konservierte, die ihm das ehrende Beiwort: ,das gemäßigte‘ erwarben“; vgl. [Polgar 1982, 319f.]. Vgl. dazu [Philippoff 1980, 79]. [Polgar 1984’, 200-205]. Ebd. [Polgar 1984’, 201]. [Polgar 1984’, 200]. [Polgar 1984’, 228f.].

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Aufspaltendes“103 . Diese Möglichkeit sei jedoch in der von Polgar beschriebenen Matinee nicht eingelöst worden. Lakonisch listet Polgar die ,Verrücktheiten‘ auf, welche die Dadaisten vollführten,104 doch konstatiert, dass das „muntere[] Anarchistenvölkchen“105 noch nicht weiter gekommen sei. Bilanzierend kritisiert – und ironisiert – er vor allem die avantgardistische Tendenz, sich gegen jede Kritik zu immunisieren: Es war erschreckend langweilig. Wenn man ihnen das aber sagte, würden sie antworten: Eben; wir sind gegen ,Unterhaltung‘. Und wenn man ihnen sagte: Aber warum so gottserbärmlich geistlos gegen Unterhaltung?, würden sie antworten: Eben; wir sind gegen ,Geist‘. Und wenn man ihnen sagte: Aber warum so jammervoll witzarm in der Verneinung von Geist?, würden sie antworten: Eben; wir sind gegen ,Witz‘. Man hat’s nicht leicht mit ihnen. Denn dies ist, scheint es, ein Wesentliches des Dadaismus: er ist gegen. Was immer in die Schusslinie dieses Gegen kommt, wird Zielobjekt und abgeknallt. Dem Erlegten ziehen sie die Haut ab und treiben Schindluder mit dem armen Fell und verarbeiten es zu Dada. [Polgar 1984’, 229f.]

Polgar, dessen Analyse in nuce bereits Plumpes systemtheoretische Charakterisierung der Avantgarde als Kunstrichtung enthält, die jeglichen „Codes“ und systemkonstitutiven Differenzen von Kunst und Gesellschaft fundamentaloppostionell gegenübersteht,106 greift die antithetische Struktur des stilisierten Streitgesprächs mit einem ,überzeugten‘ Dadaisten in Form einer paradoxen Schlusspointe noch einmal auf, wenn er kunstvoll elliptisch beginnt: „Es war die Pointe – (. . . wir sind gegen ,Pointe‘. . . ) – der Sonntags-Matinee [. . .]“107 , und damit gleichsam im Vollzug die poetologische Differenz zwischen dem von ihm vertretenen Genre der „Kleinen Form“ und der avantgardistischen Anti-Kunst markiert: Ausgehend vom gemeinsamen Bestreben, der in der Moderne unausweichlichen Erfahrung von Kontingenz ästhetisch gerecht zu werden, verweigert sich Polgar im Gegensatz zu den Avantgardisten der Formverweigerung, deren Umschlagen in eine bloß „langweilig[e]“ Spielerei mit letztlich beschränktem kritischen Potential er in seinem Feuilleton prognostiziert. 103 104

105 106

107

[Polgar 1984’, 229]. „[E]in paar junge Leute machten allerlei Stegreif-Jux, verulkten ihre Zuschauer, trampelten, schrien, pfiffen, telefonierten, warfen einander hinaus und herein, fistelten und brüllten, zogen einen gutmütigen Vorhang auf und zu, klatschten sich, quietschend vor Unsinnswollust, auf den Podex und sagten beiläufig: Ecce homo! Oder auch: Ecce ars!“ [Polgar 1984’, 229]. [Polgar 1984’, 229]. Vgl. etwa [Plumpe 1995, 205]: „All diese Aktionen und happenings mitsamt ihren Gags und Blödeleien liefen auf die Inszenierung gleichsam kalkulierter Kontingenz hinaus, in der ,Formen‘, d.h. Selektionen, nicht mehr hörbar oder beobachtbar sein sollten, um jedes ,Sinn‘-Erlebnis unmöglich zu machen. Man verstand diese Sinn-Subvertierung aber nicht lediglich als literarisch interessanten, schockanten oder frappanten Effekt – um es immer wieder zu sagen –, sondern als burleskes Außerkraftsetzen jeder sozialen Selektion, d.h. allen Sinns, der der Lächerlichkeit preisgegeben wurde.“ [Polgar 1984’, 230].

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Aufgrund eben solcher charakteristischen Schlusspointen, ihrer formalen und kompositorischen Geschlossenheit und ihrer stilistischen Brillanz wurden Polgars Texte selbst – zumal als Feuilletons – von der Kritik oft als ,unterhaltsame‘ und ,entspannende‘ Werke gelesen, die hinsichtlich ihrer Verstörungswirkung deutlich hinter den genannten Formen zeitgenössischer Kunst zurückbleiben, also ironischerweise mit den von Polgar selbst geschmähten „Wiener Feuilletons“ parallelisiert.108 In der (mit dem sprechenden Untertitel „quasi ein Vorwort“ versehenen) Glosse Die kleine Form109 , die zu den ,zentralen‘ narratologischen Zeugnissen Polgars gezählt werden könnte,110 wenn seine Schreibweise eine solches Attribut nicht so vehement dementierte, wehrt sich der Erzähler gegen die Beurteilung einer früher Feuilletonsammlung als harmlose Gelegenheitslektüre: Als Stunden, meistens hieß es ,Stündchen‘, in die mein Buch tauge, wurden angegeben: das Stündchen nach dem Mittagessen. Das nach dem Abendessen. Das vor dem Einschlafen. Das in der Straßenbahn. Das verregnete FerialStündchen. Als Orte, wo das Buch gut zu lesen wäre, wurden erkannt: die Sitzgelegenheit um den winterlichen Kamin. Die sommerliche Wiese. Das Kanapee, die Ottomane, die Hängematte, der Fauteuil, die Chaiselongue, das Sofa. Als Position, die beim Lesen einzunehmen wäre: jede lässige, bequeme, entspannte. [Polgar 1984, 371]

Mit dem Titel „An den Rand geschrieben“, der das Ephemere der ,Gegenstände‘ des feuilletonistischen Diskurses herausstellt, habe er es der Kritik besonders leicht gemacht, den Vorwurf zu erheben, seine programmatisch kleinen Texte ästhetisch zu marginalisieren. Statt seine eigenen Texte zu verteidigen, erweist sich der Poetologe der Kleinen Form einmal mehr als distanzierter Beobachter der zeitgenössischen Kultur, wenn er die Vermutung äußert, allein die Wahl eines kapriziertavantgardistischen Titels – als karikierende Beispiele nennt er „Gewölk im Südsüdnord“ und „Silpelith rudert über die Erlen“111 – hätte ausgereicht, um das Werk (unabhängig von seinem ,Inhalt‘) unangreifbar zu machen. Er versteht sich dabei freilich nicht als Gegner der modernen Ästhetik, sondern als deren Verteidiger gegen bestimmte epigonale Entwicklungen, welche es den Kritikern der Moderne allzu leicht machen. In Gare aux filous!112 bemüht sich der Feuilletonist daher darum, die moderne Literatur vor ihren eifrigsten Beförderern zu beschützen. Deren schlimmster Feind seien nämlich Literaturzeitschriften wie die Leipziger „Gesellschaft“, einem „literarisch maskierte[n] Organ für irrsinnige Gymnasiasten“113 : 108

109 110 111 112 113

[Philippoff 1980, 296ff.] beschäftigt sich ausführlich mit dem „Humor“ als zentralem Charakteristikum der Polgarschen Texte: „[K]ein Tatbestand, der seiner bloßstellenden Ironie entginge, keine Erzählung, die nicht ein relativierendes Augenzwinkern enthielte. Antithesen und Paradoxa, Wortspiele und Schlußpirouette sind alle im Dienste eines Geistes, der es ablehnt, sich ernstzunehmen.“ [Philippoff 1980, 297]. [Polgar 1984, 369-373]. Vgl. dazu [Althaus u.a. 2007’, XIX]. [Polgar 1984, 370]. [Polgar 1984’, 183-187]. [Polgar 1984’, 185].

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„Durch tolle Sprünge, durch Kapriolen, deren Unsinnigkeit für ein Mysterium der Kunst gehalten werden will, verblüffen sie schwache Geister. Die haben nun die lang gewünschte Handhabe, jene wirklich modernen Ideen und Produkte an den Pranger zu stellen, die ihre verständnislosen Seelen schon lange quälen und beleidigen. Die Organisation des Sumper-Hirns hat da nur eine Logik: Ich versteh’ das nicht und versteh’ jenes nicht – folglich ist beides ein Unsinn.“114 Polgars Kritik bestimmter Merkmale insbesondere der emphatisch-modernen Ästhetik ist also keineswegs Zeichen einer grundlegenden Ablehnung, sondern zielt eher darauf, die durch den Expressionismus und die Avantgardebewegungen beförderte Tendenz einer Gleichsetzung lyrisch kolorierter Unverständlichkeit und literarischer Qualität als eine für das moderne Kunstsystem spezifische Form der Sinnkonstruktion lesbar zu machen, die besonders leicht zum bloßen Gestus erstarren kann. Auch der als autobiographisch ausgegebene, 1927 im Berliner Tageblatt erschiene Text Exzentriks,115 in dem der Ich-Erzähler von einem Theaterstück berichtet, das er als Kind geschrieben habe, stellt ein Plädoyer für die moderne Ästhetik dar: „In meinem Stück gab es nur Monologe. Jeder Spieler sagte, ohne sich um den andern zu kümmern, frei heraus, was er eben dachte und empfand. Die Figuren gingen aneinander vorbei wie Spaziergänger auf der Straße. Lauter Sonderlinge.“116 Diese collageartige Komposition entspringt einer radikalen Dramaturgie der Kontingenz, welche die Regeln kommunikativer Komplexitätsreduktion, wie Luhmann sie etwa in Einfache Sozialsysteme117 in systemtheoretischer Terminologie formuliert, absichtlich bricht. Statt sich der in alltäglichen Gesprächssituationen unumgänglichen wechselseitigen Beschränkung möglicher AnschlussÄußerungen zu unterwerfen, bleiben Polgars exzentrische „Sonderlinge“ frei: „Exzentriks sind leibhaftige Pamphlete wider Würde, Ernst, Haltung. Dafür dankt ihnen unser Herz, befriedigt wie ein Subalterner, der des Gebots, das ihn sein Leben lang drückt und beugt, ein Weilchen spotten darf. Exzentriks erlösen vom Übel der Schwerkraft. Sie verhelfen zu einer Vision vom Spielzeughaften der Welt. . . und so zu Kindheits-Glück. Unter ihren Griffen wackelt die Kausalität wie Baggensens Tellerblau; wenn sie einstürzt, ist das Musik unserem Hirn.“118 Polgar betont ausdrücklich die Aktualität dieses Typus: Das Heute hat viel übrig für Exzentriks, auch auf geistigem Gebiet, dessen Hochplateau den Spitznamen ,Kunst‘ führt. Was sind Synkope, Hamlet im Frack, Jazz, die konstruktivistische Bühne, Sechstagerennen, der finstere Ulk der Geisterseherei und der ganze Arhythmus der Zeit anderes als Proteste gegen die Schwerkraft, als Versuche, zu teilen, was die sehr überschätzte Logik

114 115 116 117 118

[Polgar 1984’, 186]. [Polgar 1982, 362-365]. [Polgar 1982, 362]. [Luhmann 1975]. [Polgar 1982, 364f.].

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streng gebunden, als Auflehnung gegen die faden Gesetze der Wahrscheinlichkeit? [Polgar 1982, 365]

Polgars „Kleine Form“ konstituiert sich nun jedoch im Gegensatz zum Gros der emphatisch-modernen Literatur gerade dadurch, dass sie diese Diagnose nicht pathetisch überhöht, sondern ihrerseits – im Medium des Humors – beobachtet:119 Doch gehört zum rechten Exzentrik noch etwas mehr als Narrheit. Nämlich Humor, das heißt: die Fähigkeit, das Leben des Menschen als die kostbare Unterhaltung zu spüren, die es den Göttern bedeuten und bereiten mag. Humor allein kennt den archimedischen Punkt, von dem her die Welt aus ihren greulich knarrenden Angeln zu heben ist. Exzentriks ohne Humor – man findet sie zum Beispiel unter den neueren Dramatikern – sind was ganz Unheimliches und Fatales. Wie ein Zappelfisch auf dem Trockenen. Oder wie ein Blinder, der durchbohrende Blicke wirft. Oder wie ein Reiter in vollem Galopp ohne Pferd. [Polgar 1982, 365]

Um die Stoßrichtung dieses anti-avantgardistischen Impulses des Vetreters der Kleinen Form genauer verstehen zu können, ist es hilfreich, den oft zitierten thematisch verwandten Kandinsky-Essay Hugo Balls aus dem Jahr 1917 genauer in den Blick zu nehmen. Mit deutlichem intertextuellem Bezug auf die Philosophie Nietzsches und fast zeitgleich zur Veröffentlichung von Oswald Spenglers Untergangsschrift proklamiert Hugo Ball, einer der Mitbegründer der Züricher DadaBewegung:120 Gott ist tot. Eine Welt brach zusammen. Ich bin Dynamit. [. . .] Eine Zeit bricht zusammen. Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären. [. . .] Es gibt keine Perspektiven mehr in der moralischen Welt. Oben ist unten, unten ist oben. Umwertung aller Werte fand statt. [Ball 1984, 41]

Zu den für diese – durch bombastische Sprengungs-Metaphorik beschriebene – verheerende Situation verantwortlichen „[d]rei Dinge[n]“ zählt Ball unter anderem „die Auflösung des Atoms in der Wissenschaft“121 : „Chaos brach hervor. Tumult brach hervor. Die Welt zeigte sich als ein blindes Über- und Gegeneinander entfesselter Kräfte.“122 Auch die kulturdiagnostische Essayistik der Avantgarde knüpft also an die Diskurstradition der oben untersuchten katastrophischen Deutungen moderner naturwissenschaftlicher Methoden und Resultate an: [M]an zerbrach nicht nur die Mauern, man zerrieb, zerlegte, zertrat noch die Sandkörner. Es blieb nicht nur kein Stein auf dem andern, es blieb auch 119 120 121 122

[Philippoff 1980, 84] konstatiert Polgars Vorbehalte gegenüber dem Expressionismus aufgrund seiner Tendenz zur „Humorlosigkeit“. Zu Balls Rolle bei der Entstehung des Dadaismus vgl. [Steinbrenner 1985, 97ff.]. [Ball 1984, 41]. S. dazu auch [Schlichting 1996, 64]. [Ball 1984, 41].

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nicht einmal kein Sandkörnchen, kein Atom beim andern. Das Feste zerrann. Stein, Holz, Metall zerrannen. Die Welt wurde monströs, unheimlich, das Vernunfts- und Konventionsverhältnis, der Maßstab schwand. Die Elektronenlehre brachte ein seltsames Vibrieren in alle Flächen, Linien, Formen. Die Gegenstände änderten ihre Gestalt, ihr Gewicht, ihr Gegen- und Übereinander. [Ball 1984, 42]

Die hier in bemerkenswert lyrischer Diktion123 beschriebene, radikal durch Kontingenz geprägte moderne ,Wirklichkeit‘ erweist sich bis in ihre innerste Struktur als flüchtig und unzuverlässig und lässt sämtliche Objekte der physischen Realität unscharf und disloziert erscheinen. Diese fundamentale Unsicherheit überträgt sich auch auf den Menschen und führt zu einer Dekonstruktion seines überkommenen Selbstbilds: Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Zufall, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken. Der Mensch verlor seine Sonderstellung, die ihm die Vernunft gewährt hatte. Er wurde Partikel der Natur, vorurteilslos gesehen ein Wesen frosch- oder storchenähnlich, mit disproportionierten Gliedern, einem vom Gesicht abstehenden Zacken, der sich Nase nennt, abstehenden Zipfeln, die man gewohnt war ,Ohren‘ zu nennen. [Ball 1984, 41]

In suggestivem Reihungsstil zeichnet Ball den anthropologischen ,Fall‘ nach, der aus dem einstigen Ebenbild Gottes, das an einer ,geistigen‘ Sphäre teilhat, sich als Einheit und als Vernunftwesen begreift und dadurch scharf vom Tier unterscheidet, eine bloß zufällige Anhäufung von Zellen oder Materiepartikeln macht, dessen kognitive Prozesse nur noch als „unzulänglich zuckende[] Gedanken“ erscheinen. Die „Künstler in dieser Zeit“, mit denen der Essayist sich offenbar identifiziert, charakterisiert er als „Vorläufer, Propheten einer neuen Zeit“, ja „einer ganzen Epoche, einer neuen Gesamtkultur“. Sie stünden „im Gegensatz zur Gesellschaft wie die Ketzer des Mittelalters“ und führten, „zerrissen, zerstückt, zerhackt“, ein „tief verschollenes Dasein“. Weil ihre Werke „in einer nur erst ihnen bekannten Sprache“ verfasst seien, verstehe man sie „schwer und nur dann, wenn man die innere Basis ändert, wenn man bereit ist, zu brechen mit der Tradition eines Jahrtausends. Man versteht sie nicht, wenn man an Gott glaubt statt an das Chaos.“124 Der avantgardistische Programmatiker erteilt also der ,tausendjährigen‘ poetologischen Gewohnheit, Kunstwerke am Maßstab einer außerhalb des Kunstwerks vorgegebenen Ordnung zu messen und den Prozess der Rezeption als Akt des Einund Zu-Ordnens aufzufassen, eine grundsätzliche Absage, und stellt den ihr noch immer folgenden Künstlern einen im emphatischen Sinne neuen Künstler-Typus 123

124

Tatsächlich steht die formal-textuelle Ordnung – auffallend sind die Alliterationen („zerrieb, zerlegte, zertrat“), Wiederholungen („zerrann [. . .] zerrannen“) und Parallelismen („Es blieb nicht nur [. . .], es blieb auch nicht [. . .]“) – hier in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zur inhaltlich behaupteten Unordnung. [Ball 1984, 43].

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gegenüber. Die von der bombastisch-provokativen Rhetorik (wie der Inversion des Verhältnisses von „Gott“ und „Chaos“) getragene Stilisierung des modernen Künstlers zum Propheten verfolgt nicht zuletzt das Ziel einer semantischen Aufladung der Unverständlichkeit radikal moderner Kunstwerke im Sinne utopischer Projekte und macht deutlich, welche Formen der ,Exzentrik‘ Polgar mit seiner Forderung nach Humor zu ironisieren sucht.125 Auch Siegfried Kracauer weist im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Expressionismus auf das prekäre Verhältnis der emphatisch-modernen Ästhetik zur Komik hin: So verdanke man den Expressionisten, deren Werke auf „das intensive Sich- und die Welt-Fühlen, das Erleben schlechthin und das innige ungeheuer ernsthafte Aufgehen in ihm“ zielten, „noch keine Schöpfung überlegenen Humors, sie wäre ihm auch wesensfremd.“126 Ähnlich wie in Polgars Poetologie der „Kleinen Form“ spielt auch in Kracauers Texten eine kritisch-distanzierte Beobachtung der Avantgarde eine wichtige Rolle. Mit dem für seine Frühschriften charakteristischen Pathos127 verkündet Kracauer 1920 eine Schicksalswende der Kunst128 : das Ende des Expressionismus. Dies spricht angesichts von Sabina Beckers Charakterisierung der „Neuen Sachlichkeit“ als „Antiexpressionismus“129 für die Zuordnung von Kracauers Texten zu dieser nicht unumstrittenen Epoche.130 Dieser Anti-Avantgardismus, der auch in Kracauers Selbstpositionierung als „Derrière125 126 127

128 129

130

Vgl. dazu [Bohn 1978, 133f.]. [Kracauer 2004”’, 48], Hervorh. M.D. [Oschmann 2006, 206] stellt fest, dass die frühen Essays „auf eine allgemeine Zeitdiagnose“ zielten, „zugleich jedoch auf eine prinzipielle Bestandsaufnahme der Moderne. Dieser Fundamentalanspruch tritt jedoch mehr und mehr zugunsten einer erkenntnistheoretischen Selbstbescheidung zurück, die sich aufs Phänomenale konzentriert.“ Dieser Wandel sei nicht zuletzt auf die Veränderung des Erscheinungsorts bzw. der medialen Entstehungsbedingungen der Texte zurückzuführen, da sich Kracauer seit seiner Festanstellung bei der Frankfurter Zeitung im Jahr 1921 „stärker auf die sogenannten kleinen Formen einlassen muß, sei es nun in Gestalt von Rezensionen, Feuilletons oder philosophischen Miniaturen zur geistigen Situation der Zeit. Daß in diesem Prozeß schon die äußere Begrenzung, die jedem Zeitungsartikel gesetzt ist, als medialer Zwang eine maßgebliche Rolle bei der Konstitution der Darstellungsverfahren und Schreibweisen spielte, liegt auf der Hand.“ [Oschmann 2006, 203]. [Kracauer 1990, 72-78]. Mit diesem Attribut gliedert [Becker 2000, 97-108] ex negativo auch die Neue Sachlichkeit in die vielzitierte Reihe der „Ismen“ ein, in die sich die Epoche der ,Moderne‘ mehr oder weniger programmatisch aufspaltet (vgl. [Andres 2006, 94]). Zu den „Dimensionen neusachlicher Ästhetik“ rechnet [Becker 2000, 97-256] u.a. auch „Nüchternheit“, „Präzision“, „Beobachtung“, „Antipsychologismus“, „Entsentimentalisierung“ und „Entindividualisierung“. Schon der Titel des von [Baßler/van der Knaap 2004] herausgegebenen einschlägigen Sammelbands (Die (k)alte Sachlichkeit. Herkunft und Wirkungen eines Konzepts) weist deutlich auf die historische und konzeptionelle Komplexität des literarischen Anspruchs auf ,Sachlichkeit‘ hin. Vor allem Kracauers vielbeachteter Roman Ginster. Von ihm selbst geschrieben wird zu den paradigmatischen Erzählwerken der „Neuen Sachlichkeit“ gezählt. In ihrem einleitenden Beitrag zum Band Neue Sachlichkeit im Roman nennt Mitherausgeberin [Becker/Weiß 1995, 9] Kracauers Ginster als Beispiel eines Romans, der „neusachliche Elemente aufweist“. Ausführlicher nehmen etwa [Schlaffer 1996, 47f.] und [Mülder-Bach 2004] Kracauers Ginster und seine Prosa im Allgemeinen als neusachlichliche Dokumente in den Blick; vgl. dazu außerdem [Niefanger 1994, 266].

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Die Obersten der Saboteure

garde der Avantgarde“131 zum Ausdruck kommt, auf die Adorno in seinem Essay Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer132 – recht maliziös133 – hinweist, konstituiert die Verwandtschaft seiner Texte mit denen Polgars und ist keineswegs im Sinne einer grundsätzlichen Ablehnung, sondern im Sinne einer Reflexion der ästhetischen Revolutionen der Klassischen Moderne zu verstehen. Ist für den Expressionismus gerade sein radikaler Neuerungsanspruch (erkennbar „durch seine stark betonte Ablehnung jeglicher Convention“134 ) entscheidend, wie Kracauer in einer längeren Abhandlung Über den Expressionismus135 von 1918 herausstellt, so versteht sich seine kritische Verabschiedung der nun ihrerseits ,Tradition‘ gewordenen ,Epoche‘ des Expressionismus selbst gerade dadurch als antiexpressionistisch, dass sie diesen als Tradition würdigt. Besonders die expressionistische Radikalisierung der Frage nach der Wirklichkeit in der Moderne assoziiert Kracauer deutlich mit seiner an Lukács anschließenden Diagnose der transzendentalen Obdachlosigkeit, die aus seiner Perspektive vom Szientismus des ,langen‘ 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg noch verstärkt wurde. Zwar haben in der wissenschaftlich konstituierten Wirklichkeit „[s]ämtliche Dinge [. . .] einen in Zahlen ausdrückbaren Wert“, und „objektive und unantastbare Gesetze regeln die Beziehungen zwischen ihnen“, doch mache diese Form der Kontingenzreduktion die „ganze Umwelt des Menschen [. . .] zu einem Gebilde von erschreckender Unpersönlichkeit [. . .], in dem nur eines überflüssig und beinahe wie ein Zufall erscheint: der Mensch selber und seine Seele.“136 Gegen diese gesetzmäßig geordnete „Durchschnittswirklichkeit“137 , in der der Mensch („und seine Seele“) bloß als kontingente ,Zutaten‘ Platz finden, kämpfe der Expressionismus: „Der Expressionist will schlechterdings die Wirklichkeit ausrotten, sein Werk soll auch nicht im entferntesten an sie anklingen.“138 Das avantgardistische Ziel, „die vorhandene Wirklichkeit [. . .] als das zu enthüllen, was sie tatsächlich ist: als ein trügerisches Schattenwesen, ein Chaos ohne Seele, ohne Sinn“139 , veranschaulicht Kracauer mit der Anleitung zu einem Wahrnehmungsexperiment, das (bis hin zur Appellform) deutliche Parallelen zu Musils Aufforderung Triëdere140 aufweist: 131 132 133

134 135 136 137 138 139 140

[Adorno 1966’, 89]. [Adorno 1966’, 83-108]. [Schlaffer 1996, 51f.] bemüht sich mit Bezug auf dieses Diktum, den „engagierte[n] Flaneur“ Kracauer gegen sich selbst, vor allem aber gegen Adorno zu verteidigen: „Adorno, der freilich der Avantgarde angehörte, nützt die Selbstverleugnung Kracauers zur Diffamierung. Das Urteil des Moderantismus gilt nur für die Werke nach dem Bruch, den die Exilierung für Kracauer bedeutete, nicht für die zwanziger Jahre.“ [Kracauer 2004”’, 43]. [Kracauer 2004”’, 5-78]. [Kracauer 1990, 73]. [Kracauer 1990, 74]. [Kracauer 2004”’, 31]. [Kracauer 1990, 75]. Entsprechend verweigere der Expressionismus die Gestaltung ,runder‘ Figuren, deren ,Handeln‘ den Maßstäben psychologischer Plausibilität folge. Vgl. [Musil 19782 , 518-522]. Kracauers Charakterisierung der einschlägigen avantgardistischen und expressionistischen Experimente lässt sich auch anhand der folgenden Passage aus Hugo

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Man mache einmal den Versuch, beim Anschauen von Dingen, Menschen, seelischen Wesenheiten usw. Verstand, Erfahrung und Gewohnheit auszuschalten, desgleichen den Willen zu einem So-oder-So-Sehen zu unterdrücken; d.h. man lasse sich als Einheit gleichsam ganz zerfallen und öffne sich schrankenlos – was dann in uns eingeht, sind unqualifizierte Eindrücke, die ich kurzweg das Mannigfaltige nenne. [Kracauer 2004”’, 19]

Diese von den Expressionisten geforderte ,Unterdrückung‘ bestimmter kognitiver Prozesse zielt programmatisch auf einen Wahrnehmungsmodus, in dem die Wirklichkeit so ,erfahrbar‘ wird, wie sie ,vor‘ der Ordnungsstiftung durch konventionell geregelte Verfahren der Kontingenzreduktion ,ist‘. Die Avantgarde setzt also den durch vernünftige Subjekte im Sinne der Philosophie des Deutschen Idealismus geordneten „Subjekt-Welt“ eine als vollkommen chaotisch imaginierte „Welt der Wirklichkeit“ entgegen:141 „Unbeherrscht durch einheitliche Wertprinzipien, ungeformt und gestaltlos, dehnt sie sich aus. Da sie nicht unser persönliches Erlebnis ist, fehlt ihr auch die Geschlossenheit und innere Übereinstimmung, die nur das voll Erlebte besitzt.“142 Die Entdifferenzierung zwischen Kunst und Leben, die Peter Bürger als zentrales Merkmal der historischen Avantgardebewegungen bestimmt,143 stellt aus Kracauers Sicht auch die ästhetische Perspektive des Expressionismus dar, der ein „besonderes Verhältnis [. . .] zum ,Leben‘“ habe:144 Für

141 142

143 144

Balls Flucht aus der Zeit belegen: „Menschen, die rasch und überstürzt leben, verlieren leicht die Kontrolle über ihre Eindrücke und erliegen unbewußten Affekten und Motiven. Das Betreiben irgendeiner Kunst (Malen, Dichten, Komponieren) wird ihnen guttun, vorausgesetzt, daß ihre Sujets keiner Absicht, sondern der freien und fessellosen Imagination folgen. Der selbständige Phantasieprozeß fördert unfehlbar diejenigen Dinge wieder zutage, die die Bewusstseinsgrenze unzergliedert überschritten haben. In einer Zeit wie der unsern, in der die Menschen täglich von den ungeheuerlichsten Dingen bestürmt werden, ohne sich über die Eindrücke Rechenschaft geben zu können, in solcher Zeit wird das ästhetische Produzieren zur Diät. Alle lebendige Kunst aber wird irrational, primitiv und komplexhaft sein, eine Geheimsprache führen und Dokumente nicht der Erbauung, sondern der Paradoxie hinterlassen.“ [Ball 1946, 70]. S. dazu auch [Steinbrenner 1985, 99f.]. [Kracauer 2004”’, 20]. [Kracauer 2004”’, 20]. In Die Flucht aus der Zeit verknüpft Hugo Ball seine ästhetische Reflexion der Programme von Expressionismus und Avantgarde mit der philosophischen Tradition des Nominalismus: „Die vollendete Skepsis ermöglicht auch die vollendete Freiheit. Wenn über den inneren Umriß eines Gegenstandes nichts Bestimmtes mehr geglaubt werden kann, muß oder darf, – dann ist er seinem Gegenüber ausgeliefert und es kommt nur darauf an, ob die Neuordnung der Elemente, die der Künstler, der Gelehrte oder Theologe damit vornimmt, sich die Anerkennung zu erringen vermag. Diese Anerkennung ist gleichbedeutend mit der Tatsache, daß es dem Interpreten gelungen ist, die Welt um ein neues Phänomen zu bereichern. Man kann fast sagen, daß, wenn der Glaube an ein Ding oder eine Sache fällt, dieses Ding und diese Sache zurückkehren, Freigut werden. Vielleicht aber ist das resolut und mit allen Kräften erwirkte Chaos und also die vollendete Entziehung des Glaubens notwendig, ehe ein gründlicher Neuaufbau auf veränderter Glaubensbasis erfolgen kann. Das Elementare, Dämonische springt dann zunächst hervor; die alten Namen und Worte fallen. Denn der Glaube ist das Maß aller Dinge, vermittels des Wortes und der Benennung.“ [Ball 1946, 90]. Vgl. zu Balls Nominalismus [Stein 1975, 28ff.]. Zu den historischen Bezügen dieses Ballschen Konzepts vgl. auch [Hillach 1996, 242]. Vgl. [Bürger 1974, 28ff.]. [Kracauer 2004”’, 47].

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die expressionistischen Dichter bedeute ,Leben‘ „weniger ein so oder so geartetes Dasein führen, in dem bestimmte Werte bejaht, andere verneint werden, es ist ihm vielmehr gleichbedeutend mit einem Sprengen jeglicher Bande, einem freien, ungehinderten Aussichherausströmen, einer hochgespannten Aktivität.“145 Diese radikale Wendung gegen die konventionell geordnete Wirklichkeit, die Kracauer als zentrale „Mission“ der expressionistischen Bewegung würdigt, sei zu Beginn der 1920er Jahre nun aber in dem Sinne „vollbracht“146 , dass sie ästhetische Bedürfnisse hervorgebracht habe, die im Rahmen ihres Programms selbst nicht mehr befriedigt werden könnten. Entsprechend stellt er seinem Artikel über den Expressionismus die Fragen voran, „warum wir anfangen, seiner müde zu werden und wohin eigentlich unsere Sehnsucht nach seiner Überwindung zielt“147 , die auch für Polgars Beobachtung der Avantgarde richtungsweisend sind. Es sei nun „an der Zeit, daß endlich das ins Werk gesetzt wird, wozu erst der Expressionismus uns reif gemacht hat: der Aufbau einer neuen Wirklichkeit in der Kunst.“148 Damit weist Kracauer zugleich die avantgardistischen Vorstellungen der Konstruktion neuer Realitäten durch die Kunst zurück, die Hugo Ball im Kandinsky-Essay beschreibt: Mit Blick auf zeitgenössische bildende Künstler wie Kandinksy oder Picasso begründet Ball die Ablösung „von der Erscheinungswelt, in der sie (= „die Künstler in dieser Zeit“) nur Zufall, Unordnung, Disharmonie wahrnehmen“149 durch das Projekt einer ,reinen‘ Neuschaffung von Ordnung: Sie suchen das Wesentliche, Geistige, noch nicht Profanierte, den Hintergrund der Erscheinungswelt, um dies, ihr neues Thema, in klaren, unmissverständlichen Formen, Flächen und Gewichten abzuwägen, zu ordnen, zu harmonisieren. Sie werden Schöpfer neuer Naturwesen, die kein Gleichnis haben in der bekannten Welt. Sie schaffen Bilder, die keine Naturnachahmung mehr sind, sondern eine Vermehrung der Natur um neue, bisher unbekannte Erscheinungsformen und Geheimnisse. Das ist der sieghafte Jubel dieser Künstler, Existenzen zu schaffen, die man Bilder nennt, die aber neben einer Rose, einem Abendrot, einem Kristall gleichwertig Bestand haben. [Ball 1984, 44]

Derartigen utopischen ,Visionen‘ des poetischen Potentials moderner Kunst stehen die Vertreter der „Kleinen Form“ ebenso kritisch gegenüber wie dem unter den Avantgardisten verbreiteten Versuch, die moderne Kontingenzerfahrung und ihre aleatorischen Produktionsweisen religiös aufzuladen. Dies unternimmt etwa Hans Richter im Namen der dadaistischen „Kunst und Antikunst“, wenn er deren Motivation für die „Einbeziehung des Zufalls“ erläutert: „Es handelt sich darum, die ursprüngliche Magie des Kunstwerks wiederherzustellen und zu jener ursprünglichen Unmittelbarkeit zurückzufinden, die uns auf dem Wege über die Klassik der 145 146 147 148 149

[Kracauer 2004”’, 47f.]. [Kracauer 1990, 76]. [Kracauer 1990, 73]. [Kracauer 1990, 77]. [Ball 1984, 44].

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Lessing, Winckelmann und Goethe verlorengegangen war. Indem wir das Unbewußte, das im Zufall enthalten ist, direkt anriefen, suchten wir dem Kunstwerk Teile des Numinosen zurückzugeben, dessen Ausdruck die Kunst seit Urzeiten gewesen ist. . .“150 Zu den Prätexten einer solchen Theologisierung des Kontingenten gehört nicht zuletzt Nietzsches Zarathustra, dessen Protagonist predigt: „Wahrlich, ein Segen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: ,Über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermut.‘ [. . .] O Himmel über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine Reinheit, daß es keine ewige Vernunft-Spinne und -Spinnennetze gibt – / – daß du mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle, daß du mir ein Göttertisch bist für göttliche Würfel und Würfelspieler!“151 Im Gegensatz zu Nietzsche und den Avantgardisten bleiben Kracauer und Polgar skeptisch gegenüber derartigen heroisierenden Tendenzen der Moderne und gegen die damit verbundene paradoxe Form der Bedeutungskonstitution. Die „Kleine Form“ konstituiert sich stattdessen als literarische Form der fortgesetzten Sabotage, die sich immer auch gegen sich selbst richtet. Projekte, die auf Unmittelbarkeit oder das Vordringen in diskursiv oder medial (vermeintlich) unverstellte Sphären zielen, erscheinen ihnen als anachronistische Ausflüchte. Ihre Texte stellen sich programmatisch einer unhintergehbar kulturell und medial geprägten Wirklichkeit, deren Modernität gerade darin besteht, dass kein ,Anderes‘ dieser Wirklichkeit mehr denkbar ist. Diese ironische Wendung gegen die emphatisch-moderne Suche nach dem Ursprung – und zugleich die Selbstinszenierung der „Kleinen Form“ als Genre der flüchtig-urbanen Realität der modernen Medienwelt – wird in Polgars Text Das Urich152 deutlich. Darin berichtet der Erzähler, eine flüchtige Zeitungslektüre habe das Satzfragment „,. . . so spürt das Urich sich seiner übermächtigen Leidenschaften beraubt. . . ‘“153 in seiner Erinnerung hinterlassen. Die Frage, was dieses „Urich“ sei, verfolgt ihn bis in seine Träume, und lässt sich auch durch einen Blick in den Brehm und einen Gang ins naturhistorische Museum nicht beantworten. „Auch im Konversationslexikon, wo alles vorkommt, kommt das Urich nicht vor. Es hätte dort seine Box zwischen Uribante, Fluß in Südamerika, siehe Apure . . . und Uridrosis (griech.) Harnschwitzen. Nichts da, keine Spur von einem Urich.“154 Schließlich findet der Erzähler heraus, dass seine Verwirrung dadurch entstanden ist, dass er einen Bindestrich 150 151

152 153 154

[Richter 1978, 59]. [Nietzsche 1955, 416]. Zur Rolle Nietzsches im avantgardistischen Kontingenzdiskurs vgl. auch [Schmitz-Emans 1994, 291ff., hier 292]: „Nietzsches Kritik des abendländischen Denkens zielt immer wieder auf eine Entmächtigung des bewußt-wollenden Subjekts, eine Entlarvung aller (scheinbar vernünftigen) Zwecksetzungen ab.“ Die religiöse Metaphorik im angeführten Zitat zeigt freilich, dass es Nietzsches Zarathustra ebenfalls um eine Zwecksetzung zu tun ist, die ihren tieferen Sinn mit paradoxem Überbietungsgestus gerade durch den bewussten Bruch des Versuchs nicht-kontingenter Sinnstiftung zu generieren sucht. [Polgar 1984, 19-22]. [Polgar 1984, 19]. [Polgar 1984, 20].

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übersehen hat: Das vermeintliche „Urich“ ist eigentlich das „Ur-Ich“, „das reine, der menschlichen Kreatur eingepflanzte Ego. Auch ein relativ selten und dann fast immer nur gezähmt anzutreffendes Vieh, der ganzen Aufregung und Neugier nicht wert. Aber das kommt davon, wenn man nur flüchtig die Zeitung liest.“155 Gerade die abschließend ironisch-stilisierte Selbstkritik macht freilich klar, dass die ,Flüchtigkeit‘ der Kleinen Form Methode hat und sich nicht nur kritisch von der literarischen Tradition absetzt, sondern auch von zeitgenössisch-avantgardistischen Versuchen der vermeintlich erhabenen Sinnstiftung. Entsprechend verleiht Polgar in der Glosse Druckfehler156 seiner Freude darüber Ausdruck, dass die Materialität und Medialität der Sprache sich gelegentlich subversiv gegen die Intention wendet, tiefsinnige ,Inhalte‘ zu transportieren: So könne es vorkommen, dass man in Büchern statt des offenbar geplanten Wortes „kosmisch“ das im Medium der Schrift gefährlich verwandte Wort „komisch“ lese.157 Dadurch wird zugleich Polgars desemantisierende Konzeption von Komik und insbesondere die Bedeutung der Schlusspointen seiner Feuilletons deutlich: Sie schließen die Texte zwar formal ab, versehen aber gerade diese Geschlossenheit mit der Signatur einer Dekonstruktion des Anspruchs auf einen Sinn, der – sei es aufgrund konventioneller semiologischer Konzepte, sei es im Gefolge avantgardistischer Experimente – auf das „Ur-Ich“ zielt oder sich in vermeintlich kosmischen Sphären konstituiert.

4.4 Die „Kleine Form“ als Kontingenzgattung der Moderne In einem Aufsatz über Robert Walser158 charakterisiert Walter Benjamin dessen Kurzprosa mit Blick auf einen Text über Wilhelm Tell in Absetzung von den semantisch-kompositorischen Merkmalen klassischer Literatur. Im Gegensatz zur dramaturgischen Kongruenz von Figurenzeichnung und Spannungsbogen, die sich bei Schillers Tell in einer pathetisch-apodiktischen Rhetorik manifestiert, sei Walsers Schreiben von einer „Desperadostimmung“159 geprägt: Alles scheint ihm verloren, ein Wortschwall bricht aus, in dem jeder Satz nur die Aufgabe hat, den vorigen vergessen zu machen. Wenn er in einem Virtuosenstück den Monolog: ,Durch diese hohle Gasse muß er kommen‘ in Prosa verwandelt, so beginnt er mit den klassischen Worten: ,Durch diese hohle Gasse‘, aber da packt seinen Tell schon der Jammer, da scheint er sich schon haltlos, klein, verloren, und er fährt fort: ,Durch diese hohle Gasse, glaube ich, muß er kommen‘. [Benjamin 1961, 371] 155 156 157

158 159

[Polgar 1984, 22]. [Polgar 1984’, 251-254]. Vgl. dazu [Bohn 1978, 110ff., hier 115], der „die komplizierte Wechselbeziehung zwischen Lächerlichem und Erhabenem“ als einen der zentralen Problemkomplexe von Polgars Feuilletonistik bestimmt. [Benjamin 1961, 370-373]. [Benjamin 1961, 371].

Die „Kleine Form“ als Kontingenzgattung der Moderne

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Der – an die Umgangssprache angelehnte – Einschub „glaube ich“ markiert hier eine Kontingenz der Handlung, die das Pathos der ,schicksalhaften‘ Begegnung gerade aufgrund ihrer Beiläufigkeit nicht nur einschränkt, sondern nachgerade implodieren lässt. Die Unscheinbarkeit dieses Sabotage-Akts ist typisch für die Art und Weise, wie die Texte der „Kleinen Form“ ihre ,Kleinheit‘ dem traditionellen Anspruch ,großer‘ Literatur entgegensetzen. Im Gegensatz zur emphatischen Moderne entfalten sie ihre desemantisierende Wirkung nicht durch radikale Dekomposition tradierter Formen oder Unverständlichkeit, sondern begnügen sich mit minimalen Transformationen, die die Textoberfläche kaum affizieren, bei genauer Lektüre aber ein hohes Destruktionspotential aufweisen. Im selben Aufsatz ergreift Benjamin entschieden Partei für die Vertreter der „Kleinen Form“ und weist deren Texten die Rolle einer noch immer verkannten, doch verdienstvollen literarischen Gattung zu: Was wissen wir denn überhaupt von den wenigen unter uns, die die feile Glosse auf die rechte Weise zu nehmen wissen: nämlich nicht wie der Schmock, der sie adeln will, indem er sie zu sich ,emporhebt‘, sondern ihre verächtliche, unscheinbare Bereitschaft nutzend, um ihr Belebendes, Reinigendes abzugewinnen. Was es mit dieser ,kleinen Form‘, wie Alfred Polgar sie nannte, auf sich hat, um wieviel Hoffnungsfalter von der frechen Felsstirn der sogenannten großen Literatur in ihre bescheidenen Kelche flüchten, wissen eben nur wenige. Und die andern ahnen gar nicht, was sie einem Polgar, einem Hessel, einem Walser an ihren zarten oder stachlichen Blüten in der Öde des Blätterwaldes zu danken haben.160

Während die Mehrzahl der ,Journalisten‘ (zumindest rhetorisch) die – medientheoretisch leicht nachvollziebare – Strategie einer ,Veredelung‘ des Feuilletons durch Anpassung an die „große[] Literatur“ verfolge, indem sie die genrebedingte Kontingenz ihrer Texte zu überdecken suchen, nutzen die laut Benjamin durch die zeitgenössische Kritik weitgehend verkannten Vertreter der „Kleinen Form“ gerade die „verächtliche, unscheinbare Bereitschaft“ der „feile[n] Glosse“, indem sie ihr Potential als Kontingenzgattung der Moderne programmatisch ausspielen.161 Die folgenden Lektüren der Texte Kracauers und Polgars verfolgen das Ziel, den Spielraum zu vermessen, innerhalb dessen dieses von Benjamin angedeutete Programm in der deutschsprachigen Feuilletonistik und Essayistik der Klassischen Moderne entfaltet wird. Kracauers Texte lassen sich dabei in ihrer historischen Folge als sukzessive Loslösung von den Vorgaben des ,Aufschreibesystems 1800‘ lesen, in dem das Paradigma der „große[n] Literatur“ geprägt wurde, gegen das Benjamin und mit ihm die Autoren der „Kleinen Form“ polemisieren. Sein Vorschlag einer den kulturellen Bedingungen angemessenen Reaktion auf die von Lukács diagnostizierte „transzendentale Obdachlosigkeit“ des modernen Menschen, ein Plädoyer für eine Haltung des offenen und die Widersprüche der 160 161

[Benjamin 1961, 371]. S. dazu auch [Weinzierl 1978, 107]. Vgl. dazu auch [Weinzierl 1978, 108ff.].

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Zeit aushaltenden Wartens, stellt innerhalb seines Werks die Basis einer ästhetischepistemologischen Hinwendung an das Marginale dar, das sofort ,zerrieselt‘162 , wenn man es mit den Maßstäben klassischer Ästhetik oder Philosophie misst.163 Die literatur- und kulturgeschichtliche Bedeutung dieses Wandels begründet Pralle mit dem Hinweis auf die für die maßgeblich durch Kontingenz geprägte Erfahrung der modernen Wirklichkeit konstitutive Beschleunigung.164 Dies gelte nicht nur für die bloß literarische Dimension des Genres, sondern prädestiniere die „Kleine Form“ zugleich auch, sich bestimmter philosophischer Fragestellungen anzunehmen, die im traditionellen Rahmen des philosophischen Diskurses nicht mehr adäquat thematisierbar seien: „Die mikrologischen Denkformen des Feuilletons erschlossen sich die phänomenale Welt allerdings anders als jede sei es noch so sehr den neuen Wirklichkeiten oder den ,Sachen selbst‘ zugewandte Philosophie.“165 Solche programmatischen kulturdiagnostischen, explizit auf philosophische Traditionen rekurrierenden Texte fehlen im Werk Polgars freilich ebenso wie avantgardistische Merkmale. Gerade dieses Fehlen und die deutliche Orientierung an den Kompositionsidealen der ,großen‘ Literatur erweisen sich bei Polgar aber – ähnlich wie im Falle der eingangs dargestellten Walserschen ,Übersetzung‘ klassischer Literatur ins Medium der „Kleinen Form“ – als programmatisch, da Polgar im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Avantgarde seine Aversion gegen den unter den Künstlern der emphatischen Moderne gepflegten prophetischen Gestus und die damit verbundenen semantischen Effekte einer stilisierten ,tieferen‘ Bedeutsamkeit begründet. Daher bleibt Michael Niehaus, der in ein Aufsatz über Robert Walsers Kurzprosa Polgars Prosastücke vergleichend heranzieht, mit seinem Polgar abwertenden Urteil – seine Texte seien deutlich ,konventioneller‘ als die Walserscher, da sie etwa an der Kategorie des geschlossenen Werks festhielten –166 hinter der historischen Komplexität des ästhetischen Spannungsfelds zurück, das die Poetologie der „Kleinen Form“ bestimmt: Misst man die ,Modernität‘ von Texten und Kunstwerken nicht pauschal am Grad ihrer Abweichung von traditionellen Normen, sondern berücksichtigt auch die semantische Aufladung der 162 163

164

165 166

„[. . .] [A]m liebsten zerrieselte ich“, bekennt Kracauers Figur Ginster, vgl. [Kracauer 2004”, 132]. In diesem Sinne bemerkt [Niefanger 1994, 266] zu Kracauers Romanheld Ginster: „Sein irrationaler Blick hebt sich irritierend von der angepaßten Sprache rationaler Ordnung ab. Diesem Charakteristikum der modernen Kriegsgesellschaft steht Ginster vor allem durch seine verfremdete Sprache und nicht durch renitente Handlungen distanziert gegenüber.“ „Der Übergang des 19. Jahrhunderts in die Welt des folgenden war in Hinsicht auf ihr Selbstbewußtsein sowohl ein Wechsel vom Paradigma der Begriffssysteme zu dem feuilletonistischer Diagnostik als auch ein Wechsel des Tempos. [. . .] [D]ie Gegenwartswelt im Feuilleton zu explorieren statt das dem gravitätischeren Denken der Philosophie zu überlassen, war Reflex auf die Beschleunigung der Geschichte. Sie erforderte einen eigenen Habitus des Denkens, eine Geistesgegenwart, die nicht mehr geruhsam im Horizont von Tradition und Nachwelt dachte, sondern sich die elementare Figur der Moderne anverwandeln mußte, unterm Prärogativ einer als ständiger Übergang zu verstehenden Gegenwart zu stehen, der sich ihre Zeithorizonte mit jeder Wendung neu abzeichneten.“ [Pralle 1996, 67]. [Pralle 1996, 68]. Vgl. [Niehaus 2007, 175f.].

Die „Kleine Form“ als Kontingenzgattung der Moderne

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Orientierung bzw. des Verstoßes gegen solche ,Konventionen‘, so stellt man im Falle Polgars und Kracauers fest, dass die offensichtliche Tendenz zur Zuspitzung und formalen Abgeschlossenheit der Texte gerade keine semantische ,Abrundung‘ impliziert. Als Indiz dafür nennt Weinzierl im Hinblick auf Polgar die Tatsache, dass seine Texte trotz ihrer Kürze, stilistischen Brillanz und ,Geschlossenheit‘ nie kanonisiert wurden: „Eben diese Kombination aus sprachlicher Präzision, Bosheit – mit Karl Kraus als ,untrügliche Witterung für alles Mausihafte‘ verstanden – und einem völlig unaufdringlichen politischen Engagement, macht Polgar zu einem beachtenswerten Sonderfall innerhalb der österreichischen Literatur. Vielleicht ist es ihm gerade deshalb – obwohl der geringe Umfang seiner Texte ihn dazu prädestinierte – die Kanonisierung als Lesebuchautor verwehrt bzw. erspart geblieben.“167 Der Text Synkope168 zeigt paradigmatisch, wie spielerisch kunst-, zeit- und sozialkritische Reflexionen in seinem Werk mit ästhetischen und poetologischen Problemen verbunden werden. Ausgangspunkt ist dabei eine detaillierte Beschreibung des Spielens eines Jazzschlagzeugers: Der Mann, der hinter dem Schlagwerk der Jazzband sitzt, hält es durchaus mit den Schwächeren. Ein Freund der geringen, der unbetonten Taktteile ist er. Er tut für seine Schützlinge, was er nur kann, schiebt sie in den Vordergrund, rettet sie, mit markigen Schlägen den Rhythmus teilend, wenn sie in diesem untergehen wollen. Etwas Justamentiges, Revolutionäres ist in seinem Getrommel. Gegen den Strich trommelt er. Sein Schlagwerk hat es sich zum Gesetz gemacht, dem rhythmischen Gesetz nicht zu folgen, dem die brave Geige und das brave Klavier bis zum letzten Hauch von Darm und Metall gehorchen. Es tut, was es will, zigeunert durch die Zeitmaße. Wenn die anderen vier Tempi machen, macht er fünf. [Polgar 1983, 172]

Wie der Jazzmusiker wendet sich auch Polgars „Kleine Form“ dem „[G]eringen“ und „[U]nbetonten“ zu und betont gerade dieses – nach traditionellen musikalischen, philosophischen und literarischen Maßstäben – „Schwächere[]“, indem sie „mit markigen Schlägen“ die rhythmische Ordnung stört, welche die Unterscheidung zwischen Zufällig-Beiläufigem und Notwendig-Wesentlichem letztlich erst konstituiert. Dieser „[r]evolutionäre[]“ ,Einsatz‘ für das Kontingente lässt sich freilich nie direkt aus den unterlaufenen Ordnungen herleiten. Das paradoxe „Gesetz“ der ,Gesetzlosigkeit‘ kann systemintern zunächst nur konstatiert oder rhetorischpolemisch gegen die „brave“ etablierte Musik, für die Geige und Klavier hier einstehen, stark gemacht werden. Die moderne Ästhetik der Kontingenz, die programmatisch „tut, was [sie] will“, indem sie „durch die Zeitmaße“ „zigeunert“, wird im Folgenden aber mit Verweis auf die aktuelle Wahrnehmung von Wirklichkeit als eine Art Mimesis zweiter Ordnung lesbar gemacht:169 „Die Synkope ist ein 167 168 169

[Weinzierl 1978, 154]. [Polgar 1983, 172-174]. Die von [Philippoff 1980, 38] vorgeschlagene Deutung der genannten Paradigmenwechsel im Sinne eines Nihilismus-kritischen ,Moralismus‘ Polgars verfehlt gerade die Modernität der Texte Polgars.

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Symbol unserer widerspenstigen Tage, das Symbol einer aus dem Takt geratenen Welt, die doch nicht aufhören kann und mag, in Brudersphären Wettgesang zu tönen.“170 Der parodistische Bezug auf den Prolog im Himmel aus Goethes FaustDrama verleiht Polgars Bewertung der modernen Wirklichkeit eine diabolischmephistophelische Signatur.171 Während im Klassischen Drama die Position des spöttischen „Schalk[s]“172 dialektisch durch das faustische Streben nach Perfektion und nach Antworten auf Fragen wie die, was „die Welt im Innersten“173 zusammenhalte, aufgehoben ist, erscheint die Moderne im Medium der „Kleinen Form“ als eine Epoche, die maßgeblich durch die „Geister, die verneinen“174 geprägt ist: Die kleinen Leute haben auch schon was mitzureden. Sie behaupten obstinat, daß sie da sind. Der Rhythmus, nach dem die Himmelskörper kreisen, ist nicht so unverbrüchlich fixiert, wie wir dachten. Die Einsteinsynkope hat ihn auf ziemlich irritierende Weise gelockert. Die Wissenschaft von der Seele legt auf das vom Bewußtsein nicht Betonte den gewichtigsten Ton. Die Maler nehmen den Akzent vom Sinnfälligen der Erscheinungen fort und legen ihn auf das Wesentliche. Die Stückeschreiber liefern Stücke mit mehreren beweglichen Schwerpunkten, the syncopated drama. Die Romanschriftsteller lassen die Kapitel ungeschrieben und schreiben das, was zwischen den Kapiteln steht. [. . .] Frau Goldstein spielt mit Herrn Goldstein taktvoll die Ehepièce. Der Ton aber liegt auf dem Skilehrer mit den eisblauen Augen. Ehen ohne Synkopen gab es vielleicht zur Walzerzeit. Die Musik der Sphären wird von einer Jazzband besorgt. Und der Mensch muß ganz neue Schritte lernen, wenn er zu ihr mit Grazie tanzen will. [Polgar 1983, 173f.]

Polgars textuelle Sabotage richtet sich hier also gegen die Autorität der Repräsentanten des Aufschreibesystems 1800, die im ästhetischen Diskurs noch immer bestimmend sei, obwohl man bei kritischer Sichtung der Gegenwart zur Diagnose gelangen müsse, dass die „Musik der Sphären [. . .] von einer Jazzband besorgt“ wird. In deutlicher Nähe zu Hugo Balls „drei Dingen“175 nennt Polgar die Auswirkungen der politisch-gesellschaftlichen Demokratisierung, die als „Einsteinsynkope“ betitelte Relativitätstheorie, die Psychoanalyse sowie Paradigmenwechsel in Malerei, Dramaturgie und Romanpoetik. Etabliert dieser Katalog kompositorisch selbst einem recht dominanten Rhythmus, so kann der abschließende burleske Kalauer (über das nachwalzerzeitliche Eheleben der Goldsteins) in diesem Kontext als Synkope gelesen werden, die den vorangegangenen wissenschaftlichsoziologischen Rundumschlag wieder relativiert. Polgars Pointentechnik erweist sich gerade in diesem Zusammenhang, in dem es deutlich um die Frage einer globalen Theorie der modernen Kultur geht, als rhetorisches Mittel zur Stiftung von 170 171 172 173 174 175

[Polgar 1983, 173]. [Goethe 1998’, 16-19]. [Goethe 1998’, 18]. [Goethe 1998’, 20]. [Goethe 1998’, 18]. [Ball 1984, 41].

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Disharmonie, mit dem der Erzähler abschließend nochmals „[g]egen den Strich“ des zuvor entwickelten Weltbilds „trommelt“. Die – auf das ganz konkrete, alltägliche Leben bezogene – Pointe bildet nicht zuletzt eine Text-Marke des Scheidewegs von modernitätsskeptischen Formen der Kulturkritik, die zwar – prominenterweise bei Spengler – ebenfalls oft ,essayistisch‘ verfasst ist,176 doch gerade nicht der Polgarschen Programmatik der „Kleinen Form“ folgt, sondern sich mit dem Gestus besonderer Tiefgründigkeit der von Polgar abschließend formulierten Forderung der Moderne zu verweigern sucht, wonach „der Mensch ganz neue Schritte lernen“ müsse, wenn er zu ihren Klängen „mit Grazie tanzen“ wolle. Als traditionelle epische Großform gehört der Roman zu den bevorzugten Angriffszielen der Sabotageakte der Vertreter „Kleinen Form“. Diese Attacken gelten freilich vor allem der gattungspoetischen Idealisierung und Stilisierung großepischer Werke zu anthropologisch-philosophischen Fixpunkten von unumstößlicher, überzeitlicher ,Gültigkeit‘, die angesichts der modernen Wirklichkeit bloß noch wie anachronistische rhetorische Hülsen wirken: „,Kleine Leute‘, ,Kleine Welt‘, ,Kleine Zeit‘ – Polgar-Titel, die unter anderem Ausdruck einer Rebellion gegen die blinde Schätzung des großen Themas sind.“177 So polemisiert Polgar in seiner programmatischen Glosse Die Kleine Form178 gegen Erzählliteratur „mit geschwollnem Wanst“179 und formuliert hohe Ansprüche an den Stoff eines Romans: „Ich meine, es müssen schon säkulare Gedanken, Welt-Gesichte von besonderster Klarheit und Tiefe, eine mehr als großartige Phantasie sein, für deren Unterkunft die Architektur etwa des Romans bemüht werden dürfte. Geringeres in dieser hohen Form scheint so lächerlich wie trautes Heim im Monumentalbau.“180 Sein Bekenntnis „Ich kann keine Romane lesen“181 korrespondiert deutlich mit ähnlich lautenden Bekundungen Karl Kraus’: Da ich infolge einer angeborenen Unzulänglichkeit Romane nicht zu Ende lesen kann, indem ich, der imstande ist, sechzehn Stunden ohne Unterbrechung und ohne Ermüdung zu arbeiten, schon bei dem geringsten Versuch, mir zu erzählen, daß Walter beim Betreten des Vorzimmers auf die Uhr sah, was mich so wenig angeht wie alles was weiter geschah, in tiefen traumlosen Schlaf verfalle, so sind mir sicherlich, nebst allem, was die Menschheit in Spannung versetzt, zahllose Perlen entgangen, die gesammelt ein Schatzkästlein deutschen Humors ergeben würden. Selbst die anerkanntesten Abkürzer [. . .] konnten mir’s nicht leichter machen, da ich mir eben nichts ,erzählen‘ lasse und mir die letzte Lokalnotiz oder deren Dichtung bei Peter Altenberg stets unendlich mehr gesagt hat [. . .].182 176 177 178 179 180 181 182

Vgl. dazu auch [Griesecke 2006, 162ff.]. [Bohn 1978, 173f.]. S. dazu auch [Philippoff 1980, 80f.]. [Polgar 1984, 369-373]. [Polgar 1984, 373]. [Polgar 1984, 372]. [Polgar 1984’, 259-263]. Karl Kraus: Die Sprache. München 1954. 207f., zitiert nach [Bohn 1978, 193].

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Gleichwohl werben weder Kraus noch Polgar mit ihren Plädoyers gegen den Roman für eine journalistische, nichtfiktionale literarische Kultur. Im Gegenteil bekräftigen sie damit gerade ihre Ablehnung eines literarisch-künstlerischen ,Realismus‘, bei dem das ,Was‘ gegenüber dem ,Wie‘ dominiert. So kommt es bei Polgar letztlich weniger auf die narratologische ,Feststellung‘ als auf ihre hochartifizielle Formulierung an: Romane zu schreiben heiße demnach „Wasser ins Meer tragen, Sand in die Wüste, Tradition ins Burgtheater, Bewohner in Potzners Wohnung, Wind nach Wien, Esprit nach Prag, Eulen in verfallene Schlösser, Griechen nach Athen, Langeweile in literarische Zeitschriften, Gänsebrust nach Pommern, Genies zu Schwannecke.“183 Während die ersten beiden Items anhand relativ ordinärer geographischer Beispiele die semantische Funktionsweise des Katalogs etablieren, mischt der Erzähler im Folgenden Vergleiche lokalkultureller, kulturkritischer und idiomatischer Provenienz. Neben den in ihrer Beiläufigkeit meisterlichen Invektiven gegen hochkulturelle Institutionen wie das traditionsreiche Burgtheater oder die langweiligen Literaturzeitschriften (deren Selbstinszenierung entweder maliziös zitiert oder radikal konterkariert wird) spielt der Feuilletonist hier in nur sechs Worten zwei Metropolen des alten habsburgischen Reichs gegeneinander aus und demonstriert so in actu sein stilistisches Ideal der „Kleinen Form“, die hundert Zeilen lieber zu zehn verdichte, statt, wie die von ihm attackierten Romanciers, zu tausend ,aufzuschwemmen‘.184 Die Auflösung der Redensart Eulen nach Athen tragen ist dabei paradigmatisch für Polgars narrative Kunst, die nicht nur in diesem Beispiel vor allem eine Kunst des gestaltenden und subtil verunstaltenden Umgangs mit der Sprache ist. Auf dieser Mikroebene wird der Unterschied zum selbstzufriedenen „Wiener Feuilleton“, das seine Montagen ornamental betreibt und seine Gegenstände dadurch harmonisch und abgerundet erscheinen lässt, besonders deutlich. Ohne in diskursive Sprachkritik oder gar -philosophie abzugleiten, gestaltet Polgar seine Texte kunstvoll brüchig und betont mit seinen Pointen jeweils gerade die feinen und feinsten Risse in ihrem ,Gewebe‘. Charakteristisch dafür ist seine Dekonstruktion des humanistisch-prätentiösen Geists der Redensart „Eulen nach Athen tragen“ in der Textpassage, die er gerade dadurch erreicht, dass er die „Eulen“ wieder wörtlich nimmt und in verfallenen Schlösser ansiedelt und stattdessen Griechen nach Athen schickt. Mit diesem außergewöhnlich bewussten Umgang mit dem semantischen Potential der Sprache – und, mehr noch, seinen Störungen –, unterscheidet er die „Kleine Form“ gleichermaßen von einer emphatisch-prophetischen Avantgarde und ihren radikalen, mal destruktiven, mal utopisch aufgeladenen Sprachspielen wie von einem anachronistischem narrativen Realismus, der Sprache und Form tendenziell als bloßes Medium des ,Erzählens‘ marginalisiert. Aus dieser Perspektive ist es weit mehr als ein polemische Spitze gegen epische Großformen, wenn der Wiener Feuilletonist verkündet:

183 184

[Polgar 1984’, 262]. [Polgar 1984, 372].

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Was ich hingegen gern lese, sind Grammatiken. Jeder Sprache. Grammatiken haben so was wundervoll Kühles, Hartes, Dauerhaftes. Sie verhalten sich zur Literatur wie Skelett zu Weichteilen. [. . .] Hier, in der Grammatik, liegt, auseinandergenommen, das Elementargerüst aller denkbaren Denkgebäude bloß, mit Nuten, Klammern, Traversen, Stiften. Alles kann draus werden. Es gibt kein moderneres Buch als eine Grammatik, sie ist ganz Expression, voll Geheimnis und doch durchsichtig wie die Luft eines Frühjahrsmorgens. [. . .] Und wie das Leben selbst hat sie Gesetze, die man niemals auslernt, ist immer neu, zumindest wenn man, wie ich, sie nicht studiert, sondern nur liest. Bin ich hinten, bei der Veränderlichkeit des participium passivum der rückbezüglichen Zeitwörter angekommen, habe ich das Kapitel vom Konjunktiv in Relativsätzen längst vergessen. Ich kann jedes Kapitel immer wieder neu lesen, bin immer wieder überrascht von den Neuigkeiten, die es mir mitzuteilen hat. Versuchen Sie das mit dem ,Zauberberg‘. [Polgar 1984’, 262f.]

Auch Polgar bezeichnet Romane als „zeitraubend“: Seien sie doch „voll mit lästiger Beschreibung, mit Nebenbei und Rundherum und Zwischendurch, mit Meublement, Landschaft, Kleidern, Geräten, Frisuren, Augen-, Mienenspiel, Witterungserscheinungen, Formalitäten, [. . .] ausgewickelt [. . .] [,] breit und zäh, kurz: [. . .] episch.“185 Diese süffisante Aufzählung „lästiger“ Charakteristika großepischer Texte weist dieselbe Stoßrichtung auf wie die kritische Gattungsreflexion in Musils Mann ohne Eigenschaften. Polgars Abscheu gegenüber der Schilderung von „Witterungserscheinungen“ etwa entspricht der Dekomposition des narrativen Anfangstopos vom „schönen Augusttag des Jahres 1913“, den Musils Erzähler sogleich für „altmodisch“ erklärt und sich bemüht, seine ,Erzählung‘ programmatisch von in diesem Sinne „episch[er]“ Prosa zu unterscheiden. Wie Musil wenden sich auch Polgar und Kraus mit ihrer Infragestellung der großepischen Tradition vor allem gegen das Ideal einer mimetischen ,Abbildung‘ der Wirklichkeit, das bei Musil zu den zentralen Merkmalen des „primitiv Epischen“ gehört.186 Musils Mann ohne Eigenschaften und der Diskurs der „Kleinen Form“ folgen also einer gemeinsamen, desemantisierenden Poetologie der Kontingenz, zu deren zentralen Merkmalen es gehört, die Unangemessenheit (heroisierender) Romanpoetiken auszustellen und Realitäts- und Kulturkonzepte zu verabschieden, die der Komplexität und der Kontingenz der modernen Wirklichkeit nicht gerecht werden. In diesem Sinne bekundet Polgar, er könne „zur Not verstehen“, „[d]aß Schriftsteller Zeit finden, weitläufig zu schreiben [. . .]: der Dämon treibt, Fülle drängt sie, der gewaltige Strom gräbt sich sein gewaltiges Bett. Da kann man nichts machen.“187 Der Wiener Feuilletonist operiert hier als Beobachter zweiter 185 186

187

[Polgar 1984’, 262]. Vor dem Hintergrund ist es fraglich, ob [Philippoff 1980, 82] zuzustimmen ist, wenn sie im Zusammenhang mit Polgars Vorbehalten gegenüber großen epischen Formen ausführt: „Wenn Polgar auf dem Gebiet der Epik mit Lob sehr sparsam umgeht, war er sich der geistigen Dimension gewisser Schriftsteller durchaus bewußt. Joyce und Musil werden als überlegene geistige Größen anerkannt.“ Sie weist auch darauf hin, dass der Mann ohne Eigenschaften das „einzige epische Großwerk“ sei, „das Polgar schätzt“; vgl. [Philippoff 1980, 84]. [Polgar 1984, 373].

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Ordnung, der die rhetorisch-semantischen Strategien, mit denen Schrifststeller literarische ,Größe‘ und ,Bedeutung‘ konstruieren, durch eine subtile Karikatur derselben entlarvt („der gewaltige Strom gräbt sich sein gewaltiges Bett“) und en passant als pathologische Form des Egozentrismus ,erklärt‘: Aber daß Menschen dieser tobenden, von nie erlittenen Wehen geschüttelten Epoche Ruhe und Zeit, innere Zeit finden, weitläufig zu lesen, ist mir ein rechtes Mirakel. Ein großes Beben wirft um, was steht, versenkt das sicher Gegründete, treibt neuen Erdgrund hoch: wie vermessen, auf solchem Boden schwer und massiv zu bauen! Ewigkeiten erweisen sich als zeitlich, die solidesten Götter als Götzen, alle Anker sind gelichtet, kein Mensch weiß, wohin die Reise geht, aber daß sie geht und wie sausend rasch sie geht, spüren wir am Schwindel: wer wollte da mit überflüssigem Gepäck beladen sein? [Polgar 1984, 373]

Diese ironisch-allegorische Aufforderung Polgars, auf dem „Boden“ der Gegenwart nicht mehr „schwer und massiv zu bauen“, stehen in deutlichem intertextuellem Bezug zu Lukács’ (deutlich gravitätischerer) Rede von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ des modernen Menschen. Im Folgenden werde ich zeigen, wie sich die „Kleine Form“ als Kontingenzgattung der Moderne etabliert, indem sie sich diesem Befund ästhetisch und epistemisch zu stellen und damit die – als solche anerkannte – Obdachlosigkeit in paradoxer Weise zu ihrem Obdach zu machen sucht. 4.4.1 Obdachlosigkeit als Obdach: Die vagabundische Signatur der „Kleinen Form“ Georg Lukács hat mit der Rede von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“188 in seiner Theorie des Romans eine der zentralen geschichtsphilosophischen Formeln für die radikal durch Kontingenz geprägte Grundbefindlichkeit des modernen Subjekts geprägt.189 Die Folie dieser negativen Charakterisierung der Moderne bildet das „Weltzeitalter des Epos“190 , für das paradigmatisch das homerische Griechenland stehe, das „nur Formen, aber kein Chaos“191 kenne. Während diese Epoche durch eine allgemeine Kongruenz von Ich und Welt bestimmt sei, geistige Betätigung bloß als „das passiv-visionäre Hinnehmen eines fertig daseienden Sinnes“ auffasse und die „Welt des Sinnes“ als „greifbar und übersichtlich“ erlebe,192 sei dieser geschlossene Kreis „für uns gesprengt“193 . In der ,offenen‘ Welt sei das Ideal der Perfektibilität grundsätzlich nicht mehr einlösbar: 188 189 190 191 192 193

[Lukács 1971, 32]. Vgl. dazu [Makropoulos 1997, 111ff.]. [Lukács 1971, 22]. [Lukács 1971, 23]. [Lukács 1971, 24]. [Lukács 1971, 25].

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Unsere Welt ist unendlich groß geworden und in jedem Winkel reicher an Geschenken und Gefahren als die griechische, aber dieser Reichtum hebt den tragenden und positiven Sinn ihres Lebens auf: die Totalität. Denn Totalität als formendes Prius jeder Einzelerscheinung bedeutet, daß etwas Geschlossenes vollendet sein kann; vollendet, weil alles in ihm vorkommt, nichts ausgeschlossen wird und nichts auf ein höheres Außen hinweist; vollendet, weil alles in ihm zur eigenen Vollkommenheit reift und sich erreichend sich der Bindung fügt.194

Im Gegensatz zu traditionsorientierteren ästhetischen, philosophischen und kulturkritischen Diskursen, die diese Situation beinahe automatisch als Symptom einer fundamentalen Krise deuten, lässt sich in den Texten, die der „Kleinen Form“ oder der avantgardistischen bzw. emphatisch modernen Ästhetik zugeordnet werden können, eine deutliche Tendenz feststellen, diesen Befund als unhintergehbare Grundlage anzuerkennen. In diesem Sinne deutet Vidler die Hotelhallen und Passagen, die in den Texten Adornos, Kracauers und Benjamins omnipräsent seinen, als „emblematische[] Räume“, die „durch all ihre Texte als Symbole des Nomadentums, des Konsumfetischismus und des vertriebenen Individualismus modernen Lebens in der Großstadt [geistern].“195 Die „Kleine Form“ fungiert diesbezüglich aber als eine Gattung, die dieses „Nomadentum“ reflektiert. Schärf spricht sogar vom „Vagantenleben“196 des Essays in der Geistesgeschichte: Nicht erst in der Moderne, sondern schon seit ihrer Entstehung trage das Genre die Signatur des krisenbedingten Neuanfangs. Die genuinen Voraussetzungen des Essay bestünden gerade „in der tabula rasa aller Illusionen, in der radikalen Selbsthinterfragung des Ich und in dem Versuch, eine neue Art von Realismus an die Stelle der Verklärungsmodelle der Religion und der Vernunftgebäude der Philosophie zu setzten.“197 Mit Blick auf Kracauer stellt Polan unter Berufung auf Traverso fest: „Souvent, la pensée et la vie de Siegfried Kracauer se trouvent qualifiées (même par lui-même) d’,extra-territoriales‘, ne trouvant aucun lieu – soit géographique, soit intellectuel –“198 Im Folgenden soll freilich nicht das ,Denken‘ und ,Leben‘ bestimmter ,Intellektueller‘ im Sinne historischer Personen beurteilt werden, sondern die Texte der „Kleinen Form“: Ich schließe mich damit einem kritischen Hinweis Niefangers an, der in einem Aufsatz über „Außenseiterkonzeptionen in 194 195 196 197

198

[Lukács 1971, 26]. [Vidler 1996, 87]. [Schärf 1999, 15]. [Schärf 1999, 25]. [Schärf 1999, 17] deutet weiterhin an, dass die Dominanz dieses Topos in der modernen Geistesgeschichte als Gegenbewegung bzw. sogar als Korrektiv der von Seiten der Naturwissenschaften propagierten Allmacht des Subjekts verstanden werden könne: „Seit sich das Subjekt zur Sprache bringt, bildet die Basis seines Sprechens eine Skepsis, die zugleich die Basis des Essays ist. Diese Haltung aber ist keineswegs selbstbezogene Grübelei, sondern repräsentiert eines der wichtigsten Gärungsphänomene der Neuzeit. Die Skepsis des Ich bildet die gegenläufige Melodie zum Ostinatobaß des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts, der die Neuzeit in die Moderne hineingetrieben hat [. . .].“ [Polan 1996, 299]. Die Verfasserin bezieht sich dabei auf eine Schrift von [Traverso 1994], der Kracauer als „intellectuel nomade“ sieht.

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Siegfried Kracauers Prosa“199 zurecht moniert, die Kracauer-Forschung habe sich bislang – scheinbar legitimiert durch die autobiographischen Motive insbesondere des Ginster-Romans – zu sehr der Person Kracauers gewidmet, statt seine Texte und Figuren zu fokussieren.200 Ich werde im Folgenden zeigen, wie die Texte Kracauers und Polgars diese Obdachlosigkeit in je eigentümlicher Weise zu ihrem Obdach machen. Der 1873 (!) geborene Alfred Polgar verübt in der folgenden Autobiographischen Notiz Sabotage am eigenen Nachruhm: Wurde 1875 in Wien geboren. Mein Vater war Musiker. Ich habe vielerlei studiert und nichts gelernt. War Journalist, Parlamentsberichterstatter, Theaterkritiker. Übersiedelte 1927 nach Berlin und ging 1933 wieder nach Wien zurück. Besondere Kennzeichen meines Lebens: keine. [Polgar 1984, 390]

Mit dieser koketten Selbstinszenierung als intellektuell ebenso wie geographisch201 Heimatloser knüpft Polgar beinahe wörtlich an die diabolisch-statistische Charakterisierung des „Mannes ohne Eigenschaften“ an, von dem die Polizei feststellt: „besondere Kennzeichen hatte er keine“202 . Deutlicher noch als Musils Ulrich-Figur versteht sich Polgars „Ich“ offenbar als Mann ohne Eigenschaften, dessen als kontingent markierte akademische Ausbildung keinen ,gebildeten‘ Menschen hervorbringt, sondern einen „Journalist[en], Parlamentsberichterstatter, Theaterkritiker“. In der hierdurch angedeuteten Logik ist in nuce bereits das Postulat enthalten, dass die heterogene Kultur der Moderne grundsätzlich nicht mehr im Rahmen von Großformen abbildbar ist, denen – auf kompositorischer ebenso wie auf Figuren-Ebene – das klassische Modell abgerundeter ,Bildung‘ zugrunde liegt. Das im Text angegebene Geburtsjahr, das eben nicht das des Autors ist, der doch im Titel behauptet, hier zumindest stichwortartig über sich selbst Auskunft zu erteilen, lässt sich im Sinne eines – leicht zu übersehenden – textellen Sprengsatzes lesen, der jeden Versuch, einer „[a]utobiographischen Notiz“ autobiographische ,Informationen‘ zu ,entnehmen‘, sabotiert. In seiner Monographie zu Polgars Kritische[n] Erzählungen erläutert und kontextualisiert Bohn diese subversive Strategie in einem mit „Diskretion“ überschriebenen Abschnitt: „Die Tatsache, daß Lexika, auch einschlägige, bis heute verschiedene Geburtsdaten Polgars angeben, daß zu seinen Lebzeiten Geburtstagsjubiläen selbst in den Zeitungen und Zeitschriften, deren Mitarbeiter er war, zu verschiedenen Terminen gewürdigt wurden, ohne daß Polgar diesen Zustand zu beseitigen etwas unternahm, korrespondiert deutlich mit den von Kraus geäußerten ,Bedenken, irgendjemandem außer einer Paßbehörde 199 200 201

202

[Niefanger 1994]. [Niefanger 1994, 253]. [Weinzierl 1978, 154] weist auf die paradoxe Tendenz hin, dass das „spezifisch Österreichische[]“ an Polgars Texten „oft in der Ablehnung desselben bestand“. Dies zeigt sich etwa in der emphatischen Ablehnung des „Wiener Feuilleton[s]“ durch den Wiener Feuilletonisten, vgl. dazu nochmals [Polgar 1984’, 200-205]. [Musil 19781 , 159]. S. dazu auch die Ausführungen im zweiten Kapitel.

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auch nur zu sagen, wann er geboren wurde‘[. . .].“203 Bei Polgar und Kraus wird die ironische Akzeptanz der Obdachlosigkeit also offenbar von einem liberalistischen Wunsch nach Selbstbestimmung grundiert, Kontingenz also – freilich in anderer Akzentuierung als in der klassischen Philosophie – als Ermöglichungsgrund persönlicher Freiheit verstanden. Trotz seines programmatischen Einsatzes für die ,kleinen Leute‘ ist Polgar daher gegenüber dem Kommunismus skeptisch, da dieser die Möglichkeiten des Alleinseins dezimiere.204 Auch im (ebenfalls als autobiographisch ausgegebenen) Text Interview205 stellt sich der Ich-Erzähler als ein durch sein erstes Interview indignierter Feuilletonautor vor206 und präsentiert dieses Ich als völlig kontingente, leicht dekomponierbare Nicht-Einheit. Die textuelle Sabotage macht also in prononcierter Weise auch – und gerade – vor dem Saboteur selbst keinen Halt. Schon einige „ganz präzise“207 Eingangsfragen von Seiten des Interviewers nötigen den Interviewten zu einem als unangenehm ausgegebenen Geständnis: „[. . .] [B]ei mir ist doch eine Unordnung, ein Durcheinander, eine Sauwirtschaft! Mußte vor dem Herren schamrot werden.“208 Wie wenig wörtlich dieses Erröten angesichts der eigenen weltanschaulichen Desorientierung zu nehmen ist, wird im weiteren Verlauf des Berichts deutlich, der schließlich zu einer subtilen Karikatur der Krisendiskurse der Klassischen Moderne wird: Gezwungen, einem Spaziergänger durch meine Landschaft den Führer zu machen, merke ich konsterniert, daß ich mich gar nicht auskenne, weiß nicht die geringste klare Auskunft zu geben über Lage, Genesis, Geschichte der durchwanderten Örtlichkeiten, sehe nur Nebel und vor lauter Nebel nirgendwo deutliche Kontur. Alles fließt und verschwimmt. Ich lebte still und friedlich, bis der Interviewer kam. Seine Fragen enthüllten meine schauerliche Ahnungslosigkeit in puncto ich, und wie der Meyrinksche Tausendfüßler sich nicht mehr vom Fleck rühren konnte, als ihm die Tausendzahl seiner Füße zu Bewußtsein kam, so ging mir alle innere Balance verloren, als ich der tausend Sicherheiten bewußt wurde, die ich nicht habe. In den eigenen Abgrund gestürzt. Oder: Verirrt in sich selbst. Oder: Schreckliches Erwachen eines Tagwandlers. [Polgar 1984, 368]

Der Erzähler knüpft zwar – mit maliziöser Bereitwilligkeit – an die durch traditionelle Innerlichkeits-Konzepte bereitgestellte Metaphorik der Seelen-Landschaft an, die eine Erkundung und Beschreibung des eigenen ,Inneren‘ erleichtern soll, lässt aber im entscheidenden Augenblick dichten Nebel aufziehen, der die erwarteten „Kontur[en]“ in lauter Ambiguitäten auflöst. Ohne seinerseits die Existenz 203 204 205 206 207 208

[Bohn 1978, 181ff., hier 181f.]; der Verfasser zitiert [Kraus 1962, 387]. Vgl. [Polgar 1984’, 260]. Vgl. [Polgar 1984, 367-369]. Polgar ist u.a. von Robert Musil interviewt worden: Vgl. dazu [Weinzierl 1978, 84]. [Polgar 1984, 367]. Ebd.

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einer mentalen Ordnung (etwa nach den Vorgaben Machs oder Nietzsches) emphatisch bestreiten zu müssen, macht der Erzähler als Saboteur diese Ordnungen ironisch indisponibel. In diesem Sinne lassen sich Polgars Texte durchgängig als engagiertes Dementi eines Autorschaftskonzepts lesen, das sich als „Führer“-schaft versteht – und sei es durch die ,Tiefen‘ des eigenen ,Wesens‘, die aus Polgars Sicht immer schon Untiefen darstellen. Wenn Polgar die obige Passage in eine Reihe möglicher Zeitungsschlagzeilen münden lässt und kurz zuvor darauf hinweist, er wisse über sich „gar nichts [. . .], außer vielleicht so bißchen was, das mir durch Tratsch zu Ohren gekommen ist“209 , so spielt er mit den ästhetischen Vorbehalten gegenüber der „Kleinen Form“, die – im Gegensatz zu ,ernsthaften‘ Dichtern, Wissenschaftlern und Philosophen ihre fragmentarischen Kenntnisse vor allem aus Zeitung und Salongespräch beziehe. Der scheinbar kompromittierende Hinweis auf das schillernde Genre fungiert hier freilich als Reflexions- und Distinktionsmarker und macht deutlich, dass Polgar die der eigenen literarischen Form von jeher zugeschriebene Kontingenz als rhetorische Basis seiner radikalen Beobachterposition nutzt, die einerseits einen desillusionierenden Blick auf anachronistische Figurationen ästhetischer Notwendigkeit, andererseits aber auch eine spielerische Distanzierung von katastrophischen oder kriseologischen Ich-VerlustDiskursen ermöglicht. Polgars „Kleine Form“ antwortet damit auf die zeitgenössische Überzeugung der Unmöglichkeit einer narrativen Abbildung von ,Weltbildern‘ in der Moderne, wie Arno Holz sie paradigmatisch formuliert: Ein ,Weltbild‘ heute noch in den Rahmen irgend einer ,Fabel‘ oder ,Handlung‘ spannen zu wollen, hätte mir kindlichstes Vermessen geschienen! Was zu einem Weltbild heute ,gehört‘, ist in seinem einzelnen Bestandteilen zu weit auseinanderliegend, in seinen Elementen zu buntwimmelnd kaleidoskopisch, als daß auch die komplizierteste, raffinierteste ,Legende‘ imstande wäre, für einen solchen ,Inhalt‘ den dazu nötigen Untergrund zu schaffen!210

Wenn in Polgars Feuilletons der überkommene Wunsch nach (transzendentaler) Behausung kaum je ernsthaft vorgebracht, sondern meist nur ironisch alludiert und sogleich wieder unterlaufen wird, so verweist diese poetologisch im Namen der „Kleinen Form“ reflektierten Haltung des distanziert beobachtenden, zugleich aber selbst ausgelieferten Saboteurs historisch auf die Schelmenliteratur: Bachtin zufolge sei es das Hauptmerkmal der Schelmen, „fremd auf dieser Welt zu sein. Mit keiner der auf dieser Welt vorhandenen Lebenslagen solidarisieren sie sich, nicht eine behagt ihnen; sie bemerken die jeder Lage anhaftende Kehrseite und Lüge. [. . .] Damit war die Seinsform eines Menschen gefunden, der am Leben unbeteiligt teilhat, der es immer nur beobachtet und es widerspiegelt.“211 209 210 211

[Polgar 1984, 367]. Arno Holz: Die neue Wortkunst. In: Ders.: Das Werk Bd. X. Berlin 1925. 651, zitiert nach [Baßler u.a. 1996, 320]. [Bachtin 1989, 94/97]. S. dazu auch [Lau 1996, 20].

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Gegenüber Polgars in diesem Sinne schelmenhafter Auseinandersetzung mit Lukács’ geschichtsphilosophischem Diktum in Kracauers Texten eine oft existentiell anmutende, konstitutive Bedeutung, die sich ex post als – durchaus gebrochener – epistemisch-ästhetischer Weg in die Moderne rekonstruieren lässt. Sein Abschied von der Lindenpassage212 , bei dem schon der Titel auf eine Verbindung mit der Thematik der Heimatlosigkeit hinweist, lässt sich als Reflexion dieses Wegs lesen. Der Essayist setzt sich darin mit Brüchen innerhalb der zeitgenössischen Kultur auseinander, wobei sich die Bruchlinien selbst nicht eindeutig identifizieren lassen, sondern changieren. Die Überschrift markiert bereits deutlich einen Bruch: Die Berliner Lindenpassage ist renoviert worden, die ,alte‘ Lindenpassage hat aufgehört zu existieren. Diese Wahrnehmung verweist auf einen zweiten Bruch: Die Unterscheidung zwischen der Erinnerung des Erzählers an das Vorkriegs-Berlin seiner Studentenjahre und das Berlin am Ende der 1920er Jahre. Dieser Wandel wird schließlich als Bruch im gesellschaftlichen Umgang mit dem Ephemeren und Kontingenten gedeutet, das sich nicht in die (archtiektonische wie kulturelle) Ordnung einfügen lässt und daher obdachlos bleibt; die Lindenpassage wird damit zur geschichtsphilosophischen Allegorie.213 Der Essay beginnt mit einer – durch eine für Kracauers Texte durchweg charakteristische melancholische Erzählhaltung geprägten – Beschreibung der Erinnerung an die Passage, als sie noch eine Passage war (wobei der Plural im folgenden Zitat den Modellcharakter der Lindenpassage betont. Der Text sucht also implizit das Allgemeine im Konkreten): Ihre Eigentümlichkeit war, Durchgänge zu sein, Gänge durchs bürgerliche Leben, das vor ihren Mündungen und über ihnen wohnte. Alles, was von ihm abgeschieden wurde, weil es nicht repräsentationsfähig war oder gar der offiziellen Weltanschauung zuwiderlief, nistete sich in den Passagen ein. Sie beherbergten das Ausgestoßene und Hineingestoßene, die Summe jener Dinge, die nicht zum Fassadenschmuck taugten. Hier in den Passagen erlangten die passageren Gegenstände eine Art von Aufenthaltsrecht. Wie Zigeuner, die nicht in der Stadt, sondern nur an der Landstraße lagern dürfen. [Kracauer 1990’, 260f.]

Der Bruch zwischen ,alt‘ und ,neu‘ ist mehrfach codiert: Baulich handelt es sich nicht um eine Verfalls-, sondern tatsächlich um eine Renovierungsgeschichte.214 Gerade diese Glättung und Verschönerung der Oberflächen beschreibt der Essayist aber als Geschichte einer Zerstörung, war die ,alte‘ Passage doch ein Verfahren der Integration des Ausgeschlossenen, der „passageren Gegenstände“: Dieser kontingente Tand, der in den ehemals zwielichtigen Passagen feilgeboten wurde, lässt sich als Allegorie der modernen Kultur und des modernen Subjekts lesen, die selbst nicht mehr „repräsentationsfähig“ sind oder „zum Fassadenschmuck taug[]en“, in 212 213 214

[Kracauer 1990’, 260-265]. Vgl. dazu [Mülder 1985, 111], [Schaper 1988] und [Heß 1996, 119ff.]. [Pralle 1996, 77f.] liest die Passage als Chiffre für die nur im Medium des Feuilleton zu beschreibende „Welt der Zwischenkriegszeit“. Vgl. [Kracauer 1990’, 265].

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der auf Repräsentation von Ordnung, Geschlossenheit und Stabilität zielenden urbanen Architektur des 19. Jahrhunderts also kollektiv zu Obdachlosen wurden: Was die Gegenstände der Lindenpassage einte und ihnen allen dieselbe Funktion zuerteilte, war ihre Zurücknahme von der bürgerlichen Front. Begierden, geographische Ausschreitungen und viele Bilder, die aus dem Schlaf rissen, durften sich dort nicht blicken lassen, wo es hoch herging in den Domen und den Universitäten, bei Festreden und Paraden. Man exekutierte sie, wenn es möglich war, und konnten sie nicht ganz zerstört werden, so wies man sie doch aus und verbannte sie ins innere Sibirien der Passage. Hier aber rächten sie sich am bürgerlichen Idealismus, der sie unterdrückte, indem sie ihre geschändete Existenz gegen seine angemaßte ausspielten. Erniedrigt, wie sie waren, gelang es ihnen, sich zusammenzuscharen und im Dämmerlicht des Durchgangs eine wirksame Protestaktion gegen die Fassadenkultur draußen zu veranstalten. Sie stellten den Idealismus bloß und entlarvten seine Produkte als Kitsch. [Kracauer 1990’, 264]

Diese Exilierung der nach den offiziell gültigen Maßstäben von Religion, Wissenschaft und Politik kontingenten Dinge „ins innere Sibirien der Passage“ lässt sich auch als Poetologie der „Kleinen Form“ als Kontingenzgattung der Moderne lesen: Während der Roman ebenso wie das affirmativ an der traditionellen Großepik orientierte ,bürgerliche‘ Feuilleton – das bei Polgar „Wiener Feuilleton“ heißt – als Medien eines „bürgerlichen Idealismus“ erscheinen, die bestimmte Bereiche der Wirklichkeit zu „zerstören“ oder ,auszuweisen‘ trachtet, nimmt sich die „Kleine Form“ dieser Dinge an, deren unauslöschliche Existenz Kracauer in paradoxer Weise als flüchtige Essenz der Moderne bestimmt. Weil diese unscheinbaren Dinge aufgrund der traditionellen bürgerlichen ,Anmaßung‘ geschändet erscheinen, können sie sich ihrerseits „zusammen[]scharen“ und im Sinne der berühmten Baudelaireschen Bestimmung „La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent [. . .]“215 als symbolisches Agglomerat aufgefasst werden, das seine kulturelle Bedeutung durch die ,protestierende‘ Differenz zu „Fassadenkultur“ und „Idealismus“ erhält, die als anachronistische Formen der Kontingenzbewältigung entlarvt werden. Beinahe prophetisch mutet Kracauers Kritik der Architektur am Ende der 1920er Jahre an, die mit ihrer ,untergründigen‘ Repräsentation in den Passagen auch die Klassische Moderne selbst zu beenden scheine: Jetzt, unterm neuen Glasdach und im Marmorschmuck, gemahnt die ehemalige Passage an das Vestibül eines Kaufhauses. Die Läden dauern zwar fort, aber ihre Ansichtskarten sind Stapelware, ihr Weltpanorama ist durch den Film überholt und ihr anatomisches Museum längst keine Sensation mehr. Alle Gegenstände sind mit Stummheit geschlagen. Scheu drängten sie sich hinter der leeren Architektur zusammen, die sich einstweilen völlig neutral 215

[Baudelaire 1962, 467].

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verhält und später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts. Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist? [Kracauer 1990’, 265]

Siegfried Kracauers nun anhand dieses verstörenden und in vielem ambig bleibenden Textes skizziertes Interesse am Konkreten, Beiläufigen und Kleinen (und auch die kulturhistorische Kontextualisierung) gehört zu den Topoi der Forschung. In all seinen Schaffensperioden habe sich der gelernte Architekt vor allem den randständigen, nach traditionellen wissenschaftlichen und künstlerischen Maßstäben bloß kontingenten Dingen und Phänomenen zugewendet. Gleichwohl werden Kracauers zwischen literarischer Prosa, philosophischer Essayistik und wissenschaftlichsoziologischer Analyse changierende und zumeist zuerst im Feuilleton veröffentlichte Texte als – formal unkonventionelle – Entfaltung philosophischer Reflexionen verstanden, aus deren Perspektive dann die Grenzüberschreitungen in die Felder von Literatur und Soziologie gerade sachgemäß erscheint. Zwar wird konzediert, es könnte „übertrieben“ erscheinen, „[f]ür die faits divers von wenn auch mehr als zweitausend Glossen, Filmkritiken, Rezensionen, Essays, Reisebeschreibungen und literarischen Stücken, die seit 1915 [. . .] in Zeitungen erschienen sind, den Begriff der Philosophie zu reklamieren“, da Kracauers Feuilletons zunächst wie ein „Denkkaleidoskop“ wirkten, „das von Lunaparks bis zum Zivilisationseffekt der Langeweile, von philosophischen Neuerscheinungen bis zum Tod namhafter Denker und vom Leben der Großstadtmassen bis zu Straßenarchitekturen und vorüberhuschenden Figuren der Lebenswelt Stoffe der Zeit stenographierte [. . .]“216 . Gleichwohl sei es bei näherer Betrachtung angebracht, Kracauers Werk als eine „Philosophie in Bruchstücken“217 zu betrachten. Im Sinne der oben ausgeführten Diskussion um eine Aufwertung der Kleinen Form unter dem Eindruck der modernen Wirklichkeit wird daher häufig betont, dass Kracauers Aufmerksamkeit den „oberflächliche[n] Erscheinungsweisen des alltägliche und des kulturellen Lebens“ gerade deshalb gegolten habe, weil er versucht habe, „aus zufälligen Zeichen, aus den Phänomenen das Wesen einer neuen Gesellschaft zu diagnostizieren.“218 In den Texten des Autors wird das – hier etwas formelhaft invertierte – Verhältnis von kontingenten ,Äußerlichkeiten‘ und notwendigem ,Wesenskern‘ freilich stets als ein dialektisches behandelt, das sich prinzipiell nie zugunsten eines seiner Pole stillstellen lässt. Kracauers frühe Schriften, die sich – z.T. in der Vermittlung über die Konzepte Lukács’ – an Philosophie und Literatur der Zeit um 1800 orientieren, folgen sogar noch deutlich der ,klassischen‘ Akzentsetzung: Im Text Unechtes Pflichthandeln219 – wo schon der Titel auf einen Zentralbegriff der Kantischen Anthropologie und Ethik verweist – dekretiert Kra216 217 218 219

[Pralle 1996, 63]. So der Titel des eben zitierten Aufsatzes von [Pralle 1996]; Hervorhebung M.D. Vgl. [Schlaffer 1996, 44], Hervorh. M.D. Zu Kracauers „Wertschätzung des Alltäglichen“ im Zusammenhang mit seiner Rolle als Filmkritiker s. auch [Thommsen 1996, 187f.]. [Kracauer 1990, 59-72].

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cauer mit Kantischer Apodiktik, explizit begründungslos:220 „Eine in irgendeiner Hinsicht einheitliche und linienhafte Entfaltung bildet nämlich aus hier nicht näher zu erörternden Gründen das tiefste Bedürfnis menschlichen Wesens.“221 Daher grabe sich der „Fluß seelischen Lebens“ eine „Hauptbahn“, um sich nicht in viele kleine „Einzelbäche“ aufzulösen und so letztlich zu versickern.222 Dem „Drang nach Verbreiterung, dem Bedürfnis, die Fülle der Erscheinungen soviel wie nur immer möglich in sich einmünden zu lassen“, stehe ein „Drang nach Einheit und Zusammengefaßtheit“ als Korrektiv gegenüber.223 Beim Typus der „Vielseitigen“, die Einzelheiten gegenüber eine besondere Aufnahmefähigkeit besäßen und so „sehr in die Breite wachsen“, drohe entsprechend ein charakterliches „Auseinanderfließen“: Wer „zahllose Wesen, Dinge, Veränderungen usw. auf sich wirken“ lasse, werde „zu ihrem Spielball, zu ihrer Beute, weil er die Impressionen nicht zu ordnen und erkennen oder handelnd ihrer Herr zu werden vermag“, oder weil seine schöpferischen Kräfte „zersplittert“ sind und ihn „bald hierhin, bald dorthin“ „zerren“.224 Die flussgeographische Metaphorik, mit der dieses zur anthropologischen Konstante erhobene „tiefste Bedürfnis“ plausibilisiert wird, steht in signifikantem intertextuellen Bezug zu Goethes Hymne MahometsGesang225 , also zum literarischen Diskurs des Aufschreibesystems 1800. In dem Gedicht wird der Weg eines Flusses von der Quelle bis zur Mündung beschrieben: Der zunächst „[j]ünglingsfrisch[e]“ „Felsenquell“ durchfließt in Gestalt eines Bachs „[u]naufhaltsam“ sein Tal, schwillt zum mächtigen Strom an, der Städten und „Ländern Namen“ gibt, trägt, „Atlas“ gleich, Schiffe auf seinen „Riesenschultern“ und mündet schließlich ins Meer, wodurch sich der (symbolisch ins Kosmische übersteigerte) Kreislauf des Wassers vollendet.226 So erweist es sich als deutliche Reminiszenz an klassische Bildungskonzepte, wenn Kracauer „die echte Persönlichkeit“ als integrative Vereinigung der „Breite mit der Linie“ bestimmt: „[S]owie sie auch ausladet, einheitschenkende Ideen, Ziele für das Handeln usw. überwölben sie doch, sie erklingt bei jeder Berührung mit der Welt, ohne darum zusammenhangsloser Vielheit zu verfallen.“227 Diese anthropologische Position, die angesichts der unüberschaubaren Komplexität des Diskursgefüges der Moderne vor dem charakterlichen „Chaos“ eines Bewusstseins warnt, das bloß noch „ein Speicher voller wahllos zusammengewürfelter Reichtümer und wohl auch Nichtigkeiten“ ist, unterscheidet sich beträchtlich von den weitaus kontingenzoffeneren Positionen der emphatischen Moderne.228 220 221 222 223 224 225 226 227 228

Vgl. zur Rolle Kants für die Freundschaft zwischen Kracauer und Adorno [Adorno 1966]. [Kracauer 1990, 69]. Kurz darauf wird dieser Standpunkt nochmals bekräftigt: „Umgrenzt zu sein, linienhaft zu werden, dazu drängt es den Menschen.“ [Kracauer 1990, 69]. Ebd. Ebd. [Goethe 1998, 42-44]. Ebd. [Kracauer 1990, 69] Ebd.

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Gerade deshalb kann sie aber als zentraler Bezugs- und Umschlagspunkt dezidiert moderner Kontingenzsemantiken aufgefasst werden. In der Exposition der Schrift Die Wartenden229 , neben Das Ornament der Masse dem wohl berühmtesten und meistgelesenen Essay Kracauers,230 führt er, wiederum mit beträchtlichem Pathos, aus, dass der oben als ,pathologisch‘ beschriebene Zustand in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Weimarer Republik zum Normalzustand geworden sei: Insbesondere die akademisch geprägten, „jeglichem Glaubensbekenntnis entronnen[en]“ Zeitgenossen seien nicht mehr in der Lage, eine „Hauptbahn“ ihres Lebens zu finden. Den „Gelehrten, Kaufleute[n], Ärzte[n], Rechtsanwälte[n], Studenten und Intellektuellen aller Art“ bescheinigt der Essayist ein gemeinsames Leiden an der Kontingenz: „Es ist das metaphysische Leiden an dem Mangel eines hohen Sinnes in der Welt, an ihrem Dasein im leeren Raum, das diese Menschen zu Schicksalsgefährten macht.“231 In prononcierter Abweichung von einer historischen Studie begnügt sich der Essayist mit einer kurzen Skizze der historischen Konstellation, durch die das autonome Ich, dessen Konzeption in Aufklärung und Romantik ihre Höhepunkte erreicht habe, „im Zeitalter des Materialismus und Kapitalismus“ zu einem „atomisiert[en]“, „willkürhaften Zufallsgebilde entartet“ sei.232 Fokussiert wird stattdessen die ,seelische‘ Reaktion der Betroffenen angesichts des „Chaos der Gegenwart“: „Sie leiden im Kern an ihrem Vertriebensein aus der religiösen Sphäre, an der ungeheuren Entfremdung, die zwischen ihrem Geist und dem Absoluten herrscht.“233 Forciert durch die – gerade für Großstadtbewohner charakteristische – „Vereinzelung“ münde diese „Beziehungslosigkeiten zum Absoluten“ zwangsläufig in einen radikalen „Relativismus“: Da diesen Menschen Haft und Grund fehlt, treibt ihr Geist steuerlos dahin, überall und nirgends zu Hause. Als Vereinzelte durchqueren sie die unendliche Mannigfaltigkeit geistiger Phänomene, die Welt der Geschichte, der seelischen Ereignisse, des religiösen Lebens, vor nichts mehr Halt machend, gleich nahe und gleich fern sämtlichen Gegebenheiten. Gleich nahe: denn sie versenken sich mit Leichtigkeit in jede Wesenheit, weil kein Glaube mehr ihren Geist fesselt und ihn derart hindert, irgendeiner beliebigen Erscheinung sich auf beliebige Weise einzuverleiben. Gleich fern: denn niemals gilt ihnen eine Erkenntnis als die letzte, niemals also sind sie so tief in eine Wesenheit gedrungen, daß sie in ihre Tiefe dauernd eingehen und gleichsam nicht mehr aus ihr heraus gelangen können. Ihr unstetes Wandern ist nur ein Anzeichen dafür, daß sie in weitestem Abstand vom Absoluten leben, daß der Bann gewichen ist, der ihr Ich umfriedet und das Wesen der Dinge eindeutig macht. [Kracauer 1990, 161f.] 229 230

231 232 233

[Kracauer 1990, 160-170]. Vgl. [Perivolaropoulou 1996, 199ff.] und [Schröter 1980, 18], der Die Wartenden als Umschlagsund „Aussichtspunkt“ liest, von dem aus man Kracauers Schaffensperioden vor und nach 1922 überblicken könne. [Kracauer 1990, 160]. [Kracauer 1990, 160]. [Kracauer 1990, 161].

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Der Essayist charakterisiert seine metaphysisch ,entwurzelten‘ Zeitgenossen hiermit als intellektuelle Vagabunden. Dabei betont er deutlich die Zwiespältigkeit ihres Kontingenzbewusstseins angesichts einer in „unendlich[]“ erscheinende, radikal offene Diskurse zerfallenden modernen Wirklichkeit: Der Verlust insbesondere religiöser Orientierung induziert zwar eine Horizonterweiterung, da kaum noch fest vorgegebene Maßstäbe existieren, die die „beliebige“ Rezeption „irgendeiner beliebigen Erscheinung“ behindern könnten. Eben dieser „Beliebigkeit“ haftet aber der Makel der Kontingenz an: Wo alles auch anders möglich ist, wird alles semantisch entwertet. Diese in deutlicher Anknüpfung an Lukács’ Theorie des Romans234 entwickelte Diagnose wird im Folgenden nicht zur Disposition gestellt. Der durch Ruinen- und Unbehaustheitsmetaphorik bebilderte Kontingenzbefund wird ebenso wie die Grundstimmung einer Sehnsucht nach Behausung als anthropologische Konstante vorausgesetzt. Weist Kracauer Kohärenz, Ordnung und Einheit hier auch als unhintergehbare Maßstäbe und Ideale des menschlichen Weltbezugs aus und markiert Kontingenzerfahrungen damit im Zeichen eines „horror vacui“ als negativ, so tut er dies doch nur in einem abstrakten, strukturellen Sinne.235 Dies wird deutlich, wenn seine emphatisch-existentiellen Ausführungen in eine umfassende Kritik diverser zeitgenössischer Programme münden, denen gegenüber Kracauer die Rolle eines Beobachters zweiter Ordnung einnimmt. Neben bestimmten Formen diesseits- und jenseitsbezogenen „Messianismus“ wie Kommunismus und manchen Spielarten des Protestantismus236 erwähnt Kracauer die „Formgläubige[n]“ des George-Kreises, dessen strenge Prinzipien „alle Beziehungen zu Gott und Menschen dem Zufall“ enthöben,237 sowie „Unternehmungen, die auf die Wiedererweckung der alten Menschheitslehren abzielen und Beseitigung des Vakuums etwa von dem Eingehen in die positiven Religionen erhoffen“ und Katholizismus und (insbesondere zionistischem) Judentum Zulauf verschafften.238 Vor dem Hintergrund der für die Moderne bestimmenden Wissenspoetiken ist diesbezüglich aber besonders auch Kracauers polemische Kritik an der Steinerschen Anthroposophie aufschlussreich, die in Die Wartenden explizit als „Irrweg“239 bezeichnet wird und deren Doktrinen zu den paradigmatischen Beispielen von „Trostpflaster[n] von Mystizismen und Irrationalismus über den Epochenbrüchen“ gehören, die Pralle zufolge „für Kracauer die gefährlichste Form des gegenwartslosen Geistes“ sei, „den es zu bekämpfen galt, um die neuen Wirklichkeiten 234

235

236 237 238 239

Auch in seiner Rezension der Lukácsschen Schrift zeichnet [Kracauer 1990, 117-123] ein ähnlich katastrophisches Bild der geistigen Lage Europas und leitet daraus das omnipräsente „Bedürfnis nach Religion, nach einem die Seele voll überwölbenden Glauben“ [Kracauer 1990, 117] ab. „Zerfall und Fragmentarisierung, Trennung und Entfremdung, Vereinsamung und Isolation sind Grunderfahrungen, die in Kracauers Schriften immer wieder begegnen werden und die bestimmend bleiben nicht nur für seine Auslegung moderner Individualität, sondern für sein Verständnis der Wirklichkeit moderner Gesellschaften überhaupt.“ [Mülder 1985, 22] [Kracauer 1990, 163]. [Kracauer 1990, 164]. Ebd. [Kracauer 1990, 163].

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zu entdecken.“240 Tatsächlich zeigt Kracauer in einer Reportage über Anthroposophie und Wissenschaft241 , in der er von einer „anthroposophischen Hochschultagung in Darmstadt“ berichtet, dass die Steinersche Programmatik im Kern darauf ziele, dem durch die wissenschaftlichen Entwicklungen der Moderne heimatlos gewordenen Menschen wieder zu einer homogenen Wirklichkeit zu verhelfen: Mit einem geradezu genialischen Spürsinn hat Steiner die Schäden unserer Zeit erkannt und ihnen durch das, was er Anthroposophie nennt, beizukommen gesucht. Wie er um das Unheil weiß, das uns aus der schrankenlosen Hingabe an eine Ich und Welt entseelende Naturwissenschaft erwachsen ist, so weiß er auch, daß wir durch immer weiter gehende Abstraktion von der unmittelbar erfahrenen Wirklichkeit schließlich jedes Verhältnis zu der mit unseren Sinnen wahrgenommenen Erscheinungsfülle verloren haben. Seine Geisteswissenschaft soll uns wieder in die konkrete Welt hineinleiten, uns von der Unzulänglichkeit eines nur formalen Idealismus erlösen, der im praktischen Leben nirgends als Richtschnur zu dienen vermag, und das ganze Dasein rund und voll überwölben. [Kracauer 1990, 113]

Kracauer rekurriert hier offenbar – durchaus affirmativ – auf die Diskurslinie katastrophischer Interpretationen der modernen Naturwissenschaft, die „Ich und Welt“ in ,unheilvoller‘ Weise „entseel[t]“ habe, indem sie die Menschen von der sinnlich wahrnehmbaren, konkreten Welt entfremdet habe. Gleichwohl macht schon die durchgehend ironischer Diktion seines Berichts die Distanz deutlich,242 die der Essayist zu den von „Steiner und seine[r] Schar“243 unter Berufung auf Goethe vorgetragenen wissenschaftlichen bzw. weltanschaulichen Gegenmodellen hält: Während die Anthroposophen angesichts einer „mechanistische[n] Naturwissenschaft, die die Natur zu einem Aggregat von Atomen, einem Zusammenspiel toter Kräfte entwirklicht hat“244 , vorschlügen, diese „durch eine Naturerkenntnis [zu] ersetzen [. . .], die alle dem naiven Menschen unmittelbar sich darbietenden Erscheinungen als wirklich hinnimmt und sie mit Hilfe gewisser Intuitionen ihrer ganzen Qualität nach zu verstehen trachtet“245 , hält Kracauer derartige kulturgeschichtlich offenbar rückwärts gewandte Versuche, dem modernen Subjekt wieder zu einer homogenen Heimstatt zu verhelfen, für obsolet. Schon das sarkastische Referat des anthroposophischen Postulats einer Besinnung auf ,naive‘, also nicht nach Maßgabe der epistemologischen Prämissen und der Begriffssysteme der neuzeitlich-modernen 240 241 242

243 244 245

[Pralle 1996, 65]. [Kracauer 1990, 110-117]. Einleitend schreibt der Essayist maliziös: „Eine zahlreiche Zuhörerschaft, unter der die studentische Jugend und das weibliche Element überwogen, hatte sich eingefunden, um den Worten Dr. Rudolf Steiners und seiner Jünger zu lauschen, die sich in einer Reihe von Vorträgen über die Bedeutung der anthroposophischen ,Geisteswissenschaft‘ für die verschiedenen Wissenschaften, wie überhaupt für so ziemlich sämtliche Gebiete des inneren und äußeren Lebens verbreiteten.“ [Kracauer 1990, 110]. [Kracauer 1990, 110]. [Kracauer 1990, 110f.]. [Kracauer 1990, 111].

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Wissenschaften geprägter Wahrnehmungsmodi konterkariert deren Streben nach Unmittelbarkeit aus der Perspektive eines prononciert nicht naiven Beobachters, der die Mechanismen anthroposophischer Sinnkonstruktion in den Blick nimmt, also seinerseits als mechanisch beschreibt, was sich selbst als Resultat der Abwendung vom Mechanismus versteht: „Weder verspürte man in ihnen den Geist Goethescher Naturanschauung, noch zeugten sie von irgendwelcher Wissenschaftlichkeit.“246 Im Gegenteil prangert der Essayist Steiners propagandistischen Stil an und beschreibt die Protagonisten der anthroposophischen Tagung, die Steiners Lehren widerspruchslos ,predigen‘, als fanatisiert und parareligiös. Symptomatisch für Kracauers Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Remedien gegen die „transzendentale Obdachlosigkeit“ ist seine Kritik einer rhetorisch generierten Sakralisierung bestimmter Konzepte, die offenbar auf die Lukácssche Diagnose antworten, dabei aber letztlich bloß den Anspruch einer Teilhabe oder Erkenntnis an einer Sphäre des Absoluten banalisiere und so für den Beobachter zweiter Ordnung, der die entsprechenden semantischen Strategien erkenne, gerade die negative Kontingenzsignatur der modernen Kultur bekräftige: Beinahe unerträglich war es, wie Steiner fortwährend mit annähernd der gleichen Prophetengeste von der Sphäre banaler Selbstverständlichkeiten in heilige Bezirke hinüberglitt, ohne der Schranken zu achten, die das eine Gebiet vom andern trennen, und wie er so einen Nebel um seine Hörer ausbreitete, der gerade jene Besonnenheit und Klarheit verscheuchte, um die es ihm doch angeblich zu tun ist. Überall in der Anthroposophie findet man dieses unheilvolle Durcheinander, diese beständigen Grenzverwischungen, diese höchst bedenkliche Vermengung aller möglichen Anschauungen zur trügerischen Einheit. [Kracauer 1990, 114]

Anhand dieser scharfen Kritik an „unheilvolle[m] Durcheinander“, „Grenzverwischungen“ und „bedenkliche[n] Vermengungen aller möglichen Anschauungen“ lässt sich die von Kracauer vertretene „Kleine Form“ von einem essayistischen Paradigma unterscheiden, das Braungart und Kauffmann im Vorwort ihres Sammelbandes zum Essayismus um 1900247 anführen. Zwar stehen auch Kracauers Texte zweifellos in einem „wissens- und kultursoziologischen“ Funktionszusammenhang, der „mit der so häufig beklagten ,Zersplitterung‘ des modernen Lebens und der angestrebten ,Einheit der Kultur‘ zusammenhänge;“248 angesichts seiner deutlichen Abscheu gegen die anthroposophisch generierte „trügerische Einheit“ lässt sich seine Position aber kaum in das folgende, vor dem Hintergrund von Kracauers Kritik eher harmonisierend als kritisch anmutende Genre-Bild integrieren: Zahlreiche Autoren sahen in der Gattung des Essays und den Verfahren des Essayismus ein Mittel, um die zunehmende ,Zersplitterung‘ der modernen Gesellschaft in unterschiedliche Wissensdisziplinen und Lebensformen 246 247 248

Ebd. [Braungart/Kauffmann 2006]. [Braungart/Kauffmann 2006, VII].

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schreibend zu überwinden. Im Anschluß an Friedrich Nietzsches Lebensund Kulturphilosophie wollte man die verlorene ,Einheit der Kultur‘ wieder herstellen. Dafür wurden Denk-, Rede- und Schreibverfahren erprobt, durch die sich unterschiedliche Wissensdisziplinen und Lebensformen in einen wie auch immer gearteten Sinnzusammenhang bringen ließen. Die wissenschaftlichen Fachgrenzen und die gesellschaftlichen Arbeitsteilungen sollten in einem solchen Interdiskurs gerade nicht gelten. [Braungart/Kauffmann 2006, X]

Im Unterschied zu dem hier postulierten Sinnstiftungsimpetus der Essayisten um 1900, die im Gefolge Nietzsches und als Anhänger der „Lebensphilosophie“ durch avantgardistische Grenzüberschreitungen neue „Sinnzusammenh[ä]ng[e]“ zu erschließen und im Medium des Essay wieder eine textuelle ,Heimat‘ aufzubauen, welche die durch Szientismus und kulturelle Modernisierung vorangetriebenen Entfremdungserscheinungen kompensiert, verweigern sich die Repräsentanten der „Kleinen Form“ gerade der Nietzscheschen Emphase und plädieren stattdessen dafür, die transzendentale Obdachlosigkeit selbst gerade in ihrer Heterogenität, Artifizialität und Entfremdungswirkung als genuin moderne Wirklichkeit zu erkunden. Statt diese Lage in Richtung neuer Behausungen zu überschreiten und damit klassische Kultur-Ideale der holistischen Repräsentation einer geordneten Wirklichkeit implizit in die Moderne fortzuschreiben, suchen Polgar und Kracauer im Rahmen der „Kleinen Form“, die Obdachlosigkeit des modernen Subjekts zu seinem Obdach zu machen. Gerade aufgrund seiner Orientierung am traditionellen Versprechen universeller Ordnung und kohärenten Sinns begegnet Kracauer der Anthroposophie ebenso wie anderen zeitgenössischen Formen des „Messianismus“ gleichermaßen mit distanzierter Skepsis, da er die diesen gemeinsame Signatur des Kompensatorischen als entscheidenden Mangel wahrnimmt. Sie erscheinen so als illusionäre Konstruktionen, die umso defizitärer wirken, je stärker sie ihren Konstruktionscharakter dementieren. Im dritten Teil des Essay Die Wartenden, der sich um eine Typisierung möglicher „Haltung[en]“ angesichts der modernen „Leere“ bemüht,249 werden sie deutlich abwertend als „Kurzschluß-Menschen“ bezeichnet, deren Eintritt in eine Glaubens-Behausung vor allem Fluchtcharakter hat und die moderne Wirklichkeit letztlich ausblendet.250 Dieser deutlich negativ gezeichneten, aber in der zeitgenössischen Kultur weit verbreiteten Haltung stellt Kracauer zum einen den – durch Max Weber personifizierten – Typus des „intellektuelle[n] Desperado“251 gegenüber, der angesichts der modernen Wirklichkeit zum „prinzipiellen Skeptiker[]“252 wird: 249 250

251 252

[Kracauer 1990, 165]. [Kracauer 1990, 166]. Inka Mülder-Bach weist in ihrem Nachwort ebenfalls auf Kracauers in verschiedenen Essays vorgetragene scharfe Kritik an den „religiösen Erneuerungsbewegungen seiner Zeit“ [Kracauer 1990”, 369] (Nachwort) hin, zu deren Protagonisten er neben den Anthroposophen auch Scheler, Bloch, Buber und Rosenzweig zählt. Vgl. dazu insb. auch die Auseinandersetzung mit der von den beiden letzteren vorgelegten Bibelübersetzung: [Kracauer 1990, 355-368]. S. dazu weiterhin [Lau 1996, 17], [Perivolaropoulou 1996, 201] und [Jay 1985]. [Kracauer 1990, 167]. [Kracauer 1990, 165].

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Sein intellektuelles Gewissen empört sich gegen das Beschreiten der ringsum sich darbietenden Wege zu mutmaßlicher Erlösung, die ihm als ebenso viele Abwege und unstatthafte Rückzüge in die Sphäre willkürlicher Begrenzung erscheinen. So entschließt er sich denn aus innerer Wahrhaftigkeit dazu, dem Absoluten den Rücken zu kehren, das Nichtglauben-Können wird bei ihm zum Nichtglauben-Wollen, Haß gegen die Glaubensschwindler [. . .] treibt ihn zum Kampf für die ,Entzauberung der Welt‘, und in der schlechten Unendlichkeit des leeren Raums vollendet sich sein Dasein. [Kracauer 1990, 165f.]

Kracauer lobt zwar die intellektuelle Redlichkeit dieser ,heroisch‘ jeder Sinnstiftung entsagenden Reaktionsmöglichkeit, konstatiert aber, dass dieser „das letzte Wort [. . .] nicht behalten [dürfe], da sonst die Welt völlig der Sinnlosigkeit überantwortet wäre“253 und die transzendentale Obdachlosigkeit in dem Sinne perpetuieren würde, dass er jegliche Form der Kontingenzreduktion radikal ablehnt. Stattdessen beschließt er seinen Essay mit einem Plädoyer für den – freilich paradoxen – Mittelweg einer existentiellen Einrichtung in der Obdachlosigkeit und formuliert dabei zugleich eine Poetologie der „Kleinen Form“: Übrig bleibt vielleicht nur noch die Haltung des Wartens. Wer sich zu ihr entschließt, der versperrt sich weder wie der trotzige Bejaher der Leere den Weg des Glaubens, noch bedrängt er diesen Glauben wie der Sehnsüchtige, den seine Sehnsucht hemmungslos macht. Er wartet, und sein Warten ist ein zögerndes Geöffnetsein in einem allerdings schwer zu erläuternden Sinne. [Kracauer 1990, 168]

Einerseits – „[n]ach der negativen Seite hin“254 – bewährt sich der „Wartende“ wie der „prinzipielle Skeptiker“ im „Ausharren-Können“ und bemüht sich daher um eine „gewisse Kühle, die [ihn] gegen verwehende Gluten feien soll“; andererseits – „[n]ach der negativen Seite hin“255 – bewahrt er sich, im Gegensatz zum „Desperado“, einen „Bezug zum Absoluten“, der aber aus Furcht vor einer „Scheinerfüllung“256 nicht auf eine Aktualisierung dringt und daher mit Bedacht nicht als ,Offenheit‘, sondern nur als „zögerndes Geöffnetsein“ bezeichnet wird. Vorsichtig skizziert Kracauer bestimmte Charakteristika des von ihm vorgeschlagenen Beobachtungsmodus: In deutlicher Korrespondenz mit der zeitgenössischen Phänomenologie plädiert er für eine Suspension des „theoretischen Ich“ zugunsten einer ,Einkehr‘ „in die Welt der Wirklichkeit und der von ihr umschlossenen Sphären“, die nicht zuletzt in der ,Befreundung‘ mit den konkreten, „leibhaften Dingen und Menschen“ einhergehen muss.257 Dieses experimentelle Sich-Einlassen auf die kontingente Wirklichkeit darf dabei aber gerade nicht mit Nietzscheschem Pathos oder avantgardistischer Emphase in der programmatischen Hoffnung auf eine 253 254 255 256 257

[Kracauer 1990, 168]. Ebd. [Kracauer 1990, 169]. Ebd. Ebd.

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semantische „Wandlung“ dieses profan Diesseitigen betrieben werden: „[O]b sie überhaupt eintritt, das steht nicht in Frage und darf auch die Sich-Mühenden nicht kümmern.“258 Wie dieses – kulturkritisch äußerst differenziert aus dem Befund der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ hergeleitete – Ideal der Indifferenz die ästhetische Programmatik und Praxis der „Kleinen Form“ prägt, soll im folgenden Abschnitt dargelegt werden. 4.4.2 Ästhetik der Indifferenz Im Essay Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer259 gibt Theodor W. Adorno einen Scherz seines Jugendfreundes über Bertolt Brecht wieder: „[. . .] [A]ls Brecht auf den Jasager den Neinsager folgen ließ“, habe er erklärt, „er, Kracauer, gedächte, den Vielleichtsager zu schreiben; kein übles Programm dessen, der einmal die Haltung des Wartenden als die seine entwickelte“.260 Zwar kritisiert Kracauer, der sein Schreiben mit einer programmatischen Signatur der Indifferenz versieht, wenn er es zwischen den beiden bestimmten Reaktionsformen der Affirmation und der Negation verortet, in ebendiesem Text Die Wartenden auch Georg Simmels lebensphilosophische ,Setzung‘ des ,Lebens‘ als letzter Absolutheit und wertet sie als eskapistische „Verzweiflungstat des Relativismus“, die mit anderen zeitgenössischen Programme korrespondiere, „die neuer Seelenheimat zuführen sollen“.261 Gleichwohl zeigt seine jüngst im Rahmen der von Inka Mülder-Bach besorgten Werkausgabe erstmals vollständig veröffentlichte,262 1918 verfasste einschlägige Monographie, dass Kracauer Simmels Schriften als zentrales Paradigma einer modernen Ästhetik der Indifferenz auffasst.263 Kraucauer verfolgt mit seiner Schrift weniger ein auf die historische Person und ihr Werk bezogenes philologisches oder biographisches Ziel, wie schon der – an Musils auf den Mann ohne Eigenschaftes gemünztes Diktum erinnernde – Untertitel verrät: Demnach verspricht die Beschäftigung mit Georg Simmel, „[e]in[en] Beitrag zur Deutung des geistigen 258 259 260 261 262

263

[Kracauer 1990, 169f.]. [Adorno 1966, 83-108]. [Adorno 1966’, 100]. [Kracauer 1990, 162]. Vgl. [Kracauer 2004”’, 139-280]. Das erste Kapitel, das als eigenständiger Text gelesen werden kann, wurde unter dem Titel Georg Simmel in die Essay-Sammlung Das Ornament der Masse aufgenommen, vgl. [Kracauer 1963, 209-248]. [Oschmann 2006, 197f.] betont, Georg Simmels Werk sei „von grundlegender Bedeutung für Kracauer [. . .]. Keinem anderen Denker hat Kracauer eine solche Aufmerksamkeit geschenkt, allein über ihn hat er eigens eine Monographie verfasst. Damit ist die prägende Wirkung, die von den Schriften Kants, Nietzsches, Kierkegaards, Max Webers oder Marx’ auf Kracauer ausging, nicht in Abrede gestellt, doch hat sie ihren Ort und ihre Bedeutung eben oftmals in dem von Simmel gesteckten Horizont.“ [Pralle 1996, 68] weist weiterhin darauf hin, dass Kracauer „nicht zuletzt im Berliner Kreis um Georg Simmel sein Gespür für neue Aufgaben der Erkenntnis bestärkt gefunden haben [dürfte]. Simmel hatte als enfant terrible der Universitätsphilosophie ästhetische, soziologische und philosophische Blicke auf Phänomene der Welt verschmolzen, die sich herkömmlichen Erkenntnisweisen entzogen.“ (Hervorh. im Original) Vgl. zur Bedeutung Simmels für Kracauer auch [Mülder 1985, 33ff.].

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Lebens unserer Zeit“ zu leisten.264 Kracauer beschreibt Simmel als essayistischen Denker in einer essayistischen Zeit,265 was die Simmel-Schrift zu einem substantiellen Prätext des Musilschen Monumentalfragments macht, in dem nicht nur die Hauptfigur Ulrich, sondern auch „die Welt“ einer (freilich sehr spezifischen) „Utopie des Essayismus“266 huldigt. Im Abschnitt über die „Persönlichkeit“ Simmels charakterisiert Kracauer ihn nahezu explizit als einen Mann ohne Eigenschaften, der in Ermangelung eines „Kernglaubens“267 und einer „Urüberzeugung“268 von einer spezifischen „Ideenlosigkeit“269 gekennzeichnet sei und dem trotz seiner Zuwendung zum Konkreten und subjektiv Erlebten „nichts ferner [liege] als das Pathos des Revolutionärs und Weltverbesserers“270 : Simmels Philsophie erscheint daher als [. . .] Streifzug eines ich-losen Menschen durch die Welt, die mangels der sie vereinheitlichenden Idee sich naturgemäß als chaotische Mannigfaltigkeit darbietet. Wer den Wert der Erkenntnisse eines Geistes nach dem Grad ihrer Verbundenheit bemißt, nach der Wucht und Stoßkraft, die sie dank dieser ihrer Verbundenheit und Gebundenheit an das mächtige Selbst ihres Zeugers besitzen, für den haben darum viele Gedanken Simmels ein allzu leichtes Gewicht. Am Rande der Seele und aus rein artistischer Freude am Aufweis irgendwelcher Beziehungen entstanden, sind sie die Luxusware eines Denkens, das keinem tiefen Ideengrund entströmt und sich zersplittert in eine Menge miteinander verquickter, konsequenzloser, ja, von einer höheren Warte aus gesehen, gleichgültiger Einzeleinsichten. [Kracauer 2004”’, 272]

Paradoxerweise ist aber gerade dieser Autor von Texten, die von der „höheren Warte aus gesehen“ gleichgültig erscheinen, für Kracauer die „Offenbarung einer Epoche“ und gehört zu den Personen, „die durch ihre Leistungen die typischen Gehalte ihrer Zeit voll ins Bewußtsein erheben. Wie in einem Brennspiegel sich das zerstreute Licht sammelt, um als einheitlicher Strahl zurückgeworfen zu werden, so verdichtet sich in ihnen die allgemeine geistige Verfassung der Zeit und gewinnt 264 265

266 267 268 269 270

Den viel zitierten Satz „Ich möchte Beiträge zur geistigen Bewältigung des Lebens leisten“ äußert [Musil 19782 , 942] in einem Interview über sein Romanprojekt. An diese Beschreibung knüpfen etwa [Christen 1992] (mit seinem Aufsatz über Essayistik und Modernität bei Simmel) und [Rammstedt 2006] (mit seiner „Annäherung an den Essayisten“ Simmel) an; [Rammstedt 2006, 190] bilanziert: „Ein Ergebnis könnte sein, und könnte erschrecken: das Œuvre Simmels besteht zum Gutteil aus nichts anderem als aus Essays.“ Angesichts der Tatsache, dass Kracauer schon aus der Perspektive eines Zeitgenossen zu dieser Diagnose gelangt und dabei längst nicht bei einem solchen manierierten „[E]rschrecken“ stehen bleibt, sondern differenzierte Überlegungen zur Dialektik von Essay-Form und philosophischen ,Gegenständen‘ anstellt, zeigt, dass auch die neuste Essayforschung noch immer zu häufig der Versuchung erliegt, mit dem subversiven Potential der Gattung zu kokettieren. Vgl. dazu ausführlich das folgende Kapitel. [Kracauer 2004”’, 182]. Ebd. Ebd. Vgl. [Kracauer 2004”’, 185].

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in ihren Werken Gestalt.“271 Wenn Kracauer Simmel eine Kant und Hegel ebenbürtige kultur- und philosophiehistorische Rolle als Personifikation eines ganzen Zeitalters zuweist, bemüht er sich nicht zuletzt darum, die Frage nach der ,Einheit‘ der Moderne als ,Epoche‘ – trotz gegenläufiger Indizien – positiv zu beantworten. Mit Bezug auf die Gegenwart erklärt Kracauer, „Nuance“ sei „nicht umsonst [. . .] ein Schlagwort der Zeit. Alles schillert, fließt, wird vieldeutig, tritt zu wechselnder Bildung zusammen. Es ist der Reichtum des Chaos, in dem wir leben.“272 Entsprechend beginnt auch sein Porträt Simmels in offensiver Weise negativ, indem es die für sein Werk eigentümliche Indifferenz herausstellt: So könne Simmel weder mit einem metaphysischen System, einer Geschichtsphilosophie oder einer Bewusstseinstheorie dienen, noch weise sein Werk, anders als etwa das Bergsons oder Machs, interdisziplinäre Bezüge zu den Naturwissenschaften auf.273 Diese Zugeständnisse werden freilich sogleich gegen die vermeintlich positive Tradition gewendet, indem die genannten Formen philosophischer und wissenschaftlicher Ordnungsstiftung selbst als defizitär ausgewiesen werden: Da das traditionelle Denken, das sich gerade durch seine ,Differenziertheit‘ auszuzeichnen bemüht, stets auf eine bestimmte Einteilungen der Wirklichkeit in fest umgrenzbare Entitäten ziele, verfehle es „die unerschöpfliche Vielheit von geistigen Lagen, seelischen Geschehnissen und Seinsarten“274 , zumal diese sich erst dadurch konstituieren, dass sie sich wechselseitig kontextualisieren: „Alle Äußerungen geistigen Lebens [. . .] stehen in unnennbar vielen Beziehungen zueinander, keine ist herauslösbar aus den Zusammenhängen, in denen sie sich mit anderen befindet.“275 Setzt man, wie Kraucauers Simmel, Wirklichkeit als eine solche komplexe „Vielheit“ an, so muss die Realität begrifflich prinzipiell uneinholbar erscheinen. Der vermeintliche Tadel, Simmel gehöre zu den „unsystematischen Denkern“276 , verwandelt sich angesichts einer selbst genuin unsystematischen Wirklichkeit in ein Lob: Simmel lehne das Systematische nämlich ab, weil er „tief überzeugt [sei] von der Formlosigkeit des Daseins. Der Erkennende darf nach ihm der Verlockung seines baumeisterlichen Gestaltungsdrangs nicht folgen, sonst wird er vom richtigen Weg abgebracht; er muß vielmehr das unregelmäßige Geäder der Wirklichkeit so nachzeichnen, wie er es vorfindet, dann allein bleibt er dem Seienden treu.“277 271

272 273 274 275 276 277

[Kracauer 2004”’, 242]. In expliziter Berufung auf Spenglers Untergangsschrift, die er in einer Fußnote als „kürzlich erschienene[s] geistvolle[s] Geschichtsepos“ [Kracauer 2004”’, 243] lobt, erklärt Kracauer, Simmel repräsentiere die „westeuropäische[] Zivilisation in dem Zustand ihrer höchsten Reife“ (ebd.). [Kracauer 2004”’, 259f.]. Vgl. [Kracauer 2004”’, 139ff.]. [Kracauer 2004”’, 144]. [Kracauer 2004”’, 150]; im Original ist der ganze Satz kursiv gedruckt. [Kracauer 2004”’, 149]. [Kracauer 2004”’, 271]. Kracauers Metapher des „Geäder[s]“ wird variiert in Rheinbergers Epistemologie des Konkreten, [Rheinberger 2006]: Dort wird für die Wissen(schaft)sgeschichte wiederholt das Bild eines mäandernden Flusses gebraucht, was zeigt, dass sich auch die aktuelle Diskussion um die kulturtheoretische Konzeptualisierung von Wissen und Wissenschaft an der Gattung des Essays orientiert.

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Wenn Kracauer von Simmels „Grundbestreben“ spricht, „jedes geistige Phänomen seines fälschlichen Fürsichseins zu entheben“, so beschreibt er dessen Verfahren avant la lettre als dekonstruktiv: Simmel übe „eine sowohl verbindende wie auflösende Denktätigkeit aus. Jene, insofern er überall Beziehungen zwischen scheinbar Getrenntem enthüllt, diese, insofern er uns die Kompliziertheit vieler vermeintlich einfacher Objekte und Probleme bewußt macht.“278 Simmels programmatische Indifferenz suspendiert damit die begrifflich-systematische Ordnung der Welt, die nicht nur den wissenschaftlich-philosophischen Diskurs, sondern auch die alltägliche Wahrnehmung präge: Wie der platte Alltagsverstand alle fließenden Übergänge zwischen den Phänomenen in Vergessenheit bringt, das Erscheinungsgewebe zerreißt und dessen nunmehr isolierte Teile, jeden für sich, in einen Begriff einschließt, so engt er unser Bewußtsein vom Weltmannigfaltigen auch noch nach einer anderen Dimension hin ein. Er macht von den Wirklichkeitsausschnitten, die er den verschiedenen Begriffen anvertraut hat, nur das Allernotdürftigste sichtbar, versieht den Begriff gleichsam mit einer Erkennungsmarke, auf der lediglich das verzeichnet ist, was dem gemeinen praktischen Bedürfnis beachtenswert dünkt. Die Dinge in ihren starren Begriffsgehäusen werden einsinnig, immer bloß eine Seite von ihnen ist uns zugekehrt, wir fassen sie so auf, wie wir sie nutznießen. [Kracauer 2004”’, 152]

Simmel setzt nun die Komplexität der Gegenstände dieses durch verschiedene pragmatische, epistemische oder ästhetische Differenzschemata beschränkten „Weltmannigfaltigen“ wieder frei und versucht, die „fratzenhaften Begriffsversteinerungen“ aufzubrechen, da die von diesen bewirkte Kontingenzreduktion keinen den Bedingungen der Moderne adäquaten Zugang zur Wirklichkeit mehr zu eröffnen scheint. In unverkennbarer Nähe zu Musils Essayismus-Konzept, das im folgenden Kapitel ausführlich analysiert werden wird, erscheint diese Forcierung der genuin modernen Einsicht in die Kontingenz von Ich, Welt und Wirklichkeit als Basis neuer Formen der Sinnstiftung, die im Unterschied zu traditionellen Formen aber keine festen Differenzen zu setzen trachtet, sondern vielmehr einer Ästhetik der Indifferenz folgt: Er erkennt, daß jedem Phänomen eine unendliche Fülle von Eigenschaften innewohnt, daß jedes den verschiedensten Gesetzen unterworfen ist. In dem Maße aber, als die Vielfältigkeit der Dinge gewahr wird, wächst für ihn die Möglichkeit, sie zueinander in Beziehung zu setzen. Von den sich ihm entschleiernden mannigfachen Bestimmtheiten eines Phänomens kommt irgend eine auch einem anderen Phänomen zu, überall, wohin er blickt, drängen sich ihm Verwandtschaften zwischen den Erscheinungen auf. [Kracauer 2004”’, 152f.]

Dieses essayistische philosophische „Verfahren [. . .] zeitigt Ergebnisse, die von einer eigentümlichen Unfaßlichkeit“279 seien. Ihr „Kreuz und Quer“ scheint sich 278 279

[Kracauer 2004”’, 151]. [Kracauer 2004”’, 170].

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„im Endlosen“ zu ,verlieren‘ und verhindert so die Konstitution von Totalitäten. Die „zwischen den Erscheinungen angesponnenen Fäden“ – die im Hinblick auf die zugrundeliegende Poetologie nicht zuletzt als Text-Fäden zu lesen sind – „verlaufen [. . .] ziemlich regellos und willkürlich, das Unsystematische wird bei ihnen geradezu System, es ist ganz gleichgültig, wohin man, sie auswerfend und anknüpfend, gelangt [. . .]. Dieses Gewebe ist nicht nach einem Plan geschaffen wie eine fest gefügte Gedankenordnung [. . .]“, sondern erinnert an einen Irrgarten:280 Das Werk Simmels gleicht einem einzigen Labyrinth von Gängen, deren viele als Sackgassen plötzlich endigen und sich quer durchschneiden. Statt daß die Gedanken sich wie selbstverständlich zu einem Ganzen zusammenfügen, bilden sie lauter abgezirkelte Ganzheiten für sich, kleine Wegstrecken, die irgendwo im Gelände unseres Bewußtseins auftauchen und ohne Fortsetzung sind. Kein langer Atem, der sie durchweht, keine innere Notwendigkeit, die sie zu lückenloser Kette aneinanderschweißt. [Kracauer 2004”’, 271f.]

Kracauers Poetologie der „Kleinen Form“ konstituiert sich also in einer Beobachtung der Texte Simmels, die gerade deren Kontingenz betont und die durch die Verneinung des Systematischen bedingte „Unfähigkeit“ Simmels „zum Gebären einer Welt“ herausstellt, die dem Autor selbst letztlich „unbewußt“ gewesen sein möge.281 Weil Kracauer in dieser mäandernd-kontingenzoffenen Schreib- und Denkweise gerade die Stärke von Simmels Werk erblickt, wendet er sich scharf gegen dessen ,lebensphilosophische‘ Wende: „Nachdem sich die Idee des Lebens seiner immer stärker bemächtigt hat, geht eine Wandlung mit ihm vor, und er entwickelt Ansätze zu einer geschlossenen Gesamtanschauung, hierin dem späten Nietzsche ähnlich, der auf der Grundlage seines Willens zur Macht eine Weltlehre zu gestalten strebte.“282 Dirk Niefanger, der in einem Aufsatz den „Außenseiterkonzeptionen in Siegfried Kracauers erzählender Prosa“283 nachgeht, liest dessen Außenseiterfiguren durchgehend als „Vielleichtsager“284 . Seine Rekonstruktion der einschlägigen werkgeschichtlichen Entwicklung zeigt, dass Kracauers Erzähltexte die essayistischen Reflexionen des Spielraums moderner Subjektivität spiegeln. Auch die Figurengestaltung wandle sich „von einem am ,kriseologischen‘ Diskurs der 280 281 282

283 284

[Kracauer 2004”’, 170]. [Kracauer 2004”’, 270]. [Kracauer 2004”’, 271]. [Oschmann 1999, 19ff.] weist in seiner Monographie Auszug aus der Innerlichkeit im Rahmen einer breiten historischen Kontextualisierung, die vom Sturm und Drang über die Romantik bis hin zu Nietzsche, Simmel, Bergson und Dilthey reicht, überzeugend nach, dass Elemente der Lebensphilosophie auch in Kracauers Werk bestimmend sind. Dies bedeutet freilich nur, dass Kracauer selbst die von ihm skizzierte Poetologie der „Kleinen Form“, die sich eben u.a. durch die Absetzung von der Lebensphilosophie konstituiert, nicht in voller Konsequenz umsetzt, was hier angesichts des poetologischen Fokus der vorliegenden Untersuchung weitgehend irrelevant ist. [Niefanger 1994]. [Niefanger 1994, 254].

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Jahrhundertwende orientierten Außenseitertum zur absichtsvoll in Szene gesetzten charismatischen Existenz, zu deren gesellschaftlichem Ruf ein schillerndes Ausgegrenztsein gehört.“285 Georg, der Protagonist seines zweiten Romans, sei „Verfechter eines strikten peut-être“ und durch seine „[p]olitische und sexuelle Indifferenz“ geprägt,286 und bereits sein erster Romanheld Ginster präfiguriere – ähnlich wie Kracauers Essays – zentrale Positionen der Postmoderne:287 Kracauers Versuche, Identität in biographischen und autobiographischen Texten seiner Zeit theoretisch zu fassen, scheinen Positionen vorwegzunehmen, die in der ,postmodernen‘ Diskussion der Identität als kontingentem Ort diskursiver Verknüpfungen interessant werden. [Niefanger 1994, 259f.]

In diese Reihe lässt sich auch die Monographie über Simmel einordnen, den Kracauer ebenfalls als einen Außenseiter der Geistesgeschichte beschreibt, diesen Status aber gerade als Paradigma moderner Identitätsbildung deutet und gegen Versuche – selbst diejenigen von Simmel selbst – verteidigt, die für die Wahrnehmung der modernen Wirklichkeit charakteristische Ästhetik der Indifferenz durch semantische Modelle stabiler Sinnkonstitution zu ersetzen. In diesem Sinne erlebt Kracauers Ginster-Figur ebensowenig eine „Zerfallskrise“288 , wie Musils Ulrich sich gegen die Einschätzung wehrt, ein „Mann ohne Eigenschaften“ zu sein. Im Gegenteil reflektieren beide Figuren die Fragwürdigkeit einer einheitlichen, abgeschlossenen Identität. Ginster etwa reagiert auf das von seinem Onkel geäußerte Gebot, „ein Mann“ zu werden, „[t]rotz seiner achtundzwanzig Jahre“ mit Abscheu:289 Sämtliche Männer, die er kannte, hatten feste Ansichten und einen Beruf; viele überdies Frau und Kinder. Ihre Unnahbarkeit erinnerte an die von symmetrischen Grundrissen, die in nichts verändert werden konnten. Immer stellten sie etwas vor und vertraten etwas. [. . .] Er selbst wäre zum Unterschied von ihnen gerne gasförmig gewesen, jedenfalls vermochte er sich nicht auszudenken, daß er einmal zu solcher Undurchdringlichkeit gerann.“ [Kracauer 2004”, 139f.]

Im Gegensatz zu den Menschen seiner Umgebung, die er als „Festung“290 wahrnimmt, beschreibt sich Kracauers Protagonist sehr deutlich als Anti-Held in der Tradition von Einsteins amorpher Bebuquin-Figur, die sich selbst als als „schlechte[n] Romanstoff“ bezeichnet, da sie nicht imstande sei zu handeln.291 Im Gespräch bekennt sich Ginster zu seiner radikalen Indifferenz, die ihn von den meis285 286 287 288 289 290 291

[Niefanger 1994, 254f.]. [Niefanger 1994, 270]. Vgl. [Niefanger 1994, 258ff.]. Zu dieser Einschätzung gelangt im Hinblick auf Kracauer auch [Niefanger 1994, 263]. [Kracauer 2004”, 139]. [Kracauer 2004”, 132]. [Einstein 1980, 78].

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ten Mitmenschen unterscheidet und eben zu einem Außenseiter macht:292 „Ich selbst will nichts. Sie werden mich nicht verstehen, aber am liebsten zerrieselte ich. Das hält die Menschen von mir fern. Ich schlafe in einem gleichgültigen Zimmer und besitze nicht einmal eine Bibliothek.“293 Schon in der Schule stellt der Erzähler im Hinblick auf den Berufswunsch seines Protagonisten fest: „Am liebsten wäre er gar nichts geworden.“294 Zwar entscheidet sich Ginster schließlich für ein Architekturstudium, doch angesichts seines ausgeprägten Dekompositionsdrangs verstärkt dies bloß noch Ginsters Charakterisierung als Saboteur: „Statt sonderbar verschlungene Figuren in Gebäude münden zu lassen, hätte er es vorgezogen, alle nützlichen Gegenstände in Figuren zurückzuzerlegen.“295 Im Gegensatz zu Einsteins emphatisch-moderner Auflösung der erzählten Welt, die auf das avantgardistische Projekt einer radikalen Entdifferenzierung vorausweist und sich nicht zuletzt auch gegen die Kunst selbst richtet, sind Erzählhaltung und Komposition des Ginster von der in der Poetologie der „Kleinen Form“ entwickelten Ästhetik der Indifferenz geprägt. Darin ist der avantgardistische Destruktionsgestus gleichsam aufgehoben und manifestiert sich als textuelle Sabotage. Niefanger weist darauf hin, dass deren Subtilität im Kern auch Adorno und vielen weiteren durch ihn angeregten Lektüren des Romans entgangen sei, wie deren Kritik am – vermeintlich – ,schwachen‘ Ende des Romans zeige:296 Die verschiedenen Stränge des Romans werden so zwar erzählerisch in ein abgeschlossenes Geschehen integriert, aber nicht eigentlich zu Ende erzählt; die Geschichte Ginsters beleibt unabgeschlossen. Weder die erwähnten Motive, noch die symbolisch verstehbaren Bilder der Canebière oder die Erinnerungen Ginsters geben eine Lösung der Identitätsprobleme oder der angesprochenen modernen Krisenphänomene. Sie reflektieren die erzählte Geschichte vielmehr als prinzipiell unvollendbare, als eine Reihe wandelbarer – ja, letztlich kontingenter – Bilder. Das offene Konzept eines anfechtbaren Außenseiter-Daseins hat nicht den Charakter eines wohlfeilen Rettungsangebots für das krisengeschüttelte Ich der Moderne, sondern ist die Beschreibung eines – sinnvollerweise singulären – primär sprachlichen Zurechtfindens. [Niefanger 1994, 269]

Die Kontingenz und Unabgeschlossenheit der Geschichte Ginsters reflektiert die Offenheit des darin entworfenen Konzepts moderner Subjektiviät,297 das sich einer Haltung der Indifferenz verpflichtet und das „nicht festlegbare ,Outsidertum‘ als alternativen Entwurf zu den problematischen Identitätsangeboten der krisengeschüttelten Moderne, zu den Surrogaten weltanschaulicher Vereinfachung“298 wählt. 292 293 294 295 296 297 298

Vgl. zur autobiographischen Dimension dieser Figurengestaltung Inka Mülder-Bachs Nachwort zu [Kracauer 1990”, 374]. [Kracauer 2004”, 132]; s. dazu auch [Niefanger 1994, 264]. [Kracauer 2004”, 24]. [Kracauer 2004”, 22f.]. [Niefanger 1994, 267ff.]. [Niefanger 1994, 270]. [Niefanger 1994, 282].

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Wie Kracauers Ginster lassen sich auch die Feuilletons Alfred Polgars als textuelle Sabotagen lesen, deren Ästhetik der Indifferenz nur scheinbar passiv ist, tatsächlich aber die Mechanismen der Konstitution fester Bedeutung aufzuspüren und ironisch zu unterlaufen trachtet. Gleichsam von der Parkbank aus erzählend, beschreibt der Erzähler in einem Text des Österreichers die geschäftigpflichtbewussten Berliner so in der nicht zufällig bürokratisch-technisch titulierten Glosse Berlin, Sommer 1922299 : „Alle Einwohner Berlins sind intensiv mit ihrer Beschäftigung beschäftigt. Alle nehmen sie und sich furchtbar ernst, was ihnen einen leicht komischen Anstrich gibt. Auch die Müßiggänger gehen nicht schlechthin müßig, sondern sind damit beschäftigt, müßig zu gehen, auch die nichts arbeiten, tun dies im Schweiße ihres Angesichts.“300 Mit kaum überbietbarer stilistischer Brillanz lässt der scheinbar ganz harmlos beobachtende narrative Saboteur die Berliner hier selbst als Urheber ihrer latenten Lächerlichkeit erscheinen:301 Die Figurae etymologicae der – zumal „intensiv“ – „mit ihrer Beschäftigung beschäftigt[en]“ Berliner (und sodann, noch deutlicher, der geschäftig müßig gehenden Müßiggänger) generieren den Verdacht, die Inhalte der Berliner Tätigkeiten seien weit weniger relevant als das Befolgen starrer Fleiß-Ordnungen selbst.302 Aus dieser subversiven Charakterisierung der preußischen ,Mentalität‘ leitet der Erzähler u.a. die Vorliebe für geometrischen Städtebau ab. Mit gespieltem Bedauern formuliert der Erzähler der Zwischenkriegszeit die – angesichts der späteren nationalsozialistischen Pläne – prophetisch anmutende Hypothese zur städtischen Ausdehnung angesichts von Straßen, die mit riesenhaften Linealen gezogen zu sein scheinen: „Hätte der unglückliche Krieg deutsche Expansions- und Kolonisationskraft nicht gebrochen, späte Urenkel würden es erlebt haben, daß der Kurfürstendamm Nummer Soundso viel Millionen in Kurfürstendamm Nummer eins zurückgelaufen wäre. . . ein fester Gürtel, geschmiedet um die allenthalben zweckvoll abgeplattete Erde, daß sie nie mehr aus dem deutschen Leim gehe.“303 Im prononcierten Gegensatz zu dieser den Berlinern zugeschriebenen peniblen Orientierung an festen kulturellen Ordnungsmustern lässt sich bei Polgar – parallel zu der bei Kracauer feststellbaren Tendenz, die seit der Jahrhundertwende virulenten katastrophischen Topoi drohender Heimat-, Wesen- und Ichlosigkeit positiv umzudeuten, 299 300 301

302

303

[Polgar 1982, 339-342]. [Polgar 1982, 339]. Wie in anderen Bereichen der modernen Kunst und Kultur wurde Benjamins oben zitiertes Kompliment an Polgar – er sei der „Oberste der Saboteure“ – von Seiten der nationalsozialistischen ,Literaturwissenschaft‘ ins Negative verkehrt: So weist [Weinzierl 1978, 111] darauf hin, dass in Wilmont Haackes dreibändiger Feuilletonkunde, deren erster Band 1943 in Leipzig erschien, jüdischen Feuilletonisten „Sabotage“ vorgeworfen wurde, die sich stilistisch in einem „talmudisch verschachtelten“ Satzbau niederschlage – in den Nachkriegsauflagen habe Haacke derartige ,Feststellungen‘ dann gestrichen. [Bohn 1978, 197] weist in ähnlichem Sinne darauf hin, dass Polgars Arbeit „in einer aufsässigen Resignation“ gründe, und grenzt diese gegen die Texte Altenbergs und Kraus’ ab: „Zwischen der verzweifelten Therapie Altenbergs und der vernichtenden Diagnose Kraus’ hat er sich eingerichtet auf hinhaltenden Widerstand.“ [Polgar 1982, 340f.].

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um sich einer spezifisch modernen Wirklichkeit öffnen zu können – eine ironische Begeisterung für die in der Klassischen Moderne sprichwörtlich gewordene ,Unrettbarkeit‘ des Ich304 feststellen: Wie Kracauers Ginster, der eben nicht an seiner Selbstauflösung leidet, sondern sie „für sein groteskes Maskenspiel“305 nutzt, ohne noch an einem ,eigentlichen‘ charakterlichen ,Substrat‘ interessiert zu sein, wird in Polgars Texten der Verlust traditioneller Gewissheiten höchstens ironisch beklagt und meist als Zugewinn an Freiheit zelebriert.306 Im Text Gespräch307 , der stilisiert von der Abendkonversation „vier[er] Freunde“ auf „nacht-stumme[r] Straße“ Straße handelt, gesellt der Erzähler zu einem Trio verschiedener Personifikationen der zeitgenössischen Hochkultur – einem „fanatische[n] Literat[en]“, einem „philosophische[n] Kopf“ und einem „überlegene[n] Klugen“ – „ein[en] schlichte[n] Mann“.308 Durch die rhetorische Typisierung wird dieser einerseits als zugehörig, andererseits aber – als ,Schlichter‘ unter ,Intellektuellen‘ – als unzugehörig markiert. Diese Hierarchisierung konstituiert eine doppelte Beobachterperspektive: Einerseits wird der „schlichte Mann“ als Figur durch seinen Mangel an intellektueller Brillanz in die Rolle eines Zuschauers gezwungen, der seine Passivität und Distanz durchaus als peinlich erlebt, andererseits aber teilt der Erzähler die Blickrichtung und passive Haltung des vierten Mannes und forciert dessen Distanz zum literarisch-philosophisch-intellektuellen Diskurs noch: So ist er in der Lage, dessen Mechanismen zu entlarven, indem er den Gestus der Beteiligten und die hypertrophe Überbietungslogik des Gesprächsgangs herausstellt. Dem leidenschaftlichen Literaten, der „mit immer feuchten Augen“ „schwärmt[]“309 , begegnet der Philosoph mit der lakonischen Forderung nach einer ,Erklärung‘. Diese für die Verhältnisbestimmung von Literatur und Philosophie topische Unterscheidung von Emotion und Rationalität unterläuft sogleich der „Kluge“, wenn er gegen den philosophischen Einwand einwendet, dieser unterstelle unhinterfragt die Möglichkeit des Erklärens.310 Der hier dargestellte zeitgenössische intellektuelle Diskurs ist also innerhalb seiner selbst angesichts seiner Metareflexivität kaum weiter zu überbieten. Entsprechend wird der einzige Beitrag des „schlichte[n] Mann[es]“ von seinen drei Freunden bloß als kurze Störung ihres Disputs wahrgenommen. Aus der forcierten Beobachterperspektive des Erzählers aber wird deutlich, woran es diesem Diskurs mangelt: Trotz des exzentrischen bzw. skeptischen Gestus seiner Partizipanten gelingt es diesen nicht, ihre eigene Rolle innerhalb des Diskurses infrage zu stellen. Obwohl ihre Diskussion von dem für die klassischen Moderne typischen Bewusstsein der Kontingenz von Ich, Welt und Wirklichkeit 304 305 306 307 308 309 310

In der Antimetaphysischen Vorbemerkung seiner Analyse der Empfindungen stellt [Mach 1991, 20] apodiktisch fest: „Das Ich ist unrettbar.“ [Niefanger 1994, 263]. Auch Polgars ,sarkastische‘ Dekonstruktion des Konzepts der Freundschaft ist vom Zweifel an der Möglichkeit von ,Eigentlichkeit‘ geprägt, wie [Bohn 1978, 188ff.] ausführlich nachweist. [Polgar 1983, 55-58]. [Polgar 1983, 55]. [Polgar 1983, 55]. [Polgar 1983, 56].

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zeugt, bleibt dieses auf die Ebene von Rhetorik und Thematik beschränkt. Hinsichtlich der Performanz unterscheidet sich das Gespräch der zerstäubten Subjekte nämlich kaum von der traditionellen identitäts- und subjektphilosophischen Position. Dies wird besonders deutlich, wenn der Erzähler den Zustand der vier nach dem Zubettgehen schildert: Während der Kluge sich fortwährend ängstlich seiner eigenen Klugheit versichern muss und den Gesprächsverlauf immer neuen kritischen Revisionen unterzieht, hat der Philosoph „eine Vision: Nebel, das All durchwogend, genährt von Dämpfen, die, dünn und dick, aus Millionen offener, wie Opferschalen hingestellter, menschlicher Hirnschalen aufqualmen.“311 Auch der „fanatische Literat“ fällt erwartungsgemäß „fiebernd ins Bett. Literatur kochte in ihm. Ein Bekenntnisbuch gärte. Ein Schauspiel warf Blasen. Ein Roman sickerte von vielen Seiten heran. Fülle des zu Sagenden sprengte fast die Seele.“312 In diesen meisterhaften Karikaturen philosophischer und literarischer ProgrammEmphase führt der Erzähler en miniature die Aporien des philosophischen und literarischen Anspruchs tieferer Bedeutsamkeit vor: Gerade die metaphorische Rede von alldurchwogenden Nebeln und fiebernden Subjekten, die die Sphäre des Sprachlichen und zumal des Konventionellen und Rationalen längst verlassen zu haben meinen und ihre Er- und Bekenntnisse in den Medien des ,Kochens‘, ,Gärens‘, ,Sickerns‘ und ,Sprengens‘ zu finden hoffen, wird aufgrund der mangelnden Rollendistanz ihrer Vertreter in besonders schroffer Form auf ihr vermeintliches Negativ, die reine Oberfläche von Rhetorik und Sprache zurückgeworfen. Je energischer ein Diskurs also seine eigene Kontingenz dementiert, desto leichter lässt er sich als kontingent entlarven. Polgar verfolgt in seiner Schlusspointe gerade die umgekehrten Strategie, wenn er seinen „Schlichte[n] [. . .], ehe er sanft und rasch entschlief“, „murmel[n]“ lässt: „Öde, so ein Abend ohne Frauen.“313 Polgars Konzeption der „Kleinen Form“ funktionalisiert solche Plattitüden und den ostentativen Bezug zum alltäglichen Anspruch auf ,Unterhaltung‘ also, um den Eindruck obsoleter Sinnstiftung zu dementieren, ohne damit selbst eine definitive Aussage über die Möglichkeit philosophisch-weltanschaulichen Sinnes machen zu müssen. In diesem Sinne folgen auch seine Texte einer Ästhetik der Indifferenz. Während der „schlichte[] Mann“ aufgrund seiner ironisch inszenierten Unfähigkeit, an den ,ernsthaften‘ philosophischen und literarischen Diskurs der Gegenwart anzuknüpfen, zur kulturellen Marginalität verurteilt ist, hat sich der Eremit aus einer gleichnamigen Erzählung Polgars,314 in dessen Vollbart der Erzähler ein „Schwalbenpärchen“315 ansiedelt, selbst für ein Leben am äußersten Rand der Gesellschaft entschieden. Er erweist sich als Figuration eines ,reifen‘ Essayisten, der die epistemologischen und poetologischen Grundlagen der „Kleinen Form“ nicht mehr als defizitär empfindet, sondern sich selbstbewusst in der Kontingenz ein311 312 313 314 315

[Polgar 1983, 57]. Ebd. [Polgar 1983, 58]. [Polgar 1983, 146-149]. [Polgar 1983, 146].

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gerichtet und die Obdachlosigkeit ganz wörtlich zu seinem Obdach gemacht hat. Auf die Eingangsfrage des Erzählers, wie er glücklich werde, erhält er die paradoxe Antwort: „Indem du den Wunsch, glücklich zu sein, aufgibst.“316 In diesem Sinne erklärt der Eremit jegliches Streben nach Perfektion und sogar den Glauben an Perfektibilität für obsolet: „Ziele als unerreichbar erkennen und sich Mühsal der Wege zu ihnen ersparen: das ist aller praktischen Weisheit A und O.“317 Unerreichbarkeit ist der erlösende Schönheitsfehler des Ideals – gepriesen sei er! –, der vor der Pflicht, diesem nachzujagen, befreit. In meiner Jugend wollte ich Musiker werden. Bald erkannte ich, daß ich da zu ewigem Dilettantismus verurteilt sei. Ich ließ die Musik. Es erging mir in gleicher Weise mit den anderen Künsten, mit fremden Sprachen, mit Geldverdienen, mit sportlichen Übungen, mit der Liebe, mit hunderterlei Dingen, die in summa das Leben ausmachen. [Polgar 1983, 147]

Solche Ratschläge stehen in deutlichem Bezug zur Poetologie der Statistik, die insbesondere die Parallelaktionshandlung des Mann ohne Eigenschaften prägt. Während diese ,kakanische‘ Sphäre des „Seinesgleichen“ in Musils Roman semantisch primär negativ codiert bleibt und zum Ausgangspunkt einer – letztlich auf einen „anderen Zustand“ zielenden – „Utopie des Essayismus“ wird,318 ist „Kakanien“ beim „Obersten der Saboteure“ ganz bei sich. Ohne hinter die kritische Distanz Musils zur zeitgenössischen Kultur zurückzufallen,319 münden entsprechende Kontingenzbefunde beim Wiener Feuilletonisten Polgar nicht in den Anspruch der Konstitution eines alternativen Sinns, wie die folgenden metahumoristischen Ausführungen über Tiere320 und insbesondere das Dromedar belegen: Ach, wie sieht unser Trampeltier aus! Zerlumpt und abgerissen, verwahrlost und schäbig. Von zehn Besuchern konnten neun die bittere Bemerkung nicht unterdrücken, daß sie da ein typisch österreichisches Kamel vor sich hätten. Das wollige Fell hängt in Fetzen vom Leibe, Hautflächen von einem halben Meter im Durchmesser sind ganz nackt und kahl, auf den Schenkeln sitzen ein paar isolierte Haarstücke wie hingepickt. Ein trauriges Vieh. Auf Anruf reagiert es nicht; zu faul, mit dem Kopf zu schütteln, wedelt es nur mit dem quastigen Schweif ein fades ,Nein‘. Es ist ein Tier für Christian Morgenstern. Er hätte dem Kamel vielleicht ein Nadelöhr hingehalten und es so näher zu sich herangelockt. Überhaupt Christian Morgenstern. Auf Schritt und Tritt mußt du in der Menagerie seiner gedenken. Er hat das Lachen der nie lachenden Tiere belauscht. Er hat das Übertier im Tier entdeckt. Er hat die Wissenschaft der Biokomik begründet. [Polgar 1983, 159f.] 316 317 318 319

320

Ebd. [Polgar 1983, 147]. Vgl. dazu das folgende Kapitel. [Philippoff 1980, 386 und passim] stellt fest, dass Polgar mit Musil „die grundlegende Skepsis“ teile. Auch sonst wird immer wieder auf gewisse Korrespondenzen in den Texten der beiden österreichischen Autoren hingewiesen. [Polgar 1983, 156-160].

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Die Obersten der Saboteure

Christian Morgenstern, der Goethes Wandrers Nachtlied in seinen Galgenliedern321 Fisches Nachtgesang322 entgegensetzt und sein eigenes Poem zum „tiefste[n] deutsche Gedicht“323 erklärt, stellt einen zentralen intertextellen Bezugspunkt für Polgars Komik dar: Kulturellen Figurationen von ,Tiefe‘ und ,Größe‘, die nicht nur die Klassik, sondern auch die emphatische Moderne Nietzsches prägen, wie dessen Lehre vom „Übermenschen“ und der nicht selten pathetische Überbietungsgestus seines Werks zeigen, setzt die von Polgar adressierte Morgensternsche Moderne das „Übertier im Tier“ entgegen und unterläuft damit – in programmatischer Wendung gegen das Programmatische – ambitionierte anthropologische Modelle jedweder Provenienz im Zeichen der Ästhetik der Indifferenz:324 In diesem Sinne weist Bohn darauf hin, dass Polgar „als Aufzeichner exemplarischer Alltagsdialektik [. . .] nach den Möglichkeiten des Menschen als eines, der sich selbst von Rollen, Masken, Konventionen, Phrasen und Klischees bestimmt weiß[,] [fragt], in einer Welt von Rollen, Masken, Konventionen, Phrasen und Klischees zu leben.“325 Entsprechend sind die Anführungszeichen im Titel „Der Mensch“326 durchaus nicht nur als Hinweis zu verstehen, dass im folgenden Feuilleton von der gleichnamigen physiologisch-anatomischen Ausstellung die Rede sein wird, die „bezaubernd anschaulich[]“ den „Menschen zeigt, wie er leibt und wie er lebt, wie er sieht, hört, riecht, schmeckt, fühlt, atmet, verdaut, sich abnützt und erneuert, wie sein Herz robotet, seine Nerven spielen, seine Nieren filtern, seine Muskeln schwellen, seine Haare sprießen, sein Darm und sein Hirn anmutig sich winden, kurz, die alles zeigt, was unter, in und auf der lebendigen Menschenhaut sich ereignet.“327 Eben diesem Menschen der Moderne, der in zunehmendem Maße mit den unüberschaubaren und heterogenen Daten-Listen zusammenfällt, die Medizin und Naturwissenschaften vor allem dank statistischer Verfahren generieren und die längst nicht mehr den klassischen epistemologischen Idealen der Klarheit, Kohärenz und Einheit folgen, gilt das Interesse der „Kleinen Form“. Im Folgenden weist Polgar zwar darauf hin, dass der Mensch „bekanntlich“ nicht nur Körper sei, doch unterläuft sogleich den Topos der qualitativ höherwertigen seelischen Dimension des Menschseins, wenn er bekundet: „Schade, daß die Ausstellung den Menschen nur zeigt, wie er leibt, und nicht, wie er seelt.“328 Seine Imagination einer solchen Ausstellung korrespondiert in augenfälliger Weise mit der Musilschen Poetologie der Statistik, die aus dieser Perspektive als Aggregat zahlloser Textelemente zu lesen ist, die einer Narratologie der Sabotage und Indifferenz folgen, wie die Feuilletons und Essays Kracauers und Polgars sie prägen. Wie hier lassen sich deren thematische Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen Kultur und den 321 322 323 324 325 326 327 328

[Morgenstern 1990]. [Morgenstern 1990, 65]. [Morgenstern 1990, 302]. Vgl. zur Bedeutung Morgensterns im Aufschreibesystem 1900 [Kittler 2003, 255ff.]. [Bohn 1978, 197]. [Polgar 1983, 299-301]. [Polgar 1983, 299]. [Polgar 1983, 301].

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zugehörigen ,Weltanschauungen‘, die zunehmend heterogen und kontingent erscheinen, zugleich oft als poetologische Reflexionen der „Kleinen Form“ als einer Gattung lesen, die diesen Entwicklungen am ehesten Rechnung trägt.329 Während lyrische, dramatische und großepische Formen traditionell jeweils mit emphatischen Subjekt-Figurationen (lyrischem Ich, Protagonist oder Held) operieren und durch die epistemologischen Paradigmenwechsel entsprechend infrage gestellt werden,330 können sich in dieser Situation gerade die modernen Hybridgattungen des Essays und des Feuilletons mit ihren aus subjektphilosophischer Perspektive defizitären Text- und Kompositionsverfahren profilieren: Das Essay-Ich setzt sich selbst gerade in der historischen Situation selbstbewusst ein, in der das traditionelle, von Mach als „metaphysisch“ bezeichnete Ich als emphatische Einheit als unrettbar anerkannt wird. Im Namen der „kleinen Form“ unterlaufen Polgars und Kracauers Texte immer wieder Konzepte eines homogenen, konsistenten und zielstrebigen Subjekts und setzten an die Stelle des obsoleten transzendental verbürgten Ich ein essayistisches, was als paradoxe Konstitution von Autorschaft nach dem ,Tod des Autors‘ aufgefasst werden kann. Diese darf freilich gerade nicht mit einem ästhetischen Plädoyer für das ,Durchschnittliche‘ gleichgesetzt werden: Wie ausführlich gezeigt wurde, verbindet die Autoren der Kleinen Form mit der avantgardistischen Moderne der Impuls gegen die mediokre, konventionelle Wirklichkeit. In seinen Filmkritiken der späten 1920er Jahre wirft Kracauer so auch dem zeitgenössischen Kino genau einen Rückfall in die Abbildung derselben vor:331 Auch die üblichen Kulturfilme hüten sich ängstlich davor, unserer Kultur auf den Leib zu rücken. Lieber schweifen sie zu der fremden: zu afrikanischen Völkerstämmen, zu den Sitten und Gebräuchen der Eskimos, zu Schlangen, Käfern und Palmen. Daß einige von ihnen gut gemacht sind, verschlägt weniger als die Tatsache, daß sie wie auf Verabredung nahezu alle den dringlichsten menschlichen Angelegenheiten aus dem Weg gehen, daß sie das Exotische in den Alltag hereinziehen, statt die Exotik im Alltäglichen zu suchen. [Kracauer 2004’, 155]

Die für die „Kleine Form“ konstitutive Ästhetik der Indifferenz wendet sich gerade gegen solche ästhetischen und epistemischen Konzeptionen, die die konventionelle Wirklichkeit in Richtung einer anderen, vermeintlich exotischeren Wirklichkeit überschreiten. Stattdessen versuchen ihre Vertreter eben diese kontingente, alltägliche Wirklichkeit durch ihre Sabotage-Texte ihrer Konventionalität zu berauben. Wenn sie dabei auf die „Exotik im Alltäglichen“ zielen,332 so bleibt dies doch 329 330 331 332

Vgl. dazu auch die Überlegungen bei [Philippoff 1980, 347ff.]. Vgl. [Althaus u.a. 2007’, XX]. Vgl. z.B. Der heutige Film und sein Publikum, [Kracauer 2004’, 151-166]. Vgl. dazu [Schröter 1980, 31ff., insb. 32f.], der Kracauers Ästhetik der Film-Montage vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen bloßer Kontingenz und banaler Kohärenz der Bildfolgen analysiert.

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die Exotik des kontingenten Alltäglichen, für die Charlie Chaplins Figuren stehen, da sie die paradoxe Aufgabe, die Obdachlosigkeit zu ihrem Obdach und die Dispersion der Ich zur Basis ihrer Selbstkonstitution aus Kracauers Sicht in paradigmatischer Weise erfüllen, wie er in The Gold Rush feststellt:333 Der Mensch, den Chaplin verkörpert, nicht verkörpert, sondern gehen läßt, ist ein Loch.334 [. . .] Er hat keinen Willen, an der Stelle eines Selbsterhaltungstriebes, der Machtgier ist bei ihm eine einzige Leere, die so blank ist wie die Schneefelder Alaskas. Andere Menschen haben ein Ichbewußtsein und leben in menschlichen Beziehungen; ihm ist das Ich abhanden gekommen, darum kann er, was so Leben heißt, nicht mitleben. Er ist ein Loch, in das alles hereinfällt, das sonst Verbundene zersplittert in seine Bestandteile, wenn es unten in ihm aufprallt. [Kracauer 1974, 165f.]

4.5 Kontingenz und Essayismus Seit ihrer Erstveröffentlichung in den Noten zur Literatur im Jahr 1958 prägt Theodor W. Adornos in den Jahren 1954 bis 1958 „aus unverkennbarer Distanz, bereits im Rückblick auf die klassische Moderne“335 verfasste Schrift Der Essay als Form die germanistische Essayforschung. Der Text, dem die jüngsten Publikationen den – nicht zuletzt deshalb passenden – Ehrentitel eines „Metaessay“336 verliehen haben, stellt ein ebenso polemisches337 wie ehrgeiziges Plädoyer für die Akzeptanz einer Gattung dar, die auch im Nachkriegsdeutschland noch immer als „Mischprodukt“ verrufen sei.338 Tatsächlich findet Ende der 1950er Jahre eine 333 334 335 336

337

338

Vgl. [Lau 1996, insb. 19] und [Kimmich 2003]. Dieser erste Satz ist von Kracauer später handschriftlich getilgt worden, vgl. ebd., 165, Anm. 1. [Baßler u.a. 1996, 290]. Vgl. [Braungart/Kauffmann 2006, VIII] und [Nübel 2006]. Als weitere „Metaessays“ werden häufig die Texte Über Wesen und Form des Essay von [Lukács 1968] aus dem Jahr 1911 und Über den Essay und seine Prosa von [Bense 1947] aus dem Jahr 1947 genannt, was sicher damit zusammenhängt, dass schon Adorno sich in seinem Text wiederholt auf diese beiden Schriften beruft. [Pircher 2006, 73] stellt mit Polemik gegen diese Polemik fest, Adorno spreche „über den Essay wie über etwas [. . .], dessen Werte und Eigenschaften er gegenüber einer unverständigen und feindlichen Welt verteidigen müßte“ und kennzeichnet das ideologiekritische Denken der Frankfurter Schule damit selbst als historisch-diskursives Phänomen. Vgl. dazu auch [Baßler u.a. 1996, 290]. [Adorno 1958, 9]. [Schärf 1999, 13] weist darauf hin, dass die „Unfähigkeit der Deutschen, den Essay als Form anzuerkennen und ihn anderen Formen gleichzustellen“, in der Nachkriegszeit zum Topos geworden sei: „Zusätzlich litt die Philologie unter einer Art Kurzsichtigkeit gegenüber ,Gattungen‘, die nicht zu den Naturgattungen des Dichterischen, wie Goethe sie in den Noten und Abhandlungen zum West-Östlichen Divan vormals ausgewiesen und wie sie die Germanistik sich zu eigen gemacht hatte, passen wollten. Insgesamt erlebte man die Abständigkeit der Forschung gegenüber dem Essay besonders in den frühen sechziger Jahren als eindeutiges Signum deutscher wissenschaftlicher Provinzialität und als einen der Gründe für ein gewisses Stagnieren in den traditionellen, textimmanenten und klassizistisch ausgerichteten Interpretationsmaschinen.“ [Schärf 1999, 13f.], Hervorh. im Original. Für eine Genealogie dieser Vorbehalte vor dem Hinter-

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Auseinandersetzung um den „Essay als Form“ statt, die in nuce bereits die Debatten um die ,Postmoderne‘ und ihr (zumindest vermeintliches) Motto ,anything goes‘ vorwegnimmt: Reinhard Baumgart etwa, der die zeitgenössischen Anhänger des Essayistischen in einem einschlägigen Merkur-Beitrag – offenbar ebenfalls polemisch – als Jünger des Interessanten339 bezeichnet, lässt ein kurzes Referat seines gattungspoetischen Verständnisses, wonach im Essay „Reichtum nicht in Klarheit übersetzt werden, sondern sich in vieldeutig schillernden Bezügen zu erkennen geben“340 solle, in eine harsche Fundamentalkritik münden: „Im Zwielicht einer geglückten Formulierung verschwimmen dann Wahrheit und Wahrscheinlichkeit ineinander, flüchtige Wahrhaftigkeit eines Erlebnismoments überlagert die unverrückbare Kompaßrichtung der Wahrheit.“341 Gerade die (naturwissenschaftliche) „Kompaß“-Metaphorik, die die ,Unverrückbarkeit‘ der Wahrheit garantiert erscheinen lassen und die ,zwielichtigen‘, hauptsächlich auf Aperçus beruhenden Essays diskreditieren soll, macht die Argumentation angesichts der Erschütterung des Vertrauens in die unbedingte Gültigkeit von ,Naturgesetzen‘ durch verschiedene in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte Theorien fragwürdig und belegt, dass die Kritiker der Kleinen Form gerade aufgrund ihres Rekurses auf das Ideal vollständiger Kontingenzbewältigung häufig hinter die Komplexität der modernen Realität zurückfallen, die eben dieses Ideal nicht mehr ohne weiteres statthaft erscheinen lässt. Baumgart leugnet seine normative Orientierung am Paradigma der „,Klassische[n]‘ Autoren, die alles vom Syllogismus her aufbauen“342 , freilich nicht, sondern lobt deren „planvolle“ und „[ge]steuer[te]“ Argumentation, die sich „durch übersichtlich verzweigte, wohlregulierte Beweissysteme“ auszeichne.343 Wenig überraschend evaluiert der Verfasser, klassischen Argumentationsmustern ebenso gemäß wie zentralen Topoi der Zeit- und Kulturkritik, die zeitgenössische, durch die Konjunktur des als Kontingenzgattung im negativen Sinne gebrandmarkten Essays geprägte Situation, vor dieser geistesgeschichtlichen Kulisse: Heute dagegen wird nicht mehr nach Grundrissen, sondern nach Einfällen konstruiert. Das gedankliche Material ordnet sich nur um verschiedene Kristallisationsmittelpunkte, zentrale Pointen, an, und diese punktuelle Zerstreuung entspricht ganz natürlich dem Formulierungsprozeß selbst, in dem das

339 340 341 342 343

grund der Goetheschen Ästhetik s. auch [Schärf 1999, 30]. Diese philosophisch-wissenschaftliche Marginalisierung des Essayistischen sei im Kontext der ,Postmoderne‘ allerdings in einem nachgerade inflationären Gebrauch des Essay-Begriffs umgeschlagen: „Genau besehen wird beinahe alles zum Essay, größere Abhandlungen im Feuilleton ohnehin, aber auch fachwissenschaftliche Schriften nennen sich schließlich in ihrer Mehrzahl Essay. Dokumentarfilme werden zu Filmessays, es entsteht der Essayroman und der Romanessay [. . .]. Heute kann man den Eindruck gewinnen, daß der Essay allgegenwärtig ist.“ [Schärf 1999, 7] [Baumgart 1957]. [Baumgart 1957, 600]. Ebd. [Baumgart 1957, 602]. Ebd.

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meiste abhängt von der Gnade der glücklichen Improvisation und das Resultat nicht mehr am Ende einer Überlegungskette erreicht wird, sondern im Moment des Einfalls fällig ist. [Baumgart 1957, 602]

Bemerkenswert an Adornos Text ist nun vor allem, dass er gerade nicht versucht, den in den 1950er Jahren noch immer wohlfeilen Vorwurf zu entkräften, Essays seien in diesem Sinne kontingente Texte. Stattdessen bemüht er sich – in Anknüpfung an die Ästhetik von Avantgarde und „Kleiner Form“ der Klassischen Moderne – darum, die philosophischen Prämissen der geistesgeschichtlichen Traditionslinien zu dekonstruieren, deren Konstellation zu einer solchen Marginalisierung und Verunglimpfung des Essayistischen geführt habe, indem sie dem kontingenten Essay andere Formen ,wohlbegründeter‘ und ,kohärenter‘, jedenfalls nichtkontingenter Texte gegenüberstellen. Neben dem platonischen Verdikt gegen „das Wechselnde, Ephemere“ und der spinozistischen Überzeugung, „es sei [. . .] die Ordnung der Dinge die gleiche wie die der Ideen“,344 nimmt Adorno besonders Descartes und Kant in den Blick, deren Epistemologie sich explizit nicht bloß als philosophische Theorie, sondern als Grundlage jeglicher ,rationaler‘ (wissenschaftlicher) Erkenntnis versteht: „Der Essay fordert das Ideal der clara et distincta perceptio und der zweifelsfreien Gewißheit sanft heraus. Insgesamt wäre er zu interpretieren als Einspruch gegen die vier Regeln, die Descartes’ Discours de la méthode am Anfang der neueren abendländischen Wissenschaft und ihrer Theorie aufrichtet.“345 Gegen das dritte Gebot Descartes’, von den ,einfachen‘ und ,klaren‘ Gegenständen und deren unmittelbar ,evidenter‘ Erkenntnis sukzessive zu immer komplexeren Gegenständen und Erkenntnissen „aufzusteigen“, welches die Vorstellung einer Isomorphie von Sein und Denken ins Methodologische übersetzt, erhebe die Essayform „schroff“ Einspruch: „insofern, als diese vom Komplexesten ausgeht, nicht vom Einfachsten, allemal vorweg Gewohnten.“346 Im Zusammenhang mit der vierten cartesischen Regel, die zur Vollständigkeit ermahnt, weist Adorno auf Kants (mit transzendentalphilosophischem Pathos grundierte) Polemik gegen Aristoteles’ „rhapsodistisches“ Denken hin, gegen die er im Namen des Essayismus seinerseits polemisiert:347 Entspreche sie doch dem „Vorwurf gegen den Essay, er sei, nach der Rede der Schulmeister, nicht erschöpfend, während jeder Gegenstand, und gewiß der geistige, unendlich viele Aspekte in sich schließt, über deren Auswahl nichts anderes entscheidet als die Intention des Erkennenden. Nur dann wäre die ,allgemeine Übersicht‘ möglich, wenn vorweg feststünde, daß der zu behandelnde Gegenstand in den Begriffen seiner Behandlung aufgeht; daß nichts übrig bleibt, was von diesen her nicht zu antizipieren wäre. Die Regel von der Vollständigkeit der einzelnen Glieder aber prätendiert, im Gefolge jener ers344 345 346 347

[Adorno 1958, 23]. [Adorno 1958, 30]. S. dazu auch [Müller-Funk 1995, 11]. [Adorno 1958, 32]. [Müller-Funk 1995, 10] weist darauf hin, dass die Verachtung des Essayismus als „billige[m] Zeitvertreib“ gegenüber „systematisch-gründlich[er]“ Philosophie und Wissenschaft im Deutschen Idealismus bei Schelling ihren Höhepunkt gefunden habe.

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ten Annahme, daß der Gegenstand in lückenlosem Deduktionszusammenhang sich darstellen lasse: eine identitätsphilosophische Supposition.“348 Adornos Ansatz nimmt somit die literarhistorische Tradition der „Kleinen Form“ aus den 1920er Jahren auf, die sich als eine Kontingenzgattung textueller Sabotage-Akte konstituiert: Im (reflektierten) Anschluss an die Programmatik der Avantgardebewegungen sucht Adorno nach Schreibweisen und Konzepten von Selbst und Wirklichkeit, welche den Nachrichten von deren ,Unsicherheit‘ und ,Verlust‘ nicht mit Katastrophenszenarien begegnen, die ex negativo doch nur die ,Gültigkeit‘ metaphysischer Figurationen von Totalität, Homogenität und Identität beglaubigen, sondern als unhintergehbare Grunderfahrung des modernen Subjekts akzeptieren. Nicht zuletzt die Probleme einer gattungspoetischen und disziplinären Verortung des Essayismus tragen aus Adornos Perspektive zum zweifelhaften Ruf des Essay bei: Da essayistisches Schreiben weder anhand thematischer noch anhand stilistischer Kriterien einem der Felder Literatur, Wissenschaft und Philosophie eindeutig zugeordnet werden könne,349 lasse es sich aus keiner der genannten Perspektiven würdigen. Es werde [. . .] zerrieben zwischen einer organisierten Wissenschaft, in der alle sich anmaßen, alle und alles zu kontrollieren, und die, was nicht auf Consens zugeschnitten ist, mit dem scheinheiligen Lob des Intuitiven oder Anregenden aussperrt; und einer Philosophie, die mit dem leeren und abstrakten Rest dessen vorlieb nimmt, was der Wissensbetrieb noch nicht besetzte und was ihm eben dadurch Objekt von Betriebsamkeit zweiten Grades wird. Der Essay jedoch hat es mit dem Blinden an seinen Gegenständen zu tun. Er möchte mit Begriffen aufsprengen, was in Begriffe nicht eingeht oder was durch die Widersprüche, in welche diese sich verwickeln, verrät, das Netz ihrer Objektivität sei bloß subjektive Veranstaltung. Er möchte das Opake polarisieren, die darin latenten Kräfte entbinden. [Adorno 1958’, 47f.]

Adornos Kritik setzt somit bei der Absolutsetzung der Ausdifferenzierung der Gesellschaft an. Er akzeptiert zwar die historische Trennung von Kunst und Wissenschaft, verwehrt sich aber dagegen, diesen „Gegensatz [. . .] zu hypostasieren. Der Abscheu vor der anachronistischen Vermischung heiligt nicht eine nach Sparten organisierte Kultur. [. . .] Die Ideale des Reinlichen und Säuberlichen, die dem Betrieb einer veritabeln, auf Ewigkeitswerte geeichten Philosophie, einer hieb- und 348

349

[Adorno 1958, 33f.]. In seiner Theorie des Romans unterstellt [Lukács 1971, 26] der ,griechischen Wirklichkeit‘ die Möglichkeit solcher Totalität dank universeller Homogenität: „Totalität des Seins ist nur möglich, wo alles schon homogen ist, bevor es von den Formen umfaßt wird; wo die Formen kein Zwang sind, sondern nur das Bewußtwerden, nur das Auf-die-Oberfläche-Treten von allem, was im Inneren des zu Formenden als unklare Sehnsucht geschlummert hat; wo das Wissen die Tugend ist und die Tugend das Glück, wo die Schönheit den Weltsinn sichtbar macht.“ Dass Adorno trotz der auffälligen Parallele zu Musils inzwischen zum Topos gewordenen Bestimmung des Essay(ismus) im Spannungsfeld von Literatur, Kunst und Religion an keiner Stelle auf den Mann ohne Eigenschaften hinweist, kann als Beleg aufgefasst werden, dass Musils Romanfragment in den 1950er Jahren nahezu vergessen war.

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stichfesten, lückenlos durchorganisierten Wissenschaft und einer begriffslos anschaulichen Kunst gemein sind, tragen die Spur repressiver Ordnung.“350 In Luhmanns Theorie der Moderne, die (nicht zuletzt wegen ihrer technischen Terminologie) gerade für Vertreter der ,Frankfurter Schule‘ immer wieder Stein des Anstoßes war,351 ist dieser Prozess aufgrund ihrer konstruktivistisch-evolutionistischen Prämissen unhintergehbar: ,Außerhalb‘ der Systeme ist alles in radikalem Sinne kontingent, da allererst die verschiedenen Subsysteme Kontingenz reduzieren und so Sinn stiften können. Während also die ,Umwelt‘ der Systeme aus Luhmanns Sicht lediglich negativ – als bloßes Rauschen, das gerade aufgrund seiner zu hohen Komplexität völlig sinnlos bleiben muss – zu beschreiben ist, geht Adorno hier implizit von einem ontologischen ,Kernbereich‘ der ,Dinge‘ aus. Im scharfen Gegensatz zur metaphysisch-ontologischen Tradition handelt es sich dabei freilich nicht um das ahistorisch-objektive ,Wesen‘ der Dinge, sondern im Gegenteil um eine Art Reservoir an Kontingenz und Inkommensurabilität, das es immer wieder zu aktivieren gilt, um die Vollständigkeits-Suppositionen der Systemvertreter zu sabotieren. Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann geben sich in der Einleitung der von ihnen herausgegebenen Aufsatzsammlung Essayismus um 1900352 betont kritisch gegenüber philosophisch-poetologischen Bestimmungsversuchen des Essayismus, die sich vor allem deshalb eingebürgert habe, weil die „Undefinierbarkeit“ der Gattung spätestens in den 1990er Jahren zum festen Topos geworden sei.353 Sie plädieren stattdessen für eine Rehistorisierung des Gegenstandes (womit sie die Konzentration auf die „Jahrzehnte um 1900“ rechtfertigen, die sie als „die eigentliche Blütezeit der Essayistik in der deutschen Geistesgeschichte“ betrachten)354 , da die sozialen und medialen Ursachen und Bedingungen dieser ,Blüte‘ im „Aufschreibesystem 1900“ bislang unterbelichtet geblieben seien.355 Ironischerweise konvergiert ihre – in der Einleitung mehrfach paraphrasierte – Diagnose des Hauptgrunds dieser literatur- und geistesgeschichtlichen Entwicklung letztlich jedoch wieder mit Adornos Befund der für die moderne Gesellschaft konstitutiven Desintegration der verschiedenen ,Diskurse‘ und ,Systeme‘: Entsprechend ist es nicht ganz zutreffend, wenn die Herausgeber behaupten, „die wissens- und kultursoziologischen Funktionen der Essayistik um 1900 [. . .], die mit der so häufig beklagten ,Zersplitterung‘ des modernen Lebens und der angestrebten ,Einheit der Kultur‘ 350

351 352 353 354 355

[Adorno 1958, 18]. An diese Diagnose Adornos knüpft noch [Schärf 1999, 14] in seinem Forschungsbericht zum Essay(ismus) emphatisch an; er betont: „[. . .] das eigentliche Problem der Literaturwissenschaft in ihrer Auseinandersetzung mit dem Essay lag zweifellos in ihrem manischen Willen zur Klassifikation, zur gattungspoetischen Ordnung, was letztlich dazu führte, daß ihr der Essay unweigerlich entgleiten mußte.“ Auf wissenschaftlicher Seite habe man „vollständig verkannt, [. . .] daß der Essay gerade aus der Opposition gegen die klassifikatorischen Ordnungen aller Art entstanden ist [. . .]“. Vgl. z.B. zur Debatte zwischen Habermas und Luhmann [Habermas/Luhmann 1971]. [Braungart/Kauffmann 2006]. [Braungart/Kauffmann 2006, VIII]. [Braungart/Kauffmann 2006, VII]. [Braungart/Kauffmann 2006, IX].

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zusammenhängen“, seien bislang noch gar nicht „beleuchtet worden“356 . Wenn sie weiterhin – unter Berufung auf Überlegungen Christoph Brechts357 – vorschlagen, „Essayistik als einen ,Interdiskurs‘ [zu] beschrieben, der, mit Michel Foucault, die diskursive ,Ordnung der Worte und Dinge‘ durchkreuzt und, mit Niklas Luhmann, die funktionale Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Systeme in Neuzeit und Moderne aufzuheben versucht, um neue Sinnkonfigurationen herzustellen“358 , so erscheint dieser Vorschlag angesichts der vorangegangenen Lektüren der „Kleinen Form“ – zumal aufgrund der dort nachgewiesenen Korrespondenzen mit Musils Poetologie der Statistik – als eine Harmonisierung, die der Komplexität der semantischen Problematik dieser genuin interdiskursiven Gattung nicht gerecht wird. Am deutlichsten sieht Adorno den von ihm grundsätzlich problematisierten Anspruch auf „Herrschaft“ im ,eigenen‘ Bereich auf Seiten der modernen Wissenschaft (deren Hang zum „Positivismus“359 bekanntlich zum Ausgangspunkt heftiger philosophisch-soziologischer Debatten der Nachkriegszeit wurde) gestellt: Im Zeichen des aufkommenden Konstruktivismus behaupteten diese, nach ,modernem‘ Verständnis gewönnen Begriffe erst durch ihre (wissenschaftliche) Definition Kontur, und schüfen sich durch diese forcierte Vorstellung einer tabula rasa einen Ursprungsmythos, den Adorno für ideologisch bzw. illusionär hält, wogegen Adorno behauptet: „In Wahrheit sind alle Begriffe implizit schon konkretisiert durch die Sprache, in der sie stehen. Mit solchen Bedeutungen hebt der Essay an und treibt sie, selbst wesentlich Sprache, weiter [. . .].“360 In Bezug auf die Humanund Sozialwissenschaften ist Adornos Argumentation sicher nur schwer zu entkräften. Inwiefern sie auch für die Philosophie zutrifft, sofern diese sich nicht als bloße Spezialform der Textwissenschaft oder Philologie versteht, muss dabei sicher gesondert erörtert werden. Im nun folgenden Kapitel werde ich jedoch eine weitere Dimension der Kontingenzpoetiken der modernen Naturwissenschaft in den Blick nehmen, was die Gültigkeit des Adornoschen Postulat zumindest einschränkt: Die Analyse des epistemologischen Konzepts Gaston Bachelards wird zeigen, dass die humanwissenschaftlichen Bemühung um die wissenspoetische Neufundierung gerade auch naturwissenschaftlicher Disziplinen (die sich letztlich noch immer auf Spielarten von Adornos Argumentation beruft) möglicherweise ebenfalls von einem latent dogmatischen, universalistischen Geist getragen sind, wenn sie die Naturwissenschaften als spezielle Narrationen auffassen und dabei die eigentlich subversive Rolle der axiomatisch-deduktiven Methode der modernen Mathmematik verkennen: Bachelard betont nämlich, dass einzig die dadurch 356 357

358 359 360

[Braungart/Kauffmann 2006, VII]. Vgl. dessen Beitrag zum Essayismus in [Baßler u.a. 1996, 281-292]. In der Exposition schränkt Brecht seinen Gegenstand jedoch deutlich ein, wenn er darauf hinweist, dass es ihm „um jenen spezifischen Diskurs vom emphatischen Essay“ gehe, „den erst die klassische Moderne am Beispiel der literarischen Form, ihrer Traditionen und ihrer zeitgenössischen Erscheinungsformen führt.“ [Baßler u.a. 1996, 281], Hervorh. im Original. [Braungart/Kauffmann 2006, IX]. [Adorno 1958, 17]. [Adorno 1958, 27].

236

Die Obersten der Saboteure

bewirkte Loslösung von common sense und Anschauung zu einer qualitativen Erweiterung und Vertiefung des naturwissenschaftlichen Verständnisses der ,Wirklichkeit‘ führen könne.361 Gleichsam komplementär zur konstruktivistisch-positivistischen Forderung nach systemischer Autonomie und Geschlossenheit verweigert sich der Essay aus Adornos Sicht in doppeltem Sinne der definitorischen Logik.362 Weder lasse er selbst sich als Gattung definieren, noch folge er den wissenschaftlichen Geboten einer vorgängigen Definition seiner Gegenstände, einer methodisch-theoretischen Fundierung oder eines kohärenten Argumentationsgangs: „[W]eil die lückenlose Ordnung der Begriffe nicht eins ist mit dem Seienden, zielt er nicht auf geschlossenen, deduktiven oder induktiven Aufbau“363 , sondern findet seine Form „im Akzentuieren des Partiellen gegenüber der Totale, im Stückhaften.“364 In dieser Parteinahme für Inkohärenz und Fragmentarizität wird Adornos – im Wortsinn radikale – Strategie besonders deutlich: Er knüpft mit seinem Plädoyer für den Essay nicht an die Wertmaßstäbe an, denen Aufklärung und Rationalismus den Nimbus intellektueller Unhintergehbarkeit verliehen haben und die auch den rationalismuskritischen Empirismus letztlich noch voll bestimmten, sondern weist darauf hin, dass erst „der Essay, der Idee nach, die volle Konsequenz“365 in der Wendung gegen ,System‘ und ,Methode‘ ziehe: Selbst die empiristischen Lehren, welche der unabschließbaren, nicht antizipierbaren Erfahrung den Vorrang vor der festen begrifflichen Ordnung zumessen, bleiben insofern systematisch, als sie mehr oder minder konstant vorgestellte Bedingungen von Erkenntnis erörtern und diese in möglichst bruchlosem Zusammenhang entwickeln. Empirismus nicht weniger als Rationalismus war seit Bacon – selbst einem Essayisten – ,Methode‘. Der Zweifel an deren unbedingtem Recht ward in der Verfahrensweise des Denkens selber fast nur vom Essay realisiert. Er trägt dem Bewusstsein der Nichtidentität Rechnung, ohne es auch nur auszusprechen [. . .]. [Adorno 1958’, 21f.]

In diesem Sinne weist auch Christoph Brecht darauf hin, dass der Essay „nicht in einem ,Jenseits der Vermittlungen‘, sondern in einem Universum der kulturellen Ableitungen und Artefakte, vor allem: der Intertextualität“ stehe und „daß die Textur des Essays als eines Textes aus Texten die Anerkennung einer prinzipiellen und unaufhebbaren Kontingenz seines Verfahrens impliziert.“366 Während für die bislang analysierten literarischen Texte, die alle (im oben beschriebenen weiteren Sinne) der „Kleinen Form“ zugeordet werden können, eben dieser Kontingenzsemantik folgen und als Antworten auf die „Frage nach dem Text der Moderne und 361 362 363 364 365 366

Darauf weist [Rheinberger 2006] mit kritischem Blick auf [Latour 1995] in seiner Epistemologie des Konkreten hin. Vgl. [Baßler u.a. 1996, 290]. [Adorno 1958, 23]. [Adorno 1958, 22]. [Adorno 1958’, 21]. S. dazu auch [Greif 2006, 134f.]. [Baßler u.a. 1996, 291].

Kontingenz und Essayismus

237

den Voraussetzungen seiner Herstellung“367 gelesen werden können, fügt sich der Essayismus-Diskurs im Mann ohne Eigenschaften, der sich mit dem für Musils gesamtes Werk prägenden Projekt des „anderen Zustands“ verbindet, bei genauer Betrachtung nicht in dieses Modell ein, sondern wird in folgenreicher Weise utopisch-theologisch aufgeladen. Im folgenden Kapitel untersuche ich die semantische und poetologische Rolle von Zufälligkeit und Möglichkeit in dieser für die moderne Ästhetik ebenfalls zentralen Konzeption.

367

[Baßler u.a. 1996, 281f.].

5 Möglichkeits-Sinne: Kontingenz und Utopie 5.1 Einleitung Bislang standen in der vorliegenden Untersuchung Diskurse im Vordergrund, die Kontingenz negativ als Bruch von Sinnordnungen deuten. Angeregt von der Rede vom unrettbaren Ich1 , der transzendentalen Obdachlosigkeit2 oder auch, wie im zweiten Kapitel gezeigt, von bestimmten Resultaten der modernen Naturwissenschaften, etablieren sich in der Klassischen Moderne unterschiedlich akzentuierte katastrophisch grundierte Untergangsdiskurse. Die kontingenzbedingte Unmöglichkeit einer eindeutigen und klar geordneten Konzeptualisierung der Wirklichkeit wird zur Signatur der Reflexion moderner Kultur. Angelehnt an die Positionen des Erzählers und der Hauptfigur von Musils Mann ohne Eigenschaften habe ich dabei gleichwohl weniger diejenigen emphatisch-modernitätskritischen oder antimodernen Positionen berücksichtigt, die diese Rede vom drohenden ,Untergang‘ in dem Sinne ernst nehmen, dass sie aus der negativen Kontingenzdiagnose die Forderung nach neuer verbindlicher Sinnstiftung ableiten: Mit der in Musils Werk rekonstruierten Poetologie der Statistik, der Avantgarde und der – als Kontingenzgattung der Moderne ausgewiesenen – „Kleinen Form“ habe ich stattdessen ästhetische und narratologische Diskurse fokussiert, die zwar ebenfalls die desemantisierende Dimension der Kontingenz von Ich, Welt und Wirklichkeit betonen, deren katastrophische Deutung aber dadurch suspendieren, dass sie als Beobachter zweiter Ordnung agieren. Aus dieser Perspektive erscheinen Heterogenität, Fragmentarizität und die programmatische Orientierung am Peripheren und Kontingenten als adäquate Formen einer metamimetischen Abbildung der soziokulturellen Wirklichkeit der Moderne, während traditionelle, insbesondere geschlossenere Formen als Produkte eines obsolet gewordenen Modus der Beobachtung erster Ordnung zurückgewiesen werden. Adornos zuletzt dargestellte Reflexion des Essay als einer philosophischen Form greift, orientiert an diesen Diskursen der Klassischen Moderne, schließlich – weit deutlicher als die einschlägigen Texte der 1920er Jahre – die philosophischwissenschaftliche Genese des Kontingenzverdikts an und bemüht sich darum, den grundsätzlich ideologischen Charakter jedes philosophischen oder wissenschaftlichen Notwendigkeitspostulats nachzuweisen. Heterogenität, Offenheit und Kontingenz werden dabei zu unhintergehbaren Grundbedingungen des Erkennens erklärt, wodurch der für Musil und die Vertreter von Avantgarde und „Kleiner Form“ noch bestimmende katastrophische Diskurs als Korrelat der Kontingenzdiagnose 1 2

Vgl. [Mach 1991, 20]. Vgl. [Lukács 1971, 32].

240

Möglichkeits-Sinne

suspendiert wird. Obgleich Adorno mit dieser ,Neutralisierung‘ von Kontingenz argumentativ vor allem eine endgültige Verabschiedung metaphysischer Ansprüche anstrebt, wirken seine Ausführungen durch ihre teils emphatisch-moderne Rhetorik doch keineswegs neutral im Sinne einer skeptischen Urteilsenthaltung, sondern reflektieren einen Diskurs, in dem Essayismus nicht nur als Ausdruck epistemologischer oder ästhetischer Bescheidenheit, sondern als spezifisch moderne Form der Existenz aufgefasst wird. Eine solche existentielle Dimension des Kontingenzdiskurses, in der die Erfahrung von Kontingenz selbst – in freilich paradoxer Weise – zum positiven Ausgangspunkt neuer Sinnstiftung umgedeutet wird, klingt bei Adorno nur an. In den Texten Musils stellt dieses Projekt, das seinerseits Parallelen zu vergleichbaren Konzepten im Diskurs der emphatischen Moderne und der Avantgarde aufweist, ganz explizit die ,Kehrseite‘ der dem katastrophischen Diskurs verpflichteten Poetologie der Statistik und Beobachtung zweiter Ordnung dar.3 Bevor ich mich diesem in Musils Werk unter prominenten Schlagworten wie „Essayismus“, „Möglichkeitssinn“ oder „anderer Zustand“ verhandelten Projekt zuwende, in dem das moderne Kontingenzbewusstsein zur Utopie eines Reichs des Möglichen transformiert wird, in dem die semantischen Rollen von Kontingenz und Ordnung im Vergleich zu den eingangs skizzierten traditionellen, negativen Begriffen von Zufälligkeit gerade vertauscht werden, zeichne ich anhand einer paradigmatischen Position nach, dass diese utopisch-positive Bewertung von Kontingenz auch im Deutungsdiskurs der modernen Naturwissenschaften auftritt: Gaston Bachelard, Begründer der Epistémologie, plädiert in seinen wissenschaftsphilosophischen Texten für einen „nouvel ésprit scientifique“4 , dessen Zentrum die Diagnose der Kontingenz wissenschaftlicher (und zumal philosophischer) Resultate und die Abwendung von apodiktischer Rhetorik und Methodik bildet. Seine Texte, die Adornos Essay-Schrift schon aufgrund ihres Manifestcharakters und ihrer essayistischen Züge ähneln, sind auch ,inhaltlich‘ wegweisend für die im zweiten Kapitel ausführlich dargestellte aktuelle Debatte um die Poetologie des Wissens, die häufig unter expliziter Berufung auf die Resultate der modernen Physik den Essayismus als universelle Form der Beschreibung der Interaktion von Literatur, Kultur und Wissen empfehlen. Diese Tendenz einer Universalisierung des Essayistischen ist jedoch nicht unproblematisch, wie ich durch einen Blick auf die „Verwirrungen“ zeige, in die sich auf Musils Törleß verstrickt: Dabei erweist sich, dass die schon von Eco angedeutete, aber zu stark auf die ,Inhalte‘ der modernen Physik bezogene Parallele von Literatur und Wissenschft nur im strukturellen Sinn verstanden werden darf, dass also der folgende Satz Carsten Könnekers, so sehr er auch das Ziel aller wissenspoetischen Wünsche zu sein scheint, nur eingeschränkt gültig ist: „Der moderne deutschsprachige Roman war zu einem guten Teil eine Geburt aus dem Geiste 3 4

Vgl. im Gegensatz dazu den Ansatz von [Berger 2004, 24], die die Konzepte von Beobachtung zweiter Ordnung und Möglichkeitssinn für „kompatibel“ hält. So der für sein Werk programmatische Titel einer Schriften von [Bachelard 1988].

Einleitung

241

der – nicht minder ,modern‘ gewordenen – Physik.“5 Gerade in Musils – zweifellos ,modernem‘ – Erstlingsroman fordert der verwirrte Protagonist nämlich von der ,modernen‘ Wissenschaft, sich doch wieder dem Goetheschen Anspruch auf ,Anschaulichkeit‘ zu fügen, doch gelangt aufgrund seines Scheiterns zu einer metaphorischen Deutung des Wissens, die sich nur durch starke Trivialisierung auf eines der von mir rekonstruierten Interpretationsparadigmen der modernen Physik zurückführen ließe. Damit soll anhand einer konkreten wissenspoetischen Lektüre gezeigt werden, dass die Vorstellung, moderne Literatur und moderne Wissenschaft müssten oder könnten im gleichen Sinne ,modern‘ sein, schlicht verfehlt ist, selbst wenn man der ,Biographie des Autors‘ entnehmen zu können meint, dass dieser sich selbst mit der Materie ,auskannte‘. Dieses ,Knirschen‘ zwischen (jeglicher) wissenspoetischen Kategorisierung und konkretem literarischen Texten nimmt nur als Mangel wahr, wer die Rede vom ,offenen Kunstwerk‘ oder von der Literatur als produktivem Interdiskurs noch immer zu zaghaft interpretiert und verlangt, nach einer ,guten‘ Interpretation müsse Kunst vollständig in ihren Kontexten aufgegangen sein: Literatur darf aber Wissen immer wieder anders kontextualisieren. Genau dadurch gewinnt schließlich die vorgängige Kategorisierung ihr Recht, denn erst sie macht eine Wahrnehmung der Vielfalt möglich, mit der literarische Texte anders geschrieben, kontextualisiert und gelesen werden können.

5

[Könneker 2001, 113].

242

Möglichkeits-Sinne

5.2 Utopische Kontingenz-Poetiken der modernen Naturwissenschaft: Physik als Realisierung des Möglichen Gegenüber den im zweiten Kapitel dargestellten Interpretationslinien der modernen Physik konstituiert sich eine dritte Deutungstradition gerade dadurch, dass sie an die emphatische Kontingenzdiagnose des katastrophischen Diskurses anknüpft, doch diese Kontingenz im Sinne einer utopischen Möglichkeitsoffenheit positiv umdeutet. Während Cassirer mit seinen Beiträgen darauf zielt, die Katastrophenszenarien besonders der konservativen Kulturkritik zu ,neutralisieren‘, die Kontingenzen im wissenschaftlichen Diskurs aufspürt und negativ als Charakteristika einer modernen Kultur interpretiert, die vor allem durch die Auflösung von Sinnordnungen charakterisiert ist, begrüßt und forciert die utopische Interpretation diesen Untergang, argumentativ in der Nähe zur künstlerischen Avantgarde, als Voraussetzung einer prononcierten anthropologischen Modernisierung im Zeichen eines „homo aleator“6 und eines „nouvel esprit“.7 Das Schlusswort aus Max Borns „gemeinverständlich[er]“ Darstellung der Relativitätstheorie gibt einen ersten Hinweis darauf, dass auch eine Diskurstradition besteht, in der Kontingenz im Zusammenhang mit der modernen Physik positiv bewertet wird:8 Einsteins Resultate seien zwar ,eigentlich‘ eine rein mathematischphysikalische Theorie,9 also keine „Weltanschauung“, könnten aber doch zu einer solchen führen, da auch „außerhalb der Wissenschaft“ eine „relative Betrachtung ein[en] Gewinn [darstelle], eine Erlösung von Vorurteilen, eine Befreiung des Lebens von Normen, deren Anspruch auf absolute Geltung vor dem kritischen Urteil des Relativisten dahinschmilzt.“10 Als Beispiel für die – bei Born durch die positive Umdeutung des meist negativ konnotierten ,Relativismus‘ angedeutete – utopische Lektüre der modernen Physik untersuche ich im Folgenden den 1934 erschienenen Text Le Nouvel esprit scientifique11 , in dem sich der französische Philosoph Gaston Bachelard – in deutlicher Nähe zu Adorno12 – mit der Genese der modernen Naturwissenschaften, insbesondere aber der mathematischen Physik, auseinandersetzt und dabei Kontingenz zum zentralen Konzept einer umfassenden wissenschaftlichen, philosophischen und anthropologischen Erneuerung macht.13 Vor allem die von Descartes begründete philosophische Tradition, die 6 7 8 9 10 11 12 13

[Kassung 2001, 190]. [Bachelard 1988]. [Born 1920]. Entsprechend klammert [Born 1920, VII] die philosophische Dimension der Relativitätstheorie eingangs explizit aus. [Born 1920, 236]. Ich zitiere der besseren Lesbarkeit halber aus der deutschen Übersetzung [Bachelard 1988]. Vgl. hierzu den letzten Abschnitt des vorigen Kapitels. Bachelards Position unterscheidet sich dabei deutlich von zahlreichen anderen französischsprachigen Stellungnahmen zur modernen Physik, wie [Hentschel 1990, 79] ausführt: „Gerade in Frankreich überlagerte sich dieser allgemeinen Unzufriedenheit mit den ,modernistischen‘ Ten-

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lange als unhintergehbare Grundlage jeglicher konkreten wissenschaftlichen Betätigung aufgefasst worden sei, betrachtet Bachelard als zentrales Hindernis für die Durchsetzung des „neuen wissenschaftlichen Geists“:14 Während die Naturwissenschaft Descartesscher Prägung sehr logisch aus Einfachem Komplexes machte, versucht das heutige wissenschaftliche Denken, das komplexe Reale hinter den einfachen Erscheinungsformen zu erkennen; sie bemüht sich, den Pluralismus unter der Identität zu entdecken, Möglichkeiten auszudenken, wie sie die Identität jenseits der unmittelbaren Erfahrung brechen kann, die allzu rasch zu einem Gesamtbild zusammengefaßt wird. [Bachelard 1988, 138f.]

Entsprechend plädiert Bachelard für eine Umkehrung der epistemologischen Hierarchie zwischen Philosophie und Naturwissenschaft und gesteht der modernen Physik zu, rein philosophisch-rationalistisch begründete Wirklichkeitsmodelle, die „angesichts der Realität des Laboratoriums ihre Festigkeit“15 verloren hätten, grundlegend zu revidieren: „Die Wissenschaft bringt in der Tat Philosophie hervor. Die Philosophie muß daher ihre Sprache so anpassen, daß sie das zeitgenössische Denken in seiner ganzen Flexibilität und Veränderlichkeit auszudrücken vermag.“16

14

15 16

denzen der Wissenschaft noch ein nationalistisches Ressentiment speziell gegen die Deutschen, denen gerne unterstellt wurde, daß sie in ihrer Wissenschaftspraxis den ,esprit de finesse‘ gegenüber dem ,esprit de géometrie‘ zu sehr vernachlässigten und dadurch zur Konstruktion angeblich abstruser, hyperformalistischer ,Theorienungetüme‘ verleitet würden.“ Insbesondere Henri Bergsons Durée et simultanéité à propos la théorie d’Einstein von 1921 habe diese Haltung gefördert. Vgl. zur chauvinistisch motivierten Ablehnung der Relativitätstheorie auch [Hentschel 1990, 126ff.]. Bachelard kritisiert in verschiedenen Zusammenhängen die Grundpostulate klassischer philosophischer Disziplinen wie Erkenntnistheorie, Metaphysik und Ontologie und ihre psychologischen, anthropologischen und wissenschaftlichen Derivate als Hemmnisse des neuen wissenschaftlichen Geistes: Erkenntnistheoretische Konzepte, die auf den „gesunden Menschenverstand“ [Bachelard 1988, 146] rekurrierten – vgl. für eine ausführliche wissenschaftsgeschichtliche Analyse der „Common-sense-Argumente“ gegen die Relativitätstheorie [Hentschel 1990, 74ff.] –, operierten oft mit einem unzureichend reflektierten Ideal von ,Klarheit‘ und ,unmittelbarer‘ Evidenz: „Global betrachtet, besteht dieses Denken darin, daß man die Perspektive intellektueller Klarheit zur Unbeweglichkeit verdammt, weil man meint, die klarsten Gedanken stellten sich stets auch als erstes ein, die damit gewonnene Ebene müsse auch weiterhin die Bezugsebene bleiben, und alle weitere Forschung habe sich an dieser Ebene ursprünglich gewonnener Klarheit auszurichten.“ Inakzeptabel sei weiterhin die metaphysische „Lehre von den einfachen und absoluten Wesenheiten“ [Bachelard 1988, 141], die durch die Substantive auch den Gebrauch der natürlichen Sprachen beeinflusse, da „die Rolle einer Sache ihrer Natur vorausgeht und [. . .] Wesen und Relation immer schon aufeinander verwiesen sind.“ [Bachelard 1988, 27] Entsprechend seien schließlich ontologische Konzepte obsolet, die sich an der ,alltäglichen‘ Dingwelt orientieren und so in naiver Weise sämtliche Erkenntnisobjekte als Dinge behandeln, etwa indem sie ihnen Eigenschaften und Identität zuschreiben. Der „neue wissenschaftliche Geist“ widerspreche in zentralen Punkten „jeglicher substantialistischen, auf das Innerste der Substanz fixierten Zuschreibung von Eigenschaften“ und schließe „Identität systematisch zugunsten des Unterschieds aus.“ [Bachelard 1988, 82]. [Bachelard 1988, 22]. [Bachelard 1988, 8f.].

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Bachelard würdigt die Wissenschaften also gerade aufgrund ihres Transformationspotentials und nicht als Ort der archivarischen Verwaltung und Akkumulation von Fakten und Notwendigkeiten. Im Gegensatz zu manch zeitgenössischer Position der Sprachkritik sieht er daher in der Kontingenz der Sprache keineswegs ein erkenntnishinderliches Problem.17 Gerade umgekehrt lehnt er traditionelle Philosophie und natürliche Sprachen, Anschauung und ,common sense‘ genau in dem Maße ab, wie sie ihre Kontingenz rhetorisch-diskursiv marginalisieren:18 „Psychologisch ist sich der heutige Physiker durchaus bewusst, daß die rationalen Gewohnheiten, die aus der unmittelbaren Erkenntnis und dem nutzenorientierten Handeln resultieren, Versteifungen bedeuten, die er aufheben muß, wenn er den spirituellen Elan der Entdeckung wiederfinden will.“19 In Analogie zu einigen zentrale Paradigmen der modernen Physik (wie den nichteuklidischen Geometrien, der nichtnewtonschen Astronomie Einsteins und dem durch die Quantenmechanik propagierten Indeterminismus bestimmter Naturvorgänge) verfolgt Bachelard das philosophische Ziel einer „nichtcartesischen Epistemologie“, wobei die Negationen jeweils im Sinne einer vertiefenden und verallgemeinernden Aufhebung der Tradition zu verstehen seien.20 Dass das geometrische Denken seit Euklid bis ins 19. Jahrhundert als geschlossene Einheit aufgefasst worden sei, beweise nicht zuletzt die Diskursivität selbst elementarer kognitiver Strukturen. Die Dominanz der euklidischen Geometrie habe in der europäischen Geistesgeschichte ebenso wie im je individuellen Geist „eine ganze Infrastruktur euklidischer Prägung“ bzw. ein „geometrisch Unbewusste[s]“21 produziert, dessen Wahrheit noch Kant so unumstößlich erschienen sei, dass er sie – als Zeitgenosse der mathematischen ,Pioniere‘ der Nichteuklidik – zur Basis der Vernunft gemacht habe:22 „Von Euklid an erfuhr das geometrische Denken durch 17 18

19 20

21 22

[Moszkowski 1911, 280] verweist in diesem Zusammenhang auf die sprachkritisch argumentierende Erkenntniskritik Fritz Mauthners. [Caws 1966, 30] weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang der Traum sowohl bei Bachelard als auch im Surrealismus eine wichtige Rolle spielt: „The function of the unreal is to dynamize the sluggish and fixed world of every day ,reality‘. ,L’imagination dynamique est la volonté qui rêve‘, says Bachelard.“ [Bachelard 1988, 43]. [Heisenberg 1959, 113] führt diesbezüglich aus: „In der ganzen Periode von den Mathematikern der Antike bis zum 19. Jahrhundert war die Euklidische Geometrie als selbstverständlich angesehen worden. Die Axiome des Euklid galten als die Grundlage für jede mathematische Geometrie, eine Grundlage, die nicht in Frage gestellt werden konnte. Dann fanden im 19. Jahrhundert die Mathematiker Bolyai und Lobatschewsky, Gauß und Riemann, daß man andere Geometrien konstruieren kann, die mit derselben mathematischen Strenge entwickelt werden konnten wie die Euklidische. Daher wurde die Frage, welche Geometrie die richtige war, von da ab eine empirische Frage. Aber erst durch das Werk von Einstein konnte diese Frage wirklich von den Physikern aufgegriffen werden.“ [Bachelard 1988, 41]. [Meyer 1992, 162] betont, wie „abscheulich und kränkend“ schon der Plural im Terminus „nichteuklidische Geometrien“ für einen „orthodoxen Rationalisten“ sein musste. Um deren kulturgeschichtliche Bedeutung einzusehen, müsse man sich vergegenwärtigen, „daß die euklidische Geometrie – vielleicht zusammen mit einigen Prinzipien der Newtonschen Mechanik – Symbol und letzte Bastion einer bei den Griechen inthronisierten überempirischen Vernunft war, die durch

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zwei Jahrtausende hindurch zwar zahlreiche Erweiterungen, doch die Grundgedanken blieben dieselben, und man durfte annehmen, daß diese geometrischen Grundgedanken zugleich die Grundlagen der menschlichen Vernunft darstellten. Auf dieser Unveränderlichkeit der Geometrie errichtete Kant den ganzen Bau der Vernunft.“23 24 Dass die natürliche Sprache maßgeblichen Einfluss auf die Frage nach der Alleingültigkeit der euklidischen Geometrie haben kann, zeigt schon die scheinbar ganz harmlose umgangssprachliche Rede von ,der Parallele‘ zu einer Gerade durch einen Punkt, die bereits auf grammatikalischer Ebene deren Existenz und Eindeutigkeit unterstellt und so den Eindruck konserviert, die euklidische Geometrie sei das natürlichste oder vernünftigste geometrische System. Erst um 1900 habe sich der epistemologische Status der euklidischen und der nichteuklidischen Geometrien geklärt, als all diese ,Geometrien‘ als Spezialfälle einer neuen Totalität, der „Pangeometrie“ erkannt wurden,25 die „beliebige Annahmen“ eliminiere bzw. neutralisiere, „indem sie ein systematisches Tableau aller Annahmen zu geben versucht.“26 Mit deutlichem Überlegenheitsgestus stellt Bachelard klar, dass die moderne Wissenschaft „die euklidische Übersetzung des Phänomens als vereinfachtes – und nicht mehr nur einfaches – Bild [betrachte]. Und mit aller Klarheit sieht sie auch die funktionelle Verkürzung, Verkleinerung und Armut dieses vereinfachten Bildes.“27 Dieses historische Beispiel erachtet Bachelard als besonders überzeugenden Beleg seiner These, die moderne Epistemologie dürfe nicht mehr als übergeordnete philosophische Beschäftigung mit – vermeintlich – unumstößlichen Grundlagen der Erkenntnis aufgefasst werden. Ein „Rationalismus, der zur Korrektur von Aprioriurteilen genötigt war“, könne „kein geschlos-

23 24

25 26 27

radikale Metamorphosen bis in die Kantische Transzendentalphilosophie hatte gerettet werden können.“ Vgl. zur Geschichte der Geometrie im Zusammenhang mit den zeitgenössischen Debatten um die Relativitätstheorie auch [Hentschel 1990, 293ff.]. [Bachelard 1988, 25]. In diesem Zusammenhang wird der Unterschied zu Cassirers Position besonders deutlich: Dieser stimmt zwar mit Bachelard darin überein, dass die moderne Physik eine Herausforderung für die Philosophie darstellt, bemüht sich aber zu zeigen, dass sie im Kern mit Kants kritischer Transzendentalphilosophie vereinbar ist, also keine grundsätzliche Revision epistemologischer Grundauffassungen erforderlich macht. Es spricht einiges dafür, dass Cassirer mit dieser Auffassung im 20. Jahrhundert zu einer Minderheit gehört: [Bense 1951, 148-172] etwa gelangt anhand eines Vergleichs der naturphilosophischen Auffassungen der Zeitgenossen Kant und Gauß (der als einer der ersten die physikalische Bedeutung nichteuklidischer Geometrien in Betracht zog) zu einer ähnlichen Einschätzung wie Bachelard: Die Position der „Transzendentalen Ästhetik“ in der Kritik der reinen Vernunft, wonach Raum und Zeit als reine Anschauungsformen a priori die von der reinen Vernunft immer schon vorgegebene und daher invariable ,Bühne‘ jeglicher Naturvorgänge darstellen, entspreche der newtonschen Mechanik. Unter „Raum“ etwa sei bei Kant der „euklidische, dreidimensionale, gerade Raum“ zu verstehen, „der für die Weltereignisse sozusagen als ,Behälter‘“ fungiere. [Bense 1951, 165]. Für eine zeitgenössische Darstellung der Rolle Kants für die moderne Naturphilosophie vgl. [Classen 1908, 156ff.], für eine aktuelle wissenschaftsphilosophische Bekräftigung der Position Bachelards und Benses auch [Süßmann 1995, 188]. Vgl. zum philosophiehistorischen Hintergrund [Meyer 1992, 17f. und 162ff.]. [Bachelard 1988, 31]. [Bachelard 1988, 43].

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sener Rationalismus mehr sein.“28 Bachelards Plädoyer für die Aufwertung der epistemologischen Rolle der Naturwissenschaft gründet nicht zuletzt auf einer Dekonstruktion der traditionellen Hierarchie von Qualität und Quantität – war doch der Philosophie traditionell die Aufgabe einer in emphatischem Sinne qualitativen Beschreibung der Wirklichkeit zugekommen, welche konkrete wissenschaftliche Resultate höchstens als Beispiele in Betracht ziehen zu müssen glaubte, da diese einer ,bloß‘ quantitativen Erforschung von Aspekten der Realität verhaftet seien. Entsprechend sei die Wissenschaft lange den vermeintlich ,übergeordneten‘ philosophischen Prinzipien Descartes’ gefolgt.29 Der fundamentale Wandel von der klassischen zur modernen Physik, den Bachelard für Wissenschaft und Philosophie für vorbildlich hält, geht mit einer sukzessiven Auflösung vermeintlich unumstößlicher und ,notwendiger‘ Grundannahmen und -gesetze in Kontingenzen einher.30 Stärker noch als die mathematische Entwicklung der nichteuklidischen Geometrien sei Einsteins Relativitätstheorie bloß als revolutionärer „Ausbruch“ aus der newtonschen Mechanik möglich gewesen,31 da man in deren Rahmen nahezu alles habe erklären können:32 „In der Newtonschen Welt lebt es sich übrigens wie in einer hellen, geräumigen Wohnung. Auf den ersten Blick war das Newtonsche Denken ein ausgesprochen klares Beispiel geschlossenen Denkens; verlassen

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[Bachelard 1988, 8]. Diese methodische Präferenz der Quantität gegenüber der Qualität sieht auch [Cassirer 1921, 1340] als konstitutives Merkmal der mathematisch fundierten Naturwissenschaften: Insbesondere die Physik verfolge das „Ziel, alle Qualitäten in reine Quantitäten, allen Inhalt der subjektiven Wahrnehmung in objektive Größenwerte, alles bloß empfundene Dasein in ein exakt meßbares Sein umzuwandeln“. Zwar meint auch Cassirer dies nicht abwertend, er möchte aber dennoch am traditionellen Verhältnis von Philosophie und Physik festhalten. Diese Sphäre „reine[r] Quantitäten“ ist die physikalische Realität: „Ein farb- und klangloses, ein in keiner sinnlichen Wahrnehmung mehr fassbares Reich – das Reich der Atome und Kräfte – wird erschlossen; ein neues Sein und eine neue Ordnung wird behauptet.“ (Ebd.). Vgl. dazu [Scheibe 1985]. [Heisenberg 1959, 118] weist diesbezüglich – anhand der Begriffe Raum und Zeit – auf die Rolle hin, die (subtile) Sprach- und Begriffskritik bei der Entwicklung der modernen Physik gespielt hat: „Selbst die präzise und widerspruchsfreie Formulierung dieser Begriffe in der mathematischen Sprache der Newtonschen Mechanik oder ihre sorgfältige Analyse in der Philosophie Kants hatten keinen Schutz geboten gegen die kritische Analyse, die später durch außerordentlich genaue Messungen möglich gemacht worden ist.“ [Classen 1908, 83ff., hier 84] weist dem einflussreichen wissenschaftskritischen Werk Ernst Machs eine zentrale Rolle als Impulsgeber grundlegender Revisionen naturwissenschaftlicher Begriffe und Theorien zu: Er habe „mit manchem Vorurteil über die Unerschütterlichkeit unser (sic!) physikalischen und besonders mechanischen Grundvorstellungen aufgeräumt [. . .]. Durch den wissenschaftlichen Materialismus war man in eine Art Scheinsicherheit gewiegt, derart, daß man die Grundbegriffe der Trägheit, der Masse, der Kraft und ähnliches für philosophisch so unerschütterlich festgelegt glaubte, daß es von großem Nutzen war, aus den Machschen Arbeiten zu sehen, wie alle diese Vorstellungen erst mühsam, nach mannigfachen verfehlten Versuchen langsam geworden sind; wie sie offenbar keine Denknotwendigkeiten sind, sondern wie die Menschen wiederholt viele Jahrzehnte lang in durchaus anderen Begriffsformen sich die Dinge vorzustellen vermocht haben.“

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konnte man es nur durch einen Ausbruch.“33 Dennoch nimmt die Relativitätstheorie nach ihrer Etablierung eine der „Pangeometrie“ entsprechende Rolle ein, da sich die Newtonsche Mechanik als Spezialfall der Einsteinschen verstehen lässt;34 wie die einstige Vorrangstellung der euklidischen Geometrie durch ihre (vermeintliche) Untrennbarkeit von Anschauung und Vernunft gestützt worden war, bestand im unmittelbaren menschlichen Vorstellungs- und Erfahrungsraum (aufgrund der geringen Geschwindigkeiten der darin wahrnehmbaren Objekte) kein Anlass, die klassische Mechanik in Zweifel zu ziehen oder gar aufzugeben. Wiederum spielte ein subtiler Zweifel an der physikalischen Verlässlichkeit der natürlichen Sprache eine Initialrolle, geht die Relativitätstheorie doch von einer Analyse der im Rahmen der natürlichen Sprache, Anschauung und Wahrnehmung kaum problematisierbaren Begriffe der ,Gleichzeitigkeit‘35 und ,Masse‘ aus. Zuvor sei man überzeugt gewesen, „dieser erste Begriff der Masse, der in Theorie und Erfahrung gleichermaßen gut begründet war, stehe jenseits jeder Analyse. Diese einfache Idee schien einer einfachen Natur zu entsprechen. In diesem Punkt war die Wissenschaft offenbar die unmittelbarste Übersetzung der Realität.“36 Auch die Dominanz des durch die Quantenmechanik infrage gestellten Determinismus begründet Bachelard konstruktivistisch bzw. metaphorologisch im Sinne Blumenbergs.37 Der Determinismus sei „vom Himmel auf die Erde herabgestiegen“, da die Beobachtung des „allzu vielfältig[en] und veränderlich[en]“ irdischen Geschehens diesen nicht plausibilisieren könne:38 Wollte man die Geschichte des Determinismus nachzeichnen, müßte man die ganze Geschichte der Astronomie aufrollen. In der Tiefe des Himmels zeichnet sich das rein Objektive ab, dem zugleich auch eine reine Schau entspricht. Der regelmäßige Lauf der Sterne lenkt unser Schicksal. Wenn uns im Leben Schlimmes widerfährt, so, weil ein Stern uns beherrscht und mit sich zieht. Es gibt daher eine Philosophie des gestirnten Himmels. Sie lehrt die Menschen das physikalische Gesetz in seiner Objektivität und absoluten Determiniertheit. [Bachelard 1988, 100]

Im Zuge einer zunehmenden Verwissenschaftlichung habe schließlich auch eine spezifische Form von Mathematik zur Beglaubigung des durch ein Konglomerat astrologischer, astronomischer und theologischer Diskurse konstituierten Determinismus beigetragen: Sollte die Welt geregelt erscheinen, mußten die entdeckten Gesetze vor allem mathematisch einfach sein. Der Determinismus konnte sich nur über eine wahrhaft elementare Mathematik durchsetzen. Erst durch diese elementare 33 34 35 36 37 38

[Bachelard 1988, 44]. Vgl. dazu [Ludwig 1995]. Vgl. [Bachelard 1988, 47] und außerdem [Heisenberg 1959, 105ff.]. [Bachelard 1988, 50]. Vgl. [Blumenberg 1999]. [Bachelard 1988, 101].

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Möglichkeits-Sinne

Mathematik erhielt der beständige Zusammenhang, den ein mehr oder weniger vereinfachter Empirismus herzustellen schien, gleichsam den Charakter der Notwendigkeit. Zu einer mehr oder weniger exakten Beobachtung trat eine mehr oder weniger präzise Vorausschau und begründete damit de jure und de facto den Determinismus. [Bachelard 1988, 102]

Während die klassische Physik also durch ihre „elementare Mathematik“ plausibilisiert wird, ist die mathematische Formulierung der Quantentheorie in bisher ungekanntem Maße unanschaulich bzw. konfligiert mit der gewöhnlichen Anschauung.39 Bachelard lässt dies aber gerade nicht als Argument gegen die neue physikalische Theorie gelten, sondern problematisiert umgekehrt den Anspruch der Rückbindung wissenschaftlicher Theorien an das menschliche Anschauungsvermögen, da gerade die „gemeine Anschauung [. . .] im Bereich der Mikrophysik zu schwerwiegenden Fehlurteilen“ führe.40 Am Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenmechanik etwa könne man „weit besser als irgendwo sonst erkennen, wie schlecht uns die unmittelbare Erfahrung berät und wie leicht wir der Einseitigkeit unserer ersten mechanischen Erfahrung verfallen“41 , und im Zuge einer ausführlichen Heisenberg-Lektüre, die lehre, „eine Anschauung durch eine andere [zu] entanschaulichen“42 , plädiert Bachelard dafür, der Anschauung jegliche Letztinstanzlichkeit abzusprechen, behauptet also die Unhintergehbarkeit der Diskursivität und Kontingenz dieses kognitiven Vermögens. Der fundamentale Zweifel an der Verlässlichkeit der Anschauung mündet gleichwohl nicht in einen Skeptizismus, sondern wird im Gegenteil zum Anlass genommen, traditionelle epistemologische Ideale zu invertieren:43 „Direktes in Indirektes verwandeln, Vermitteltes im Unmittelbaren, Komplexes im Einfachen aufsuchen – genau darin liegt die Revolution, die der Empirismus durch die Wellenmechanik erfährt.“44 Wie schon Nichteuklidik und Relativitätstheorie deutet Bachelard auch die Quantenmechanik als wissenschaftlich produktive Verallgemeinerung des Wissens, in der traditionelle Grundvorstellungen von der Natur – im positiven Sinne – aufgehoben seien:45 Von Heisenberg ausgehend, konstituiert sich damit eine nicht-deterministische Physik, die natürlich weit entfernt ist von der brutalen, dogmatischen Negation des klassischen Determinismus. Heisenbergs indeterministische Physik nimmt vielmehr die deterministische Physik in sich auf, indem sie präzise 39 40 41 42 43

44 45

Vgl. zur Frage der Anschaulichkeit der Quantenmechanik [Forman 1994’]. [Bachelard 1988, 73]. [Bachelard 1988, 86]. [Bachelard 1988, 89]. Auch [Cassirer 1921, 1354] bemerkt diese paradox anmutende Tendenz: „Um zu einer in sich geschlossenen, befriedigenden und widerspruchslosen Ordnung der anschaulichen Welt zu gelangen, muß sie (= die Physik) fort und fort Elemente einführen, die sich jeder Möglichkeit einer anschaulichen Darstellung entziehen.“ [Bachelard 1988, 89]. Vgl. für Belege der Behauptung im folgenden Zitat etwa [Heisenberg 1959, 172] oder [Heisenberg 1955, 30].

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die Bedingungen und Grenzen aufzeigt, die es sinnvoll erscheinen lassen, ein Phänomen für praktisch determiniert zu halten. [Bachelard 1988, 122].

Analog dazu versteht sich Bachelards „nichtcartesische Epistemologie“ nicht als „brutale[], dogmatische[] Negation de[r] klassischen“ cartesischen Erkenntnistheorie, sondern als ihre Totalisierung: „Die Haltung eines offenen, rekurrenten Zweifels an der Vergangenheit sicheren Wissens zu bewahren, das ist die Einstellung, die über die cartesische Vorsicht hinausgeht, sie verlängert und erweitert, und die es verdient, ,nichtcartesisch‘ genannt zu werden, insofern das nichtcartesische Wissen das cartesische vervollständigt.“46 Bachelard deutet die cartesische Epistemologie, die nur Erkenntnisse gelten lässt, die sich auf – vermeintlich – völlig gesicherte Grundlagen zurückführen lassen, im Hinblick auf die moderne theoretische Physik als unzulässige Verengung der Konzeptualisierungsmöglichkeiten der Realität.47 Daher verzichtet der „neue wissenschaftliche Geist“ gänzlich auf basale, invariable epistemische ,Bausteine‘, da diese ohnehin immer bloß für simplifizierende ,Nachbauten‘ gewisser Realitätsabschnitte taugten.48 Während Descartes also von der erkenntnistheoretischen Grundannahme ausgeht, die Welt lasse sich auf der Basis gewisser epistemologischer Nuklei vollständig verstehen, unterstellt Bachelard der Realität eine fundamentale Opazität und irreduzible Komplexität, die aber nicht – skeptizistisch – als Erkenntnishindernis aufgefasst, sondern im Gegenteil – konstruktivistisch – als produktives, da irritierendes Movens der fortwährenden Rekonzeptualisierung von Wirklichkeit begrüßt wird.49 46 47

48

49

[Bachelard 1988, 163]. Mit etwas anderer Stoßrichtung lehnt [Heisenberg 1955, 21] vor dem Hintergrund seiner mit Niels Bohr entwickelten Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik Descartes’ Dualismus ab: „Die alte Einteilung der Welt in einen objektiven Ablauf in Raum und Zeit auf der einen Seite und die Seele, in der sich dieser Ablauf spiegelt, auf der anderen, also die Descartes’sche Unterscheidung von res cogitans und res extensa, eignet sich nicht mehr als Ausgangspunkt zum Verständnis der modernen Naturwissenschaft.“ Daraus zieht Heisenberg selbst eine radikale Konsequenz: „Das naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein naturwissenschaftliches zu sein.“ Vgl. dazu die Studie von [Caws 1966, 62] zu den Bezügen zwischen Bachelard und Bretons Surrealismus: „[T]he primary aim of surrealism has always been, als Breton says, to deal a mortal blow to common sense in the name of the marveilleux, its direct opposite.“ Hierin sieht die Verfasserin eine Verwandtschaft zur modernen Naturwissenschaft: „The realm of the poetry is not the only one in which such a revolution occurs; as it frequently happens, science is nearer in spirit to the poetic imagination than to our ordinary prosaic bon sens. In Le Nouvel Esprit Scientifique, Bachelard remarked that the non-cartesian epistemology which marks certain aspects of contemporary science totally destroys our concept of stability.“ [Cassirer 1921, 1354] scheint diese Grundeinstellung – freilich mit deutlich geringerer Emphase – zu teilen: Im Hinblick auf die Relativitätstheorie äußert er, man dürfe „das Prinzip, nach welchem sie denkt und forscht, nicht mit einem letzten dogmatisch-metaphysischen Forschungsergebnis verwechseln“ und „was als naturwissenschaftliche Theorie seine Bedeutung und sein Recht hat, nicht kurzerhand in eine allumfassende ,Weltanschauung‘ und in eine Lösung der ,Welträtsel‘ verwandeln.“ Auch Heisenberg betont, dass sich die Naturwissenschaft des 20. Jahrhundert durch eine spezifische Offenheit gegenüber der Einführung neuer Konzepte bzw. eine generelle Skepsis gegenüber der voreiligen Einordnung von theoretischen und empirischen Resultaten in traditionelle begriffliche Rahmen von der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts unterscheide. Die

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Möglichkeits-Sinne

In diesem Sinne konstituiert sich der „neue wissenschaftliche Geist“ durch eine Kultivierung von Kontingenz: Bachelard verzichtet auf Notwendigkeitspostulate, gibt den Anspruch auf endgültige Explikation ,der‘ Welt auf und erkennt „die eigentliche Aufgabe objektiver Forschung“ darin, die unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit fortwährend zu „komplizieren“.50 Im Gegensatz zu den katastrophischen Interpreten hält Bachelard die „Fiktionalisierung der Physik“51 gerade für die Stärke der modernen Naturwissenschaft. Er gibt die klassische Forderung einer lückenlosen und vollständigen semantischen Kontrolle der Erkenntnisobjekte auf der Basis eines vermeintlich festen Fundaments auf, da sie zwar in gewissem Sinne gesichertes, nicht-kontingentes Wissen produziere, sich aber methodisch dem poetischen Potential des Unklaren, Spielerischen und rein Strukturellen grundsätzlich verschließe. Stattdessen konzeptualisiert Bachelard die Epistemologie des „neuen wissenschaftlichen Geists“ also – schon vor deren Formulierung – im Sinne von Ecos Poetologie des offenen Kunstwerks, wenn er die moderne Physik mit der – auch für Ecos Konzept exemplarischen – Kontingenzpoetik Mallarmés assoziiert:52

50

51 52

Wissenschaft des 19. Jahrhundert war nach Heisenberg durch Pedanterie und Epigonentum gekennzeichnet: Es entwickelte sich „ein starrer Rahmen für die Naturwissenschaft, der nicht nur das Gesicht der Wissenschaft, sondern auch die allgemeinen Anschauungen weiter Volksmassen bestimmte. Dieser Rahmen wurde getragen durch die grundlegenden Begriffe der klassischen Physik, Raum, Zeit, Materie und Kausalität. Der Begriff Wirklichkeit bezog sich auf die Dinge oder Vorgänge, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen [. . .]. Die Materie war die primäre Wirklichkeit. Der Fortschritt der Wissenschaft erschien als ein Eroberungszug in die materielle Welt. Nützlichkeit war das Losungswort der Zeit.“ [Heisenberg 1959, 191f.] Diese Sicht enthält freilich auch einen gewissen für die Moderne insgesamt typischen, nicht ganz uneitlen Aspekt der revolutionären Erhebung aus einer schon lange erstarrten Historie. Diskursgeschichtlich ist aber nebensächlich, ob diese pauschale Einschätzung zutrifft; bedeutsamer ist, dass sich die Moderne durch diesen programmatischen Ablösungsimpetus gerade als Epoche konstituiert. Entsprechend sei man, im Gegensatz zu den Forschern des 19. Jahrhunderts, „weniger geneigt [. . .] anzunehmen, daß die Begriffe der Physik, auch die der Quantentheorie, mit Sicherheit überall in der Biologie oder in anderen Wissenschaften angewendet werden können. Man wird im Gegenteil versuchen, die Tore für den Eintritt neuer Begriffe offenzuhalten, selbst in den Teilen der Wissenschaft, wo die älteren Begriffe für das Verständnis der Erscheinungen durchaus nützlich gewesen sind. Besonders an den Stellen, wo die Anwendung der älteren Begriffe etwas gezwungen oder nicht ganz angemessen erscheint, wird man versuchen, voreilige Vereinfachungen zu vermeiden.“ [Bachelard 1988, 137]. [Caws 1966, 17] deutet dieses Grundpostulat als Anzeichen einer Verwandtschaft von Bachelards Epistemologie und Bretons Surrealismus: „[I]n the Bachelardian universe, our imagination ouverte corresponds to ,l’état manifeste de science ouverte‘ which he describes in ,L’Homme devant la science‘ (1952). It is above all this preoccupation with man’s state of openness that so closely allies Bachelard with the surrealists.“ [Könneker 2001, 109f.]. Im Zuge seiner Beschäftigung mit der Relativitätstheorie postuliert [Cassirer 1921, 1340], dem es um die Marginalisierung der Kontingenzdiagnose zu tun ist, dass dieser Eindruck der Fiktionalität wissenschaftlicher Wirklichkeitsmodelle in der Moderne zwar besonders deutlich (herausgestellt) werde, aber durchaus in Kontinuität mit der klassischen Physik und Kants Erkenntnistheorie gesehen werden könne: Schon lange vor Relativitäts- und Quantentheorie habe sich die Physik ganz bewusst vom Ideal einer unmittelbaren Abbildung der Natur durch die Physik verabschiedet. Die „ersten Begriffe“ der Naturwissenschaft seien „keineswegs Wiederholungen und Abdrücke einer Wirklichkeit, die den Menschen von Anfang an umgibt.“ Vgl. zum Problemkomplex der Fiktiona-

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Mit der Relativitätstheorie haben wir uns weit von jenem analytischen Charakter entfernt, der das newtonsche Denken kennzeichnet. Auf ästhetischem Gebiet finden wir synthetische Werte, die den mathematischen Symbolen vergleichbar sind. Wenn man an jene schönen mathematischen Symbole denkt, in denen Mögliches und Reales sich miteinander verbinden, kommen einem da nicht Mallarmés Bilder in den Sinn? „Die Weite ihrer Inspiration und der jungfräuliche Ton. Man denkt daran wie an etwas, das vielleicht hätte sein können, und zu Recht, denn wir dürfen keine Möglichkeiten unbeachtet lassen, die eine Gestalt umgeben; sie gehören zum Original, mögen sie noch so unwahrscheinlich sein.“ In derselben Weise gehören auch die reinen mathematischen Möglichkeiten zum realen Phänomen, selbst wenn dies den ersten Auskünften der unmittelbaren Erfahrung widerspricht. Was nach Auskunft des Mathematikers sein könnte, kann stets auch vom Physiker realisiert werden. [Bachelard 1988, 59f.]

Der von Bachelard hier lyrisch-pathetisch behauptete Zusammenhang von Mathematik und Kontingenz erscheint aus Sicht der Alltags- und Schulmathematik zunächst recht unplausibel. Tatsächlich fällt es schwer, der Überzeugung auszuweichen, dass 2+3=5 richtig ist, 2+3=6 aber – genau wie jedes andere ,Ergebnis‘ – schlicht falsch. Wer auf dieser Ebene der Mathematik Kontingenzen erblickt, riskiert sogar gesellschaftliche Sanktionen oder will sich durch sein mathematisches Versagen bewusst aus der Gesellschaft der ,Vernünftigen‘ ausschließen: Wenn Musils Moosbrugger etwa im Rahmen einer psychologischen Untersuchung 14 und 14 addieren soll und als Ergebnis „[s]o ungefähr achtundzwanzig bis vierzig“53 zu erhalten behauptet, beweist er damit aus Sicht seiner psychiatrischen Beobachter einmal mehr seinen ,Irrsinn‘, und wenn Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf fröhlich singend verkündet, zwei mal drei gebe vier, stellt sie damit ihr subversives Potential als jugendliche Abenteuerin zur Schau. Diese Beispiele verdeutlichen also gerade kultursemantische Rolle der Mathematik als Bastion der – nicht selten pedantisch behaupteten – Eindeutigkeit und Notwendigkeit und als Kriterium bürgerlicher Solidität. Während sich die Bedeutung solcher Formen des (irren, kindlichen oder avantgardistischen) Verstoßes gegen mathematische ,Selbstverständlichkeiten‘ letztlich gerade durch den impliziten Rekurs auf diese Selbstverständlichkeit konstituiert, fokussiert Bachelard die Transformation der akademischen Mathematik, die – ganz ohne Zweifel an der Richtigkeit des kleinen Einmaleins – etwa seit dem 19. Jahrhundert zu einer radikal amimetischen Wissenschaft umgestaltet wurde:

53

lität auch das Kapitel, das [Hentschel 1990, 276ff.] der Vaihingerschen „Philosophie des Als-ob“ widmet. [Musil 19781 , 240].

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Möglichkeits-Sinne

Selbst die ,natürlichen‘ Zahlen, deren Benennung noch auf eine außermathematische ,Natur‘ verweist, werden in der modernen Mathematik mengentheoretisch konstruiert, indem die Null mit der leeren Menge identifiziert wird, symbolisch 0 = {}, die Eins mit der Menge, die als Element die Null (d.h. die leere Menge) enthält, also 1 = {{}}, die Zwei mit der Menge, die als Elemente die Null und die Eins enthält, also 2 = {{}, {{}}}, und so weiter. Auch vergleichsweise ,realistische‘ Objekte wie Zahlen, mit denen man von klein auf auch im Alltag ,zählt‘ und denen in den natürlichen Sprachen und in der Anschauung recht klare, qualitative Konzepte entsprechen, werden hierdurch vollständig desubstantialisiert. Als einziger objekthafter Konstituent bleibt nur noch die leere Menge übrig. So sehr die Mathematik also mentalitäts- und philosophiegeschichtlich zum Grundbestand des common sense gehören mag, so nachhaltig wird dieser gerade durch die Formalisierung der Mathematik suspendiert. Erst dadurch konnte die Mathematik zu einer spezifischen Keimzelle der modernen Kontingenzkultur werden: „Diese Möglichkeiten bieten sich nicht von selbst an, sie finden sich nicht an der Oberfläche des Seins, in den Modalitäten, in der pittoresken Erscheinung einer ungeordneten, schillernden Natur“. Es bedürfe vielmehr eines beträchtlichen, weder klassisch epistemologisch noch phänomenologisch motivierbaren „algebraischen Realismus“, um die Mathematik als Quelle alternativer Konzeptualisierungen der Realität fruchtbar machen zu können.54 War die Algebra ursprünglich bloß die Kunst, Gleichungen zu lösen, die sich relativ unmittelbar aus der Beobachtung realer Phänomene ergaben, widmet sich die moderne Algebra der Untersuchung von Strukturen und Relationen, deren Realität „nicht durch den Bezug auf ein Objekt, auf eine Erfahrung oder auf ein anschauliches Bild“55 garantiert wird. „[M]athematisch zu denken“ bedeutet in der Moderne zunächst einmal einzusehen, dass „Objekte Realität nur in Beziehungen haben“.56 Da aus Bachelards konstruktivistischer Perspektive „[d]as Spektrum der Erfahrungsmöglichkeiten [. . .] dem Spektrum der axiomatischen Systeme“ entspricht, ist es müßig, die Wahl und Kombination der ,Axiome‘, die diese Relationen regeln (und damit sämtliche Eigenschaften mathematischer Objekte konstituieren) im Rekurs auf eine ,prämathematische‘ Vernunft legitimieren zu wollen: Hier herrscht noch eine ausgeprägte Kontingenz, denn die Unabhängigkeit der Postulate, welche die Relationen zwischen den Objekten herstellen sollen, muß absolut sein, und jedes Postulat muß durch sein Gegenteil ersetzt werden können. [Bachelard 1988, 34]

In bewusster Abwendung von traditionellen philosophischen Konzepten und ihren psychologischen Korrelaten tragen mathematische Objekte als bloße Objekte nicht schon die ,Wurzeln‘ möglicher Relationen, sondern erhalten sämtliche ,Eigenschaften‘ erst als Konsequenz der Relationen.57 54 55 56 57

[Bachelard 1988, 139]. [Bachelard 1988, 33]. [Bachelard 1988, 132]. Dabei kann man natürlich mit einigem Recht einwenden, dass sich die Grunddisziplinen der

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Die moderne Mathematik ist also keine Sprache im Sinne eines „bloße[n] Ausdrucksmittel[s]“ oder „Werkzeug[s] im Dienste einer ihrer selbst bewußten, mit vormathematischer Klarheit ausgestatteten, über reine Ideen gebietenden Vernunft“ mehr, und lässt sich entsprechend nicht mehr auf Anschaulichkeit und Übereinstimmung mit einer prämathematischen Vernunft verpflichten.58 Während diese Algebraisierung und Axiomatisierung im Bereich der Zahlen relativ plausibel erscheint, und etwa erspart, ,inhaltlich‘ zu erklären, warum (−1) · (−1) = 1 gelten sollte, wurde dieselbe Tendenz in der Geometrie zunächst als problematischer empfunden, haben doch viele Gegenstände dieser Disziplin einen besonders starken Bezug zur Anschauung. Gerade deshalb forciert der Göttinger Mathematiker David Hilbert um 1900 auch deren Axiomatisierung, und versucht den Bezug auf die außermathematische ,Erfahrung‘ zu ächten, indem er in Begriffe ,Punkt‘, ,Gerade‘ und ,Ebene‘ in seiner Darstellung vermeidet, und seine geometrischen Sätze stattdessen aus den anfangs axiomatisch festgelegten Relationen zwischen ,Objekten‘ ableitet, die er bloß durch die Notation – A, B, C, . . ., a, b, c, . . . bzw. α, β, γ, . . . – unterscheidet. Bachelard benutzt in seiner Analyse der psychologischen Effekte dieser Formalisierung bemerkenswerte Metaphern aus dem Bereich von Sprache und Poesie und dramatisiert seine Darstellung rhetorisch geschickt, um den Paradigmenwechsel in der Mathematik als paradoxen Aufklärungsvorgang lesbar zu machen. Zunächst betont er die Forcierung der Opazität, die diese wissenschaftliche Transformation kennzeichnet und aufklärerisches Streben nach Klarheit und präsenter Wahrheit konterkariert: Gehen wir also einmal vom Hilbertschen Nominalismus aus; akzeptieren wir für einen Augenblick den absoluten Formalismus, tilgen wir all diese schönen Objekte aus der Geometrie, all diese ästhetischen Formen aus unserem Gedächtnis; die Dinge sind nur noch Buchstaben. Unterwerfen wir uns sodann einem absoluten Konventionalismus; all diese klaren Relationen sind nur noch Silben, die sich auf völlig undurchsichtige Weise aneinanderreihen. Und damit haben wir, zusammengefaßt, in Symbole gekleidet, die ganze Mathematik. [Bachelard 1988, 35]

Die ,Sprache‘ der modernen Mathematik lässt sich strukturalistisch also durch ihre ,Streichung‘ von Signifikaten charakterisieren: Aus der gewohnten, an natürlichen

58

Mathematik trotz ihrer axiomatischen Neufundierung inhaltlich seit Newton und Leibniz nicht grundsätzlich geändert haben. Dennoch hat gerade die Marginalisierung des Anschauungsbezugs und die Suspendierung traditioneller ontologischer bzw. epistemologischer Wirklichkeits- bzw. Wahrheitsansprüche, in diesem Sinne also die Kontingenzoffenheit maßgeblich zum Ausbau der entsprechenden Theorien und zur Entdeckung neuer Anwendungsbereiche beigetragen, wie z.B. [Cassirer 1921, 1357] betont: „Je konsequenter das physikalische Denken auf seinem Wege fortschreitet, um so mehr scheinen ihm die Dinge der gewöhnlichen Weltsicht, die zuvor als die einzigen unangreifbaren Realitäten galten, zu versinken; aber um so deutlicher enthüllt sich ihm auch das Bild seines eigenen mathematischen Kosmos.“ Gleichwohl gehen in Bezug auf Mathematik und Physik radikal erkenntniskritische Deutungen dieses basalen Kontingenzbezugs an der wissenschaftshistorischen Realität völlig vorbei. Vgl. [Bachelard 1988, 55f.].

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Möglichkeits-Sinne

Sprachen orientierten Perspektive bleibt so bloß ein „absoluter Formalismus“ von Zeichen-Folgen übrig, die keine „schönen Objekte“ oder „ästhetische Formen“ mehr repräsentieren. Die anschauungsbedingte Illusion von ,Präsenz‘ und ,Klarheit‘ geometrischer Objekte und ihrer Relationen wird dekonstruiert, die Geometrie wird opak. Bachelard weist diesbezüglich auf den Mathematiker und Philosophen Henri Poincaré hin, der sich nach der Lektüre eines entsprechenden Formelapparats beklagt, „daß er nichts verstanden habe.“59 In ihrer Undurchschaubarkeit und Unverständlichkeit scheint die Transformation der Mathematik also traditionelle aufklärerische Tugenden zu konterkarieren. Bachelard belässt es freilich nicht bei dieser Sichtweise, sondern kritisiert Poincaré, der den Formelapparat „in der Zusammenhanglosigkeit der Konventionen wörtlich“ genommen habe, „ohne ihn wirklich anwenden zu wollen.“ Wende man die Formeln an, zeige sich, „daß sie das Denken überholen, daß sie es mit sich ziehen, ohne daß man wüßte, woraus diese psychologische Wirkung resultierte.“60 Bachelard schreibt den Formeln so eine eigenartige „poetische Überschreitung“ zu, die eine neue Qualität von Klarheit ermöglicht. Durch anfänglichen Verzicht auf Klarheit wird eine ganz neue Form von Wissen und ein ,reicheres‘ Realitätsverständnis zugänglich:61 Wir haben aber auch den poetischen, den schöpferischen, den realitätsschaffenden Impuls der Mathematiker: Ganz plötzlich, in einer offenbarungsgleichen Wendung, formen die verknüpften Silben ein Wort, ein wirkliches Wort, das zur Vernunft spricht und auf etwas in der Realität verweist. Diese unerwartete Bedeutung hat den Charakter einer Totalität; sie tritt erst hervor, wenn der Satz abgeschlossen ist, und nicht schon mit dem Anfang. Und sobald der Begriff sich als Totalität darbietet, übernimmt er die Rolle einer Realität. [Bachelard 1988, 35].

Die Frage nach dem Realitätsstatus von Erkenntnisobjekten im Kontext der theoretischen Physik mündet bei Bachelard in eine Wissenspoetik des Möglichen, die Sein, Realität und Mögliches weitgehend identifiziert: „Das Mögliche und das Seiende sind homogen.“62 Die moderne, axiomatisch fundierte und algebraisierte Mathematik im Hinblick auf die Physik als Quelle des Möglichen, und dem Physiker kommt die Aufgabe zu, diese Möglichkeiten zu ,realisieren‘, d.h. vorhandene Wirklichkeitskonzepte stets durch Inkorporation des Möglichen auszubauen. Die amimetische Symbol-Sprache der mathematisch fundierten modernen wissenschaftlichen Kontingenzkultur lässt sich nicht mehr als bloßes Medium auffassen, das zwischen einer Subjekt- bzw. Autorposition und einer Sphäre von Objekten vermittelt: 59 60 61

62

[Bachelard 1988, 36]. Ebd. Auch [Heisenberg 1955, 18] betont die Notwendigkeit eines „neue[n] Begriffs der wissenschaftlichen Wahrheit“, und stellt mit ähnlicher Stoßrichtung wie Bachelard fest, dass die Konsistenz mathematischer Theorien auch physikalisch zum bedeutendsten Kriterium für ,Realität‘ geworden sei. Vgl. dazu auch [Hallett 1995, insb. 37ff.]. [Bachelard 1988, 60].

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Die mathematische Aktivität ist die eigentliche Achse der Entdeckung; nur der mathematische Ausdruck ermöglicht es, das Phänomen zu denken. Vor einigen Jahren sagte Langevin uns: „Die Tensorrechnung kennt die Physik besser als die Physiker.“ Und tatsächlich ist die Tensorrechnung der psychologische Rahmen für das relativistische Denken, ein mathematisches Instrument, das die moderne Physik erst geschaffen hat, geradeso wie das Mikroskop die Mikrobiologie hervorgebracht hat. Ohne die Beherrschung dieses neuen mathematischen Instrumentariums sind neue Erkenntnisse auf diesem Gebiet nicht zu erlangen. [Bachelard 1988, 56f.]

Bachelards Position erschöpft sich also gerade nicht in der negativen, sprach- und erkenntniskritischen Deutung der modernen Physik, die Joseph Vogl betont, wenn er – freilich zutreffend – Bachelards „Nein [. . .] zum wissenschaftlichen Faktum als Abbild, zur einheitsstiftenden Figur des Subjekts, zur Evidenz prädiskursiver Erfahrungen und zur invarianten Struktur menschlicher Erkenntnis“ und seine skeptische Haltung gegenüber fester Referenz, Bildhaftigkeit, Anschaulichkeit und Faktizität herausstellt.63 Indem Vogl aber Bachelards Kontingenzdiagnosen in den allgemeinen – ironischerweise äußerst apodiktisch formulierten – Befund der Omnipräsenz von Vagheit und Ambiguität einmünden lässt, um so sein Projekt einer noch ausstehenden Poetologie der Wissenschaften zu plausibilisieren, kappt er die eigentliche Pointe von Bachelards utopischer Interpretation der modernen mathematischen Physik. Bachelards Epistemologie des neuen wissenschaftlichen Geists ist nämlich selbst eine Poetologie der modernen Mathematik, die gerade aufgrund ihrer progammatischen Unanschaulichkeit und Unverständlichkeit utopische Möglichkeitsspielräume eröffnet: Die Realität verwandelt sich zunächst in einen mathematischen Realismus, dann löst der mathematische Realismus sich in eine Art Realismus der Quantenwahrscheinlichkeiten auf. Die Philosophie, die der Disziplin der Quanten – der schola quantorum – folgt, ist bereit, die ganze Realität in ihrer mathematischen Organisation zu denken, oder besser noch: sie gewöhnt sich daran, das Reale in vollkommener Umkehrung des realistischen Denkens metaphysisch am Möglichen zu messen.64

Im folgenden Abschnitt zeige ich, dass die „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ gerade durch die Unvereinbarkeit der von Bachelard propagierten utopischmöglichkeitsoffenen Interpretation einer schöpferisch-amimetischen Mathematik und Törleß’ – durch die moderne Sprachkritik präfigurierte und Vogls Programm 63 64

[Vogl 1997, 112]. [Bachelard 1988, 84f.]. Für eine ähnliche Sicht des Zusammenhangs von Möglichkeitsbewusstsein und moderner Mathematik s. auch [Heisenberg 1959, 154]: „Wenn man versucht, hinter dieser Wirklichkeit [= „unsere[r] ,anschaulichen‘ Wirklichkeit“ „im eigentlichen Sinne“] in die Einzelheiten des atomaren Geschehens vorzudringen, so lösen sich die Konturen dieser ,objektiv realen‘ Welt auf – nicht im Nebel einer neuen und noch unklaren Wirklichkeitsvorstellung, sondern in der durchsichtigen Klarheit einer Mathematik, die das Mögliche, nicht das Faktische gesetzmäßig verknüpft.“

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Möglichkeits-Sinne

der Poetologie des Wissens antizipierende – eigene Überzeugung einer fundamentalen Ambiguität der Wahrnehmung maßgeblich forciert wird.

5.3 Verwirrungen: Probleme der wissenspoetischen Universalisierung des Essayistischen Zu den „Verwirrungen“, in die sich der Protagonist von Musils Erstlingsroman verstrickt, tragen nicht zuletzt mathematische Fragestellungen bei. Im Anschluss an Albrecht Koschorkes systemtheoretisches Kulturmodell, in dem die moderne Kultur als Sphäre der Verwirrung infolge des Fehlens fester Codes, also Mechanismen der verbindlichen Sinnkonstitution beschrieben wird,65 werde ich Törleß’ Probleme im Folgenden als Verwirrung der Interpretationen von Wissen lesen. Bereits das Motto des Romans, in dem Maeterlinck den Vorgang der Versprachlichung als misslingende Bergung eines Schatzes beschreibt, präfiguriert eine katastrophische Deutung wissenschaftlicher Wirklichkeitsmodelle.66 Die wahrnehmende Instanz bemerkt eine fundamentale Diskrepanz zwischen dem außersprachlich vorgestellten Eindruck, „eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben“, und der Feststellung, durch den sprachlichen ,Ausdruck‘ „nur falsche Steine und Glasscherben“ geborgen zu haben.67 Der Vergleich suggeriert, sprachliche Zeichen könnten bloß die „Oberfläche“ der Gegenstände erfassen, während deren abgründige „Tiefe“,vor‘, gleichwohl aber auch ,nach‘ der enttäuschenden Aussprache „im Finstern unverändert“ als echter „Schatz“ „schimmert“.68 Jegliche Versprachlichung, erst recht also jede Systematisierung und Verwissenschaftlichung, führt nach diesem Modell zur Katastrophe der Entwertung, konturiert und bekräftigt damit aber in paradoxer Weise zugleich ein utopisches Versprechen tieferer Bedeutsamkeit. Törleß’ Reflexion über Unendlichkeit, die seine Beschäftigung mit den komplexen Zahlen vorbereitet,69 wird durch das Maeterlicksche Sprachmodell deutlich präfiguriert. In einer phänomenologisch anmutenden Erfahrung scheinen sich ,die Dinge selbst‘ in faszinierend-beunruhigender Weise beim Zögling zu ,melden‘: Der Protagonist blickt in den Himmel und gelangt – aufgrund des Eindrucks eines Mangels seiner Wahrnehmung (der Himmel erscheint ihm plötzlich „unsagbar tief“ bzw. zu „hoch“, reichen seine Blicke doch selbst bei „äußerster“ Anstrengung „um ein weniges zu kurz“) – zu einer intuitiven Vorstellung des Unendlichen, und hat „quälend heftig“ den Wunsch, diesen wahrgenommenen ,Schatz‘ kognitiv ,einzuholen‘und zu fixieren. Der sprachliche Ausdruck des ,Unendlichen‘ versagt da65 66 67 68 69

[Koschorke 2004, 179]. Vgl. [Musil 19782 , 6]. Ebd. Ebd. Vgl. [Musil 19782 , 72].

Verwirrungen

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bei, obwohl Törleß ihn sich wie eine „Beschwörungsformel“ vorsagt.70 Die Worte „es geht immer weiter, fortwährend weiter, ins Unendliche“ werden von Törleß als nichtssagend empfunden, da sie – analog zur Maeterlinckschen Bergung „falsche[r] Steine und Glasscherben“ – „von einer anderen, fremden, gleichgültigen Seite“ des „Gegenstande[s]“ sprechen.71 Die Versprachlichung ,entwertet‘ also die Dinge.72 Die wissenschaftliche Thematisierung forciert diesen Wertverlust noch: Im Mathematikunterricht zeichnet sich das Wort ,unendlich‘ durch seine stete Wiederkehr aus, und seit seiner ,Erfindung‘ im Sinne der Integration in bestimmte mathematische Kontexte scheint es ohne größere Probleme verwendbar zu sein. Man könne „so sicher damit [. . .] rechnen wie mit irgend etwas Festem“. Das mathematische ,Aussprechen‘ des Unendlichen erscheint als GlasscherbenSpiel, in dem mit „gezähmte[n] Begriff[en]“, Ergebnissen der „Arbeit irgendwelcher Erfinder“, „kleine[] Kunststückchen gemacht“ werden. Entgegen dieser wissenschaftlichen Kleinkunst erlebt Törleß die Unendlichkeit als „etwas furchtbar Beunruhigendes [. . .][,] über den Verstand Gehendes, Wildes, Vernichtendes“, das „plötzlich aufgewacht und wieder furchtbar geworden [war]. Da, in diesem Himmel, stand es nun lebendig über ihm und drohte und höhnte.“73 Wie Musils Zögling folgen auch Joseph Vogl und Moritz Baßler in ihren wissenspoetischen Kulturmodellen implizit diesem Maeterlinckschen Konzept, wenn sie ein prinzipielles Komplexitätsgefälle zwischen allgemeiner und wissenschaftlicher Thematisierung eines ,Gegenstands‘ postulieren. Baßler formuliert bloß etwas technischer, was Musils Erzähler Törleß ,erleben‘ lässt: Jedem Wissenszweig, der sich ausdifferenziert, bleibt ein immer enger definierter Objektbereich zugeordnet, den er nach Maßgabe seiner eigenen wissenschaftlichen Paradigmen beschreibt. Im Zuge dieser Entwicklung wird die wissenschaftliche Beschreibung also zunehmend selektiv [. . .]. Die Komplexität der Aspekte eines vorwissenschaftlich gegebenen Objektes wird reduziert zugunsten der Homogenität der wissenschaftlichen Beschreibung, also zugunsten von deren Wissenschaftlichkeit. [Baßler 2005, 169]

Mit Baßler ließe sich Törleß’ Erfahrung also als Wiederentdeckung der Heterogenität der Gegenstände lesen. Der Protagonist kehrt die funktionale Ausdifferenzierung der Mathematik um, die ihre immer differenziertere und also wissenschaftlichere Vorstellung des ,Unendlichen‘ grundsätzlich nur entwickelen kann, indem sie „die Komplexität der Aspekte eines vorwissenschaftlich gegebenen Objektes“ reduziert, um damit im Sinne Luhmanns Sinn zu produzieren. Diese Sicht stellt vor allem das Potential der Literatur als Gegendiskurs heraus, der seinen Sinn gerade dadurch konstituiert, dass er diskursive Sinnordnungen stört, indem er das homogenisierte Wissen der modernen Wissenschaften mit anderen Diskursen kontaminiert und so ganz andere Formen der Wissensorganisation propagiert: 70 71 72 73

[Musil 19782 , 62]. Ebd. Vgl. [Musil 19782 , 63]. Ebd.

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Hinter dem Bug der Ausdifferenzierung, im Kielwasser der Moderne, strudeln die Diskurse sozusagen wieder zusammen. Die Postmoderne wäre in dieser Narration zu beschreiben als die Epoche, die sich der Hybridität der Gegenstände wieder erinnert (prominent etwa in der Ökologie), die die unendliche Vernetztheit aller Dinge ins Bewusstsein und natürlich auch in die technische Praxis zurückholt, die unkontrollierbare Dissemination allen Sinns erkennt und dementsprechend von den (purifizierenden, wissenschaftlichen) Metanarrationen wieder auf Mikrologien umschaltet. [Baßler 2005, 170]

Auch in diesem epistemologischen Modell der „Postmoderne“ folgt Baßler noch der Maeterlinckschen Verheißung eines ,Schatzes‘, dessen Bergung im Rahmen fest begrenzter, systematisisch vorgehender Diskurse aufgrund der dabei notwendigerweise in Vergessenheit geratenden „Hybridität der Gegenstände“ nicht gelingen kann. Wer von der „purifizierenden, wissenschaftlichen“ Beschreibung – die immer bloß „falsche Steine und Glasscherben“ heben kann – auf „Mikrologien umschaltet“, weil er sich auf die „unendliche Vernetztheit aller Dinge“ besinnt, vermag sich dem utopischen ,Schimmern‘ des Schatzes anzunähern. Indem Baßler die Unhintergehbarkeit der Kontingenz jeder Beobachtung, die „unkontrollierbare Dissemination allen Sinns“ unterstellt, empfiehlt er – in Übereinstimmung mit Joseph Vogls diskursanalytischer Poetologie des Wissens – die Collage als Gattung bzw. Text- und Darstellungsverfahren von Wissen: Törleß’ „Verwirrungen“ werden damit von einem defizitären Zustand zu einem Leitbild moderner Repräsentation von Wissen. Die Rolle von Einzelwissenschaften beschränkt sich dabei, in Baßlers Metaphorik formuliert, darauf, einzelne ,Fäden‘ eines „unendlich[]“ vernetzten Wissens-Gewebes (weiter) zu spinnen, wobei die wissenschaftliche Komplexitätsreduktion gerechtfertigt sein mag. Gleichwohl lässt sich das Web- oder Schnittmuster des Wissens-Ganzen aus dieser Perspektive nie vollständig bestimmen. Implizit basiert dieses Modell aber, so sehr es um die Verabschiedung der simplen Repräsentationlogik einer (zumindest potentiell oder approximativ erreichbaren) eindeutigen Identifikation von Zeichen und Bezeichnetem bemüht ist, selbst auf dieser Logik, da es strukturell auf einen – wenn auch ,utopisch‘ und wesentlich ,hybrid‘ gedachten – Gegenstand rekurriert. Der Erzähler, der Törleß die Hybridität ,des‘ Unendlichen geradezu körperlich erfahren lässt, geht – gemäß der Konzepte Maeterlincks und Baßlers – davon aus, dass es ein ,Unendliches‘ gibt, das man mathematisch und auch anders betrachten kann. Im Hinblick auf die „imaginären Zahlen“74 , die Törleß „ganz neuen Respekt vor der Mathematik“ einflößen und (vorübergehend) „aus einer toten Lernaufgabe unversehens etwas sehr Lebendiges“75 machen, scheitert der Zögling nun genau an diesen phänomenologischen Prämissen: In seinem ersten einschlägigen Gespräch mit Beineberg kreist Törleß’ Argumentation um die – vermeintlich selbstverständliche – Feststellung, es gebe keine „wirkliche Zahl“, die „zum Quadrat erhoben“ eine negative Zahl ergebe. Als 74 75

[Musil 19782 , 73]. [Musil 19782 , 75].

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wirklich lässt er bloß „ganz solide Zahlen, die Meter oder Gewichte oder irgend etwas anderes Greifbares darstellen können“ gelten,76 betrachtet also Substantialität und mimetischen Bezug auf ein Signifikat als unverzichtbare Wirklichkeitskriterien. Beineberg nimmt zunächst die Position eines Verteidigers der modernen Mathematik ein, wenn er der Wissenschaft√zugesteht, Relationen „fest[zu]halten“, eine imaginäre „Rechnungseinheit“ i = −1 zu definieren und die Frage nach dem ontologischen Status solcher Symbole bzw. ihrer Signifikate zu suspendieren, die „Operation des Quadratwurzelziehens“ also als bloße Operation zuzulassen.77 Eben diesen – im Kontext des Schülergesprächs eher unwissenschaftlich anmutenden – Vorschlag betrachtet Friedrich Kittler in einer medientheoretischen Studie als entscheidenden Paradigmenwechsel in der Geschichte des Symbol- und Operatorengebrauchs, die er als „Take Off der Operatoren“78 beschreibt. Bereits Leibniz habe im Rahmen seiner mathematischen Arbeiten vorgeschlagen, „für neue Operationen neue Operatoren einzuführen“, diese aber „untereinander abzustimmen“:79 [V]on der Kontingenz ihrer eigenen Operatoren lernte es die Mathematik eines Leibniz, ihnen ihre Macht abzulernen. Nie zuvor hatte jemand den systematischen Versuch gestartet, weder Dinge noch Werte noch Menschen, sondern nackte und stumme Zeichen zu manipulieren. [Kittler 1993, 156]

Da dieser Paradigmenwechsel, auf dem auch Bachelards utopische Epistemologie des „neuen wissenschaftlichen Geists“ basiert, ,Unverständlichkeit‘ und ,Abstraktheit‘ der Mathematik (im Sinne der medientheoretischen Paradigmen des Aufschreibesystems 1800) offenbar deutlich erhöht, hätten sich die Mathematiker – vor allem auf „Druck der Philosophie“, wie Kittler subversiv anmerkt – weiterhin bemüht, den mathematischen Symbol- und Begriffsgebrauch auf außersystemische Wahrheiten und Wesenheiten zurück zu beziehen.80 Carl Friedrich Gauß etwa habe angesichts des – durch zunehmend perfektionierte Formalismen – immer ,mechanischer‘ möglichen Zeichengebrauchs immer wieder dazu ermahnte, ein ,Bewusstsein‘ ihres urspünglichen ,Sinns‘ wachzuhalten.81 Beinebergs kontingenzoffenem Vorschlag, Operationen mit Zeichen auch ohne den Rekurs auf eine den Zeichen äußerliche Bedeutungsebene zuzulassen, steht Törleß äußerst skeptisch gegenüber, wisse man doch „bestimmt, ganz mathematisch bestimmt, daß es unmöglich“ sei, die Quadratwurzel aus −1 zu ziehen. Dabei übergeht er aber das – für ein konzeptionelles Verständnis der komplexen Zahlen fundamentale – Problem, warum z.B. x2 > 0 für jede von Null verschiedene Zahl x überhaupt so ,selbstverständlich‘ ist. Aus der Perspektive der modernen, axiomatisch-deduktiv fundierten Mathematik ergibt sich diese Regel aus der Definition der reellen Zahlen als vollständigem, angeordnetem Körper. (Was dabei 76 77 78 79 80 81

[Musil 19782 , 73]. Ebd. [Kittler 1993]. [Kittler 1993, 156]. [Kittler 1993, 158]. Ebd.

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Möglichkeits-Sinne

,Vollständigkeit‘, ,Anordnung‘ und ,Körper‘ bedeutet, wird durch bestimmte Axiome festgelegt.) Dass die reellen Zahlen in der Weise der Größe nach angeordnet sind, wie dies der alltäglichen Vorstellung von Zahlen entspricht, wird dabei durch die ,Anordnungsaxiome‘ gewährleistet, und aus diesen Rechenregeln folgt (u.a.) x2 ≥ 0 für jede beliebige reelle Zahl x. Im Gegensatz zu den von Törleß als „wirklich“ anerkannten Zahlen bilden die komplexen Zahlen einen vollständigen Körper, der nicht angeordnet ist. Ähnlich wie in den nichteuklidischen Geometrien auf das Parallelenaxiom verzichtet wird, gelangt man zu einem mathematisch konsistenten Verständnis der komplexen Zahlen, indem man die Vorstellung aufgibt, dass man Zahlen der Größe nach ordnen können muss. Statt Törleß auf diese – durchaus konkrete – ,Lücke‘ seiner Argumentation hinzuweisen und im Sinne Bachelards in Aussicht zu stellen, dass die moderne Mathematik sich als radikal amimetische Disziplin konstituiert, die auf ontologische Verwurzelung ihrer Objekte verzichtet und ihre eigenen Grundlagen geradezu methodisch als kontingent betrachten muss, bemüht sich der Lehrer, den Törleß bittet, „ihn besuchen zu dürfen, um sich über einige Stellen des letzten Vortrags Aufklärung zu holen“82 , darum, die Bedeutung von Kontingenz in der Mathematik zu marginalisieren: Er bezeichnet die komplexen Zahlen als „mathematische Denknotwendigkeiten“, die durchaus im Rahmen „natürlicher und nur mathematischer“ Überlegungen verständlich seien, und vergleicht dieses mathematische Phänomen mit der Kantischen Ethik, auf deren „Grund“ man ebenfalls „auf lauter solche Denknotwendigkeiten stoßen [würde], die eben alles bestimmen“.83 So sehr man dieses Vorgehen als didaktisch sinnvoll verteidigen könnte, so zeigt sich doch vor allem an Beinebergs heftiger Reaktion auf Törleß’ Bericht, dass derartige Beglaubigungsstrategien, wonach Mathematik und Philosophie sich bei hinreichend geduldigem Studium als wohlgeordnet und -begründet erweisen, in der Moderne nicht mehr überzeugen können, sondern im Gegenteil gerade katastrophische Deutungen des wissenschaftlichen Kontingenzbezugs provozieren. Vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass manche modernen mathematischen Konzepte dem common sense unzugänglich bleiben, „daß die Sache mitunter so gegen den Verstand geht“84 , wie Törleß formuliert, lässt sich das vom Lehrer in Aussicht gestellte ,nachträgliche‘ tiefere Verständnis leicht als Konsequenz einer diskursiven Manipulation deuten: „Einem Menschen, der nichts wie vernünftig ist, vermögen sie ihre Geschichten nicht vorzuerzählen. Erst wenn er zehn Jahre hindurch mürbe gemacht wurde, geht es. [. . .] [I]st es dann eine Kunst, einem solchen Menschen den Beweis aufzureden? Im Gegenteil, niemand wäre imstande ihm einzureden, daß sein Gebäude zwar steht, der einzelne Baustein aber zur Luft zerrinnt, wenn man ihn fassen will.“85 Während Beineberg diese katastrophische Deutung des Kontingenzbezugs der modernen Wissenschaften – in deutlicher Nähe zu Speng82 83 84 85

[Musil 19782 , 74]. [Musil 19782 , 77]. [Musil 19782 , 81]. Ebd.

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lers oben dargestellten einschlägigen Untergangsvisionen – im folgenden Streitgespräch weiter forciert, enthält sich Törleß weiterer inhaltlicher Erörterungen und kehrt stattdessen wieder zur Reflexion seiner Selbstwahrnehmung im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Konzepten zurück, von der sein Interesse für die Mathematik ausgegangen war: „In meinem Kopfe war vordem alles so klar und deutlich geordnet; nun aber ist mir, als seien meine Gedanken wie Wolken, und wenn ich an die bestimmten Stellen komme, so ist es wie eine Lücke dazwischen, durch die man in eine unendliche, unbestimmbare Weite sieht.“86 Der Erzähler lässt die Mathematik bei Törleß also zu einer Art „Gleichgewichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins“87 führen, und damit mündet die Auseinandersetzung mit der Mathematik in die Beschäftigung mit dem Phänomen des anderen Zustands; Törleß erklärt Beineberg: „[W]enn mich die Mathematik quält, so suche ich dahinter ganz etwas anderes als du, gar nichts Übernatürliches, gerade das Natürliche suche ich, – verstehst du? gar nichts außer mir, – in mir suche ich etwas; in mir! etwas Natürliches! Das ich aber trotzdem nicht verstehe! Das empfindest du aber geradeso wenig wie der von der Mathematik [. . .].“88 Indem Törleß auf ein solches genuin individuelles „Natürliches“, aber dennoch prinzipiell ,Unverständliches‘ zielt, verlässt er explizit die Ebene des Wissens; seine Beschäftigung mit dem Unendlichen oder den imaginären Zahlen erscheinen aus dieser Perspektive vielmehr als eine Form des ,Triëderns‘ im Sinne von Musils berühmtem Prosastück.89 Auch wenn Musil selbst im Essay Zu Kerrs 60. Geburtstag rhetorisch griffig konstatiert: „[D]ie Anpassung an das naturwissenschaftliche Weltbild kann der Literatur nicht erspart bleiben und ein gut Teil ihrer heutigen Gegenstandslosigkeit geht darauf zurück, daß sie sich dabei verspätet hat“90 , dürfen solche Selbstzeugnisse also nicht vorschnell zur Rechtfertigung dienen, Musils literarische Texte – z.B. im Sinne C. P. Snows – selbst als Resultate einer „Anpassung an das naturwissenschaftliche Weltbild“ zu deuten.91 Statt einer solchen „Anpassung“ beschreibt 86 87 88 89 90 91

Ebd. [Musil 19782 , 1140]. [Musil 19782 , 83]. [Musil 19782 , 518-522]. [Musil 19782 , 1183]. In diesem Sinne stellt [Könneker 2001, 2] zwar richtig fest, dass Musil seine zentralen poetologischen Positionen in Auseinandersetzung mit mathematischen und naturwissenschaftlichen Konzepten entwirft. Offensichtlich trivialisierend wirkt sich dieser Befund aber aus, wenn [Könneker 2001, 48ff.] Musils (und Brochs) Protagonisten aufgrund ihrer mathematischen Bildung zu nachgerade priesterlichen Figuren stilisiert: „Der kommende Mensch, der den krisengeschüttelten der Gegenwart überwinden sollte, konnte beiden Autoren (= Musil und Broch, M.D.) zufolge nur ein mathematisch gebildeter sein – idealerweise einer, der sich bereits erfolgreich an der Beilegung der ,Grundlagenkrise‘ beteiligt hatte oder zumindest potentiell dazu in der Lage wäre. Unter diesen Voraussetzungen schickten Broch wie Musil ihre Protagonisten ins Rennen. [. . .] Daß unter den vielen Intellektuellen und Denkern im Bannkreis der Parallelaktion allein er (= Ulrich) fähig erscheint, das Seifenblasendasein des modernen Lebens aufzudecken und neue, verbindliche Wahrheiten – nicht zuletzt im Bereich der Ethik – zu schaffen, liegt prinzipialiter daran, daß er bereits entscheidende Vorarbeit im Zusammenhang mit der ,Grundlagenkrise‘ geleistet hat.“ Gerade Törleß’ Auseinandersetzung mit mathematischen Inhalten verdeutlicht, dass

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und betreibt der literarische Text gerade „Verwirrungen“: Einerseits bildet er damit – als moderner Roman – die Auseinandersetzung der modernen Kultur mit dem Wissen und den Wissenschaften der Moderne in ihrer konstitutiven Heterogenität ab, andererseits entdeckt er gerade diese Verwirrungen als Medium eines ganz anderen und als Sphäre der Kunst. Der folgende, abschließende Abschnitt ist der Rekonstruktion des zugehörigen semantischen und poetologischen Modells gewidmet, das in Musils Texten entwickelt wird.

5.4 Theologie des Essayismus: Kontingenz als Medium eines anderen Zustands im Werk Musils Die für Musils Werk charakteristische Poetologie der Statistik, die Kontingenz als negativ bestimmten, desemantisierenden Letzthorizont und basales Merkmal des modernen ,Weltbilds‘ präsentiert und eine Ästhetik der nüchternen Beobachtung propagiert, wird in seinen Texten durchgehend von einem Diskurs konterkariert, der theologisch-religiöse Züge trägt und insbesondere Musils Konzept des Essayismus prägt. Parallel zu dem monumentalen Subversionsprojekt, das hier als diabolisches Liebeslied der Moderne beschrieben wurde und das jede Form der Kontingenzreduktion als Akt im Geiste des „primitiv Epischen“ unterläuft, indem es die Kontingenz der sinnstiftenden Differenzen anderer Beobachter narrativ und reflexiv durchkreuzt, entwirft Musil – anhand des etwas sperrigen Begriffspaars „ratioïd“/ „nichtratioïd“ –92 bereits in seinen Essays das Konzept eines anderen Zustands. Dies spielt auch im MoE, insbesondere im Zusammenhang mit Ulrichs Schwester Agathe, eine wichtige Rolle und wird dort in auffallender Weise von der sonst dominanten distanzierten Beobachtung zweiter Ordnung ausgenommen. Allen Warnungen vor dem „primitiv Epischen“ zum Trotz kündigt der Erzähler etwa mit bombastischer Rhetorik an: Aber wer das, was zwischen diesen Geschwistern vorging, nicht schon an Spuren erkannt hat, lege den Bericht fort, denn es wird darin ein Abenteuer beschrieben, das er niemals wird billigen können: eine Reise an den Rand der Möglichkeiten, die an den Gefahren des Unmöglichen und Unnatürlichen, ja des Abstoßenden vorbei, und vielleicht nicht immer vorbei führte; ein „Grenzfall“, wie das Ulrich später nannte, von eingeschränkter und besonderer Gültigkeit, an die Freiheit erinnernd, mit der sich die Mathematik zuweilen des Absurden bedient, um zur Wahrheit zu gelangen. (MoE, 761)

Der Erzähler, der hier in ungewohnt pathetischer Form mit seiner Missachtung bürgerlicher Moralmaßstäbe kokettiert, knüpft mit seinem Verweis auf gewisse

92

derartige Integrationsvorstellungen weder der kulturellen Lage der Moderne noch dem poetologischen Anspruch des Texts gerecht werden. Vgl. zu dessen größerem literaturhistorischem Kontext [Eibl 1980, insb. 133ff.].

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mathematische Resultate deutlich an die oben dargelegten utopischen Interpretationen der modernen Wissenschaften an, die – im Zusammenhang mit dem Begriff des Unendlichen und dem nicht unmittelbar plausiblen bzw. elementar motivierbaren Konstrukt der ,komplexen Zahlen‘ – schon maßgeblich zu den „Verwirrungen“ von Musils Zögling Törleß beitragen, wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde. Musils Texte begnügen sich also nicht mit der im strukturellen Sinne negativen Kontingenzdiagnose der Poetologie der Statistik, sondern entwickeln parallel eine Theorie, in der unter Schlagworten wie „Möglichkeitssinn“ und „Essayismus“ Zugang zu einer „nicht-ratioïden“ Sphäre und einem „anderen Zustand“ gesucht wird, indem das Kontingente als das bloß Mögliche positiv zu einem Reich des Möglichen umgedeutet wird.93 Entsprechend ist in zahlreichen Texten Musils ein deutlicher poetologischer Bruch zu konstatieren. Der Autor belässt es nicht bei der negativen Bestimmung von Kontingenz als Resultat eines ironisch-desillusionierenden Beobachtungsmodus zweiter Ordnung, sondern nimmt diese zum Anlass eines Sinnstiftungsprojekts, das sich im Hinblick auf seine rhetorischen und semantischen Strategien als Theologie des Essayismus lesen lässt.94 Hierzu inszenieren die Texte immer wieder Situationen kollabierender Beobachtung, in denen sämtliche Differenzen der ,gewöhnlichen‘ Sinnstiftung zusammenbrechen, und nutzen die daraus resultierende radikale Kontingenz als eine Art Antimedium: Der vollständige Ausbruch aus dem kognitiven Modus des Beobachtens, in dem sich die konventionelle, sprach- bzw. mediengebundene und daher stets mittelbare Sinnstiftung vollzieht, wird als Übergang in einen Bereich inszeniert, in dem eine in emphatischem Sinne ganz andere, von sprachlich-medialer Repräsentation unabhängige Form von Bedeutungskonstitution stattfindet. Kontingenz wird damit in ein semantisch höchst komplex kodiertes textuelles Gewebe integriert, in das sogar Verweise auf ein in der klassischen Moderne auch andernorts virulentes Textkonglomerat aufgenommen werden können, das (nicht nur in der Musil-Forschung) unter dem problematischen Terminus ,Mystik‘ verhandelt wird.95 Die Unterscheidung zwischen der zuvor ausführlich analysierten, desemantisierenden Poetologie der Kontingenz und der bislang nur skizzierten Resemantisierung und Sakralisierung des Kontingenten, die ich hier einführe, wird von Musils Texten selbst eher verschleiert als nahegelegt.96 Entsprechend folge ich poststrukturalistischen Lektüreparadigmen, wenn ich im Folgenden das Sinnstiftungspotential dieser Differenz und ihre aporetischen Tendenzen in den Blick nehme.97 93 94

95 96 97

Vgl. [Dillmann 2009, 203ff.]. Eine ausgezeichnete Monographie zum Problemkomplex Ethik, Religion und Theologie bei Robert Musil hat [Ego 1992] vorgelegt, wo sich eine ausführliche Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschungsliteratur findet. Vgl. [Pott 1993’, 15ff.], einen für die Gesamtkonzeption dieser Untersuchung insgesamt sehr anregenden Aufsatz. S. außerdem die einschlägige Monographie von [Goltschnigg 1974]. Vgl. zum Verhältnis von „Mystik“ und Beobachtung erster bzw. zweiter Ordnung die – von meiner Konzeption deutlich abweichende – Position von [Berger 2004, 206f.]. Der Charakter meiner Deutung manifestiert sich schon darin, dass ich den Ausdruck ,theologisch‘ dem Terminus ,mystisch‘ gerade wegen dessen Präsenz im Vokabular des MoE vorziehe, obwohl

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Während der Erzähler und Ulrich in der Parallelaktionshandlung gerade als diabolische Beobachter zweiter Ordnung auftreten, die – ähnlich wie Kracauer in seinem paradigmatischen Essay Die Wartenden98 – die ,Gottheiten‘ vom Sockel stoßen, mit deren Hilfe sich das übrige Romanpersonal um Kontingenzbewältigung und Sinnstiftung bemüht, und sich der Konstruiertheit und damit der Dekonstruierbarkeit jedes binär organisierten Diskurses bewusst sind, bauen sie im Rahmen der Theologie des Essaysimus selbst Sinnstrukturen auf, die nicht sofort als kontingent ironisiert und entsprechend unterlaufen werden, sondern narrativ gerade gegen eine solche Diagnose immunisiert werden. Unmittelbar fällt eine solche binäre Struktur bei der berühmten Unterscheidung von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn auf,99 aber auch im Kapitel „Die beiden Bäume des Lebens und die Forderung eines Generalsekretariats der Genauigkeit und Seele“ (MoE, 583ff.) referiert der Erzähler Ulrichs (wiederum unverkennbar auf Goethes Faust-Figur verweisendes) Selbstbild einer in zwei „Bäume“ gespaltenen Persönlichkeit und betont die ,Wesenhaftigkeit‘ dieser Reflexion, die für Ulrich „bei weitem mehr“ bedeute als „nur eine zufällige Eingabe“ (MoE, 593). Während der eine „Baum“ Ulrichs Hang zur wissenschaftlich-diabolischen Beobachtung symbolisiert und innerhalb von Musils Werk intertextuell auf das Konzept des „Ratioïden“ bezogen werden kann, wird der andere „Baum“ sofort dem nüchtern-kritischen Beobachterblick entzogen, aber dennoch als höchst bedeutungsvoll markiert:100 „Schwieriger zu erkennen, weil schatten- und traumhafter, waren die Vorgänge im anderen Baum, in dessen Bild sich sein Leben darstellte. [. . .] Ohne Zweifel bildete jene leider etwas lächerliche Geschichte mit der Frau Major den einzigen Versuch zu voller Ausbildung, der auf der Schattenseite seines Wesens entstanden war [. . .]“ (MoE, 592). Diese innerhalb des ersten Buches des Romans recht isoliert wirkende „etwas lächerliche Geschichte mit der Frau Major“, in deren Rahmen der Erzähler seinen Protagonisten Erfahrungen mit dem vom Romanautor andernorts entwickelten psycho-semantischen Konzept des (vom Begriffspaar „ratioïd“/ „nichtratioïd“ theoretisch konturierten) „anderen Zustands“101 sammeln lässt, dient als Chiffre eines emphatisch verstandenen, virtuellen ,ganz anderen‘.102 War forciertes Kontingenzbewusstsein das zentrale Merkmal des ,statistischen‘ Erzählens, so entspricht der Poetologie des anderen Zustands die Inszenierung von kollabierenden Beobachtungssituationen, die gewöhnlichen ,Sinn‘ in eigentlich völlig kontin-

98 99

100 101 102

es in Musils Werk nicht an oft mit Nietzschescher Emphase vorgetragenem Agnostizismus mangelt. Vgl. [Kracauer 1990, 160-170]. S. dazu ausführlich das vorige Kapitel zur „Kleinen Form“. Im Folgenden wird sich aber zeigen, dass die hier angesprochene, als bedeutungsvoll markierte Unterscheidung nicht die in der Forschung bereits endlos rekapitulierte Unterscheidung Wirklichkeit/Möglichkeit ist, sondern eine Unterscheidung ,innerhalb‘ des Möglichkeitssinns. Ich setze mich hierin von Ingrid Bergers Deutung des Möglichkeitssinns ab, die diesen weit stärker mit der Beobachtung zweiter Ordnung parallelisiert: vgl. [Berger 2004, 24]. Vgl. [Vatan 2000, 249]. Vgl. für eine Darstellung der Entwicklung und eine hermeneutische Deutung des Konzepts in Musils Werk [Meister 1983]. Vgl. [Vatan 2000, 257].

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gentes Rauschen auflösen, das dann in programmatischer Umdeutung als Medium des „Nicht-Ratioïden“ erscheint. Einer elaborierten Poetologie der Beobachtung wird so eine nicht minder elaborierte Theologie des Essayismus an die Seite gestellt. Auch der nun umrissene fundamentale Bruch im Musils poetologischen Konzeptionen soll im Folgenden zunächst anhand der Novelle Die Amsel genauer in den Blick genommen werden. 5.4.1 Heiliges Rauschen: Andere Zustände in Musils Erzählung Die Amsel In einer sprachtheoretischen Reflexion wird die oben dargestellte statistisch inspirierte Erzählhaltung der Beobachtung zweiter Ordnung im Text erstmals deutlich konterkariert: Azwei berichtet, dass die Redensart, wonach seine Eltern ihm „das Leben geschenkt“103 haben, eine Initialrolle für seine Erlebnisse gespielt habe: [D]ieser komische Satz kehrte von Zeit zu Zeit wieder wie eine Fliege, die sich nicht verscheuchen läßt. Es ist über diese scheinheilige Redensart, die man uns in der Kindheit einprägt, weiter nichts zu bemerken. [. . .] [D]a erschien es mir doch überaus merkwürdig, ja geradezu als ein Geheimnis, daß es etwas gab, das mir geschenkt worden war, ob ich wollte oder nicht, und noch dazu das Grundlegende von allem übrigen. Ich glaube, dieser Satz barg einen Schatz von Unregelmäßigkeit und Unberechenbarkeit, den ich vergraben hatte. [Musil 19782 , 551]

In seiner zunächst abschätzigen Bewertung der Redewendung nimmt Azwei nochmals die Position des distanzierten, diskursivitätsbewussten Beobachters ein. Er postuliert die ,Scheinheiligkeit‘ sprachlicher Äußerungen, die ein emphatischmoralisches Verhältnis von Eltern und Kindern ausdrücken sollen, deutet sie also nach Maßgabe des akademischen Credos der beiden Figuren als diskursiv vorgefertigte Schablonen und weist die Rede vom Geist sprachlicher Zeichen zurück: „[O]hne Seele und Gott“ wird auch die Sprache zu einer „Maschine“, zu einem bloßen Zeichensystem. Unvermittelt durchbricht Azwei diese diskurstheoretische Reflexion, die den „Wort-Schatz“ zum Zeichenvorrat herabsetzt, und wird zum Schatz-Sucher. Während er die verbindliche Orientierung an diskursiv vermittelter Wert-Setzung aufgrund ihrer Kontingenz ablehnt, vermutet er in einer prädiskursiven, im Rahmen der Poetologie der Statistik nicht zugänglichen Sphäre der „Unregelmäßigkeit und Unberechenbarkeit“ einen „Schatz“, dessen ,Wert‘ sich in Azweis Argumentation gerade durch seine Uneinholbarkeit im Modus normaler Beobachtung und im Medium der konventionellen Sprache konstituiert. Diese (gebrochene) sprachkritische Stellungnahme reflektiert die narrative Faktur aller drei ,Episoden‘ der Novelle. Sie beginnen jeweils als nüchterne Dokumente eines distanzierten Beobachters, um schließlich in die Schilderung eines Beobachtungs-Kollaps zu münden. Die Ordnungsschemata der konventionellen 103

[Musil 19782 , 551].

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Sprache und Wahrnehmung, insbesondere aber auch der Statistik versagen bzw. werden irrelevant, doch gerade der damit einhergehende extreme Einbruch von Kontingenz und die Konfrontation mit bloßem Rauschen werden vom Binnenerzähler in auffallender Weise als zutiefst sinnhaltige Ereignisse gedeutet.104 In der „Geschichte mit der Nachtigall“ wird diese paradox-sinnstiftende, genuin inkommunikable Kontingenzerfahrung durch den Zusammenbruch der normalen Beobachterhaltung narrativ ausgestaltet. Azwei agiert zu Beginn des betreffenden Abends als statistisch-distanzierter Beobachter der urbanen Nachtgeräusche, der seine für diesen Beobachtungsmodus konstitutive ,Nüchternheit‘ durch die Fähigkeit unter Beweis stellt, anderen „Trunkenheit“ zu bescheinigen: „Nach ein Uhr fängt die Straße an ruhiger zu werden; Gespräche beginnen als Seltenheit zu wirken [. . .]. Um zwei Uhr ist Lärmen und Lachen unten schon deutlich Trunkenheit und Späte.“105 Das darauf folgende nächtliche Amsel-Erlebnis lässt diese Beobachtungshaltung kollabieren und macht Azwei selbst zum Betrunkenen: „Mir war taumelnd leicht, obgleich ich mir zu sagen versuchte, daß kein anständiger Mensch so handeln dürfe; ich erinnere mich, ich war wie ein Betrunkener, der mit der Straße schilt, auf der er geht, um sich seiner Nüchternheit zu versichern.“106 Diese Transformation spiegelt sich auch stilistisch deutlich wieder und findet bezeichnenderweise in einer zwielichtigen Zwischensphäre („Ich wußte bald nicht mehr, ob ich wachte oder schlief“107 ) statt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Freuds Psychoanalyse prominent wurde: Zwischen den Vorhängen und den Spalten der Rolläden quoll dunkles Grün auf, dünne Bänder weißen Morgenschaums schlangen sich hindurch. Es kann mein letzter wacher Eindruck gewesen sein oder ein ruhendes Traumgesicht. Da wurde ich durch etwas Näherkommendes erweckt; Töne kamen näher. Ein-, zweimal stellte ich das schlaftrunken fest. Dann saßen sie auf dem First des Nachbarhauses und sprangen dort in die Luft wie Delphine. Ich hätte auch sagen können, wie Leuchtkugeln beim Feuerwerk; denn der Eindruck von Leuchtkugeln blieb; im Herabfallen zerplatzten sie sanft an den Fensterscheiben und sanken wie große Silbersterne in die Tiefe. Ich empfand jetzt einen zauberhaften Zustand; ich lag in meinem Bett wie eine Figur auf ihrer Grabplatte und wachte, aber ich wachte anders als bei Tage. Es ist sehr schwer zu beschreiben [. . .]. Und das Zimmer war nicht hohl, sondern bestand aus einem Stoff, den es unter den Stoffen des Tages nicht gibt, einem schwarz durchsichtigen und schwarz zu durchfühlenden Stoff, aus dem auch ich bestand. Weshalb sollte nicht jetzt geschehen, was sonst nie geschieht? – Es ist eine Nachtigall, was da singt! [Musil 19782 , 551f.]

In einer poetologischen Reflexion nach dieser ersten Amsel-Episode nimmt Azwei sein selbstkritisches Eingeständnis der möglichen Inkonsistenz des Erzählten 104 105 106 107

Vgl. zu einer (allerdings anders akzentuierten) Analyse der Bedeutung von Wahrnehmung bei Musil und Luhmann [Berger 2004, 75ff.]. [Musil 19782 , 551]. [Musil 19782 , 551], Hervorh. M.D. [Musil 19782 , 551].

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nochmals auf, doch konterkariert es – mit Bezug auf die in der Literaturgeschichte tief verwurzelte Erwartung der Rezipienten, wonach sich jede GeschichtenSequenz, die im Rahmen eines literarischen Texts (eines ,Werks‘) erzählt wird, mit interpretatorischem Gewinn als ein Ganzes lesen lassen soll – zugleich in bezeichnender Weise: „Vielleicht habe ich Unrecht, dir diese Geschichte im Zusammenhang mit zwei anderen zu erzählen, die darauf gefolgt sind. Ich kann dir nur sagen, wofür ich es hielt, als ich es erlebte: Es hatte mich von irgendwo ein Signal getroffen – das war mein Eindruck davon.“108 Azwei relativiert das in der anfänglichen Sack-Metaphorik ausgedrückte Kontingenzbewusstsein hier deutlich, indem er es in seiner Beglaubigungsstrategie nicht beim Hinweis auf sein subjektives ,Erleben‘ und ,Erinnern‘ belässt, sondern sich zugleich als Rezipient präsentiert, der „von irgendwo“ ein „Signal“ empfängt. Die Suche nach diesem unbestimmten Ort, d.h. das semantisch-narratologische Problem seiner Beschreibung (Azwei teilt seinem Gesprächspartner mit, „[e]s“ sei „sehr schwer zu beschreiben“) führt ins Zentrum der Musilschen Poetologie, die immer wieder zwischen der statistisch-mechanistischen, Kontingenz als Kategorie der individuellen Unverfügbarkeit, Desemantisierung und Beliebigkeit herausstellenden Dimension und dem Bericht von einer Rezeption bedeutungsvoller Signale changiert, deren Ursprung dann freilich zur poetologisch-diskursiven Debatte steht und erst in wissenspoetischem Kontext voll erschließbar (d.h. genügend komplex beschreibbar) wird. Entsprechend problematisch ist Azweis folgende narratologische Positionsbestimmung, in der er einerseits moralisch-theologische Kategorien und Ansprüche zurückweist, andererseits aber – recht emphatisch – nach der „Wahrheit“ seiner „Geschichten“ fragt: Ich will übrigens nicht deine Lossprechung. Ich will dir meine Geschichten erzählen, um zu erfahren, ob sie wahr sind. [. . .] Halte also daran fest, daß meine Vernunft deiner Aufgeklärtheit nichts nachgeben will. [Musil 19782 , 553].

Schon als Zöglinge lehnen Aeins und Azwei traditionelle religiös fundierte Formen der Selbstvergewisserung und die entsprechenden Verpflichtungen bzw. Angebote – wie z.B. die hier angesprochene Beichte, eine alte und kulturgeschichtlich bedeutsame Form der autobiographischen Rede und der Konstruktion, Evaluierung und Regulierung von Erinnerungen – vehement ab.109 Damit wird aber 108 109

[Musil 19782 , 553]. In der Exposition erfährt der Leser, dass Aeins und Azwei als Zöglinge „hinten bei den Beichtstühlen Karten spielen, auf der Orgeltreppe Zigaretten rauchen oder sich auf den Turm verziehen, [. . .] auf dessen Geländer in schwindelnder Höhe Kunststücke ausgeführt wurden, die selbst weniger sündenbeladene Knaben den Hals kosten konnten.“110 Dieser Bezug ist umso wichtiger, als der Erzähler der Novelle explizit die poetologische Bedeutung der gotteslästerlichen und halsbrecherischen Turnübungen hervorhebt: Während Aeins die Mutprobe nicht wagt, „war Azwei, und das mag gut zu seiner Einführung als Erzähler dienen, in seiner Knabenzeit der Erfinder dieser Gesinnungsprobe gewesen.“ Damit wird der Erzählprozess mit einem sportlich-körperlichabenteuerlichen Akt, ja einem Akrobaten-Kunststück parallelisiert, das aber – entgegen der tra-

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die Frage aufgeworfen, in welchem Sinne der Begriff ,wahr‘ im Kontext der Novelle überhaupt verstanden werden kann, ohne implizit wieder Anleihen bei den abgewiesenen Instanzen zu machen. Azweis Beteuerung, im Sinne der kultur- und literaturgeschichtlich höchst brisanten Differenz von ,Aufgeklärtheit‘ bzw. ,Vernunft‘ und deren (um Begriffe wie ,Aberglaube‘ bzw. ,Irrationalität‘ gruppierten) Gegensätzen keine un-vernünftige, anti-aufklärerische Position einnehmen zu wollen, wird in der zweiten Episode weiter expliziert. Während seines Berichts von einem Fliegerpfeilangriff im Ersten Weltkrieg, den er – wie oben bereits ausgeführt – zunächst mit einer statistischaufgeklärten Erörterung einleitet, Fliegerpfeile seien Waffen mit ballistisch unbefriedigender Trefferquote, bekennt Azwei: „[. . .] [I]m nächsten Augenblick hatte ich auch schon das sonderbare, nicht im Wahrscheinlichen begründete Empfinden: er trifft!“111 Nach einer neuerlichen, strukturell und metaphorisch der AmselEpisode ähnlichen Schilderung eines Beobachtungskollaps, die sich hier in dem – bezeichnenderweise plötzlich eintretenden – „nicht im Wahrscheinlichen begründete[n] Empfinden: er trifft“ ankündigt, nimmt Azwei Bezug auf die wissenspoetisch bedeutsame Differenz von Physik und Fiktion: Ich erfinde das nicht, ich suche es so einfach wie möglich zu beschreiben; ich habe die Überzeugung, daß ich mich physikalisch nüchtern ausgedrückt habe; freilich weiß ich, daß das bis zu einem Grad wie im Traum ist, wo man ganz klar zu sprechen wähnt, während die Worte außen wirr sind. [Musil 19782 , 556]

Zunächst beruft Azwei sich auf den physikalischen Diskurs als Paradigma der Verlässlichkeit und Faktizität,112 der jegliche subjektive ,Verzerrung‘ zu vermeiden und Naturprozesse ,objektiv‘ abzubilden sucht, und setzt seiner „physikalischen“ Darstellung das ,Erfinden‘ von Geschichten entgegen, schließt aber unmittelbar das Eingeständnis an, dass diese Wissenspoetik erster Ordnung, die klar zwischen den Sphären ,Wissen‘ und ,Poetik‘ unterscheiden kann, für Azweis Betrachtung nicht komplex genug ist. Mit Verweis auf den Traum wird die Fähigkeit des sprechenden Subjekts „bis zu einem Grad“ infrage gestellt, die semantische Qualität der eigenen Äußerung zu beurteilen. Sind aber die Unterscheidungen faktisch/fiktional, nüchtern/berauscht oder klar/wirr beobachterabhängig, so

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ditionellen Bestimmung des Ortes – an einem sakralen Ort ausgeführt wird, also insbesondere einen aufrührerischen, subversiven Charakter hat, womit ein spannungsvolles Verwandtschaftsverhältnis von Narration und klerikal-religiösen Formen der Rede angedeutet wird. [Musil 19782 , 556]. Zur literarischen ,Verarbeitung‘ der Weltkriegserlebnisse und insbesondere für eine ausführliche Besprechung der Fliegerpfeil-Geschichte und ihrer autobiographischen Züge s. [Honold 1995, insb. 223ff.]. Vgl. zu diesem Problem [Kassung 2001]. Der Verfasser, der seiner Monographie zur Position des MoE im physikalischen bzw. thermodynamischen Diskurs der Moderne einen Teil des letzten Zitats als Motto voranstellt („ich habe die Überzeugung, daß ich mich physikalisch nüchtern ausgedrückt habe“), ist durchgehend bemüht, die Grenzen zwischen literarischem und physikalischem Diskurs in Bewegung zu halten, um Musils Romanfragment aus verschiedenen Perspektiven als „Entropiegeschichte“ lesbar zu machen.

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erweist sich die zunächst getroffene Zuordnung selbst als kontingent. Während ein Beobachter erster Ordnung die Zuordnungen wissenschaftlich-faktisch und unwissenschaftlich-fiktional für selbstverständlich und natürlich hält, stellt Azwei – mit Luhmann formuliert – die Frage, wer beobachtet.113 Der Narrationsmodus folgt somit einer Logik der Verunsicherung, gerade indem er fortwährend gängige Mechanismen der Sinn-Versicherung zur Disposition stellt und immer wieder verwirft. Auch der Binnenerzähler Azwei ist nach der zweiten Episode in seinem Erzählen „unsicherer geworden“: „[A]ber man konnte ihm anmerken, daß er gerade deshalb darauf brannte, sich diese Geschichte erzählen zu hören.“114 Diese Einschätzung liest sich nachgerade wie eine Poetologie des modernen Essayismus bzw. Fragmentarismus, wobei der Entzug von Sinn nicht primär als Krisensymptom, sondern vielmehr als programmatisches poetisches Verfahren aufzufassen ist, das in Musils Texten intensiv reflektiert und zum Ausgangspunkt einer Resemantisierung und Theologisierung von Kontingenz wird. Dieser Strategie der Novelle, die anfänglich durch Rekurs auf den statistischen Diskurs propagierte negative Kontingenz und Diskursivität der Wirklichkeit und der Erzählung zu reduzieren, indem die Beobachtungskollapse des Protagonisten, die zunächst als forcierte Kontingenzerfahrungen aufgefasst werden müssen, theologisiert werden, werde ich nun abschließend nachgehen. Bezeichnend ist diesbezüglich Azweis Berufung auf – prädiskursiv konzipierte – Instanzen, die Sinn und Zusammenhang seiner Geschichte(n) garantieren: „Das alles hing ganz von selbst zusammen, aber ich weiß nicht wie.“115 Allen drei Episoden ist leitmotivisch ein theologischer Diskurs unterlegt, der dem intellektuellen Credo der Figuren und besonders des Binnenerzählers zum Trotz als Medium der narrativen Einheitsstiftung fungiert. Einerseits bedient sich Azwei deutlich christlich-religiöser Bilder und Vergleiche, um seine (unbeschreiblichen) Zustände zu beschreiben: In der ersten Geschichte wird die Begegnung mit dem Vogel (Nachtigall/Amsel) als „Wunder“ qualifiziert, das Azweis Bewusstsein in einen – im emphatischen Sinne – singulären Zustand versetzt (was zum Beispiel durch das gehäufte Auftreten von Adverbien der Plötz113

114 115

Vgl. dazu den Abschnitt über die Bedeutung von Kontingenz bei Luhmann in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. In diesem Zusammenhang ist freilich auch bemerkenswert, dass einige Protagonisten der modernen Physik selbst maßgeblich an der Subversion der Vorstellung arbeiten, die Physik beschäftige sich im wesentlichen mit der objektiven, von Beobachtung unabhängigen Wirklichkeit: „In früheren Epochen sah sich der Mensch der Natur gegenüber, die von Lebewesen aller Art bewohnte Natur war ein Reich, das nach seinen eigenen Gestzen lebte und in das er sich mit seinem Leben irgendwie einzuornden hatte. In unserer Zeit aber leben wir in einer vom Menschen so völlig verwandelten Welt, daß wir überall [. . .] auf die vom Menschen hervorgerufenen Struturen stoßen, daß wir gewissermaßen immer nur uns selbst begegnen.“ [Heisenberg 1955, 17f.] Heisenberg bezieht diese allgemeine anthropologisch-historische These selbst explizit auf die von ihm formulierte Unschärferelation, die gezeigt habe, dass sich die „Bausteine der Materie“ einer „objektiven Festlegung in Raum und Zeit entziehen“, womit die zuvor selbstverständliche „Einteilung von Welt in Subjekt und Objekt, Innenwelt und Außenwelt, Körper und Seele“ hinfällig geworden sei. [Heisenberg 1955, 18] [Musil 19782 , 557]. [Musil 19782 , 553].

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lichkeit ausgedrückt wird):116 „In einem solchen Augenblick ist man auf die natürlichste Weise bereit, an das Übernatürliche zu glauben [. . .]“117 . Indem Azwei den Singvogel als „Himmelsvogel“ deutet, der „[z]u mir!!“118 geflogen kommt, markiert er eine radikale Abkehr vom Standpunkt statistisch-moderner Wirklichkeitsbetrachtung und macht den Vogel zum Symbol, stattet ihn also mit semantischen Qualitäten aus, deren kontextuelle Bestimmung prinzipiell unmöglich ist. Noch deutlicher wird dieser Symbolstatus in der zweiten Episode, in der sich der „Himmelsvogel“ in ein feindliches Flugzeug verwandelt, das besonders drastisch resemantisiert wird: Es sehe „lustig“ und „fast lieblich“ aus, die Sonne scheine durch seine Tragflächen „wie durch ein Kirchenfenster“ und die akustische Wahrnehmung des von ihm abgeworfene Fliegerpfeils lasse die Soldaten unwillkürlich „wie eine Gruppe von Jüngern da[stehen], die eine Botschaft erwarten“.119 Der Eindruck der Singularität wird explizit als göttliche Präsenz beschrieben („ich war sicher, in der nächsten Minute Gottes Nähe in der Nähe meines Körpers zu fühlen. Das ist immerhin nicht wenig bei einem Menschen, der seit seinem achten Jahr nicht an Gott geglaubt hat“120 ), auch wenn Azwei in der nachträglichen Reflexion diese Umschreibung relativiert (es stecke „eine verdammte Eitelkeit in dieser Einbildung, daß da, hoch oben über einem Kampffeld, eine Stimme für mich singe. Vielleicht ist Gott überhaupt nichts, als daß wir armen Schnorrer in der Enge unseres Daseins uns eitel brüsten, einen reichen Verwandten im Himmel zu haben.“121 ) Ein wesentliches Merkmal der Theologisierung des Texts sind die Providenzpostulate, wobei die ,geheimen‘ Gesetze der Sphäre des anderen Zustands Gott als Determinationsinstanz ersetzen: Schon die Erlebnisse der ersten beiden Episoden werden – in diametralem Gegensatz zu den statistisch geprägten Expositionen – von Azwei als schicksalhaft gedeutet (nach der Begegnung mit dem Vogel verlässt der Protagonist seine Frau, und im Zusammenhang mit dem Fliegerpfeil entgeht er knapp dem schon seltsam sicher geglaubten Tod). Entsprechend rückt in Azweis resemantisierender Narration seine (durch Statistik und Beobachtung zweiter Ordnung depotenzierte) Individualität in den Vordergrund. In der dritten Partie wird diese Identitäts- und Schicksalsthematik nochmals deutlich radikalisiert, wenn Azwei von der plötzlichen Erkrankung und dem Tod seiner Mutter berichtet und diese Ereignisse in eigenwilliger Weise als nicht-kontingent interpretiert, da die Mutter zuvor geäußert hatte, sie wünsche sich zu sterben, um ihrem Sohn mit der Erbschaft zu helfen, und kurz darauf tatsächlich erkrankt: Man könnte dem Zusammentreffen vielerlei natürliche Erklärungen geben, und ich befürchte, du wirst es mir verübeln, wenn ich es nicht tue. [. . .] Ich glaube, daß alles, was uns als Wille oder als unsere Gefühle, Empfindungen 116 117 118 119 120 121

Zum konzeptionellen und ästhetischen Problem der Singularität vgl. [Locher 2001]. [Musil 19782 , 552]. Ebd. [Musil 19782 , 555]. [Musil 19782 , 556]. Ebd.

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und Gedanken vorkommt und scheinbar die Herrschaft über uns hat, das nur im Namen einer begrenzten Vollmacht darf, und daß es in schweren Krankheiten und Genesungen, in unsicheren Kämpfen und an allen Wendepunkten des Schicksals eine Art Urentscheidung des ganzen Körpers gibt, bei der die letzte Macht und Wahrheit ist. [Musil 19782 , 559]

Hierin manifestiert sich eine mit der soziologisch-statistischen Sicht (für die bloß „natürliche Erklärungen“ solcher Koinzidenzen in Frage kommen) völlig inkompatible, äußerst emphatische Schicksalssemantik; Azwei antizipiert schon Aeins’ Degout. Azweis Postulat einer somatischen Ursache der Ereignisse kann nämlich gerade nicht als Beleg seiner – im Zusammenhang der Poetologie der Statistik ausführlich erörterten – ,materialistischen‘ Weltanschauung verstanden werden: Bei der Vorstellung einer „Urentscheidung des ganzen Körpers“ handelt es sich nämlich um eine somatische Metapher, die den Körper (auf dessen Bedeutsamkeit bezüglich der Erzählinstanz bereits zu Beginn recht kryptisch hingewiesen wird122 ) als eine ,Sphäre‘ auffasst, die – im Gegensatz zu bewussten, verbalisier- bzw. kommunizierbaren kognitiven Zuständen, denen oft ,fälschlicherweise‘ die vollständige „Herrschaft“ über die Individuen zugeschrieben werde – gerade in entscheidenden Situationen („Wendepunkten des Schicksals“) im Besitz einer „letzten Macht und Wahrheit“ sei.123 Von eben dieser rätselhaften ,Schicksalsmacht‘ fühlt sich Azwei bestimmt und merkwürdig verwandelt: „[E]ine Härte, die mich umgeben hatte, schmolz augenblicklich weg, und ich kann nicht mehr sagen, als daß der Zustand, in dem ich mich von da an befand, viel Ähnlichkeit mit dem Erwachen in jener Nacht hatte, wo ich mein Haus verließ, und mit der Erwartung des singenden Pfeils aus der Höhe.“124 Hier wird die semantische Konstruktion deutlich, die „Zusammenhang“ und „Wahrheit“ der drei Geschichten garantieren soll: Azwei bezieht sich auf eine Differenz, die Musil andernorts mit den Neologismen „ratioïd“/ „nicht-ratioïd“ bezeichnet, wobei sich die Sphäre des „Nicht-Ratioïden“ in der spezifischen kognitiven Disposition des anderen Zustands erschließt. Die theologische Tendenz des Texts besteht nun darin, dass diese Differenz – im Gegensatz zu vielen anderen – nicht infrage gestellt, sondern als Diskursbasis vorausgesetzt wird. Diese für Musils Texte zentrale Setzung immunisiert die Sphäre des anderen Zustands – in dem sich Sinn und Bedeutung nicht durch über Differenzen organisierte Beobachtungsakte, sondern eben ganz anders konstituieren – gegen die Dekonstruktion eines Beobachters zweiter Ordnung: Im Zusammenhang mit der Poetologie (bzw. Theologie) des „Essayismus“ und „Möglichkeitssinns“, die Musil in seinen Essays und im MoE entwickelt, wird die Strategie deutlich werden, Situationen des „Rauschens“ im Sinne eines vollständigen Sinnentzugs, also radikale Kontingenzerfahrungen, die von daher nicht subvertierbar zu sein scheinen, 122 123

124

Vgl. dazu [Musil 19782 , 549f.]. Eines der Hauptcharakteristika der Poetischen Anthropologie, die [Lönker 2002, 149] anhand von Musils Vereinigungen rekonstruiert, ist eine – sprachlich als nicht einholbar konzipierte – Form der ,Bedeutsamkeit‘ des Körpers. [Musil 19782 , 559].

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zu Manifestationen einer qualitativ anderen Form von Bedeutsamkeit umzudeuten und damit wieder von Providenz und Individualität sprechen zu können. Entsprechend kann sich Azwei nach dem Tod der Mutter im Haus der verstorbenen Eltern auf die Suche nach Spuren seiner eigenen Vergangenheit machen. Schon die Ausstattung von Azweis Kinderzimmer – in dem er zuletzt sogar wieder nächtigt – mit Delphinen (erwähnt wird eine „Petroleumlampe [. . .], deren Ketten drei Delphine im Maul trugen“125 ) kann als subtiler Hinweis auf den Zusammenhang der Episoden gelesen werden, der in einer Rückbesinnung auf die eigene Identität besteht: Im ersten Amsel-Erlebnis über die näher kommenden Töne heißt es nämlich, sie „sprangen dort in die Luft wie Delphine“126 . Damit rückt Azwei stark von den zuvor geäußerten Überzeugungen ab: In deutlicher Nähe zu Ulrich, dem „Mann ohne Eigenschaften“, hatte er seiner Abneigung gegen kulturell verbreitete Formen der Identitätskonstruktion mehrfach Ausdruck verliehen: „[I]ch verweile nicht gern bei mir, und was so viele Menschen tun, daß sie sich behaglich Photographien ansehen, die sie in früheren Zeiten darstellen, oder sich gern erinnern, was sie da und dann getan haben, dieses Ich-SparkassenSystem ist mir völlig unbegreiflich.“127 Auch in der Exposition des Erzählers wird die Vorstellung einer konsistent-kontinuierlichen personalen Identität ironisch mit dem Verweis auf die „verschiedenen Herren“ unterlaufen, „die man der Reihe nach mit Ich anspricht“128 . Im Erwachsenenalter könne man das eigene fotografische Abbild, „dieses kleine, alberne, ichige Scheusal“129 , eigentlich nicht leiden. In seinem veränderten Zustand beginnt Azwei nun doch, sich mit der Geschichte des besagten „ichige[n] Scheusal[s]“ auseinanderzusetzten: „[F]ür mich war es, als ob das Unterste zu oberst gekehrt würde“. Er liest Kinderbücher („ich hatte auf dem Dachboden eine große Kiste voll von ihnen gefunden“130 ) und wird, in ganz wörtlichem Sinne, zum Leser der Spuren, die er als Knabe hinterlassen hat: [. . .] [E]inmal machte ich eine seltsame Entdeckung. Ich bemerkte, daß die Schwärze oben, wo man die Blätter wendet, und unten am Rand in einer leise deutlichen Weise doch anders war, als der Moder sie verleiht, und dann fand ich allerhand unbezeichenbare Flecken und schließlich wilde, verblaßte Bleistiftspuren auf den Titelblättern; und mit einemmal überwältigte es mich, daß ich erkannte, diese leidenschaftliche Abgegriffenheit, diese Bleistiftritzer und eilig hinterlassenen Flecken seien die Spuren von Kinderfingern, meiner Kinderfinger, dreißig und mehr Jahre in einer Kiste unter dem Dach aufgehoben und wohl von aller Welt vergessen! [Musil 19782 , 560f.]

Azwei vergleicht seinen Zustand explizit mit dem kindlichen Weltbezug, dessen (hier freilich hypothetische bzw. stilisierte) ,Unsicherheit‘ und Kontingenz in deut125 126 127 128 129 130

[Musil 19782 , 561]. [Musil 19782 , 551]. [Musil 19782 , 558]. [Musil 19782 , 548]. Ebd. [Musil 19782 , 560].

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licher Nähe zum emphatisch-theologischen Konzept des Essayismus steht: Der Protagonist [. . .] las wie ein Kind, das mit den Beinen nicht bis zur Erde reicht. Dann siehst du, daß unser Kopf haltlos ist oder in nichts ragt, daran sind wir gewöhnt, denn wir haben unter den Füßen etwas Festes; aber Kindheit, das heißt, an beiden Enden nicht ganz gesichert sein und statt der Greifzangen von später noch die weichen Flanellhände haben und vor einem Buch sitzen, als ob man auf einem kleinen Blatt über Abstürzen durch den Raum segelte. Ich sage dir, ich reichte wirklich nicht mehr unter dem Tisch zur Erde. [Musil 19782 , 561]

Der Protagonist spielt in dieser Passage zwar auf zentrale sprach- und erkenntniskritische Topoi der Moderne an, doch die Auseinandersetzung mit der Utopie des Essayismus (auch der Essay fasst – nach Musils berühmter Definition – seinen Gegenstand nicht mit „Greifzangen“ an, da ein „erfaßtes Ding“ seinen Umfang verliere und zu einem Begriff (!) einschmelze, sondern nimmt „ein Ding von vielen Seiten“ gleichsam mit „weichen Flanellhände[n]“, „ohne es ganz zu fassen“)131 wird deutlich machen, dass die hier als Regressionszustand beschriebene forcierte Kontingenzerfahrung gerade als Medium des Zugangs in eine Sphäre fungiert, in der prädiskursive und außersprachliche Sinnstiftung möglich zu sein scheint. Azwei stellt in seiner berühmten abschließenden poetologischen Stellungnahme nochmals seine Unsicherheit bezüglich Sinn und Konsistenz des Erzählten als Motivation des Erzählens heraus. Dabei liegt es in der Natur der paradoxen semantischen Konstruktion des „Nicht-Ratioïden“ als „Flüstern“ im „Rauschen“, als Bedeutsamkeit der In-Differenz, dass der Protagonist diese beiden nicht unterscheiden kann: Aber du deutest doch an, – suchte sich Aeins vorsichtig zu vergewissern – daß dies alles einen Sinn gemeinsam hat? Du lieber Himmel, – widersprach Azwei – es hat sich eben alles so ereignet; und wenn ich den Sinn wüßte, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen. Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können! [Musil 19782 , 562]

Im Folgenden rekonstruiere ich die Rolle dieses heiligen Rauschens, das Kontingenz in paradoxer Weise zum Medium neuer Sinnstiftung macht und die desemantisierende Poetologie der Statistik gleichsam überspringt, im Mann ohne Eigenschaften.

131

Vgl. MoE, 250; s.u.

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5.4.2 Schwellenterrain: Die andere Seite des Mann ohne Eigenschaften Sinnentzug als Sinnstiftung: Rachels Schlüssellochblick Anhand zweier Nebenfiguren inszeniert der Erzähler des MoE eine paradoxe Form der Sinnkonstitution, die auf dem Kollaps ,normaler‘ Beobachtung und ,gewöhnlichen‘ Sinns basiert: Diotimas Zimmermädchen Rachel und Arnheims exotischer Begleiter Soliman werden vom Erzähler zweimal bei voyeuristischen ,Abenteuern‘ beobachtet. In der ersten Szene inszeniert der Erzähler ihre fragmentarische Wahrnehmung der Parallelaktionshandlung nicht zuletzt als ironische Reperspektivierung von deren Kontingenz:132 Da fiel dann der Blick bald auf ein weißes Papier, bald auf eine Nase, bald ging ein großer Schatten vorbei, bald glänzte ein Ring auf. Das Leben zerfiel in helle Einzelheit; man sah grünes Tuch sich wie einen Rasen erstrecken; eine weiße Hand ruhte ohne Gegend, irgendwo, wächsern wie in einem Panoptikum; und wenn man ganz schief durchblickte, konnte man in einer Ecke die goldene Säbelquaste des Generals glimmen sehen. Selbst der verwöhnte Soliman zeigte sich ergriffen. Märchenhaft und unheimlich schwoll das Leben an, durch einen Türspalt und eine Einbildung gesehen. Die gebückte Haltung machte das Blut in den Ohren sausen, und die Stimmen hinter der Tür polterten bald wie Felsblöcke, bald glitten sie wie auf geseiften Bohlen. Rachel richtete sich langsam auf. Der Boden schien sich unter ihren Füßen zu heben, und der Geist des Ereignisses umschloß sie, als ob sie den Kopf unter eines dieser schwarzen Tücher gesteckt hätte, welche die Zauberer und Photographen benutzen. Dann richtete sich auch Soliman auf, und das Blut senkte sich zitternd aus ihren Köpfen. (MoE, 181)

Die hier als Kinderspiel präsentierte Sprengung der gewöhnlichen holistischen Wahrnehmung gehört zu den zentralen Projekten der Musilschen Poetologie. Einerseits führt diese ,Zertrümmerung‘133 zu einer Desemantisierung, die für die Poetologie der Statistik charakteristisch ist, welche durchgängig darum bemüht ist, durch distanzierte Beobachtung jegliche Sinnstiftungsakte zu unterlaufen und zu zeigen, wie die moderne Wirklichkeit sich in endlose Listen auflöst.134 Andererseits dient diese ,negative‘ Poetologie der Kontingenz, die den Fragmentarismus des MoE programmatisch plausibilisiert,135 als Basis neuer Bedeutungskonstitution: Das fragmentarische Erleben wird als ,märchenhaft‘ empfunden und mit einem Zauberkunststück verglichen, das Sinndimensionen erschließt, die durch konventionelle Kommunikations- und Wahrnehmungsmedien nicht zugänglich sind.136 132 133 134 135 136

Vgl. [Glander 2005, 102ff.]. Vgl. für eine medientheoretische und -historische Analyse vor dem Hintergrund der Problemkomplexe Dingwahrnehmung und Aufmerksamkeit in der Moderne [Kimmich 2000, 184f.]. Vgl. [Kümmel 2001, 375]. Vgl. [Sebastian 2005, 135]. Diese andere, ,positive‘ Seite der Poetologie des Fragmentarismus beschreibt [Benn 1991, 195] als konstitutives Merkmal lyrischen Sprechens: „Ich denke manchmal, dass überhaupt zwei, drei

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Literaturhistorisch verweist diese Konstellation deutlich auf die Romantik137 (der einschlägige Vergleich mit der Fotografie als optisch-technischem Medium lässt besonders an Hoffmanns Sandmann denken, zumal dort ebenfalls die Dialektik von Aberglauben bzw. wahnhafter Einbildung und Aufklärung bzw. Vernunft im poetologischen Zentrum stehen).138 Noch intensiver wird die hier anklingende Rolle von Beobachtungsmodus, Diskursivität und Medialität in folgender Episode reflektiert: Durch offene Türen aus Nebenzimmern oder durch den zögernd geschlossenen Spalt einer Türe oder schlechtweg während sie langsam irgend etwas in ihrer Nähe verrichtete, belauschte sie (= Rachel) Diotima und Arnheim, Tuzzi und Ulrich und nahm Blicke, Seufzer, Handküsse, Worte, Lachen, Bewegungen in ihre Obhut, die wie die Schnitzel eines zerrissenen Dokuments waren, das sie nicht zusammensetzen konnte. Aber namentlich die kleine Öffnung des Schlüssellochs zeigte ein Vermögen, das Rachel merkwürdig genug an die lange vergessene Zeit erinnerte, wo sie ihre Ehre verlor. Weit drang der Blick ins Innere der Zimmer; in flächenhafte Teile aufgelöst, schwammen die Personen darin, und die Stimmen waren nicht mehr in den schmalen Rand der Worte gefaßt, sondern wucherten als sinnloser Klang; Scheu, Verehrung und Bewunderung, durch die Rachel an diese Personen geknüpft war, wurden dann von einer wilden Auflösung zerrissen, und das war aufregend, wie wenn ein Geliebter mit seinem ganzen Wesen plötzlich so tief in die Geliebte eindringt, daß es finster wird vor den Augen und hinter dem geschlossenen Vorhang der Haut das Licht aufflammt. (MoE, 336)

In dieser Passage werden die medialen und diskursiven Bedingungen der dargestellten kollabierenden Beobachtung besonders deutlich: „Blicke, Seufzer, Handküsse, Worte, Lachen, Bewegungen“ der Protagonisten sind für die Voyeurin isolierte Phänomene, die sich das Geschehen in Diotimas Salon als bedeutsames „Dokument“ vorstellt, von dem sie bloß einige „Schnitzel“ kennt und außerstande ist, das Ganze zu rekonstruieren.139 Die bemerkenswerte Parallele zu Musils TriëdereExperiment140 und die Vergleiche aus dem erotisch-sexuellen Bereich legen nahe, die Resemantisierung in den Blick zu nehmen, zu der die forcierte Kontingenz der Wahrnehmungsinhalte Diotimas Dienerin inspirieren: Sie nutzt die „kleine Öffnung des Schlüssellochs“ als regelrechtes Anti-Medium, bewirkt es doch gerade keine sinnstiftende Konzentration und Strukturierung von Daten und Informationen, sondern führt im Gegenteil zu deren Dispersion: Der dreidimensionale Raum

137 138 139 140

Reihen das höchste sind, das wir in der Lyrik ertragen, nur in so wenigen Worten ist der Geist so gross (sic!) und einsam, wie wir ihn uns wünschen. Der lyrische Geist ist fragmentarisch oder, um eine junge Gruppe zu zitieren: ,keinem Ufer gewidmet, keinen Seiten anvertraut, die reine Lockung dieses Liedes‘ –.“ Vgl. zur „Ästhetik des Fragments“ ausführlich [Glander 2005, 155ff.]. Zum Bezug der Texte Musils zur Romantik vgl. [Sebastian 2005, 2]. Vgl. für einen Vergleich der Wahrnehmungskonzepte bei Musil und E.T.A. Hoffmann [Lethen 1987]. Für eine Interpretation vor dem Hintergrund der Gestaltpsychologie vgl. [Sebastian 2005, 47]. Vgl. [Musil 19782 , 518-522].

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wird „in flächenhafte Teile aufgelöst“, was die darin enthaltenen Dinge disloziert, und die Stimmen der Beobachteten erscheinen bloß noch als ,wuchernder‘ „sinnloser Klang“, da das Anti-Medium Schlüsselloch nicht nur die Kategorien der optischen Kontingenzreduktion, sondern auch die durch die konventionelle Sprache (und ihrem Angebot, unter sehr vielen möglichen Lauten ein paar wenige, eigentlich bloß einen „schmalen Rand“ darstellende zu bevorzugen) als kulturell verbürgtem akustischem Medium selektierten Informationen in Rauschen verwandelt. Dies destruiert schließlich auch die diskursiv stabilisierte soziale Hierarchie, der sich Rachel sonst bereitwillig unterwirft. Mit Vergleichen aus der Sphäre des Körperlich-Sexuellen plausibilisiert der Erzähler, dass Rachel die radikale Kontingenzerfahrung doch als ,sinnvoll‘ wahrnimmt: Attribute wie „wild“ und „aufregend“ und die Metapher des ,tief Eindringens‘ laden zu einer Deutung entlang der Differenz sprachlich-diskursiv vermittelter Regelhaftigkeit und deren Negation, also außersprachlich-prädiskursiver Singularität und Individualität, ein.141 Am deutlichsten wird dies am Schluss der Passage, wenn der Erzähler von einem ,aufflammenden‘ Licht spricht, das erst in der ,Finsternis‘ wahrnehmbar wird, sobald die konventionelle optische Wahrnehmung endet. In ironischem Kontext wird damit die Möglichkeit umspielt, gerade im Rauschen forcierter Kontingenz Zugang zu einer qualitativ anderen Form der Bedeutungskonstitution zu erlangen. Die hier beobachtete narrative Strategie der Resemantisierung verwendet Kontingenz also als Anti-Medium, und setzt mit ihrer Sinnstiftung genau an der Differenz von Sinn und Nichtsinn an: Der parallel als diabolischer Liebespoet und Beobachter zweiter Ordnung agierende Erzähler weiß um die Dekonstruierbarkeit jeglicher anhand fester Differenzen gebildeter Beobachtungen und spielt so im (inszenierten) Kollaps von Beobachtung eine letzte, freilich äußerst paradoxe Möglichkeit der Sinnsuche durch. Mit weit mehr Emphase und von diffizilen Reflexionen begleitet experimentieren auch Ulrich und seine ,Zwillings‘-Schwester Agathe mit eben dieser Möglichkeit. Schon der Anfang des zweiten Buches konterkariert in auffälliger Weise das oben analysierte Eingangskapitel des MoE, das vor allem vom statistischen Diskurs gekennzeichnet ist und Individualität und Schicksalhaftigkeit als ideologische Konstruktionen erscheinen lässt. Die theologische Dimension des Texts tritt dabei besonders aufgrund vehementer Providenzpostulate in den Vordergrund. Ein Romananfang Das zweite Buch des MoE beginnt bemerkenswerterweise beinahe wie ein realistischer Roman: „Als Ulrich gegen Abend des gleichen Tages in . . . * ankam und aus dem Bahnhof trat, lag ein breiter, seichter Platz vor ihm, der an beiden Enden in Straßen auslief und eine beinahe schmerzliche Wirkung auf sein Gedächtnis 141

[Schmitz-Emans 1993, 75] befindet diesbezüglich: „Drei Bereiche sind es, die gleichsam ,jenseits‘ der Zeichen-Systeme liegen: Das Ethische, das Ästhetische und das Individuelle der Person.“

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ausübte, wie es einer Landschaft eigentümlich ist, die man schon oft gesehen und wieder vergessen hat.“ (MoE, 671) Ganz im Gegensatz zum eigentlichen Romanbeginn wird hier bereits im ersten Satz die Situation des (sogleich unumwunden benannten) Protagonisten skizziert, der am einst vertrauten und nun fremd gewordenen Ort seiner Kindheit eintrifft, wo kurz zuvor sein Vater gestorben ist. Viele Texte Musils beginnen mit ähnlichen Expositionen: Die „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ haben ebenfalls an einem Bahnhof ihren Ursprungsort und spielen sich, wie auch die Grenzerfahrungen Claudines (in der Vollendung der Liebe) und des Geologen Homo (in Grigia) in einer heterotopischen, abgeschottet wirkenden und an Versuchsanordnungen erinnernden räumlichen Umgebung ab.142 Schon der Schluss des Ersten Buches legt nahe, auf Ulrichs Wahrnehmung zu achten, bemerkt der Protagonist doch am Abend vor seiner Abreise eine signifikante „Veränderung“ seines Wahrnehmens: Es war eine Auflockerung, als hätte sich ein zusammenschnürendes Band entknotet; und da sich ja weder an den Wänden und Dingen etwas wirklich veränderte und kein Gott das Zimmer dieses Ungläubigen betrat und Ulrich selbst keineswegs auf die Klarheit seines Urteils verzichtete (soweit ihn nicht seine Müdigkeit darüber täuschte), konnte es nur die Beziehung zwischen ihm und seiner Umgebung sein, was dieser Veränderung unterworfen war, und von dieser Beziehung wieder nicht der gegenständliche Teil, noch Sinn und Verstand, die ihm nüchtern entsprechen, sondern es schien sich ein tief wie Grundwasser ausgebreitetes Gefühl zu ändern, worauf diese Pfeiler des sachlichen Wahrnehmens und Denkens sonst ruhten, und sie rückten nun weich auseinander oder ineinander: diese Unterscheidung hatte nämlich im gleichen Augenblick auch ihren Sinn verloren. (MoE, 664)

Ulrich reagiert ähnlich paradox auf diese „Veränderung“ wie Azwei in der Amsel, der während der Fliegerpfeil-Episode die Überzeugung äußert, sich „physikalisch nüchtern ausgedrückt“ zu haben, doch zugibt, „daß das bis zu einem Grad wie im Traum ist, wo man ganz klar zu sprechen wähnt, während die Worte außen wirr sind“143 : Auch der Protagonist der Novelle vergleicht seine Geschichte wiederholt mit einem Gotteserlebnis. Diese vom Erzähler reflektierten Manifestationen des anderen Zustands gehen jeweils mit einem (zuvor anlässlich des Schlüssellochblicks der beiden Diener beschriebenen) Beobachtungskollaps einher. Der Erzähler verbietet sich und dem Leser dabei, den Dingen in phantastischer Manier ein ,objektives‘ Eigenleben zuzuschreiben, und sucht die Gründe der Veränderung zunächst im Bewusstsein des Wahrnehmenden, wenn er eine Transformation der Relation zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem postuliert und damit eine bedeutsame, da für Musils Konzept bedeutungsstiftende Differenz einführt: Einem dem „nüchternen“ kognitiven Vermögen von „Sinn und Verstand“ zugeordneten „gegenständliche[n] Teil“ dieser Relation setzt der Erzähler eine Sphäre entgegen, die anderorts als das „Nicht-Ratioïde“ bezeichnet wird 142 143

Vgl. zu Musils „endlosen Anfängen“ [Baumann 1981, 9ff., insb. 20]. [Musil 19782 , 556].

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und – nach den Maßstäben des opponierenden „Ratioïden“ – zwangsläufig diffus bleiben muss; folgende, metaphorisch bemerkenswert verwandte Textstelle offenbart die konstitutive Rolle des Unsagbarkeits-Topos für die Vorstellung des anderen Zustands: „Worte springen wie die Affen von Baum zu Baum, aber in dem dunklen Bereich, wo man wurzelt, entbehrt man ihrer freundlichen Vermittlung.“ (MoE, 155)144 Diese suggestive Wurzel-Metaphorik, der in der oben zitierten Passage die Grundwasser- und Pfeiler-Metaphorik entspricht, schreibt dem prinzipiell nur hochmetaphorisch ansprechbaren Bereich des Nicht-Ratioïden eine basale Funktion zu: Der Erzähler agiert hier bemerkenswerterweise nicht als diskursanalytisch argumentierender Beobachter, der darum weiß, dass jegliche Sinnstiftung sprachlich-diskursiv vermittelt ist und Ursprünglichkeit sowie Unmittelbarkeit als ideologische Konstrukte auffasst, sondern inszeniert den vollständigen Beobachtungskollaps als Grenz-Erfahrung, die Ulrich eine Sphäre eröffnet, in der sprachliche und räumliche Differenzen und Strukturen keine Rolle mehr spielen („diese Unterscheidung hatte nämlich im gleichen Augenblick auch ihren Sinn verloren“), die aber dennoch als bedeutungsvoll wahrgenommen wird. Hatte sich der Erzähler im ersten Kapitel des Ersten Buches (als statistischer Beobachter zweiter Ordnung) über die beiden Passanten lustig gemacht, die ihre Heimatstadt und ihr ,Ich‘ (im Modus der Beobachtung erster Ordnung) als wohlgeordnet erleben und im Umgang mit dem Verkehrsunfall nicht auf die Idee kommen, auf amerikanische Statistiken zu verweisen, sondern einer traditionelleren Unfallsemantik folgen, indem sie diesen als ,Schicksalsschlag‘ für die Beteiligten auffassen,145 wählt er im ersten Kapitel des Zweiten Buches für die Beschreibung von Ulrichs Heimatstadt selbst Metaphern und Vergleiche biblischen Ursprungs, die die „große Provinzstadt“ als schicksalhaften Ort erscheinen lassen:146 Alles Sichtbare war darin stärker als sonst, und wenn er über den Platz blickte, so standen auf der anderen Seite ganz gewöhnliche Fensterkreuze so schwarz im Abendlicht auf bleichem Glasglanz, als wären sie die Kreuze von Golgatha. Auch was sich bewegte, löste sich vom Ruhenden der Straße in einer Weise los, wie es in sehr großen Städten nicht vorkommt. Treibendes wie Stehendes hatte hier offenbar Raum, seine Wichtigkeit zu weiten. (MoE, 671)

Im Gegensatz zur konstruktivistischen Stadtsemantik „sehr große[r] Städte[]“, in der jegliche Sinnstiftung als Akt der Komplexitätsreduktion durch die Bewohner aufgefasst wird, die mit kontingenten Datenmengen konfrontiert werden, welche virtuell beliebig viele Beobachtungs- und Wahrnehmungsformen ermöglichen, 144 145

146

Vgl. zu den sprachtheoretischen Implikationen von Musils Konzept [Schmitz-Emans 1993, 76ff.]. Entsprechend problematisch ist es, wenn [Sebastian 2005, 63] die ,gewöhnlichen‘ Unfallzeugen mit Simmel als typisch-blasierte Großstadtbewohner bezeichnet. M.E. stellt eher die statistischpoetische Position Ulrichs und des Erzählers eine Form diabolischer Ästhetisierung des Simmelschen Großstädters dar. Diese Deutung hat vor dem Hintergrund des hier besprochenen Textabschnitts den Vorteil, den semantischen Bruch in Ulrichs fiktionaler Persönlichkeit zu profilieren statt zu verdecken. Vgl. [Simmel 1995, 121]. Vgl. [Berger 2004, 188].

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werden den Dingen und Vorgängen in der kleineren Stadt ,ontologische‘ Qualitäten zugeschrieben: Der emphatische Kreuz-Vergleich, der anlässlich „ganz gewöhnliche[r] Fensterkreuze“ christliche Providenzkonzepte aufruft, mündet in das (recht pathetisch vorgetragene) semiologische Postulat, die Gegenstände und Prozesse seien hier von selbst in eine Sinnordnung integriert. Der Ort des Wiedersehens mit Ulrichs Schwester Agathe wird also semantisch-poetologisch deutlich von der Sphäre unterschieden, die der (natur-)wissenschaftlich geschulte Beobachterblick der Poetologie der Statistik beschreibt. Das Sinnstiftungspotential dieser Differenz ergründet Musil in einigen reflexiven Texten, die im nächsten Abschnitt analysiert werden sollen. 5.4.3 Reflektierte Theologie des Essayismus Im Folgenden werde ich drei eng verwandte epistemologische bzw. poetologische Konzepte rekonstruieren, die Musil in einigen seiner Essays und im MoE entwickelt. Darin wird mit jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung der Versuch unternommen, trotz radikalen Kontingenzbewusstseins und der im Rahmen der Poetologie der Statistik gewonnenen Einsicht in die Dekonstruierbarkeit jeglicher Beobachtungsformen eine Sphäre aufzuspüren, die Kunst und Dichtung ein positives Betätigungsfeld jenseits der negativ-desemantisierenden diabolischen Liebespoesie bietet. Zunächst schlägt Musil in einzelnen essayistischen Texten ein epistemologisches Modell vor, das wesentlich auf der Unterscheidung eines „ratioïden“ und eines „nicht-ratioïden“ Bereichs gründet. Ersterem entspricht ein wissenschaftlichbeobachtender Erkenntnismodus, in dem Sinnkonstitution anhand binärer Differenzen erfolgt; zweiterer erscheint – aus der Perspektive des Ratioïden – völlig kontingent, wird jedoch zu einer Sphäre des Singulären umgedeutet, wo konventionelle Sprache und differentielle Ordnungsstiftung irrelevant werden, aber dennoch Bedeutungskonstitution möglich ist.147 Die Setzung der Differenz „ratioïd“/ „nicht-ratioïd“ wird in den Texten nicht hinterfragt, sondern dient als konzeptionelle Basis einer Theologisierung des Kontingenzbewusstseins. Diese manifestiert sich im MoE besonders deutlich im Rahmen der essayistischen Reflexion des „Möglichkeitssinns“, der Elemente des negativen Kontingenzbefunds der Poetologie der Statistik aufgreift, um die Utopie eines „Reichs des Möglichen“ zu entwickeln. Der semantisch-narratologisch brisanteste Akt der Theologisierung verbindet sich jedoch mit Musils Konzept des Essayismus, der explizit ins Kosmische ausgeweitet und in den Rang einer Religion der Moderne erhoben wird. Theologisierung der In-Differenz: Die Geburt des anderen Zustands aus der Differenz ratioïd/ nicht-ratioïd In Musils Skizze der Erkenntnis des Dichters plädiert der Essayist – wie der Titel schon andeutet – dafür, eine Sphäre anzuerkennen, die einer spezifisch poeti147

Vgl. [Schmitz-Emans 1993].

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schen Epistemologie zugänglich ist, und entwickelt dafür das Gegensatzpaar „ratioïd“/ „nicht-ratioïd“. Er rechtfertigt den Neologismus ratioïd mit dem Hinweis, er kenne kein bereits gebräuchliches (oder gefälligeres) „Wort, das nicht nur die Methode, sondern auch das Gelingen gebührend ausdrückte, nicht bloß die Unterwerfung, sondern auch die Unterwürfigkeit der Tatsachen, dieses unverdiente Entgegenkommen der Natur in bestimmten Fällen“148 . Musil zweifelt also nicht grundsätzlich an der Möglichkeit sinnvoller rationaler Erkenntnis, und zeigt sich sogar überzeugt, dass es einen Bereich gibt, der der Ratio wissenschaftlicher Beobachtung strukturell ähnlich ist (daher das sperrige Suffix ,oid‘):149 Dieses ratioïde Gebiet umfaßt – roh umgrenzt – alles wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetze und Regeln Zusammenfaßbare, vor allem also die physische Natur [. . .]. Es ist gekennzeichnet durch eine gewisse Monotonie der Tatsachen, durch das Vorwiegen der Wiederholung, durch eine relative Unabhängigkeit der Tatsachen voneinander, so daß sie sich auch schon in früher ausgebildeten Gruppen von Gesetzen, Regeln und Begriffen gewöhnlich einfügen, in welcher Reihenfolge immer sie entdeckt worden seien. [Musil 19782 , 1026f.]

Erstaunlicherweise verzichtet Musil weitgehend darauf, das auf eine elaborierte Poetologie des Wissens rekurrierende Kontingenzbewusstsein seiner Texte durch die modernen ,Grundlagenkrisen‘ der (Natur-)Wissenschaften zu plausibilisieren. Lakonisch konstatiert er diesbezüglich:150 Zu unterst schwankt auch hier der Boden, die tiefsten Grundlagen der Mathematik sind logisch ungesichert, die Gesetze der Physik gelten nur angenähert, und die Gestirne bewegen sich in einem Koordinatensystem, das nirgends einen Ort hat. [Musil 19782 , 1027]

Diese Kenntnis nimmt Musil jedoch nicht zum Anlass, die naturwissenschaftlich generierten Ordnungssysteme grundsätzlich in Frage zu stellen – wohl auch aufgrund seines ausbildungsbedingten Einblicks: Gerade in den betreffenden Wissenschaften, in denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bahnbrechende Paradigmenwechsel eingeleitet wurden, wurde diese Infragestellung in einer Intensität betrieben, die nur noch Spezialisten überhaupt nachvollziehen können.151 Stattdessen 148 149 150 151

[Musil 19782 , 1026]. Vgl. dazu auch [Berger 2004, 84f.]. Vgl. dazu ausführlich [Könneker 2001]. Vgl. etwa folgende Einschätzung der Mathematik im Essay Der mathematische Mensch: „Nur wenn man nicht auf den Nutzen nach außen sieht, sondern in der Mathematik selbst auf das Verhältnis der unbenutzten Teile, bemerkt man das andere und eigentliche Gesicht dieser Wissenschaft. Es ist nicht zweckbedacht, sondern unökonomisch und leidenschaftlich. [. . .] [T]atsächlich, sie sahen zuunterst nach und fanden, daß das ganze Gebäude in der Luft stehe. Aber die Maschinen liefen. Man muß daraufhin annehmen, daß unser Dasein bleicher Spuk ist; wir leben es, aber eigentlich auf Grund eines Irrtums, ohne den wir nicht entstanden wären. Es gibt heute keine zweite Möglichkeit so phantastischen Gefühls wie die des Mathematikers.“ [Musil 19782 , 1005f.].

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will er – in deutlich sinn- und identitätsstiftender Absicht – die Differenz zum (terminologisch noch technischer anmutenden) Gegenbegriff des Ratioïden stark machen, erklärt er doch das „nicht-ratioïde Gebiet“ emphatisch zum „Heimatgebiet des Dichters“ und zum „Herrschaftsgebiet seiner Vernunft“. Im Essay Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes findet sich eine sehr plastische Schilderung der Motivation seiner konzeptionellen Unterscheidung der beiden Sphären, denen grundsätzlich verschiedene kognitive Zustände und Erkenntnisformen entsprechen: Es gibt ein Denken, das Wahrheit schafft; klar wie eine Nähmaschine setzt es Stich neben Stich. Und es gibt ein Denken, das glücklich macht. Das ungeduldig in dich hineinfährt, so daß deine Beine zittern; das in Flug und Sturm Erkenntnisse vor dir auftürmt, an die zu glauben dein Seelenleben in den nächsten Jahren ausfüllen wird, und: von denen du nie wissen wirst, ob sie richtig sind. Seien wir ehrlich: es reißt dich plötzlich einen Berg hinauf, von wo du deine innere Zukunft mit seliger Weite und Gewissheit siehst wie – seien wir ehrlich: wie ein zirkulär Irrer, ein Manisch-Depressiver im Vorstadium der Manie. Du schreist nicht und du machst keinen Unsinn, aber du denkst locker und gigantisch wie mit Wolken, während das gesunde Denken Fug auf Fug wie in Ziegelsteinen denkt und wie äußerstes Bedürfnis hat, jeden einzelnen Griff immer wieder an den Tatsachen zu prüfen. [Musil 19782 , 1009]

Geradezu schwärmerisch sucht der Essayist hier ein „Denken“ zu profilieren, das er vom „Wahrheit“ schaffenden, „gesunde[n] Denken“ (der Wissenschaft) unterscheidet. Während letzteres zweimal als mechanisch-systematisch charakterisiert wird (verglichen wird es mit dem Nähen einer Nähmaschine und dem Bau einer Ziegelsteinmauer), also auf methodisch weitgehend festgelegte, intersubjektiv nachvollziehbare Weise strukturell ähnliche Elemente (wie Stoffbahnen oder Backsteine) zu größeren, möglichst stabilen und insbesondere jeweils verifizierbaren Einheiten zusammenfügt, ,ergreift‘ ersteres ein einzelnes Bewusstsein plötzlich und vermag ungeachtet seiner (durch Unwettermetaphorik angedeuteten) gewaltsam-destruktiven Züge „glücklich“ zu machen. Die so erlangten „Erkenntnisse“ sind dem für das Wissenschaftssystem konstitutiven Code wahr/falsch nicht unterworfen. Im Gegenteil kokettiert der Essayist mit den psychopathologischen Parallelen des von ihm beschriebenen ,epistemischen‘ Erlebnisses, das gerade durch den Kollaps gewöhnlicher Beobachtungsformen gekennzeichnet ist. In einem Aphorismus konstatiert Musil eine Affinität des betreffenden Zustands mit dem „spezifisch [G]eisteswissenschaftliche[n]“: Bei der Anwendung des naturwissenschaftlichen Denkens handelt es sich nicht darum, das ,Geisteswissenschaftliche‘ zu verdrängen. Auch ,ergänzen‘ ist nicht das richtige. Wohl so: überall, wohin man naturwissenschaftlich kann, dies anwenden; das spezifische geisteswissenschaftliche = nichtnaturwissenschaftliche hängt mit dem Nicht-Ratioïden zusammen. [Musil 19782 , 843]

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In diametralem Gegensatz zu Charles Percey Snows berühmt-berüchtigtem Klagelied über die mangelnden Integrationsbemühungen der von ihm identifizierten „two cultures“152 , das von der klassisch-romantischen Sehnsucht nach einer holistischen Repräsentation sämtlicher kultureller Leistungen im kognitiven Horizont einzelner Individuen geprägt ist, sucht Musil den Sphären von Kunst, Literatur und Geisteswissenschaften gerade durch ihre spezifische Differenz zu naturwissenschaftlichen Erkenntnisformen einen von jenen prinzipiell nicht tangierbaren Spielraum zu eröffnen.153 In der folgenden Passage aus dem Essay Franz Blei unterscheidet der Essayist den ,Geist‘ wissenschaftlicher Betätigung, den er für historisch variabel hält, von einem „fast konstant gebliebenen Weltbesitz“ einer Form von Geist, die er interkulturell als weitgehend konstant, jedoch auch als „unberechenbar“ und „widerspruchsvoll“ betrachtet: Alle geistigen Bewegungen, mögen sie Religion oder Expressionismus heißen, sind eigentlich nichts als Umlagerungen des in historischen Zeiten fast konstant gebliebenen Weltbesitzes an ,Geist‘. [. . .] Verstand hat Fortschritt, steigt vom Rechenbrett bis zu den unendlichen Reihen und von Thales bis Professor Einstein. Geist hat ein Element in sich, das Verstand ist und an der Entwicklung teilnimmt, und ein anderes Element, das unberechenbar ist, entwicklungslos, widerspruchsvoll und von langsam wechselnden Grundgefühlen abhängt, wie sie Gedanken, die gestern tot waren, heute wieder lebendig machen, ohne daß sich an ihrer Wahrheit etwas anderes geändert hat als wir. [Musil 19782 , 1022]

Indem Musil gerade den „nicht-ratioïden“ Bereich als Sphäre des Unberechenbaren und Widersprüchlichen zum Gegenstand nicht-naturwissenschaftlicher Epistemologie erklärt, setzt er sich – im Gefolge Nietzsches – insbesondere von der klassischen Systemphilosophie Kantischer Prägung ab. Dessen ethische Konzeption greift er in einem Aphorismus scharf an, indem er kurzerhand den Kategorischen Imperativ berichtigt: Nicht handle so, daß dein Handeln Rezept für alle sei, sondern, daß es wertvoll sei. Wobei ,Wert‘ aus der Sphäre des anderen Zustands kommt, jene undefinierbare ,lebendige‘ Bewegung ist. [Musil 19782 , 899]

Die semantische Konzeption des „Nicht-Ratioïden“ bzw. des „anderen Zustands“ wird anhand des Begriffs ,Wert‘ besonders deutlich:154 „[W]ertvoll[es]“ Handeln wird als Gegensatz zu einem rezepthaft-intersubjektiv nachvollziehbaren moralischen Verhalten bestimmt, da Musil – in kaum überbietbarem Gegensatz zu Kant – sämtliche ethischen Fragen dem „Nicht-Ratioïden“ zuordnet.155 Bezeichnenderweise bietet Musil die „Sphäre des anderen Zustands“ als Instanz an, die den ,Abgrund‘ der Kontingenz, welchen die Streichung des „ratioïden“ Erkenntnismodus 152 153 154 155

[Snow 1964]. Vgl. dazu ausführlich das zweite Kapitel. Auch [Ego 1992, 153ff.] identifiziert den Bereich des „Nicht-ratioïden“ und den „anderen Zustand“ und sieht hier das Feld von „Ethik und Dichtung“. Vgl. [Berger 2004, 211].

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zunächst aufreißt, wieder verschließt, und spricht seinem Konzept – mit der Rede von einer „undefinierbare[n] lebendige[n] Bewegung“ – eine höhere Dignität zu als der definierbaren, doch ,toten‘ „ratioïden“ Moral.156 Zu den wesentlichen poetologischen Problemen gehört die Frage nach der sprachlich-konzeptionellen Repräsentierbarkeit des „Nicht-Ratioïden“, wie Musil im Essay Anmerkung zu einer Metapsychik in Bezug auf die Tradition der Mystik ausführt: Bei der Ausführung fehlt jedoch – das Erlebnis und an Stelle der Gefühlsmystik trat eine rationale. Diese Verschiebung ist absolut typisch für alle systematischen Versuche auf diesem Gebiet. Von der seelischen Berührung bleibt nur das anstrengende Festhalten einiger in intimsten Augenblicken gebildeter Begriffe, zwischen die alles übrige mit einem Geist interpoliert wird, der naturgemäß außer Trance ist und sich von dem wissenschaftlichen Verstand eigentlich nur dadurch unterschiedet, daß er auf dessen Tugenden der Methodik und Genauigkeit verzichtet. Die Evidenz der Intuition entgleitet zur Unverbindlichkeit des Aperçus; was eben noch als Aphorismus, als esprithafter Einfall daherkam, war wenige Zeilen später als gefestigtes Material für neuen Weiterbau und es entsteht eine außergewöhnlich merkwürdige Pseudosystematik, eine Art erbittertes Ordnungsspiel, bei dem es aus einer Anzahl bestimmter Steine vorausbestimmte Figuren zu formen gilt. [Musil 19782 , 1019]

Die damit angedeutete Fragilität der semantischen Konzeption und sprachlichnarrativen Repräsentation des „anderen Zustands“ wird am Ende des Ersten Buchs des MoE explizit zum Kardinalproblem von Ulrichs Weltbild erklärt: Die Beziehung, die zwischen Traum und dem, was er ausdrückt, besteht, war ihm bekannt, denn es ist keine andere als die der Analogie, des Gleichnisses, die ihn schon des öfteren beschäftigt hatte. Ein Gleichnis enthält eine Wahrheit und eine Unwahrheit, für das Gefühl unlöslich miteinander verbunden. Nimmt man es, wie es ist, und gestaltet es mit den Sinnen, nach Art der Wirklichkeit aus, so entstehen Traum und Kunst, aber zwischen diesen und dem wirklichen, vollen Leben steht eine Glaswand. Nimmt man es mit dem Verstand und trennt das nicht Stimmende vom genau Übereinstimmenden ab, so entsteht Wahrheit und Wissen, aber man zerstört das Gefühl. Nach Art jener Bakterienstämme, die etwas Organisches in zwei Teile spalten, zerlebt der Menschenstamm den ursprünglichen Lebenszustand des Gleichnisses in die feste Materie der Wirklichkeit und Wahrheit und in die glasige Atmosphäre von Ahnung, Glaube und Künstlichkeit. [. . .] Ulrich hatte das Gefühl, in dem 156

Im Zusammenhang mit Gleichnissen wird dieses Epistemologem auch im MoE reflektiert: „Hat man aber an einem Gleichnis alles, was vielleicht wahr sein könnte, von dem getrennt, was nur Schaum ist, so hat man gewöhnlich ein wenig Wahrheit gewonnen und den ganzen Wert des Gleichnisses zerstört; diese Trennung mag darum in der geistigen Entwicklung unvermeidlich gewesen sein, doch hatte sie die gleiche Wirkung wie das Einkochen und Eindicken eines Stoffes, dessen innerste Kraft und Geister sich während dieses Vorgangs als Dampfwolke davonmachen. Es lässt sich heute manchmal nicht der Eindruck abweisen, daß die Begriffe und Regeln des moralischen Lebens nur ausgekochte Gleichnisse sind, um die ein unerträglich fetter Küchendampf von Humanität wallt [. . .]. (MoE, 593f.).

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Gassengewirr, durch das ihn seine Gedanken und Stimmungen so oft geführt hatten, jetzt auf dem Hauptplatz zu stehen, von dem alles ausläuft. (MoE, 581f.)

Der Roman entwickelt zwei (als „Utopien“ deklarierte) kognitionstheoretische bzw. poetologische Konzepte, die jeweils vom negativen Kontingenzbewusstsein der Poetologie der Statistik ausgehen, und vor dem Hintergrund der eben umrissenen Problematik den Versuch unternehmen, die Sphäre des anderen Zustands poetologisch zu erschließen. Diesen wende ich mich nun zu. Vom Kontingenzbewusstsein ins Reich der Möglichkeiten Im berühmten vierten Romankapitel wird ein „Wirklichkeitssinn“ (mit deutlicher Anspielung auf Ulrichs zuvor charakterisierten Vater als „Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte“) als Gegenbegriff zu einem „Möglichkeitssinn“ (MoE, 16) eingeführt,157 der Ulrichs „Sinnesart“ (MoE, 18) bezeichnet und seinen ,Titel‘ rechtfertigt – sei es doch nicht verwunderlich, „wie es jemand, der auch sich selbst gegenüber keinen Wirklichkeitssinn aufbringt, unversehens widerfahren kann, daß er sich eines Tages als ein Mann ohne Eigenschaften vorkommt“ (ebd.). Zunächst wird der Möglichkeitssinn sehr explizit als forciertes Kontingenzbewusstsein charakterisiert: Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. (MoE, 16)

Schon Albrecht Schöne hat in seinem berühmten Aufsatz Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil die Bedeutung der Unterscheidung von Indikativ und Konjunktiv nachgewiesen und gezeigt, dass die hier angedeutete Poetologie des 157

Schon die Prominenz dieses Ausdrucks macht die für die Kontingenzthematik virtuell relevante Forschungsliteratur heute praktisch unüberblickbar. Die vorliegende Untersuchung richtet sich methodisch aber vor allem gegen emphatische Formen der Musil-Exegese, die den Möglichkeitssinn zustimmend als der Moderne einzig angemessene intellektuelle Position und zu diesem Zweck nicht selten zentrale Differenzen in Musils Wissenspoetik einebnen, um es – in paradoxer Form – auf den Begriff (des Möglichkeitssinns) zu bringen. Vgl. dazu paradigmatisch [Baumann 1981, 161ff.]; in der Tradition der Musil-Forschung nimmt Helmut Arntzen diesbezüglich eine besonders dezidierte Gegenposition ein, indem er auch Ulrichs utopische Konzepte als Elemente des satirischen Systems auffasst, als das er den Roman liest. Vgl. speziell zum Möglichkeitssinn [Arntzen 1983, 168f.]. Für einen aktuellen, auf den Bezug zum naturwissenschaftlichen Diskurs fokussierten einschlägigen Forschungsbericht vgl. [Kassung 2001, 435ff.]. [Ego 1992, 111ff.] rekonstruiert in seiner literaturwissenschaftlich-theologischen Studie ausführlich die „Utopie der Möglichkeitsmoral“.

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grammatischen Modus tatsächlich zu den wesentlichen Merkmalen der Texte Musils gehört.158 Zunächst scheint sich das Konzept des Möglichkeitssinns problemlos in die konjunktivisch-distanzierte Haltung eines Beobachters zweiter Ordnung einzufügen, der die Kontingenz jeglicher Beobachtungsakte erster Ordnung offenlegt. Er konterkariert ihr indikativisches Vertrauen auf die in ihren Beobachtungsakten vorausgesetzten sinnstiftenden Differenzen, indem er sie als Wahl aus einer größeren Zahl möglicher anderer Differenzen deutet. Eine Konsequenz dieser (mehrfach mit Ausdrücken des Wortfelds der Poiesis verbundenen) „Anlage“ sei eine wohl nicht zufällig an Nietzsches Programm der „Umwertung aller Werte“ erinnernde Tendenz in der Beurteilung moralischer Fragen: Sie lasse „nicht selten das, was die Menschen bewundern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt oder wohl auch beides als gleichgültig.“ (MoE, 16) Insbesondere die zuletzt angesprochene vollständige In-Differenz ist eine notwendige Konsequenz des Beobachtungsmodus zweiter Ordnung, der sich weigert, bestimmte Differenzen als verbindlich anzuerkennen – entsprechend ergibt sich eine grundlegende Skepsis hinsichtlich jeglicher (binärer) Unterscheidungen, und die (vermeintlich) eine ,Wirklichkeit‘ löst sich in eine potentiell unendliche Kette möglicher Interpretationsakte auf.159 Der Möglichkeitsbegriff erscheint somit zunächst als ein Werkzeug, mit dem Ulrich denjenigen einen Strich durch die Rechnung machen kann, die scheinbar unumstößlichen (etwa göttlich, moralisch oder durch einen emphatischen Naturbegriff stabilisierten) Notwendigkeiten folgend zu einer homogenen ,Wirklichkeit‘ kommen. Der Möglichkeitssinn ist also ein Hang, Einspruch gegen Wirklichkeitsbehauptungen zu erheben, und der Roman führt an Ulrichs Umgang mit zahlreichen anderen Figuren extensiv vor, dass man „solche Menschen [. . .] Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler“ oder bestenfalls „Narren“ oder „Idealisten“ nennt. (MoE, 16) Der Essayist bemüht sich aber im Folgenden, den Möglichkeitssinn und damit das Kontingenzbewusstsein zu resemantisieren, und schon seine Metaphorik lässt eine Theologisierung des Möglichkeitssinns erkennen: Das Mögliche umfaßt jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen,160 sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes. Ein mögli158

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Gleichwohl ergreift auch [Schöne 1982] m.E. zu stark Partei für den Möglichkeitssinn: Nicht zufällig leitet er seine Überlegungen mit Verweis auf die zeitgenössische Sprachkritik ein, die das ,Verschwinden‘ des Konjunktivs konstatiert und dessen Gebrauch dabei unterschwellig mit einem höheren intellektuellen Vermögen identifiziert; eine unreflektierte Zustimmung zu dieser Form (zumindest vorgeblich) differenzierterer Weltbetrachtung verstellt nämlich den Blick für die Differenzen in Musils Konzept des sich konjunktivisch konstituierenden Möglichkeitssinns, die ich gerade deshalb für aufschlussreich halte, weil die Texte sie selbst nicht herausstellen, sondern immer wieder ,verwischen‘. Hier muss eine an poststrukturalistischen Theoremen geschulte Lektüre entsprechend eine für Musils Texte konstitutive, sinnstiftende Differenz vermuten, die es zu dekonstruieren gilt. Vgl. [Joung 1996]. Der Erzähler/Essayist verwendet psychiatrische Metaphern andernorts auch zur (ironischen) Be-

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ches Erlebnis oder eine mögliche Wahrheit sind nicht gleich wirklichem Erlebnis und wirklicher Wahrheit weniger dem Werte des Wirklichseins, sondern sie haben, wenigstens nach Ansicht ihrer Anhänger, etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus,161 der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt. Schließlich ist die Erde gar nicht alt und war scheinbar noch nie so recht in gesegneten Umständen.162 (MoE, 16)

In dieser Passage wird das ,Mögliche‘ metaphorisch von einer negativ bestimmten Kategorie zu einer positiven Sphäre umgedeutet: Den Elementen des dadurch konstituierten Reichs der Möglichkeiten wird – auffallend wenig ironisch – mit der pathetisch anmutenden Metapher noch schlafender „Absichten Gottes“ eine hohe Dignität zugesprochen.163 Auch an anderer prominenter Stelle formuliert Ulrich in Anknüpfung an den theologischen Diskurs: „Gott meint die Welt keineswegs wörtlich. Sie ist ein Bild, eine Analogie, eine Redewendung, deren er sich

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schreibung des geistesgeschichtlichen Wandels: „[. . .] [V]on Zeit zu Zeit, nach solchen Zufriedenheitszuständen, die man in gewissem Sinn auch Zwangszustände des Fühlens und Wollens nennen könnte, scheint das Gegenteil über uns zu kommen oder, um es gleichfalls in den Begriffen eines Narrenhauses auszudrücken, es setzt dann plötzlich auf der Erde eine gewaltige Ideenflucht ein, nach deren Ablauf das ganze Menschenleben um neue Mittelpunkte und Achsen gelagert ist. Später heißt es von Ulrich: „Ohne Zweifel war er ein gläubiger Mensch, der bloß nichts glaubte: seiner größten Hingabe an die Wissenschaft war es niemals gelungen, ihn vergessen zu machen, daß die Schönheit und Güte der Menschen von dem kommen, was sie glauben, und nicht vom dem, was sie wissen. [. . .] Die Kunst der Erhebung über das Wissen muß neu geübt werden.“ (MoE, 826) Der Erzähler weist hier explizit auf die Nähe dieser Überzeugungen zu den vom diabolischen Poeten Ulrich subvertierten Bestrebungen nach Ganzheit und Integration hin. Diese erdgeschichtliche Metaphorik gestaltet Ulrich in einem Gespräch mit Diotima narrativ weiter aus, in dem er „der Wirklichkeit ein unsinniges Verlangen nach Unwirklichkeit“ (MoE, 288) zuschreibt und seine Kusine mit der Bemerkung provoziert, es würde ihm als Inhaber des „Weltregiments“ „wohl nichts übrigbleiben, als die Wirklichkeit abzuschaffen“ (MoE, 289). Mit Blick auf die Gebirgslandschaft, durch die die beiden spazieren, erläutert er: „,[D]as war vor etlichen tausend Jahren ein Gletscher. Auch die Welt ist nicht mit ganzer Seele das, was sie augenblicklich zu sein vorgibt‘ [. . .]. ,Dieses rundliche Wesen hat einen hysterischen Charakter. Heute spielt es die nährende bürgerliche Mutter. Damals war die Welt frigid und eisig wie ein bösartiges Mädchen. Und noch einige tausend Jahre früher hat sie sich mit heißen Farrenwäldern, glühenden Sümpfen und dämonischen Tieren üppig aufgeführt.“ (MoE, 289) Der Erde könne ebensowenig wie der von ihr beherbergten Menschheit „eine Entwicklung zur Vollkommenheit“ (MoE, 289) zugesprochen werden, und die Rede von einem „wahren Zustand“ erweise sich in größeren historischen Kontexten als völlig illusionär: „Stellen Sie sich bloß die Kleider vor, in denen im Lauf der Zeit Menschen hier gestanden haben, wo wir jetzt stehen. In Begriffen eines Narrenhauses ausgedrückt, gleicht das alles lang andauernden Zwangsvorstellungen mit plötzlich einsetzender Ideenflucht, nach deren Ablauf eine neue Lebensvorstellung da ist. Sie sehen also wohl, die Wirklichkeit schafft sich selbst ab!“ (MoE, 289) Ulrich fühlt sich in der durch diesen Möglichkeitsdiskurs konstituierten Rolle des Exzeptionellen allerdings sehr wohl. Geradezu empört reagiert er auf eine Aussage Diotimas, wonach in früheren Zeiten Wunder Wirklichkeit werden konnten, „weil sie nichts sind als eine immer vorhandene andere Art von Wirklichkeit“ (MoE, 566): „So weit ist es also gekommen, daß dieses Riesenhuhn genau so redet wie ich? fragte er sich.“ (MoE, 566) Vgl. zur weiteren Radikalisierung dieses Gesprächsthemas zwischen Diotima und Ulrich MoE, 574f. und für eine Deutung im Kontext der Statistik [Vatan 2000, 126]. Vgl. [Sebastian 2005, 68].

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aus irgendwelchen Gründen bedienen muß, und natürlich immer unzureichend; wir dürfen ihn nicht beim Wort nehmen, wir selbst müssen die Lösung herausbekommen, die er uns aufgibt.“ (MoE, 357f.) Als Vorbild dieser Weltdeutung als poetisch-interpretatorischer ,Aufgabe‘ dient eine Erfahrung aus der modernen Mathematik164 („etwas von mathematischen Aufgaben“ asoziiert Ulrich, „die keine allgemeine Lösung zulassen, wohl aber Einzellösungen, durch deren Kombination man sich der allgemeinen Lösung nähert. Er hätte hinzufügen können, daß er die Aufgabe des menschlichen Lebens für eine solche ansah.“ (MoE, 358)) Während Ulrich in seinen Dialogen mit den Teilnehmern der Parallelaktion überwiegend den negativen, desemantisierenden Aspekt des Möglichkeitssinns betont, indem er als statistisch geschulter Beobachter zweiter Ordnung agiert, wird in zahlreichen essayistischen Passagen und in einigen Gesprächen die utopistisch-theologische Dimension entwickelt,165 welche die Kontingenz selbst (deren Bewusstsein das ,Wirkliche‘ in der Moderne unattraktiv oder unsicher erscheinen lässt) in spielerischer Umdeutung des Leibnizschen Theodizee-Konzepts166 der wirklichen als bester aller möglichen Welten resemantisiert und in ihr „etwas sehr Göttliches [. . .], ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus“ entdeckt.167 Der Essayist macht aus seiner Präferenz dieser ,starken‘ Form des Möglichkeitssinns (in der Möglichkeiten keine bloßen „Hirngespinste“, sondern „noch nicht geborene Wirklichkeiten“ (MoE, 17) bedeuten) keinen Hehl und erläutert, dass nach seiner Konzeption auch Möglichkeitsmenschen eine Form von Wirklichkeitssinn besitzen: „[. . .] [E]s ist ein Sinn für die mögliche Wirklichkeit und kommt viel langsamer ans Ziel als der den meisten Menschen eignende Sinn für ihre wirklichen Möglichkeiten“ (ebd.). Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn haben somit jeweils eigene Wirklichkeits- und Möglichkeitsbegriffe, und mit der Unterscheidung von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn wird auch die Differenz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit verdoppelt.168 Der Wirklichkeitssinn geht von einem festen, etwa durch religiöse, ästhetische, moralische, epistemische oder metaphysische Diskurse geprägten Wirklichkeitskonzept aus, auf dessen Grundlage 164

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[Ego 1992, 119ff.] zeigt, wie die Mathematik im MoE und in anderen Texten Musils durch ihren Status als „Paradigma der konstruktiven Wissenschaft“ in das (in der vorliegenden Untersuchung so bezeichnete) Projekt der Resemantisierung einbezogen werden kann. Dieser – für meine Lektüre des Romans zentrale – Gegensatz spielt im Konzept von [Berger 2004, 134] keine Rolle; Kontingenzbewusstsein und utopisches Denken gehen aus Sicht der Autorin offenbar weitgehend bruchlos ineinander über. Vgl. dazu [Vatan 2000, 104] und [Sebastian 2005, 60]. [Kümmel 2001, 275f.] bemerkt zur sprachlich-metaphorischen Gestaltung der utopischen Konzepte: „Die bedeutsame Stellung, die dem aZ (= anderen Zustand, M.D.) in Musils Konzeption zukommt, rechtfertigt die Emphase, mit der er ihn feiert. Sie führt zur häufigen Verwendung von Feuermetaphern, die eine Energie, eine geballte Kraft und Zerstörungswut signalisieren, die völlig unangemessen erscheint angesichts jenes Stillstands, der das Andere als Zustand charakterisiert, in dem sich höchste Ordnung und vollkommenes Chaos treffen und miteinander verschmelzen.“ (Ebd., 276) Dies betont auch [Cellbrot 1988, 79ff.] in seiner Interpretation vor dem Hintergrund der Phänomenologie Husserls.

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dann natürlich auch über Möglichkeitsspielräume gesprochen werden kann. Dagegen konstituiert sich der hier präsentierte Möglichkeitssinn durch eine utopistischtheologische Aufladung des Kontingenzbewusstseins der Moderne, das seinerseits Versatzstücke religiöser, metaphysischer und moralischer Diskurse rekombiniert und so wieder zu einer sinnvoll als ,Wirklichkeit‘ ansprechbaren, positiv bestimmten Sphäre zu gelangen meint.169 Der Essayist, der zum Kapitelende seine Ironie wiederfindet, kleidet diese Vorstellung der unterschiedlichen Bereiche, die von Wirklichkeits- und Möglichkeitsmenschen als ,Wirklichkeit‘ aufgefasst werden, in räumliche Metaphern: „[D]er Mann mit gewöhnlichem Wirklichkeitssinn gleicht einem Fisch, der nach der Angel schnappt und die Schnur nicht sieht, während der Mann mit jenem Wirklichkeitssinn, den man auch Möglichkeitssinn nennen kann, eine Schnur durchs Wasser zieht und keine Ahnung hat, ob ein Köder daran sitzt.“ (MoE, 17) Vom Möglichkeitssinn zur Theologie des Essayismus Der gleich zu Romanbeginn eingeführte Möglichkeitssinn wird im weiteren Romanverlauf – mit derselben Ambivalenz im Bezug auf die Bedeutung von Kontingenz – zu einem Konzept des Essayismus weiterentwickelt.170 Die beiden Dimensionen der vom Erzähler und Ulrich propagierten Poetologie und der in ihr entworfenen Sicht der modernen Wirklichkeit werden darin teils amalgamiert, teils aber auch in ihrer Gegensätzlichkeit profiliert. Der „Utopie“ des Essayismus wird ein eigenes, selbst essayistisches Kapitel gewidmet, worin der Leser erfährt, dass nicht nur der Protagonist des Romans, sondern „auch die Erde“ (MoE, 247) diesem huldige.171 Die Argumentation beginnt in einer für Musils Texte charakteristischen Form ,doppelter Negation‘ mit einer Zeitkritik der Zeitkritik: Ulrich konnte sich noch gut erinnern, wie das Unsichere wieder zu Ansehen gekommen war. Immer mehr hatten sich Äußerungen gehäuft, wo Menschen, die ein etwas unsicheres Metier betrieben, Dichter, Kritiker, Frauen und die den Beruf einer neuen Generation ausübenden, Klage erhoben, daß das pure Wissen einem unseligen Etwas gleiche, das alles hohe Menschenwerk zerreiße, ohne es je wieder zusammensetzen zu können, und sie verlangten • einen neuen Menschheitsglauben, • Rückkehr zu den inneren Urtümern, • geistigen Aufschwung • und allerlei von solcher Art. 169 170

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Vgl. [Berger 2004, 108]. Vgl. die beiden aktuellen, für die vorliegende Arbeit insgesamt richtungsweisenden gattungspoetischen und -historischen Deutungen von [Müller-Funk 1995] und [Schärf 1999]. S. außerdem [Baßler u.a. 1996, 281-292]. Für eine diskurstheoretische Deutung von Musils Essayismus-Konzept vgl. [Moser 1980, 175], vgl. außerdem [Pircher 2006, 73].

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Er hatte anfangs naiver Weise angenommen, das seien Leute, die sich aufgeritten haben und hinkend vom Pferd steigen, schreiend, daß man sie mit Seele einschmiere; aber er mußte allmählich erkennen, daß der sich wiederholende Ruf, der ihm anfangs so komisch erschienen war, einen breiten Widerhall fand, das Wissen fing an, unzeitgemäß zu werden, der unscharfe Typus Mensch, der die Gegenwart beherrscht, hatte sich durchzusetzen begonnen. (MoE, 249, Hervorh. M.D.)

In dieser Passage betont der Erzähler Ulrichs Zugehörigkeit zum wissenschaftlichen Diskurs und spottet in seinem Namen über die zeitgenössische ,Konjunktur‘ der Differenz, die einer als desintegrierend aufgefassten Sphäre des „Wissens“ eine Sphäre entgegensetzt, die von ihren Anhängern als sinnstiftend und darum höherwertig betrachtet, von Ulrich aber – bezeichnenderweise wieder in Listenform – mit deutlichem Sarkasmus („alles hohes Menschenwerk“, „mit Seele einschmiere“) abgelehnt wird. Damit wird das hier entwickelte Konzept zunächst von wissens- bzw. wissenschaftsfeindlichen Formen kultureller Identitätsbildung abgegrenzt, entsprechende zeitgenössische Tendenzen als intellektuell mangelhaft bzw. prämodern gekennzeichnet und die von der neuzeitlichen (Natur-)Wissenschaft inspirierte Poetologie der Statistik und Beobachtung propagiert. Deren Kontingenzbewusstsein prägt Ulrichs ,essayistisches‘ Bild der Welt als „unendliches System von Sachzusammenhängen, in dem es unabhängige Bedeutungen, wie sie das gewöhnliche Leben in einer groben ersten Annäherung den Handlungen und Eigenschaften zuschreibt, überhaupt nicht mehr gab“ (MoE, 251), das ,groben‘ Formen der Beobachtung erster Ordnung, die die Welt durch eine substantialistische bzw. identifikatorische Semantik zu einer artifiziellen, der modernen Wirklichkeit nicht angemessenen ungebrochenen Einheit machen, programmatisch entgegengesetzt wird. Entsprechend wird der Essay durch seine kompositorische Eigenschaft ,definiert‘, „in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten [zu nehmen], ohne es ganz zu erfassen, – denn ein erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein –“ (MoE, 250), und im Nachsatz vom (traditionell) begrifflich operierenden philosophischen Diskurs abgegrenzt (kurz darauf werden Philosophen explizit als „Gewalttäter ohne Armee“ verspottet, die vom tyrannenhaften Wunsch getrieben seien, die Welt in ein System zu sperren). Dieser – im Wesentlichen auf das Kontingenzbewusstsein des Erzählers und seines Protagonisten basierende – Überlegenheitsgestus begnügt sich jedoch im Essayismus-Kapitel nicht mit der Einsicht, die moderne ,Wirklichkeit‘ zerfalle in eine Vielzahl möglicher Listen, die individuell und kausal nicht mehr beherrsch- und konzeptualisierbar und höchstens noch durch Rekurs auf obsolete Kultur- und Bildungsmodelle oder radikale Homogenisierungsverfahren in eine Sinnordnung zu bringen sind, sondern verfolgt (recht unvermittelt) eine eigene, emphatisch vorgetragene Sinnstiftungsstrategie, die das zu Romanbeginn präsentierte Plädoyer für den ,starken‘ Möglichkeitssinn wieder aufgreift,172 wobei der 172

Vgl. zur Vorwegnahme dekonstruktivistischer Theoreme bzw. Strategien im Umgang mit Texten im Musilschen (und Adornoschen) Essay-Begriff [Zima 1985, 200f.]. Der Verfasser sieht sich für

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Essayist sein Konzept des Essayismus unter Einsatz lyrischer Metaphern anthropologisiert:173 [D]as scheinbar Feste wurde darin (= im Essay) zum durchlässigen Vorwand für viele andere Bedeutungen, das Geschehende zum Symbol von etwas, das vielleicht nicht geschah, aber hindurch gefühlt wurde, und der Mensch als Inbegriff seiner Möglichkeit, der potentielle Mensch, das ungeschriebene Gedicht seines Daseins trat dem Mensch als Niederschrift, als Wirklichkeit und Charakter entgegen. (MoE, 251, Hervorh. M.D.)

Im Gegensatz zu der im vorangegangenen Kapitel rekonstruierten Poetologie der Statistik und Beobachtung zweiter Ordnung verfolgt der Essayist hier eine Resemantisierungsstrategie, die dem Essay einen bedeutsamen ,Sinn‘ zuschreibt, zugleich aber gegen den interpretatorischen ,Zugriff‘ zu immunisieren trachtet, indem er dessen sprachliche Erfassbarkeit und Kommunikabilität dementiert.174 Der dem hier vorgeschlagenen Essayismus folgende „Mensch“ löst sich in pure „Möglichkeit“ und ,Potentialität‘ auf, und sein „Dasein“ kann am ehesten mit der Gattung des Gedichts verglichen werden. Die dabei ins Auge gefasste poetische Rede hat freilich wenig mit der diabolischen Poetik distanziert-nüchterner Beobachtung gemeinsam, sondern steht für eine Singularität,175 deren Bedeutsamkeit sich gerade dadurch konstituiert, dass sie sprachlich nicht ,eingeholt‘ werden kann und somit ,ungeschrieben‘ bleiben und „hindurch gefühlt“ werden muss. Der Essayist entwirft damit eine Form essayistischer ,Innerlichkeit‘, für die umgekehrt auch die äußere Realität (als Reservoir von „Symbolen“) wieder ,bedeutsam‘ werden kann. Ausgehend von forciertem Kontingenzbewusstsein und radikaler Ablehnung fester Sinnstiftung gelangt der Essayist schließlich – in paradox anmutender Umkehr – zu einem Kontingenz dementierenden Begriff des Essay als „einmalige

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sein Interesse an Derridas Philosophie noch sichtlich unter Rechtfertigungsdruck und tritt als (moderater) Anwalt des Derridaschen „différance“- Konzepts auf, dessen Verwandtschaft mit Musils Essay-Begriff er (grundsätzlich freilich nicht verfehlt) nachzuweisen versucht. Dadurch lässt sich m.E. die etwas kurzschlüssige und (angesichts des ,Gegenstands‘ besonders unpassende) harmonisierende Lektüre erklären, die ihre Thesen mit sehr kurzen programmatischen Textpassagen belegt und dabei ironischerweise gerade den – dekonstruktivistisch besonders interessanten – fundamentalen Bruch in Musils Essay-Konzept übersieht, der im Rahmen der vorliegenden Arbeit fokussiert wird. Vgl. dazu das Kapitel „Une anthropologie fictive“ bei [Vatan 2000, 247ff.]. In dieser Hinsicht ist es zugleich konsequent und problematisch, wenn der Erzähler es vorzieht, ein Gespräch zwischen Hans Sepp und Ulrich, „das auf einen Fernstehenden einen sonderbaren Eindruck gemacht haben müßte, nicht unähnlich der Unterhaltung in einem Verbrecherjargon, obwohl dieser kein anderer war als eben die Mischsprache weltlich-geistlicher Verliebtheit“, „mehr dem Sinn nach wiederzugeben als in [seinem] Wortlaut“ (MoE, 555). Zum Übergang vom „Seinesgleichen“ zum „Ohnegleichen“ bzw. Singulären im Kontext einer statistisch generierten Sicht der Wirklichkeit vgl. [Sebastian 2005, 68f.]. Interessant ist diesbezüglich Georg Simmels – auf das hier diskutierte Konzept Musils übertragbare – spekulative psychische Analyse „selbstherrliche[r] Existenzen“ wie Nietzsche, „die allein in dem unschematisch Eigenartigen, nicht für alle gleichmäßig Präzisierbaren den Wert des Lebens finden und denen deshalb aus der gleichen Quelle wie jener Haß der gegen die Geldwirtschaft und gegen den Intellektualismus des Daseins quillt.“ [Simmel 1995, 120]

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und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt“ (MoE, 253), schreibt also gerade dem Essay einen Status als notwendige, wohlgestaltete Sinneinheit zu. Entsprechend legt der Essayist großen Wert auf die Behauptung, ein Essay sei nichts Halbfertiges oder gar ein minderwertiges Abfallprodukt. In einem Essay über Franz Blei wendet sich Musil gegen die unter Wissenschaftlern wie Literaten gleichermaßen verbreitete Ablehnung der Gattung aufgrund ihrer Hybridität: [. . .] [D]er Essayist, der den Gelehrten als eine Art Windbeutel gilt, der seine Wesenheit aus dem bestreitet, was für die gelehrte Produktion nur Abfall ist, gilt auf der anderen Seite den Dichtern meist nur als Kompromiß, als eine Brechung ihres strahlenderen Wesens im Dunste der gemeinen Rationalität. Eines ist so beschränkt wie das andere. Die Artikulation des Gefühls durch den Verstand, die Wegwendung des Verstandes von den belanglosen Wissensaufgaben zu den Aufgaben des Gefühls, das ist das Ziel des Essayisten [. . .]. [Musil 19782 , 1024]

Angesichts des im zweiten Teil dieser Passage vorgetragenen ehrgeizigen Programms wird deutlich, worauf der Erzähler seine Hoffnung stützt, die von ihm erkundete Sphäre des Essayistischen gehorche „strengen Gesetzen“, die aber „zart und unaussprechlich“ (MoE, 254) seien. Wie schon im Zusammenhang der Konzeption des ,starken‘ Möglichkeitssinns enthält sich der Erzähler an dieser Stelle jeglicher Ironie, agiert also nicht als diabolischer Liebespoet, aus dessen Perspektive die für den Essay eingeforderte Form außersprachlicher Sinnkonstitution und prädiskursiver Gesetzgebung völlig unzulässig erschiene. Die folgende Gegenüberstellung zweier Textstellen belegt den Gegensatz zwischen Ulrichs Funktion als Beobachter zweiter Ordnung, dessen statistisch fundiertes Credo aus dem zweiten Romankapitel von ,negativ‘ bestimmtem, radikal desemantisierendem Kontingenzbewusstsein zeugt (siehe linke Spalte), und als Anhänger der Utopie eines Essayismus, dessen Konzept sich einer emphatischen Resemantisierung und ,positiven‘ Umdeutung dieses Kontingenzbewusstseins ergibt (siehe rechte Spalte): „Man kann tun, was man will,“ sagte der Mann ohne Eigenschaften achselzuckend „es kommt in diesem Gefilz von Kräften nicht im Geringsten darauf an!“ (MoE, 13)

Er könnte glücklich sein, weil er nicht tötet, oder glücklich sein, weil er tötet, aber er könnte niemals der gleichgültige Eintreiber einer an ihn gestellten Forderung sein. (MoE, 254)

Der Essayist beschreibt den U-topos, an dem sich Essayisten und Essayismus (nicht) verorten lassen, und siedelt „ihr Reich“ programmatisch in diversen Zwischen-Räumen an: Es hat nicht wenige solche Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben, aber es würde keinen Zweck haben, sie zu nennen; ihr Reich liegt zwi-

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schen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht, sie sind Heilige mit und ohne Religion, und manchmal sind sie einfach Männer, die sich in ein Abenteuer verirrt haben. (MoE, 253f.)

Der in verschiedenen Grenzgebieten lokalisierte Essayismus besitzt eine Affinität zum religiösen und zum wissenschaftlichen Diskurs, lässt sich aber keinem der beiden vollständig subsumieren. Auch dem literarischen Diskurs kann er nach Ansicht des Essayisten nicht zugerechnet werden: Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter, ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt? (MoE, 254)

Der Essayismus wird somit ins Zentrum eines Dreiecks gestellt, dessen Ecken von Literatur, Religion und Wissen besetzt werden.176 Der MoE bringt als diabolisches Liebesgedicht der Moderne seine Ablehnung des ,üblichen‘ Prozessierens der drei ,Systeme‘ Literatur, Wissen und Religion in kaum mehr überbietbarer Vielfalt und Deutlichkeit zum Ausdruck. Darüber hinaus zeigen etwa die narrative Präsentation der Figur Arnheims oder die Erlebnisse General Stumms, dass nichts verfehlter wäre, als den MoE als Postulat oder Versuch eines integralen, auf holistische Sinnstiftung zielendes Diskurspanoramas ,der‘ modernen ,Wirklichkeit‘ zu lesen. Auch am Schluss des Essayismus-Kapitels beschreibt der Erzähler Ulrichs Wahrnehmungsform als Beobachtungskollaps, und nicht zuletzt die Metaphorik („Muttermilch“) erinnert deutlich an die Erlebnisse Azweis in der Amsel: Das, was er (= Ulrich) in diesem Augenblick empfand, war kein Gebot, es war ein Gebiet, das er betreten hatte. Er begriff, dass alles darin schon entschieden sei und den Sinn besänftigt wie Muttermilch. Aber es war kein Denken mehr, was ihm das sagte, und auch kein Fühlen in der gewöhnlichen, wie in Stücke gebrochenen Weise, es war ein ,ganz Begreifen‘ und doch auch wieder nur so, wie wenn der Wind eine Botschaft fern herüberträgt, und sie kam ihm weder wahr noch falsch, weder vernünftig noch widervernünftig vor, sondern ergriff ihn, als wäre ihm eine leise selige Übertreibung in die Brust gefallen. (MoE, 255)

Die räumliche Metaphorik (Ulrich betritt ein Gebiet) verdeutlicht die positive Umbzw. Aus-Deutung der durch das Kontingenzbewusstsein grundsätzlich erschlossenen, zunächst aber bloß negativen Sphäre: „[A]lles“ ist „darin schon entschieden“, Kontingenz ist also vollständig durch Providenz ersetzt, das Bewusstsein 176

In diesem Zusammenhang wird Nietzsche in einem Essay Musils als Vorbild (für die deutschsprachige Literatur und Geisteswissenschaft) benannt: „Wir Deutschen haben – außer dem einen großen Versuch Nietzsches – keine Bücher über den Menschen; keine Systematiker und Organisatoren des Lebens. Künstlerisches und wissenschaftliches Denken berühren sich bei uns noch nicht. Die Fragen einer Mittelzone zwischen beiden bleiben ungelöst.“ [Musil 19782 , 1019] Vgl. dazu [Dresler-Brumme 1987].

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wird in einer Weise narkotisiert, die eine holistische Sinnstiftung („ein ,ganz Begreifen‘“) ermöglicht, ohne dabei auf Differenzen zurückgreifen zu können und zu müssen. Systemkonstitutive Unterscheidungen wie wahr/falsch und vernünftig/widervernünftig verlieren für den asystemisch ,Ergriffenen‘ ihre Bedeutung. 5.4.4 Helden der Theologie des Essayismus Der Umgang mit der narrativen Privilegierung von Ulrichs Konstruktion einer bedeutungsvollen, religiös aufgeladenen außersprachlich-prädiskursiven Sphäre, gegenüber den zahlreichen anderen, narrativ meist ironisch desavouierten Programmen der Figuren Diotima, Arnheim, Graf Leinsdorf oder Hans Sepp gehört zweifellos zu den interpretatorischen Kardinalproblemen im Umgang mit dem MoE. Anhand der beiden berühmten ,Verrückten‘ Clarisse und Moosbrugger, für die der Erzähler deutlich mehr Sympathie hegt als für die zuvor genannten Personen, wird im Folgenden die Affinität von Wahnsinn und anderem Zustand analysiert, und in einem abschließenden Blick auf ein Liebeskonzept, das als Zugangsform zur Sphäre des Essayistischen bzw. Nicht-Ratioïden erprobt wird, werden die Rolle Agathes und der Geschwisterliebe im Roman erörtert. Clarisse und Moosbrugger: Wahnsinn und anderer Zustand Clarisse und Moosbrugger können kompositorisch als Gegenfiguren zu Diotima und Arnheim gelesen werden:177 Während Diotima und Arnheim innerhalb der gesellschaftlichen Elite selbst Führungspositionen innehaben, ihr ,Ich‘ keineswegs für unrettbar halten, eine geschlossene kulturelle ,Identität‘ des modernen Kakaniens bzw. Europas suchen und im Rahmen ihrer gesellschaftlichen Möglichkeiten um diskursive Integration bemüht sind, also Kontingenzbewältigung anstreben, erscheinen die beiden eher am ,Rand‘ der erzählten Welt angesiedelten Gestalten Clarisse und Moosbrugger nach den Maßstäben des zeitgenössischen medizinischen und juristischen Diskurses als Personifikationen verschiedener Spielarten des ,Wahnsinns‘.178 Ihr ,Ich‘ ist trotz einschlägiger disziplinarischer, partnerschaftlicher und medizinischer Maßnahmen kaum zentrierbar, und sie erweisen sich in unterschiedlicher Form als Diskurs-Zentrifugen, welche die kontingenzreduzierenden Kontrollversuche der Parallelaktion konterkarieren.179 Sie repräsentieren somit den drohenden Einbruch des Kontingenten, also radikaler Umwertung und Desemantisierung in vermeintlich stabil geordnete Sphären.180 Neben dieser (wissenspoetisch zur diabolischen Liebespoesie gehörigen) Demonstration des Konstruktionscharakters psychischer, epistemischer, ästhetischer und kultureller Ordnung spielt der Erzähler als Theologe des Essayismus anhand dieser beiden 177 178 179 180

[Kümmel 2001, 289] abstrahiert diesen Befund poetologisch, wenn er von einer „lektüreleitende[n] Doppelstrategie des MoE [spricht]: dissoziieren und integrieren.“ Vgl. [Berger 2004, 169]. Vgl. [Haslmayr 1997, 36ff.]. Vgl. [Honold 1995, 383ff.].

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hinsichtlich der ,normalen‘ diskursiv vermittelten Kontingenzreduktion gestörten Personen aber auch Formen der – hier freilich ,wahnhaft‘ wirkenden – Resemantisierung des Kontingenten durch, nimmt also – in der Tradition der Romantik – die strukturellen Zusammenhänge des komplexen kulturellen Phänomens ,Wahnsinn‘ und seinem Konzept des anderen Zustands als psychischer Manifestation der Sphäre des „Nicht-Ratioïden“ in den Blick:181 Eine Person im anderen Zustand fühle sich „wie ein zirkulär Irrer, ein Manisch-Depressiver im Vorstadium der Manie“182 . Clarisses lebensweltlicher Umgang mit der Kategorie des Zufälligen weist deutliche Parallelen mit Azweis entsprechendem (narrativem) Handeln auf und steht in bemerkenswertem Einklang mit Freuds einschlägigen Diagnosen in der Psychopathologie des Alltagslebens183 . Nachdem sie (zusammen mit ihrem Mann Walter und den Gästen Meingast und Ulrich) vor ihrem Fenster einen Sittlichkeitsverbrecher beobachtet hat, zeigt sie sich unbeirrbar überzeugt, dass dies kein Zufall gewesen sein könne:184 Überhaupt war an diesem Abend nichts zufällig; auch jener Mann hatte nicht bloß zufällig Clarisses Fenster auserwählt, um sich darunter zu stellen: Ihre Meinung, daß sie Männer, mit denen etwas nicht in Ordnung sei, grausam anziehe, war fest und hatte sich schon oft als wahr erwiesen! Nahm man alles in allem, so waren ihre Ideen nicht sowohl wirr, als daß sie vielmehr Zwischenglieder ausließen oder an manchen Stellen von Affekten getränkt wurden, wo andere Menschen keine solchen inneren Quellen haben. (MoE, 789)

Ironisch-personal imitiert der Erzähler im ersten Teil dieser Passage Clarisses Form der Selbst-Überzeugung, ein nach gewöhnlichen Maßstäben kontingentes Ereignis eben gerade nicht als zufällig aufzufassen, sondern als untrügliches Indiz einer ,tiefer‘ liegenden Sinnstruktur zu deuten, um im zweiten Teil die Ursachen dieses Verhaltens zu analysieren. Dabei spezifiziert er das Pauschal-Urteil der (in Musils Texten omnipräsenten und oft tendenziell positiv konnotierten) Verwirrung Clarisses, indem er ihr einen Mangel an der kognitiven Fähigkeit des „primitiv Epischen“ attestiert. In Anknüpfung an den oben in diesem Zusammenhang zitierten wahrnehmungstheoretischen Vergleich mit einer Allee, deren Lücken sich im Modus alltäglicher Wahrnehmung schließen, wodurch sich das Wahrgenommene zu einem intersubjektiv ,gültigen‘ Gesamtbild fügt, konstatiert der Erzähler, Clarisses Wahrnehmung lasse gewisse „Zwischenglieder“ aus oder akzentuiere diese semantisch in einer singulären Form, wodurch sie zu einem intersubjektiv nicht mehr konsensfähigen und kommunizierbaren eigenen ,Welt-Bild‘ gelange – mit dem paradoxen Resultat, dass gerade ihr Unvermögen, kulturell verbürgte Formen 181 182 183 184

Vgl. für eine essayistische Auseinandersetzung Musils mit der Bedeutsamkeit und literarischen Relevanz ,krankhafter‘ Zustände [Musil 19782 , 977ff.]. [Musil 19782 , 1009]. [Freud 1941, 267ff.]. Vgl. für eine Interpretation vor dem Hintergrund der indeterministischen Deutung der Quantenmechanik [Könneker 2001, 84f.].

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der Kontingenzreduktion sicher anzuwenden und eben deshalb viele (genauer gesagt sogar die bei weitem meisten) kognitiv verfügbaren Daten als ,zufällig‘ ignorieren zu können, zur Überzeugung führen kann, ein gewisse Handlungsabfolge habe sich notwendigerweise so abspielen müssen. Ihr durchgängig um Normalisierung bemühter Gatte Walter deutet Clarisses Überzeugung zunächst (in Übereinstimmung mit Freuds Überlegungen) bestürzt als untrüglichen Beleg ihres Wahnsinns. Der sich prophetisch gebende, vom Erzähler äußerst maliziös dargestellte Dichter Meingast regt Walter aber im Zusammenhang mit Clarisses Wahrnehmung zu einer kunsttheoretischen Reflexion ihrer eigenwilligen Form der Sinnstiftung an: [. . .] [D]ie Geschehnisse hatten dann wohl eine Art sich aneinanderzulagern, die anders war als die gewöhnliche, gehörten einem fremden Ganzen an, das andere Seiten an ihnen hervorkehrte [. . .]. Es war schwer, das nüchtern auszudrücken, aber schließlich fiel Walter auf, daß es doch gerade etwas ihm Wohlbekannten aufs nächste verwandt wäre, nämlich dem, was geschehe, wenn man ein Bild male. Auch ein Bild schließt auf eine nicht bekannte Weise jede Farbe und Linie aus, die nicht mit seiner Grundform, seinem Stil, seiner Palette übereinstimmt, und zieht andererseits das aus der Hand, was es braucht, kraft genialer Gesetze, die anders als die der gewöhnlichen Natur sind. (MoE, 927)

Hiermit wird Walter zum Sprachrohr der in der theologisierenden Poetologie des Essayismus verfolgten Konstruktion von Providenz, die in der gerade durch extreme Kontingenzerlebnisse zugänglichen Sphäre des ganz anderen Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeit findet, die insbesondere im Bereich künstlerischer Produktion dem Modus „gewöhnliche[r]“ Wahrnehmung qualitativ überlegen sind. In Bezug auf den Prostituiertenmörder Christian Moosbrugger, einen gelernten Zimmermann, agiert insbesondere Clarisse – zum Entsetzen ihres Gatten – als engagierte Jüngerin. Der Erzähler und Ulrich teilen ihre Faszination bezüglich dieser Figur, an der – im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung – mehrmals die ,Grobschlächtigkeit‘ der (binären) Ordnungsstiftung im zeitgenössischen medizinischen und juristischen Diskurs demonstriert wird. Der Erzähler charakterisiert die psychische Disposition des charismatischen Delinquenten anlässlich einer Schilderung seines Verhaltens vor Gericht; Moosbrugger erweist sich als vollkommen unfähig, sein Handeln der ,Logik‘ des juristischen Diskurses unterzuordnen und seine Interessen im Sprachspiel der Gerichtsverhandlung zu wahren: In der Verhandlung bereitete Moosbrugger seinem Verteidiger die unvorhersehbarsten Schwierigkeiten. Er saß breit wie ein Zuschauer auf seiner Bank, rief dem Staatsanwalt Bravo zu, wenn dieser etwas für seine Gemeingefährlichkeit vorbrachte, das ihm seiner würdig erschien, und teilte lobende Zensuren an Zeugen aus, die erklärten, niemals etwas an ihm bemerkt zu haben, was auf Unzurechnungsfähigkeit schließen ließe. „Sie sind ein drolliger Kauz“ schmeichelte ihm von Zeit zu Zeit der die Verhandlung leitende Richter und zog gewissenhaft die Schlingen zu, die sich der Angeklagte gelegt

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hatte. Dann stand Moosbrugger einen Augenblick lang erstaunt wie ein in der Arena gehetzter Stier, ließ die Augen wandern und merkte an den Gesichtern der Umsitzenden, was er nicht verstehen konnte, daß er sich abermals eine Lage tiefer in seine Schuld hineingearbeitet hatte. (MoE, 74f.)

Skurrilerweise verkündet Moosbrugger nach dem Todesurteil – das er mit seinem Verhalten im Prozess geradezu systematisch herbeigeführt hat, weil er das Plädoyer auf Unzurechnungsfähigkeit unterläuft –: „Ich bin damit zufrieden, wenn ich Ihnen auch gestehen muß, daß Sie einen Irrsinnigen verurteilt haben!“ (MoE, 76) Von dieser „Inkonsequenz“ ist Ulrich, der dem Prozess beiwohnt, nachhaltig fasziniert: „Das war deutlich Irrsinn, und ebenso deutlich bloß ein verzerrter Zusammenhang unserer eigenen Elemente des Seins. Zerstückt und durchdunkelt war es; aber Ulrich fiel irgendwie ein: wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müßte Moosbrugger entstehn.“ (MoE, 76) Dieser Befund bekräftigt Moosbruggers Stellung als Parallel- bzw. Konstrastfigur Arnheims:185 Während der preußische Industrielle als Diskurs-Integrator (gleichsam bei Tag) „in einer Person ist“, was alle anderen getrennt sind, da er beliebig komplexe Diskurs-Überlagerungen in Sinneinheiten zu überführen versteht,186 wird Moosbrugger hier als DiskursDispersor zur nächtlichen Personifikation der Menschheit ernannt. Besonders charakteristisch ist seine Indifferenz bezüglich der Unterscheidung von ,Ich‘ und ,Außenwelt‘:187 „Das Wichtigste war, daß es gar nichts Wichtiges bedeutet, ob etwas draußen ist oder innen; in seinem Zustand war das wie helles Wasser zu beiden Seiten einer durchsichtigen Glaswand.“ (MoE, 239) Deutlich stärker noch als Clarisse mangelt es Moosbrugger also an der Fähigkeit, der kontingenten Datenflut des Bewusstseins als Komplexität reduzierender Regisseur zu begegnen. Ausführlich schildert der Erzähler Moosbruggers – nach Maßgabe des psychologischmedizinischen Diskurses durch Halluzinationen geprägten – mentalen Zustand: Er höre „Stimmen oder Musik oder ein Wehen und Summen, auch Sausen und Rasseln oder Schießen, Donnern, Lachen, Rufen, Sprechen und Flüstern.“ (MoE, 239) Im Gegensatz zu Arnheims vollendeter Fähigkeit, auch heterogene Diskurse sinnstiftend zu kombinieren, die ,Stimmen‘ in seinem Inneren also zu bündeln und zu amalgamieren, ist Moosbruggers Bewusstsein Schauplatz von intentional nicht beherrschbarer Kakophonie und Kontingenz: „Wenn er arbeitete, so sprachen die Stimmen meist in sehr abgerissenen Worten und kurzen Sätzen auf ihn ein, sie beschimpften und kritisierten ihn, und wenn er etwas dachte, so sprachen sie es aus, ehe er selbst dazu kam, oder sagten boshaft das Gegenteil von dem, was er wollte.“ (MoE, 239) Der Erzähler exemplifiziert und erläutert Moosbruggers ,Sprachkrise‘ am Beispiel eines Tieres, das (regional bedingt) auf so verschiedene Bezeichnungen wie „Eichkatzl“, „Eichhörnchen“ oder „Baumfuchs“ hört: „[. . .] [W]enn ein Eichkatzl keine Katze ist und kein Fuchs und statt eines Horns Zähne hat wie der Hase, den der Fuchs frißt, so braucht man die Sache nicht so genau zu 185 186 187

Vgl. [Sebastian 2005, 109]. Vgl. dazu ausführlich das dritte Kapitel. Vgl. [Kassung 2001, 416ff.].

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nehmen, aber sie ist in irgend einer Weise aus alledem zusammengenäht und läuft über die Bäume. Nach Moosbruggers Erfahrung und Überzeugung konnte man kein Ding für sich herausgreifen, weil eins am anderen hing.“ (MoE, 240) Damit wird Moosbruggers sprach- und erkenntnistheoretische Disposition klar als (pathologisch extremisierte) Variante von Ulrichs essayistischer Grundüberzeugung gekennzeichnet, die moderne Wirklichkeit sei ein „unendliches System von Sachzusammenhängen, in dem es unabhängige Bedeutungen, wie sie das gewöhnliche Leben in einer groben ersten Annäherung den Handlungen und Eigenschaften zuschreibt, überhaupt nicht mehr gab“ (MoE, 251). Auch die mathematische Betätigung des Protagonisten im Bereich der logischen Grundlagenforschung („Er gehörte zu jenen, Logistiker genannten, Mathematikern, die überhaupt nichts richtig fanden und eine neue Fundamentallehre aufbauten.“ (MoE, 865)) (zerr-)spiegelt sich in Moosbruggers Bewusstsein, der Rechenaufgaben wie 14 + 14 = 28, die von Medizin und Justiz gelegentlich als besonders zuverlässiger Test seiner Geistesverfassung eingesetzt werden, in eigenwilliger Weise löst: „[E]r antwortete Ihnen bedächtig: ,So ungefähr achtundzwanzig bis vierzig.‘ Dieses ,Ungefähr‘ bereitete ihnen Schwierigkeiten, über die Moosbrugger schmunzelte. Denn es ist ganz einfach; er weiß auch, daß man bei achtundzwanzig anlangt, wenn man von der Vierzehn um vierzehn weitergeht, aber wer sagt denn, daß man dort stehen bleiben muß?!“ (MoE, 240) Folgende Passage bündelt nochmals Moosbruggers Erfahrung der Labilität der Wirklichkeit und begründet diese anhand des fundamentalen Versagens sprachlich-medialer Formen der Kontingenzreduktion. Während der Protagonist in der Poetologie der Statistik und in der Theologie des Essayismus – mit jeweils unterschiedlicher Stoßrichtung – Kontingenzerfahrungen zelebriert und sucht, leidet Moosbrugger tatsächlich an seinem Unvermögen, sich der Logik des „primitiv Epischen“ zu unterwerfen, teilt aber mit dem Theologen des Essayismus den Glauben an eine bedeutsame Sphäre des Prädiskursiven, in dem „die Dinge“ „treiben und drängen“: [. . .] [W]elchen Veränderungen sind die Dinge unaufhörlich je nach Gewohnheit, Laune und Standpunkt ausgesetzt! Wie oft brennt Freude ab, und es kommt ein unzerstörbarer Kern von Trauer hervor?! Wie oft schlägt ein Mensch gleichmütig auf einen anderen ein, aber könnte ihn ebenso in Ruhe lassen. Das Leben bildet eine Oberfläche, die so tut, als ob sie so sein müßte, wie sie ist, aber unter ihrer Haut treiben und drängen die Dinge. Moosbrugger stand immer mit den Beinen auf zwei Schollen und hielt sie zusammen, vernünftig bemüht, alles zu vermeiden, was ihn verwirren konnte; aber manchmal brach ihm ein Wort im Munde auf, und welche Revolution und welcher Traum der Dinge quoll dann aus so einem erkalteten, ausgeglühten Doppelwort wie Eichkätzchen oder Rosenlippe! (MoE, 241)

Ulrich, Frau Major und Agathe Die Ambivalenz zwischen dem im Modus der Beobachtung und Narration zweiter Ordnung entwickelten Diskursivitätsbewusstsein, das – negativ – die Kontingenz

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von Sinnstiftungsakten anhand binärer Oppositionen herausstellt, und dem – positiven – Projekt einer Resemantisierung der Kontingenz als Medium eines Zugangs zu einer ganz anderen Sphäre, wird in Musils Werk besonders am Umgang mit dem Themenkomplex der Liebe deutlich.188 Spätestens seit Luhmanns Liebe als Passion189 hat sich in den Humanwissenschaften die (de-)konstruktivistische Position durchgesetzt, ,Liebe‘ als historisch variables, diskursiv gesteuertes kulturelles Konstrukt aufzufassen. Entsprechend werden die in diesem Bereich besonders virulenten, oft emphatisch behaupteten Individualitäts- und Intimitäts-Ansprüche, die jegliche Diskursivität (zumindest der Ursprünge) ihres Empfinden verneinen, theoretisch abgewiesen, und etwa der für Liebes-Codes charakteristische Unsagbarkeits-Topos den diskurskonstituierenden Formeln zugerechnet, die die Sphäre des Emotionalen von jeglicher (durch Kommunikabilität immer schon implizierten) Formelhaftigkeit zu reinigen suchen. Im Rahmen postmoderner Theoriebildung wird dabei nicht behauptet, es ,gebe‘ nichts Nicht-Diskursives – dieses (mögliche) Nicht-Diskursive ist aber nur ein negativ-kontingenter Ort des reinen ,Rauschens‘, auf den argumentativ prinzipiell nicht zugegriffen werden kann. Die folgende reflexive Textpassage aus dem MoE zeigt – anhand des liebessemantisch zentralen Seelen-Begriffs – den für den Roman typischen Zwiespalt radikal desemantisierenden Kontingenzbewusstseins und theologisierenden Festhaltens an der Vorstellung eines ursprünglichen ,Substrats‘ des Emotionalen: Ein solches Mittel, das die Seele zwar tötet, aber dann gleichsam in kleinen Konserven zum allgemeinen Gebrauch aufbewahrt, ist seit je ihre Verbindung mit der Vernunft, den Überzeugungen und dem praktischen Handeln gewesen, wie sie alle Moralen, Philosophien und Religionen erfolgreich durchgeführt haben. [. . .] Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß der glühende Wunsch, nur auf sie (= die Seele) zu hören, einen unermeßlichen Spielraum, eine wahre Anarchie übrig läßt, und man hat Beispiele dafür, daß sozusagen chemisch reine Seelen geradezu Verbrechen begehen. Sobald dagegen eine Seele Moral hat oder Religion, Philosophie, vertiefte bürgerliche Bildung und Ideale auf den Gebieten der Pflicht und des Schönen, ist ihr ein System von Vorschriften, Bedingungen und Durchführungsbestimmungen geschenkt, das sie auszufüllen hat, ehe sie daran denken darf, eine beachtenswerte Seele zu sein, und ihre Glut wird wie die eines Hochofens in schöne Sandrechtecke geleitet. [. . .] [D]auernd vermögen nur Narren, Geistesgestörte und Menschen mit fixen Ideen, im Feuer der Beseeltheit auszuharren; der gesunde Mensch muß sich damit begnügen, die Erklärung abzugeben, daß ihm ohne eine Flocke dieses geheinnisvollen (sic!) Feuers das Leben nicht lebenswert vorkäme. (MoE, 186)

Die Überlegungen zur Kanalisierung und Reglementierung der „Seele“ durch diskursive Systeme der Vernunft, Moral, Religion oder „vertiefte bürgerliche 188 189

Dass die Auseinandersetzung mit dem soziokulturellen Phänomen Liebe für Musils Werk insgesamt prägend ist, z eigt [Vedder 1993] anhand der Novellensammlung Drei Frauen. [Luhmann 1994].

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Bildung“ nehmen die oben skizzierte Position teilweise vorweg. Nimmt man aber das in der eben zitierten Textstelle auffallend häufig bemühte Metaphernfeld Glut/Feuer genauer in den Blick, wird deutlich, dass die Erzählung hier um die Beschreibung einer „chemisch reine[n] Seele[]“ kreist, die diese vor ihrer diskursiven ,Konservierung‘ zeigt, welche als Depotenzierung qualifiziert wird. Während der Erzähler als diabolischer Liebespoet derartige Vorstellungen vom Prädiskursiven und Ursprünglichen als Strategien der Erschleichung von Authentizität unterläuft – man vergleiche diesbezüglich die oben ausführlich analysierte epistemologisch-narrative Dekonstruktion des verbreiteten Glaubens, Emotionen zeichneten sich im Gegensatz zu einer logisch-rationalen Sphäre durch ihre Regellosigkeit aus190 – wird hier die Kontingenz der „reinen Seele“ positiv umgedeutet, wenn sie als „unermessliche[r] Spielraum“ gekennzeichnet und mit anarchistischer Abenteuerlust und Sympathie fürs Verbrecherische191 enggeführt wird (aus dieser Perspektive ist es entsprechend aufschlussreich, wenn das Zweite Buch den Untertitel „Die Verbrecher“ trägt). Wie der ,starke‘ Möglichkeitssinn durch eine Resemantisierung des desemantisierenden Kontingenzbefunds der diabolischen Liebespoetik entsteht und das negativ bestimmte bloß oder auch Mögliche zu einem Reich der Möglichkeiten ausmalt, erblickt der Erzähler auch auf dem ,Grund‘ des diskursiv insbesondere christlich-abendländisch geprägten Seelen-Begriffs einen „geheimnisvollen“, prädiskursiven Rest. Die Differenz zwischen normalem und anderem Zustand wird im MoE anhand des Themas ,Liebe‘ erzählerisch gestaltet und reflektiert. Der Erzähler unterscheidet so die „Liebe“, die mit letzterem zusammenhänge, von der Liebe „im üblichen Sinn“ (MoE, 591) als einen „Zustand [. . .], der bis in die Atome des Körpers anders ist als der Zustand der Liebesarmut“ (MoE, 591). Insbesondere ist dieses theologisierte, auf eine prädiskursive Sphäre des ganz anderen zielende Liebeskonzept wesentlich von der diabolischen Liebe zu unterscheiden, die der Erzähler 190

191

Die Passage sei hier zum Vergleich noch einmal zitiert: „Lieber Stumm, [. . .] sehr viele Menschen werfen der Wissenschaft vor, daß sie seelenlos und mechanisch sei und auch alles, was sie berühre, dazu mache; aber wunderlicherweise bemerken sie nicht, daß in den Angelegenheiten des Gemüts eine noch weit ärgere Regelmäßigkeit steckt als in denen des Verstandes! Denn wann ist ein Gefühl recht natürlich und einfach? Wenn sein Auftreten bei allen Menschen in gleicher Lage geradezu automatisch zu erwarten ist! [. . .] [W]enn du vor dieser öden Regelmäßigkeit in die dunkelste Tiefe deines Wesens fliehst, wo die unbeaufsichtigten Bewegungen zuhause sind, in diese feuchte Kreaturtiefe, die uns vor dem Verdunsten am Verstande schützt, was findest du? Reize und Reflexbahnen, Einbahnung von Gewohnheiten und Geschicklichkeiten, Wiederholung, Fixierung, Einschleifung, Serie, Monotonie! Das ist Uniform, Kaserne, Reglement, lieber Stumm, und es hat die zivile Seele merkwürdige Verwandtschaft mit dem Militär.“ (MoE, 377f., Hervorh. M.D.) Deren – hier ausgeblendete – diskursive Genese wird von Ulrich in einem Gespräch mit Agathe sehr klar postuliert bzw. reflektiert: „Diese heutige Vorliebe für das moralisch Gruselige ist natürlich eine Schwäche. Wahrscheinlich bürgerliche Übersättigung am Guten; sein Ausgelutschtsein. Ich selbst habe auch ursprünglich gedacht, daß man zu allem Nein sagen müsse; alle haben so gedacht, die heute zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig sind; aber das war natürlich eine Art Mode: ich könnte mir vorstellen, daß jetzt bald der Umschwung und mit ihm eine Jugend kommt, die sich statt der Unmoral wieder die Moral ins Knopfloch stecken wird.“ (MoE, 958f.)

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als statistisch argumentierender Beobachter zweiter Ordnung durch seine schonungslose Dekonstruktion der modernen Kultur zum Ausdruck bringt. Schon die erste Auseinandersetzung mit der Liebesform, die ihren Träger in den anderen Zustand versetzt, markiert einen deutlichen Bruch in der Romankomposition (auf den auch der Erzähler hinweist und den er mit einem entsprechenden Bruch innerhalb der psychischen Struktur seines Protagonisten rechtfertigt).192 Der Leser erfährt – mitten in der Parallelaktionshandlung – in einem narrativen Rückblick von der „Liebe“ des zwanzigjährigen Leutnants Ulrich zu einer Majors-Gattin. Allerdings sei der Protagonist „von Beginn an weniger in die sinnliche Anwesenheit dieser Frau verliebt [gewesen] als in ihren Begriff“ (MoE, 123), die Dame fungiert also als Projektionsfläche seiner „große[n] Liebe“, die „so arm an Erfahrungsinhalt und eben darum auch so blendend leer [war], wie es nur ganz große Begriffe sind“ (MoE, 123): [. . .] [D]er Frau Major fiel hierbei keine andere Rolle zu wie die des letzten Anlasses, der einer Krankheit zum Ausbruch verhilft. Ulrich wurde liebeskrank. Und da echte Liebeskrankheit kein Verlangen nach Besitz ist, sondern ein sanftes Sichentschleiern der Welt, um deswillen man gern auf den Besitz der Geliebten verzichtet, erklärte der Leutnant der Frau Major die Welt auf eine so ungewohnte und ausdauernde Weise, wie sie es noch nicht gehört hatte. (MoE, 123)

Diese Form des Liebens fällt mit der (dem jungen Ulrich explizit zugesprochenen) Begeisterung für die Literatur des zeitgenössischen Kultautors Maeterlinck zusammen (dessen Werk das sprachkritische, wesentlich auf Unsagbarkeits-Topik beruhende Motto von Musils Törleß entnommen ist193 ). Dem ,gereiften‘ Protagonisten kommen diese Sätze zwar vor „wie Brot, auf das Parfüm ausgegossen wurde“ (MoE, 122), doch trotzdem bedauert er im Rückblick auf diese Lebensphase, sich gänzlich von der Sphäre abgewendet zu haben, und es scheint ihm erstrebenswert, „zu den anderen, den echten Sätzen jener geheimnisvollen Sprache zurückzukehren“ (MoE, 122). In der folgenden, metaphorisch komplex konnotierten Sprachreflexion wird die Bedeutung dieser – in emphatischem Sinne anderen, explizit als authentischer qualifizierten – „Sprache“ für Ulrich durch Absetzung von ,alltäglicher‘ und ,wissenschaftlicher‘ Sprache dargelegt, die erkennen lässt, dass Ulrichs Kontingenzbewusstsein Implikationen hat, die nicht mit seiner Rolle als ironisch-diabolischer Beobachter der Moderne auf einen Nenner gebracht werden können: 192

193

Vgl. zum Zusammenhang mit dem Problemkomplex ,Mystik‘ [Albertsen 1968, 93ff.] und zur Frage nach der Zugehörigkeit zu dem im MoE entwickelten „ironischen System“ [Arntzen 1983, 189ff.]. „Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.“ [Musil 19782 , 6] Vgl. dazu auch den vorigen Abschnitt.

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Denn er hatte ein besonderes, ein unmittelbares Verständnis für sie (= die echten Sätze jener geheimnisvollen Sprache), eher noch eine Vertrautheit zu nennen, die das Verstehen übersprang; doch ohne daß er sich je hätte entschließen könne, sich ganz zu ihnen zu bekennen. Sie lagen – solche Sätze, die ihn mit einem Laut von Geschwisterlichkeit ansprachen, mit einer weich dunklen Innerlichkeit, die entgegengesetzt war dem befehlshaberischen Ton der mathematischen und wissenschaftlichen Sprache, ohne daß man aber sagen konnte, worin sie bestehe – wie Inseln zwischen seiner Beschäftigung, ohne Zusammenhang und selten aufgesucht; überblickte er sie aber, soweit er sie kennengelernt hatte, so kam es ihm vor, daß man ihren Zusammenhang spürte, wie wenn diese Inseln, nur wenig voneinander getrennt, einer Küste vorgelagert wären, die sich hinter ihnen verbarg, oder die Reste eines Festlands darstellten, das vor Urzeiten zugrunde gegangen ist. Er fühlte das Weiche von Meer, Nebel und niedrigen schwarzen Landrücken, die in gelbgrauem Licht schlafen. (MoE, 122)

Der Erzähler theologisiert den anderen Zustand hier – wie in den zu Beginn dieses Kapitels analysierten Textpassagen aus dem MoE und der Amsel – explizit, wenn er von Ulrichs Bekenntnis zur beschriebenen Wahrnehmungsform spricht und ihr ein Kommunikationsmodell zuordnet, dessen Bedeutungskonstitution dem „befehlshaberischen Ton der mathematischen und wissenschaftlichen Sprache“ diametral entgegengesetzt wird. Während die (an der neuzeitlichen Wissenschaft abgelesene) diabolische Wissenspoetik in ihrer dekonstruktiv-desemantisierenden Ästhetik der Beobachtung zweiter Ordnung Mittelbarkeit, Diskursivität und Kontingenz als Letzthorizonte einer radikal dezentrierten Moderne zelebriert, wird hier mit offenkundigem Überbietungsgestus Ulrichs „besonderes“, da „unmittelbares Verständnis“ dieser auf den anderen Zustand zielenden „Sprache“ behauptet. Der Erzähler folgt dabei argumentativ eine Strategie der Demedialisierung, indem er das (seine Medialität noch explizit negierende) „unmittelbare Verständnis“ Ulrichs durch eine „Vertrautheit“ ersetzt, „die das Verstehen übersprang“, und diese positive Umdeutung der Un-Mittelbarkeit der anderen Sprache wird weiter plausibilisiert, wenn der Erzähler die Unbeantwortbarkeit der Frage postuliert, „worin sie bestehe“, und damit die Vorstellung zurückweist, es handle sich bei dieser Sprache um einen (wie auch immer spezifizierten) Austausch von Inhalten. Wie bereits im Zusammenhang mit der reflektierten Theologie des Möglichkeitssinns bzw. Essayismus gezeigt wurde, spielt der Erzähler – mit derselben Stoßrichtung – auch hier wieder zwei Konzepte des Fragementarismus gegeneinander aus: Gerade die mathematisch-wissenschaftliche, aber auch jegliche andere Formen der diskursiven Ordnungsstiftung zielt zwar auf Sinnstiftung und ermöglicht durchaus ,erfolgreiche‘ Beobachtung, ist also in dieser Hinsicht dem Fragmentarischen entgegengesetzt, doch spätestens in der Moderne resultiert aus der unübersehbaren Vielfalt verschiedener möglicher Beobachtungsformen ein Kontingenzbewusstsein, das die Wirklichkeit als potentiell unendlich vielgestaltiges, ,negativ‘ konnotiertes Fragment-Konglomerat erscheinen lässt, dessen universelle Integration mit denselben Mitteln nicht mehr überzeugend gelingen kann – damit ist diese

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für die Klassische Moderne wohl repräsentative Sicht des Sinnstiftungspotentials der „ratioïden“ Sphäre bei einem radikalen Gegenmodell zu Kants berühmter klassisch-aufklärerischer epistemologischer Grundvorstellung angelangt, die dieser am Ende der Transzendentalen Analytik im Kapitel Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena der Kritik der reinen Vernunft bemerkenswert metaphorisch formuliert: Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann. [Kant 1998, 337]

Kant vergleicht also das „Land des reinen Verstandes“, das er mit dem „reizende[n] Name[n]“ eines „Land[s] der Wahrheit“ belegt und an das Musils Konzept des „Ratioïden“ offenbar angelehnt ist, mit einer Insel in einem stürmischen Ozean, und warnt vor seefahrerischer Abenteuerlust, außerhalb dieses transzendentalepistemisch ,gesicherten‘ Bereichs in unbedachter Weise den Verlockungen neuer Länder zu erliegen, deren Substantialität er mit Nebel- und Gletscher-Metaphorik in Zweifel zieht. Als Theologe des Möglichen, Essayistischen und Fragmentarischen verkehrt der Musilsche Erzähler die Wertschätzung der Erkenntnisformen, indem er seinen Protagonisten mit einem Hang zur subversiven Zertrümmerung jeglicher Bemühungen ausstattet, im ratioïden Bereich sinnstiftend integrale Zusammenhänge zu konstruieren, und ihm überdies ein ,Gespür‘ für einen „Zusammenhang“ von fragmentarischen Erlebnissen zuschreibt, die im „ratioïden“ Beobachtungsmodus gerade ,zusammenhanglos‘ erscheinen. Dabei verwendet er ein dem Kantischen ähnliches geographisches Metapherngeflecht, spricht er doch von „Inseln“ (gewissermaßen also geographischen Fragmenten), die im kognitiven Modus des anderen Zustands plötzlich als ,urtümliche‘ Relikte eines „Festlands“ (Kontinent bedeutet ,Zusammenhängendes‘) erscheinen, dessen unmittelbare Bedeutsamkeit narrativ maßgeblich durch das Aufrufen mythischer Vorstellungen (z.B. die der untergegangenen Stadt Atlantis) und emphatischer Lyrisierung der Deskription plausibilisiert wird: „Er fühlte das Weiche von Meer, Nebel und niedrigen schwarzen Landrücken, die in gelbgrauem Licht schlafen.“ (MoE, 122) Diesen Befund belegt auch folgende Passage, in der Ulrichs Zustand während seiner Liebesbeziehung zur Frau Major ausführlich beschrieben und semantisch vom gewöhnlichen und wissenschaftlichen Beobachtungsmodus abgegrenzt wird, nimmt darin doch alles eine „gänzlich veränderte Bedeutung“ an:

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Er (= Ulrich) tat es seinem Gefährten (= einem Esel) gleich und stieg auf einen der Steinriegel oder er legte sich am Inselrand zwischen die Gesellschaft von Meer, Fels und Himmel. Das ist nicht anmaßend gesagt, denn der Größenunterschied verlor sich, so wie sich übrigens auch der Unterschied zwischen Geist, tierischer und toter Natur in solchem Beisammensein verlor und jede Art Unterschied zwischen den Dingen geringer wurde. Um das ganz nüchtern auszudrücken, diese Unterschiede werden sich wohl weder verloren noch verringert haben, aber die Bedeutung fiel von ihnen ab [. . .]. Er dachte auch nicht über diese Erscheinungen nach – wie man sonst, einem Jäger auf der Wildspur gleich, einer Beobachtung nachspürt und hinter ihr dreindenkt –, ja er nahm sie wohl nicht einmal wahr, sondern er nahm sie in sich. Er versank in der Landschaft, obgleich das ebensogut ein unaussprechliches Getragenwerden war, und wenn die Welt seine Augen überschritt, so schlug ihr Sinn von innen an ihn in lautlosen Wellen. Er war ins Herz der Welt geraten [. . .]. Er war klar und übervoll von klaren Gedanken; bloß bewegte sich nichts in ihm nach Ursache, Zweck und körperlichem Begehren, sondern alles breitete sich in immer erneuten Kreisen aus, wie wenn ein Strahl ohne Ende in ein Wasserbecken fällt. [. . .] Es war eine völlig veränderte Gestalt des Lebens; nicht in den Brennpunkt der gewöhnlichen Aufmerksamkeit gestellt, von der Schärfe befreit und so gesehen, eher ein wenig zerstreut und verschwommen war alles, was zu ihr gehörte; aber offenbar wurde es von anderen Zentren aus wieder mit zarter Sicherheit und Klarheit erfüllt. Denn alle Fragen und Vorkommnisse des Lebens nahmen eine unvergleichliche Milde, Weichheit und Ruhe an und zugleich eine gänzlich veränderte Bedeutung. (MoE, 125)

Auch im anderen Zustand löst sich also Ulrichs Personalität auf, wodurch Ulrichs Eigenschaftslosigkeit fundamental reperspektiviert wird: Während er als wissenschaftlich denkender diabolischer Liebespoet der Moderne (der „einem Jäger auf der Wildspur gleich, einer Beobachtung nachspürt und hinter ihr dreindenkt“) zu seinen radikalen Kontingenzdiagnose gelangt, gibt er hier die Position des Beobachters vollständig auf (er versinkt bzw. wird getragen, ist also passiv). Dieser Beobachtungskollaps wird allerdings emphatisch resemantisiert, führe er Ulrich doch „ins Herz der Welt“, wo offenbar eine Form nichtdiskursiver Sinnstiftung erfolgt: Der Protagonist ist „übervoll von klaren Gedanken“, obwohl seine Bewusstseinsinhalte „von der Schärfe befreit“ sind, also „eher ein wenig zerstreut und verschwommen“ wirken. Die für den Zusammenbruch der „gewöhnlichen Aufmerksamkeit“ charakteristische Unschärfe, also Polysemie und Kontingenz wird „von anderen Zentren aus wieder mit zarter Sicherheit und Klarheit erfüllt“. Der Erzähler macht Ulrichs Begegnung mit seiner Schwester Agathe, die durch den Rückblick auf die Beziehung zur Frau Major bereits präfiguriert wird, zum Experimentierfeld, auf dem die theologisierende positive Umdeutung des Kontingenzbewusstseins zum Möglichkeitssinn und zum Essayismus narrativ konkretisiert werden soll. Kurz vor dem Ende des Ersten Buches referiert er eine selbstkritische Einsicht des Protagonisten:

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[. . .] Ulrich fühlte, daß er nun endlich entweder für ein erreichbares Ziel wie jeder andere leben oder mit diesen „Unmöglichkeiten“ ernst machen müsse, und da er nun in die Umgebung seiner Wohnung gelangt war, durcheilte er die letzte Gasse mit dem sonderbaren Gefühl, daß ihm etwas nahe bevorstehe. Es war ein beflügelndes, zu einer Tat strömendes, aber inhaltsleeres und daher wieder eigenartig freies Gefühl. (MoE, 653)

In dieser Passage fallen besonders die deutlichen Providenzpostulate auf: Das negativ-ironische Kontingenzbewusstsein und der zugehörige Beobachtungsmodus zweiter Ordnung ist auf Dauer nicht in der Lage, eine Orientierung zu bieten, und hat sich auch kompositorisch erschöpft: Seinesgleichen ist geschehen, geschieht und wird weiter geschehen, doch am Schluss des Ersten Buches wird die statistisch entgötterte und von Figuren mit Schicksalen konsequent befreite erzählte Welt durch ein Geschehen ersetzt, das sich von der Forderung nach einem „erreichbare[n] Ziel“ zu mehr ,Ernst‘ herausfordern lässt. Entsprechend schreibt der Erzähler dem Protagonisten ein „sonderbare[s] Gefühl“ zu, „daß ihm etwas nahe bevorstehe“, eröffnet also – nach 650 Seiten – erstmals explizit die Aussicht auf einen Handlungsstrang, der nicht mehr der Poetologie der Statistik folgt, sondern zur narrativen Gestaltung der essayistischen Kontingenzreligion werden soll. Schon kurz zuvor entwirft der Erzähler ein fantastisches Szenario, in dem er seiner Hauptfigur einen Fluchtweg aus der Welt des Seinesgleichen eröffnet: Ulrich beobachtet von einem Fenster aus eine Menschenansammlung und erlebt den Kollaps der räumlichen Differenzen, die die gewöhnliche Wahrnehmung steuern. Die beiden „Bühnen“ des Innen- und Außenraums, zwischen denen er sich befindet, verschmelzen, doch wiederum erlebt er gerade den Zusammenbruch konventioneller kognitiver Strukturen als sinnstiftend und zutiefst bedeutungsvoll: [. . .] [D]iese beiden Bühnen hatten eine eigentümliche Art, sich ohne Rücksicht darauf, daß er zwischen ihnen stand, zu vereinen. Dann zog sich der Eindruck des Zimmers, das er hinter seinem Rücken wußte, zusammen und stülpte sich hinaus, wobei er durch ihn hindurch- oder wie etwas sehr Weiches rings um ihn vorbeiströmte. „Eine sonderbare räumliche Inversion!“ dachte Ulrich. Die Menschen zogen hinter ihm vorbei, er war durch sie hindurch an ein Nichts gelagert; vielleicht zogen sie aber auch vor und hinter ihm dahin, und er wurde von ihnen umspült wie ein Stein von den veränderlich-gleichen Wellen des Baches: es war ein Vorgang, der sich nur halb begreifen ließ, und was Ulrich besonders daran auffiel, war das Glasige, Leere und Ruhselige des Zustands, worin er sich befand. „Kann man denn aus seinem Raum hinaus, in einen verborgenen zweiten?“ dachte er, denn es war ihm gerade so zumute, als hätte ihn der Zufall durch eine geheime Verbindungstür geführt. (MoE, 632)

Der (hier personale) Erzähler beschreibt den Einbruch von Kontingenz, die sich in der Unsicherheit der räumlichen Verhältnisse zwischen einem sich auflösenden Ich und zuvor verschiedenen, nun ebenfalls ,fließenden‘ Bereichen der Außenwelt

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ausdrückt, und deutet zunächst auch metaphorisch auf deren desemantisierendes Potential hin, fühle sich Ulrich doch „an ein Nichts gelagert“. In seiner eingeschränkten Begreiflichkeit rekurriert der „Zustand“ deutlich auf das emphatische Essay-Konzept, das sich ebenfalls durch die Absetzung vom Philosophischen und Systematischen profiliert und durch den programmatischen Verzicht auf Sinn und Totalität nach Maßgabe „ratioïder“ Beobachtung eine andere, im wesentlichen religiöse Form von Sinn und Totalität zu erreichen sucht: Diese entschiedene poetologische Transformation von Kontingenz spiegelt sich in der Textpassage auch an Ulrichs Bezugnahme auf die Kategorie des „Zufalls“, der nicht zuletzt durch seine Personalisierung zu einer Instanz erhoben wird, die Zugang zu „verborgenen zweiten“ Räumen ermöglicht, da sie den Schlüssel zur „geheime[n] Verbindungstür“ zum anderen Zustand besitzt. In diesem Sinne kann auch die Charakterisierung Ulrichs und Agathes als „Menschen des leidenschaftlichen Stückwerks“ (MoE, 705) gelesen werden.194 Das Geschwisterpaar teilt die Eigenschaft der Eigenschaftslosigkeit im (strukturell) negativen Sinne, aber auch die religiöse Tendenz zur semantischen Aufladung dieses Stückwerks als des bloß Zufälligen und Kontingenten, das Ich, Welt und Wirklichkeit in lauter Listen auflöst, zum „leidenschaftlichen Stückwerk[]“, stimmen die beiden doch darin überein, dass sich der Sinn des Lebens in den eigentlich ,sinnlosen‘ „abenteuerlichen Augenblicken [ausdrückt], wo das Geschehen mit uns durchgeht.“ (MoE, 737) Passend zur Providenz-Metaphorik des zweiten, anderen Romanbeginns, der die Kontingenzfeier und den statistisch fundierten Spott über die Irrelevanz individueller Sinnstiftung im (für das Erste Buch repräsentativen) Eingangskapitel konterkariert, inszeniert der Erzähler beim lange erwarteten Wiedersehen der Geschwister eine zufällige Koinzidenz, die sogleich als Symbol ihrer Verwandtschaft im emphatischen Sinne gedeutet wird.195 Der Erzähler beschreibt zunächst Ulrichs Schlafanzug und zieht Agathe dann ein ähnliches Nachthemd an: Es war ein großer, weichwolliger Pyjama, den er anzog, beinahe eine Art Pierrotkleid, schwarz-grau gewürfelt und an den Händen und Füßen ebenso gebunden wie in der Mitte [. . .] Als er aber das Zimmer betrat, wunderte er sich sehr über seinen Aufzug, denn er fand sich durch geheime Anordnung des Zufalls einem großen, blonden, in zarte graue und rostbraune Streifen und Würfel gehüllten Pierrot gegenüber, der auf den ersten Blick ganz ähnlich aussah wie er selbst. (MoE, 675f.)

Agathe wird zur Doppelgängerin ihres Bruders, der sie bezeichnenderweise (und mit unbestreitbaren Hang zum Unmöglichen) zu seiner Zwillingsschwester und sogar zu seinem siamesischen Zwilling erklärt. In anderem Zusammenhang führt der Erzähler dies deutlich mit Ulrichs Interesse an der Transformation seines eige194 195

Vgl. [Joung 1996, 325ff.]. Vgl. [Berger 2004, 189].

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nen Wahrnehmungsmodus (und dem Desinteresse an der Majorsgattin als Person) eng: Es war ihm zumute, er wäre es selbst, der da zur Tür eingetreten sei und auf ihn zuschreite: nur schöner als er und in einen Glanz versenkt, in dem er sich niemals sah. Zum erstenmal faßte ihn da der Gedanke, daß seine Schwester eine traumhafte Wiederholung und Veränderung seiner selbst sei [. . .]. (MoE, 694)

Zwar wiederholt Ulrich gerade in Bezug auf die Schicksalsthematik in seinen ausführlichen Gesprächen mit Agathe zahlreiche Auffassungen der Poetologie der Statistik – etwa sein von Aeins und Azwei geteiltes Credo, wonach „in späteren, besser unterrichteten Zeiten [. . .] das Wort Schicksal wahrscheinlich einen statistischen Inhalt gewinnen“ (MoE, 722) werde – doch Agathe gibt sich mit dieser Aussicht nicht zufrieden, sondern bringt wie Azwei theologische Deutungsmuster ins Spiel: „Früher hat man das den unerforschlichen Ratschlägen Gottes zugeschrieben [. . .]“ (ebd.). In deutlicher Nähe zur fundamental unvereinbaren poetologischen Doppelstruktur der Amsel entwerfen die siamesischen Zwillinge so ein Kontingenz-Providenz-Modell, das zwischen gewöhnlichem und anderem Zustand unterscheidet: „Es ist auch so, als hätte man zwei Schicksale: ein regsamunwichtiges, das sich vollzieht, und ein reglos-wichtiges, das man nie erfährt.“ (MoE, 724) Während die Rede vom Schicksal im Hinblick auf ersteres nach Ulrichs Auffassung tatsächlich durch statistische Erhebungen ersetzt werden sollte, verschreiben sich die beiden dem paradoxen Projekt, mehr von dem „regloswichtig[en]“ Schicksal in Erfahrung zu bringen, „das man nie erfährt.“ In den Gesprächen wird die hier angedeutete Form einer Providenz, die durch die Sphäre des „Nicht-Ratioïden“ garantiert wird, mit theologisch-metaphysischer Metaphorik beschrieben: „[W]o man dem unwesentlichen Leben entschlüpft“, stehe etwa „alles in einer neuen Beziehung zueinander“ (MoE, 762), und in Anspielung auf eine Heiligenvision beschreibt Agathe diesen Unterschied mit Metaphern der visuellen Selbstwahrnehmung: Während sie sich gewöhnlich wie in den Scherben eines Spiegels sehe, sei es ihr einmal gelungen, sich ganz zu sehen. (MoE, 744) Die Sinnstiftung des anderen Zustands wird maßgeblich durch den Zusammenbruch der gewöhnlichen Beobachtungsformen charakterisiert. Die „Gefühle[] des Aneignens und Bewältigens, des Festhaltens und Beobachtens“ werden darin durch ein „grenzenloses sich Verschenken und Verschränken ersetzt“ (MoE, 765), und auch die Frage der Identiätsbildung wird diesbezüglich erörtert: Du wirst dich immer von außen sehen wie ein Ding. Du wirst gewahren, daß du bei einer Gelegenheit zornig wirst und bei einer anderen traurig, so wie dein Mantel das eine Mal naß und das andere Mal heiß ist. Mit aller Beobachtung wird es dir höchstens gelingen, hinter dich zu gelangen, aber niemals in dich. Du bleibst außer dir, was immer du unternimmst, und es sind davon gerade nur jene wenigen Augenblicke ausgenommen, wo man von dir sagen würde, du seist außer dir. (MoE, 902)

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Diese Passage kann als Matrix der doppelten Bedeutung von Eigenschaftslosigkeit und Kontingenz im MoE gelesen werden, deren Gemeinsamkeit in der ironischen Distanz gegenüber den Beobachtungsformen des „Seinesgleichen“ besteht, die – etwa mit Verweis auf den common sense oder ontologische und metaphysische Kategorien – objektive Gültigkeit und substantielle, intersubjektiv verbindliche Sinnstiftung beanspruchen. Die Poetologie der Statistik zeigt im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung die Unhintergehbarkeit der Diskursivität und Kontingenz jeglicher Identitätsbildung auf, indem sie die Figurationen von Wesentlichkeit und Ursprünglichkeit dekonstruiert. Die Geschwister sind entsprechend eigenschaftslos, weil sie ebenso gut andere Eigenschaften haben könnten. Dagegen nimmt die Theologie des Essayismus explizit singuläre Momente zum Vorbild, in denen das Subjekt in emphatischem Sinne indifferent gegenüber den für Beobachtungsakte konstitutiven Differenzen, nach gewöhnlichem Sprachgebrauch also ,außer sich‘ und sein Verhalten unberechenbar bzw. regellos ist. Eben dieser Zustand völliger Kontingenz wird dabei resemantisiert und zum positiven Identitätskern umgedeutet. In der folgenden prominenten Passage erörtern die Geschwister dieses Problem anlässlich eines Ausflugs in die Berge. Bezüglich der Wahrnehmung einer Kuhherde erläutert Ulrich: „Das Gewöhnliche ist, daß uns eine Herde nichts bedeutet als weidendes Rindfleisch. Oder sie ist ein malerischer Gegenstand mit Hintergrund. Oder man nimmt überhaupt kaum Kenntnis von ihr. [. . .] [D]as sind unzählige kleine Absichten, Sorgen, Berechnungen und Erkenntnisse, und sie bilden gleichsam das Papier, auf dem das Bild der Herde steht. Man weiß nichts von dem Papier, man weiß nur von der Herde darauf –“ „Und plötzlich zerreißt das Papier!“ fiel Agathe ein. „Ja. Das heißt: irgendeine gewohnheitsmäßige Verwebung in uns zerreißt. Nichts Essbares grast dann mehr; nichts Malbares; nichts versperrt dir den Weg. Du kannst nicht einmal mehr die Worte grasen oder weiden bilden, weil dazu eine Menge zweckvoller, nützlicher Vorstellungen gehört, die du auf einmal verloren hast. Was auf der Bildfläche bleibt, könnte man am ehesten ein Gewoge von Empfindungen nennen, das sich hebt und senkt oder atmet und gleißt, als ob es ohne Umrisse das ganze Gesichtsfeld ausfüllt. Natürlich sind darin auch noch unzählige einzelne Wahrnehmungen enthalten, Farben, Hörner, Bewegungen, Gerüche und alles, was zur Wirklichkeit gehört: aber das wird bereits nicht mehr anerkannt, wenn es auch noch erkannt werden sollte. Ich möchte sagen: die Einzelheiten besitzen nicht mehr ihren Egoismus, sondern sind geschwisterlich und im wörtlichen Sinne „innig“ miteinander verbunden. Und es ist auch keine ,Bildfläche‘ mehr da, sondern irgendwie geht alles grenzenlos in dich über.“ (MoE, 761f., Hervorh. M.D.)

Die ,gewöhnliche‘ Objektwahrnehmung wird als intersubjektiv-diskursiv geregelter Prozess präsentiert, der aus einem Komplex semantischer Teilkonzepte besteht, in deren Zentrum das nur so fassbare Konzept ,Herde‘ steht. Die Geschwister zweifeln nicht am pragmatischen Funktionieren dieses linguistischkognitionstheoretischen Modells, sondern scheinen umgekehrt darunter zu leiden:

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Möglichkeits-Sinne

Agathe bekundet mit ihrem Einwurf ihr Interesse für den semantischen Effekt eines möglichen – „plötzlich“ eintretenden, also singulären – Kollaps’ dieses konventionellen Wahrnehmungsmodus, der die pragmatische Dimension und die entsprechende Semantik irrelevant werden lässt, und die gebräuchlichen medialen Veranschaulichungen des ,Begriffs‘ Herde unbrauchbar macht. Von der Herde, die gemalt oder sprachlich beschrieben werden kann und – ganz konkret – einen Bereich der Raumzeit für sich beansprucht, bleibt im anderen Zustand nichts als ein „Gewoge von Empfindungen“, das umriss- und damit differenzlos „das ganze Gesichtsfeld“ ausfüllt: Dieses – zunächst völlig kontingent anmutende – Konglomerat wird jedoch in emphatischer Weise zu einem Panorama umgedeutet, in dem sich nicht nur die „Einzelheiten“ des Wahrnehmungsobjekts „geschwisterlich“ (!) und „innig“ verbinden, sondern auch die „Bildfläche“ als vermittelndes Medium zwischen Subjekt und Objekt verschwindet, was nicht als bedrohlich, sondern gerade als sinnstiftend erlebt wird. Folgende Passage beschreibt Agathes Erfahrungen mit dem anderen Zustand und belegt ihre kompositorische Stellung als Figuration der Theologie des Essayismus, die in der kontingenten In-Differenz kollabierender Beobachtung Zugang zu einer bedeutungsvollen außersprachlichen Sphäre zu finden meint: [. . .] [W]enn ihr Blick auf Dinge in ihrer Umgebung fiel, so war das so, als lockte sie ein junges Lamm an: entweder kam es sanft heran, sich ihr zu nähern, oder es kümmerte sich eben nicht um sie, – aber nie begriff sie es mit Absicht in jener Bewegung des inneren Zugreifens, die allem kalten Verständnis etwas Gewalttätiges und doch Vergebliches gibt, da sie das Glück verscheucht, das in allen Dingen ist. Auf diese Weise schien Agathe alles, was sie umgab, viel verständlicher zu sein als sonst [. . .]. (MoE, 851, Hervorh. M.D.)

Derartig pathetisch (und zumindest neben dem statistisch-poetischen Kontext des MoE nachgerade kitschig) wirkende Beschreibungen eines Wahrnehmungsmodus, in dem Agathe die Welt „in höchstem Maße sinnvoll“ (MoE, 852) vorkommt, werfen analog zum Problem der Konvergenz der Positionen Ulrichs und Hans Sepps die Frage auf, worin der Unterschied dieser kaum je ironisierten Erlebnisse zu den Zielen der unablässig verhöhnten Diotima besteht: So weist die eben zitierten Herden-Passage inhaltlich klare Parallelen zu der im Rahmen der Poetologie der Statistik ausführlich erörterte Ausflugs-Episode auf, doch während Ulrich mit seiner Schwester ein (freilich paradoxes) Sinnstiftungsbemühen teilt, verleidet er seiner Kusine als diabolischer Beobachter zweiter Ordnung jegliche romantischpoetische Deutung ihres Natur-Erlebens des „schönen Waldes“. Eine ähnliche Diskrepanz besteht hinsichtlich der Charakterisierung Agathes durch den Hinweis, dass die „nicht zusammenzuzählenden Nichtigkeiten, aus denen sie bestand, in ihrer Summe eine Unsumme ergaben, die von ganz anderer Art war“ (MoE, 937): Darin deutet der Erzähler zunächst die beim übrigen Romanpersonal mit maliziöser Konsequenz durchgeführte Defiguration der fiktionalen Charaktere durch

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kontingente Listenarrangements an, spricht Ulrichs Zwillingsschwester jedoch eine inkommensurable, durch die Formel des ganz anderen auf die Theologie des Essayismus verweisende charakterliche Totalität im Sinne des oben beschriebenen ,Werts‘ zu, der sich durch den semantischen Rekurs auf den anderen Zustand konstituiert. Dies zeigt, dass der Versuch, den MoE auf einen gemeinsamen narratologisch-poetologischen Nenner zu bringen, zumindest von einer – vom Text oberflächlich nahegelegten, doch implizit klar unterlaufenen – Privilegierung der Hauptfiguren Ulrich und Agathe zeugt. Die beiden Dimensionen der Bedeutung von Kontingenz im Roman kreuzen sich zwar im Protagonisten Ulrich, sind aber nicht nur inkompatibel, sondern basieren auf gänzlich heterogenen semantische Modellen.

6 Schluss: Auf der Suche nach einer leisen Moderne Im Kapitel Das alltägliche Selbstsein und das Man1 seines 1927 erschienenen Werks Sein und Zeit2 zeigt Martin Heidegger anhand einer bestimmten Redensart, in welcher Gestalt das „Dasein“ im „alltäglichen Miteinandersein“3 auftritt: „Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ,großen Haufen‘ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ,empörend‘, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.“4 Diese durch Substantivierung des Pronomens „man“ erhaltene Instanz des „Man“ – bei Einführung sogleich als „Neutrum“5 geschmäht, welches „das Sein [. . .] übernommen“6 habe – tritt also nicht nur bei belanglosen, beiläufig verrichteten Tätigkeiten an die Stelle des „eigentlichen [. . .] Selbst“7 , sondern gerade auch in Situationen, die besonders bewusst und – vermeintlich – ,individuell‘ erlebt werden, wie dem ästhetischen oder moralischen Urteil und sogar dem Rückzug in die ,Intimsphäre‘. Die „Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel“8 und die Zeitungslektüre, die Heidegger verächtlich als „Verwendung des Nachrichtenwesens“9 umschreibt, führen aus seiner Perspektive zu einer allgemeinen „Einebnung“10 , die gerade durch ihre „Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit“ eine „Auflösung“ des Daseins verursache, wodurch „das Man seine eigentliche Diktatur“ entfalten könne.11 Diese den „Alltag“ bestimmende Sphäre des Man ist wesentlich durch ihre „Durchschnittlichkeit“ gekennzeichnet und kongruiert deutlich mit der Welt des „Seinesgleichen“, die – in unterschiedlicher Weise – die Basis der beiden divergierenden Poetologien der Kontingenz bildet, die in Musils Werk und inbesondere in seinem Mann ohne Eigenschaften entwickelt werden. Heidegger folgt in seiner Charakterisierung dieser „Durchschnittlichkeit“ offenbar dem katastrophischen Diskurs, der auch Spenglers Deutung der modernen, verstärkt statistisch arbeitenden Naturwissenschaften im Untergang des Abendlandes prägt: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

[Heidegger 2001, 126-130]. [Heidegger 2001]. [Heidegger 2001, 126]. [Heidegger 2001, 126f.]. [Heidegger 2001, 126]. [Heidegger 2001, 125], Hervorh. M.D. [Heidegger 2001, 129]. [Heidegger 2001, 126]. Ebd. [Heidegger 2001, 127]. [Heidegger 2001, 126].

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Schluss

Diese Durchschnittlichkeit in der Vorzeichnung dessen, was gewagt werden kann und darf, wacht über jede sich vordrängende Ausnahme. Jeder Vorrang wird geräuschlos niedergehalten. Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft. [Heidegger 2001, 127]

Die Kritiker der Orientierung am Durchschnittlichen im Bereich der allgemeinen und der wissenschaftlichen Kultur und deren statistisch bestimmter Ordnung setzen diesem implizit eine Sphäre des genuin Außerordentlichen entgegen, das sich als Gegenentwurf zum immer schon ,Vorgezeichneten‘ auszeichnet: Dieses Reich des Singulären beherbergt das noch nicht ,Geglättete‘, das „Ursprüngliche“ und die „Ausnahmen“, denen eigentlich „Vorrang“ gebührt. Insbesondere Heideggers Rede vom „Geheimnis“, dem die „Durchschnittlichkeit“ „seine Kraft“ raube, erinnert deutlich an den von mir beschriebenen Hiat zwischen den beiden Erlebnisformen der Figur Azwei aus Musils Novelle Die Amsel: Diese folgt zunächst einem statistisch inspirierten Modus der Beobachtung zweiter Ordnung, wenn sie sich darum bemüht, die unhintergehbare Kontingenz von Ich, Welt und Wirklichkeit aufzuzeigen und damit jedwedes „Geheimnis“ zu ,entzaubern‘, und repräsentiert damit den narratologischen Kern der Poetologie der Statistik, die auch das Handeln des Erzählers und der Hauptfigur in der Parallelaktionshandlung des Mann ohne Eigenschaften grundiert. Besonders deutlich wird diese Haltung etwa in der epistemologischen Reflexion über das Böse als Motivationsquelle der modernen Wissenschaft, die auch als narratologische Programmatik der dekonstruktiven Komposition des Romans gelesen werden kann. Im Gegensatz zur traditionellen, religiös-metaphysisch verwurzelten Wissenschaft, die von den „Geheimnissen der Natur“12 , also, wie Faust, von der Frage, „was die Welt im Innersten zusammenhält“13 , angetrieben wird, widmet sich die moderne Naturwissenschaft bloß noch der „Erforschung ihrer Oberfläche“14 , gewinnt ihre Kraft also gerade dadurch, dass sie die überkommene Hierarchie zwischen qualitativer und quantitativer Beschreibung der Wirklichkeit zugunsten der Quantität invertiert. Dieser mathematisch-naturwissenschaftliche Paradigmenwechsel wird von Musils Werk also einerseits gegen Heideggers Kulturkritik poetologisch fruchtbar gemacht, wie sich paradigmatisch am „Sinn“ des Mannes ohne Eigenschaften „für die statistische Entzauberung seiner Person“15 zeigt, den in einer zentralen Episode „das von dem Polizeiorgan auf ihn angewandte Maß- und Beschreibungsverfahren [. . .] wie ein vom Satan erfundenes Liebesgedicht“16 begeistert. Ulrichs Eigenschaftslosigkeit ist – wie zahlreiche essayistische Reflexionen im Roman nahelegen – im Sinne einer mephistophelisch-diabolischen Affirmation der Unhintergehbarkeit des kontingenten, letztlich immer bloß durchschnittlichen ,Man‘ zu verstehen, zumal 12 13 14 15 16

[Musil 19781 , 302]. [Goethe 1998’, 20]. [Musil 19781 , 302]. [Musil 19781 , 159]. [Musil 19781 , 159f.].

Schluss

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Erzähler und Protagonist in der Parallelaktionshandlung durchgehend als ironischdistanzierte Beobachter zweiter Ordnung agieren und so die von Heidegger angeprangerte, für die ,Seinsweise‘ des „Man“ charakteristische „Abständigkeit“17 der Betrachtung ihrer selbst und ihrer Umwelt ganz bewusst jeder auf Sinn und Wesen zielenden Rezeptionsform vorziehen. Konträr zu diesem auch in der Amsel zunächst dominanten ,abständigen‘ Beobachtungsmodus, der immer wieder um die Diagnose der Kontingenz von Ich, Welt und Wirklichkeit kreist, entwickelt der Binnenerzähler Azwei aber ein deutliches Interesse am ,Geheimnisvollen‘, wodurch die Erzählung, die zunächst lakonisch mit dem Ausschütten eines „Sack[s] mit Erinnerungen“18 verglichen wird, zunehmend den Charakter einer Entwicklungsgeschichte erhält: Der Protagonist berichtet, es sei ihm „geradezu als ein Geheimnis [erschienen], daß es etwas gab, das mir geschenkt worden war, ob ich wollte oder nicht, und noch dazu das Grundlegende von allem übrigen“19 , und bemüht sich narrativ darum, den „Schatz von Unregelmäßigkeit und Unberechenbarkeit, den ich vergraben hatte“20 , zu heben. Auch Musils Törleß- und Ulrich-Figur verfolgen derartige Projekte, hinter der als kontingent beschriebenen modernen Kultur, die in Heideggers Diktion dem Bereich des „Man“ entspricht, eine ,authentische‘ Sphäre zu erschließen: Ulrich etwa möchte „zu den anderen, den echten Sätzen jener geheimnisvollen Sprache zurückzukehren“21 und sucht daher – parallel zu bestimmten ästhetischen Tendenzen der historischen Avantgardebewegungen – die Kontingenz der Wirklichkeit zu einem Medium des anderen Zustands zu machen. In diesem Sinne mündet die genuin negative Kontingenzsemantik der Parallelaktionshandlung, in der Erzähler und Protagonist die Subversion jeglicher Sinnstiftungsprozesse – nicht zuletzt durch die fortwährende Fragmentierung der Handlung durch den Einschub essayistischer Passagen – betreiben und dies narratologisch als Ablehnung des „primitiv Epischen“ reflektieren, schließlich doch in den Versuch einer semantischen Positivierung: Nicht mehr essayistisch, sondern in der Entfaltung einer Utopie des Essayismus entwickelt der Mann ohne Eigenschaften eine paradoxe Theologie der Kontingenz, welche als Positivierung der Eigenschaftslosigkeit zu beschreiben ist, die auch und gerade unter den Bedingungen der Moderne die Konstitution eines ,wahren‘ Selbst – in deutlicher Nähe zu Heideggers existentialistischem Entwurf – möglich erscheinen lässt: „Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden. Als Man-selbst ist das jeweilige Dasein in das Man zerstreut und muß sich erst finden.“22

17 18 19 20 21 22

[Heidegger 2001, 127]. [Musil 19782 , 543]. [Musil 19782 , 551]. Ebd. [Musil 19781 , 122]. [Heidegger 2001, 129].

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Schluss

Eben diese Berufung auf ,Eigentlichkeit‘ bildet den zentralen Ansatzpunkt der – äußerst polemischen – Kritik, die Theodor W. Adorno in seiner Schrift über den Essay als Form an Heideggers philosophischer Programmatik übt, obwohl ihr Einspruch gegen Identitätsphilosophie und Ontologie, ihre Aversion gegen die modernen, ausdifferenzierten Wissenschaften und ihr Bemühen, den philosophischen Diskurs zum literarischen zu öffnen, die beiden Philosophen verbindet. Ohne dass diese explizit auf Musils Werk oder dessen Begriff des ,utopischen‘ Essayismus bezogen wäre, lassen sich die folgenden, unverkennbar an Heidegger adressierten Ausführungen auch auf das Projekt des anderen Zustands münzen: Wo Philosophie durch Anleihe bei der Dichtung das vergegenständlichende Denken und seine Geschichte, nach gewohnter Terminologie die Antithese von Subjekt und Objekt, meint abschaffen zu können und gar hofft, es spreche in einer aus Parmenides und Jungnickel montierten Poesie Sein selber, nähert sie eben damit sich dem ausgelaugten Kulturgeschwätz. Sie weigert sich mit als Urtümlichkeit zurechtgestutzter Bauernschläue, die Verpflichtung des begrifflichen Denkens zu honorieren, die sie doch unterschrieben hat, sobald sie Begriffe in Satz und Urteil verwandte, während ihr ästhetisches Element eines aus zweiter Hand, verdünnte Bildungsreminiszenz an Hölderlin oder den Expressionismus bleibt oder womöglich an den Jugendstil, weil kein Denken so schrankenlos und blind der Sprache sich anvertrauen kann, wie die Idee urtümlichen Sagens es vorgaukelt. Der Gewalttat, die dabei Bild und Begriff wechselseitig aneinander verüben, entspringt der Jargon der Eigentlichkeit, in dem Worte vor Ergriffenheit tremolieren, während sie verschweigen, worüber sie ergriffen sind. Die ambitiöse Tendenz der Sprache über den Sinn hinaus mündet in eine Sinnleere, welche vom Positivismus spielend dingfest gemacht werden kann, dem man sich überlegen meint und dem man doch eben durch jene Sinnleere in die Hände arbeitet, die er kritisiert und die man mit seinen Spielmarken teilt. [Adorno 1958, 16f.], Hervorh. M.D.

Adornos Vorwurf, Heideggers philosophische Bemühung um das im Laufe der abendländischen Kulturgeschichte zunehmend in Vergessenheit geratene „Sein selber“ sei aufgrund ihres Anspruchs auf Authentizität und „Urtümlichkeit“ obsolet, richtet sich vor allem auch gegen dessen heroisch-pathetische Rhetorik, die auch in Musils Theologie des Essayismus sowie in bestimmten Tendenzen der ästhetischen Avantgarde feststellbar sind. Musils – ebenfalls mit textuellen Strategien der Lyrisierung einhergehender – Versuch, die radikalen Kontingenzbefunde seiner Poetologie der Statistik semantisch ins Positive zu transformieren, konterkariert die kompositorische Konzeption des modernen Romans nach dem Modell der prinzipiell unabschließbaren Liste, deren Items stets auch anders ausgewählt und angeordnet werden könnten: Dessen semantische Experimente mit der „Sinnleere“, die zu einer Sphäre des ,ganz Anderen‘ stilisiert wird und mit dem Weg aus der konventionellen Sprache und der differentiellen Sinnbildung vermeintlich auch einen Weg aus der banalen Welt des „Man“ und des „Seinesgleichen“ zu weisen scheinen, erscheinen etwa auch aus der Perspektive von Kracauers Feuilleton Die Wartenden als Formen des Eskapismus, die die moderne Wirklichkeit

Schluss

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in ihrer Kontingenz nicht aushalten, sondern durch ein – wenn auch als utopisch bezeichnetes – Gegenmodell zu ersetzen trachten. Dadurch, dass Musils Romanfragment in seinen diabolisch-,abständig‘ beobachtenden Passagen sowohl reflexiv als auch kompositorisch Adornos Bestimmung des Essayistischen exemplifiziert, das sich nicht „auf ein Jenseits der Vermittlungen [kapriziert] [. . .] [,] sondern [. . .] die Wahrheitsgehalte als selber geschichtliche [sucht]“23 und die „Illusion [kündigt], der Gedanke vermöchte aus dem, was thesei, Kultur ist, ausbrechen in das, was physei, von Natur sei“24 , entzieht es der parallelen Bemühung um den anderen Zustand die Legitimation: Winkt doch, Adorno zufolge, „[d]er Essayist [. . .] den eigenen, stolzen Hoffnungen, die manchmal dem Letzten nahe gekommen zu sein wähnen, ab – es sind ja nur Erklärungen der Gedichte anderer, die er bieten kann und bestenfalls die der eigenen Begriffe. Aber ironisch fügt er sich in diese Kleinheit ein, in die ewige Kleinheit der tiefsten Gedankenarbeit dem Leben gegenüber und mit ironischer Bescheidenheit unterstreicht er sie noch.“25 In diesem Sinne plädieren die Vertreter der „Kleinen Form“, zu der auch die Musilsche Poetologie der Statistik gerechnet werden kann (und die aufgrund der in dessen Werk besonders deutlich sich manifestierenden utopischen Tendenz im poetologischen Diskurs der Bestimmung des ,Essayistischen‘ gerade nicht dem Essay subsumiert werden sollte), für eine leise Moderne: Im Gegensatz zur emphatischen Moderne, die jenseits ihrer Subversions- und Destruktions-Rhetorik klare Alternativ-Konzeptionen und insbesondere den Anspruch auf die Setzung von Sinn entwickelt, verzichten die von Benjamin so benannten „Obersten der Saboteure“ darauf, auch nur implizit mit einem ,Jenseits‘ des diskursiv, konventionell und sprachlich Geregelten zu operieren; entsprechend ist es nicht bloß eine feuilletonistische Pointe, wenn Alfred Polgar betont: „Es gibt kein moderneres Buch als eine Grammatik, sie ist ganz Expression, voll Geheimnis und doch durchsichtig wie die Luft eines Frühjahrsmorgens.“26 Die „Kleine Form“ wird gerade dadurch zur herausragenden Kontingenzgattung der Moderne, dass sie ihre textuellen Sabotage-Akte einerseits in den Dienst der ästhetischen und epistemischen Modernisierung stellt, ihre ,Sprengkraft‘ also gegen obsolete Formen der Selbst- und Wirklichkeitsbeschreibung richtet, andererseits aber auch das Pathos der emphatischen Moderne ironisiert und besonders da kritisiert, wo deren utopische Projekte in neue Formen fester Sinn- und Ordnungsstiftung zu münden drohen: Dem Heideggerschen Plädoyer für das durch das „Man“ banalisierte „Geheimnis“ setzt der Wiener Feuilletonist in dem eben zitierten Satz so ebenso polemisch wie programmatisch die Sichtweise entgegen, das philosophische Bemühen um das „Geheimnis“ des Seins banalisiere das „Man“. Die Vertreter der aus traditioneller Perspektive ephemeren Gattung, die ihre Blüte der – von Heidegger so bezeichneten – „Verwendung des Nachrichtenwesens“ ver23 24 25 26

[Adorno 1958, 25]. [Adorno 1958, 26]. [Adorno 1958, 22]. [Polgar 1984’, 262f.].

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Schluss

dankt, wenden sich, parallel zu den modernen Naturwissenschaften, vom ,Geist‘– der „Qualle unter den Begriffen“, der, „will man ihn fassen, leuchtend und formlos ins tiefe Meer des Nonsens zurück[fließe]“27 – ab und den konventionellen und kontingenten Oberflächen zu, von deren Unhintergehbarkeit sie ausgehen: „Bemüh sich ein Zeichner, ein Phantasie-Geschöpf zu zeichnen – wenn er noch so tolles Zeug erfindet, es wird immer nur Variation bekannter Elemente herauskommen. Die Engel haben Flügel. Das heißt: wir können ein Wunder nur setzen, indem wir es gleichzeitig aufheben. Wir können das Unerklärliche nur nennen, indem wir es im selben Atem erklären. Jeder geglückte Beweis des Übersinnlichen wird sofort sein eigener Gegenbeweis.“28 In seinem im gleichen Jahr wie Heideggers Sein und Zeit erschienenen Buch Ich bin Zeuge fragt der Wiener Feuilletonist: „Warum ist der Mensch von heute widerspenstig gegen Literatur von heute?“, und lässt es in seiner Antwort nicht an Deutlichkeit fehlen: Weil Roman, Drama, Gedicht mit einem Aplomb auftreten, als zeigten sie Wege über den fürchterlichen Abgrund, schwarz und grenzenlos wie Nacht der Ewigkeit, über dem wir hängen [. . .] indes sie doch bestenfalls zur Phänomenologie des Gestrüpps, das des Abgrunds Rand überwächst, ein bißchen was beitragen, erzählend von ihm, Bilder fügend aus seinen Farben und Formen, wie es aussieht im Morgenlicht und Abenddunkel, und wie es in Millionen Varianten sich durcheinanderwindet und verfilzt.29

Dieses Plädoyer für eine leise Moderne hebt sowohl den katastrophischen als auch auf den utopischen Kontingenzdiskurs der zeitgenössischen Kultur in der für die Gattung charakteristischen Ästhetik der Indifferenz auf: Die Kontingenz von Ich, Welt und Wirklichkeit erscheint hierin weder als Katastrophe noch als Movens utopischer Gegenentwürfe; insbesondere führt sie aber nicht zum Verstummen, sondern ermöglicht gerade, der Wirklichkeit in unerschöpflicher Weise – sei es literarisch, sei es wissenschaftlich – „erzählend“ zu begegnen.

27 28 29

[Polgar 1982, 325]. [Polgar 1982, 327]. Alfred Polgar: Ich bin Zeuge. Berlin 1927. XIIIf., zitiert nach [Bohn 1978, 153].

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