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German Pages 261 [262] Year 2017
Diana Gomes Ascenso Poetischer Widerstand im Estado Novo
Mimesis
Romanische Literaturen der Welt
Herausgegeben von Ottmar Ette
Band 66
Diana Gomes Ascenso
Poetischer Widerstand im Estado Novo Die Dichtung von Sophia de Mello Breyner Andresen
ISBN 978-3-11-052282-2 e-ISBN [PDF] 978-3-11-052514-4 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-052295-2 ISSN 0178-7489 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Die vorliegende Studie basiert auf meiner Doktorarbeit, die 2015 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation im Fach Romanische Literaturwissenschaft angenommen wurde. Zum Entstehen dieser Arbeit haben zahlreiche Personen beigetragen. Ihnen gilt mein herzlichster Dank. Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Betreuerin Prof. Dr. Susanne Zepp, die mich im Dezember 2012 in das von ihr an der Freien Universität Berlin geleitete Doktorandenprogramm «Portugiesische Literatur und Kultur» aufgenommen und seitdem hervorragend betreut hat. Ihr Vertrauen in meine Arbeit, ihr wissenschaftlicher Enthusiasmus und ihre geduldige Unterstützung sowie ihre unzähligen befreienden Anregungen haben mich stets begleitet und angetrieben. Herrn Prof. Dr. Joachim Küpper danke ich sehr für seinen kritischen Blick auf meine Arbeit. Für seine vielen wertvollen Hinweise bin ich ihm ebenso verbunden wie für seine Bereitschaft, die Arbeit als Zweitgutachter mitzubetreuen. Zudem möchte ich Prof. Dr. Uli Reich, Prof. Dr. Susanne Klengel und Dr. Paola Traverso für ihre Mitarbeit in der Prüfungskommission danken – insbesondere für ihre Fragen und Hinweise, die diese Publikation bereichert haben. Ein herzlicher Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin sowie des erweiterten Kreises des Forschungskolloquiums für ihr Interesse an meiner Arbeit, kritische Diskussionen und ihre freundschaftliche Unterstützung. Das Promotionsprogramm «Portugiesische Kultur und Literatur» wird von der Fundação Calouste Gulbenkian gefördert, der ich hiermit ebenfalls meinen großen Dank ausspreche. Prof. Dr. Maria Andresen danke ich sehr herzlich für die Erlaubnis, den Nachlass von Sophia de Mello Breyner Andresen einzusehen. Ebenso möchte ich mich bei Prof. Dr. Ottmar Ette sehr herzlich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Mimesis bedanken. Meiner Familie und meinen Freunden bin ich sehr dankbar für ihre Geduld, ihr Vertrauen und ihre Unterstützung. Berlin 2017
https://doi.org/10.1515/9783110525144-202
Inhalt Einleitung 1 1 Fragestellung Einführung in das Werk und Forschungsstand 13 Soziopolitischer und kultureller Kontext I I.1 I.1.1 I.1.2 I.1.3 I.2 I.2.1 I.2.2 I.2.3 I.2.4 I.3 I.3.1 I.3.2 II
II.1 II.1.1 II.1.2 II.1.3 II.1.4 II.2 II.2.1 II.2.2 II.2.3 II.3 II.3.1 II.3.2 II.4 II.4.1
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Deus, Pátria, Família: Dichtung und Diskurs 19 19 Einleitung: Sprache und Diskurs im Estado Novo 26 Deus: Messianismus und christliche Tugend 26 «O Vidente»: Demontage des Sebastianismus 34 Zeichen der Apokalypse 42 Diktatur der Frömmler 49 Pátria: Heimat und Exil 49 Das Meer als nationales Symbol 56 Pirata-Pátria: Land der Piraten 61 Entfremdung und Exil 67 Mar Novo: Aufbrechen der Meer-Symbolik 74 Família: Alltagssicht und weibliche Gegenstimmen 74 «Política do sacrifício»: Hungern für die Nation 82 Catarina Eufémia: ein anti-salazaristischer Mythos Ethik und Ästhetik 91 Einleitung: Politische Verantwortung und Bedeutung 91 der Form 94 Figuren einer widerständigen Ästhetik 95 Der Geier 99 Der Übermensch 103 Der Demagoge 107 Der Sturmvogel 110 Tradition der klassischen Antike 111 Anrufung der Muse 117 Mythologische Figuren 129 Elegische Dichtung 137 Biblische Bezüge 137 Psalmen und Gebete 143 Biblische Bilder 147 Rückgriffe auf neuzeitliche Literaturgeschichte 147 Sonettdichtung
VIII II.4.2 II.4.3 III
Inhalt
Portugiesische Tradition 152 158 Spanische Tradition
III.1 III.1.1 III.1.2 III.2 III.2.1 III.2.2 III.3 III.3.1 III.3.2
Dichtung als Chronographie 163 Einleitung: Zur Zeithaltigkeit von Dichtung 163 164 Zeitkritik 164 Charakterisierung der Gegenwart 172 Geteilte Zeit 177 Zeugnis und Erinnerung 177 Widerständige Persönlichkeiten 182 Orte der Vernichtung und des Widerstands 188 Poesie der Revolution 188 Vor der Revolution 193 Zeit des Neubeginns und nach der Revolution
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Schlussbetrachtung
V V.1 V.1.1 V.1.2 V.2 V.2.1 V.2.2
Literaturverzeichnis 201 201 Primärtexte 201 Sophia de Mello Breyner Andresen 202 Andere Autoren 203 Sekundärliteratur 203 Zur Geschichte Portugals und des Estado Novo Literaturgeschichte und verschiedene 206 Nachschlagewerke Literaturtheorie, Sprachtheorie, Philosophie, 207 Geschichte 208 Studien zum Werk Sophia Andresens 213 Andere literaturwissenschaftliche Studien Übersetzungen einzelner Gedichtbände und 214 Anthologien
V.2.3 V.2.4 V.2.5 V.2.6
Gedichtverzeichnis
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Anhang 219 Übersetzungen ins Deutsche 253 Abstract
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Einleitung Fragestellung In dieser Studie werden die vielschichtigen und zuweilen auch verdeckten oder verschlüsselten Referenzen zur empirischen Wirklichkeit in der portugiesischen Dichtung des 20. Jahrhunderts am Beispiel des Werks von Sophia de Mello Breyner Andresen (1919–2004) untersucht. Die Dichterin hat die politischen Konstellationen ihrer Geschichtsperiode genau beobachtet und in ihren lyrischen Texten kritisch reflektiert. Der Estado Novo vertrat eine geschichtspolitische Vision von Portugal, der sich eine ganze Generation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern in einer sehr spezifischen Art und Weise widersetzte. Da seit 1926 in Portugal eine strenge Zensur Presse- und Verlagswesen kontrollierte, trug sich die Auseinandersetzung mit dem Regime in literarischen Texten in einer Weise aus, die oft dazu geführt hat, dass diese Texte als unpolitisch und von der historischen Realität des Landes abgewandt wahrgenommen wurden. Auf diese Weise wurden die Texte nicht mit einem Publikationsverbot belegt. Auch wenn evident war, dass hier keine regimetreue Literatur entstanden ist, steht in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der portugiesischen Literatur des 20. Jahrhunderts eine philologische Entschlüsselung der Verfahren von Autoren und Autorinnen wie Sophia Andresen noch aus. Dabei transformierte diese Generation kritischer Intellektueller die Bedrohung der Zensur in eine poetische Ressource: Sie interpretierten die ästhetische Autonomie lyrischer Texte als politisch. Hans Magnus Enzensberger hat in seinem Essay «Poesie und Politik» darauf hingewiesen, dass das Gedicht bereits durch seine Form mustergültig zeige, dass die Politik nicht über es verfügen kann. Eben hierin bestehe, so Enzensberger, sein politischer Gehalt.1 Die vorliegende Studie befragt das Werk der Autorin entlang von Schlüsselbegriffen ihrer Epoche auf diese implizite Ästhetik und versucht so, ein bislang noch nicht genügend wahrgenommenes Kapitel der portugiesischen Kulturgeschichte herauszuarbeiten. Die Gedichte von Sophia Andresen werden in ihrer markant herausgestellten ästhetischen Autonomie als eine Form poetischen Widerstands gelesen. Die bisherige lusitanistische und komparatistische Forschung hat die Texte der Autorin noch nicht hinreichend vor diesem Horizont wahrgenommen. So wenden sich beispielsweise Sophia Andresens Ge-
1 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Poesie und Politik [1962]. In: Ders.: Einzelheiten II – Poesie und Politik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 113–137, hier S. 133. https://doi.org/10.1515/9783110525144-001
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Einleitung
dichte immer wieder den Kulturen der Antike zu. Dies wird im Rahmen dieser Arbeit nicht als Abwendung von den politischen Herausforderungen ihrer Zeit, sondern als eine Etablierung poetischer Gegenwelten zu den Realitäten des Salazar-Regimes verstanden, als eine bewusste Versenkung in eine gegenläufige europäische Tradition, die dem zeitgenössischen Leser unmittelbar als nicht verrechenbar mit der kulturellen Vision des Estado Novo erscheinen musste. So wird die Ästhetik der Dichterin als eine in der dichterischen Sprache ausgetragene kritische Auseinandersetzung mit den Umständen ihrer Gegenwart verstanden. In als unhaltbar empfundenen Zuständen entzog sich Sophia Andresen durch die poetische Sprachreflexion der Macht der politischen Diskurse des Estado Novo. In ihrem Zugriff auf den Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft basiert die Dissertation methodisch auf den Einsichten des New Historicism. Dessen gleichzeitiges Interesse an der Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität von Geschichte ist für die im Rahmen dieser Studie unternommenen Untersuchungen wesentliche Anregung. Der hier unternommene Versuch, die im 20. Jahrhundert in Portugal entstandenen literarischen Texte auf ihre geschichtliche Umgebung zu beziehen, ist ganz ausdrücklich als kulturpoetischer Zugriff zu verstehen. Für den untersuchten Zusammenhang soll Theodor W. Adornos Überzeugung produktiv gemacht werden, dass Kunst, auch wenn sie autonom ist, dabei eng mit den gesellschaftlichen Bedingungen verbunden bleibt, auch wenn sie dies nicht durch deren unmittelbare Repräsentation zum Ausdruck bringt.2 Adornos Ausgangspunkt war die Situation der modernen Avantgarde, die in der Kunst ab 1910 verstärkt eine Tendenz zur Abstraktion und zur Verabschiedung von Repräsentation zeigt. Sein Widerspruch gegen
2 «Die rücksichtslose Autonomie der Werke, die der Anpassung an den Markt und dem Verschleiß sich entzieht, wird unwillkürlich zum Angriff. Der ist aber nicht abstrakt, keine invariante Verhaltensweise aller Kunstwerke zu der Welt, die es ihnen nicht verzeiht, daß sie ihr nicht gänzlich sich fügen. Sondern die Distanzierung der Werke von der empirischen Realität ist zugleich in sich selbst durch diese vermittelt. Die Phantasie des Künstlers ist keine creatio ex nihilo; nur Dilettanten und Feinsinnige stellen sie so sich vor. Indem die Kunstwerke der Empirie sich entgegensetzen, gehorchen sie deren Kräften, die gleichsam das geistige Gebilde abstoßen, es auf sich selbst zurückwerfen. Kein Sachgehalt, keine Formkategorie einer Dichtung, die nicht, wie immer auch unkenntlich abgewandelt und sich selbst verborgen, aus der empirischen Realität stammte, der es sich entringt. Dadurch, wie durch die Umgruppierung der Momente kraft ihres Formgesetzes, verhält sich die Dichtung zur Realität. Noch die avantgardistische Abstraktheit, über die der Spießbürger sich entrüstet und die nichts gemein hat mit der von Begriffen und Gedanken, ist der Reflex auf die Abstraktheit des Gesetzes, das objektiv in der Gesellschaft waltet.» (Theodor W. Adorno: Engagement [1962]. In: Ders.: Noten zur Literatur. Hrsg. von Rolf Tiedemannn. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 355.), S. 409–430, hier: S. 425.)
Fragestellung
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Sartres Begriff von Engagement ist jedoch vor dem Horizont des Zivilsationsbruchs3 zu verstehen. Auch wenn die Lyrik Sophia Andresens keineswegs der Avantgarde-Literatur zuzuordnen ist, die radikalere Formen als Ausdruck von Widerständigkeit wählte, so wird ihr dennoch immer wieder eine Entfremdung oder Distanznahme von der Realität zugeschrieben.4 Tatsächlich ist in Sophia Andresens Texten eine Anverwandlung des Gesellschaftlichen in dichterische Zusammenhänge in einer Weise zu beobachten, die nicht einfach vom Gesellschaftlichen abgeleitet werden kann. So sind ihre Gedichte nicht allein als verdeckte Schreibverfahren zu deuten, auch wenn sie sich bewusst der mehrfachen Codierung und Lesbarkeit des Wortkunstwerks bedient. Aus anderen totalitären Systemen ist diese Schreibstrategie als Versuch bekannt, Zensur zu umgehen und unter Ausnutzung getarnter Kommunikationsspielräume einen oppositionellen Gehalt zu übermitteln.5 Bei Sophia Andresen ist die Wahl der Gattung bereits eine wesentliche ästhetische Entscheidung. Widerständiges, verdecktes Schreiben ist als Verfahren von Erzählliteratur geläufig. Ein prominentes Beispiel sind Romane der DDR, die sich verschiedener narrativer Tarnstrategien bedienten, um trotz oppositionellen Gehalts die Druckgenehmigungsverfahren zu bestehen. Auch in Italien war der künstlerische Widerstand gegen das autoritäre Regime unter Benito Mussolini auf erzählende Formen konzentriert. Der marxistisch konturierte italienische Neorealismus enstand ab Anfang der vierziger Jahre als antifaschistische Gegenbewegung in Film6 und Erzählliteratur.7 Diese realistische Ästhetik war auch für manche spanischen Autoren der Franco-Ära ein Modus, um Kritik zum Aus-
3 Der Begriff des Zivilisationsbruchs wurde von Dan Diner geprägt. Vgl. u. a. Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1988. 4 «É assim que a confluência de hermetismo e deslumbramento que circunda a literatura e, nomeadamente, a lírica moderna, é suficiente para poder falar da presença de um certo estranhamento na literatura andreseniana, consistente em obscurecer a forma e em aumentar a dificuldade da perceção.» (Alva Martínez Teixeiro: Nenhum vestígio de impureza. Da necessidade estética na ética e na poética de Sophia de Mello Breyner Andresen. Santiago de Compostela: Edicións Laiovento 2013, o.p.) 5 Vgl. Heidrun Ehrke-Rotermund/Erwin Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ‹Verdeckten Schreibweise› im «Dritten Reich». München: Fink 1999; Angela Borgwardt: Im Umgang mit der Macht. Herrschaft und Selbstbehauptung in einem autoritären politischen System. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002. 6 Als erste neorealistische Filme gelten: Luchino Visconti: Ossessione (1943) und Roberto Rossellini: Roma, città aperta (1945). Weitere wichtige Regisseure sind Luigi Zampa, Vittorio de Sica, Giuseppe di Santis. 7 Zum Beispiel: Elio Vittorini: Conversazione in Sicilia. Milano: Bompiani 1941; Italo Calvino: Il sentiero dei nidi di ragno. Torino: Einaudi 1947. Der neorealistische Film Manoel de Oliveiras Aniki Bóbó (1942) ist in Portugal dagegen zunächst unbeachtet geblieben.
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Einleitung
druck zu bringen. Zu den bekanntesten Vertretern des antifranquistischen und regimekritischen realismo social gehören Juan Goytisolo, Ignacio Aldecoa, Jesús Fernández Santos und Martín Gaites. Als bekanntester antifranquistischer Roman dieser Zeit gilt Tiempo de Silencio 8 (1962) von Luís Martín-Santos (1924–1964). Sein Werk brach durch narrative Innovationen mit dem sehr viel angepassteren realismo social und wurde aufgrund seiner deutlichen Kritik am Regime zunächst nur in Mexiko, dann in einer zensierten Form in Barcelona veröffentlicht.9 Auch in Portugal wurden in (neo-)realistischer Prosa die Lebenswelten der Bevölkerung im Estado Novo zuweilen schonungslos dargestellt, zum Beispiel in den Romanen von Fernando Namora, Manuel Fonseca und Vergílio Ferreira. Regimekritische Dichtung scheint dagegen, wenn man die Forschung betrachtet, in diesen Systemen eher die Ausnahme gewesen zu sein.10 Allerdings ist auch von regimetreuer Dichtung eher selten die Rede. Zwar wurde der italienische Faschismus durch intellektuelle Wegbereiter wie Gabriele D’Annunzio (1863–1938) mitgeprägt und ist letztendlich nicht nur eine politische, sondern auch eine ästhetische Kategorie. Dass wir heute kaum noch die Namen der Dichterinnen und Dichter kennen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Italien, in Spanien oder Portugal in regimetreuer Dichtung versuchten, heißt nicht, dass es sie nicht gegeben hätte, wie zuweilen vertreten wird.11 Doch ähnlich zu anderen autoritären Systemen dieser Zeit wurde für die Verbreitung der Ideologien der Regimes vornehmlich auf Radio, Film und Zeitungen gesetzt. Die Kontrolle der Massenmedien erwies sich für Propagandazwecke wirksamer
8 Luís Martín-Santos: Tiempo de silencio. Barcelona: Seix Barral 1962. 9 Vgl. Cerstin Bauer-Funke: Spanische Literatur des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Klett 2006, S. 96. 10 Für Italien stellt Eugenio Montale (1896–1981) eine dieser Ausnahmen dar. Er stellte sich nicht nur offen gegen den faschistischen Stil und weigerte sich in die Partei einzutreten, er drückte seine Haltung ebenso in seiner Dichtung aus. Vgl. Eugenio Montale: Ossi di seppia. Turin: Piero Gobetti Edizioni 1925; Ders.: La bufera e altro. Venedig: Neri Pozza 1956. In Spanien lassen sich Werke Vicente Aleixandres als widerständige Lyrik lesen. Vgl. Susanne Zepp: Bleierne Zeit. Varianten des Elegischen in der Dichtung der fünfziger Jahre bei Vicente Aleixandre und Eugénio de Andrade. In: Daniel Jacob/Andreas Kablitz u. a. (Hrsg.): Romanistisches Jahrbuch. Band 61. Berlin: De Gruyter 2010, S. 414–433. 11 Scotti-Rosin gibt sogar an, es gebe in dem von ihm untersuchten Zeitraum (1928–1940) insgesamt keine fiktionalen portugiesischen Texte, die eine Nähe zur herrschenden Ideologie erkennen ließen. Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, Frankfurt am Main: Peter D. Lang 1982 (Europäische Hochschulschriften: Reihe XXIV, Iberoroman. Sprachen u. Literaturen; Bd. 14), S. 39.
Einführung in das Werk und Forschungsstand
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als die Unterwerfung der Literatur. Die Entscheidung, unter solchen Umständen Gedichte zu schreiben, ist jedoch nicht mit Eskapismus gleich zu setzen. Sophia Andresen machte in ihren Gedichten die ästhetische Erfahrung des poetischen Texts selbst zum Ort geistigen Widerstands. Aus dieser Spezifik der Texte der Autorin ergeben sich Zugriff und Aufbau dieses Buches. Der exakte Nachvollzug, wie poetischer Widerstand im je einzelnen dichterischen Text etabliert wird, steht im Mittelpunkt der drei Hauptkapitel dieser Studie. Das close reading der Gedichte wird innerhalb der Hauptkapitel bis auf wenige Ausnahmen entlang der Chronologie des Werkes der Autorin vorgenommen. Die Hauptkapitel selbst fokussieren Schlüsselbegriffe der Geschichtsepoche. Das erste Kapitel untersucht, wie Sophia Andresen drei zentrale Begriffe der Salazar-Ideologie in ihrer Dichtung kritisch revidierte. Im zweiten Kapitel wird beleuchtet, wie die Autorin die Autonomie der ästhetischen Form zum Modus der Kritik machte und dabei die Rolle der Kunst als ethisches Korrektiv herausstellte. Zu diesem Zweck werden einerseits exemplarische Begriffe als auch Bezugnahmen auf verschiedene ästhetische Traditionen auf ihre widerständige Ästhetik hin untersucht. Als dritter Modus verschlüsselten Schreibens im Gedicht wird im letzten Hauptkapitel der chronographische Anspruch der poetischen Texte verstanden, die sowohl Vergangenes als auch Gegenwart und Zukunft in den Blick nehmen.
Einführung in das Werk und Forschungsstand Was den Stand der Forschung betrifft, ist das Werk Sophia Andresens als eine der bedeutendsten Autorinnen der Literaturgeschichte Portugals entsprechend ausführlich bearbeitet worden. Geboren 1919 in Porto, erzogen nach traditionell christlichen Werten, begann Sophia Andresen schon in ihrer Jugend mit dem Schreiben von Gedichten.12 Von 1936 bis 1939 widmete sie sich einem Studium der Klassischen Philologien in Lissabon, das sie jedoch nicht abschließen sollte, und war damals bereits in der katholischen Studentenbewegung aktiv. Nach ihrer Heirat mit dem Anwalt und Journalisten Francisco Sousa Tavares ließ sie sich mit ihrem Mann endgültig in Lissabon nieder, wo sie bis zu ihrem Tode im Jahr 2004 leben sollte. Sie war Mutter von fünf Kindern und engagierte sich ab Ende der fünfziger Jahre verstärkt in der Opposition. 1975 wurde sie im Wahlkreis Porto auf der Liste des Partido Socialista (PS) in die Verfassungsge-
12 Was meine Darstellung der Biografie der Autorin betrifft, stütze ich mich auf Maria Paula Morão/Teresa Amado (Hrsg.): Sophia de Mello Breyner Andresen. Uma vida de poeta. Lisboa: Caminho 2011; Alberto Vaz da Silva: Evocação de Sophia. Lisboa: Assírio & Alvim 2009.
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Einleitung
bende Versammlung gewählt. Für ihr literarisches Werk ist sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, darunter auch mit dem Prémio Camões, den sie 1999 als erste weibliche portugiesische Autorin erhielt. Eine posthume Ehre wurde ihr im Juli 2014 zuteil: Ihre sterblichen Überreste wurden in den Panteão Nacional in Lissabon überführt. Sophia Andresens literarische Tätigkeit erstreckte sich über einen Zeitraum von rund 60 Jahren und ihre Veröffentlichungen umfassten neben Gedichten auch Kinderliteratur,13 Erzählungen,14 Essays,15 Theaterstücke16 sowie Übersetzungen.17 Ihr Hauptwerk besteht jedoch aus Gedichten. 1940 veröffentlichte sie ihre ersten poetischen Texte in der Literaturzeitschrift Cadernos de Poesia. In der portugiesischen Literaturgeschichtsschreibung wird sie deshalb auch meist der Autorengruppe dieser Zeitschrift zugeordnet, die allen literarischen Strömungen dieser Zeit eine Plattform bot.18 In der kurzen Geschichte der Zeitschrift (1940–1953) veröffentlichten die unterschiedlichsten Autoren ihre Werke darin: lusitanistas und saudosistas wie
13 U. a.: Sophia de Mello Breyner Andresen: A Menina do Mar. Lisboa: Edições Ática 1958. – A Fada Oriana. Lisboa: Edições Ática 1958. – A Noite de Natal. Lisboa: Edições Ática 1959. – O Cavaleiro da Dinamarca. Porto: Figueirinhas 1964. – O Rapaz de Bronze. Lisboa: Minotauro 1966. – A Floresta. Porto: Figueirinhas 1968. 14 U. a.: Sophia Mello Breyner Andresen: Contos Exemplares. Lisboa: Livraria Morais Editora 1962. – Os Três Reis do Oriente. Lisboa: Estúdios Cor 1965. – Histórias da Terra e do Mar. Lisboa: Edições Salamandra 1984. 15 U. a.: Sophia de Mello Breyner Andresen: A Poesia de Cecília Meireles. In: Cidade Nova – Revista de Cultura IV, Nr. 6 (1956). – Poesia e Realidade. In: Colóquio – Revista de Artes e Letras, Nr. 8 (1960). – Caminhos da Divina Comédia. In: Diário de Lisboa. 13 de Maio e 1 de Julho de 1965. – O Nu na Antiguidade Clássica. Lisboa: Estúdios Cor 1975. 16 Sophia de Mello Breyner Andresen: O Bojador. Separata da Escola Portuguesa, DirecçãoGeral do Ensino Primário. Lisboa s/d [1961]. – O Colar. Lisboa: Editorial Caminho 2001. 17 U. a.: Émile Mireaux: A vida quotidiana no tempo de Homero. Lisboa: Livros do Brasil s/d [c.1957]. Paul Claudel: A anunciação de Maria. Lisboa: Editorial Aster s/d [1960]. Dante: O Purgatório. Lisboa: Minotauro 1962. William Shakespeare: Hamlet. Porto: Lello & Irmão Editores 1987. Eine weitere ShakespeareÜbersetzung (Muito barulho por nada, 1964) ist noch unveröffentlicht. Eurípides: Medeia. Lisboa: Editorial Caminho 2006. 18 Vgl. Susanne Zepp: Portugiesisch-Brasilianische Literaturwissenschaft. Paderborn: Wilhelm Fink 2014, S. 93.
Einführung in das Werk und Forschungsstand
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Afonso Lopes Vieira, Pedro Homem de Melo und Afonso Duarte, pós-symbolistas und modernistas wie Luís de Montalvor, Cabral do Nascimento, Armando Côrtes-Rodrigues, Fernando Pessoa und Almada Negreiros, precencistas und der Bewegung nahestehende wie José Régio, Carlos Queiroz, Casais Monteiro, Alberto Serpa, Saúl Dias, António de Navarro, Francisco Bugalho, Edmundo de Bettencourt, Vitorino Nemésio und Miguel Torga, neo-realistas wie Fernando Namora, João José Cochofel, Álvaro Feijó, José Gomes Ferreira, Mário Dionísio, Manuel da Fonseca und Sidónio Muralha.19 Bei der Zuordnung zu dieser Gruppe wird jedoch stets der literarische Individualismus Andresens betont, da sie sich, wie auch einige andere der Autoren, die in den Cadernos veröffentlicht haben, keiner literarischen Strömung ihrer Zeit zurechnen lässt, weder den tradicionalistas, noch den modernistas, presencistas oder neo-realistas.20 19 Vgl. Luís Adriano Carlos: A Poesia de Sophia. In: Línguas e Literaturas: revista da Faculdade de Letras do Porto Nr. 17 (2000), S. 233–250, hier S. 235. 20 Zu den individualistischen Autoren der Zeitschrift wird die jüngere Generation gezählt, zu der auch Sophia Andresen gehört: Tomaz Kim, José Blanc de Portugal, Ruy Cinatti, Jorge de Sena und Eugénio de Andrade. Vgl. António José Barreiros: História da literatura portuguesa. Volume II – Séculos XIX–XX. Braga: Editora Pax 91982, S. 562: «Alguns sairam bastantes individualizados no meio dos adeptos das escolas em luta. São os casos de Tomás Kim, Rui Cinatti, Blanc de Portugal, Sophia Andresen. Influenciados por Eliot, e Rainer Maria Rilke, entusiasmaram-se por um conteúdo poético todo voltado para a metafísica, desenraizado do fenómeno circunstancial, material e positivista». Bei Saraiva und Lopes werden Jorge de Sena, Sophia Andresen und Eugénio de Andrade auch als «três poetas à parte» bezeichnet, vgl. António José Saraiva/Óscar Lopes (Hrsg.): História da literatura portuguesa. Porto: Porto Editora 131985, S. 1096. Jorge de Sena, selbst einer der Autoren und Mitherausgeber der Zeitschrift, spricht der Gruppe jegliche Gemeinsamkeiten untereinander ab: «Tudo os separa» (vgl. Jorge de Sena: Estudos de Literatura Portuguesa I. Lisboa: Ediç̃oes 70 1988, S. 234). Er betont die grundsätzliche literarische Freiheit der Gruppe, die nicht einer Schule oder Ästhetik unterworfen ist. Mit dem Leitspruch «A Poesia é só uma» setzten sich die Herausgeber der Zeitschrift über alle Klassifizierungen hinweg und betonten stattdessen die poetische Vielfalt. Luís Adriano Carlos sieht das verbindende Charakteristikum der Gruppe in der «homogeneidade, sem dúvida geracional, de uma mesma altitude vital e de um mesmo fundo de consciência crítica da poesia como expressão da dignidade humana», aus: Luís Adriano Carlos: A Geração dos Cadernos de Poesia. In: Óscar Lopes/Maria de Fátima Marinho u. a.: Hístoria da Literatura Portuguesa – As Correntes Contemporâneas. Vol. 7. Lisboa: Publicações Alfa 2002, S. 241. Vgl. auch Luís Adriano Carlos: Fenomenologia do Discurso Poético. Porto: Campo das Letras 1999, S. 305–314; Ders.: A poesia de Sophia. In: Línguas e literaturas: revista da Faculdade de Letras do Porto Nr. 17 (2000), S. 233–250. Das Ziel der Vereinigung müsse vor dem Hintergrund der ästhetischen und ideologischen Grundsatzstreits gesehen werden, die die literarische Szene spalteten. Vor allem der in den dreißiger Jahren geführte Streit zwischen den Konzeptionen «poesia social» und «poesia pura», der zwischen neo-realistas und presencistas geführt worden war.
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Einleitung
Der wichtigste Vertreter der portugiesischen Moderne, Fernando Pessoa, veröffentlichte 1934 einen Gedichtband, der auch im Werk Andresens Spuren hinterlassen hat: Mensagem, das einzige in portugiesischer Sprache verfasste poetische Werk, das Pessoa unter seinem Namen und nicht unter einem seiner zahlreichen Heteronyme veröffentlichte. Die darin eingeschlossenen Gedichte reproduzierten das Narrativ der portugiesischen Nationalmythen mit einem im Sebastianismus gipfelnden Ausblick auf Portugals Zukunft. Zugleich fand in Pessoas Mensagem auch das Streben nach absoluter dichterischer Größe Ausdruck. Die Dichtung von Sophia Andresen suchte einen ganz anderen Begriff von Portugal zu erkunden, und dies durch eine andere Akzentuierung der Bedeutung von Sprache. Der esoterisch-symbolistische Stil Pessoas ist bei Sophia Andresen nicht zu finden, ganz im Gegenteil. Schon ihrem 1944 veröffentlichten ersten Gedichtband Poesia 21 wurde eine beeindruckende sprachliche Klarheit attestiert,22 die fortan immer wieder in Kritiken ihres Werkes hervorgehoben werden sollte. Nach den darauffolgenden Bänden Dia do Mar 23 (1947), Coral 24 (1950), No Tempo Dividido 25 (1954), Mar Novo 26 (1958) und O Cristo Cigano 27 (1961) wird in der Forschung Livro Sexto 28 (1962) als ihr wichtigstes Werk angesehen, das zudem 1964 mit dem Grande Prémio de Poesia der Sociedade Portuguesa de Escritores ausgezeichnet wurde. Livro Sexto gilt neben der Anthologie Grades 29 (1970) als Sophia Andresens erstes explizit
21 Sophia de Mello Breyner Andresen: Poesia. Coimbra: Edição da Autora 1944. Im vorliegenden Kapitel werden jeweils die Erstausgaben der Einzelbände angeführt. 22 Vgl. António José Saraiva/Óscar Lopes (Hrsg.): História da literatura portuguesa. Porto: Porto Editora 131985, S. 1098. 23 Sophia de Mello Breyner Andresen: Dia do Mar. Lisboa: Edições Ática 1947. 24 Sophia de Mello Breyner Andresen: Coral. Porto: Livraria Simões Lopes 1950. 25 Sophia de Mello Breyner Andresen: No Tempo Dividido. Lisboa: Guimarães Editores 1954. 26 Sophia de Mello Breyner Andresen: Mar Novo. Lisboa: Guimarães Editores 1958. 27 Sophia de Mello Breyner Andresen: O Cristo Cigano. Lisboa: Minotauro 1961. 28 Sophia de Mello Breyner Andresen: Livro Sexto. Lisboa: Livraria Morais Editora 1962. 29 Nachdem 1968 eine erste Anthologie erschienen war, die eine Auswahl einiger «poemas em geral» (Saraiva/Lopes: História da literatura portuguesa, S. 1099) enthielt, gelten die Gedichte, die in Grades veröffentlicht wurden als «poemas (…) de resistência» (Ebda.). Insgesamt sind folgende Anthologien, Gesamtausgaben und nachträglich in andere Bände eingefügte Gedichtsammlungen erschienen. Es wird jeweils die Erstausgabe angeführt: Sophia de Mello Breyner Andresen: Antologia. Lisboa: Portugália Editora 1968. – Grades. Lisboa: Publicações Dom Quixote 1970. – 11 Poemas. Lisboa: Movimento 1971. – Poemas de um livro destruído. In: Fevereiro – Textos de Poesia. Lisboa 1972. (Ab der 2. Ausgabe in No Tempo Dividido eingefügt: No Tempo Dividido e Mar Novo. Ilustrações de Arpad Szenes. Lisboa: Edições Salamandra 1985.).
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politisches Werk.30 Dass auch die vorherigen Werke, die unter anderem durch eine fragile und teilweise gespaltene Temporalität gekennzeichnet sind, ebenso eine politische Dimension enthalten, wird in der vorliegenden Studie zu diskutieren sein. In zweien der Nachfolgewerke, Geografia 31 (1967) und O Nome das Coisas 32 (1977), wird die Thematik aus Livro Sexto fortgeführt, während Dual 33 (1972) und Navegações 34 (1983) eher als klassisch gelten.35 Insgesamt lässt sich nach O Nome das Coisas, einem deutlich durch die Revolution gekennzeichneten Band, ein Bruch im Werk Andresens erkennen. Das macht schon der Titel des Gedichtbands O Nome das Coisas deutlich: Nach dem Ende des Salazar-Regimes muss Kritik nicht mehr implizit in Sprache gehoben werden, sondern es können die Dinge beim Namen genannt werden. Die drei letzten Erstveröffentlichungen Ilhas 36 (1989), Musa 37 (1994) und O búzio de Cós e outros poemas 38 (1997) bleiben der kunstvollen Verbindung zeitgenössischer und antiker Paradigmen weiterhin treu. Jedoch wird die darin enthaltene Zeit-
– Poemas escolhidos. Lisboa: Círculo de Leitores 1981. – O sol o muro o mar. Portfolio com seis fotografias de Eduardo Gageiro. Lisboa 1984. (1989 in Ilhas eingefügt: Ilhas. Ilustração de Xavier Sousa Tavares. Lisboa: Texto Editora 1989.). – Obra Poética. Werkausgabe in drei Bänden. Lisboa: Editorial Caminho 1990–1991. – Singraduras. Com seis gravuras de David de Almeida. Lisboa: Galeria 111 1991. – Obra Poética. Werkausgabe in zwei Bänden. Lisboa: Círculo de Leitores 1992. – Signo. Lisboa: Editorial Presença/Casa Fernando Pessoa 1994. – Mar. Antologia organizada por Maria Andresen de Sousa Tavares. Lisboa: Editorial Caminho 2001. – Orpeu e Eurydice. Ilustrações de Graça Morais. Lisboa: Galeria 111 2001. – Cem Poemas de Sophia. Selecção e introdução de José Carlos de Vasconcelos. Lisboa: Visão/JL – Jornal de Letras, Artes e Ideias 2004. – Obra poética. Edição de Carlos Mendes de Sousa. Alfragide: Editorial Caminho 2010. – Poemas sobre Pessoa. Antologia organizada por Maria Andresen de Sousa Tavares. Alfragide: Editorial Caminho 2012. 30 Saraiva/Lopes: História da literatura portuguesa, S. 1099; Óscar Lopes, Os sinais e os sentidos. Literatura portuguesa do século XX, S. 111 f. 31 Sophia de Mello Breyner Andresen: Geografia. Lisboa: Edições Ática 1967. 32 Sophia de Mello Breyner Andresen: O Nome das Coisas. Lisboa: Moraes Editores 1977. 33 Sophia de Mello Breyner Andresen: Dual. Lisboa: Moraes Editores 1972. 34 Sophia de Mello Breyner Andresen: Navegações. Lisboa: Imprensa Nacional-Casa da Moeda 1983. 35 Saraiva/Lopes: História da literatura portuguesa, S. 1099. 36 Sophia de Mello Breyner Andresen: Ilhas. Ilustração de Xavier Sousa Tavares. Lisboa: Texto Editora 1989. 37 Sophia de Mello Breyner Andresen: Musa. Lisboa: Editorial Caminho 1994. 38 Sophia de Mello Breyner Andresen: O Búzio de Cós e outros poemas. Lisboa: Editorial Caminho 1997.
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kritik vor dem Hintergrund der Abschaffung der Zensur nicht mehr versteckt und verschlüsselt, sondern in einer scharfen, manchmal pamphletartigen Art und Weise zum Ausdruck gebracht. Zwar sind einige Gedichtbände, einzelne Gedichte und Anthologien übersetzt und im nicht portugiesischsprachigen Ausland veröffentlicht worden,39 jedoch wurde und wird das poetische Werk Sophia Andresens vor allem in Portugal und Brasilien rezipiert, was sich entsprechend in der Forschungsliteratur spiegelt: Es gibt bislang nur portugiesischsprachige Monographien, die sich mit ihrem poetischen Gesamtwerk befassen.40 39 U. a.: Sophia de Mello Breyner Andresen: Ilhas – poemas escolhidos/Islands – selected poems. Versão inglesa de Richard Zenith, fotografias de Daniel Blaufuks. Lisboa: Texto Editora/ Expo’98 1995. – Log Book: Selected Poems. Tradução de Richard Zenith. Manchester: Carcanet 1997. – En La Desnudez de La Luz. Introducción, selección e traducción por Jacobo Sanz Hermina, XII Premio Reina Sofía de Poesía Iberoamericana. Salamanca: Ediciones Universidad de Salamanca 2003. – Nocturno Mediodía. Antología poética (1944–2001). Tradução de Ángel Pâmpano. Barcelona: Galaxia Gutenberg-Círculo de Lectores 2005. – Il Nome Delle Cose. Tradução de C. V. Cattaneo. Rom: Associazione culturale ‹Portucale› 1983. – Il Sole Il Muro Il Mare. Tradução de Giulia Lanciani. Rom: Japadre Editore 1987. – Malgré Les Ruines et La Mort. Tradução de Joachim Vital. Paris: La Différence 2000. – Poemas – Gedichte. Übersetzt von Maria de Fátima Mesquita-Sternal und Michael Sternal. München: C. H. Beck 2010. – Suofeiya shi xuan: Poemas de Sophia. Trad. de Yao Jingming, Macao/Shijiazhuang: Instituto Cultural/Montanha das Flores 1995. – Viver em Pleno Vento. Trad. de Yao Jingming. Macao: Instituto Camões/IPOR 2015. – Sjøfarar. Trad. de Tove Bakke. Oslo: Cappelen 2000. – I tingens namn. Trad. de Lasse Söderberg. Malmö: Aura Latina 2007. 40 Aus den Monographien, die das Gesamtwerk betreffen, sei folgende Auswahl genannt: Emanuel Brandão: Poesia e limite. Uma leitura teológica da obra de Sophia de Mello Breyner. Leça da Palmeira: Letras e Coisas 2012. Estela Pinto Ribeiro Lamas: Sophia de Mello Breyner Andresen, da escrita ao texto. Lisboa: Editorial Caminho 1998. Helena Malheiro: O enigma de Sophia. Da sombra à claridade. Lisboa: Oficina do Livro 2008. Ana Margarida Ramos: Percursos de leitura na obra de Sophia. Porto: Edições ASA 2003. António Manuel dos Santos Cunha: Sophia de Mello Breyner Andresen. Mitos gregos e encontro com o real. Lisboa: Imprensa Nacional-Casa de Moeda 2004. José Ribeiro Ferreira: Rumor de mar. Temas da poesia de Sophia. Coimbra: Imprensa da Univ. de Coimbra 2013. Rita Barbosa de Oliveira: Sophia. Poema de mil faces transbordantes. São Paulo: Travessia 2012. Als eine Ausnahme sei hier die Dissertation von Carlos Ceia genannt: The way of Delphi: a reading of the poetry of Sophia de Mello Breyner Andresen. Tese dout. Filosofia. Cardiff: University of Wales 1993. Diese findet sich übersetzt und bearbeitet in verschiedenen Werken Ceias wieder: Carlos Ceia: Iniciação aos mistérios da poesia de Sophia de Mello Breyner Andresen.
Einführung in das Werk und Forschungsstand
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In das Werk einführende Aufsätze und Studien, die einzelne Gedichtbände behandeln, sowie einzelne Gedichtanalysen ergänzen die Monographien zum Gesamtwerk.41 Zudem existieren kleinere Einführungen, die jedoch für den Unterricht in der Sekundarstufe konzipiert wurden.42 Sowohl die in Sophia Andresens Oeuvre wiederkehrenden mythischen Orte und Figuren aus der griechischen Antike als auch andere hervorstechende Motive und Isotopien – wie das Meer, die Elemente, das Göttliche, die Natur – sind immer wieder Gegenstand einzelner Studien.43 In der komparatistischen Forschung wurde zudem auf Einflüsse und intertextuelle Verarbeitungen verschiedenster Texte und Autoren aufmerksam gemacht.44 Dies wird in der vor-
Lisboa: Vega 1996; Ders.: O estranho caminho de Delfos. Uma leitura da poesia de Sophia de Mello Breyner Andresen. Lisboa: Vega 2003. 41 U. a. Luís Ricardo Pereira: Sophia de Mello Breyner Andresen. Inscrição da terra. Lisboa: Instituto Piaget 2003. Anne Begenat-Neuschäfer: ‹Navegações› (1983): Raumkonstrukte in der Dichtung von Sophia de Mello Breyner Andresen. In: Anne Begenat-Neuschäfer/Verena Dolle (Hrsg.): Poesia do terceiro espaço. Lírica lusófona contemporânea. Frankfurt am Main: Peter Lang 2014. Fernando J. B. Martinho: Uma leitura da poesia de Sophia de Mello Breyner Andresen. In: Rassegna iberistica Nr. 49 (1994), S. 23–29. Maria de Lourdes Hortas: A poesia de Sophia de Mello Breyner Andresen. In: Revista Comunidades de Língua Portuguesa Nr. 13 (1999), S. 49–54. Maria de Fátima Marinho: Sophia de Mello Breyner Andresen: um original cruzamento de tendências. In: Máthesis 10 (2001), S. 59–72. 42 U. a. Avelino Soares Cabral: Introdução à leitura de Sophia de Mello Breyner Andresen. Mem Martins: Sebenta 1998. 43 U. a.: Ana Helena Cizotto Belline: Mito e história na obra poética de Sophia de Mello Breyner Andresen. In: Estudos portugueses e africanos Nr. 7 (1986), S. 121–139. Dies.: A simbologia do mar na poética de Sophia de Mello Breyner Andresen. In: Letras 20, Nr. 1–2 (2001), S. 168– 179. António Manuel dos Santos Cunha: Sophia de Mello Breyner Andresen. Mitos gregos e encontro com o real. Lisboa: Imprensa Nacional-Casa de Moeda 2004. Carlos Ceia: Apolo que floresce e Diónisos que passa. Sobre o espírito grego na poesia de Sophia de Mello Breyner Andresen. In: Dedalus: revista portuguesa de literatura comparada Nr. 5 (1995), S. 273–296. Clara Crabbé Rocha: A poesia de Sophia de Mello Breyner Andresen, ou o culto do canto mágico de Orfeu. In: Biblos 55 (1979), S. 121–135; Dies.: Sophia de Mello Breyner Andresen. Poesia e magia. In: Colóquio/Letras Nr. 132/133 (1994), S. 165–182. José Ribeiro Ferreira: Rumor de mar. Temas da poesia de Sophia. Coimbra: Imprensa da Universidade de Coimbra 2013. Helena Santos Conceição Langrouva: ‹Mar-Poesia› de Sophia de Mello Breyner Andresen. Poética de espaço e da viagem. In: Brotéria cristianismo e cultura 154/155, Nr. 5/6 (2002); Dies.: De homero a Sophia. Viagens e poéticas. Coimbra: Angelus Novus 2004. 44 U. a.: Márcia Helena Saldanha Barbosa: Sophia Andresen. Leitora de Camões, Cesário Verde e Fernando Pessoa. Passo Fundo: Universidade de Passo Fundo 2001.
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liegenden Studie durch einzelne Gedichtuntersuchungen ergänzt werden. So ist beispielsweise der Umgang Andresens mit Metaphern und Motiven der portugiesischen Tradition, wie sie unter anderem auch Fernando Pessoa verwendet hat, nur in einer vergleichenden Perspektive darzulegen. Deshalb finden sich in dieser Studie auch Analysen einzelner Gedichte Pessoas und anderer Texte der portugiesischen Literaturgeschichte. Des Weiteren ist das poetische Werk Sophia Andresens Gegenstand jener literaturwissenschaftlichen Forschung, die sich auf die Besonderheiten der écriture féminine konzentriert. Hier nimmt Anna Klobucka mit ihrer Dissertation von 1993 und dem teilweise daraus resultierenden Buch von 2009 eine Vorreiterrolle in der lusitanistischen Lyrikforschung ein.45 Abgesehen von dieser wichtigen Monographie wurde die Forschung zum Werk Sophia Andresens nach ihrem Tod im Jahre 2004 durch die Herausgabe von Sammelbänden zu ihren Ehren dominiert, die sowohl literarische Texte, persönliche Erinnerungen und wissenschaftliche Aufsätze in sich vereinen.46 Einen Höhepunkt bildet der von Maria Andresen Sousa Tavares herausgegebe-
Anna Klobucka: O formato mulher. As poeticas do feminino na obra de Florbela Espaca, Sophia de Mello Breyner Andresen, Maria Teresia Horta e Luiza Neto Jorge. Michigan: UMI 1993. Jussara Neves Rezende: A simbolização nas imagens poéticas em Cecília Meireles e Sophia de Mello Breyner Andresen. São Paulo 2006. Maria Helena Jesus : Regard sur la poésie portugaise contemporaine. Gnose et poétique de la nudité. Paris: L’Harmattan 2014. Maria Adelina Vieira : Arte poética. Dom, descrença, desafio; Horácio, Sá de Miranda, Sophia de Mello Breyner, Coimbra: Palimage 2008. Helena Santos Conceição Langrouva: De homero a Sophia. Viagens e poéticas. Coimbra: Angelus Novus 2004. Rui Mesquita: A modernidade romântica: uma leitura comparativa das poéticas de Sophia de Mello Breyner Andresen e de John Keats. Tese dout. Literatura. Porto : Univ. do Porto 2008. Annabela Rita: Emergências estéticas. Lisboa: Roma Editora 2006. António Guerreiro: A modernidade clássica e romântica em Sophia de Mello Breyner Andresen. In: Patrícia Soares Martins u. a. (Hrsg.): Central de Poesia. A recepção de Fernando Pessoa nos anos ’40. Lisboa: Centro de Literaturas e Culturas Lusófonas e Europeias da Faculdade de Letras da Universidade de Lisboa 2011, S. 123–131. 45 Anna Klobucka: O formato mulher. As poeticas do feminino na obra de Florbela Espanca, Sophia de Mello, Breyner Andresen, Maria Teresia Horta e Luiza Neto Jorge. Tese dout. (Romance Languages and Literatures), Harvard Univ. 1993; Dies.: O formato mulher. A emergência da autoria feminina na poesia portuguesa. Coimbra: Angelus Novus 2009. 46 Conselho Directivo e Conselho Científico da FLUP: Estudos em homenagem a Sophia de Mello Breyner Andresen. Porto: Faculdade de Letras da Universidade do Porto 2005. PEN Clube Português (Hrsg.): À Sophia. Homenagem à Sophia de Mello Breyner Andresen. Lisboa: Caminho 2007. Alberto Vaz da Silva: Evocação de Sophia. Lisboa: Assírio & Alvim 2009.
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ne Band Actas do colóquio internacional, der die Beiträge der im Januar 2011 abgehaltenen Tagung Colóquio Internacional Sophia de Mello Breyner Andresen enthält.47 Auch hier sind neben literaturwissenschaftlichen Aufsätzen ebenfalls persönliche Erinnerungen einzelner Teilnehmer an die Autorin selbst zu finden. Die für die lusitanistische Forschung anregendsten Artikel sind wiederum jene, die die pessoanischen und camonianischen Intertexte im Werk Sophia Andresens untersuchen und auf andere Referenzen hinweisen, wie zum Beispiel auf das Werk von Adília Lopes und Miguel Torga. Die Tagung fand im Anschluss an die feierliche Übergabe des Nachlasses der Autorin an die Biblioteca Nacional de Portugal (BNP) statt. Ein Teil des Materials wurde mittlerweile digitalisiert und kann auf einer Website der BNP eingesehen werden.48 Im Jahr zuvor, 2010, erschien die erste einbändige Gesamtausgabe der Gedichte von Sophia de Mello Breyner Andresen,49 worauf bereits 2011 eine überarbeitete Auflage folgte.50 Diese wurde 2013 von Luís Manuel Gaspar durch einen Kommentar ergänzt,51 der hilfreiche Hinweise und Informationen zur Editionsgeschichte der einzelnen Gedichte und Bände sowie Berichtigungen fehlerhafter Veröffentlichungen enthält.
Soziopolitischer und kultureller Kontext Die 1910 ausgerufene Republik, in die Sophia Andresen 1919, ein Jahr nach der Ermordung von Sidónio Pais, hineingeboren wurde, war durch Instabilität, eine drastische gesellschaftliche Zersplitterung und eine tiefe Finanzkrise gekennzeichnet, die zu einem zweiten und erfolgreichen Militärputsch am 28. Mai 1926 führen sollte.52 Der damalige Universitätsprofessor für Ökonomie
47 Maria Andresen Sousa Tavares (Hrsg.): Sophia de Mello Breyner Andresen. Actas do Colóquio Internacional. Porto: Porto Editora 2013. Einzelne Beiträge sind auch in der Nr. 176 (Januar 2011) der Zeitschrift Colóquio/Letras enthalten. 48 Maria Andresen Sousa Tavares: Sophia de Mello Breyner Andresen. Momentos e Documentos. Selecção, conteúdos e organização por Maria Andresen Sousa Tavares. Lisboa: BNP 2011 [05. 04. 2017]. 49 Sophia de Mello Breyner Andresen: Obra Poética. Hrsg. von Carlos Sousa Mendes. Alfragide: Editorial Caminho 2010. 50 Sophia de Mello Breyner Andresen: Obra Poética. Hrsg. von Carlos Sousa Mendes. Alfragide: Editorial Caminho ²2011. 51 Luis Manuel Gaspar: Algumas notas à «Obra Poética» de Sophia de Mello Breyner Andresen. Lisboa: Pianola Editores 2013. 52 In diesem Überblick der Geschichte Portugals stütze ich mich auf António de Oliveira Marques: História de Portugal. Lisboa: Imprensa Nacional-Casa da Moeda 1991; Walther L. Bernecker/Horst Pietschmann: Geschichte Portugals: Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart.
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António de Oliveira Salazar wurde kurz darauf zum Finanzminister berufen, nahm das Amt jedoch erst an, als ihm die Regierung die von ihm geforderte völlige Kontrolle über die Wirtschafts- und Finanzpolitik übergab. Seine Sparmaßnahmen führten schnell zu beeindruckenden Ergebnissen, so dass er nach kürzester Zeit eine einflussreiche Stellung in der Regierung einnahm. Im Jahr 1932 wurde er zum Ministerpräsidenten gewählt. Erst 1968 sollte er von Marcelo Caetano abgelöst werden, der das Amt bis zur Nelken-Revolution im April 1974 weiterführte. Im April 1933 trat eine neue Verfassung in Kraft, mit der die Grundpfeiler für Salazars Estado Novo gesetzt wurden. Dieser ‹neue Staat› beruhte auf einem korporatistischen System, das streng hierarchisch strukturiert war und in der die Regierung die Wirtschaft scharf regulierte. Salazars Priorität des Haushaltsgleichgewichts machte das Land frei von Schulden, führte es aber in eine jahrzehntelange Stagnation, die jede Innovation verhinderte und zu Analphabetismus und Armut in großen Teilen der Bevölkerung führte. Am Ende des Estado Novo war Portugal ökonomisch noch vor allem von einer schwachen Agrarwirtschaft geprägt. Während des Spanischen Bürgerkriegs unterstützte die Regierung des Estado Novo, offiziell neutral, die franquistischen Truppen und ging kurz vor Ende des Krieges einen Bündnisvertrag mit Franco ein.53 Aus dem Zweiten Weltkrieg hielt Portugal sich weitestgehend heraus, gewährte jedoch ab 1943 den Briten und Amerikanern Stützpunkte auf den Azoren.54 Die internationale Isolierung, vor allem in Richtung Europa, wurde nur langsam durchbrochen. Außenpolitisch konzentrierte sich die Regierung unter Salazar auf die Verteidigung des kolonialen Erbes, die bereits 1930 im Acto Colonial durch die darin verkündete Auffassung einer ‹Überlegenheit der westlichen Zivilisation als christliche Verpflichtung› legitimiert worden war.55 Mit dieser missionari-
München: Beck 2001; Fernando Rosas (Hrsg.): Vom Ständestaat zur Demokratie: Portugal im 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg Verlag 1997. Zur Geschichte der I. Republik vgl. zudem D. L. Wheeler: Republican Portugal: A political history, 1910–1926. Madison: University of Wisconsin Press 1978. Zur Geschichte des Estado Novo vgl. Fernando Rosas u. a. (Hrsg.): Portugal e o Estado Novo: 1930–1960. Lisboa: Ed. Presença 1992 (Nova História de Portugal 12). 53 Vgl. Ursula Prutsch: Iberische Diktaturen: Portugal unter Salazar, Spanien unter Franco. Innsbruck 2012; Alberto Pena Rodríguez: O que parece é. Salazar, Franco e a propaganda contra a Espanha democrática. Lisboa: Ediçoes Tinta-da-China 2009. 54 Vgl. Rui Araújo: O império dos espiões: Portugal na II guerra mundial. Alfragide: Oficina do Livro 2010. 55 Vgl. Pedro Miguel Sousa: O colonialismo de Salazar. Texto integral do acto colonial. Lisboa: Via Occidentalis 2008.
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schen Aufgabe hatte die katholische Kirche, die trotz offizieller Trennung vom Staat im ‹Mutterland› als moralische Kontrollinstanz auftrat, eine wichtige Rolle im Estado Novo.56 Neben der Einheitspartei União Nacional und der Legião Portuguesa war jedoch auch die Jugendorganisation der Partei, die Mocidade Portuguesa,57 eine einflussreiche Organisation, die ebenfalls eine erzieherische Kontrollfunktion innehatte. Zudem ging von der Polícia Internacional e de Defesa do Estado (PIDE) eine im Alltag höchst präsente polizeistaatliche Überwachung aus.58 Auch die Aktivitäten des Ehepaares Sophia de Mello Breyner Andresen und Francisco Sousa Tavares, die 1946 heirateten und sich in Lissabon niederließen, wurden von der PIDE verfolgt. Zunächst, weil Francisco Sousa Tavares sich für einen Posten im Ministério das Corporações bewarb und in der monarchischen Bewegung aktiv war, deren Treffen überwacht wurden. Dort war er als Gegner des Salazarismus aufgefallen.59 Bei den Präsidentschaftswahlen von 1958 trat Humberto Delgado an. Der liberale General und Kandidat der Opposition, der angekündigt hatte, Salazar im Falle seiner Wahl abzusetzen, musste nach seiner Niederlage ins Exil fliehen. Trotz Wahlfälschungsversuchen von Seiten der Regierung hatte Delgado über 20 Prozent der Stimmen erhalten können.60 Sowohl Sophia Andresen als auch ihr Mann hatten die Kampagne Delgados unterstützt. Francisco Sousa Tavares verlor infolgedessen sein öffentliches Amt, was die Familie in finanzielle Schwierigkeiten brachte. In der Nacht vom 11. März 1959 war Sousa Tavares an einer militärischen Operation gegen das Regime beteiligt, die auch als «Revolta da Sé» bekannt ist. Die Gruppe wurde jedoch verraten und ein Groß-
56 Duncan Simpson: A igreja católica e o Estado Novo salazarista. Lisboa: Edições 70 2014; Manuel Braga da Cruz: Der Estado Novo und die katholische Kirche. In: Fernando Rosas (Hrsg.): Vom Ständestaat zur Demokratie: Portugal im 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 1997. Von der Kirche ging vor allem in den 1960er Jahren auch eine oppositionelle Bewegung aus; vgl. João Miguel Almeida: A oposição católica ao Estado Novo, 1958–1974. Lisboa: Nelson de Matos 2008; Nuno Medeiros: Action, Reaction and Protest by Publishers in 1960s Portugal: Books and Other Publications in the Catholic Opposition. In: Politics, Religion & Ideology 16, Nr. 2–3 (2015), S. 137–153. 57 Vgl. Joaquim Vieira: Mocidade Portuguesa. Lisboa: A Esfera dos Livros 2008; Irene Pimentel: Mocidade Portuguesa Feminina. Lisboa: A Esfera dos Livros 2007. ́ 58 Vgl. Irene Pimentel: A história da PIDE. Lisboa: Circulo de Leitores 2007; Ursula Prutsch: Iberische Diktaturen: Portugal unter Salazar, Spanien unter Franco. Innsbruck 2012. 59 Vgl. Pedro Jorge Castro: Um casal apaixonado contra Salazar. In: Sábado 519 (10. April 2014)
[05. 04. 2017]. 60 Vgl. Iva Delgado u. a.: Humberto Delgado: As eleições de 58. Lisboa: Vega 1998.
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teil der Beteiligten verhaftet.61 Einige Monate später unterschrieb das Ehepaar ein Flugblatt gegen die Unterdrückung durch das Regime. Aufgrund dieser Unterschrift wurde Sophia Andresen im August 1959 von der PIDE zum Verhör bestellt. Dabei gab sie zu, an der Zusammenstellung der Schrift während einer Versammlung in ihrem Haus beteiligt gewesen zu sein.62 Im Briefwechsel zwischen Sophia Andresen und Jorge de Sena finden sich zudem Hinweise auf Hausdurchsuchungen, bei denen unter anderem auch die Briefe Jorge de Senas konfisziert wurden.63 Im Jahr 1965 wurden Sophia Andresen und Franciso Sousa Tavares beim Versuch das Land zu verlassen am Flughafen von Lissabon von der PIDE aufgehalten. Auch ein Versuch nach Südspanien zu reisen wurde an der Grenze verhindert. Am 19. Oktober 1966 wurde ein Haftbefehl gegen Francisco Sousa Tavares erlassen, der jedoch nicht ausgeführt, sondern zunächst in einen Befehl der permanenten Überwachung umgewandelt wurde. Am 7. November 1966 wurde Sousa Tavares von Agenten der PIDE zu Hause abgeholt und verhaftet. Am nächsten Tag ging beim Präsidenten der Republik ein vom Ehepaar unterzeichnetes Gesuch ein, in dem sie Salazar direkt angriffen.64 Zudem gehören beide zu den Unterzeichnern des «mani-
61 Vgl. Pedro Jorge Castro: Um casal apaixonado contra Salazar. In: Sábado 519 (10. April 2014)
[05. 04. 2017]. 62 Ebda. Zu dieser Begebenheit existieren verschiedene Anekdoten, auf die Pedro Jorge Castro in seinem Artikel eingeht: «Em 1989, a poeta contou à revista Vida Mundial duas histórias que não aparecem no auto de interrogatório: como se esqueceu de levar cigarros, fumou todo o maço de tabaco do inspector; e quando pediu um copo de água viu-o abrir a porta e gritar para alguém: ‹Tragam um copo de água, mas lavem o copo!› Miguel Sousa Tavares acrescenta mais uma: quando o homem da PIDE a acompanhou à saída, a sua mãe perguntou: ‹Este elevador é seguro?› O agente garantiu que sim, com certeza que era, e Sophia respondeu: ‹Eu só tenho medo de duas coisas na vida: de elevadores e de fantasmas›. Noutro dia, segundo Guilherme d’Oliveira Martins, quando Sophia ia entrar em casa de um amigo, reparou que um agente da PIDE lhe estava a tirar fotos e aproximou-se de forma desconcertante: pediu-lhe o telefone, porque gostava de receber uma cópia do retrato. ‹Esta minha mulher é extraordinária, não viste que era um PIDE?›, reagiu Francisco.» (Vgl. Pedro Jorge Castro: Um casal apaixonado contra Salazar. In: Sábado 519 (10. April 2014) [05. 04. 2017].) 63 Vgl. Sophia de Mello Breyner Andresen/Jorge de Sena: Correspondência (1959–1978). Lisboa: Guerra e Paz Editores 2010, S. 65. 64 «É doloroso verificar como todo o destino colectivo dum povo pode estar sujeito ao capricho ensimesmado dum homem, enredado numa teia sinistra e colossal de ambições, de interesses, de situações adquiridas.» Zitiert bei Pedro Jorge Castro: Um casal apaixonado contra Salazar. In: Sábado 519 (10. April 2014) [05. 04. 2017].
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festo dos 101 católicos», ein offener Brief katholischer Gegner des Regimes, in dem die Kolonialpolitik des Estado Novo kritisiert wurde. Im Januar 1968 wurde Sousa Tavares ein zweites Mal wegen subversiver Aktivitäten gegen den Staat verhaftet. Nach 14 Stunden Verhör und zwei Monaten Isolationshaft blieb er noch bis zum 1. März im Gefängnis von Caxias inhaftiert. Trotz der Gefahr, wie Mário Soares in eine der Kolonien deportiert zu werden, entschied sich die Familie gegen einen Asylantrag in einer der in Lissabon ansässigen Botschaften und blieb in Portugal. Während der Inhaftierung ihres Mannes war Sophia Andresen an der Gründung der geheimen Comissão Nacional de Socorro aos Presos Políticos beteiligt, welche die Familien der politischen Gefangenen unterstützte. Bei den Parlamentswahlen von 1969, den ersten Wahlen nach dem Rückzug Salazars, ließen sich beide Eheleute als Kandidaten in den Listen der Comissão Eleitoral de Unidade Democrática (CEUD), einem Zusammenschluss unterschiedlicher oppositioneller Bewegungen, aufstellen – die Bewegung war jedoch erfolglos.65 Der Umbruch sollte erst fünf Jahre später kommen. Nachdem Marcelo Caetano 1968 das Amt des Ministerpräsidenten übernommen hatte, versuchte dieser das Regime durch vorsichtige Reformen zu stabilisieren, jedoch änderte sich nichts an den Grundstrukturen. Vor allem das Beharren auf den Kolonien sowie die dortigen Kriege wurden immer schärfer auch von Militärs kritisiert. Vor allem diese Kolonialpolitik sollte den Weg zum Wandel vom April 1974 eröffnen.66 Der Lebensweg von Sophia Andresen und ihres Mannes erinnert auch an die Vielfalt der Opposition gegen Salazar, die sich eben nicht allein aus kommunistischem und sozialistischem Widerstand zusammensetzte, sondern auch katholische und bürgerliche Oppositonsbewegungen mit einschloß. Dieser Vielfalt des Widerstandes ist das Werk Sophia Andresens verpflichtet.
65 Vgl. Pedro Jorge Castro: Um casal apaixonado contra Salazar. In: Sábado 519 (10. April 2014)
[05. 04. 2017]. 66 Vgl. Bernecker/Pietschmann: Geschichte Portugals: Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, S. 120 ff.; Valentim Alexandre: Der Estado Novo und das Kolonialreich. In: Fernando Rosas (Hrsg.): Vom Ständestaat zur Demokratie: Portugal im 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg Verlag 1997, S. 75–88; Antonio Reis: Revolution und Demokratisierung. In: Fernando Rosas (Hrsg.). Vom Ständestaat zur Demokratie: Portugal im 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg Verlag 1997, S. 89–106.
I Deus, Pátria, Família: Dichtung und Diskurs Einleitung: Sprache und Diskurs im Estado Novo Sophia de Mello Breyner Andresen entschied sich in ihrem poetischen Werk für eine Ästhetik der sprachlichen Klarheit und der beständigen Erinnerung an humanistische Werte. Dieses allzu oft als ein wenig schlicht missverstandene Ideal ihrer Dichtung stand den dominierenden Ideologien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere der Realität des Estado Novo deutlich entgegen. Der Alltag der Salazar-Diktatur war von einem strengen und drastisch hierarchisierten Diskursgeflecht gekennzeichnet, dessen Grundprinzipien absolute Geltung beanspruchten und in doktrinärer Weise verbreitet wurden, während nichtkonforme Äußerungen durch rigorose Grenzziehungen, durchaus auch mithilfe von Zensur, ausgegliedert wurden. Die auf diese Weise etablierten Hierarchien führten zu einer geschlechts- und klassenbedingten Abstufung des Zugangs zu bestimmten gesellschaftlichen Diskursen.1 Für Autoren jeglicher Art von Texten war die Zensur in diesem System das sichtbarste Zeichen der diskursiven Ausgrenzung. Literarische Texte nehmen in einem dergestalt markierten Diskursgeflecht stets eine besondere Position ein. Rainer Warning hat im Anschluss an Foucault gezeigt, dass literarische Texte aufgrund ihrer inhärenten Ambiguität dazu neigen konterdiskursiv zu sein, da sie sich nie nur einem einzigen herrschenden Diskurs zuordnen lassen. Ihre Literarizität ist markiert von einer Dialektik der Diskurseinbettung und -ausbettung, der Affirmation und Negation.2 Warning macht deutlich, dass für diesen Zusammenhang gerade auch eine Untersuchung von Lyrik hinsichtlich der diskursiven Ein- und Ausbettung fruchtbar sein kann, eben weil ihre genrespezifische
1 Nach Foucault zeichnen sich Diskurse durch Mechanismen von Ein- und Ausgrenzung aus. Einer dieser Mechanismen ist die Verknappung der Sprecher. Vgl. Michel Foucault: L’ordre du discours. Paris: Gallimard 1971, S. 38–39: «Raréfaction, cette fois, des sujets parlants ; nul n’entrera dans l’ordre du discours s’il ne satisfait à certaines exigences ou s’il n’est, d’entrée de jeu, qualifié pour le faire.» 2 Rainer Warning: Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault. In: Ders.: Die Phantasie der Realisten. München: Fink 1999, S. 313–345. Hier S. 318: «Mir geht es darum, dass die Frage nach der Literarizität von Literatur stellbar bleibt, und daraus folgt methodisch das Postulat nach einer Dialektik von Einbettung und Ausbettung. Denn nur und erst diese Dialektik kann Antwort geben auf die Frage, in welchem Maße sich Literatur affirmativ einfügt in diskursive Kontexte, wo sie sich von ihnen distanziert oder sie negiert und wie diese Distanznahmen oder Negationen strukturell wie funktional näherhin zu fassen sind». https://doi.org/10.1515/9783110525144-002
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paradigmatische Organisation der Linearität von Diskursen strukturell entgegensteht.3 Aufgrund der spezifischen diskursiven Grenzziehungen des Estado Novo muss davon ausgegangen werden, dass Inhalte, die sich jenseits der vom Regime bestimmten Grenzen bewegen, nur in einer verdeckten oder verschlüsselten Art und Weise zum Ausdruck gebracht werden konnten, da eine offene, positiv konnotierte Sichtbarmachung von Gegendiskursen oder eine eindeutige Kritik am offiziellen Diskurs unmittelbar zum Veröffentlichungsverbot geführt hätte. Sophia Andresens Poesie bewegte sich auf der Oberfläche ihrer Texte innerhalb der Grenzen des dominanten Regierungsdiskurses; keines ihrer Gedichte ist der Zensur zum Opfer gefallen.4 In welcher Art und Weise in den Tiefenschichten ihres poetischen Schreibens Gegendiskurse zum Ausdruck kommen und welches Verhältnis diese zur Ideologie des Estado Novo einnehmen soll im Folgenden untersucht werden. Dabei soll ihre Poesie in einer komparatistischen Perspektive einerseits mit Auszügen aus Fernando Pessoas Mensagem oder Luís de Camões› Os Lusíadas kontrastiert werden − Werke, die zwar nicht mit der Staatsideologie des Salazarismus verbunden waren, jedoch vom Regime des Estado Novo aufgrund ihrer nationalmythischen Wirkung vereinnahmt und propagandistisch instrumentalisiert wurden. Hinsichtlich Mensagem beginnt diese Vereinahmung 1934 mit der Auszeichnung des Werks mit dem Prémio Antero de Quental, die auf persönliche Empfehlung und Drängen von António Ferro, dem Chef des Secretariado de Propaganda Nacional, erfolgte.5 Fernando Pessoas Patriotismus und Nationalismus sind keineswegs mit der Ideologie des Salazarismus zu verwechseln. Jedoch wurde Mensagem auch auf diese Weise gelesen, zum Beispiel von Alfredo Margarido, der Mensagem eine salazaristische Ästhetik 6 attestierte und das Werk als «obra de exaltação nacional-fascista» 7 bezeichnete. Von dieser Zuschreibung wurde Pessoa endgültig nach 1974 in verschiedenen Editionen bis dato unveröffentlichter Texte be-
3 Rainer Warning: Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault, S. 328 ff. 4 Es ist nicht bekannt, ob unter ihren nicht veröffentlichten Gedichten solche dabei sind, von deren Veröffentlichung aus Gründen der Zensurgefahr abgesehen wurde. Nach 1974 wurden Gedichte veröffentlicht, die offen die Regierung und das Zeitgeschehen kritisch in den Blick nehmen, jedoch keine mit einer Datierung vor 1974. 5 Vgl. José Barreto: A poesia política de Fernando Pessoa. In: Abril – Revista do Núcleo de Estudos de Literatura Portuguesa e Africana da UFF 7, Nr. 14 (2015), S. 189–209, hier: S. 199. 6 Alfredo Margarido: Introdução a Fernando Pessoa. In: Ders.: Fernando Pessoa – Santo António, São João, São Pedro. Lisboa: A Regra do Jogo 1986, S. 9–90, hier: S. 12. 7 Alfredo Margarido: Pessoa: na ‹situação› ou na ‹oposição›? In: JL − Jornal de Letras, Artes e Ideias Nr. 177 (26. November 1985), S. 17.
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freit.8 Aus diesen geht hervor, dass Pessoa sich deutlicher vom salazaristischen Regime distanzierte als sein Gedichtband vermuten ließ. Weiterhin werden im Folgenden ausgewählte Gedichte Andresens hinsichtlich ihres Verhältnisses zum salazaristischen Diskurs und den darin enthaltenen zentralen Begriffen untersucht. Einen wichtigen Bezugspunkt für die Gedichtanalysen stellt die lexikologische Untersuchung der Sprache des Salazarismus von Michael Scotti-Rosin9 dar. Das Korpus von Scotti-Rosins Studie umfasst veröffentlichte, nichtfiktionale Texte 10 aus dem Zeitraum von 1928 bis 1940:11 Zeitungsartikel und -kommentare aus verschiedenen Presseorganen, die in vier Bänden veröffentlichten Reden Salazars sowie ideologisch-doktrinäre Veröffentlichungen von António Ferro und anderen wichtigen Vertretern des Regimes. Die Studie belegt nachdrücklich, dass der Salazarismus nicht, wie vielfach behauptet, auf reinem Pragmatismus, sondern sehr wohl auf einer Staatsideologie beruhte. Drei zentrale Schlagwörter der Salazar-Ideologie,12 die in dem emblematischen Motto «Deus, Pátria, Família» vereint sind, strukturieren dieses Kapitel. Der ideologiegesättigte Diskurs war auch von Begriffen wie ordem und paz,13
8 Vgl. Fernando Pessoa: Da República (1910–1935). Hrsg. von Joel Serrão. Lissabon: Àtica 1978; Fernando Pessoa: Pessoa Inédito. Hrsg. von Teresa Rita Lopes. Lissabon: Livros Horizonte 1993; Fernando Pessoa: Contra Salazar. Hrsg. von António Lourenço. Coimbra: Angelus Novus 2008; Fernando Pessoa: Sobre o Fascismo, a Ditadura Militar e Salazar. Hrsg. von José Barreto. Lisboa: Tinta-da-China 2015. Vgl. auch die Studien von João Alves das Neves: Fernando Pessoa, Salazar e o Estado Novo. Santo André, SP: Fabricando Ideias 2009, und von José Barreto: A poesia política de Fernando Pessoa. In: Abril – Revista do Núcleo de Estudos de Literatura Portuguesa e Africana da UFF 7, Nr. 14 (2015), S. 189–209. 9 Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen. Frankfurt am Main: Peter D. Lang 1982 (Europäische Hochschulschriften: Reihe XXIV, Ibero-roman. Sprachen u. Literaturen; Bd. 14). 10 Scotti-Rosin gibt an, es gebe im von ihm untersuchten Zeitraum keine fiktionalen portugiesischen Texte, die eine Nähe zur herrschenden Ideologie erkennen ließen, vgl. Michael ScottiRosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 39. 11 Zu diesem Zeitpunkt gilt der Ausbau des Estado Novo als abgeschlossen, vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 10. 12 Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 209–294. 13 Scotti-Rosin belegt, dass paz hier ausschließlich in der Bedeutung von tranquilidade (dt. ‹Ruhe›) verwendet wurde, vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 219–221.
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sacrifício und dever sowie moral und verdade markiert, die sich jedoch wiederum auf die hier im Fokus stehende Trinität von Deus, pátria und família beziehen lassen. Diese drei Grundsäulen der salazaristischen Ideologie sind in einem Poster der Serie «A Lição de Salazar»,14 die ab 1938 in allen portugiesischen Schulen ausgestellt wurde,15 besonders anschaulich dargestellt worden. Die dargestellte Szene zeigt den Innenraum eines perfekten portugiesischen Zuhauses: einfach, ländlich, patriarchalisch und christlich. Die Mutter kocht an der Feuerstelle, der Vater kehrt von der Landarbeit heim und wird von seinen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, begrüßt. Das Kruzifix im Zentrum des Bildes sowie Brot und Wein auf dem gedeckten Tisch verweisen auf das christliche Messopfer. Das Fehlen von Büchern und Zeitungen im Haus lassen eine geringe Bildung vermuten; es gibt weder Strom noch fließendes Wasser und nicht das geringste Anzeichen von Fortschritt oder urbanem Leben. Durch das geöffnete Fenster sieht man in der Ferne die portugiesische Flagge über einem castelo wehen, das wiederum die ruhmreiche portugiesische Geschichte repräsentiert. Hier wird nicht nur die Wunschvorstellung der portugiesischen Familie abgebildet, sondern darüber hinaus ebenso die vermeintlich harmonische Ordnung des Staates. Am linken unteren Bildrand werden die drei Schlagwörter als «trilogia da educação nacional» bezeichnet und somit zu den grundsätzlich zu vermittelnden Werten des Estado Novo erklärt. In diesem Wertesystem existierte das Individuum nur als Teil einer Familie, die die kleinstmögliche Einheit der Gesellschaft bilden sollte. Ein cidadão, also im Sinne der Französischen Revolution freier Bürger, hatte in diesem System keine Legitimation und galt als Feind.16 So ist der Aufstieg Salazars auch als ein Sieg des ruralen Portugals über die Interessen des urbanen Bürgertums zu verstehen.17 In der Folge wurden auch traditionelle Rollenbilder gestärkt, um
14 Jaime Martins Barata: A lição de Salazar: Deus, Pátria, Família – a trilogia da educação nacional. Design de Martins Barata, 1 cartaz: color.; 78 × 113 cm. In: Escola Portuguesa. Edição no 10o aniversário da investidura de Oliveira Salazar na pasta das Finanças. Lisboa: Bertrand Irmãos 1938 [05. 04. 2017]. 15 Vgl. Luís Reis Torgal: Estados novos, estado novo: ensaios de história política e cultural. Volume 2. Coimbra: Imprensa da Universidade de Coimbra ²2009, S. 303. 16 Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 257. 17 Vgl. José António Saraiva: Do Estado Novo à Segunda República. Crónica de um Tempo Português. Lisboa: Amadora Livraria Bertrand 1974, S. 57: »A República tinha sido a vitória da cidade sobre o campo – Salazar vai fazer reviver uma ordem agrária e provinciana. A República tinha sido a vitória duma pequena-burguesia urbana em ascensão – Salazar vai fazer assenter o poder numa aristocratia latifundária. A República tinha sido a ‹abertura à Europa› – Salazar vai decretar um nacionalismo satisfeito consigo próprio.»
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deren Aufbrechen durch urbane Erfahrungshorizonte zu verhindern. Während Männer durch ihren Beruf noch andere gesellschaftliche Verpflichtungen eingehen konnten, war die Rolle der Frau ausschließlich an die Familie gebunden. Jede andere Tätigkeit wurde vom Regime als unmoralisch dargestellt, Frauen galten darüber hinaus als nicht voll geschäftsfähig und unterstanden in jeder Hinsicht der Autorität des Ehemannes und Familienvaters.18 Im salazaristischen Diskurs wurde der Begriff família häufig gleichbedeutend für die Nation verwendet und die mit der Familie verbundenen Konnotationen mitsamt der innerfamiliären Hierarchie auf den Staat übertragen: Salazar präsentierte sich als Familienvater, der mit angemessener Strenge für ordem und paz sorgte. Wie in der Familie sollte auch im Staat jeder seinen ihm zugedachten Platz einnehmen, so dass die hierarchische Ordnung gesichert war.19 Zur weiteren Sicherung der Ordnung diente die Betonung von sacrifício und dever. In allen Bereichen wurden von der Bevölkerung Opfer erwartet, die als zu erfüllende Pflicht gegenüber der Nation gefordert wurden.20 Der Salazar-Diskurs machte seine Zeitgenossen zu einer geopferten Generation, die sich zum Wohl ihrer Kinder und der Zukunft der Nation der harten Sparpolitik Salazars zu unterwerfen hatte. Die Verantwortung für die zu erbringenden Opfer wurde der Generation vor 1926 zugeschrieben, die über ihre Verhältnisse gelebt habe.21 Vor diesem Hintergrund galt Arbeit in all ihren Ausformungen als eine nationale Pflicht.22 Wer jedoch lerne, die geforderten Opfer nicht nur zu bringen, sondern dies auch noch mit Freuden zu tun, wurde von Salazar zum Heiligen erklärt.23 Die Glorifizierung der Armut und die mit Nationalstolz zu erfüllende Pflicht der Aufopferung gingen einher mit
18 Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 258. Dies war in der BRD bis zu Beginn der 1970er Jahre ebenso der Fall und in anderen westeuropäischen Ländern ähnlich. 19 Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 258–259. 20 Scotti-Rosin weist darauf hin, dass ein religiöser Bezug im portugiesischen Gebrauch des Wortes zu dieser Zeit nicht vorliegt. Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 223. 21 Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 223–225. 22 Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 227. Durch die verhinderte Industrialisierung war der Begriff Arbeit vornehmlich auf Land- und Hausarbeit gemünzt. Eine Arbeiterbewegung gab es folglich in Portugal nicht. 23 Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 224.
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einem mystisch-nostalgischen Spiritualismus, durch den Salazar sich selbst und seine Politik in eine metaphysische Sphäre erhob. So legitimierte er auch seine Kolonialpolitik nicht durch ökonomische Interessen, sondern deutete das portugiesische Imperium als eine ewige, universelle Idee und seinen Erhalt als religiöse und kulturelle Verpflichtung, die in der Verteidigung der christlichen Zivilisation bestünde.24 Der Begriff des Materialismus war in all seinen Facetten negativ konnotiert, nicht nur als Synonym zu Liberalismus und Marxismus, sondern auch in der Bedeutung von Fortschritt und Wohlstand.25 Nach 1933 galten alle politischen Gegner, ganz gleich aus welchem Lager sie stammten, als Kommunisten, obwohl die Kommunistische Partei Portugals eigentlich keine ernsthafte Bedrohung für das Regime darstellte. Scotti-Rosin führt dazu aus, dass das Wort comunismo in der Sprache Salazars nicht nur die kommunistische Partei Portugals, sondern in vereinfachender Weise alle Bewegungen und Phänomene einschloss, die im Salazarismus negativ konnotiert waren, wie beispielsweise Atheismus, Protestantismus, Emanzipation, Industrialisierung, Demokratie, ja sogar Kapitalismus.26 Zwar wurde im Estado Novo der Katholizismus nicht zur Staatsreligion erklärt und auch die Beziehung des Regimes zur Kirche gestaltete sich zunehmend schwierig.27 Dennoch wurde der Glaube an Gott im salazaristischen Diskurs als einer der Grundpfeiler präsentiert und die Kirche zum Wächter über Tugend und Moral erklärt: Às almas dilaceradas pela dúvida e o negativismo do século procuramos restituir o conforto das grandes certezas. Não discutimos Deus e a virtude; não discutimos a Pátria e sua História; não discutimos a autoridade e o seu prestígio; não discutimos a família e a sua moral; não discutimos a glória do trabalho e o seu dever. Assim se assentaram os grandes pilares do edifício e se construiu a paz, a ordem, a união dos portugueses, o Estado forte, a autoridade prestigiada, a administração honesta, o revigoramento da economia, o sentimento patriótico.28 [Hervorhebung d. Verf.]
24 Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 266–269. 25 Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 292–293. 26 Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 287. 27 Vgl. Manuel Braga da Cruz: Der Estado Novo und die katholische Kirche. In: Fernando Rosas (Hrsg.): Vom Ständestaat zur Demokratie: Portugal im 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 1997, S. 49–63. 28 António Oliveira Salazar: As grandes certezas da Revolução Nacional. Discurso pronunciado em Braga, no 10º aniversário do 28 de Maio 1936. In: Ders.: Discursos Vol. II (1935–1937). Coimbra 1937, S. 130.
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Durch die wiederholte Formel «não discutimos» 29 machte sich der Salazarismus zur unantastbaren Doktrin,30 so dass alle abweichenden Auffassungen unmittelbar als feindlich eingeordnet wurden. Diese diskursive Grenzziehung hatte vor allem Folgen in Bezug auf die Zugehörigkeit zur pátria. Scotti-Rosin belegt, dass «Estado Novo» als Bezeichnung der Staats- und Regierungsform synonym mit pátria und nação verwendet wurde. Die Machthaber erhoben somit den Anspruch einer allumfassenden nationalen Autorität, inklusive einer Deutungshoheit über das Wesen der Portugiesen. Demnach ließen sich alle Ansichten, die nicht mit der offiziellen Doktrin der Regierung übereinstimmten, nicht nur als regierungsfeindlich, sondern als anti-portugiesisch werten.31 Durch das Zusammenfallen der Grenze der Regierungsdoktrin mit der Grenze der Nation verlor jeder, der sich außerhalb des Regierungsdiskurses positionierte, augenblicklich seine Zugehörigkeit zur Nation, denn für einen Gegendiskurs war in diesem System kein Platz. Umgekehrt bedeutete eine Selbstpositionierung außerhalb der Nation eine Distanzierung vom Regime, wie im Folgenden an ausgewählten Gedichtbeispielen von Sophia Andresen gezeigt werden soll, in der das lyrische Ich unter anderem aus dem Exil spricht. Der Diskursdruck des Regimes sollte für Ordnung sorgen, Harmonie erzwingen, er sollte zähmen, beruhigen und Grenzen aufzeigen. Dabei wurde die Freiheit auf Selbstbestimmung, Meinungsfreiheit und Privatheit systematisch ausgeschlossen, indem alle Bereiche des Lebens dem Wohl des Staates und der Gemeinschaft untergeordnet wurden. Sophia Andresen konfrontierte dieses sich in allen Sphären des Lebens diskursiv manifestierende Vereinheitlichungsstreben der portugiesischen Gesellschaft mit Beobachtungen und Reflexionen über eine heterogene Realität, die sie in ihren Gedichten literarisch bearbeitete. So deutete sie unter anderem etablierte nationalmythische Symbole um, verortete das lyrische Ich außerhalb der Grenzen der pátria und nahm direkt Bezug auf die Lebenswirklichkeit der hart arbeitenden, verarmten Bevölkerung des Landes. 29 Scotti-Rosin bestätigt, dass vor allem die Formulierung «não discutimos Deus» ein häufig wiederkehrendes Syntagma ist. Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 234. 30 Zum Doktrinbegriff vgl. Michel Foucault: L’ordre du discours, S. 43–45, hier S. 45: «La doctrine lie les individus à certains types d’énonciation et leur interdit par conséquent tous les autres ; mais elle se sert, en retour, de certains types d’énonciation pour lier des individus entre eux, et les différencier par là même de tous les autres. La doctrine effectue un double assujettissement : des sujets parlants aux discours, et des discours au groupe, pour le moins virtuel, des individus parlants.» 31 Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 262.
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I.1 Deus: Messianismus und christliche Tugend Der Sebastianismus32 gilt als ein zentrales Propagandainstrument des SalazarRegimes. Derjenige, der am eindringlichsten zur Wiederbelebung des literarischen Sebastianismus in der portugiesischen Moderne beigetragen hat, ist Fernando Pessoa, der 1934 in seinem Band Mensagem seiner Vision von Portugals Zukunft Ausdruck verlieh. Sophia Andresens Gedicht «O Vidente» 33 enthält explizite und implizite Bezüge zu Pessoas Erkundungen des Sebastianismus und macht zugleich deutlich, wie sich die Autorin dichterisch dem herrschenden Diskurs annäherte, um dessen Untiefen und Gefahren offenzulegen. Anhand von zwei weiteren ausgewählten Gedichten, «A Anémona dos Dias» und «Profetas falsos vieram em teu nome», kann nachvollzogen werden, wie Sophia Andresen die Begriffe ‹Prophet› und ‹Messias› aus dem nationalistischen Diskurs aufnahm, aber ins Leere laufen ließ und somit ihrer Legitimation enthob. Andere Gedichte der Autorin legen den Fokus auf moralische Fragen und problematisieren die alltägliche Verbindung von Religion und Politik. In den poetischen Texten «As pessoas sensíveis» und «A veste dos Fariseus» kann gezeigt werden, wie Sophia Andresen mit intertextuellem Rückgriff auf die Heilige Schrift die Kluft zwischen ethischem Anspruch und praktizierter Religion sichtbar macht. Dabei steht auch die portugiesische Institution der katholischen Kirche, im Estado Novo einer der wichtigsten Stützpfeiler des Regimes, im Zentrum der Anklage – im Sinne innerchristlicher Opposition.
I.1.1 «O Vidente»: Demontage des Sebastianismus Im Jahr 1944 veröffentlichte Sophia Andresen in Coimbra ihren ersten Gedichtband mit dem Titel Poesia. Das darin enthaltene Gedicht «O Vidente» hat das Scheitern einer Seherfigur zum Gegenstand, auf dessen Prophezeiungen zuvor die Hoffnungen eines ganzen Volkes lagen. Dabei bezieht sich die Autorin jedoch nicht, wie etwa in anderen ihrer Gedichte, auf berühmte antike Seherfiguren oder -institutionen wie etwa das Orakel von Delphi oder die Seherin Kas-
32 Vgl. Ruth Tobias: Der Sebastianismo in der portugiesischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Zur literarischen Konstruktion und Dekonstruktion nationaler Identität am Beispiel eines Erlösermythos. Frankfurt am Main: TFM 2002. 33 Die vorliegende Arbeit folgt dem Format des Index der Gesamtausgabe: bei Gedichten, denen ein Titel vorangestellt ist, wird dieser in Kursivschrift als Titel des Gedichts angegeben. Bei Gedichten ohne Titel wird der erste Vers in Normalschrift verwendet. Da es sich um nicht selbstständig erschienene Werke handelt, sind sie in der vorliegenden Arbeit zusätzlich in Anführungszeichen gesetzt.
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sandra, sondern sie bedient sich der Symbole und Bilder des sebastianistischen Diskurses. Das Gedicht thematisiert zunächst einen Seher und die Wirkung von dessen Visionen auf ein unbestimmtes Kollektiv. Textsubjekt ist ein lyrisches Wir, das in den ersten fünf Strophen über eine männliche Person spricht, die einerseits durch den Titel und andererseits durch die ihn charakterisierenden Isotopien des Sehens, des Traums und des Lichts als eine Art Seher oder Prophet identifiziert werden kann. O Vidente 34 Vimos o mundo aceso nos seus olhos, E por os ter olhado nós ficámos Penetrados de força e de destino. Ele deu carne àquilo que sonhámos, E a nossa vida abriu-se, iluminada Pelas imagens de oiro que ele vira, Veio dizer-nos qual a nossa raça, Anunciou-nos a pátria nunca vista, E a sua perfeição era o sinal De que as coisas sonhadas existiam. Vimo-lo voltar das multidões Com o olhar azulado de visões Como se tivesse ido sempre só.
34 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 69 [Poesia, 1944]. Laut Manuskript stammt die erste Fassung des Gedichts vom 3. November 1941. Das Gedicht ist dem Dichter und Anthropologen Ruy Cinatti gewidmet, mit dem Sophia Andresen befreundet war. Das Manuskript befindet sich im Nachlass der Autorin in der Portugiesischen Nationalbibliothek und ist auf der Webseite der BNP einsehbar. Vgl. Maria Andresen Sousa Tavares (Hrsg.): Sophia de Mello Breyner Andresen. Momentos e Documentos. Selecção, conteúdos e organização por Maria Andresen Sousa Tavares. Lisboa: BNP 2011 [05. 04. 2017]. Dt.: «Der Seher // Wir sahen die brennende Welt in seinen Augen, / Und weil wir in sie hineingeschaut haben, wurden wir / Durchdrungen von Kraft und von Schicksal. // Er gab dem Fleisch, was wir erträumten, / Und unser Leben öffnete sich, erleuchtet / Durch die goldenen Bilder, die er sah, // Er kam, uns zu sagen, welches unser Volk ist, / Kündigte uns ein nie gesehenes Vaterland an, / Und seine Perfektion war das Zeichen / Dafür, dass die erträumten Dinge existierten. // Wir sahen ihn zurückkehren aus den Mengen, / Mit dem Blick bläulich von Visionen, / Als wäre er immer allein gegangen. // Sein Antlitz war dem Licht zugewandt, / Unversehrt schritt er durch die Gräuel, / Der Seele innerlich wie eine Geschichte. // Und da ist er, gefallen am Rande des Weges, / Er – der aufgebrochen war mit mehr Kraft / Er – der aufgebrochen war in weitere Ferne. / Weshalb hast du ihn so wie ein Zeichen erhoben? / Wir haben so viele Träume in seinen Namen gesetzt! / Wie werden wir über die Kreuzung hinausgehen / An der seine Sternenaugen zerbrachen?» [Übersetzung d. Verf.]
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Tinha a face voltada para a luz, Intacto caminhava entre os horrores, Interior à alma como um conto. E ei-lo caído à beira do caminho, Ele – o que partira com mais força Ele – o que partira pra mais longe. Porque o ergueste assim como um sinal? Pusemos tantos sonhos em seu nome! Como iremos além da encruzilhada Onde os seus olhos de astro se quebraram?
Die ersten fünf Strophen richten den Blick auf die Vergangenheit. Das lyrische Wir sah einst «o mundo aceso nos seus olhos» (V. 1). Die Augen sind hier einerseits Symbol eines geistigen Sehens und verweisen andererseits als Spiegel der Seele bereits im ersten Vers auf die in Vers 16 genannte «alma», die auch bei Pessoa ein zentraler Begriff ist. Die ambivalente Semantik des Partizips «aceso» (V. 1) weist darauf hin, dass die Visionen des Sehers mehrdeutig sind und somit einer Interpretation bedürfen.35 Denn Feuer ist Symbol einer göttlichen Macht 36, die sowohl lebensschaffend als auch lebenszerstörend wirken kann. Der Blick in die Augen des Sehers hat eine eindringliche Wirkung auf das lyrische Wir: «ficámos / Penetrados de força e de destino» (V. 2–3). Die Kraft des Sehers sowie der Glaube an ein vorausgesagtes Schicksal übertragen sich in der Logik dieses Verses auf denjenigen, der in die Augen des Sehers schaut. Das Verb penetrar erinnert dabei an göttliche Pfeile, die eine vorbestimmte Wirkung auf den Getroffenen haben, und verweist wiederum auf eine höhere Instanz. In der zweiten Strophe entpuppt sich der Seher als etwas, das das lyrische Wir bereits in seinen Träumen gesehen hat: «Ele deu carne àquilo que sonhámos» (V. 4). Der Prophet bestätigt somit lediglich eine bereits existente kollektive Vision. Der Ausdruck «deu carne» (V. 4) verleiht dem Seher zusätzlich etwas Mystisches. Er ist die Inkarnation des Göttlichen und hat eine erhellende Wirkung auf das lyrische Wir: «a nossa vida abriu-se, iluminada / Pelas imagens de oiro que ele vira» (V. 5–6). Das Licht erleuchtet den sich hier nun öffnenden rechten Lebensweg. Dies geschieht jedoch nicht durch eine eigene Erkenntnis, sondern allein durch die goldenen und damit göttlichen Bilder, die der Seher in seinen Visionen gesehen hat, nicht jedoch das lyrische Wir. Es wird deutlich,
35 Vgl. Elisabeth Frenzel: Weissagung, Vision, Vorausdeutender Traum. In: Dies.: Motive der Weltliteratur. Stuttgart: Kröner 41992, S. 802–830, hier: S. 802 f. 36 Vgl. Manfred Lurker (Hrsg.): Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart: Kröner 1991, S. 205b.
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dass das Textsubjekt sich nicht mehr auf seinen eigenen Blick verlässt, sondern nur noch durch die Augen des Sehers sieht. Das lyrische Wir erscheint als vollkommen passiv. In der dritten Strophe tritt zur poetischen Allusion der Visionen nun erstmals eine direkte mündliche Prophezeiung: «Veio dizer-nos qual a nossa raça, / Anunciou-nos a pátria nunca vista» (V. 7–8). Die angedeuteten Vorhersagen um die Schlüsselbegriffe raça und pátria bleiben unbestimmt, sie verdeutlichen jedoch, dass das lyrische Wir für eine Nation steht, da es sich hierbei um alte Konzepte nationaler Identität handelt, genauer gesagt: um zentrale Begriffe der faschistischen Bewegungen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa ausbreiteten. Mit der Definition von raça und der Ankündigung einer neuen pátria benennt der Seher im Gedicht nicht nur die Zukunft des Volkes, sondern auch das ‹Wesen›, das es als Volk ausmacht. Die Vollkommenheit des Sehers wird in dieser Strophe wiederum als Bestätigung für bereits Erträumtes angesehen: «E a sua perfeição era o sinal / De que as coisas sonhadas existiam» (V. 9–10). Der Ausdruck «perfeição» (V. 9) lässt den Seher erneut göttlich erscheinen, während die «coisas sonhadas» (V. 10) wiederholt ausdrücken, dass die Prophezeiungen nicht neu sind, sondern wiedererkannt werden. Sie weisen auf ein kollektives Unbewusstes hin, auf ein gemeinsames Vertrauen in eine zukünftige Rettung. Hier ist es wichtig zu erwähnen, dass sowohl schon in der homerischen Odyssee als auch bereits im Alten Testament zwischen bedeutungsvollen beziehungsweise von Gott gesandten und trügerischen Träumen unterschieden wird.37 Es besteht also traditionell eine Unsicherheit, ob man einer Traum-Prophezeiung folgen soll. Der Seher erscheint im Gedicht als das ersehnte göttliche Zeichen – «o sinal» (V. 9) – als eine Art Messias-Gestalt, die diese Unsicherheit beseitigt. In der vierten Strophe wird beschrieben, dass der Seher von einem unbestimmten Ort zurückkehre: «Vimo-lo voltar das multidões» (V. 11). Das Bild der Rückkehr eines Propheten spielt unter anderem auf die ersehnte Rückkehr von Jesus Christus an, die im letzten Buch des Neuen Testaments, der Offenbarung, angekündigt wird.38 Durch die vorangestellten «coisas sonhadas» (V. 10) wird an dieser Stelle des Gedichts auch die erträumte Rückkehr von D. Sebastião ins Spiel gebracht. Der Ausdruck «sempre só» (V. 13), der den «multidões» (V. 11) antithetisch gegenübersteht, verdeutlicht die Sonderstellung des Sehers und die Macht, die er allein über alle anderen hat. Der Bezug zur Apokalypse impliziert die Erwartung einer Wende der Weltgeschichte, die als Unheilsgeschichte aufgefasst wird, auf welche die Erlösung durch das Reich Gottes auf Erden folgt.
37 Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur, S. 803. 38 Offb 19,11–21.
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In der fünften Strophe wird die Hoffnung auf das kommende Heil durch das Licht symbolisiert, dem das Gesicht des Sehers zugewandt ist. Die beschriebene Bewegung verläuft in Richtung der göttlichen Erlösung. Doch zunächst wandert der Seher unbeschadet durch die «horrores» (V. 15), die auf die Schrecken verweisen, die sich in der Apokalypse mit dem Zorn Gottes auf die Erde ergießen.39 Die Unversehrtheit lässt auf seine Unsterblichkeit schließen. Auch hier ist neben der christlichen auch eine sebastianistische Lesart möglich: D. Sebastião kehrte gemäß der Hoffnung seiner Anhänger unversehrt aus der Schlacht von Alcácer-Quibir zurück. Der darauffolgende 16. Vers unterstützt solch eine sebastianistische Lesart: Das lyrische Wir hat den Seher verinnerlicht, er ist Bestandteil seiner Seele: «Interior à alma como um conto» (V. 16). Der durch «conto» erfolgte metapoetische Verweis auf die sebastianistische Literatur beendet die lange Passage im Gedicht zu den Visionen des Sehers, die in der Vergangenheit liegen, mit dem Hinweis, dass es sich dabei um ein vielbearbeitetes literarisches Motiv handele und das vorliegende Gedicht sich auf eben diese Tradition beziehe. Die Verortung der Vision in der bereits erwähnten «alma» (V. 16), der in einer handschriftlichen Version des Textes noch das Pronomen «nossa» 40 vorangestellt war, konkretisiert den Bezug zur sebastianistischen Tradition durch einen intertextuellen Verweis auf Pessoas Mensagem. Der Begriff alma wird in den 44 kurzen Gedichten von Pessoas Werk ganze 23 Male genannt. Für Pessoa ist es «nossa alma interna»,41 wie er sie unter anderem im ersten Teil von Mensagem benennt, oder auch die «grande alma portuguesa», wie es in einem seiner Briefe heißt,42 die aus seiner Sicht das portugiesische Volk ausmacht und auf die er sich in seinem Gedichtband Mensagem immer wieder bezieht. Zudem verweist das Wort «conto» (V. 16) auf einen weiteren wichtigen pessoanischen Begriff, den mytho mitsamt des bekannten Verses «O mytho é o nada que é tudo» 43 aus dem ersten Teil von Mensagem. Darin steckt die pessoanische Vorstellung, dass ein Mythos, obwohl er nicht der Wirklichkeit ent-
39 Offb, 16, 1–21. 40 Vgl. Manuskript im Nachlass von Sophia de Mello Breyner Andresen, BNP Lissabon. In digitalisierter Form hier einsehbar: Maria Andresen Sousa Tavares (Hrsg.): Sophia de Mello Breyner Andresen. Momentos e Documentos. Selecção, conteúdos e organização por Maria Andresen Sousa Tavares. Lisboa: BNP 2011 [05. 04. 2017]. 41 Fernando Pessoa: Mensagem [1934]. Edição Fernando Cabral Martins. Lisboa: Assirio & Alvim 42004, S. 25. 42 Fernando Pessoa: A grande alma portuguesa: a carta ao Conde de Keyserling e outros dois textos inéditos. Lisboa: Lencastre 1988 (Colecçao ̃ Pessoana 2). 43 Fernando Pessoa: Mensagem, S. 19.
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spricht, also in den Worten von Pessoas Gedicht ein Nichts ist, die Macht hat, kollektives Handeln – ob positiv oder negativ – zu beeinflussen, also, wie Pessoa schreibt, alles bedeuten kann. Der Bezug wird umso deutlicher bei der Lektüre des Manuskripts des Gedichts «O Vidente», das im Nachlass von Sophia Andresen in der Biblioteca Nacional in Lissabon einsehbar ist. Dort lautet der Vers nämlich ursprünglich: «Fatal e necessário como um mito».44 So wird evident, dass in der Logik des Gedichts von Sophia Andresen der Wahrheitsgehalt der Seher-Geschichten zweitrangig ist. Wichtiger erscheint, wie tief sie in den Menschen verankert werden und was sie in ihnen auslösen können. Unmittelbar nach dieser zentralen Stelle kommt es in der sechsten Strophe in Vers 17 zur entscheidenden Wendung des Gedichts. Die Sprechinstanz wechselt durch den Ausdruck «E ei-lo» von der Vergangenheit in die Gegenwart. Die Bewegung des Sehers, die mit den Verbformen «Veio» (V. 7), «voltar» (V. 11), «ido» (V. 13), «caminhava» (V. 15) und später auch «partira» (V. 18–19) das Gedicht durchzieht, mündet in einer Momentaufnahme des am Rande des Weges gefallenen Sehers: «caido à beira do caminho» (V. 17). An dieser Stelle wird mit «caminho» erstmals der Chronotopos des Weges beim Namen genannt, der mit den angeführten Verben der Fortbewegung als Metapher des Lebensweges und des göttlichen Plans 45 das Gedicht strukturiert. Der Sturz des Sehers markiert sein Scheitern. In den beiden darauffolgenden Versen wird betont, welche Hoffnung ursprünglich in ihm lag, wenn auf die Anapher «Ele» (V. 18–19) Relativsätze folgen, die seinen anfänglichen Aufbruch in den absoluten Komparativen «com mais força» (V. 18) und «pra mais longe» (V. 19) beschreiben. Daraufhin taucht in der letzten Strophe durch die Apostrophe an ein lyrisches Du erstmals ein Adressat auf: «Porque o ergueste assim como um sinal?» (V. 20). Es wird die höhere Macht angesprochen, die den Seher in seine Machtposition gehoben hat, in der er vom lyrischen Wir als göttlich angesehen wurde. In der Frage schwingt Desillusion und eventuell sogar der Vorwurf der bewussten Täuschung mit, verstärkt durch den folgenden Ausruf: «Pusemos tantos sonhos em seu nome!» (V. 21). So wurde der Seher nur deshalb überhaupt wahrgenommen, weil er als Inkarnation des Göttlichen galt. Die Träume verweisen erneut auf ein kollektives Unbewusstes, auf eine Sehnsucht nach göttlichen Zeichen, welche die Menschen anfällig macht für vermeintlich göttlichen Botschaften, die Voraussagen über ihre Zukunft enthalten. Auch der Traum ist ein wichtiger Bestandteil der sebastianistischen Prophezeiungen. So tauchen sonho und sonhar in flektierter und konjugierter Form auch insgesamt
44 Nachlass Sophia de Mello Breyner Andresen, BNP Lissabon. In digitalisierter Form hier einsehbar: [05. 04. 2017]. 45 Jes 55, 6–9.
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13 Mal in Pessoas Gedichtband Mensagem auf. In Mensagem ist es das lyrische Ich, das träumt. Der Traum ist bei Pessoa der Ort der Visionen. Während Pessoa in einem prophetischen Ton aus der Perspektive des Sehers schreibt, und sich somit selbst als Seher stilisiert, ist in Sophia Andresens Gedicht «O Vidente» durch das lyrische Wir die Sichtweise derjenigen thematisiert, die das Erträumte als kollektives Unbewusstes bereits verinnerlicht haben, das ebenso leicht aktualisiert werden kann, wie die nationalen Mythen von Pessoa in Mensagem aktualisiert wurden. Das Gedicht endet mit einer Frage, die sich über die letzten beiden Verse erstreckt und die sich, nach der Prophezeiung der Vergangenheit und dem Scheitern des Sehers in der Gegenwart, auf die Zukunft bezieht. Dabei wird die Metapher des Weges fortgeführt: «Como iremos além da encruzilhada / Onde os seus olhos de astro se quebraram.» (V. 22–23). Das lyrische Wir ist hier erstmals Subjekt eines Verbs der Bewegung. Zuvor war es passiv und hat lediglich den Seher und seine Prophezeiung wahrgenommen: «Vimos» (V. 1), «Vimo-lo» (V. 11). Nun, nach dem Fall des Sehers und der Enttarnung der vermeintlichen Wahrheit, muss es selbst den Weg weitergehen. Das Nichteintreten der Prophezeiung wird metaphorisch als Kreuzung beschrieben. Das lyrische Wir muss nun selbst entscheiden, welches der richtige Weg ist. Das definitive Scheitern wird durch die Metapher der zerbrochenen «olhos de astro» (V. 23) dargestellt. Durch die Verbindung der Augen mit den Sternen wird nochmals deutlich gemacht, dass eine himmlische Macht aus den Augen des Sehers zu strahlen schien. Am Ende von «O Vidente» steht die Frage, wie es weitergehen soll, nach dem Scheitern eines vermeintlichen Propheten und dem Nichteintreten einer Prophezeiung, in der die Hoffnung eines ganzen Volkes lag. Das Volk erscheint ratlos und handlungsunfähig, da es sich an eine passive, schicksalsergebene Haltung gewöhnt hat. Aus diesem Zustand der Apathie wird es unsanft geweckt. Dieses Dilemma ist nicht nur auf das Volk zu beziehen, das hier durch die nationalistischen Konzepte raça und pátria aufgerufen wird, die zugleich demontiert werden, sondern darüber hinaus auch das europäische Subjekt an sich, das sich Anfang des 20. Jahrhunderts, nach dem Zerfall einer sich auf humanistische Werte stützenden Ordnung, auf die im Gedicht ebenfalls Bezug genommen wird, in einer tiefen Krise befindet. Sophia Andresen evoziert in ihrem Gedicht «O Vidente» die biblischen und messianistischen Komponenten des sebastianistischen Diskurses.46 Doch in ih46 Vgl. António Quadros: Poesia e Filosofia do Mito Sebastianista. II Volume, Polémica, Historia e Teoria do Mito. Lisboa: Guimarães Editores 1983, S. 11 f.: «O sebastianismo foi apresentado pelos seus poetas, prosadores e pensadores em sempre diferentes dosagens de componentes célticas (a manhã de nevoeiro, a ilha encoberta, a pureza do príncipe, o ideal romanesco), bíblicas e messiânicas (o seu carácter profético, redentorista e histórico), pagãs (a «religião sebástica»), cristãs (o martírio, a morte e a ressurreição do Desejado), e católicas (o Quinto
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rem Text gibt es kein glückliches Ende, wie es noch Pessoa in der Apotheose der Nation formulierte. Sophia Andresen besiegelt mit diesem Gedicht vielmehr das Scheitern des nationalen Mythos. Das lyrische Wir steht am Ende vor dem Nichts, da alles, was es mit «raça» und «pátria» verband, an den gefallenen Helden gebunden war und mit ihm untergegangen ist. Das Gedicht offenbart, dass alle Prophezeiungen durchaus mehrdeutig sein können47 und die Möglichkeit einer Fehldeutung in sich tragen. Der Text ist eine kaum verschlüsselte Warnung vor der Apathie, die mit dem Glauben und dem Sich-Ausliefern an einen vermeintlichen Propheten einhergeht, und macht die Orientierungslosigkeit zum Thema, die eintritt, sobald die vermeintliche Wahrheit als Illusion oder gar Lüge enttarnt wird. Sophia Andresen entzieht sich mit diesem Text der Logik der Sebastianisten, die sich auch durch das Nichteintreten einer Prophezeiung nicht entmutigen lassen.48 Das Gedicht ist als eine poetische Demontage eines ideologisierten sebastianistischen Diskurses zu verstehen, der Heilserwartung und Zukunftshoffnung auf einen menschlichen Führer überträgt. Andresen bringt ihren Seher zu Fall und lässt einen zentralen nationalen Mythos scheitern. Das bereits erwähnte lyrische Du in Vers 20 – «Porque o ergueste assim como um sinal?» – richtet sich in einer metapoetischen Lesart auch an den Dichterkollegen, der aus dem Sebastianismo seine nationalistische Utopie nährte: Fernando Pessoa, der 1934, also nur zehn Jahre zuvor, mit seinem Gedichtband Mensagem den literarischen Sebastianismus wiederbelebt und D. Sebastião erneut zu einem nationalen Symbol erhoben hat. Das Werk Mensagem selbst ist eine Aktualisierung nicht nur dieses einen portugiesischen Nationalmythos, sondern es erneuert, nicht zuletzt durch die permanente Bezugnahme auf Os Lusíadas, sämtliche Mythen, die auf die einstige Größe des portugiesischen Reiches und den Glauben an einen erneuten Aufstieg zur Weltmacht verweisen: Pessoa ging es in dem Band um eine geistige Wiedergeburt Portugals. Dabei trägt der Band mit Mensagem das prophetische Signal bereits im Titel. Zwar war Pessoas mythisierende Utopie durch den Sebastianismus genährt, jedoch lag der Schwerpunkt des Gedichtbandes auf dem ‹Wesen› Portugals und der Mission, das Schicksal
Império segundo Vieira, por exemplo). No entanto, todas partem da tragédia do herói mítico, para, como na descida de Cristo aos infernos ou como na Cruxificação, apostar no seu retorno em luz e em glória, para salvar o povo que se transviou ou se perdeu de si próprio». 47 Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur, S. 802 f. 48 Vgl. António Quadros: Poesia e Filosofia do Mito Sebastianista. II Volume, Polémica, Historia e Teoria do Mito, S. 11 f.: «E quando o herói falta ao encontro marcado pela profecia, os sebastianistas não desanimam, porque se trata de um mito de protesto contra o presente decaído e ao mesmo tempo de confiança na salvação futura, mito com raízes fundas no inconsciente colectivo, já não diremos apenas português, mas universalmente humano.»
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Portugals zu vollenden. «Senhor, falta cumprir-se Portugal»,49 so heißt es im zweiten Teil des Bandes. Sophia Andresen bediente sich der gleichen Wortfelder, des gleichen Gegenstands und der gleichen literarischen Form wie Pessoa, wehrte jedoch dessen erhoffte Katabasis ab. Die göttliche Macht steigt in ihrem Text nicht auf die Erde herab, wie es noch bei Pessoa prophezeit wurde. Es kommt stattdessen zum Fall des Propheten. Mit den Konzepten raça 50 und pátria bezieht sich das Gedicht unmittelbar auf zentrale Begriffe der nationalistisch-faschistischen Ideologie und des salazaristischen Diskurses. In «O Vidente» sind sie Bestandteil der Prophezeiung und werden mit dem Scheitern des Sehers als leere Begriffe demontiert. Doch sie bleiben ohne jeden Ersatz. Durch den Fall des Sehers wird eine klare Warnung vor falschen Propheten ausgesprochen. Sophia Andresen gibt dieser Warnung keine explizite politische Alternative bei, jedoch lässt sich in der Hervorhebung einer unausweichlichen Selbstbestimmung des portugiesischen Volkes ein demokratischer Ansatz erkennen. Die Füllung der entleerten Formeln des Sehers überlässt sie folgerichtig ihren Leserinnen und Lesern.
I.1.2 Zeichen der Apokalypse In dem 1958 in Mar Novo erschienenen Gedicht «A Anémona dos Dias» wird nicht nur ein beliebiger Prophet, sondern ein – «um» (V. 6) – Messias thematisiert. A Anémona dos Dias 51 Aquele que profanou o mar E que traiu o arco azul do tempo Falou da sua vitória
49 Fernando Pessoa: Mensagem, S. 49. 50 Scotti-Rosin betont, dass die Salazaristen raça synonym zu nação und povo verwenden und der Begriff ethnische, sprachliche und konfessionelle Gemeinsamkeiten impliziert, nicht jedoch rassische Überlegenheit im Sinne des nationalsozialistischen Begriffs der ‹Rasse› oder dem italienischen ‹razza›. Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 272–273. 51 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 329 [Mar Novo, 1958]. Ursprünglich erschienen in: Jornal da Juventude Universitária Católica Portuguesa Nr. 7 (Jan. 1957), S. 1. Dt.: «Die Anemone der Tage // Derjenige, der das Meer entweihte / Und den blauen Bogen der Zeit verriet / Sprach von seinem Sieg // Er sagte, er habe das Gesetz übertreten / Sprach von seiner Freiheit / Sprach von sich selbst wie von einem Messias // Jedoch sah ich am Boden schmutzig und zertreten / Die transparente Anemone der Tage.» [Übersetzung d. Verf.]
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Disse que tinha ultrapassado a lei Falou da sua liberdade Falou de si próprio como de um Messias Porém eu vi no chão suja e calcada A transparente anémona dos dias.
Ähnlich wie in «O Vidente» ist das Textsubjekt in diesem Gedicht eine unbekannte männliche Person. Im ersten Terzett wird diese näher beschrieben, im zweiten Terzett werden ihr zugeschriebene Aussagen wiedergegeben und im Zweizeiler tritt das lyrische Ich mit seinen eigenen Beobachtungen in den Vordergrund. Bereits im ersten Vers wird durch die Verbform «profanou» (V. 1) die Opposition heilig versus profan aufgebaut. Das Meer erscheint als Raum, der zum Bereich des Sakralen zählte, jedoch durch die Macht des «Aquele» (V. 1) entweiht wurde: «Aquele que profanou o mar» (V. 1). Das Meer gilt vor allem in den Kulturen der Antike als ein heiliger Ort, der von Meeresgöttern bewohnt wird. Im zitierten ersten Vers des Gedichts wird dieser Ort durch ‹Jenen› profaniert, durch einen Einzelnen, der den verschiedenen Meeresgottheiten antithetisch gegenübersteht. Auch im zweiten Vers werden die Kulturen der Antike metaphorisch aufgerufen. So verweist der «arco azul do tempo» (V. 2) auf die den Tag abschließende und einleitende Dämmerung, in welcher der Himmel in tiefblaues Licht gefärbt ist. Gleichzeitig markiert die Dämmerung eine Grenze, welche die Zeit in Tag und Nacht einteilt. Der Bogen bildet zudem vor allem in Verbindung mit der auf Meer und Himmel verweisenden blauen Farbe den aufgrund der Erdkrümmung bogenförmigen Horizont ab. Die Darstellung der Zeit als Bogen verweist auf eine zirkuläre Zeitvorstellung und somit ebenso auf den Wechsel von Tag und Nacht. Insgesamt beruht diese Vorstellung auf natürlichen Abläufen sowie der regelmäßigen Wiederkehr von Dingen und Phänomenen, wie auch dem Wechsel von Ebbe und Flut oder der Jahreszeiten. Auch die zirkuläre Zeitvorstellung, die ebenso wie das heilige Meer den antiken Kulturen zuzuordnen ist, wird durch «Aquele» (V. 1) korrumpiert: «E que traiu o arco azul do tempo» (V. 2). Der Untergang dieser Kultur wird durch den in Vers drei verkündeten Sieg des Zerstörers angekündigt: «Falou da sua vitória» (V. 3). Durch die Verkündung des Sieges und die zuvor beschriebene Zerstörung einer bestehenden und konventionell etablierten Ordnung von Raum- und Zeitvorstellungen wird die Tat zu einem Wendepunkt erklärt. Es ist jedoch der Täter selbst, der diesen Paradigmenwechsel verkündet. Die Fortführung seiner Aussagen in indirekter Rede hebt dies in der zweiten Strophe deutlich hervor: «Disse que tinha ultrapassado a lei» (V. 4). Das Übertreten des Gesetzes verweist wiederum auf eine alte Ordnung, die nicht mehr befolgt wurde. Genauso
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zeugt der folgende Vers, «Falou da sua liberdade» (V. 5), von einer Loslösung von jeglichen Regeln, die als befreiender Wendepunkt aufgenommen wird. Durch die anaphorische Verwendung von «Falou» (V. 3, 5, 6) wird zusätzlich zur indirekten Rede weiterhin unterstrichen, dass es sich um die Wiedergabe eines Narrativs handelt. Der sechste Vers bildet den Abschluss dieser syntaktisch regelmäßigen Reihe: «Falou de si próprio como de um Messias» (V. 6). Mit dem Begriff des Messias wird ein klarer Bezug zu den abrahamitischen Religionen hergestellt und gleichzeitig auf die wichtigste Unterscheidung angespielt. Während sowohl im Judentum als auch im Islam ein Erlöser erwartet wird, der erst in der Endzeit auftaucht, gilt im Christentum Jesus von Nazareth als Messias. Ob dieser sich auch selbst als Messias bezeichnete, ist umstritten, da er den Begriff Menschensohn, hebräisch ben adam, benutzt,52 was in der Bibelexegese unterschiedlich ausgelegt wird. Auch im Gedicht ist nicht eindeutig, ob sich der Betreffende selbst als Messias bezeichnet, da es sich stilistisch um einen Vergleich des lyrischen Ichs handelt, «Falou de si próprio como de um Messias» (V. 6). Es ist das lyrische Ich, das die messianischen Ambitionen in seiner Rede erkennt. Die einfache Erwähnung des Messias liefert bereits einen deutlichen Verweis darauf, dass hier der zuvor angedeuteten Ordnung, die sich durch Polytheismus und eine zirkuläre Zeitvorstellung auszeichnet, eine monotheistische Theokratie antithetisch gegenübergestellt wird, die die alte Ordnung ablöst und linear auf eine Offenbarung und die Erscheinung eines Messias zuläuft. Die Verwendung der indirekten Wiedergabe durch «Falou» (V. 3, 5, 6) und «Disse» (V. 4) vermittelt eine deutliche Distanz des lyrischen Ichs gegenüber dieser Entwicklung. Dieser Eindruck wird durch die dritte Strophe verstärkt: «Porém eu vi no chão suja e calcada / A transparente anémona dos dias.» (V. 7–8). In «eu vi» (V. 7) tritt das lyrische Ich in Erscheinung, das seine Beobachtungen schildert. Durch den Verweis auf den Sehsinn wird das daraufhin Geschilderte über die zuvor übermittelten Geschehnisse gestellt, da diese indirekt wiedergegeben wurden, während «eu vi» (V. 7) einen bezeugenden Charakter hat. Durch die Konjunktion «Porém» (V. 7) wird zu Beginn dieser Strophe deutlich, dass das Gesehene im Gegensatz zu dem bereits Gesagtem steht und das lyrische Ich folglich keinen Messias sieht. Stattdessen sieht es die «anémona dos dias» (V. 8), die sowohl den Titel als auch den Schluss des Gedichts bildet und durch diese markanten Positionen hervorgehoben wird. Zudem bilden «anémona dos dias» (V. 8) und «Messias» (V. 6) den einzigen Reim des Gedichts, was die anti-
52 Vgl. Mk 14,62 (EU): «Jesus sagte: Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen.»
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thetische Gegenüberstellung zusätzlich unterstreicht und durch die lautliche Hervorhebung von «dias» (V. 8) wiederum den Fokus auf die Zeit legt. Die Anemone ist zunächst eine Blume, die hier als schmutzig und zertreten dargestellt ist, und deren Transparenz ihre Zerbrechlichkeit unterstreicht. Tatsächlich galt die Anemone als empfindliches Gewächs, was aus der ursprünglichen Herleitung ihres Namens aus dem Griechischen resultierte. Unter anderem ging Theophrastos davon aus, der Begriff Anemone sei volksetymologisch vom griechischen Wort für Wind, ánemos, abgeleitet worden, weil ihre Blätter leicht mit dem Wind verwehten. Diese Herleitung wiederholt auch Ovid in seiner Bearbeitung des Adonis-Mythos in den Metamorphosen.53 Helmut Genaust weist jedoch darauf hin, dass diese Erklärung den botanischen Tatsachen widerspreche, da sogar in alpinen Regionen die dort ansässigen Arten den rauesten Winden widerstehen, und hält eine andere Etymologie für einleuchtender. Demnach ist der Name orientalischer Herkunft. Die Einbettung in den AdonisMythos lässt sich demzufolge durch den semitischen Beinamen des Adonis, Nɑ’ɑmān, begründen, der im Arabischen mit Artikel ɑn-nu’mān lautet, was Blut bedeutet und auf das Blut des Adonis und die Farbe einer Anemonenart verweist.54 Adonis ist ein griechischer Heros asiatischen Ursprungs. Aphrodite verliebte sich in den Jüngling und in einer Version des Mythos konkurriert sie mit Persephone um ihn. In einer anderen Version verliebt sich nur Aphrodite in Adonis und verbringt viel Zeit mit ihm. Er wird noch als Jüngling von einem Eber getötet und die untröstliche Aphrodite lässt aus seinem Blut eine Anemone sprießen.55 Spätere Schriftsteller fügten dem Mythos hinzu, Aphrodite sei in die Unterwelt hinabgestiegen und habe bewirkt, dass Adonis fortan die Hälfte des Jahres in der Oberwelt leben dürfe. Er gilt seither als Personifikation der Vegetation und der Wiederkehr der schönen Jahreszeiten, wofür er auch im Adoniskult gefeiert wird.56
53 Vgl. Ovid: Metamorphosen, Zehntes Buch, V. 735 ff. (Ovid: Metamorphosen. Lateinisch/ Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht. Stuttgart: Reclam 1994, S. 560–561). 54 Vgl. Helmut Genaust: Etymologisches Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen. Hamburg: Nikol 32012, S. 62b–63a; Friedhelm Sauerhoff: Etymologisches Wörterbuch der Pflanzennamen. Die Herkunft der wissenschaftlichen, deutschen, englischen und französischen Namen. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft ²2004, S. 52. 55 Edward Tripp: Adonis. In: Ders. Reclams Lexikon der antiken Mythologie. Stuttgart: Reclam 7 2001. 56 Roscher: Adonis. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 1. Leipzig 1886, S. 69–77.
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Im Gedicht steht die Anemone, auch Adonisröschen genannt, somit einerseits für das Blut, dass beim Tode des Adonis vergossen wurde und woraus die Pflanze dem Mythos nach entstanden ist. Das Bild der zertretenen Anemone bestätigt zudem die Zerstörung der Ordnung, für die der Mythos steht. Andererseits spiegelt sich darin das Thema der Auferstehung, die sich im AdonisMythos alljährlich wiederholt und somit einen zirkulären Charakter hat. Die Geschichte vom Tod und der Auferstehung des christlichen Messias, auf den im sechsten Vers unter anderem Bezug genommen wird, wird durch die Kontextualisierung mit dem Adonis-Mythos in die Tradition älterer Auferstehungsmythen gestellt und somit als wiederkehrender Mythos präsentiert. Das poetische Bild der Anemone enthält eine Fülle von Bedeutungen. Entscheidend ist jedoch auch, dass das lyrische Ich sie erkennen kann, obwohl sie schmutzig und zertreten ist. Es lässt sich nicht ablenken von den Worten, die es hört. Es folgt seinen Augen, nicht seinen Ohren. So wird dem blinden Messianismus eine aufmerksame Beobachtung des Realen gegenübergestellt. Aus dieser realistischen Beobachtung lässt sich durch die metaphorische Seite der Anemone ein Bogen zurück zur antiken Kultur ziehen. So wird die linear ausgerichtete messianische Erwartung in diese zirkuläre Bewegung eingeschlossen, als ein Narrativ, das immer wiederkehrt. In den ersten sechs Versen werden den Worten (V. 3–6) des vermeintlichen Messias seine Taten (V. 1–2) gegenübergestellt und dabei ein Missverhältnis konstatiert. Zum einen sind die seine Handlungen kennzeichnenden Verben profanar und trair negativ konnotiert und entsprechen keineswegs den messianischen Erwartungen. Zum anderen besteht auch quantitativ eine Inkongruenz, denn während von seinen Taten in zwei Versen berichtet wird, erstreckt sich die Wiedergabe seiner Rede über vier Verse und ist somit doppelt so lang. Seine vielen Worte sprechen jedoch ebenfalls nicht dafür, dass es sich bei ihm um einen Messias handelt.57 Denn die vermeintlichen Errungenschaften, die
57 So werden auch die falschen Propheten in der Bibel beschrieben (Mt 7,15–23, EU): «15 Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie (harmlose) Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe. 16An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Erntet man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? 17 Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, ein schlechter Baum aber schlechte. 18 Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten. 19 Jeder Baum, der keine guten Früchte hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. 20An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen. 21 Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt. 22 Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in deinem Namen als Propheten aufgetreten und haben wir nicht mit deinem Namen Dämonen ausgetrieben und mit deinem Namen viele Wunder vollbracht? 23 Dann werde ich ihnen antworten: Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Übertreter des Gesetzes!»
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präsentiert werden, sind ausschließlich auf seine Person bezogen: «da sua vitória» (V. 3), «tinha ultrapassado» (V. 4), «da sua liberdade» (V. 5), «de si próprio» (V. 6). Es wird ein angeblicher Messias präsentiert, dem ein Volk fehlt. Der Begriff des Messias wird durch diese Kontextualisierung zu einer leichtfertig verwendeten leeren Hülle ohne Signifikat, was vor allem in der Gegenüberstellung mit der Fülle an Assoziationen, die von «anémona» (V. 8) ausgehen, evident wird. Der Blick zur Anemone ist gleichzeitig eine Abwendung des lyrischen Ichs von dem selbsternannten Messias und der Instrumentalisierung der Religionen für Machtinteressen Einzelner. In der Hinwendung zur verletzten Anemone drückt sich eine Sehnsucht nach einer anderen, einer göttlichen Welt ohne Propheten aus. Das Thema der falschen Prophetie wird auch in einem weiteren Gedicht aus dem Band Mar Novo zum Gegenstand, in dem Text «Profetas falsos vieram em teu nome». Profetas falsos vieram em teu nome Anjos errados disseram que tu eras Um poema frustrado Na angústia sem razão das Primaveras Porém eu sei que tu és a verdade E és o caminho transparente e puro Embora eu não te encontre e no obscuro Mundo das sombras morra de saudade.58
Im ersten Quartett dieses Gedichts wird eine von falschen Propheten und irrenden Engeln heimgesuchte Welt geschildert, der im zweiten Quartett der unerschütterliche Glaube des lyrischen Ichs gegenübergestellt wird. Das lyrische Du, in dessen Namen die Propheten und Engel handeln, wird in beiden Quartetten angesprochen und verbindet diese miteinander. Es ist das gleiche Du, an das auch das lyrische Ich zu glauben bezeugt. Durch die synonymen Attribute «falsos» (V. 1) und «errados» (V. 2) wird betont, dass es sich bei den in der Vergangenheit erlebten Propheten und Engeln aus der Sicht des lyrischen Ichs nicht um echte Gesandte Gottes handelt. Das lyrische Du wird von den Engeln als ein «poema frustrado» (V. 3) bezeich-
58 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 319 [Mar Novo, 1958]. Dt.: «Falsche Propheten kamen in deinem Namen / Irrtümliche Engel sagten du seiest / Ein gescheitertes Gedicht / In der grundlosen Beklemmung der Frühjahre // Jedoch weiß ich, dass du die Wahrheit bist / Und du bist der transparente und reine Weg / Obwohl ich dich nicht finde und in der dunklen / Welt der Schatten vor Sehnsucht vergehe.» [Übersetzung d. Verf.]
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net. Dieser Ausdruck wird graphisch und metrisch abgebildet, da an eben dieser Stelle am Ende des dritten Verses, der zu erwartende Kreuzreim verhindert wird. Während «eras» (V. 2) und «Primaveras» (V. 4) einen Reim bilden, bleibt «nome» (V. 1) ohne lautliche Äquivalenz. Stattdessen entsteht an der Stelle, an welcher der Reim zu erwarten wäre, eine Pause, da der dritte Vers auffallend kürzer ist als die restlichen des Quartetts. Die Pause sticht durch das Enjambement, das den zweiten und dritten Vers verbindet, noch stärker hervor, da sie den dadurch zunächst entstehenden Eindruck eines fließenden Rhythmus abrupt unterbricht. Somit wird allein durch diese Stelle ein regelmäßiges Versmaß verhindert, da bis auf den dritten Vers das gesamte Gedicht im verso hendecassílabo gehalten ist. Die Metapher des gescheiterten Gedichts, mit der die göttliche Instanz von den Engeln benannt wird, wird durch den Eindruck der Unvollständigkeit somit auch auf syntaktischer Ebene abgebildet und graphisch sichtbar gemacht. Die Metapher eröffnet mehrere Lesarten. Das Gedicht ist zunächst ein lyrisches Kunstwerk und damit ein vom Menschen produzierter Text, der einer Interpretation bedarf. Ebenso müssen auch religiöse Texte interpretiert werden, um sie zu verstehen, was in der Geschichte der Exegese heiliger Schriften nicht selten zu Auslegungs- und Glaubensstreitigkeiten führte. Entsprechend erscheint das Göttliche hier als etwas Rätselhaftes, das es zu interpretieren gilt. Durch das Attribut «frustrado» (V. 3) wird deutlich, dass mit dem Gedicht eine Enttäuschung verbunden ist. Die Enttäuschung ist zudem in einen düsteren Kontext gebettet: «Na angústia sem razão das Primaveras» (V. 4). Die «angústia» (V. 4) beschreibt ein Gefühl der Beklemmung und Angst, das hier als grundlos bezeichnet und im Frühling verortet wird. Durch die Pluralform «das Primaveras» (V. 4) wird eine Regelmäßigkeit ausgedrückt, so dass der jährlich wiederkehrende Frühling immer jenes Gefühl der Beklemmung mit sich bringt. Das zirkulär wiederkehrende Erwachen der Natur, das grundsätzlich positiv konnotiert ist, wird hier als unheimliche Erfahrung beschrieben, was auf die Unerklärlichkeit des göttlichen Rätsels zurückgeführt werden kann, das jeden, der versucht es zu entschlüsseln, enttäuschen muss. Das zweite Quartett beginnt, ähnlich wie die letzte Strophe in «A Anémona dos Dias» – «Porém eu vi» (V. 7) –, mit einer Aussage des lyrischen Ichs, die dem Versuch einer Gegendarstellung gleichkommt: «Porém eu sei que tu és a verdade / E és o caminho transparente e puro» (V. 5–6). Die Formulierung «eu sei» (V. 5) drückt eine Gewissheit aus, die impliziert, dass für das lyrische Ich keine Interpretation nötig ist, sondern es alles klar vor Augen hat. Dies wird durch die Verwendung des Präsens im gesamten Quartett unterstrichen. Für das lyrische Ich ist Gott kein «poema frustrado» (V. 3), sondern «a verdade» (V. 5) und «o caminho transparente e puro» (V. 6). Mit «caminho» wird, wie
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auch in «O Vidente», metaphorisch auf den Lebensweg und den göttlichen Plan verwiesen, dem sich das lyrische Ich an dieser Stelle vertrauensvoll hingibt. Es wird in diesen Versen eine Klarheit und Sicherheit ausgedrückt, die auch durch Enttäuschung nicht erschüttert werden kann: «Embora eu não te encontre e no obscuro / Mundo das sombras morra de saudade» (V. 7–8). Auch die Dunkelheit, die durch «obscuro» (V. 7) und «sombras» (V. 8) tautologisch verstärkt wird und eine Antithese zu «transparente e puro» (V. 6) bildet, kann die Gewissheit des lyrischen Ichs nicht erschüttern. Und die vergebliche Suche nach dem lyrischen Du führt lediglich zu einer größer werdenden Sehnsucht. Die innere Klarheit und Stärke des lyrischen Ichs werden im zweiten Quartett auch durch das im Gegensatz zum ersten Quartett regelmäßige elfsilbige Versmaß und den umschließenden Reim unterstrichen. Das die Verse sieben und acht verbindende Enjambement «no obscuro / Mundo das sombras» (V. 7–8) ist zwar härter als das des ersten Quartetts, jedoch verläuft der achte Vers regelmäßig weiter und endet mit dem umschließenden Reim «verdade» / «saudade» (V. 5, 8). So wird die innere Ausgeglichenheit des lyrischen Ichs im harmonischen Verlauf der Verse gespiegelt. Das Gedicht vermittelt durch den Aufbau der Antithesen und die sowohl inhaltlich als auch formal gegensätzlichen Quartette, dass die innere Kraft des lyrischen Ichs davon herrührt, dass es nicht nach Propheten und Engeln Ausschau hält, die Frustration und Angst verbreiten, sondern selbst die Wahrheit und den Weg Gottes klar vor Augen sieht und sich auch durch Rückschläge nicht beirren lässt. Die Propheten, die in Sophia Andresens Gedichten erscheinen, sind entweder gescheiterte Hoffnungsträger, wie in «O Vidente», oder auf den ersten Blick als falsche Propheten zu erkennen, wie in «Profestas falso vieram em teu nome». Der Begriff des Messias in «A Anémona dos Dias» erscheint nur als leere Worthülle, die ihre Bedeutung verloren hat und lediglich der Selbstbeweihräucherung dient. Dies ist nicht nur als Antwort auf den portugiesischen Messianismus in der Literatur zu verstehen, sondern ebenso als Ablehnung der politischen Instrumentalisierung von Religion sowie der romantisierenden Verklärung mythischer oder religiöser Figuren. Zugleich sind sowohl falsche Propheten als auch Messiaserscheinungen Zeichen der Endzeit.59 Diese Analogie zur Apokalypse lässt die behandelten Gedichte noch stärker in einem düsteren Licht erscheinen: Sie verweisen auf eine unheilvolle Zeit, die nur durch göttliche Intervention beendet werden kann.
59 Mk, 13, 22–23; Mt 7,22.
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I.1.3 Diktatur der Frömmler Ein anderer Aspekt des religiösen Lebens, den Sophia Andresen in ihren poetischen Texten behandelt, ist der Kontrast zwischen einer vordergründigen christlichen Ethik und einer Lebensführung oder Handlungsweise, die dieser vorgeblichen Frömmigkeit widersprechen. So zum Beispiel in dem Gedicht «As pessoas sensíveis», das erstmals 1962 in dem Band Livro Sexto veröffentlicht wurde. As pessoas sensíveis 60 As pessoas sensíveis não são capazes De matar galinhas Porém são capazes De comer galinhas O dinheiro cheira a pobre e cheira À roupa do seu corpo Aquela roupa Que depois da chuva secou sobre o corpo Porque não tinham outra O dinheiro cheira a pobre e cheira A roupa Que depois do suor não foi lavada Porque não tinham outra «Ganharás o pão com o suor do teu rosto» Assim nos foi imposto E não: «Com o suor dos outros ganharás o pão» Ó vendilhões do templo Ó construtores Das grandes estátuas balofas e pesadas Ó cheios de devoção e de proveito Perdoai-lhes Senhor Porque eles sabem o que fazem
60 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 435 [Livro Sexto, 1962]. Dt.: Die Feinfühligen // Die Feinfühligen sind nicht fähig / Hühner zu töten / Jedoch sind sie fähig / Hühner zu essen // Das Geld riecht ärmlich und riecht / Nach der Kleidung seines Körpers / Jene Kleidung / Die nach dem Regen am Körper trocknete / Denn sie hatten keine andere / Das Geld riecht ärmlich und riecht / Nach Kleidung / Die nach dem Schweiß nicht gewaschen wurde / Denn sie hatten keine andere // «Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen» / So wurde es uns auferlegt / Und nicht: / «Mit dem Schweiße der anderen sollst du dein Brot verdienen» // Oh Händler des Tempels / Oh Baumeister / Der großen wulstigen und schweren Statuen / Oh voll Frömmigkeit und Profit Verzeih Ihnen Herr / Denn sie wissen was sie tun» [Übersetzung d. Verf.]
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Eine zentrale Antithese wird bereits in der ersten Strophe entwickelt: «As pessoas sensíveis não são capazes / De matar galinhas / Porém são capazes / De comer galinhas» (V. 1–4). Die Feinfühligkeit der titelgebenden «pessoas sensíveis» (V. 1) wird zunächst mit der Aussage belegt, sie seien nicht fähig, Hühner zu töten. Dieser Aussage wird jedoch sogleich hinzugefügt, sie seien dennoch fähig, Hühner zu essen. Durch die Verwendung der Epiphern «são capazes» (V. 1, 3) und «galinhas» (V. 2, 4) wird die Spitzfindigkeit dieser Antithese herausgestellt und somit der Ausdruck «pessoas sensíveis» (V. 1) als ironisch entlarvt. Denn mit sensível ist hier nicht eine wirkliche Sensibilität gegenüber anderen Lebewesen gemeint, sondern vielmehr eine Empfindlichkeit, die nur das eigenhändige Töten von Tieren betrifft, nicht aber die Tatsache, dass durch das eigene Verhalten zum Töten beigetragen wird. Die sensible Haltung wird somit durch die Gegenüberstellung mit einer gegensätzlichen Handlung als inkonsequent enthüllt. Dabei wird außerdem hervorgehoben, dass die pessoas sensíveis – um den Schein der Feinfühligkeit zu wahren und dennoch nicht auf den Genuss von Fleisch verzichten zu müssen – voraussetzen, dass andere, nach dieser Logik weniger feinfühlige Menschen, den Dienst des Tötens leisten und die Schuld hierfür auf sich laden. Die zweite Strophe besteht aus einer zweifachen Kausalkette, deren Ausgangspunkt das Geld ist. Im ersten Teil heißt es: «O dinheiro cheira a pobre e cheira / À roupa do seu corpo / Aquela roupa / Que depois da chuva secou sobre o corpo / Porque não tinham outra» (V. 5–9). Es wird der Geruch des Geldes beschrieben – wessen Geld es ist, wird nicht geklärt. Im zweiten Teil der Strophe wird der erste fast identisch wiederholt, wobei anstelle von «chuva» (V. 8) dort «suor» (V. 12) als Auslöser des Geruchs angegeben wird. Das Verbleiben der Kleidung am Körper, nachdem dieser Körper dem Regen oder der Anstrengung ausgesetzt war, wird durch die doppelte Parallelisierung mit «pobre» (V. 5, 10) als Zeichen von Armut präsentiert. Die wiederholte Erklärung «Porque não tinham outra» (V. 9, 13) beantwortet die implizite Frage nach dem Grund dafür, warum die Kleidung nicht gewechselt oder gewaschen wurde. Die Eindringlichkeit der Strophe wird wiederum durch die Verwendung von Epiphern erzeugt: «cheira», «corpo», «roupa», «outra». Auffällig ist, dass die Not des pobre in einem nachgeschobenen Nebensatz geschildert wird, während der Hauptsatz und damit die zentrale Aussage «O dinheiro cheira a pobre» (V. 5, 10) lautet. Der Zusatz «e cheira» (V. 5, 10), der die Passagen einleitet, in denen auf mittellose Menschen verwiesen wird, die nur die Kleidung besitzen, die sie am Körper tragen, steht trotz der Länge der Schilderung nicht im Fokus. Die zentrale Aussage ist hier, dass das Geld nach Armut riecht, man also im Kontakt mit dem Geld, hier durch den Geruchssinn, an den pobre erinnert wird. Implizit wird hier auf das berühmte dem Kaiser Vespasian zuge-
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schriebene und sprichwörtlich gewordene Dictum «Pecunia non olet» (dt. ‹Geld stinkt nicht›) verwiesen. Nach der Überlieferung rechtfertigte Kaiser Vespasian gegenüber seinem Sohn so die von ihm erhobene Latrinensteuer, nachdem dieser seine Frage, ob ihn der Geruch des so eingenommenen Geldes störe, verneinte.61 Während «Pecunia non olet» den Gewinn von Geld aus unsauberen Einnahmequellen rechtfertigt – sowohl im wörtlichen wie auch im metaphorischen Sinne –, widerspricht die zweite Strophe von «As pessoas sensíveis» dieser Rechtfertigung durch die Hervorhebung des Geruchs. In der dritten Strophe wird deutlich, wessen Geld es ist, dass nach dem Schweiß der Armen riecht. Dabei wird wiederum der Gegensatz zwischen Haltung und Handlungsweise vorgeführt. Der Rückgriff auf ein Bibelzitat,62 dass auch im Gedicht als Zitat gekennzeichnet ist, macht deutlich, dass sich das lyrische Ich konkret auf christlich geprägte Moralvorstellungen bezieht: «Ganharás o pão com o suor do teu rosto» Assim nos foi imposto E não: «Com o suor dos outros ganharás o pão» 63
Im Bibelzitat «Ganharás o pão com o suor do teu rosto» (V. 14) wird zunächst an die Haltung erinnert, der es zu folgen gilt. Durch «Assim nos foi imposto» (V. 15) wird in «nos» das Kollektiv angesprochen, denen die zitierte Regel von einer höheren Instanz auferlegt wurde und denen es als moralische Vorgabe dienen soll. Der Aufbau dieser Strophe ähnelt jenem der ersten Strophe. Auch hier wird durch eine kleine Veränderung im Wortlaut der große Unterschied zwischen Gebot und Handlung deutlich gemacht. Aus «o suor do teu rosto» (V. 14) wird in Vers 17: «o suor dos outros». Anstelle von Epiphern strukturiert hier ein Paarreim die Strophe. Dadurch wird unter anderem das Wort «não» (V. 16) stark hervorgehoben. So wird unterstrichen, dass es hier, im Gegensatz zur Situation der ersten Strophe, keine Möglichkeit gibt, den Schein einer moralisch tadellosen Lebensführung zu wahren. Denn hier gibt es ein eindeutiges Gebot, das keine Ausflüchte zulässt. Dies veranschaulichen die beiden Verse, in denen vorgeführt wird, wie es in der Heiligen Schrift nicht geschrieben steht: «E não: / «Com o suor dos outros ganharás o pão»» (V. 16–17). So entsteht 61 Gaius Suetonius Tranquillus: The Lives of the Twelve Caesars. Cambridge: Loeb Classical Library 1914, S. 319. 62 Gen 3,19 (EU): «Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.» 63 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 435 [Livro Sexto, 1962].
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der Eindruck, das lyrische Ich wolle ein Missverständnis beseitigen, in dem es scheinbar naiv davon ausgeht, dass sich die pessoas sensíveis mit ihrer Handlungsweise vielleicht irrtümlicherweise auf ein Gebot beziehen, von dem sie denken, dass es existiere. So entsteht auch hier, wie in der ersten Strophe, ein ironischer Effekt. Durch das Wort «suor» (V. 12, 14, 17) entsteht eine semantische Verbindung zur zweiten Strophe, wodurch klar wird, dass es sich bei dem Geld, das nach dem Schweiß der Armen riecht, um Besitz handelt, der nicht durch die eigene Arbeit, sondern durch die Anstrengung und das Leid anderer erlangt wurde. Diese Art der Lebensführung wird mit Ende der dritten Strophe eindeutig als unmoralisch vorgeführt. Durch die zahlreichen Wortwiederholungen, vor allem die viermalige Wiederholung der Verbform «cheira» (V. 5, 10), wird zudem lautlich die Allgegenwärtigkeit dieser Situation abgebildet und somit ausgedrückt, dass ein Großteil des Reichtums auf diese Weise erlangt wird. In der vierten und letzten Strophe wendet sich das lyrische Ich in drei Apostrophen direkt an seine Adressaten und benennt somit diejenigen, die offenbar nur vordergründig nach einer christlichen Moral leben. Die «vendilhões do templo» (V. 18) enthalten eine Anspielung auf eine Episode, die in den Evangelien beschrieben wird. Demnach vertrieb Jesus Händler und Wechsler aus dem Jerusalemer Tempel: «Steht nicht geschrieben: ‹Mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker›? Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht» 64. In diesem Zitat des Markusevangeliums bezieht sich Jesus auf das Alte Testament 65, ähnlich wie das lyrische Ich in der vorherigen Strophe. So wird deutlich, dass sich das lyrische Ich durch das Zitieren der Heiligen Schrift in der Nachfolge Jesu sieht, der sich in seinen Verkündigungen auf eine Vorform des Tanach bezog. Die «vendilhões do templo» (V. 18) bezeichnen metaphorisch all jene, die aus dem Glauben anderer ein Geschäft machen und einen persönlichen Profit suchen. Die Metapher lässt sich insgesamt auf alle finanziellen und politischen Interessen der Kirchen und ihrer Vertreter übertragen. Die enge Vernetzung von Staat und Kirche war trotz ihrer offiziellen Trennung auch im Estado Novo ein wichtiges Thema. Vor allem die freundschaftliche Beziehung zwischen Salazar und dem Erzbischof von Lissabon, Manuel Gonçalves Cerejeira, wurde von vielen argwöhnisch betrachtet. Auch wenn die Kirche nicht in allen Fragen mit der Regierung einer Meinung war, so gab es
64 Mk 11,17. 65 Jesaja 56, 7 (EU): «6Die Fremden, die sich dem Herrn angeschlossen haben, die ihm dienen und seinen Namen lieben, um seine Knechte zu sein, alle, die den Sabbat halten und ihn nicht entweihen, die an meinem Bund fest halten, 7sie bringe ich zu meinem heiligen Berg und erfülle sie in meinem Bethaus mit Freude. Ihre Brandopfer und Schlachtopfer finden Gefallen auf meinem Altar, denn mein Haus wird ein Haus des Gebets für alle Völker genannt.»
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doch eine große Interessenübereinstimmung hinsichtlich der Kolonialkriege, für welche die christliche Mission als Legitimation unabdinglich war.66 Erzbischof Cerejeira war es auch, der den Bau des Cristo-Rei in Almada nach dem Vorbild des Cristo Redentor in Rio de Janeiro initiierte. Der Bau wurde 1940 vom portugiesischen Episkopat beschlossen und am 17. Mai 1959, zwei Jahre vor Veröffentlichung des Bandes Livro Sexto, wurde die Statue feierlich und unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit eingeweiht.67 Dies lässt es plausibel erscheinen, dass auch mit «Ó construtores / Das grandes estátuas balofas e pesadas» (V. 19–20) nicht nur im Allgemeinen die zahlreichen Baumeister teurer, christlicher Denkmäler gemeint sind, sondern eben wahrscheinlich auch die Verantwortlichen des aktuellsten zeitgenössischen Bauprojekts der portugiesischen Kirche. Die dritte Apostrophe «Ó cheios de devoção e de proveito» (V. 21) fasst das Hauptmerkmal der Kritik nochmals in einer Antithese zusammen: Die Zusammenkunft von Frömmigkeit und Profitgier, zweier Eigenschaften die sich gegenseitig ausschließen, kann nur zu Scheinheiligkeit führen. Die Invektive zielt auf die ‹guten Bürger› ab, die subjektiv fromm sind, aber ignorieren, dass das Geld, von dem sie reichlich haben, nach Ausbeutung ‹riecht›. Dass es vor allem für die Mächtigen der Kirche, aber auch für die einfachen «pessoas sensíveis», keine Entschuldigung ihres unchristlichen Verhaltens gibt, stellt das lyrische Ich abschließend in einem wiederum abgewandelten Bibelzitat fest: «Perdoailhes Senhor / Porque eles sabem o que fazem» 68 (V. 22–23). In der Heiligen Schrift sagt Jesus diese Worte während seiner Kreuzigung: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun» 69. Dies kann man so deuten, dass Jesus alle, die für seinen Tod verantwortlich sind, vor Gottes Strafe schützen wollte. Das lyrische Ich stellt die Scheinheiligen, als welche die «pessoas sensíveis» (V. 1) im Verlauf des Gedichts entlarvt werden, durch die Analogie zur Kreuzigung Jesu als dessen Verräter dar. Das Fehlen des Wortes não hat im Gedicht zwar keine Auswirkung auf die ausgesprochene Bitte um Vergebung, es verleiht dem letzten Vers jedoch gleichzeitig den Charakter eine Anklage. Darin steckt der Vorwurf, dass die Menschen, obwohl sie vordergründig (christlich-)ethische Grundsätze verfolgen, trotzdem entgegen dieser Regeln handeln
66 Vgl. z. Bsp.: Irene Flunser Pimentel: Cardeal Cerejeira: O Príncipe da Igreja. Lisboa: A Esfera dos Livros 2010. 67 Paulo Fontes: A institucionalização da acção católica portuguesa e a festa de Cristo-Rei. In: Lusitania Sacra. Revista do Centro dos Estudos de História Religiosa, Nr. 19–20 (2007–2008), S. 171–193, hier: S. 172–173. 68 Vgl. Lk 23,34 (EU): «Jesus aber betete: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Dann warfen sie das Los und verteilten seine Kleider unter sich». 69 Ebda.
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oder handeln lassen, um selbst davon zu profitieren, und ihre eigenen Interessen unter dem Deckmantel der Gottesergebenheit oder ethischer Sensibilität durchzusetzen. Dabei wird durch die Umkehrung der Verneinung zu «eles sabem» (V. 23) das Kennen der Grundsätze in den Fokus gerückt. Es ist nicht zuletzt das Wissen, das die Gelehrten von der einfachen, ungebildeten, oft analphabetischen Bevölkerung unterscheidet und ihnen sowohl Verantwortung als auch Macht verleiht. In dem Gedicht «A veste dos fariseus»,70 das in Livro Sexto «As pessoas sensíveis» vorangestellt ist, wird die Passionsgeschichte noch ausführlicher behandelt. Hier sind es die Pharisäer, die angeklagt werden. Zwar wird ihnen im Gedicht keine direkte Tat vorgeworfen, jedoch werden sie als eigentliche Anführer der Verfolger, Verräter und Mörder Jesu dargestellt, die es dennoch schaffen, unschuldig zu wirken. Die ersten beiden Strophen, in denen die Taten aufgezählt werden, die zur Verurteilung führten, enden jeweils mit dem Vers «Guiada pelos Fariseus» (V. 6, 11). Somit wird im Gedicht der Eindruck ihrer permanenten Anwesenheit und ihrer führenden Verantwortung erzeugt. Nachdem in der dritten und vierten Strophe die Szene der Kreuzigung im Vordergrund steht, endet das Gedicht mit folgenden Versen: A treva caiu dos céus Sobre a terra em pleno dia Nem uma nódoa se via Na veste dos Fariseus 71
70 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 434 [Livro Sexto, 1962]: «A veste dos Fariseus // Era um Cristo sem poder / Sem espada e sem riqueza / Seus amigos o negaram / Antes do galo cantar / A polícia o perseguia / Guiada pelos Fariseus // O poder lavou as mãos / Daquele sangue inocente / Crucificai-o depressa / Lhe pedia toda a gente / Guiada pelos Fariseus // Foi cuspido e foi julgado / No centro de uma cidade / Insultos o perseguiam / E morreu desfigurado // O templo rasgou os seus véus / E Pilatos seus vestidos / Rasgaram seu coração / Maria, mãe de João / João, filho de Maria // A treva caiu dos céus / Sobre a terra em pleno dia / Nem uma nódoa se via / Na veste dos Fariseus» Dt.: «Das Gewand der Pharisäer // Er war ein Christus ohne Macht / Ohne Schwert und ohne Reichtum / Seine Freunde verleugneten ihn / Bevor der Hahn krähte / Die Polizei verfolgte ihn / Geführt durch die Pharisäer // Die Macht wusch ihre Hände / Von diesem unschuldigen Blut / Kreuzigt ihn schnell / Verlangten alle von ihr / Geführt durch die Pharisäer // Er wurde angespuckt und verurteilt / Im Zentrum einer Stadt / Beleidigungen verfolgten ihn / Und er starb entstellt // Der Tempel zerriss seine Schleier / Und Pilatus seine Gewänder / Sie zerrissen sein Herz / Maria, Mutter des Johannes / Johannes, Sohn der Maria // Die Finsternis fiel von den Himmeln / Über die Erde am helllichten Tag / Nicht einen Fleck sah man / Auf dem Gewand der Pharisäer» [Übersetzung d. Verf.] 71 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 434 [Livro Sexto, 1962]. Dt.: «Die Finsternis fiel von den Himmeln / Über die Erde am helllichten Tag / Nicht einen Fleck sah man / Auf dem Gewand der Pharisäer» [Übersetzung d. Verf.]
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Während der Kreuzigung, nach dem Einbrechen der Finsternis,72 lenkt das lyrische Ich seinen Blick wiederum auf das titelgebende Gewand der Pharisäer, das immer noch unbefleckt ist. Die Reinheit ihres Gewandes ist als Metapher für ihre Unschuld zu verstehen. Der Verdacht ihrer Schuld wird jedoch über das gesamte Gedicht hinweg aufrechterhalten. Letztendlich erscheint die Erwähnung der plötzlichen Finsternis metaphorisch als mögliche Ursache für die Unsichtbarkeit ihrer Schuld, was eine ironische Lesart der letzten beiden Verse eröffnet. Das Gedicht ist eine deutliche Anspielung auf die Herabwürdigung der Pharisäer als Heuchler im Neuen Testament.73 Jedoch ist der Verrat nicht das einzige Thema des Gedichts und der biblische Intertext nur eine vordergründige Lesart. Auf subtile Art wird die Figur des Christus durch die Verwendung des unbestimmten Artikels zu einer beliebigen friedlichen Person erklärt: «Era um Cristo sem poder / Sem espada e sem riqueza / Seus amigos o negaram» (V. 1–3). Er wird zum Opfer eines mächtigen Systems, das sich in jede beliebige Zeit übertragen lässt: «A polícia o perseguia / […] // O poder lavou as mãos / Daquele sangue inocente / […] // Foi cuspido e foi julgado / No centro duma cidade / Insultos o perseguiam / E morreu desfigurado» (V. 5–15). Der zweite unbestimmte Artikel in «duma cidade» (V. 13) vermittelt eine räumliche Ungebundenheit und unterstreicht somit ebenso die Übertragbarkeit des beschriebenen Geschehens, die zwischen den biblischen Bezügen hervorsticht. Das Gedicht ist eine Anklage einer Macht, die angesichts der Gewalt, die sie selbst provoziert, den Schein der Unschuld wahrt, indem sie ihre eigene Verantwortung negiert oder durch Manipulation ihren Untertanen auflastet: «Crucificai-o depressa / Lhe pedia toda a gente / Guiada por Fariseus» (V. 9–11).
72 Vgl. Lk 23, 44–45: «44Es war etwa um die sechste Stunde, als eine Finsternis über das ganze Land hereinbrach. Sie dauerte bis zur neunten Stunde. 45Die Sonne verdunkelte sich. Der Vorhang im Tempel riss mitten entzwei» 73 Vgl. Lk 18, 9–14: «9Einigen, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten, erzählte Jesus dieses Beispiel: 10Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. 11Der Pharisäer stellte sich hin und sprach leise dieses Gebet: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. 12Ich faste zweimal in der Woche und gebe dem Tempel den zehnten Teil meines ganzen Einkommens. 13Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wagte nicht einmal, seine Augen zum Himmel zu erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig! 14Ich sage euch: Dieser kehrte als Gerechter nach Hause zurück, der andere nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.»
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Sowohl «As pessoas sensíveis» als auch «A veste dos fariseus» bearbeiten die Gegensätze zwischen Schein und Wirklichkeit in Bezug auf die christliche Moral. In beiden Gedichten wird durch das Mittel der Ironie eine Verachtung ausgedrückt, die sich gegen Frömmelei und Bigotterie richtet. Dabei stehen vor allem einflussreiche Kleriker im Zentrum der Anklage, die sich entgegen ihrer Verantwortung mit Zunahme ihrer Macht immer mehr von ihrem ethischen Anspruch entfernen und den Glauben der Menschen in den Dienst wirtschaftlicher oder machtpolitischer Interessen stellen.
I.2 Pátria: Heimat und Exil I.2.1 Das Meer als nationales Symbol Unter den Gedichten Sophia Andresens, die durch ihr Wortmaterial direkt oder indirekt auf das Paradigma der patria 74 verweisen, und somit Bezug nehmen auf den nationalistisch-patriotischen Diskurs, gibt es einige, die besonders hervorstechen. Ab Ende der fünfziger und vor allem während der sechziger Jahre tauchen in Andresens Poesie vermehrt Formulierungen auf, die sich indirekt auf das Land Portugal beziehen, wie «Neste país de dor e incerteza» 75 oder «País ocupado / Onde o medo impera» 76. Dagegen enthalten andere Gedichte symbolisches Material, das im offiziellen Diskurs des Regimes die portugiesische Nation legitimiert. Dazu gehört vor allem das Meer als mythischer Schauplatz der portugiesischen Heldengeschichten und Verbindungsweg zu den portugiesischen Kolonien. Im Jahr 1934 hatte Fernando Pessoa mit seinem Gedicht «Mar português» das Meer als eigentümlich portugiesisch identifiziert, als Ort, dessen Eroberung dem Volk zwar Schmerzen bereitet, aber auch zu Ruhm geführt und sich untrennbar mit Portugal verbunden habe:
74 Um die Herausforderungen bei der Übersetzung des portugiesischen Begriffs «pátria», der durch Ideologisierung und politischen Missbrauch geschichtlich geprägt ist, zu umgehen, wird hier vorerst der lateinische Ausdruck patria als Bezugspunkt dienen. 75 Sophia Andresen: Carta aos amigos mortos. In: Dies.: Obra Poética, S. 419 [Livro Sexto, 1962]. 76 Sophia Andresen: Cantar. In: Dies.: Obra Poética, S. 440 f. [Livro Sexto, 1962].
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Mar Português 77 Ó mar salgado, quanto do teu sal São lágrimas de Portugal! Por te cruzarmos, quantas mães choraram, Quantos filhos em vão rezaram! Quantas noivas ficaram por casar Para que fosses nosso, ó mar! Valeu a pena? Tudo vale a pena Se a alma não é pequena. Quem quer passar além do Bojador Tem que passar além da dor. Deus ao mar o perigo e o abismo deu, Mas nele é que espelhou o céu.
«Mar português» ist eines der bekanntesten Gedichte aus Mensagem, dem einzigen Werk, das Fernando Pessoa orthonym in portugiesischer Sprache zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat. Es ist im gleichnamigen zweiten Teil des Bandes aus dem Jahre 1934 enthalten. Das Gedicht «Mar português» ist das zehnte dieses Zyklus und behandelt retrospektiv das Zeitalter der Entdeckungen. Es stellt die Frage nach einer geschichtlichen Bilanz. Während in anderen Gedichten des Zyklus, wie etwa «Horizonte», das Meer abstrakt und vage erscheint, wird es in «Mar português» geschichtsphilosophisch vermessen. Bereits im Titel wird dem Meer das Attribut «português» zugeschrieben und es damit als genuin portugiesisch charakterisiert, bevor in den zwei sechsversigen Strophen des Gedichts die Aneignung des Meeres durch die Portugiesen sowie der damit verbundene Schmerz und Ruhm von einem lyrischen Wir besungen wird. Beide Strophen sind jeweils in drei Sinnabschnitte von zwei
77 Fernando Pessoa: Mensagem, S. 60. Dt.: «Portugiesisches Meer // Oh salziges Meer, wieviel deines Salzes / Sind Tränen aus Portugal! / Weil wir dich durchquerten, weinten wie viele Mütter, / Beteten wie viele Söhne vergebens! / Wie viele Bräute blieben zu heiraten übrig / Damit du unser würdest, oh Meer! // Hat es sich gelohnt? Alles lohnt sich / Wenn die Seele nicht klein ist. / Wer über den Bojador hinausfahren will / Muss über den Schmerz hinaus. / Gott gab dem Meer die Gefahr und den Abgrund, / Aber in ihm spiegelte er den Himmel.» [Übersetzung d. Verf.] Vgl. auch Übersetzung von Georg Rudolf Lind: «Portugiesisches Meer // O salzige Flut, wieviel von deinem Salz / sind Tränen Portugals! / Dich zu befahren, weinten Mütter, / klang Kinderbeten klagebitter; / wie viele Brautgemächer blieben leer, / auf dass du unser seist, o Meer! // Lohnt’ es die Müh’? Die Müh’ ist nie verloren, / wenn nur die Seele groß geboren. / Willst du Kap Bojador bezwingen, / musst du den Schmerz erst niederringen. / Gott schloß [sic] das Meer mit Abgrundsiegeln / und ließ es doch den ganzen Himmel spiegeln.» (Fernando Pessoa: Esoterische Gedichte. Mensagem. Englische Gedichte. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Georg Rudolf Lind. Zürich: Ammann-Verlag 1989).
I.2 Pátria: Heimat und Exil
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Versen eingeteilt, die durch den durchgehend verwendeten Paarreim zusätzlich lautlich markiert sind. In der ersten Strophe bilden jeweils zwei Verse eine rhetorische Frage, die mit einem Ausrufezeichen endet. Dies ist bereits formal ein Verweis auf die hohe Bedeutung, die den Fragen zugewiesen wird. Im ersten Vers wird die rhetorische Frage durch eine Apostrophe an das Meer eingeleitet, an das sämtliche Fragen der ersten Strophe gerichtet sind: «Ó mar salgado, quanto do teu sal / São lágrimas de Portugal!» (V. 1–2). Das Salz des Meeres besteht in diesem Text aus Tränen, die aus Portugal stammen. Als tertium comparationis fungiert dabei das Salz, das sowohl im Meer als auch in Tränen enthalten ist. Tränen sind jedoch nicht nur eine salzige Flüssigkeit, sie stehen auch metonymisch für den in der zweiten Strophe wörtlich genannten Schmerz, der diese Tränen verursacht habe. Auch lautlich ist «sal» durch das spiegelbildliche Verhältnis der Aus- bzw. Anlaute /al/ und /la/ mit «lágrimas» verbunden. Es wird hier eine unmittelbare Nähe zwischen dem gewissermaßen national imprägnierten Meer und dem Schmerz der Portugiesen hergestellt. Dabei geht die Charakterisierung des Meeres als portugiesisch über eine bloße Inbesitznahme hinaus: Durch ihre vergossenen Tränen haben die Portugiesen das Meer gefüllt und es somit zumindest teilweise miterschaffen. Ein Teil ihres Selbst ist zur Substanz des Meeres geworden. Das Bild einer materiellen Schöpfung des Meeres durch die Körper der Portugiesen erinnert an mythische Metamorphosen78 und erscheint wie ein Versuch Pessoas, die Übernahme des Meeres durch die Portugiesen mythologisch zu begründen. Zugleich wird dem portugiesischen Körper eine starke physische Bindung zum Meer zugeschrieben. Der starke Kontrast zwischen dem riesigen, grenzenlos scheinenden Meer und den dagegen verschwindend kleinen Tränen hat den Effekt, dass die Tränen als eine unermesslich große Menge vorgestellt sind, um überhaupt als ein Teil des Meeres ausgemacht werden zu können. Hier entsteht das Bild eines metaphorischen Tränenmeeres, einer unendlich großen Menge an Tränen. Die durch «quanto» (V. 1) eingeleitete Frage wird durch drei weitere ergänzt, die ebenfalls durch die Fragewörter «quantas» (V. 3), «quantos» (V. 4) und «quantas» (V. 5) eingeleitet werden und durch diese syntaktisch-lautliche Äquivalenz anaphorisch miteinander verbunden sind. Nicht nur formal, auch semantisch sind diese Fragen im poetischen Text miteinander verknüpft. Während im ersten Vers nach Tränen gefragt wird, sind es im dritten Vers die weinenden Mütter, im vierten die betenden Söhne und im fünften die zurückgebliebenen Bräu-
78 So zum Beispiel an die Metamorphose der Byblis, aus deren Tränen eine Quelle zu fließen beginnt. Vgl. Ovid: Metamorphosen, Neuntes Buch, V. 450 ff. (Ovid: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht. Stuttgart: Reclam 1994, S. 485 ff.).
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te. Dabei sind die zweite und dritte Frage in den Versen drei und vier zu einem Sinnabschnitt verbunden. Die semantische Verbindung ist durchweg metonymischer Art: die Tränen verweisen auf das Weinen der Mütter, die Mütter sind verbunden mit den Söhnen und die zurückgelassenen Bräute weisen wiederum zurück auf die Söhne. Die Fragedeterminativa sind durch ihre Wiederholung und den exklamatorischen Charakter der Verse ein Indiz für eine große Menge betroffener Menschen. Die rhetorischen Fragen kommunizieren somit indirekt die Behauptungen an den Leser, dass viele Mütter weinten, viele Söhne beteten und viele Bräute zurückblieben. Die Verbindung von Müttern und Söhnen in einem Sinnabschnitt legt nahe, dass sie um ihre Söhne weinen, während das Gebet durch die Betonung der Vergeblichkeit im Ausdruck «em vão» (V. 4) den Tod der Söhne andeutet. Die Söhne sind synekdochisch als die Gesamtheit der Seefahrer zu verstehen, die sich den Gefahren der Eroberungsfahrten ausgesetzt haben. Das Meer steht gleichzeitig metonymisch für alle Kolonialgebiete, zu denen es die Schiffe geführt hat und die es mit Portugal verbindet. Insgesamt verweisen die drei Bilder auf die ausbleibende Rückkehr der Söhne, was auf ihren Tod oder ihren Verbleib in einer der Kolonien schließen lässt. Das Bild von Mutter, Sohn und Braut enthält damit nicht nur eine Anspielung auf ein eher traditionelles Familienbild, sondern spiegelt eine generationenübergreifende Betroffenheit: das gesamte Land musste leiden, damit das Meer ‹portugiesisch› werden konnte. Nicht nur die Seefahrer haben gelitten, sondern auch die Zurückgebliebenen. Dadurch wird hervorgehoben, dass sich ganz Portugal – nicht nur die Seefahrer, sondern das ganze Volk – das Meer angeeignet hat – erstere durch ihren Wagemut, letztere durch ihren Schmerz. Diese nationalistische Glorifizierung des Schmerzes wird in diesem Gedicht von Pessoa zudem in ein religiöses Licht gerückt.79 Das Bild der weinenden Mutter verweist, vor allem in Verknüpfung mit dem betenden Sohn, auf die Mutter Gottes und ihren Sohn Jesus Christus. Das in «cruzarmos» enthaltene ‹Kreuz› (pt. cruz) ist dabei ein weiterer Hinweis auf einen religiösen Bezug. Die Silbe verweist sowohl auf das Kreuz der Passion Christi, als auch – als lexikalisierte Metapher – auf sein Leid. Auf diese Weise wird an den Missionsauftrag erinnert, der die portugiesischen Eroberungen legitimierte. Teil dieses lexikalischen Feldes sind schließlich auch die cruzadas, die blutigen Kreuzzüge, die für Portugal spätestens seit der Reconquista dynastische Motive der Machtkonzentration verfolgten. Auch D. Sebastião, dem Pessoa den dritten Teil von Mensagem mit dem Titel «O Encoberto» widmet, legitimierte seinen Feld-
79 Diese religiöse Lesart bestätigt sich nicht zuletzt durch das dem Band vorangestellte Motto: Benedictus Dominus Deus Noster qui dedit nobis signum.
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zug durch missionarische Absichten, die schließlich zu seinem Tod in der Schlacht von Alcácer-Quibir führten. Das Bedeutungsfeld des Kreuzes evoziert nicht nur die Geschichte des portugiesischen Katholizismus, vielmehr erscheint die Anrufung des Meeres als Passionsgeschichte des ganzen Landes. Das portugiesische Meer wird wie eine Gottheit angerufen, so dass die Männer, die sich in seinem Namen und im Namen des portugiesischen Kolonialreiches auf den Weg machen, zu Märtyrern stilisiert werden. Wofür die Männer starben und wofür all die Opfer gebracht wurden, wird im sechsten und letzten Vers der ersten Strophe schließlich nochmals hervorgehoben: «Para que fosses nosso, ó mar!» (V. 6). Die erneute Invokation des Meeres schließt den Rahmen zum ersten Vers, der mit «Ó mar» (V. 1) beginnt. Das Meer war das Ziel und ist der Lohn allen Leids, denn es ist «nosso» (V. 6), es gehört dem lyrischen Wir und rückbezüglich zur Trias aus Mutter, Sohn und Braut gehört es allen Portugiesen, sowohl denjenigen, die im Land geblieben sind, als auch denjenigen, die sich auf eine gefährliche Reise begeben haben. Denn alle haben in der einen oder anderen Weise dafür gelitten und Opfer gebracht. Dabei verleiht der sakrale Bezug, der im Tonfall durch die Exklamationen und Invokationen verstärkt wird, den Eroberungsfahrten eine noch höhere Legitimation als der Missionsauftrag. Die Opfer werden zu Nachfolgern Christi stilisiert und Portugal, Ort ihrer Passion, ist mitsamt seinem Kolonialreich eine heilige Nation, für die jeder als Märtyrer in die Geschichte eingehen kann. Der geschichtsphilosophische Gehalt der ersten Strophe von Pessoas «Mar português» entwirft einen sakral-mythischen Patriotismus, der das Opfer des portugiesischen Körpers – von der Träne bis zum Märtyrertod – zum höchsten Ziel erklärt. Während es in der ersten Strophe primär um das Leid geht, werden in der zweiten Strophe Schmerz und Ruhm gegeneinander abgewogen. Wieder beginnt die Strophe mit einer Frage, auf die prompt eine Antwort folgt: «Valeu a pena? Tudo vale a pena / Se a alma não é pequena.» (V. 7–8) Die Frage danach, ob es sich gelohnt hat, bezieht sich auf das in der vorhergehenden Strophe thematisierte Leid, das hier zweifach in «pena» (V. 7) wieder aufgerufen wird. Der siebte Vers ist zudem der einzige Vers, der in der Mitte eine Zäsur aufweist. Das Ende der Frage – markiert durch das Fragezeichen – unterbricht den Rhythmus und lässt den Leser kurz innehalten. Die dialogische Struktur verweist auf den Diskurs der Eroberungen, der ebenfalls immer wieder die Waage zwischen Lohn und Leid thematisiert hat. Das lyrische Wir stellt sich mit seiner Antwort auf die Seite derer, die die Kolonialisierung befürworten. Es führt in den folgenden Versen aus, welch große Taten die Portugiesen vollbracht und welchen Ruhm sie dadurch erlangt haben. Dabei hänge der Erfolg von der Größe der Seele ab. Diese wird in den folgenden Versen daran gemes-
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sen, wie groß die Ziele, wie hoch die Opferbereitschaft und wie ausgeprägt die Fähigkeit, Leid zu ertragen, sind. Der Ausdruck «alma» (V. 8) ist in Mensagem Synekdoche einer besonderen ‹alma portuguesa›, die Pessoa als das ‹Wesen› aller Portugiesen ausmacht und auf die er sich in Mensagem immer wieder beziehen sollte.80 Das in Vers neun erwähnte Kap Bojador verweist auf den einschneidenden Durchbruch in der Seefahrt, der mit der Umsegelung des Kaps gelang. Das Kap galt lange Zeit als das westlichste Ende der Welt und viele Versuche, es zu umfahren, scheiterten, bis der Portugiese Gil Eanes es 1434 schaffte, das Kap zu umschiffen und damit einen entscheidenden Schritt zur Entdeckung des Weges nach Indien tat. Die sowohl syntaktisch als auch lautlich äquivalenten Verse neun und zehn legen eine selbstverständliche Verbindung zwischen großen Taten und Schmerzen nahe, die durch die lautliche Wiederholung von «dor» (V. 10) in «Bojador» (V. 9) sowie durch die parallele Versstruktur evident wird: «Quem quer passar além do Bojador / Tem que passar além da dor.» (V. 9–10) Das Kap Bojador, dessen Umsegelung die portugiesischen Eroberungen erst möglich machen sollte, steht hier metonymisch für alle Heldengeschichten, die im Zusammenhang mit der portugiesischen Seefahrt und den Eroberungen stehen. Diese werden zum höchsten Ziel erhoben, für das sich jeder Schmerz, jedes Leid lohne. Nur derjenige, dessen Seele groß sei und der über den Schmerz hinauszugehen vermag, werde Teil eines nationalen Mythos und damit unsterblich. Dass es hier vornehmlich um einen posthumen Ruhm geht, wird auch in den letzten beiden Versen deutlich. Im letzten Sinnabschnitt der Strophe wird auf Gott in seiner Rolle als Schöpfer verwiesen, der die Gefahren des Meeres mit Bedacht in die Welt gebracht hat: «Deus ao mar o perigo e o abismo deu, / Mas nele é que espelhou o céu.» (V. 11–12) Die genannten Gefahren und Abgründe verweisen auf die Unergründlichkeit des Meeres, seine Tiefe und Unberechenbarkeit, seine Abhängigkeit von den Launen Gottes sowie die Tatsache, dass all diese Eigenschaften bereits viele Opfer forderten. Zudem verortet diese Spiegelung das Göttliche im Meer und verleiht ihm wiederum einen sakralen Charakter. Die Spiegelung des Himmels im Meer verweist jedoch ebenso darauf, dass mit diesen Gefahren auch der höchste Ruhm einhergeht, zu dem man durch deren Bezwingung gelangt. Durch die Spiegelung des Himmels in den Gefahren des Meeres, wird der künftige Ruhm im Leid gespiegelt: nur im Mut, so legt das Gedicht von Pessoa nahe, liegt die Möglichkeit wahren Ruhms. Nur wer das
80 Vgl. u. a. Fernando Pessoa: A grande alma portuguesa: a carta ao Conde de Keyserling e outros dois textos inéditos. Lisboa: Lencastre 1988 (Colecçao ̃ Pessoana 2).
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Unvorstellbare wage, kann so Teil des beschworenen Mythos werden, vor allem als Märtyrer. Solche Mythen sind bekanntlich notwendiges Inventar, um ein imaginäres Reich zu schaffen.81 Das Göttliche und der Ruhm verweisen somit auch zurück auf das in der ersten Strophe dieses Gedichts von Pessoa angedeutete Märtyrertum. Die dargestellte Opferbereitschaft für eine größere Sache, die einer großen Seele entspringt, ist die Voraussetzung für das Märtyrertum. Der höhere Zweck ist hier jedoch die Größe und das Ansehen Portugals. So werden die Seefahrer zu Märtyrern stilisiert, die nicht im Namen Gottes handeln und sterben, sondern im Namen der Nation. Damit hat das Meer in Pessoas «Mar português» als nationales Symbol einen Höhepunkt in der portugiesischen Literatur erreicht.82 Pessoa löst sich von konkreten Ereignissen und hebt das Seefahrtsmotiv in eine sakrale Ebene. Hier ist das Meer zwar auch der volkstümliche Sehnsuchtsort, der Abschied, Hoffnung und Sehnsucht vereint, aber vielmehr handelt es sich hier um einen nahezu heiligen Ort, an dem sich eine portugiesische Größe unter Beweis stellen kann. Auf solche sakralen Anreicherungen der Nation bezieht sich Sophia Andresen in ihrem Werk in der Form eines poetischen Widerstands. Wenn man sich den Gedichten aus dem Werk Andresens zuwendet, die das Paradigma der patria thematisieren, wird schnell deutlich, dass sie immer wieder traditionelle Meeresmetaphern aus der portugiesischen Literaturgeschichte aufgreift. Das Meer spielt insgesamt in der Poesie von Sophia de Mello Breyner Andresen eine wichtige Rolle. Entsprechende Fragestellungen wurden in der Forschung bereits ausgiebig bearbeitet: So liest beispielsweise Carlos Ceia das Meer im poetischen Werk Andresens als «metafora da liberdade» 83 oder, im Falle der Betrachtungen von Seeanemonen in verschiedenen Gedichten, als Ausdruck von Perfektion und nostalgischer Gefühle.84 Der Vielseitigkeit des Themas im Werk Andresens wird durchaus Rechnung getragen, so wird das Meer auch als
81 Vgl. Fernando Pessoa: Mensagem, S. 19: «O mytho é o nada que é tudo». 82 Helmut Siepmann zeichnet die Entwicklung der Bedeutung des Meeres in der portugiesischen Literatur von Camões bis Lobo Antunes nach und bezeichnet Mensagem, aufgrund der «Überhöhung der Thematik der maritimen Expansion Portugals, die ihr gleichzeitig das Fundament raubt und sie als Bildspender auf eine formale Rolle innerhalb der Poesie reduziert» sogar als «Abwendung von der Seefahrerthematik», vgl. Helmut Siepmann: Das Selbstverständnis der Portugiesen in ihrer Literatur. In: Henry Thorau (Hrsg.): Portugiesische Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 37–57, hier: S. 51). 83 Carlos Ceia: Iniciação aos Mistérios da Poesia de Sophia de Mello Breyner Andresen. Lisboa: Vega 1996, S. 58. 84 Ebda., S. 81.
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«lar espiritual» 85 und «pátria onírica» 86 des Dichters erkannt. Und ebenso lässt sich der Nachzeichnung der poetischen Seefahrt zustimmen, die Sophia in ihrem Werk unternimmt: vom Atlantikstrand der Praia da Granja im Norden Portugals zur Algarve über das Mittelmeer und schließlich zum Ägäischen Meer.87 Das Meer tritt somit in der Forschung immer auch als biografischer Erinnerungsort der Autorin in den Vordergrund, was in Interviews von ihr bekräftigt wird.88 Silvina Lopes Rodrigues dagegen erkennt in der andresianischen Poesie die Seefahrt als poetologisches Prinzip und spricht von einer «poetica de navegação».89 In der folgenden Bearbeitung ausgewählter Gedichte aus dem Gesamtwerk von Sophia Andresen soll gezeigt werden, dass diese wichtigen Beobachtungen einige zentrale Aspekte außer Acht lassen. Das Meer ist im Schreiben Andresens nicht nur Sehnsuchtsort und Idylle, die als Gegenwelt zur Realität des Landes fungiert, sondern wird, auch unter intertextueller Bezugnahme auf bekannte Texte der portugiesischen Tradition, als politisch aufgeladene Metapher verwendet, die durch die Einbettung in andere Kontexte und durch neue Konnotationen dem dominierenden Patriotismusdiskurs des Regimes entgegengestellt wird. Im lyrischen Werk von Sophia Andresen werden die Kolonialpolitik sowie Teile der portugiesischen Geschichte, die wiederum der Legitimation der Kolonialpolitik dienen, infrage gestellt. Die Auseinandersetzung mit der patria ist in den Gedichten Andresens zudem nicht nur im Meer, sondern auch in einem anderen Außenraum, dem Exil, verortet, was auf eine Entfremdung vom Innenraum sowie dem herrschenden Diskurs hindeutet und im Folgenden an ausgewählten Beispielen aufgezeigt werden soll.
I.2.2 Pirata-Pátria: Land der Piraten In dem 1950 veröffentlichten Gedicht «Pirata» ist das Meer von essenzieller Bedeutung, allerdings ist es auf eine andere Art und Weise konnotiert als bei Pessoa. Es fungiert hier zwar traditionell als Verlängerung der patria, wird jedoch – und somit auch die patria – in den Kontext der Piraterie gebracht. Die Darstellung von Seefahrern als Gesetzlose erscheint in diesem Zusammenhang
85 Ebda., S. 72. 86 Ebda., S. 72. 87 Ebda., S. 59. 88 Eduardo Prado Coelho: Uma personalidade, um tempo, uma obra – Sophia de Mello Breyner Andresen fala a Eduardo Prado Coelho. In: ICALP-Revista Nr. 6 (1986), S. 63 f. 89 Silvina Lopes Rodrigues: Aprendizagem do Incerto. Lisboa: Litoral Edições 1990, S. 21–26; Dies.: Poesia de Sophia de Mello Breyner Andresen. Lisboa: Comunicação 1989.
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als eine deutliche Infragestellung der Legitimation portugiesischer Kolonialpolitik. Pirata 90 Sou o único homem a bordo do meu barco. Os outros são monstros que não falam, Tigres e ursos que amarrei aos remos, E o meu desprezo reina sobre o mar. Gosto de uivar no vento com os mastros E de me abrir na brisa com as velas, E há momentos que são quase esquecimento Numa doçura imensa de regresso. A minha pátria é onde o vento passa, A minha amada é onde os roseirais dão flor, O meu desejo é o rastro que ficou das aves, E nunca acordo deste sonho e nunca durmo.
In den drei Quartetten spricht ein lyrisches Ich, das sich auf seinem Schiff befindet und dort eine spezifische Stellung einnimmt: «Sou o único homem a bordo do meu barco, / Os outros são monstros que não falam» (V. 1–2). Der Ausdruck «homem» (V. 1–2) weist explizit darauf hin, dass es sich bei dem lyrischen Ich um einen Menschen handelt, der im Gegensatz zu den «monstros que não falam» (V. 2) über die Fähigkeit der Sprache verfügt. Die tierischen Ungeheuer werden im dritten Vers als «Tigres e ursos» (V. 3) identifiziert, die das lyrische Ich an die Ruder gebunden hat: «que amarrei aos remos» (V. 3). Das lyrische Ich verfügt somit über eine enorme Macht, die es dazu befähigt, Tiger und Bären zu bändigen und sich zu Nutzen zu machen. In Verbindung mit dem Titel «Pirata» ergibt sich das Bild eines Piratenschiffes, auf dem das lyrische Ich als Kapitän seine Untergebenen gefangen hält und das von ihm befahrene Meer beherrscht: «E o meu desprezo reina sobre o mar.» (V. 4). Die Ausdrücke «monstros» (V. 2) und «desprezo» (V. 4) verdeutlichen zudem die Verachtung, die das lyrische Ich für seine Umgebung empfindet.
90 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 231 [Coral, 1950]. Dt.: «Pirat // Ich bin der einzige Mensch an Bord meines Schiffes. / Die anderen sind Ungeheuer, die nicht sprechen, / Tiger und Bären, die ich an die Ruder festgebunden habe, / Und meine Verachtung beherrscht das Meer. // Ich mag es im Wind mit den Masten zu heulen / Und mich in der Brise mit den Segeln zu öffnen, / Und es gibt Momente, die fast Vergessenheit sind / In einer unerschöpflichen Süße der Rückkehr. // Meine Heimat ist dort, wo der Wind vorüberzieht, / Meine Geliebte ist dort, wo der Rosenstock blüht, / Mein Verlangen ist die Spur, die von den Vögeln blieb, / Und niemals erwache ich aus diesem Traum und niemals schlafe ich.» [Übersetzung d. Verf.]
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Das lyrische Ich genießt gemeinsam mit den Masten und Segeln, die hier metonymisch für das gesamte Schiff stehen, den Meereswind: «Gosto de uivar no vento com os mastros / E de me abrir na brisa com as velas» (V. 5–6). Das Heulen mit dem Wind komplettiert das Stereotyp des wilden Seeräubers, der, vereint mit seinem Schiff, sein Leben auf dem Meer verbringt und furchtlos das Risiko des Schiffbruchs in Kauf nimmt. Eine besondere Süße liegt für das lyrische Ich jedoch im «regresso» (V. 8). Es wird nicht spezifiziert, welches der Ort seiner Rückkehr ist, zudem wird die Zeit der Rückkehr als ein Moment beschrieben, der dem Vergessen nahe kommt. Die Rückkehr wird somit als etwas beschrieben, das sich räumlich und zeitlich auflöst, da es noch nicht einmal in der Erinnerung vorkommt: «momentos que são quase esquecimento» (V. 7). Nur das Gefühl der «doçura imensa» (V. 8) wird in diesem Zusammenhang erinnert. Im dritten Quartett wird in den Versen neun und zehn mit «A minha pátria» (V. 9) der Zielort der Rückkehr genannt, der jedoch nur durch «onde o vento passa» (V. 9) näher bestimmt wird, was im Rückbezug zum zweiten Quartett und das verbindende Element des Windes auf das Meer zu beziehen ist, das damit als patria erscheint. Einerseits ist das Vergessen der Momente der Rückkehr, also das Vergessen des Ausgangsortes der Seereise, ein Hinweis darauf, dass das Meer entweder supplementär als patria fungiert oder endgültig ihren Platz eingenommen hat. Andererseits wird auf die Tatsache Bezug genommen, dass das Meer spätestens seit der Entdeckung des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama Teil der portugiesischen Identitätskonzeptionen ist. Denn bereits im darauffolgenden Vers, der anaphorisch mit «A minha amada» (V. 10) beginnt, wird der Terceiro Canto der Lusíadas intertextuell aufgerufen: Eis aqui, quase cume da cabeça De Europa toda, o Reino Lusitano, Onde a terra se acaba e o mar começa E onde Febo repousa no Oceano. […] Esta é a ditosa pátria minha amada,91
Nicht nur die camonianische Bezeichnung der «pátria» als «minha amada», sondern auch ihre untrennbare Verbindung mit dem Meer und dessen göttlichen Bewohnern, wurde in «Pirata» aufgegriffen. So heißt es weiter im zehnten Vers: «onde as roseirais dão flor» (V. 10). Die blühenden «roseirais» 92 sind zwar 91 Luís de Camões: Os Lusíadas – Die Lusiaden. Aus dem Portugiesischen von Hans-Joachim Schaeffer. Berlin: Elfenbein Verlag 42010, S. 132–134. 92 Das Gedicht «Os Navegadores» [Mar Novo, 1958] enthält eine andere Variante des Bildes: «O mar manda florir seus roseirais de espuma» (V. 6).
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ein erster Verweis auf ein Land, in Verbindung mit dem Meer verweisen sie jedoch auf Aphrodite, bei deren Geburt aus dem Meeresschaum ein Dornenstock wächst, den die Götter mit Nektar beträufeln, so dass aus ihm Rosen erblühen. In den Lusíadas ist es Aphrodite beziehungsweise ihr römisches Äquivalent Venus, welche die portugiesischen Seefahrer beschützt. Das ambivalente Symbol der Rose 93 spiegelt die ebenso gespaltene Symbolik des Meeres, wie sie auch von Pessoa thematisiert wird: «Deus ao mar o perigo e o abismo deu, / Mas nele é que espelhou o céu».94 Das lyrische Ich bewegt sich hier innerhalb der Diskursgrenzen des Estado Novo, denn die mythische Heraufbeschwörung des portugiesischen Vaterlandes in den Lusíadas ist Teil des offiziellen Identitätsdiskurses und wurde beispielsweise 1940 bei der Exposição do Mundo Português künstlerisch verarbeitet.95 Und auch Pessoas Mensagem wurde, wenn auch unbeabsichtigt, durch die Auszeichnung mit dem Prémio Antero de Quental offiziell durch das Secretariado da Propaganda Nacional in den patriotischen Diskurs aufgenommen.96 Doch während bei Camões und
93 «Die Ambivalenz des Symbols äußert sich darin, dass auch aus dem Blut des tödlich verwundeten Adonis, Aphrodites Geliebtem, R. wachsen.», aus: Günther Butzer/Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart: J. B. Metzler 2008, S. 301b–304b, hier: S. 302a. 94 Fernando Pessoa: Mensagem, S. 60, V. 12. 95 So ist auch Camões eine der Persönlichkeiten auf dem Padrão dos Descobrimentos. 96 Was Pessoa von dieser Auszeichnung hielt, beschreibt José Barreto: «Quando o escritor premiado, repelindo a transparente tentativa de captação, exibiu a breve trecho a sua independência política através de uma afrontosa defesa pública da Maçonaria, então o principal inimigo do regime, logo a obra Mensagem serviu ao órgão oficial do governo para o trocadilho chocarreiro maçagem, com o intuito de desqualificar a intervenção do ingrato escritor, acrescentando um desabafo significativo: ‹Vá lá a gente fiar-se em poetas!› Pessoa, por seu lado, comentaria o episódio com incontida satisfação: ‹Pela primeira vez na minha vida fabriquei uma bomba› (PESSOA, 2011, p. 92). Contudo, impedido pela censura de responder aos críticos do seu artigo-bomba, o escritor acabou por se refugiar numa atitude de pessimismo e resignação.» (José Barreto: A poesia política de Fernando Pessoa. In: Abril – Revista do Núcleo de Estudos de Literatura Portuguesa e Africana da UFF 7, Nr. 14 (2015), S. 189–209, hier: S. 206 f.). Der Nationalismus Fernando Pessoas ist nicht mit dem Salazarismus zu verwechseln. Von dieser Zuschreibung wurde Pessoa endgültig nach 1974 in verschiedenen Kollektionen bis dato unveröffentlichter Texte befreit. Vgl. Fernando Pessoa: Da República (1910–1935). Hrsg. von Joel Serrão. Lissabon: Àtica 1978; Fernando Pessoa: Pessoa Inédito. Hrsg. von Teresa Rita Lopes. Lissabon: Livros Horizonte 1993; Fernando Pessoa: Contra Salazar. Hrsg. von António Lourenço. Coimbra: Angelus Novus 2008; Fernando Pessoa: Sobre o Fascismo, a Ditadura Militar e Salazar. Hrsg. von José Barreto. Lisboa: Tinta-da-China 2015. Vgl. auch die Studien von João Alves das Neves: Fernando Pessoa, Salazar e o Estado Novo. Santo André, SP: Fabricando Ideias 2009, und von José Barreto: A poesia política de Fernando Pessoa. In: Abril – Revista do Núcleo de Estudos de Literatura Portuguesa e Africana da UFF 7, Nr. 14 (2015), S. 189–209.
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Pessoa das Meer Schauplatz portugiesischer Größe und Heldengeschichten ist, für die es sich im Namen des Vaterlandes zu leiden lohnt, steht in «Pirata» das Meer, und somit die patria, unter der Herrschaft eines Piraten. Es ist nicht nur das Meer, das hier metonymisch auf die patria verweist, denn auch das Schiff gilt traditionell als Metapher für eine politische Gemeinschaft, deren Oberhaupt das Steuer in der Hand hält. Der Pirat, der als absolute Machtinstanz mit Verachtung über das Meer regiert (V. 4), ist somit als Metapher des Staatsoberhaupts zu lesen. Übertragen auf das autoritäre Regime des Estado Novo, wird damit im ersten Quartett darauf angespielt, dass alles Rauschhafte und Unkontrollierbare, das hier metaphorisch durch Tiger und Bären dargestellt wird, an die Ruder gefesselt wurde, also als Arbeitskraft benutzt und unter Kontrolle gehalten wird. Die Kräfte des Volkes werden mit Gewalt nutzbar gemacht, um das Schiff beziehungsweise das Land voranzubringen, sie lenken es jedoch nicht. Das Nicht-Sprechen der gefangenen Tiere verweist somit auch auf die Sprachunfähigkeit derjenigen, die vom führenden Diskurs ausgeschlossen sind, sei es aufgrund ihrer sozialen Stellung, ihrer mangelnden Bildung oder wegen nicht diskurskonformer Aussagen. Nach Foucault gilt das Schiff als prototypische Heterotopie,97 also als ein Ort der vom Diskurs ausgegrenzten Paradigmen und Sprecher. In «Pirata» werden diese ebenso auf ein Schiff verbannt. Verstärkt wird die Bindung von «pátria» und «Pirata» durch das Wortmaterial selbst, denn der Titel PIRATA ist ein Anagramm von PATRIA. Zudem verbirgt sich hinter diesem Verfahren ein metapoetischer Verweis auf das ‹Gemachtsein› des Gedichts, da Anagramme traditionell als kryptographische Verfahren benutzt werden. Somit enthält das Anagrammpaar PIRATA-PATRIA einen metapoetischen Hinweis auf die Notwendigkeit der Entschlüsselung und damit auf die Existenz eines nicht diskurskonformen Inhalts. Die annähernd materielle Identität der Signifikanten evoziert, dass die ambivalente Symbolik des Seeräubers, der einerseits für Freiheitsdrang und Unabhängigkeit und andererseits für Gewaltherrschaft und Gefahren steht, auch in der pátria enthalten ist. Diese wird ebenfalls autoritär regiert und isoliert sich, als Zeichen der Unabhängigkeit, vom Rest Europas. So ist hier letztlich die Bezichtigung kodiert, dass das Land beziehungsweise diejenigen, die es regieren, gesetzlose Verbrecher sind.
97 Michel Foucault: Des espaces autres [1967/1984]. In: Ders.: Dits et Écrits 1954–1988. Vol. II 1976–1988. Édition établies sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange. Paris: Quarto Gallimard 2005, S. 1571–1581, hier: S. 1581.
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Im vorletzten Vers wird das Verlangen des lyrischen Ichs in der Spur vorbeiziehender Vögel lokalisiert: «O meu desejo é o rastro que ficou das aves» (V. 11). Die Vögel, symbolisch ebenso ambivalent wie das Meer und der Pirat, da sie sowohl als Freiheitssymbol als auch als Unheilsboten gelten, sind nicht mehr am Himmel, sondern nur die Spur, die sie hinterlassen haben. Während «rastro» (V. 11) ebenfalls als metapoetischer Verweis auf einen geheimen Text zu lesen ist, wurden die Vögel in der Seefahrt auch als Hilfe bei der Navigation benutzt, da sie Richtung Land fliegen. Der «desejo» (V. 11) bezieht sich auf die Spur der Vögel und somit auf den Weg, den sie vorgeben. Das lyrische Ich sehnt sich somit danach, dort anzukommen, wo auch die Vögel hinfliegen. Die Sicherheit über die eingeschlagene Richtung wird jedoch im nächsten und letzten Vers getrübt, der eine Antithese von Traum- und Wachzustand enthält: «E nunca acordo deste sonho e nunca durmo» (V. 12). Durch das Nicht-Aufwachen aus dem Traum verweilt das lyrische Ich in einem unendlichen irrealen Zustand, während es gleichzeitig nicht schläft, also keinen Frieden findet. Die parallele, sich wiederholende Satzstruktur sowie die Verwendung des Präsens drückt auch strukturell die Gleichzeitigkeit der antithetischen Zustände aus. Während der permanente Wachzustand auf unerledigte Verpflichtungen oder unerfüllte Bedürfnisse verweist, die den Schlaf verhindern, ist das Zusammenfallen von Traum und Wirklichkeit ein Hinweis auf eine Entfremdung von der Realität und sich selbst. Die in diesem Gedicht aufgeworfene Analogie zwischen Piraterie und Eroberungsfahrt im Namen der pátria rückt die gesamte Kolonialgeschichte, und damit das Hauptargument des patriotischen Diskurses im Estado Novo, in ein völlig anderes Licht. Der Seefahrer ist hier kein Held, der im Namen des Vaterlands fremde Welten entdeckt und erobert, sondern ein Seeräuber, der jenseits des Gesetzes nach seinen eigenen Regeln lebt, auf Raubzüge geht und Unschuldige versklavt. Die Darstellung der portugiesischen Geschichte, auf die sich das Argument des Erhalts der Kolonien stützt und die als Legitimation der Politik des Estado Novo fungiert, wird hier subtil, aber erkennbar, in Frage gestellt. Sophia Andresen nimmt mit diesem poetischen Text postkoloniale Theoreme vorweg und etabliert in der Figur des Seeräubers eine kritische Sicht auf die Kolonialpolitik Portugals.
I.2.3 Entfremdung und Exil Die Entfremdung von der patria und die Infragestellung der ideologisch dominanten kollektiven Erinnerung wird auch in dem 1954 erschienenen Gedicht «A longinqua memória de uma pátria» zum Ausdruck gebracht.
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A longinqua memória de uma pátria Eterna mas perdida e não sabemos Se é passado ou futuro onde a perdemos 98
Im ersten Vers wird eine Verbindung zwischen «A longinqua memória» (V. 1) und «pátria» (V. 1) hergestellt. Die antithetischen Attribute «Eterna mas perdida» (V. 2) sind durch das Enjambement syntaktisch stärker mit «pátria» (V. 1) verbunden, aber grammatikalisch ebenso auf «memória» (V. 1) zu beziehen. Der Begriff der Erinnerung impliziert bereits einen Bezug zu etwas Vergangenem sowie den Verlust des erinnerten Objekts, der durch das Erinnern jedoch ewig fortbesteht. Die «memória» (V. 1) vereint somit die Antithese «Eterna mas perdida» (V. 2) in sich und löst sie auf. Es wird auf eine verlorene «pátria» (V. 1) angespielt, die in der Erinnerung ewig erhalten bleibt. Die Erinnerung ist jedoch fern, «longinqua» (V. 1), wodurch auch die «pátria» (V. 1) in die Ferne rückt. Syntaktisch erfolgt an dieser Stelle, in der Mitte des Gedichts, eine Zäsur, die durch die Konjunktion «e» (V. 2) markiert ist. Die Nachzeitigkeit der Sprechsituation, zuvor ausgedrückt durch «longinqua memória» (V. 1) und «perdida» (V. 2) wird in der zweiten Hälfte des Gedichts infrage gestellt. In «não sabemos» (V. 2) und «perdemos» (V. 3) wird ein lyrisches Wir sichtbar, das seine Unsicherheit bezüglich eines kollektiven Verlusts ausdrückt. Die Unsicherheit bezieht sich jedoch nicht auf den Gegenstand des Verlusts, sondern auf die Zeit, die sich im dritten Vers durch die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, «passado» (V. 3), Zukunft, «futuro» (V. 3) und Gegenwart, «perdemos» (V. 3), auflöst. Durch die Auflösung der Zeitlichkeit wird das Konzept der Erinnerung von Grund auf in Frage gestellt. Die Verunsicherung über den Lauf der Zeit drückt ein starkes Misstrauen allem Erinnerten gegenüber aus und somit auch gegenüber der patria. Wenn alle Zeiten ineinander überfließen, kann es keine verlässliche Erinnerung an das Wesen einer patria geben. Sie ist somit auf jeden Fall verloren, was auch durch das wiederholte Einschreiben des Verlusts in «perdida» (V. 2) und «perdemos» (V. 3) betont wird. Die Funktionalisierung von Erinnerung als Stifter einer kollektiven Identität, einer pátria, ist hier mit großer Verunsicherung verbunden, denn niemand hat die Kontrolle über die Zeit. Das Band zwischen den Paradigmen Erinnerung und Identität, das im Diskurs des Estado Novo unanfechtbar ist, wird vom lyrischen Wir als vage dargestellt, da es immer schon von etwas Verlorenem ausgeht, über das niemand sichere Aussagen machen kann.
98 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 263 [No Tempo Dividido, 1954]. Dt.: «Die ferne Erinnerung an eine Heimat / Ewig aber verloren und wir wissen nicht / Ob es Vergangenheit oder Zukunft ist, in der wir sie verlieren» [Übersetzung d. Verf.]
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Eine ähnliche Verunsicherung lässt sich in dem Gedicht «Pátria» von 1962 feststellen, in dem das lyrische Ich den im Titel angegebenen Sprechgegenstand in fünf unterschiedlich langen Strophen umkreist: Pátria 99 Por um país de pedra e vento duro Por um país de luz perfeita e clara Pelo negro da terra e pelo branco do muro Pelos rostos de silêncio e de paciência Que a miséria longamente desenhou Rente aos ossos com toda a exactidão Do longo relatório irrecusável E pelos rostos iguais ao sol e ao vento E pela limpidez das tão amadas Palavras sempre ditas com paixão Pela cor e pelo peso das palavras Pelo concreto silêncio limpo das palavras Donde se erguem as coisas nomeadas Pela nudez das palavras deslumbradas – Pedra rio vento casa Pranto dia canto alento Espaço raiz e água Ó minha pátria e meu centro Me dói a lua me soluça o mar E o exílio se inscreve em pleno tempo
In den Strophen eins bis drei werden antithetische Objekte und Zustände beschrieben, die, hauptsächlich aus dem Bereich der Natur entnommen, auf die «Pátria» im Titel zurückverweisen. In der ersten Strophe werden mit «pedra e vento duro» (V. 1) und «negro da terra» (V. 3) Härte und Dunkelheit zum Aus-
99 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 429 [Livro Sexto, 1962]. Dt.: «Vaterland // Für ein Land aus Stein und hartem Wind / Für ein Land aus perfektem und reinem Licht / Für das Schwarz der Erde und für das Weiß der Mauer // Für die Gesichter des Schweigens und der Geduld / Die das Leid lange gezeichnet hat / Dicht an die Knochen mit aller Sorgfalt / Des langen, nicht zurückzuweisenden Berichts // Und für die Gesichter, die der Sonne und dem Wind gleichen / Und für die Klarheit der so geliebten / Worte, immer mit Leidenschaft gesprochen / Für die Farbe und für das Gewicht der Worte / Für die feste, saubere Stille der Worte / Aus denen sich die benannten Dinge erheben / Für die Nacktheit der begeisterten Worte // – Stein Fluss Wind Haus / Wehklage Tag Gesang Hauch / Raum Wurzel und Wasser / Oh mein Vaterland und mein Zentrum // Mich schmerzt der Mond mir schluchzt das Meer / Und das Exil schreibt sich mitten in die Zeit.» [Übersetzung d. Verf.]
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druck gebracht und mit Helligkeit und Vollkommenheit kontrastiert: «luz perfeita e clara» (V. 2) und «branco do muro» (V. 3). Das Gedicht beginnt mit zwei anaphorischen Strukturen, «Por um país … / Por um país» (V. 1–2) und «Pelo … e pelo … / Pelos …» (V. 3–4), wobei die zweite Konstruktion einerseits die Grenzen der ersten Strophe überschreitet und diese mit der zweiten Strophe verbindet und andererseits durch die dreifache Anapher die Dynamik erhöht. Auf der lautlichen Ebene wird die beschriebene Härte im gesamten Gedicht durch eine auffällig hohe Anzahl der stimmlosen Plosive [p], [t] und [k] zusätzlich betont. Während [p] und [t] auf «Pátria» zurückverweisen, verleiht diese Lautwahl insgesamt der Sprache des Gedichts eine für die portugiesische Sprache ungewohnte Härte. Die zweite Strophe ist zwar strukturell mit der ersten verbunden, semantisch erfolgt jedoch an der Strophengrenze ein Bruch, da nun keine Gegenstände, sondern Menschen thematisiert werden – metonymisch durch ihre Gesichter repräsentiert: «Pelos rostos de silêncio e de paciência» (V. 5). Es handelt sich hier genau wie in den Versen der ersten Strophe um eine duale Struktur, die jedoch keine Antithese beinhaltet und durch die Endungen «-êncio» und «-ência» zudem eine lautliche Äquivalenz aufweist. Des Weiteren scheint eine Beschreibung durch Adjektive an dieser Stelle nicht auszureichen, stattdessen beziehen sich die gesamten drei folgenden Verse auf die «rostos» (V. 5). Die Stille und die Geduld, die hier den Menschen zugeschrieben wird, werden lautlich untermalt durch einen Eindruck des Mangels, der durch das Fehlen des Plosivs [p] in den Versen fünf bis sieben entsteht. Mit «rostos» (V. 5) und «ossos» (V. 7) wird metonymisch auf den Körper der Menschen Bezug genommen, der von der Situation, die als «miséria» (V. 6) bezeichnet wird und schon lange andauert, gezeichnet ist. Die Situation ist also sichtbar in die Menschen eingeschrieben, mit der gleichen Genauigkeit wie ein «relatório irrecusável» (V. 7), also ein Bericht, den niemand abstreiten kann. Nach dieser lautlich markierten Pause wird in der darauf folgenden dritten Strophe mit «E pelos … / E pela …» (V. 8–9) wieder an die anaphorische Struktur und die Häufung der Plosive aus den ersten Versen angeknüpft. Semantisch wird im achten Vers zunächst wiederholt auf die «rostos» (V. 5, 8) Bezug genommen, und durch die Gleichsetzung mit «sol» (V. 9) und «vento» (V. 8, 1) erfolgt ein Rückbezug zur Härte, «vento duro» (V. 1), und Helligkeit, «luz perfeita e clara» (V. 2), der ersten Strophe. So werden Mensch und Natur schließlich auch in einen semantischen Zusammenhang gebracht. Im neunten Vers wird durch die Anapher «E pela …» (V. 9) an die vorhergehenden Verse angeknüpft, semantisch geht es in der dritten und längsten Strophe jedoch um die Sprache. Die vierfach aufgerufenen «palavras» (V. 10, 11, 12, 14) werden entsprechend der im Gedicht bereits entfalteten Gegensätze charakterisiert. Zum
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einen weisen sie durch die Zuschreibungen «amadas» (V. 9), «paixão» (V. 10) und «deslumbradas» (V. 14) auf den Menschen und die Gefühle zurück, deren Ausdruck und Auslöser sie sind, zum anderen werden sie durch «limpidez» (V. 9), «cor» (V. 11) und «peso» (V. 11) auch in einen eher dinglichen Bereich eingeschrieben und schließlich für das Entstehen der Dinge verantwortlich gemacht: «palavras / Donde se erguem as coisas nomeadas» (V. 12–13). Diese schöpferische Macht der Wörter wird durch das Oxymoron «concreto silêncio limpo das palavras» (V. 12) mit der Isotopie der Reinheit und des Lichts verknüpft, die das Gedicht durchzieht: «luz perfeita e clara» (V. 2), «branco» (V. 3), «sol» (V. 8), «limpidez» (V. 9), «limpo» (V. 12), «nudez» (V. 14), «dia» (V. 16), «lua» (V. 19). Es ist eine reine, eindeutige Sprache, deren Aufgabe es ist, Licht ins Dunkel zu bringen. Der Verweis durch «concreto» (V. 12) zurück auf «exactidão» (V. 6) und den «relatório irrecusavel» (V. 7) stützt die metaphorische Auflösung der Lichtisotopie zu einem Verlangen nach Wahrheit. Die Charakterisierung der Sprache, durch die mehrmalige Nennung der «palavras» (V. 10, 11, 12, 14) und ihrer verschiedenen Attribute, leitet die vierte Strophe ein, in der zunächst in drei Versen in Form von Asyndeta Substantive aufgezählt werden, die einerseits aus dem Bereich der Natur stammen, andererseits mit «pranto» (V. 16) und «canto» (V. 16) auf die Sprache und sprachliche Ausdrucksformen verweisen. Die darauf folgende Apostrophe «Ó minha pátria e meu centro» (V. 18) setzt die zuvor aufgezählten Begriffe in Bezug zur «pátria». An dieser Stelle ist zum ersten Mal das lyrische Ich durch die Possessiva «minha» und «meu» erkennbar und es erklärt die «pátria» zu seinem Zentrum. In der Apostrophe wird zwar ein Zugehörigkeitsgefühl ausgedrückt, was jedoch in Kontrast steht zu den zuvor nüchtern und lose aufgezählten Substantiven. Zudem entsteht vor allem in der zweiten Strophe, in der die lautliche Verbindung zur «Pátria» genau an der Stelle abbricht, an der von den Menschen des Landes die Rede ist, ein Eindruck der Distanz und der Entfremdung. Das Einzige, was dem lyrischen Ich einen patriotischen Ausruf entlockt, ist die Sprache: die «palavras deslumbradas» (V. 14), von denen eine unerbittliche Härte, aber auch eine unschuldige Reinheit ausgeht. Die Menschen, die in der zweiten Strophe beschrieben werden, benutzen diese Sprache jedoch nicht, sie verharren in «silêncio e paciência» (V. 4). Ihr Leid, ihre «miséria» (V. 5), ist in ihnen eingeschrieben, findet jedoch keine Möglichkeit des Ausdrucks. Stattdessen ist es die Natur, die die schmerzliche Wahrheit transportiert und in den «pranto» (V. 16) mit einstimmt: «Me dói a lua me soluça o mar» (V. 19). Die ausgedrückte Verzweiflung erreicht im letzten Vers seinen Höhepunkt: «E o exílio se inscreve em pleno tempo» (V. 20). Das Exil impliziert einen Ausschluss aus der zuvor emphatisch angerufenen «pátria» (V. 18) und verstärkt den Eindruck der Entfremdung. Der Begriff ist Teil des patriotischen Diskurses
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und verdeutlich seine hermetische Abgeschlossenheit. Wer nicht daran teilnimmt, weil er nicht über die schöpferische Kraft der Wörter verfügt oder zum Schweigen oder zur Geduld verordnet ist, befindet sich immer schon in einem Außenraum. Das Exil wird hier jedoch nicht räumlich, sondern zeitlich verortet. So wird damit kein Raum, sondern ein Zustand beschrieben, der sich ausbreitet, da das Leid des Volkes nicht Teil der diskursiv produzierten pátria sein darf. Ebenso allgegenwärtig wie das Leid, das sich in der Natur spiegelt, ist auch das Exil: «se inscreve em pleno tempo» (V. 20). Die Verortung des Exils innerhalb der patria wird mit ähnlichem Wortmaterial auch in einem weiteren Gedicht desselben Bandes, Livro Sexto, verdeutlicht: Exílio 100 Quando a pátria que temos nao a temos Perdida por silêncio e por renúncia Até a voz do mar se torna exílio E a luz que nos rodeia é como grades
Hier wird durch eine Antithese im ersten Vers offensichtlich, dass die Beziehung zwischen dem lyrischen Wir und der patria instabil ist: «Quando a pátria que temos não a temos» (V. 1). Zwar bekundet das lyrische Wir seine grundsätzliche Zugehörigkeit zur patria, erklärt aber gleichzeitig, nicht über sie zu verfügen. Im zweiten Vers wird die Situation verdeutlicht, denn die patria wird beschrieben als «Perdida por silêncio e por renúncia» (V. 2). Wieder ist es die Stille, das Schweigen, worin der Verlust seinen Ursprung hat. Mit «renúncia» (V. 2) bleibt zudem der Bereich der Untätigkeit nicht auf die Stimme beschränkt, stattdessen wird die Resignation und Angst, die hinter dieser Starre steckt, generalisiert. Die beschriebenen Gefühle breiten sich so weit aus, dass wiederum die Natur von ihnen befallen wird. Während in «Pátria» das Meer das Leid teilt – «me soluça o mar» (V. 20) – wird in «Exílio» die Stimme des personifizierten Meeres zu einer exilierten Stimme: «Até a voz do mar se torna exílio» (V. 3). Anders als in «Pátria» wird das Meer hier zur Fremde. Die patria wird nicht mehr als zugehörig zum lyrischen Wir anerkannt und damit ist auch das darin eingeschlossene Meer fremd geworden. Auch das Licht ist Bestandteil dieses Gedichts: «E a luz que nos rodeia é como grades» (V. 4). Es umgibt das lyrische Wir und wird mit «grades» (V. 4),
100 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 432 [Livro Sexto, 1962]. Dt.: «Wenn wir das Vaterland, das wir haben, nicht haben / Verloren durch Stille und Aufgabe / Wird sogar die Stimme des Meeres zum Exil / Und das Licht, das uns umgibt, ist wie Gitter» [Übersetzung d. Verf.]
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also Gittern, verglichen101. Es wird eine Gefangenschaft im eigenen Land beschrieben, die so allumfassend ist, wie das Licht. Diese Gefangenschaft verweist zurück auf den Titel des Gedichts, «Exílio», durch den der Text sich selbst außerhalb des patriotischen Diskurses verortet, als Hinweis darauf, dass er nur dort existieren darf. Dieses Gedicht macht die Tragweite der verdeckten Schreibweise deutlich, die Sophia Andresen nutzte, um den Sanktionen der Zensur zu umgehen und den geringen Spielraum auszuschöpfen: Ihre Gedichte enthalten bei vordergründiger Schlichtheit und vermeintlich philosophisch-allgemeiner Reflexion über die condition humaine eine verdeckte Mehrdeutigkeit, die komplex und ästhetisch anspruchsvoll auf ihre eigenen Tiefenschichten verweist, ohne dabei explizit zu werden.
I.2.4 Mar Novo: Aufbrechen der Meer-Symbolik Im Jahr 1958 veröffentlicht Sophia Andresen den Gedichtband Mar Novo. Der Titel des Bandes ist ein direkter Widerspruch zu Pessoas «Mar português». Dies ist ein deutliches Signal dafür, dass sich der Band eben nicht im Zeichen der traditionell nationalistischen Meer-Metaphorik, sondern als Überwindung von Pessoas nationalmythischer Sprache versteht. Die Vorstellung von einem portugiesischen Meer und die daran geknüpfte Legitimation des Kolonialreiches erscheinen als veraltet, als etwas, das durch Neues ersetzt werden muss. Andresen versteht ihre Zeit als Zeit des ‹neuen Meeres›, das nicht – oder nicht mehr – nur und ausschließlich portugiesisch ist. Gleichzeitig verweist Mar Novo durch die Übereinstimmung des Attributs novo auf den durch Salazar geprägten Begriff «Estado Novo».102 Während also das Wortmaterial des Bandtitels eine Neukombination des pessoanischen Ausdrucks «Mar português» und des salazarschen Konzepts des «Estado Novo» ist und somit auf den ersten Blick aus dem herrschenden Patriotismusdiskurs zu stammen scheint, wenden sich die Gedichte des Bandes gegen diesen Diskurs, wie im Folgenden an einem Beispiel aufgezeigt werden soll.
101 Vgl. u. a. Sophia Andresen: Este é o tempo. In: Dies.: Obra Poética, S. 338 [Mar Novo, 1958]. 102 Scotti-Rosin deutet die Bezeichnung der Staatsform ab 1930 als «Estado Novo» als geschickte propagandistische Wahl, welche die Mehrdeutigkeit des Adjektivs novo (dt. ‹neu›, ‹jung›) ausnutzt. Im salazaristischen Diskurs ist novo kein Widerspruch zur Tradition. Der ‹Neue/Junge› Staat vertritt den Anspruch, bewährte Traditionen mit Neuem zu verbinden und sieht sich als Bindeglied zwischen der glorreichen Vergangenheit und dem 20. Jahrhundert. Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 243–249.
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So erschließt sich ein zweiter, konkreterer Bezug des Titels Mar Novo aus dem letzten Gedicht des Bandes, das aus zwei Teilen besteht und einen ungewöhnlich langen Titel trägt: «Poema inspirado nos panéis que Júlio Resende desenhou para o monumento que devia ser construído em Sagres». Sowohl das Gedicht als auch der gesamte Band beziehen sich damit auf ein Bauprojekt, das ebenfalls den Titel «Mar Novo» trug und 1956 die staatliche Ausschreibung für die Errichtung eines Monuments zu Ehren D. Henriques in Sagres gewonnen hatte. Sagres liegt nahe des Cabo de São Vicente, der südwestlichen Spitze Portugals und Europas, und war im 15. Jahrhundert der Startpunkt vieler portugiesischer Seereisen. Im 20. Jahrhundert wurde er als mythischer Ort der portugiesischen Geschichte beworben und touristisch erschlossen.103 Das Projekt wurde von Sophia Andresens Bruder, dem Architekten João Andresen, gemeinsam mit dem Bildhauer Salvador Barata Feyo und dem Maler Júlio Resende als Vorschlag eingereicht und gewann den Wettbewerb. Der Bau des Monuments wurde jedoch ein Jahr später durch einen Regierungsentscheid verhindert.104 Sophia Andresen erinnert mit ihrem Gedichtband Mar Novo an das nicht realisierte Bauprojekt und thematisiert diesen Fall ebenfalls in dem folgenden Gedicht:
103 So ist beispielsweise die Existenz einer «Escola de Sagres» im 15. Jahrhundert ein nationaler Mythos, der im 18. und 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt hatte, im 19. Jahrhundert angezweifelt und schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts u. a. von Duarte Leite als faktisch falsch bezeichnet wurde (Duarte Leite: História dos Descobrimentos. Colectânea de esparsos. Organização, notas e estudo final de Vitorino Magalhães Godinho. Lisboa: Editora Cosmos 1958.) Oliveira Martins hatte 1891 in Os Filhos de D. João I. noch die Existenz der Seefahrerschule als Faktum übernommen. Die Legende wurde ursprünglich 1625 von Samuel Purchas begründet, der sich auf eine Chronik von João de Barros berief, in dem dieser die Ankunft eines mallorquinischen Nautikexperten in Portugal beschreibt, der die portugiesischen Seefahrtsoffiziere unterrichten solle (vgl. Duarte Leite: História dos Descobrimentos. Colectânea de esparsos, S. 161). Ein affirmativer Verweis auf die These von Leite findet sich auch in: Francisco Fernandes Lopes: Terçanabal e a «Escola de Sagres». Comunicação apresentada em 4 de Outubro de 1944 ao Congresso Luso-Espanhol para o Progresso das Ciências em Córdova. Lisboa: Seara Nova 1945, S. 35 (Cadernos da Seara Nova, Estudos Históricos e Económicos). 104 José Guilherme Abreu: Sagres’ Saga. Monument in Landscape, or Landscape as Monument. In: CITAR: Research Center for Science and Technology of the Arts 4, Nr. 1 (2012), S. 11– 25, hier: S. 16 f.
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Poema inspirado nos panéis que Júlio Resende desenhou para o monumento que devia ser construído em Sagres 105 I Nenhuma ausência em ti cais da partida. Movimento ritual, surdo rumor de búzios, Alegria de ir ver o êxtase do mar Com suas ondas-cães, seus cavalos, Suas crinas de vento, seus colares de espuma, Seus gritos, seus perigos, seus abismos de fogo. Nenhuma ausência em ti cais da partida. Impetuosas velas, plenitude do tempo, Euforia desdobrando os seus gestos na hora luminosa Do Lusíada que parte para o universo puro Sem nenhum peso morto, sem nenhum obscuro Prenúncio de traição sob os seus passos. II Regresso Quem cantará vosso regresso morto Que lágrimas, que grito, hão-de dizer A desilusão e o peso em vosso corpo? Portugal tão cansado de morrer Ininterruptamente e devagar Enquanto o vento vivo vem do mar Quem são os vencedores desta agonia? Quem os senhores sombrios desta noite Onde se perde morre e se desvia A antiga linha clara e criadora Do nosso rosto voltado para o dia?
105 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 346 [Mar Novo, 1958]. Dt.: «Gedicht, inspiriert durch die Tafeln, die Júlio Resende für das Monument entworfen hat, das in Sagres gebaut werden sollte // I // Keine Abwesenheit in dir, Ablegekai. / Rituelle Bewegung, dumpfes Rauschen der Muscheln, / Freude, die Ekstase des Meeres anzuschauen / Mit seinen Hundewellen, seinen Pferden, / Seinen Windmähnen, seinen Schaumkragen, / Seinen Schreien, seinen Gefahren, seinen Abgründen aus Feuer. // Keine Abwesenheit in dir, Ablegekai. / Stürmische Segel, Fülle der Zeit, / Euphorie, die ihre Gesten entfaltet zur leuchtenden Stunde / Des Lusiaden, der ins reine Universum fährt / Ohne irgendein totes Gewicht, ohne irgendein dunkles / Anzeichen des Verrats unter seinen Schritten. // II // Rückkehr // Wer wird eure tote Rückkehr beweinen? / Welche Tränen, welcher Schrei, werden berichten / Von der Enttäuschung und dem Gewicht in eurem Körper? // Portugal so müde des Sterbens / Ununterbrochen und langsam / Während der lebendige Wind vom Meer kommt // Wer sind die Gewinner dieser Agonie? / Wer die düsteren Herren dieser Nacht / Wo sich verliert stirbt und abweicht / Die alte Linie, klar und schöpferisch, / Unseres dem Tag zugewandten Gesichts?» [Übersetzung d. Verf.]
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Der erste Teil des Gedichts besteht aus zwei Sextetten, die jeweils mit demselben Vers beginnen: «Nenhuma ausência em ti cais da partida.» (V. 1, 7). Darin wird ein lyrisches Du angesprochen, das nachgestellt als «cais da partida» benannt wird. Der besungene Ort, ein Abfahrtskai, wird bereits durch den im Titel erwähnten Küstenort Sagres mythisch aufgeladen. Durch den mit Sagres verbundenen Mythos um Heinrich den Seefahrer erinnert der Kai unwillkürlich an die Abfahrten der portugiesischen Seefahrer des 15. Jahrhunderts. Die Abwesenheit, die logischerweise auf einen Aufbruch folgt, fehlt jedoch hier: «nenhuma ausência» (V. 1). Dies weist entweder darauf hin, dass keine Abfahrt stattfindet, oder dass die Aufgebrochenen immer noch präsent sind. Im zweiten Vers wird durch die in «Movimento ritual» (V. 2) ausgedrückte Gleichmäßigkeit und das leise Muschelrauschen eine friedliche, unaufgeregte, aber auch erwartungsvolle Stimmung transportiert, die sogleich in Vers drei in einer heftigeren Gefühlsregung gipfelt: «Alegria de ir ver o êxtase do mar» (V. 3). Die letzten drei Verse der Strophe enthalten eine Reihung von Substantiven und Nominalkomposita, die sich durch Possessivpronomen zurück auf das Meer beziehen und es näher bestimmen. In Vers vier werden die Wellen mit Hunden und Pferden verglichen, was metaphorisch die wilde, ungestüme Seite des Meeres ausdrückt.106 Die in Vers fünf folgenden personifizierenden Metaphern der Windmähnen und Schaumkronen lassen weiterhin die unbändige Kraft des Meeres erahnen. Schließlich wird es auch durch die ihm zugeschriebenen «gritos» (V. 6) personifiziert, wobei die Schreie im Gegensatz zum «surdo rumor» (V. 2) stehen. Mit «perigos» (V. 6), werden allgemein die Gefahren benannt, die vom Meer ausgehen, während in den «abismos de fogo» (V. 6), die ebenfalls unter Wasser verortet sind und somit ein Oxymoron bilden, die todbringenden Schrecken der Meerestiefen ausgedrückt werden. Traditionell werden dieser Strophe Schönheit und Gefahr des Meeres einander gegenübergestellt. Nach der Wiederholung des ersten Verses zu Beginn der zweiten Strophe bleibt auch der achte Vers dem zweiten strukturell ähnlich. Er besteht ebenfalls aus einer Substantiv-Adjektiv-Konstruktion und einem Nominalkompositum. Die gewaltigen Segel 107 verweisen hier metonymisch auf ein Schiff, während die Fülle der Zeit den Eindruck von Vollkommenheit vermittelt. Auch die äquivalente Stellung der Substantive «Alegria» (V. 3) und «Euforia» (V. 9) ist auffällig, zumal auch semantisch eine Verwandtschaft besteht, die zudem eine Kli-
106 Vgl. Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. Reinbek: Rowohlt 1989, S. 58. 107 Der Entwurf von João Andresen für das Monument enthielt die Darstellung eines großen Segels.
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max aufweist. Während die «Alegria» (V. 3) nur beim Anblick des ekstatischen Meeres aufkommt, entfaltet sich die «Euforia» (V. 9) zu einem bestimmten Zeitpunkt, der als «hora luminosa» (V. 9) bezeichnet wird und sich im nächsten Vers als Stunde der Abfahrt herausstellt: «Do Lusíada que parte para o universo puro» (V. 11). Es ist ein Lusitaner, der – als pars pro toto – hinaus auf das weite Meer fährt. Die Verwendung der Bezeichnung lusíada anstelle der gängigeren Bezeichnung lusitano, ist nicht nur ein unmissverständlicher Verweis auf die Lusíadas, sondern stellt dadurch auch die mythologische Begründung des Volkes der Lusitaner, so wie sie bei Camões dargestellt wird, deutlich in den Vordergrund. Demnach soll das portugiesische Volk vom Stamm des Gottes Lusus abstammen.108 Somit eröffnen sich hier mehrere Lesarten. Erstens ergibt sich das Bild des Lusitaners, der mit seinem Schiff in die Welt hinauszieht. Zweitens ergibt sich durch den Bezug zu seinem Werk Os Lusíadas eine Verbindung zur Person Luís de Camões, der selbst im 16. Jahrhundert bis nach Macau gereist war. Und drittens, da lusíadas sowohl das lusitanische Volk als auch Camões’ epische Gedichte bezeichnet, wird hier metapoetisch auf die Berühmtheit der heroischen Verse der Lusíadas angespielt, die als portugiesisches Nationalepos ebenfalls die Meere überquert haben und weltweit bekannt sind. Die letzten drei Verse werden durch den einzigen Reim des Gedichts, «puro» (V. 10) und «obscuro» (V. 11), sowie das einzige harte Enjambement «sem nenhum obscuro / Prenúncio de traição« (V. 11–12) hervorgehoben und so syntaktisch-lautlich als Höhepunkt des ersten Gedichts markiert. Bemerkenswert ist in diesen Versen, dass die Welt zum Zeitpunkt des Aufbruchs, «na hora luminosa» (V. 9), ein «universo puro» (V. 11) ist. Zudem wird der Lusitaner zum Zeitpunkt seiner Abfahrt in diese reine Welt als «Sem nenhum peso morto» (V. 11) und «sem nenhum obscuro / Prenúncio de traição sob os seus passos. (V. 12) beschrieben, syntaktisch hervorgehoben durch die Wiederholung der Verneinung «sem nenhum» (V. 11). Trotz der Verneinung sind Tod und Verrat durch ihre wörtliche Erwähnung präsent. Zwar gibt es keine sichtbaren Anzeichen, jedoch ist die Abwesenheit von Tod und Verrat zeitlich gebunden. Ihre Abwesenheit ist nur solange gesichert, bis die «hora luminosa» (V. 10), die euphorische Zeit des Aufbruchs, vorüber ist. Während im ersten Gedicht durch die Isotopie des Aufbruchs mit «cais de partida» (V. 1, 7) und «parte» (V. 10) deutlich wird, dass hier die Abfahrt eines Schiffes thematisiert wird, kündigt der Titel des zweiten Gedichts, «Regresso», die Heimkehr an. In der ersten der drei Strophen des Gedichts, einem Terzett,
108 Os Lusíadas, Canto VIII, 2–4 (Luís de Camões: Os Lusíadas. Herausgegeben von Amélia Pinto. Porto: Areal 1996, S. 470 f.).
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wird die Frage danach gestellt, wer die toten Körper bei ihrer Rückkehr beweinen werde. Der Gedanke an Tod und Verrat begleitet die Abfahrt als schreckliche Vorahnung, die durch das Futur ausgedrückt wird: «Quem cantará vosso regresso morto» (V. 1). Die Frage nach den Trauernden und den vergossenen «lágrimas» (V. 2) verweist auf das Bild der zurückgebliebenen Frauen, die ihre Söhne und Verlobten beweinen, das Pessoa in «Mar português» entworfen hatte. Während Pessoa die toten Seefahrer zu Märtyrern stilisiert, die sich für die Nation opfern, welche wiederum durch ihren Tod an Größe und an Ruhm gewinnt, ergibt sich hier im zweiten Terzett ein anderes Bild: «Portugal tão cansado de morrer / Ininterruptamente e devagar» (V. 4–5). Mit jedem Portugiesen stirbt metonymisch ein Stück des Landes. Anstatt des bei Pessoa ersehnten Ruhmes gibt es hier, in diesem Gedicht von Sophia Andresen, nur Müdigkeit. Der Tod ist viel präsenter, er wird als langwieriger, ständiger Prozess dargestellt. Dagegen erscheint das Meer trotz allem noch lebendig: «Enquanto o vento vivo vem do mar» (V. 6). Es ist vom Sterben und von den Tränen nicht betroffen: Das Meer ist hier somit ganz eindeutig nicht nur portugiesisch. Die Frage des Ruhms wird erst in der dritten Strophe, einem Quintett, gestellt: «Quem são os vencedores desta agonia?» (V. 7). Die Frage erinnert an Pessoas «Valeu a pena?», doch während Pessoa seine Frage noch im selben Vers zu beantworten beginnt und die Opfer durch ein ausreichend hoch gesetztes Ziel legitimiert, wird in diesem Text von Sophia Andresen eine zweite Frage gestellt, die eng mit der ersten verknüpft ist: «Quem os senhores sombrios desta noite» (V. 8). Die Verbindung ergibt sich nicht nur durch die anaphorische Aufeinanderfolge, sondern vor allem durch die elliptische Bildung der zweiten Frage. Durch das Fehlen des Verbs, muss auf die erste Frage zurückgegriffen werden. Mithilfe dieser Brachylogie werden die «vencedores» (V. 7) in eine direkte Analogie zu den «senhores sombrios» (V. 8) gebracht. Damit wird nahegelegt, dass es für beide Fragen nur eine Antwort gibt und somit die Gewinner der Situation gleichzeitig obskure Herrscher sind, die aus der Agonie des Landes ihren Gewinn ziehen. Diese werden im weiteren Verlauf der Frage bis zum Ende der Strophe der Nacht zugeordnet, die wiederum als ein Ort des Verlusts und des Todes beschrieben wird. An diesem Ort verliert sich «A antiga linha clara e criadora / Do nosso rosto voltado para o dia» (V. 10–11). Hier ist zum ersten Mal ein lyrisches Wir markiert, das somit als Fragender identifiziert ist. Es bezieht sich mit der «antiga linha clara e criadora» (V. 10) auf ein genealogisch verbundenes Kollektiv. Das Gesicht des Kollektivs ist dem Tag zugewandt, hoffnungsvoll und voller Tatendrang. Die «antiga linha» (V. 10) verweist auf eine geschichtliche Vorstellung. Sie erinnert an eine Vergangenheit, die durch die Attribute «clara e criadora» (V. 10) als Antithese zur Gegenwart
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steht, die ihrerseits durch Dunkelheit und Tod geprägt ist: «sombrios» (V. 8), «agonia» (V. 7), «noite» (V. 8), «morre»(V. 9). Durch das bereits zuvor angerufene «Portugal» (V. 4) ist es unverkennbar, dass es sich hier um das portugiesische Volk handelt, dessen Gesicht in der Vergangenheit dem Tag zugewandt war, der metaphorisch für Helligkeit und Neuanfang steht. Fernando Pessoa benutzte dieses Bild des portugiesischen, der Zukunft zugewandten «rosto» (V. 11) ebenfalls. Im ersten Gedicht aus Mensagem, entwirft er ein topographisches Bild der mythologischen Gestalt der Europa, mit griechischen Augen, mit Ellenbogen, die sich auf Italien und England stützen und einem portugiesischen Gesicht, das dem Westen zugewandt ist und der Zukunft entgegenblickt. O dos Castelos 109 A Europa jaz, posta nos cotovelos: De Oriente a Ocidente jaz, fitando, E toldam-lhe românticos cabelos Olhos gregos, lembrando. O cotovelo esquerdo é recuado; O direito é em ângulo disposto. Aquele diz Itália onde é pousado; Este diz Inglaterra onde, afastado, A mão sustenta, em que se apoia o rosto. Fita, com olhar sfíngico e fatal, O Ocidente, futuro do passado. O rosto com que fita é Portugal.
109 Fernando Pessoa: Mensagem, S. 15. Dt.: «Von den Burgen // Europa ruht auf ihren Ellenbogen liegend: / Vom Orient bis zum Okzident ruht sie, starrend, / Und romantische Haare bedecken ihr Gesicht / Griechische Augen, erinnernd. // Der linke Ellenbogen ist zurückversetzt; / Der rechte im Winkel aufgelegt. / Bei jenem steht Italien, dort wo er aufliegt; / Bei diesem steht England, wo er in der Ferne, / Die Hand hält, auf die sich das Gesicht stützt. // Sie richtet ihren sphinxgleichen und schicksalhaften Blick, / Gen Okzident, Zukunft der Vergangenheit. // Das Gesicht mit dem sie schaut ist Portugal.» [Übersetzung d. Verf.] Vgl. auch die Übersetzung von Georg Rudolf Lind: «Europa liegt auf ihren Ellenbogen / und schaut vom Orient zum Okzident. / Ihr Antlitz von romantischem Haar umflogen – / Erinnerung in Griechenaugen brennt. // Ihr linker Arm sich rücklings biegt, / ihr rechter ist im Winkel angelegt; / Italien heißt das Land, auf dem er liegt, / England das zweite Land, das breit / die Hand stützt, die ihr Antlitz trägt. // Gen Westen schaut sie, Sphinx der Schicksalsqual, / auf das Zukünftige der Vergangenheit. // Europas Antlitz – das ist Portugal» (Fernando Pessoa: Esoterische Gedichte. Mensagem. Englische Gedichte. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Georg Rudolf Lind. Zürich: Ammann-Verlag 1989).
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Das dem Westen, also zuallererst dem Meer, und der Zukunft entgegengerichtete Gesicht Europas, als das Portugal in Mensagem beschrieben wird, zählt in «Regresso» jedoch zur aussterbenden «antiga linha» (V. 10) und gehört damit der Vergangenheit an. Das Portugal, das Pessoa 1934 entwirft, erscheint in der Poesie von Sophia Andresen von Tod, Verlust und Orientierungslosigkeit gezeichnet.110 Der Bezug zu «O dos Castelos» wird auch durch die äquivalente Position des portugiesischen rosto im jeweils letzten Vers herausgestellt. Zudem wird die so hergestellte Verbindung zu Pessoas Europa-Allegorie durch den Ausdruck «antiga linha clara e criadora» (V. 10) verstärkt, der sich eben nicht nur auf die lusitanische Genealogie, sondern die gesamteuropäische Linie bezieht, die ihre Wurzeln in der griechischen Antike hat. Es ist damit auch die humanistische Tradition, deren Verlust in Sophia Andresens Gedicht beklagt wird.
I.3 Família: Alltagssicht und weibliche Gegenstimmen I.3.1 «Política do sacrifício»: Hungern für die Nation Mit dem Begriff der «Família» sind in der salazarschen Trias «Deus, Pátria, Família» schließlich all jene Bereiche des vermeintlich privaten Lebens umfasst, auf den das Regime des Estado Novo Einfluss zu nehmen suchte und die über das traditionelle Familienbild hinaus auch Bereiche wie Arbeit, Bildung und Erziehung sowie männliche und weibliche Rollenbilder einschlossen. Ein wichtiger Faktor, der all diese Bereiche beeinflusst, ist das Thema der Armut, das in unmittelbarer Verbindung zu Salazars vielbeschworener «política do sacrifício» 111 und 110 Pessoa schreibt später ebenfalls ernüchtert: «Refiro-me ao facto de que nenhum de nós tem Pátria. O Português é hoje um expatriado no seu próprio país. Somos uma nação, não uma pátria; somos um agregado humano sem aquela alma colectiva que constitui uma Pátria. Somos … Sei lá o que nós somos?», aus: Fernando Pessoa: Da República (1910–1935). Hrsg. von Joel Serrão. Lisboa: Ática 1979, S. 87. 111 «Represento uma política de verdade e de sinceridade, contraposta a uma política de mentira e de segredo. Advoguei sempre que se fizesse a política da verdade, dizendo-se claramente ao povo a situação do País, para o habituar à ideia dos sacrifícios que haviam um dia de ser feitos, e tanto mais pesados quanto mais tardios. Advoguei sempre a política do simples bom senso contra a dos grandiosos planos, tão grandiosos e tão vastos que toda a energia se gastava em admirá-los, faltando-nos as forças para a sua execução. Advoguei sempre uma política de administração, tão clara e tão simples como a pode fazer qualquer boa dona de casa – política comezinha e modesta que consiste em se gastar bem o que se possui e não se despender mais do que os próprios recursos» (António Oliveira Salazar: Os problemas nacionais e a ordem da sua solução – Discurso aos oficiais da Guarnição Militar de Lisboa, em 9 de Junho 1928. In: Ders.: Discursos Vol. I (1928–1934), S. 10–11.); «Ensinai aos vossos filhos o trabalho, ensinai às vossas filhas a modéstia, ensinai a todos a virtude da economia. E se não
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dem Topos des «orgulho de ser pobre» steht 112. Die im Salazarismus positiv konnotierte Armut wird im herrschenden Diskurs zur Auszeichnung und patriotischen Pflicht. Ein Gedicht aus dem Werk Andresens, das diesen Zusammenhang spiegelt, ist «Lusitânia»: Lusitânia 113 Os que avançam de frente para o mar E nele enterram como uma aguda faca A proa negra dos seus barcos Vivem de pouco pão e de luar.
Hier wird erneut das Seefahrermotiv aufgegriffen und es werden ebenfalls – wie im vorhergehenden Abschnitt bereits gesehen – durch die Isotopie des Todes und der Dunkelheit die Gefahren dargestellt, denen sich die Seefahrer aussetzen: «enterram» (V. 2), «aguda faca» (V. 2), «negra» (V. 3), «luar» (V. 4). Durch den Titel «Lusitânia» wird der Bezug zu von Camões geschaffenen Geschichtsbildern von Portugal geknüpft und an die nationalistische Aufladung des Seefahrtsmotivs erinnert. Wie zuvor bereits beobachtet, entsteht auch hier das Bild portugiesischer Seefahrer, die sich wagemutig dem Meer entgegenstürzen und es bezwingen. Dabei wird vor allem ihre Rolle als Wegbereiter in «avançam de frente» (V. 1) und die erfolgreiche Bezwingung des Meeres in «nele enterram como uma aguda faca / A proa negra» (V. 2–3) hervorgehoben. Diese Beschreibung der wagemutigen und bahnbrechenden Tätigkeit der Seefahrer erfolgt in einem Relativsatz, der sich an das den ersten Vers einleitende Demonstrativpronomen «Os» (V. 1) anschließt und die ersten drei Verse einnimmt. Auf diesen ersten Sinnabschnitt folgt im vierten Vers der Hauptsatz, und somit der unabhängige Teil des Syntagmas, der nicht nur formal, durch
poderdes fazer deles santos, fazei ao menos deles cristãos» (O Bolchevismo e a Congregação, 1925), zitiert in: Franco Nogueira: Salazar: estudo biográfico. Coimbra: Atlântida Editora 1977, S. 285. 112 «Devo à Providência a graça de ser pobre: sem bens que valham, por muito pouco estou preso à roda da fortuna, nem falta me fizeram nunca lugares rendosos, riquezas, ostentações. E para ganhar, na modéstia a que me habituei e em que posso viver, o pão de cada dia não tenho de enredar-me na trama dos negócios ou em comprometedoras solidariedades. Sou um homem independente» [1949] (António Oliveira Salazar: Discursos Vol. IV (1943–1950). Coimbra: Coimbra Editora 1951). 113 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 357, Mar Novo [1958]. Dt.: «Lusitanien // Die, die vorne voranfahren über das Meer / Und in ihm wie ein spitzes Messer versenken / Den schwarzen Bug ihrer Schiffe, / Leben von wenig Brot und von Mondschein.» [Übersetzung d. Verf.]
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seine Kürze, sondern auch inhaltlich einen Kontrast zu den Versen eins bis drei bildet. Die in den ersten drei Versen aufgebaute Spannung, die durch die Beschreibung der risikoreichen und heldenhaften Tätigkeit der Seefahrer entsteht, fällt im vierten Vers abrupt ab. Denn an der Stelle, die formal den Höhepunkt des Gedichts ausmacht, steht lediglich die Feststellung, dass die Seefahrer von wenig Brot und dem Mondlicht leben: «Vivem de pouco pão e de luar.» (V. 4). Damit wird der Fokus von den mythischen Heldentaten auf eine nüchterne Realitätsschau verlegt. Das Brot, das als Synekdoche allgemein für Nahrung steht, hat auch eine traditionell politische Bedeutung 114 und gilt als Indikator für Wohlstand. Die Alliteration «pouco pão» (V. 4) richtet den Blick damit auf die Armut, in der diejenigen leben, die zuvor als Helden beschrieben wurden. Das Mondlicht verweist, unterstrichen durch den einzigen Reim «mar» (V. 1) / «luar» (V. 4), auf den Mond als Herrscher über das Meer und die Gezeiten. Durch den Ausdruck «Vivem […] de luar» (V. 4) wird ein Abhängigkeitsverhältnis der Seefahrer beschrieben, deren Leben auch vom Mond bestimmt wird. Zudem wird das Mondlicht zur einzigen Energiequelle neben dem Brot erklärt, was die Umgebung als immerwährende Nacht erscheinen lässt, in welcher der Mond die einzige Lichtquelle ist. In dem Gedicht «Lusitânia» stellt Sophia Andresen neben den nationalmythischen Diskurs eine Feststellung, die einerseits auf den streng rationierten Vorrat an Bord der Schiffe zur Zeit der Entdeckungsfahrten verweist.115 Andererseits wird das Beschriebene durch die Verwendung des Präsens in «avançam» (V. 1), «enterram» (V. 2) und «vivem» (V. 4) in der Gegenwart verankert. Durch das Präsens erscheint die Gegenüberstellung des Wagemuts derer, die den nationalen Ruhm möglich gemacht haben, mit ihrer persönlichen Armut als ein genereller Kontrast. Diejenigen, die riskieren, ihr Leben für die patria zu verlieren, nagen am Hungertuch. Dieses Ungleichgewicht wird in «Lusitânia» ohne Emphase, sondern in nüchterner Weise aufgezeigt. Der im Gedicht dargestellte Gegensatz zwischen dem aufs Spiel gesetzten Leben und dem geringen Lohn zeichnet in Verbindung mit dem Meer ebenso ein Bild der an den portugiesischen Küsten arbeitenden Fischer, die zu den ärmsten Berufsgruppen gehören.
114 Zum Beispiel in der von Rousseau in den Confessions geschilderte Anekdote, die später mit Marie Antoinette in Verbindung gebracht werden sollte: «Enfin je me rappelai le pis-aller d’une grande princesse à qui l’on disait que les paysans n’avaient pas de pain, et qui répondit : Qu’ils mangent de la brioche.» (Jean-Jacques Rousseau : Les Confessions [1782]. Livre VI. Paris: Launette 1889, S. 266). 115 Vgl. J. Watt/E. J. Freeman u. a. (Hrsg.): Starving Sailors. The Influence of Nutrition upon Naval and Maritime History. London 1981.
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Die Darstellung der Armut als ein heldenhaftes Opfer für die Nation stimmt exakt mit der salazaristischen Forderung nach patriotischen Opfern überein. Während im salazaristischen Diskurs das Opfer in einem arbeitsreichen, sparsamen Leben besteht, erscheint das Bild der wagemutigen Seefahrer, die sich dem tobenden Meer entgegenstürzen, als lebensbedrohlich. Das heroische Seefahrermotiv wird transformiert zu einem Bild hungernder Massen, denen zugleich die Verantwortung für das Fortbestehen ihres Landes aufgebürdet wird. Der fast beiläufige Ton des Schlussverses spiegelt den geringeren Stellenwert, den die Armut im herrschenden Diskurs in Relation zu den mythischen Heldentaten einnimmt. Armut wird auch zum Gegenstand in dem 1967 veröffentlichten Gedicht «Esta Gente» von Sophia Andresen. Esta Gente 116 Esta gente cujo rosto Às vezes luminoso E outras vezes tosco Ora me lembra escravos Ora me lembra reis Faz renascer meu gosto De luta e de combate Contra o abutre e a cobra O porco e o milhafre Pois a gente que tem O rosto desenhado Por paciência e fome É a gente em quem Um país ocupado Escreve o seu nome
116 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 458 [Geografia, 1967]. Dt.: «Diese Leute // Diese Leute deren Gesicht / Manchmal leuchtend / Und andere Male ungeschliffen // Bald erinnern sie mich an Sklaven / Bald erinnern sie mich an Könige // Erwecken wieder zum Leben meine Lust / Des Kampfes und des Gefechts / Gegen den Geier und die Kobra / Das Schwein und den Milan // Denn die Leute deren / Gesicht gezeichnet ist / Von Geduld und Hunger / Sind die Leute in die / Ein besetztes Land / Seinen Namen schreibt // Und gegenüber diesen Leuten / Vergessen und getreten / Wie der Stein vom Boden / Und mehr noch als der Stein / Gedemütigt und zerstampft // Erneuert sich mein Gesang / Und es beginnt von neuem die Suche / Nach einem befreiten Land / Nach einem sauberen Leben / Und nach einer gerechten Zeit» [Übersetzung d. Verf.]
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E em frente desta gente Ignorada e pisada Como a pedra do chão E mais do que a pedra Humilhada e calcada Meu canto se renova E recomeço a busca De um país liberto De uma vida limpa E de um tempo justo
Das aus sechs unterschiedlich langen Strophen bestehende Gedicht lässt sich in drei syntaktische Einheiten teilen, wobei der erste Abschnitt mit den ersten drei Strophen, der zweite Abschnitt mit der dritten Strophe und der dritte Abschnitt mit der vierten und fünften Strophe zusammenfällt. Die Menschen die in «Esta Gente» das Gedicht betiteln, werden im gesamten Verlauf vier Mal erwähnt (V. 1, 10, 13, 16) und stehen somit deutlich im Mittelpunkt. Im ersten Abschnitt beschreibt ein lyrisches Ich, wie der Anblick der Gesichter dieser Menschen seinen Kampfgeist von neuem erweckt. Zudem erfolgt hier eine erste nähere Bestimmung durch die Beschreibung ihrer Gesichter in der ersten Strophe: «Esta gente cujo rosto / As vezes luminoso / E outras vezes tosco» (V. 1–3). Die Syntax der Strophe ist unvollständig und wird, nach einem weiteren Einschub in der zweiten Strophe, erst in der dritten Strophe fortgesetzt. Durch den Ausdruck «gente» (lat. gens, gentis, dt. «das Volk», «die Nation», «die Familie») werden die Menschen in diesem lyrischen Text zu einer Masse mit nur einem Gesicht. Auch im Portugiesischen wird «gente» noch synonym für «multidão de pessoas», «as nossas pessoas» und «família» verwendet 117. Die eindringliche Wiederholung des Ausdrucks «esta gente» innerhalb des gesamten Gedichts führt sprachlich das Paradoxon vor Augen, dass es sich hier um ein ganzes Volk von Menschen handelt, jedoch nur im Singular von ihnen gesprochen wird. Dies verweist auf den salazaristischen Diskurs, der keine Individualismen duldet, und ist nach den Überlegungen Hannah Arendts ein wichtiges Merkmal von Totalitarismus: diese Herrschaftsform sei nur möglich, wenn alle Individuen in ein einziges Individuum verwandelt werden.118 Dabei ist der Begriff gente – ähnlich dem im Salazarismus verwendeten Begriff
117 Vgl. Joaquim Almeida Costa/António Sampaio e Melo: Dicionário da Língua Portuguesa. Porto: Porto Editora 51966, S. 707b. 118 Vgl. Hannah Arendt : Les Origines du Totalitarisme. Vol. 3. Le système totalitaire Traduction par Jean-Louis Bourget, Robert Davreu et Patrick Lévy. Paris: Le Seuil 1972, S. 214.
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família – emotional näher an den tatsächlichen Menschen als die abstrakteren Alternativen povo oder nação.119 Das Gesicht dieses Volkes wird antithetisch beschrieben: mal leuchtet es, mal wirkt es grob. In der zweiten Strophe wird dieser Kontrast weitergeführt: «Ora me lembra escravos / Ora me lembra reis» (V. 4–5). Durch die Positionsäquivalenz in den parallelen Syntagmen wird die Distanz zwischen den semantisch kontrastierenden Begriffen «escravos» (V. 4) und «reis» (V. 5) verkleinert. Hier spiegeln sich erneut ein totalitäres Machtverhältnis sowie die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft, die Hegel als Quelle des Selbstbewusstseins und der Identität betrachtet hatte. Hegel machte in seinem Kapitel «Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft» aus der Phänomenologie des Geistes von 1807 deutlich, dass die beiden Konzepte sich gegenseitig bedingen. Zwar sei der Knecht abhängig von seinem Herrn, doch sei auch der Status des Herrn durch die Anerkennung der ihm Untergeordneten bestimmt.120 Das lyrische Ich sieht dieses binäre Machtverhältnis im Volk repräsentiert und hebt durch die Nebeneinanderstellung hervor, dass das eine ohne das andere nicht existieren kann. In der dritten Strophe wird der Satz fortgeführt, dessen Subjekt immer noch «Esta gente» (V. 1) ist. Darin beschreibt das lyrische Ich seine innere Reaktion angesichts des Volkes: «Faz renascer meu gosto / De luta e de combate» (V. 6–7). Das Verb renascer weist darauf hin, dass die Kampfeslust ein altbekanntes Gefühl ist, dass nicht zum ersten Mal auftritt, und somit auf eine zyklische Zeitstruktur. Die Gegner, gegen die das lyrische Ich kämpfen will, stammen aus der Tierwelt: «Contra o abutre e a cobra / O porco e o milhafre» (V. 8–9). Damit wird dem Gegner einerseits das Menschsein abgesprochen, andererseits werden ihm die Bedeutungen der Tiere zugesprochen. So gilt der Geier als gieriger Aasfresser, die Kobra als Sinnbild des Bösen, das Schwein als unrein und der Milan als ein Greifvogel, der ebenfalls das Böse repräsentiert.121 Der zweite Sinnabschnitt des Gedichts ist vergleichsweise kurz und stimmt mit den Strophengrenzen der vierten Strophe überein. Zusätzlich verdichtet
119 In der Sprache des Salazarismus wird auch häufig «família» als Kollektivbezeichnung verwendet. Vgl. Michael Scotti-Rosin: Die Sprache der Falange und des Salazarismus. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Lexikologie des Spanischen und Portugiesischen, S. 259. 120 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft. In: Ders.: Werke. Bd. 3 Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp ²1989, S. 145–155. 121 So zum Beispiel auch in Eça de Queiroz’ Erzählung «O Milhafre». Im Osirismythos wird der Milan mit Magie in Verbindung gebracht.
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wird dieser einheitliche Abschnitt dadurch, dass der Ausdruck «a gente» (V. 10, 13) darin zwei Mal wiederholt wird und die Strophe in der Mitte teilt. Die symmetrische Teilung wird durch den verschränkten Reim unterstützt, der ausschließlich die vierte Strophe lautlich strukturiert. Mit einer zusätzlichen Beschreibung des «rosto» (V. 11) in der ersten Hälfte wird das Motiv der ersten Strophe wieder aufgegriffen: «Pois a gente que tem / O rosto desenhado / Por paciência e fome» (V. 10–12). Während «desenhado» (V. 11) auf eine lange Entwicklung hindeutet, bilden «paciência e fome» (V. 12) die zentralen Begriffe dieser Verse, die als kennzeichnend für den angedeuteten Zeitraum präsentiert werden. Wie das wenige Brot in «Lusitânia» steht auch hier mit «fome» (V. 12) der Mangel an Nahrung und somit die Nichtbefriedigung eines zentralen Grundbedürfnisses als Synekdoche für Armut. Dieser Zustand werde wiederum mit Geduld ertragen. Durch den Vers «É a gente em quem» (V. 13) wird eine weitere Aussage über die Menschen eingeleitet: «em quem / Um país ocupado / Escreve o seu nome» (V. 13–15). Die Wiederholung des Subjekts «a gente» (V. 10, 13) bewirkt durch die kurze Aufeinanderfolge sowie die gleichzeitige Verkürzung des eingeschobenen Syntagmas im Vergleich zum ersten Sinnabschnitt des Gedichts eine Steigerung der Spannung. Dies unterstreicht zusätzlich zur Strukturierung durch den Reim die Sonderstellung der vierten Strophe, was insgesamt den Höhepunkt betont, der auf der semantischen Ebene erreicht wird. Erstmals spricht das lyrische Ich von einem «país ocupado» (V. 14), womit einerseits bestätigt wird, dass es sich bei «gente» um ein Volk, eine Nation handelt. Anderseits wird erklärt, dass dieses Land besetzt ist, wobei als Besetzer diejenigen ausgemacht werden können, die das lyrische Ich in der dritten Strophe bekämpfen will, sowie die totalitär herrschenden «reis» (V. 5). Der Name des besetzten Landes wird zwar nicht ausgesprochen, aber deutlich markiert: «Escreve o seu nome» (V. 15). An dieser Stelle wird das Land zum handelnden Subjekt, das unter Besatzung seinen Namen in das Volk einschreibt, das Hunger leidet und eine passive, duldende Haltung eingenommen hat. Die Menschen sind dem Land untergeordnet und erhalten durch es ihren Namen, der sie identifiziert. Hier wird wiederum das Herr-Knecht-Verhältnis abgebildet, wobei die Position des Herrn von einer abstrakten Instanz, der Nation, eingenommen wird, von welcher der Knecht, in diesem Fall ein ganzes Volk, seine Identität bezieht. Die konkreten Träger der Macht werden nicht genannt, es geht stattdessen um die symbolische Ordnung: Es wird die symbolische Macht eines totalitären Herrschers beschrieben, nicht der konkrete Träger des symbolischen Mandats. Daran anknüpfend beschreibt das lyrische Ich im dritten Teil des Gedichts fortführend die Auswirkungen der ausgeübten Macht auf das Volk und zuletzt
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die Wünsche, die es für das Land und sein Volk hegt. Mit «E em frente desta gente» (V. 16) schließt die fünfte Strophe thematisch an den ersten und zweiten Teil des Gedichtes an und benennt das Thema der folgenden vier Verse: das Volk. Diese Verse sind durch eine chiastische Struktur gekennzeichnet. Während Vers 17 und 20 jeweils zwei durch die Konjunktion «e» symmetrisch verbundene Partizipien Perfekt enthält, die durch die Endung –ada Binnenreime und einen Endreim bilden, drehen sich die Verse 18 und 19 jeweils um den Begriff «pedra» (V. 18, 19), so dass insgesamt eine chiastische Struktur zu erkennen ist. Auf beiden Seiten der Überkreuzstellung steht ein Vergleich des Volkes mit einem Stein. Zunächst wird das Volk als ebenso vergessen und getreten wie ein am Boden liegender Stein beschrieben: «Ignorada e pisada / Como a pedra do chão» (V. 17–18). In den darauffolgenden Versen wird dieser Vergleich durch die Übertreffung des Steines und kräftigere Partizipien gesteigert: «E mais do que a pedra / Humilhada e calcada» (V. 18–19). Mehr noch als dem Stein wird dem Volk Gewalt angetan und durch Ignoranz und Demütigung sein Selbstbewusstsein gebrochen. Diese physische und psychische Zerstörung ruft beim lyrischen Ich, wie bereits in der dritten Strophe, Reaktionen hervor, die in der sechsten Strophe thematisiert werden. Dabei spielt der Aspekt des Neuanfangs eine große Rolle: «Meu canto se renova / E recomeço a busca» (V. 21–22). Die Verbformen «renova» (V. 20) und «recomeço» (V. 21) stehen hier in einer Linie mit «renascer» (V. 6). In «Meu canto» (V. 20) positioniert sich das lyrische Ich als Dichter. Die metapoetische Bezugnahme auf den eigenen Text verbindet sich durch die Parallele zu «renascer» (V. 6) mit der in der dritten Strophe besungenen Kampfeslust. In beiden Fällen sind es die Menschen, die das lyrische Ich erwachen und aktiv werden lassen: «Esta gente […] // Faz renascer […]» (V. 1–6), «E em frente desta gente […] // Meu canto se renova […]» (V. 16– 21). Es wird somit eine Parallele zwischen Kampf und Gesang gezogen und damit ausgedrückt, dass es die Poesie ist, mit der das lyrische Ich gegen die Unterdrückung kämpft. Dies ist die Antwort auf die performativ begründete Macht, wie sie in der vierten Strophe dargestellt wird: «É a gente em quem / Um país ocupado / Escreve o seu nome» (V. 13–15). Auf das Einschreiben der Identität durch die Machthaber in den ‹Volkskörper› antwortet das lyrische Ich angesichts desselben Volkes mit einem ebenso performativen Akt des Dichtens und macht zum Abschluss des Gedichtes deutlich, wonach es sich sehnt: «De um país liberto / De uma vida limpa / E de um tempo justo» (V. 23–25). So verkündet es dem Volk die Hoffnung auf ein von Besatzern freies Land, das allein dem Volk gehört, ein sauberes Leben, gereinigt von allem Schmutz, und eine Zeit, in der Gerechtigkeit herrscht. Die durchgängige Verwendung des Präsens sowie der abschließende Verweis auf eine gerechte Zeit, die herbeigesehnt wird, machen deutlich, dass das Gedicht fest in der Gegenwart verankert ist, in der keine Gerechtigkeit
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herrscht, sondern das Leid, das im Gedicht durch Begriffe wie «escravos» (V. 4), «luta e […] combate» (V. 7), «paciência e fome» (V. 12), «país ocupado» (V. 14), «ignorada e pisada» (V. 17) und «Humilhada e calcada» (V. 20) ausgedrückt wird, die wiederum auf eine totalitäre Herrschaft verweisen. In ihrem Gedicht «Esta Gente» entwirft Sophia Andresen das Bild eines Volkes, das in Abhängigkeit von einer besetzten Nation Hunger und Leid erduldet. Das Land ist von dunklen Kreaturen besetzt und entspricht somit nicht dem Land, zu dem das Volk eigentlich gehört. Ihm wurde somit eine Identität aufgezwungen, die nicht sein wahres Wesen zu sein scheint und von der das lyrische Ich es befreien will. Der Passivität des Volkes stellt Sophia Andresen ein zum Kampf bereites lyrisches Ich gegenüber, das mit seinem Gesang für Freiheit und Gerechtigkeit eintritt und das seine Empörung über das Volk und seine Herrscher formuliert. Das Verschweigen des Namens der Nation bei gleichzeitigem Verweis auf seine identitätsstiftende Funktion sowie das stete Zeigen auf ein namenloses Volk, das nur «esta gente» genannt wird, machen deutlich, dass das lyrische Ich die Machthaber der Nation, die es zudem als Besatzer bezeichnet, nicht als legitim anerkennt und sich auch nicht mit dem Volk identifiziert. Es tritt als Individuum auf, das von außen auf ein System blickt, in dem es keine Individuen geben darf. Die Besatzer bleiben ebenfalls namenlos, es ist vielmehr die symbolische totalitäre Macht, die hier als illegitimer Herrscher auftritt. Im Fokus stehen das Leid und die Armut eines duldenden Volkes. Damit bewegt sich die Autorin mit diesem Gedicht am Rande der Diskursgrenzen. Denn auch wenn die Armut in Portugal Teil des öffentlichen Diskurses ist, so lässt sich dennoch die Beschreibung der Passivität des in Ungerechtigkeit und Armut lebenden Volkes sowie der Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit unschwer als Kritik der eigenen Zeit lesen.
I.3.2 Catarina Eufémia: ein anti-salazaristischer Mythos Das Thema der Gerechtigkeit sowie der Armut der Landbevölkerung wird ebenso im Gedicht «Catarina Eufémia» aus dem Band Dual von 1972 behandelt, wobei hier zudem die weibliche Sicht auf die eigene Zeit im Vordergrund steht. Das Gedicht wurde erstmals am 29. Oktober 1969 unter dem Titel «Poema da Antigona Moderna» im Diário de Lisboa veröffentlicht.122 Hier steht das Antigone-Motiv, das im Gedicht lediglich am Ende offengelegt wird, stärker im Vordergrund, was auch pragmatische Gründe gehabt haben kann. Denn die reale Catarina Eufémia, auf die sich das Gedicht bezieht und die ihm in der späteren Veröffentlichung den Titel gibt, wurde nach ihrem Tod zur Personifikation des 122 Vgl. Luis Manuel Gaspar: Algumas notas à «Obra Poética» de Sophia de Mello Breyner Andresen. Lisboa: Pianola Editores 2013, S. 76.
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antifaschistischen Widerstands und zur Symbolfigur des Partido Comunista Português (PCP). Catarina Efigénia Sabino Eufémia, geboren 1928 in der Gemeinde Baleizão, war eine Landarbeiterin des Alentejo. Sie war verheiratet, hatte drei Kinder und war, wie die meisten Frauen im Alentejo, Analphabetin. Der Alentejo war durch Großgrundbesitzer und Saisonarbeit geprägt, so dass die Lebensbedingungen für Arbeiter ohne eigenen Besitz sehr schwierig waren. Ab Mitte der 1940er Jahre kam es unter den Arbeitern zu unzähligen Tumulten und Streiks, die immer durch die GNR aufgelöst und ordnungsgemäß von der PIDE überwacht wurden, die auf der Suche nach kommunistischen Aufwieglern waren. Bei einem dieser Streiks, am 19. Mai 1954, in Baleizão, bei dem es unter anderem um die Forderung einer Erhöhung des Tageslohns während der Erntezeit ging, machte sich eine Gruppe Arbeiter auf den Weg zum Wohnsitz des Großgrundbesitzers. Nach der Legende war unter ihnen Catarina Eufémia, schwanger und mit einem Säugling auf dem Arm. Bei der Auflösung der Versammlung durch die GNR wurde sie von einem Offizier erschossen. Im öffentlichen und oppositionellen Gedächtnis galt die Ermordung Catarina Eufémias als Beweis für die Grausamkeit und Brutalität des Regimes im Umgang mit den Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die es selbst förderte und aufrechterhielt.123 Der Mythos um Catarina Eufémia wurde bereits in einigen Untersuchungen kritisch aufgearbeitet.124 Die Dokumente, die zu den Todesumständen existieren, stützen verschiedene Hergänge des Geschehens vom kaltblütigen Mord bis zum tragischen Unfall. Eindeutig ausgeschlossen wurde jedoch inzwischen ihre Schwangerschaft, die zwar erheblich zur Legendenbildung beigetragen hat, jedoch durch eine Autopsie auch nach 1974 nicht bestätigt werden konnte. Es gibt zudem mehrere literarische Verarbeitungen dieses Vorfalls,125 von denen eine das folgende Gedicht von Sophia Andresen aus den Jahren 1969/1972 ist:
123 Vgl. João Madeira: A morte de Catarina Eufémia nos campos de sul. In: João Madeira/ Irene Pimentel: Vítimas de Salazar. Estado Novo e violência política. Lisboa: A Esfera dos Livros ²2007, S. 351 ff. 124 Vgl. Manuel de Melo Garrido: A Morte de Catarina Eufémia. A Grande Dúvida de uma Grande Drama. Beja: edição da Associação de Municípios do Distrito 1974; vgl. Pedro Prostes da Fonseca: O Assassino de Catarina Eufémia. Lisboa: Matéria-Prima Edições 2015. 125 Zum Beispiel José Carlos Ary dos Santos: «Retrato de Catarina Eufémia», Vicente Campinas: «Cantar Alentejano», Francisco Miguel: «Catarina Eufémia», Luisa Vilão Palma: «Laivos de AquenTejo», erschienen in: Cooperativa Cultural Alentejana (Hrsg.): 50 anos depos da morte. Catarina de Baleizão. Colectânea de textos. Beja: Edição Cooperativa Cultural Alentejana 2004, S. 52–62. Weitere Beispiele von Alexandre O’Neill, Manuel Alegre, Eugénio de Andrade, António Ramos Rosa, Maria Teresa Horta u. a. finden sich in José Casanova: Catarina Eufémia. Militante comunista. Mulher de Abril. Companheira de luta. Lisboa: Editorial Avante 2014, S. 71– 161.
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Catarina Eufémia 126 O primeiro tema da reflexão grega é a justiça E eu penso nesse instante em que ficaste exposta Estavas grávida porém não recuaste Porque a tua lição é esta: fazer frente Pois não deste homem por ti E não ficaste em casa a cozinhar intrigas Segundo o antiquíssimo método oblíquo das mulheres Nem usaste de manobra ou de calúnia E não serviste apenas para chorar os mortos Tinha chegado o tempo Em que era preciso que alguém não recuasse E a terra bebeu um sangue duas vezes puro Porque eras a mulher e não somente a fêmea Eras a inocência frontal que não recua Antígona poisou a sua mão sobre o teu ombro no instante em que morreste E a busca da justiça continua
Das Gedicht besteht aus 5 Strophen unterschiedlicher Länge. Die erste Strophe beginnt mit einem Vers, der eine allgemeine Aussage über die Rolle des Themas der Gerechtigkeit im griechischen Denken enthält: «O primeiro tema da reflexão grega é a justiça» (V. 1). Die Referenz an die griechische Kultur wird erst in den letzten beiden Versen des Gedichts wieder aufgenommen: «Antígona poisou a sua mão sobre o teu ombro no instante em que morreste // E a busca da justiça continua» (V. 16–17) Damit lässt sich einleitend vorerst feststellen, dass der Antigone-Mythos sowie das darin verhandelte Thema der Gerechtigkeit formal das Rahmenthema des Gedichts bilden. Gleichzeitig wird so die Landarbeiterin Catarina Eufémia auf den Rang einer Tragödienfigur erhoben.
126 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 594 [Dual, 1972]. Dt.: «Catarina Eufémia // Das erste Thema der griechischen Überlegung ist die Gerechtigkeit / Und ich denke an diesen Augenblick, in dem du der Gefahr ausgesetzt wurdest / Du warst schwanger, jedoch bist du nicht zurückgewichen / Denn dies ist deine Lektion: die Stirn bieten // Denn du sandtest keinen Mann für dich / Und du bliebst nicht zu Hause, um Intrigen zu köcheln / Nach der uralten krummen Methode der Frauen / Du brauchtest weder Trick noch Verleumdung / Und warst nicht nur dazu gut, um die Toten zu beweinen // Die Zeit war gekommen, / In der es nötig war, dass jemand nicht zurückweicht / Und die Erde trank ein zweifach reines Blut // Denn du warst die Frau und nicht bloß das Weibchen / Du warst die vorderste Unschuld, die nicht zurückweicht / Antigone legte ihre Hand auf deine Schulter in dem Augenblick, in dem du starbst // Und die Suche nach Gerechtigkeit geht weiter» [Übersetzung d. Verf.]
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Ab dem zweiten Vers spricht ein lyrisches Ich zu einem lyrischen Du: «E eu penso nesse instante em que ficaste exposta» (V. 2). Hier wird auf einen konkreten Zeitpunkt Bezug genommen, in dem das lyrische Du einer Gefahr ausgesetzt war und an den sich das lyrische Ich, «eu penso» (V. 2), aus der Gegenwart zurückerinnert: «ficaste» (V. 2). Mit dem nächsten Vers «Estavas grávida porém não recuaste» (V. 3) wird die Situation in der Vergangenheit weiter beschrieben. Allein mit dem Wort «grávida» (V. 3) wird hier der Bezug zur Legende um Catarina Eufémia deutlich, der in Dual bereits durch den Titel angekündigt wird. In der Veröffentlichung des Gedichts von 1969 unter dem Titel «Poema da Antigona Moderna» ist der Bezug zu Catarina Eufémia verschleiert, da ihr Name nicht den Titel bildet. Durch die deutlichen Hinweise auf zentrale Elemente der Legendenbildung wie beispielweise auf die Schwangerschaft in «grávida» (V. 3) und «sangue duas vezes puro» (V. 12) wird der Bezug jedoch sichtbar, vor allem da das Thema der Schwangerschaft einen starken Kontrast zum Antigone-Stoff bildet, da er keinesfalls der antiken Ästhetik entspricht. Die Schwangerschaft verweist auf die im Estado Novo propagierte traditionelle Rolle der Frau als Mutter und Fürsorgerin der Familie. Durch den Nachschub «porém não recuaste» (V. 3) entsteht ein Kontrast zu diesem traditionellen Bild, denn die Frau, über die das lyrische Ich spricht, hat gegen ihre Aufgabe als Beschützerin ihrer Kinder verstoßen und ist nicht zurückgewichen, sondern hat sich trotz Schwangerschaft der Gefahr ausgesetzt. Der Grund für diesen Verstoß wird im vierten Vers genannt: «Porque a tua lição é esta: fazer frente» (V. 4). Wichtiger als das eigene Leben und das Leben des ungeborenen Kindes ist hier eine Lehre, die erteilt werden soll: es muss Widerstand geleistet werden. Die Begründung erfolgt somit auf einer anderen, universellen moralischen Ebene. Die Allgemeingültigkeit der Prinzipien, auf die hier Bezug genommen wird, findet zudem in der Verwendung des Präsens Ausdruck. Die zweite Strophe besteht aus vier verneinten Hauptsätzen, die sich über fünf Verse erstrecken und die jeweils eine Aussage darüber enthalten, was die Betreffende nicht getan hat: Pois não deste homem por ti E não ficaste em casa a cozinhar intrigas Segundo o antiquíssimo método oblíquo das mulheres Nem usaste de manobra ou de calúnia E não serviste apenas para chorar os mortos 127 127 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 594 [Dual, 1972]. Dt.: «Denn du liefertest keinen Mann für dich / Und du bliebst nicht zu Haus, um Intrigen zu köcheln / Nach der uralten krummen Methode der Frauen / Du brauchtest weder Trick noch Verleumdung / Und warst nicht nur dazu gut, um die Toten zu beweinen» [Übersetzung d. Verf.]
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Sie hat demnach nichts von dem getan, was von ihr als Frau erwartet wurde. Hier werden verschiedene Rollenstereotype aufgereiht sowie die Erwartungen, die angesichts einer Krisensituation in eine Frau dieser Zeit gesetzt wurden. Sie hat sich nicht passiv der Situation entzogen und einen Mann an ihrer Stelle geschickt, blieb nicht zu Hause, sondern ist selbst aktiv geworden. Zudem hat sie weder durch List noch durch Verleumdung ihr Ziel erreicht und auch nicht nur am Ende diejenigen beweint, die an ihrer Stelle gestorben sind. Dabei verweist der Superlativ «antiquíssimo» (V. 7) auf den Jahrhunderte andauernden Festigungsprozess der genannten Stereotype. Die Metapher «não ficaste em casa a cozinhar intrigas» (V. 6) verbindet zudem die ihr zugeschriebene Intriganz mit dem traditionellen Bild der Frau, die innerhalb des Hauses arbeitet und für die Zubereitung des Essens zuständig ist. Durch die dritte Strophe wird dieses Bild deutlich der Vergangenheit zugeordnet, die durch eine neue Zeit abgelöst wurde: «Tinha chegado o tempo/ Em que era preciso que alguém não recuasse» (V. 10–11). Es war die Zeit angebrochen, die es notwendig machte, dass es jemanden gibt, der nicht zurückweicht. Dabei wird mit «alguém» (V. 11) der Fokus auf das weibliche Geschlecht für einen Moment aufgelöst und auf die reine Notwendigkeit des Widerstands gelegt, was diese Zeit im Rückschluss zu einer Zeit der Unterdrückung erklärt. Zudem lässt sich ex negativo aus diesen Versen herleiten, dass das lyrische Du nicht allein von der Unterdrückung betroffen war und dass dennoch außer ihm niemand den Mut hatte, nicht zurückzuweichen. Den Abschluss der Strophe über die Zeit bildet ein Vers, der ein starkes Bild enthält: «E a terra bebeu um sangue duas vezes puro» (V. 12). Das Blut verweist nicht nur auf den Tod Catarina Eufémias und ihres Kindes – «duas vezes» (V. 12) –, sondern auch, als Sinnbild für Abstammung, auf die Genealogie, die hier unterbrochen wird. In Verbindung mit der «terra» (V. 12), die als Lebensraum und Ernährungsgrundlage fungiert, tauchen mit ‹Blut und Boden› in diesem Vers Grundprinzipien nationalistischer Ideologien auf. Hervorgehoben wird dieser Eindruck durch die Formulierung «um sangue» (V. 12), die unterstreicht, dass Mutter und Kind vom selben Blut sind und eine mit der «terra» (V. 12) verwurzelte Genealogie weiterzuführen bestimmt sind.128 Die Bezeichnung des Blutes als «um sange duas vezes puro» (V. 12) verweist einerseits darauf, dass es hier zwei unschuldige Todesopfer gab. Andererseits steckt in
128 «O Estado assegura a constituïção e defesa da família, como fonte de conservação e desenvolvimento da raça, como base primária da educação, da disciplina e harmonia social, e como fundamento de toda a ordem política pela sua agregação e representação na freguesia e no município.» (Constituição de 1933, Título III, Art.11.°).
I.3 Família: Alltagssicht und weibliche Gegenstimmen
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dieser Formulierung, «sangue […] puro» (V. 12), wiederum die ethnisch-nationalistische Forderung nach einer pureza nacional. In nationalistischen Ideologien wurde der weibliche Körper zur Reproduktionsmaschine der Nation erklärt, die allein dazu diente, die Genealogie des reinen Blutes fortzuführen. Dass diese Instrumentalisierung sowie die damit zusammenhängende Ideologie vom lyrischen Ich abgelehnt werden, verdeutlicht sich im darauffolgenden Vers, der die vierte Strophe einleitet: «Porque eras a mulher e não somente a fêmea» (V. 13). Hier werden die Ausdrücke «mulher» (V. 13) und «fêmea» (V. 13) voneinander abgegrenzt und einander antithetisch gegenübergestellt. Der Begriff «fêmea» (V. 13) bezeichnet im Allgemeinen weibliche Tiere und wird auch pejorativ für Frauen verwendet.129 Die abwertende Konnotation wird doch das vorangestellt «somente» (V. 13) noch verstärkt. Durch den Bezug zum Tierreich liegt bei diesem Ausdruck der Bedeutungsschwerpunkt auf dem biologischen Geschlecht, auf der Kreatürlichkeit und der Fortpflanzung. Somit lässt sich «fêmea» (V. 13) auf die Rolle der Frau in nationalistisch geprägten Gesellschaften beziehen, in der sie sich allein dem Arterhalt widmen soll. Was das lyrische Du, Catarina Eufémia, als «mulher» (V. 13) ausmacht, wird in Vers 14 beschrieben: «Eras a inocência frontal que não recua» (V. 14). Während die ihr zugeschriebene «inocência» (V. 14) in der gesamten Bedeutungsspannweite noch zum Topos der unschuldigen, unbefleckten, reinen und naiven Frau passt und ihre Schuldlosigkeit hervorhebt, trotz derer sie ermordet wurde, bildet der zweite Teil des Verses eine Antithese dazu: «que não recua» (V. 14). Die standhafte, nicht nachgebende Frau widerspricht der Vorstellung der Arglosigkeit und Gefahrenlosigkeit, die von der ihr zugeschriebenen Unschuld ausgeht. An dieser Stelle wird der Aspekt des Nicht-Zurückweichens zum dritten Mal genannt – «não recuaste» (V. 3), «não recuasse» (V. 11), «não recua» (V. 14). Somit ist dies die Eigenschaft, die an dem lyrischen Du ganz besonders hervorsticht und als außergewöhnlich bemerkt wird: dass es nicht nachgibt, sich nicht in die Passivität zurückzieht, sondern für seine Bedürfnisse und Rechte selbst einsteht. Auch die Alliteration «fazer frente» (V. 4) verweist auf den mutigen Widerstand des lyrischen Dus. Bis auf diese Stelle wird die Isotopie des (weiblichen) Widerstandes ex negativo aufgebaut: «não recuaste» (V. 3), «não deste» (V. 5), «não ficaste» (V. 6), «Nem usaste» (V. 8), «não serviste» (V. 9), «que alguém não recuasse» (V. 11), «eras […] não somente a fêmea» (V. 13), «que não recua» (V. 14). Der öffentliche Diskurs, in dem das traditionelle Frauen- und Familienbild propagiert wird, wird somit konsequent verneint. Durch den Rückgriff im Gedicht auf die durch den Dis-
129 Aa. Vv.: Dicionário da Lingua Portuguesa. Porto: Porto Editora 2008, S. 751a.
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kurs gegebenen Regeln, wird der weibliche Widerstand als eine besondere Form von zivilem Ungehorsam präsentiert. Wie bereits einleitend festgestellt, wird der Bezug zur griechischen Tradition, der im ersten Vers enthalten ist, im 15. Vers fortgeführt: «Antígona poisou a sua mão sobre o teu ombro no instante em que morreste» (V. 15). Die bekannteste Bearbeitung des Antigone-Mythos ist die gleichnamige Tragödie des Sophokles, die erstmalig 442 v. Chr. uraufgeführt wurde. Auch Antigone begeht bekanntlich einen Akt zivilen Ungehorsams, indem sie ihren Bruder Polyneikes gegen das Verbot ihres Onkels, dem König Kreon, beerdigt: KREON Was wagtest du, ein solch Gesetz zu brechen? ANTIGONAE Darum. Mein Zevs berichtete mirs nicht; Noch hier im Haus das Recht der Todesgötter, Die unter Menschen das Gesetz begrenzet; Auch dacht ich nicht, es sei dein Ausgebot so sehr viel, Daß eins, das sterben muß, die ungeschriebnen drüber, Die festen Satzungen im Himmel brechen sollte. Nicht heut und gestern nur, die leben immer, Und niemand weiß, woher sie sind gekommen. Drum wollt ich unter Himmlischen nicht, aus Furcht Vor eines Manns Gedanken, Strafe wagen. Ich wußte aber, daß ich sterben müßte. Warum nicht? hättst du’s auch nicht kundgetan. Wenn aber vor der Zeit ich sterbe, sag ich, daß es Sogar Gewinn ist. Wer, wie ich, viel lebt mit Übeln, Bekommt doch wohl im Tod ein wenig Vorteil? So ist es mir, auf solch Schicksal zu treffen, Betrübnis nicht; wenn meiner Mutter Toten, Als er gestorben, ich grablos gelassen hätte, Das würde mich betrüben. Aber das Betrübt mich gar nicht. Bin ich aber dir, Wie ich es tat, nun auf die Närrin kommen, War ich dem Narren fast Narrheit ein wenig schuldig.130
Antigone begründet ihren Verstoß durch ihre Überzeugung, moralisch richtig gehandelt zu haben. Kreons Gesetze seien nur «eines Manns Gedanken» 131 und somit weltliche, von Menschen gemachte Gesetze. Sie hingegen fühlt sich nicht
130 Sophokles: Antigonae. Übersetzt von Friedrich Hölderlin. In: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 5. Band. Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1954, S. 222–285, hier: S. 242 f. 131 Ebda.
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diesen Regeln, sondern den göttlichen Gesetzen des Zeus verpflichtet: «die ungeschriebnen drüber, / Die festen Satzungen im Himmel […] / Nicht heut und gestern nur, die leben immer, / Und niemand weiß, woher sie sind gekommen».132 Wenn nun Antigone dem lyrischen Du, Catarina Eufémia, im Moment ihres Todes die Hand auf die Schulter legt, so wird eine metonymische Verbindung zwischen diesen beiden Figuren hergestellt. Mit dieser vertrauensvollen und schützenden Geste wird Antigone zur Verbündeten und Unterstützerin Catarinas. Dadurch wird suggeriert, dass Catarina aus den gleichen Motiven wie Antigone gegen ihre Machthaber aufbegehrte: auch sie fühlte sich einem höherem überzeitlichen Recht stärker verpflichtet als den vergänglichen staatlichen Gesetzen. Zudem hat Antigone einen zweiten Regelverstoß begangen, indem sie sich als Frau einem Mann widersetzt und sich in politische Belange eingemischt hat: KREON […] Und das ist noch die zweite Frechheit, da Sie es getan, daß dessen sie sich rühmt und lacht, Daß sies getan. Nein! nun bin ich kein Mann, Sie ein Mann aber, wenn ihr solche Kraft Zukommet ungestraft. […] 133
Dass auch Catarina der ihr vorgegebenen Rolle nicht entsprach, wird, wie bereits festgestellt, vor allem in der zweiten Strophe dargelegt. Die zu Antigone gezogene Parallele enthält somit den indirekten Vorwurf, dass Catarina auch gerade aufgrund dieses zweiten Verstoßes zum Opfer des Regimes wurde. Zudem ist Antigone sich sicher, dass das Volk ihr Handeln gegen das Gesetz des Königs und gemäß den göttlichen Regeln gutheißt. ANTIGONAE Was solls also? Von deinen Worten keins Ist mir gefällig, kann niemals gefällig werden. Drum sind die meinigen auch dir mißfällig. Obwohl, woher hätt ich wohllautenderen Ruhm, Als wenn ich in das Grab den Bruder lege. Denn, daß es wohlgefall all diesen da, Gestände, sperrete die Zunge nur die Furcht nicht.
132 Ebda. 133 Ebda., S. 244.
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Das Königtum ist aber überall Geistreich und tut und sagt, was ihm beliebet.134
Auch in den Versen zehn und elf ist ex negativo die Information enthalten, dass Catarina Eufémia nicht als einzige unter einer repressiven Macht leidet: «Tinha chegado o tempo / Em que era preciso que alguém não recuasse» (V. 10–11). Somit werden beide, Antigone sowie Catarina, jeweils als die einzigen eines unterdrückten Kollektivs hervorgehoben, die es wagen, gegen ihre staatlichen Machthaber aufzubegehren. Der letzte Vers des Gedichts bildet einen ernüchternden Ausblick in die Zukunft: «E a busca da justiça continua» (V. 16). Sowohl Antigone als auch Catarina haben nach ihrem ethischen Wertesystem, das sie als das einzig richtige ansehen, keine Gerechtigkeit erfahren. Der Mord an Catarina Eufémia wird im Gedicht somit als Fortführung eines wiederkehrenden, antiken Konflikts eingeordnet, dessen Lösung nicht absehbar ist. Wie in der Tragödie des Sophokles wird auch im Gedicht «Catarina Eufémia» die Haltung erkennbar, nach der ethische Werte über den staatlichen Gesetzen stehen: Das Aufbegehren gegen die staatliche Ordnung wird moralisch gerechtfertigt. Sophia Andresen verneint darin das in der patriarchalischen Gesellschaft herrschende Frauenbild sowie die Stützung dieses Bildes durch den nationalistischen Diskurs. Die Einbettung der Legende um Catarina Eufémia in die antike Tradition durch die gezogene Parallele zur Antigone-Sage hinterlässt den ernüchternden Eindruck der Unüberbrückbarkeit zweier kollidierender Wertesysteme.
134 Ebda., S. 244 f.
II Ethik und Ästhetik Einleitung: Politische Verantwortung und Bedeutung der Form In zahlreichen ihrer Gedichte macht Sophia Andresen ethische Fragen zum Zielpunkt ihrer poetischen Reflexionen.1 Die künstlerische Sprache, die ästhetische Form, aber durchaus auch die inhaltlichen Konturen ihrer Gedichte betonen die Bedeutung von Dichtung als mögliches ethisches Korrektiv. Dabei stellt Sophia Andresen immer wieder den Erkenntnischarakter des lyrischen Kunstwerks markant heraus. Ihre Texte werben dabei nicht für eine bestimmte politische Idee. Aber es wäre ein Missverständnis, dieses nicht im explizit Politischen aufgehende Engagement sogleich als ein Sich-Entziehen ins Unpolitische zu werten. Die Texte von Sophia Andresen legen eindrucksvolles Zeugnis davon ab, wie in Zeiten der Unfreiheit und Zensur die Autonomie des Kunstwerks zum Modus werden kann, dennoch geistige Freiheit zur Sprache zu bringen. Damit widersprechen Sophia Andresens Texte aber auch dem Diktum Sartres, der in «Qu’est-ce que la littérature» Lyrik als ausschließlich selbstreferentielle Literatur diskutierte, die sich selbst genüge und Sprache lediglich zum Selbstzweck nutze.2 In Sophia Andresens Dichtung werden poetische Form und kritische Reflexion zusammengedacht. Die Logik ihrer lyrischen Texte erinnert an Einsichten, die Adorno – dies natürlich vor dem Horizont eines anderen sprachlichen und historischen Zusammenhangs – in seinen Essays «Engagement» 3 und «Rede 1 Vgl. «A veste dos fariseus» (1962), «As pessoas sensíveis» (1962), «Esta gente» (1967), «Catarina Eufémia» (1972) u. a. 2 Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la littérature. Paris: Éditions Gallimard 1948: «Les poètes sont des hommes qui refusent d’utiliser la langage. Or, comme c’est dans et par le langage conçu comme une certaine espèce d’instrument que s’opère la recherche de la vérité, il ne faut pas s’imaginer qu’ils visent à discerner le vrai ni à l’exposer» (S. 17); «le poète s’est retiré d’un seul coup du langage-instrument; il a choisi une fois pour toutes l’attitude poétique qui considère les mots comme des choses et non comme des signes» (S. 18); «on comprendra facilement la sottise qu’il y aurait à réclamer un engagement poétique. Sans doute l’émotion, la passion même – et pourquoi pas la colère, l’indignation sociale, la haine politique – sont à l’origine du poème. Mais elles ne s’expriment pas, comme dans un pamphlet ou dans une confession. A mesure que le prosateur expose des sentiments, il les éclaircit; pour le poète, au contraire, s’il coule ses passions dans son poème, il cesse de les reconnaître; les mots les prennent, s’en pénètrent et le métamorphosent» (S. 24–25). 3 Theodor W. Adorno: Engagement [1962]. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main 1981, S. 409–430, hier: S. 412–413: «Es ist keine von den geringsten Schwächen der Debatte übers Engagement, daß sie nicht auch über die Wirkung reflektiert, welche von solchen Werken ausgeübt wird, deren eigenes Formgesetz auf Wirkungszusammenhänge keine Rücksicht https://doi.org/10.1515/9783110525144-003
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II Ethik und Ästhetik
über Lyrik und Gesellschaft» 4 formuliert hat, an dessen Plädoyer für die Autonomie des Kunstwerks als Modus von Widerstand. Sophia Andresen hat in fünf theoretischen Essays die Grundzüge ihrer literarischen Ästhetik reflektiert.5 Darin stellt sie sowohl die Autonomie des Kunstwerks als auch die moralische Verpflichtung der Dichter heraus. In «Arte Poética III», einer 1964 in der zweiten Auflage von Livro Sexto erstmalig veröffentlichten Rede, die Andresen am 11. Juli 1964 anlässlich der Auszeichnung dieses Buchs mit dem Grande Prémio de Poesia der Sociedade Portuguesa de Escritores hielt, formuliert sie dies am deutlichsten: Sempre a poesia foi para mim uma perseguição do real. Um poema foi sempre um círculo traçado à roda duma coisa, um círculo onde o pássaro do real fica preso. E se a minha poesia, tendo partido do ar, do mar e da luz, evoluiu, evoluiu sempre dentro dessa busca atenta. Quem procura uma relação justa com a pedra, com a árvore, com o rio, é necessariamente levado, pelo espírito de verdade que o anima, a procurar uma relação justa com o homem. Aquele que vê o espantoso esplendor do mundo é logicamente levado a ver o espantoso sofrimento do mundo. Aquele que vê o fenómeno quer ver todo o fenómeno. É apenas uma questão de atenção, de sequência e de rigor. E é por isso que a poesia é uma moral. E é por isso que o poeta é levado a buscar a justiça pela própria natureza da sua poesia. E a busca da justiça é desde sempre uma coordenada fundamental de toda a obra poética. Vemos que no teatro grego o tema da justiça é a própria respiração das palavras.6
nimmt. Solange man nicht versteht, was im Schock des Unverständlichen sich mitteilt, ähnelt der ganze Streit einem Schattenkampf. […] Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt.» 4 Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft [1951]. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main 1981, S. 49–68, hier: S. 51–52: «Sie empfinden die Lyrik als ein der Gesellschaft Entgegengesetztes, Individuelles. Ihr Affekt hält daran fest, daß es so bleiben soll, daß der lyrische Ausdruck, gegenständlicher Schwere entronnen, das Bild eines Lebens beschwöre, das frei sei vom Zwang der herrschenden Praxis, der Nützlichkeit, vom Druck der sturen Selbsterhaltung. Diese Forderung an die Lyrik jedoch, die des jungfräulichen Wortes, ist in sich selbst gesellschaftlich. Sie impliziert den Protest gegen einen gesellschaftlichen Zustand, den jeder Einzelne als sich feindlich, fremd, kalt, bedrückend erfährt, und negativ prägt der Zustand dem Gebilde sich ein: je schwerer er lastet, desto unnachgiebiger widersteht ihm das Gebilde, indem es keinem Heteronomen sich beugt und sich gänzlich nach dem je eigenen Gesetz konstituiert. Sein Abstand vom bloßen Dasein wird zum Maß von dessen Falschem und Schlechtem. Im Protest dagegen spricht das Gedicht den Traum einer Welt aus, in der es anders wäre. Die Idiosynkrasie des lyrischen Geistes gegen die Übergewalt der Dinge ist eine Reaktionsform auf die Verdinglichung der Welt, der Herrschaft von Waren über Menschen, die seit Beginn der Neuzeit sich ausgebreitet, seit der industriellen Revolution zur herrschenden Gewalt des Lebens sich entfaltet hat.» 5 Sophia Andresen: Arte Poética I–V. In: Dies.: Obra Poética, S. 837–848. 6 Sophia Andresen: Arte Poética III. In: Dies.: Obra Poética, S. 841–843, hier: S. 841.
Einleitung: Politische Verantwortung und Bedeutung der Form
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Die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit als Ursprung der griechischen Ästhetik wird hier zum leitenden ästhetischen Prinzip von Dichtung schlechthin erklärt. Diese sei, ebenso wie das Verlangen nach Genauigkeit, jedem Gedicht bereits durch dessen poetische Verfasstheit inhärent. A moral do poema não depende de nenhum código, de nenhuma lei, de nenhum programa que lhe seja exterior, mas, porque é uma realidade vivida, integra-se no tempo vivido. E o tempo em que vivemos é o tempo duma profunda tomada de consciência. Depois de tantos séculos de pecado burguês a nossa época rejeita a herança do pecado organizado. Não aceitamos a fatalidade do mal. Como Antígona a poesia do nosso tempo diz: «Eu sou aquela que não aprendeu a ceder aos desastres.» Há um desejo de rigor e de verdade que é intrínseco à íntima estrutura do poema e que não pode aceitar uma ordem falsa.7
Aus Sicht Sophia Andresens verweist vor allem die Wahl der lyrischen Form auf eine bewusst getroffene moralische Entscheidung, eben weil diese aus ihrem Innersten heraus den Gefahren, die vermeintlich leicht verständlichen, politisch eindeutigen Botschaften innewohnen, widerstrebt und ein aus ihrer Sicht angemesseneres, weil konzentriertes Sich-Einlassen auch auf widersprüchliche Zusammenhänge verlangt. Andresen bindet somit Verantwortung untrennbar an die Wahl der literarischen Form. Zudem widerspricht sie vehement dem Vorwurf der Weltabgeschiedenheit und Selbstreferenzialität, welcher der Kunst und vor allem der Dichtung anhafte: O artista não é, e nunca foi, um homem isolado que vive no alto duma torre de marfim. O artista, mesmo aquele que mais se coloca à margem da convivência, influenciará necessariamente, através da sua obra, a vida e o destino dos outros. Mesmo que o artista escolha o isolamento como melhor condição de trabalho e criação, pelo simples facto de fazer uma obra de rigor, de verdade e de consciência ele irá contribuir para a formação duma consciência comum. Mesmo que fale somente de pedras ou de brisas a obra do artista vem sempre dizer-nos isto: Que não somos apenas animais acossados na luta pela sobrevivência mas que somos, por direito natural, herdeiros da liberdade e da dignidade so ser.8
Dem Argument, dass Dichtung stets Realität abzubilden habe, wie es im ersten und zweiten hier angeführten Zitat herausgestellt wird, fügt Andresen an dieser Stelle hinzu, dass Dichterinnen und Dichter allein durch ihr künstlerisches Werk, «uma obra de rigor, de verdade e de consciência»,9 zur Veränderung von Bewusstseinsprozessen beitragen, da ein lyrischer Text stets auch eine Erinnerung an das humanistische Erbe enthält, das seine Form hervorgebracht hat.
7 Ebda., S. 842. 8 Ebda., S. 842–843. 9 Ebda.
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II Ethik und Ästhetik
In diesem Kapitel soll anhand ausgewählter Gedichte von Sophia Andresen gezeigt werden, wie sie die sedimentierte Geschichte der lyrischen Formen nutzt, um ästhetischen Widerstand künstlerisch zu entfalten. Dabei spielen vor allem semantische Verdichtungen, ein hohes Maß an Bildlichkeit und auch die Selbstreflexivität des poetischen Textes eine tragende Rolle. Um dies aufzuzeigen, werden zunächst vier Gedichte untersucht, in denen Sophia Andresen jeweils einen zentralen Begriff poetisch ausleuchtet. Darin stehen immer auch metapoetische Reflexionen im Vordergrund: über die Macht und performative Kraft der Worte, die Bedeutung der ästhetischen Wahrnehmung und der Selbsterkenntnis sowie ethische Fragen der Kunst. Einige Gedichtinterpretationen greifen auf theoretische Überlegungen Andresens zurück, um ihr ästhetisches Konzept zu umreißen und Besonderheiten herauszustellen. Nicht nur die formalen Konturen des Gedichts im Allgemeinen, sondern auch spezifische ästhetische Traditionen werden von Sophia Andresen in Stellung gebracht, um Kritik dichterisch zum Ausdruck zu bringen. So werden in einem zweiten Schritt Rückgriffe auf verschiedene ästhetische Traditionen als Modus künstlerischen Widerstands gelesen. Dazu gehören Bezugnahmen auf antike Dichtung, auf biblische Konstellationen sowie auf die neuzeitliche Dichtungstradition. Insgesamt wird deutlich, dass Sophia Andresen eine umfassend gebildete Dichterin war. Sie kannte die literarischen Traditionen, von der pagan-antiken über die biblische Tradition bis hin zur neuzeitlichen Literaturgeschichte. Durch den Rückgriff auf diese literarischen Formen hat die Autorin auch die Bedeutung dieser europäischen Traditionen hervorgehoben – in einer Zeit, in der Portugal sich zusehends von Europa isolierte und eine europäische Zugehörigkeit eben nicht Teil des portugiesischen nationalen Selbstbildes war.
II.1 Figuren einer widerständigen Ästhetik Sophia Andresens Poesie zeichnet sich nicht nur durch die Réécriture von Kampfbegriffen des Salazar-Regimes aus, wie dies im letzten Kapitel entlang der Begriffe «Deus», «Pátria» und «Família» gezeigt wurde. Ihre Gedichte weisen insgesamt eine auffällig dichte Verwendung von Substantiven auf, wobei bestimmte Wörter in verschiedenen Gedichten und Bänden so häufig verwendet werden, dass diese Begriffe Isotopien bilden, die eine werkübergreifende Kohärenz erzeugen, wie zum Beispiel alle maritimen Begriffe, die Isotopie der Antike oder auch das semantische Feld von Haus und Garten.10 Im Folgenden
10 Vgl. João Barrento: Sophia Substantiva. In: PEN Clube Português (Hrsg.): À Sophia. Homenagem a Sophia de Mello Breyner Andresen. Lisboa: Caminho 2007, S. 54–56.
II.1 Figuren einer widerständigen Ästhetik
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soll jedoch Figuren nachgegangen werden, die aus diesem Eindruck der WerkKohärenz herausstechen. Es werden dabei Gedichte exemplarisch untersucht, deren Darstellungsmodus den Blick auf Begriffe lenkt, die am Rande oder sogar außerhalb der großen Isotopien stehen und zu deren relevanten Merkmalen das lyrische Ich im jeweiligen poetischen Kontext eine distanzierte Haltung einnimmt. Für das Erkenntnisinteresse des Rahmenkapitels sind vor allem die in den Gedichten enthaltenen metasprachlichen, ethischen und metapoetischen Reflexionen von Bedeutung.
II.1.1 Der Geier In dem 1962 erschienenen Gedicht «O Velho Abutre» beschreibt die Sprechinstanz in drei Versen einen alten Geier. O Velho Abutre 11 O velho abutre é sábio e alisa as suas penas A podridão lhe agrada e seus discursos Têm o dom de tornar as almas mais pequenas
Semantisch lässt sich das Gedicht in zwei Hälften teilen. Bis zur Zäsur im zweiten Vers, die durch die Konjunktion «e» (V. 2) markiert ist, erfolgt eine Beschreibung des Geiers, die sich auf mythologische Zuschreibungen und zoologische Erkenntnisse über den Vogel beziehen. So wird mit «sábio» (V. 1) auf die antike Vorstellung angespielt, ein Geier sei besonders schlau oder habe sogar ein besonderes Vorauswissen. Diese Vorstellung beruht auf Beobachtungen, nach denen Geier häufig Heeren folgten und auf Schlachtfeldern anzutreffen waren, was sie unter anderem auch zu einem ikonografischen Attribut des Kriegsgottes Ares machte. Man schloss daraus, sie wüssten im Voraus, dass eine Schlacht stattfinden werde.12 Die Feststellung «O velho abutre é sábio» (V. 1) verweist somit auch auf eine mythologisch gefestigte Vorstellung, die auf einer euphemistischen Interpretation des Verhaltens des Geiers beruht – euphemistisch, da in Wirklichkeit die Geier nur deshalb bei Kämpfen zugegen waren,
11 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 439 [Livro Sexto, 1962]. Dt.: «Der alte Geier // Der alte Geier ist weise und putzt seine Federn / Die Fäulnis gefällt ihm und seine Reden / Haben die Gabe die Seelen kleiner zu machen» [Übersetzung d. Verf.] 12 Vgl. Wolfgang Speyer: Geier. In: Theodor Klauser (Hrsg.): Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Band IX: Gebet II – Generatianismus. Stuttgart: Anton Hiersemann 1976, Sp. 430–468, hier: Sp. 444– 445.
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II Ethik und Ästhetik
weil sie sich von Aas ernähren, also auch von umgekommenen Last- und Reittieren.13 Zoologisch wird Geiern in der Tat ein ausgezeichnetes Sehvermögen bescheinigt,14 was eine besondere Form von Wissen beinhaltet und worauf «sábio» (V. 1) ebenfalls verweist. Das abwartende Kreisen bei der Jagd nach Beute, worauf ein plötzliches Herabschießen aus großer Höhe folgt, kann somit als schlaue Berechnung gedeutet werden, die auf dieser ausgeprägten Sehkraft beruht. Diese besondere Fähigkeit des Geiers dient seinem Überleben, genauso wie die Tätigkeit der Gefiederpflege, die in «alisa as suas penas» (V. 1) thematisiert wird. Das Putzen und Glätten der Federn, das Entfernen von Parasiten, ist ausschlaggebend für die Erhaltung eines möglichst dichten Federkleides und seiner aerodynamischen Funktion. Dass der Geier weniger mit Reinlichkeit sondern eher mit Schmutz und Fäulnis in Verbindung gebracht wird,15 wird im zweiten Vers durch die Formulierung «A podridão lhe agrada» (V. 2) zum Ausdruck gebracht. Darin wird euphemistisch darauf Bezug genommen, dass Geier Aasfresser sind, sich also überwiegend von Kadavern ernähren. Sie töten ihre Beute somit nicht selbst, vielmehr besteht ihr Jagdverhalten aus Abwarten. Es ist somit nicht nur einfach nur ein angenehmes Gefühl – «lhe agrada» (V. 2) –, das den Geier mit der Fäulnis verbindet, stattdessen sichert sie sein Überleben. Die im Euphemismus «lhe agrada» (V. 2) enthaltene Abschwächung des animalischen Überlebensinstinkts zu einem verfeinerten Gefühl des Gefallens weist bereits auf den zweiten Teil des Gedichts voraus, in dem sich der Geier als tierische Metapher für einen Menschen heraustellt: «e seus discursos / Têm o dom de tornar as almas mais pequenas» (V. 2–3). Mit dem in «discursos» (V. 2) enthaltenen Verweis auf die Sprachfähigkeit, die im Allgemeinen den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, wird deutlich, dass der Geier in diesem Gedicht metaphorisch für einen Menschen steht. Solch eine Verwendung der Geier-Metapher ist keineswegs originell, sondern wurde schon in der griechischen und römischen Antike in bildlicher Sprache und Sprichwörtern benutzt.16 Als tertium comparationis diente meist der Umstand, dass der Geier als Aasfresser vom Tod oder vom Jagderfolg anderer Lebewesen profitiert, so dass die mit der Metapher bezeichnete Person diesem Bild entsprechend als faul, gierig, lauernd, habsüchtig oder falsch dargestellt werden konnte. Diese der Metapher konventionell eingeschriebenen negativen Konnotationen sind auch in diesem Gedicht enthalten, werden jedoch von den positiv konnotierten Lexemen «sábio» (V. 1),
13 14 15 16
Ebda. Ebda. Ebda. Wolfgang Speyer: Geier, Sp. 452–454.
II.1 Figuren einer widerständigen Ästhetik
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«alisa» (V. 1) und «agrada» (V. 2) entschärft. Dass die Gefahr, die traditionell dem Geier zugeschrieben wird, an dieser Stelle als abgeschwächte Gefährdung dargestellt ist, wird zudem vor allem in dem dem «abutre» (V. 1) vorangestellten Attribut «velho» (V. 1) deutlich. Dies wird auch durch den Titel bestärkt. Die Stärke und die Gefahr, die gewöhnlich vom Geier ausgehen, sind durch sein fortgeschrittenes Alter gemildert. Von der Person, die hier metaphorisch als Geier betitelt wird, ging somit einst die subtile Gefahr aus, die mit dem Auftauchen von Geiern verbunden wird, und die nun im Alter verblasst ist. Dennoch geht von diesem Menschen weiterhin eine Macht aus, die jedoch nicht in seinen Taten liegt, sondern in seinen Worten. Es sind lediglich die «discursos» (V. 2), denen sein Alter nichts anhaben kann. Ganz im Gegenteil wird deren Wirkungskraft durch «sábio» (V. 1) und das damit aufgerufene Stereotyp der Altersweisheit als durch das Alter verstärkt dargestellt. Die Worte des «abutre» nehmen anderen ein Stück ihrer Seele, machen sie kleiner: «Têm o dom de tornar as almas mais pequenas» (V. 3). Einerseits wird hier hervorgehoben, dass Worte und die damit verbundenen Ideen und Vorstellungen aufgrund ihrer Immaterialität von viel größerer Bedeutung sind als alles Körperliche und Lebendige, das früher oder später von Fäulnis zersetzt werden wird. Andererseits wird ebenso auf die Gefahr dieses Umstands hingewiesen: Die metaphorisch umschriebene Person ist mächtiger als ein Geier, denn sie profitiert nicht nur materiell vom Leid anderer, sondern hat darüber hinaus die Fähigkeit, immaterielle Seelen zu beeinflussen. Wie bereits im Euphemismus «A podridão lhe agrada» (V. 2) wird hier in «o dom de tornar as almas mais pequenas» (V. 3) eine ironische Antithese konstruiert. Die metaphysische Macht der Seelenverkleinerung wird als «dom» (V. 3), als besondere Begabung gepriesen und somit positiv konnotiert. Diese Ironie wird besonders deutlich, wenn man berücksichtigt, welche Konnotationen der Schlüsselbegriffe «discursos» (V. 2) und «almas» (V. 3) zeitgenössisch vorherrschten. In «discursos» (V. 2) steckt implizit der dominierende Diskurs. Der Ausdruck könnte sich also auf die Reden beziehen, die die Vertreter des Regimes im Estado Novo tatsächlich gehalten und veröffentlicht haben sowie im weiteren Sinne auf den gesamten salazaristischen Diskurs, der in den portugiesischen Medien permanent reproduziert und verbreitet wurde. Die hier durch den «abutre» (V. 1) bedrohten «almas» (V. 3) verweisen auf die alma portuguesa, die im diffus-metaphysischen Patriotismus Salazars für das Wesen der Portugiesen stand. Die Verkleinerung der Seele durch den «abutre» (V. 1) ist somit nicht nur eine diffuse Bedrohung für unbestimmte Seelen, sondern ein nationaler Verlust. Zugleich deckt diese Kontextualisierung eine ironische Erkenntnis auf: während in den Reden von der unendlichen Größe der portugiesischen Seele die Rede ist, sind die Reden selbst ein Instrument der
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II Ethik und Ästhetik
Eingrenzung und Kleinhaltung eben dieser Seele. Dies ist es, was letztendlich die List des weisen Geiers ausmacht und worin seine Gefahr besteht. Die Beschreibung seiner Fähigkeit als «dom» (V. 3) macht diese zu einem Alleinstellungsmerkmal des «abutre» (V. 1). Von seinen Worten geht somit eine besondere Macht über die Seelen aus, die ihn selbst zu einer führenden Figur macht. Auch im Gedicht «Esta Gente» 17 fungiert der Geier als Teil einer Reihe von Tiermetaphern, die auf die Machthaber des Estado Novo abzielten: «o abutre e a cobra / O porco e o milhafre».18 Dies ist auch in dem Kontext zu verstehen, dass Tiermetaphern insgesamt in der antifaschistischen Kunst, vor allem der bildenden Kunst, zu großer Bedeutung gelangten.19 Die Metapher des Geiers spiegelt die in ihm vereinten Widersprüche, die auch Diktatoren umgeben. Er ist zwar ein majestätischer Vogel, jedoch ist sein Überleben vom Tod anderer abhängig, was ihn zu einer Bedrohung für die Schwachen macht. Der Geier wird hier zur Metapher eines amoralischen Menschen. Seine Fähigkeit Aas in Lebenskraft zu verwandeln macht ihn zudem zu einem vitalistischen Symbol 20 des Überlebenswillens. Während durch die ihm zugeschriebenen Attribute «sábio» (V. 1) und «velho» (V. 1) auf eine anerkannte Instanz verwiesen wird, die moralische Handlungsprinzipien vorgibt, ist er selbst frei von moralischen Zwängen und handelt ausschließlich nach seinem eigenen individuellen Vorteil. Der alte Weise ist traditionell derjenige, der moralische Handlungsprinzipien vorgibt, wie die historische Gestalt des Zarathustra. Doch Nietzsche nennt auch den von ihm geschaffenen Weisen Zarathustra, der die Unterteilung in Gut und Böse als Irrtum erkennt und sich fortan über jegliche Moral stellt.21 So wäre auch das Verschwimmen positiver und negativer Konnotationen innerhalb des Gedichts zu verstehen, da Gut und Böse als Handlungskategorien für den Geier nicht existieren. Dementsprechend löst «podridão» (V. 2), auch metaphorisch als Werteverfall zu verstehen, Gefallen aus und die Einschüchterung der Seelen wird als «dom» (V. 3) gepriesen. Im Gedicht «O Velho Abutre» repräsentiert der Geier vollkommenen Immoralismus, der – durch seine Reden verbreitet – großen Einfluss auf seine Umge-
17 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 458 [Geografia, 1967]. 18 Ebda., V. 8–9. Vgl. Kapitel I.3.1. 19 Als zentrales Werk der antifaschistischen Kunst gilt Pablo Picassos (1881–1973) Guernica (1937, Centro de Arte Reina Sofia, Madrid). Exemplarisch sei hier ebenfalls sein Werk Sueño y mentira de Franco (1937) genannt sowie Tiere und Menschen (1933–1938) von Hans Grundig (1901–1958). 20 Geier. In: Herder-Lexikon Symbole. Freiburg: Herder-Verlag 41978, S. 60. 21 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Band 2, herausgegeben von Karl Schlechta. München: Hanser 1954, S. 277–561.
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bung hat. Die Auswirkungen fehlender ethischer Prinzipien auf die Seelen werden durch dieses Bild als vernichtend dargestellt.
II.1.2 Der Übermensch Nietzsches Kritik der Moral und sein Abgesang auf eine universelle Ethik spiegelt sich auch in einem weiteren Gedicht des Bandes Livro Sexto. In dem erstmals 1961 veröffentlichten Gedicht «O Super-Homem» greift Andresen den nietzscheanischen Topos des Übermenschen auf, der den Höhepunkt seiner literarischen Bearbeitung im europäischen Futurismus hatte. O Super-Homem 22 Onde está ele o super-homem? Onde? – Encontrei-o na rua ia sozinho Não via a dor nem a pedra nem o vento Sua loucura e sua irrealidade Lhe serviam de espelho e de alimento
Das Gedicht weist eine dialogische Struktur auf, wobei der erste Vers eine Fragestellung enthält, die in den Versen zwei bis fünf beantwortet wird. Die Frage lautet: «Onde está ele o super-homem?» (V. 1). Hier wird sowohl durch die Wiederholung des Titels als auch durch die nachgeschobene Präzisierung des Subjekts, «ele o super-homem» (V. 1), der Fokus deutlich auf den super-homem gelegt. Das nochmalige Aufgreifen des Fragewortes «Onde?» (V. 1) am Ende des Verses betont zudem, worauf die Frage abzielt: den Aufenthaltsort des super-homem. Letzterer wird einerseits als eine bekannte Instanz präsentiert, als jemand, von dessen Existenz das lyrische Ich erfahren haben muss, dessen Aufenthaltsort es jedoch nicht kennt. Gleichzeitig drückt die Wiederholung des Fragewortes eine affektiv aufgeladene Dringlichkeit aus, die ebenso als ein Zweifeln an der Existenz des super-homem gesehen werden kann, das sich mit provokativem Spott gegenüber demjenigen paart, der seine Existenz verkündet hat. Der Adressat der Frage wird somit als jemand identifiziert, dem ein bestimmtes Wissen über den super-homem zugeschrieben wird, welches das lyrische Ich wiederum in Frage stellt.
22 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 436 [Livro Sexto, 1962]. Erstveröffentlichung in: Rumo: Revista de Problemas Actuais Nr. 54 (1961), S. 163. Dt.: «Der Über-Mensch // Wo ist er, der Über-Mensch? Wo? / – Ich habe ihn auf der Straße getroffen, er ging allein / Er sah weder den Schmerz noch den Stein noch den Wind / Seine Verrücktheit und seine Unwirklichkeit / Dienten ihm als Spiegel und als Nahrung» [Übersetzung d. Verf.]
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Die Antwort des lyrischen Dus ist eine Beschreibung seiner Begegnung mit dem super-homem: «Encontrei-o na rua ia sozinho / Não via a dor nem a pedra nem o vento / Sua loucura e sua irrealidade / Lhe serviam de espelho e de alimento» (V. 2–5). Die Begegnung auf der Straße, in der sich Alltäglichkeit manifestiert, steht in Antithese zum gesuchten Übermenschen, dem ja per definitionem jegliche Durchschnittlichkeit fehlt. Seine Besonderheit wird in diesem Gedicht lediglich durch die Betonung einer Isolation in «ia sozinho» (V. 2) ausgedrückt, die zudem gemeinsam mit «rua» (V. 2) metaphorisch über den Chronotopos des Weges hinaus in die Zukunft verweist. Allerdings schreitet der vermeintliche Übermensch blind voran: «Não via a dor nem a pedra nem o vento» (V. 3). Dabei bildet «via» mit «dor» und ebenso mit «vento» eine synästhetische Verbindung. Denn während der Stein als Gegenstand sichtbar ist, trifft dies auf den Schmerz und den Wind nur indirekt zu. In erster Linie sind beide körperlich spürbar und nur dann zu sehen, wenn andere sie spüren. Um Wind zu sehen, bedarf es nicht nur der Sehkraft, sondern des Wissens, dass eine bestimmte Bewegung eines Gegenstands auf den Wind zurückzuführen ist. Es wird somit auf ein bestimmtes Vorwissen zurückgegriffen, das das Verständnis der Situation ermöglicht. Um Schmerz zu sehen, bedarf es ebenfalls eines Mittlers, der den Schmerz sichtbar macht. Dabei kann das reine Wissen über bestimmte, dem Schmerzempfinden zugeordnete Gesichtsausdrücke ausreichen um den Schmerz als solchen zu erkennen und zu sehen, dass jemand leidet. Auch akustisch ließe sich der Schmerz anderer identifizieren. Die rein sensorische Erfahrung der Schmerzsignale ist zwar nicht ausreichend, um eine Reaktion des Gegenübers zu provozieren, es ist jedoch die notwendige Bedingung. Was sich dann auf emotionaler Ebene abspielt, ist von verschiedenen Faktoren abhängig, ebenso wie die Frage danach, welche Reaktion die jeweils entstandenen Emotionen zur Folge haben. Die Fähigkeit, diese gesendeten Signale zu sehen, wird dem super-homem hier abgesprochen. Der Schmerz, den das lyrische Du erkennen kann, ist für den super-homem nicht sichtbar. Die Signale, die das lyrische Du aufgrund seiner empathischen Fähigkeiten deuten kann, da es sonst nichts vom Schmerz zu berichten wüsste, bleiben für den superhomem bedeutungslos. Durch die Synästhesie wird die optische mit der haptischen Wahrnehmung vermischt, welche wiederum nicht nur auf das buchstäbliche «Begreifen», sondern gemeinsam mit dem Sehsinn auch metaphorisch auf das Verstehen der hier beschriebenen alltäglichen Situation verweist. Dem Übermenschen werden nicht nur keine besonderen Eigenschaften zugeschrieben, sondern sogar grundlegende menschliche Fähigkeiten der Sinneswahrnehmung und Empathie abgesprochen. Der Eindruck fehlender Empathie wird im darauffolgenden
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Vers durch «loucura» (V. 4) und «irrealidade» (V. 4) bestärkt, die ein Abweichen von der Realität und gesellschaftlichen Normen bezeichnen und vor allem im Rückbezug auf die fehlende Empathie auch als ein Hinweis auf Geisteskrankheit gelten können.23 In «espelho» (V. 5) wird zugleich das Thema der visuellen Wahrnehmung fortgeführt. Während zuvor die Empathie thematisiert wurde, verweist «espelho» (V. 5) auf die Selbstwahrnehmung, die wiederum als grundlegend für empathische Fähigkeiten gilt. Wahnsinn und Irrealität bestimmen jedoch nicht nur seine Selbsterkenntnis, für die der Spiegel metaphorisch steht, sondern sie nähren ihn als sein «alimento» (V. 5). So werden «loucura» (V. 4) und «irrealidade» (V. 4) als existentiell für den super-homem ausgemacht, indem sie mit «espelho» (V. 5) und «alimento» (V. 5) gleichgesetzt werden. Die evozierte Abweichung von der gesellschaftlichen Norm wird unterstrichen durch einen unregelmäßigen Reim, der auch formal die semantisch umrissene Anomalie abbildet: ia/via, vento/alimento, rua/Sua. In der Beschreibung der Begegnung durch das lyrische Du wird das Ausbleiben einer Reaktion des super-homem, die angesichts des beschriebenen Schmerzes nach ethischen Gesichtspunkten zu erwarten gewesen wäre, als Fehler in der Wahrnehmung dargestellt: «Não via» (V. 3). Durch den im Begriff super-homem enthaltenen Verweis auf den nietzscheanischen Übermenschen wird evident, dass der Grund für die beschriebene Ignoranz nicht etwa Blindheit ist, sondern das Fehlen ethischer Grundsätze. Der beschriebene superhomem entspricht dem von Nietzsche entworfenen Übermenschen, der als amoralisch und individualistisch gekennzeichnet ist. Nietzsche wandte sich in Also sprach Zarathustra gegen die traditionell christliche und humanistische Moral und stellte dieser eine rein individuelle, eigenverantwortliche Fällung moralischer Urteile entgegen. Der von ihm konzipierte Übermensch steht «jenseits von Gut und Böse».24 Dies wird in Sophia Andresens Gedicht vom lyrischen Du als inkompatibel mit seiner eigenen Weltsicht empfunden und deshalb als Blindheit, Wahnsinn und Irrealität gesehen. Die Frage des lyrischen Ichs wurde im Übrigen auch an Nietzsches Zarathustra gestellt, dem seine Verkündung des Übermenschen nicht geglaubt wurde.25 Doch während Zarathustra den Übermenschen in der Zukunft verortete, ist er in «O Super-Homem» bereits unter den Menschen: Das lyrische Du bezeugt,
23 Fehlende Empathie gilt nach Jaspers als unterscheidendes Kriterium zwischen Neurose und Psychose, vgl. Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Berlin: Springer 91973, S. 483 f. 24 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 415. 25 «Als Zarathustra so gesprochen hatte, schrie Einer aus dem Volke: ‹Wir hörten nun genug von dem Seiltänzer; nun lasst uns ihn auch sehen!› Und alles Volk lachte über Zarathustra», in: Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 280.
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ihn gesehen zu haben. Die Verortung des Übermenschen in der Gegenwart deutet darauf hin, dass sein Immoralismus bereits Teil der Gesellschaft ist. Seine Gleichgültigkeit gegenüber moralischen Grundsätzen wird dabei in Verbindung gebracht mit dem Fehlen sinnlicher Wahrnehmung. Somit wird im Umkehrschluss die sinnliche Wahrnehmung eine notwendige Bedingung für ethisches Verhalten. Falls die Wahrnehmung ausbleibt, fehlt eine ethische Orientierung, was jegliche Selbsterkenntnis verhindert und Wahnsinn und Irrealität zur Folge hat. Diese Relation lässt sich ebenso metapoetisch auslegen: Auch ästhetische Erfahrung wird hier als notwendige Bedingung für ethische Bildung präsentiert. Die Frage des lyrischen Ichs bleibt in der Antwort des lyrischen Dus offen. Der Aufenthaltsort des super-homem wird nicht genannt, stattdessen wird von einer vergangenen Begegnung berichtet. Im Dialog mit dem lyrischen Du erfährt das lyrische Ich, dass der super-homem seine Umgebung nicht wahrnimmt, er dem Wahnsinn verfallen und weltfremd ist. So wird dem lyrischen Ich implizit versichert, dass der «super-homem» nicht als Orientierung für das eigene Leben geeignet ist, da er selbst orientierungslos scheint: Er ging allein und auch das lyrische Du ist ihm nicht gefolgt. Die Idee eines dem Menschen überlegenen Menschen stammt nicht von Nietzsche, doch hat dieser den Begriff des Übermenschen, der am Ende des 19. Jahrhunderts die Décadence und den Tod Gottes überwinden sollte, durch sein antichristliches Pathos geprägt. So unterschiedlich Nietzsche auch rezipiert wurde, in der Nachkriegszeit galt er nicht zuletzt aufgrund seiner elitären Übermensch-Konzeption als tendenziell eher im Faschismus rezipierter Philosoph.26 Das Bild, das Sophia Andresen 1962 vom super-homem zeichnet, zielt jedoch auf einen anderen Aspekt ab: Die Distanzierung des Übermenschen von allen Wahrheiten und ethischen Prinzipien führt ihn in eine Distanz zur Welt und in die Einsamkeit. So ist der Übermensch nicht in der Lage, neue Werte zu etablieren und damit die menschliche Gesellschaft zu verbessern, da er selbst immer außerhalb der Gesellschaft steht. Zudem gewährt sie dem Übermenschen keine überlegene Position, sondern verortet ihn aus ihrer Zeit heraus in eine Alltagssituation der nah wirkenden Vergangenheit: «Encontrei-o na rua ia sozinho» (V. 2).
26 Zur Ambivalenz der Übermensch-Interpretationen vgl. Safranski: «Nietzsches Bild vom Übermenschen ist ambivalent, und es verbirgt sich darin ein existenzielles Drama. Der Übermensch repräsentiert einen höheren biologischen Typus, er könnte das Produkt einer zielstrebigen Züchtung sein; er ist aber auch ein Ideal für jeden, der Macht über sich selbst gewinnen und seine Tugenden pflegen und entfalten will, der schöpferisch ist und auf der ganzen Klaviatur des menschlichen Denkvermögens, der Phantasie und Einbildungskraft zu spielen weiß. Der Übermensch realisiert das Vollbild des Menschenmöglichen, und darum ist Nietzsches Übermensch auch eine Antwort auf den Tod Gottes.» (Rüdiger Safranski: Friedrich Nietzsche. Biographie seines Denkens. München: Hanser 2000)
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In der Zeit des lyrischen Ichs gehört der Übermensch nicht in die Zukunft, aber auch nicht in die Vergangenheit, da er weiterhin existiert. Das letzte Bild des Gedichts, in dem der Übermensch sich selbst durch seinen Wahnsinn und seine Weltfremdheit nährt, kann einerseits als eine Art Autodigestion verstanden werden, durch die er sich letztendlich selbst zerstören wird. Es enthält aber auch eine Warnung davor, dass der Übermensch neben den Menschen auf der Straße geht und seinen Immoralismus und seine Weltanschauung nicht verloren hat, sondern sich weiterhin dadurch definiert und davon zehrt.
II.1.3 Der Demagoge Auch in dem 1977 veröffentlichten Gedicht «Com fúria e raiva» geht es um die Bedeutung von Selbsterkenntnis und Immoralismus im Umgang mit Worten. Com Fúria e Raiva 27 Com fúria e raiva acuso o demagogo E o seu capitalismo das palavras Pois é preciso saber que a palavra é sagrada Que de longe muito longe um povo a trouxe E nela pôs sua alma confiada De longe muito longe desde o início O homem soube de si pela palavra E nomeou a pedra a flor a água E tudo emergiu porque ele disse Com fúria e raiva acuso o demagogo Que se promove à sombra da palavra E da palavra faz poder e jogo E transforma as palavras em moeda Como se fez com o trigo e com a terra Junho de 1974
27 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 621 [O Nome das Coisas, 1977]. Dt.: «Mit Furor und Wut // Mit Furor und Wut klage ich den Demagogen an / Und seinen Kapitalismus der Worte // Denn es ist nötig zu wissen, dass das Wort heilig ist / Dass von weit her sehr weit her ein Volk es mitbrachte / Und in es seine anvertraute Seele legte // Von weit her sehr weit her von Beginn an / Hat der Mensch sich selbst erkannt durch das Wort / Und er hat benannt den Stein die Blume das Wasser / Und alles entstand weil er es sagte // Mit Furor und Wut klage ich den Demagogen an / Der sich vorwärts bewegt im Schatten des Wortes / Und aus dem Wort macht er Macht und Spiel / Und er verwandelt die Worte in Münzen / Wie man es mit dem Weizen und der Erde gemacht hat.» [Übersetzung d. Verf.]
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Das Gedicht setzt sich aus vier Strophen zusammen, von denen die erste aus zwei Versen besteht und die darauffolgenden jeweils um einen Vers verlängert sind. Die erste und die vierte Strophe sind durch den identischen Anfangsvers miteinander verbunden. Darin werden Subjekt und Objekt des Gedichts klar benannt: «Com fúria e raiva acuso o demagogo» (V. 1, 10). Durch «acuso» (V. 1), dem einzigen Lexem mit der deiktischen Markierung des lyrischen Ichs, wird deutlich, dass es sich bei dem Gedicht um eine Anklage des lyrischen Ichs handelt. Diese richtet sich gegen «o demagogo / E o seu capitalismo das palavras» (V. 1–2). Eingeleitet wird das Gedicht durch die aufgrund der Tautologie sehr starke Gefühlsbekundung «com fúria e raiva», die das gesamte Gedicht nicht nur durch den Titel und durch die exponierte Stellung am Anfang des ersten Verses, sondern auch durch das Wiederaufgreifen in der vierten Strophe durchzieht. Dagegen wirkt das Objekt der Anklage im zweiten Vers zunächst sehr abstrakt. Doch das lyrische Ich klagt hier nicht pauschal den Kapitalismus an, sondern richtet seine Wut speziell an den «capitalismo das palavras» (V. 2). Worauf das lyrische Ich mit dieser Metapher abzielt, wird in den folgenden Strophen deutlich. Sowohl semantisch als auch syntaktisch lässt sich zwischen der ersten und vierten Strophe eine Unterbrechung ausmachen, die mit «Pois é preciso saber que» (V. 3) eingeleitet wird. Um die Anklage zu verstehen, bedarf es demnach eines Hintergrundwissens. Dieses wird in der zweiten und dritten Strophe entfaltet und betrifft nicht den «capitalismo» (V. 2), sondern das Wort: «Pois é preciso saber que a palavra é sagrada» (V. 3). Das Wort wird als heilig identifiziert und in der Formulierung «é preciso saber» (V. 3) wird impliziert, dass dies nicht jedem bewusst zu sein scheint und deshalb eine Notwendigkeit besteht, dieses Wissen über das Wort zu teilen. Nach der Erinnerung an die Sakralität des Wortes bezieht sich das lyrische Ich in den darauffolgenden Versen auf die Geschichte des Wortes. Ein Volk habe das Wort von sehr weit her mitgebracht und ihm seine Seele anvertraut: «Que de longe muito longe um povo a trouxe / E nela pôs sua alma confiada» (V. 4–5). In der adverbialen Bestimmung «de longe muito longe (V. 4) wird durch die nachgestellte Wiederholung und Steigerung des Wortes «longe» (V. 4) die Größe der Entfernung betont. Diese Formulierung wird zu Beginn der dritten Strophe wieder aufgegriffen und durch «desde o início» (V. 6) ergänzt. Damit wird deutlich, dass es sich nicht nur um eine räumliche, sondern vor allem um eine zeitliche Entfernung handelt, von der das lyrische Ich spricht. Durch die vorherige Bezeichnung des Wortes als heilig entsteht in der zweiten Strophe ein Bezug zur adamitischen Sprache. Das erwähnte Volk, das die Sprache mitbrachte, verweist auf die Nachkommen Noahs, die nach der großen Flut umherzogen und bis zum Turmbau zu Babel und der Sprachverwirrung noch dieselbe Sprache hatten.28 28 Gen 11.
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Nach dem Verweis auf die paradiesische Sprache, die die Menschen verloren haben, folgt, nach der erneuten Betonung der großen zeitlichen Entfernung, eine Passage, in der die Bedeutung der Sprache für den Menschen dargelegt wird: «O homem soube de si pela palavra / E nomeou a pedra a flor a água / E tudo emergiu porque ele disse» (V. 7–9). Die beschriebene schöpferische Kraft der Worte erinnert an die Schöpfungsgeschichte, jedoch geht im Gedicht das Wort nicht von Gott, sondern vom Menschen aus. Nachdem er sich durch das Wort selbst erkannt hat, benannte er die Welt durch seine Worte und nahm sie so in Besitz. Auch dies ist Teil der Schöpfungsgeschichte: der Mensch benannte beispielsweise die Tiere.29 Im Gedicht wurde alles, was existiert, durch das Wort erschaffen: «O homem soube de si pela palavra / E nomeou a pedra a flor a água / E tudo emergiu porque ele disse» (V. 7–9). Die so hervorgehobene Performativität der Worte lässt den Menschen als Schöpfer erscheinen. Daraus folgt, dass er eine besondere Verantwortung über seine Worte hat, da diese schöpferisch wirken, was ebenso metapoetisch zu verstehen ist. Nicht nur die Schöpfung durch Worte, sondern auch die Selbsterkenntnis durch das Wort ist mit Verantwortung verbunden. Seit der Antike gehört die Selbsterkenntnis zu den wichtigsten Forderungen der Philosophen. So lautet die prominente Inschrift des Delphischen Apollotempels γνῶθι σεαυτόν, ‹Erkenne dich selbst›. Nach Sokrates ist Selbsterkenntnis die «Bedingung praktischer Tüchtigkeit».30 Diese Bedeutung wird im siebten Vers an das Wort geknüpft: nur durch die Sprache erscheint Selbsterkenntnis möglich. Auf die Betonung der Bedeutung der Worte für das Selbst und die Welt folgt die vierte Strophe, die mit einem erneuten Gefühlsausbruch des lyrischen Ich beginnt. Während der zehnte Vers identisch mit dem ersten ist, folgt darauf eine nähere Beschreibung des «demagogo» (V. 1, 10): «Que se promove à sombra da palavra / E da palavra faz poder e jogo / E transforma as palavras em moeda / Como se fez com o trigo e com a terra» (V. 11–14). Durch die Positionsäquivalenz zur ersten Strophe, die durch die Nähe zum ersten respektive zehnten Vers hergestellt wird, wird deutlich, dass hier der «capitalismo das palavras» (V. 2) wieder aufgegriffen und näher umschrieben wird. Dieser Zusammenhang wird auch semantisch durch «poder e jogo» (V. 13) und «moeda» (V. 14) unterstrichen. Dem «demagogo» (V. 1, 10) wird vorgeworfen, er bewege sich im Schatten des Wortes vorwärts. Er benutzt die Worte somit zu seinem eigenen Vorteil, für sein eigenes Vorankommen und das Erreichen seiner per-
29 1. Mose 2, 19–20. 30 Xenophon: Memorabilia IV, 2, 24. (Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Übersetzt von Rudolf Preiswerk. Stuttgart: Reclam 1997.)
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sönlichen Ziele. Durch «sombra» (V. 11) entsteht metaphorisch die Assoziation des Geschütztwerdens durch das Wort, des Versteckens des Selbst hinter dem Wort. Die zweite Anklage lautet, dass er aus dem Wort «poder e jogo» (V. 12) macht. Darin steckt einerseits der Vorwurf einer fehlenden Ernsthaftigkeit, und andererseits des Leichtsinns. Wer Worte für seine Macht benutzt, verhält sich unsittlich, da das Wort heilig ist. Wer Worte für ein Spiel benutzt, der geht verantwortungslos mit der Wirkungskraft, der schöpferischen Energie der Worte um. Zuletzt beklagt das lyrische Ich, dass das Wort in «moeda» (V. 13) verwandelt wird, was auf verschiedene Weisen verstanden werden kann. Entweder werden Worte mit Geld gekauft oder Worte fungieren als Währung, können also selbst als Tauschwert für Gegenleistungen dienen. Dies bedeutet eine endgültige Profanierung des zuvor als heilig gepriesenen Wortes. Es ist zu einer Ware und zu einer Währung geworden, mit der nach kapitalistischen Regeln gehandelt wird, die zum Spiel um Macht und das eigene Ziel missbraucht wird. Das Gedicht schließt mit dem Nachsatz «Como se fez com o trigo e a terra» (V. 14) Der Vergleich des Wortes mit «trigo» (V. 14) und «terra» (V. 14) lässt darauf schließen, dass auch diese einst entheiligt wurden. Der Demagoge (gr. δῆμος, dēmos, ‹Volk›, und ἄγειν, agein, ‹führen›), dem die Entsakralisierung des Wortes und dessen Instrumentalisierung vorgeworfen werden, ist durch seinen Namen immer schon auf das Volk bezogen. Er verführt als geschickter Redner die Massen und verfolgt dabei eigene, meist verdeckte Motive. Die Macht des Wortes, Dinge entstehen zu lassen, wird vom Demagogen zu niederen Zwecken instrumentalisiert. Durch die Gegenüberstellung von der adamitischen Sprache, der Schöpfungskraft des Wortes und dem beschriebenen ‹Kapitalismus des Wortes›, werden christlich-ethische Betrachtungen mit der Instrumentalisierung dieser Schöpfungskraft durch einen Demagogen kontrastiert. Auf einer metapoetischen Ebene wird deutlich, dass das Gedicht selbst in den Bereich des erschaffenden Wortes gehört. Die versweise Verlängerung der Strophen bildet die schöpferische Kraft der Sprache formal und visuell in der Chronologie des Gedichts ab. So wird der Anspruch vermittelt, selbst etwas durch Worte zu erschaffen, um es einem Demagogen entgegenzusetzen. Durch die Datierung des Gedichts auf den Juni 1974 ist der Text natürlich auch im Kontext der Nelkenrevolution im April desselben Jahres zu betrachten. Die Anklage des Demagogen ist somit auch eine Anklage derer, die in dieser Zeit des Umbruchs versuchten durch den Missbrauch der Macht des Wortes die Massen zu verführen, um ihren eigenen Vorteil durchzusetzen und politische Macht zu erlangen.
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II.1.4 Der Sturmvogel Ein weiteres aus der Tierwelt entnommenes Bild ist das der procelária, die eine speziellere Vogelart als den Geier bezeichnet und zur Familie der Sturmvögel, Procellariidae, gehört (lat. procella, dt. ‹Sturm›; lat. Suffix –arius, dt. ‹zugehörig zu›). In ihrem Gedicht «Procelária» hebt Sophia Andresen die besonderen Eigenschaften dieser Vogelart hervor und stilisiert sie zu einem mehrfach kodierten Bild, dem auch eine metapoetische Bedeutung zukommt. Procelária 31 É vista quando há vento e grande vaga Ela faz o ninho no rolar da fúria E voa firme e certa como bala As suas asas empresta à tempestade Quando os leões do mar rugem nas grutas Sobre os abismos passa e vai em frente Ela não busca a rocha o cabo o cais Mas faz da insegurança sua força E do risco de morrer seu alimento Por isso me parece imagem justa Para quem vive e canta no mau tempo
Das Gedicht besteht aus vier Strophen: in den ersten drei jeweils dreiversigen, reimlosen Strophen wird der im Titel eingeführte Sturmvogel beschrieben, der deiktisch durch das Pronomen «Ela» (V. 2, 7) markiert ist, während in der letzten Strophe, die nur aus zwei Versen besteht, das lyrische Ich in den Vordergrund tritt – «me parece» (V. 10) – und aus den zuvor beschriebenen Eigenschaften des Vogels Bilanz zieht. Im Gedicht sind zwei Isotopien miteinander verwoben. Die ornithologische Isotopie umfasst Begriffe, die sich auf die Lebenswelt des Vogels beziehen: «ninho» (V. 2), «voa» (V. 3), «asas» (V. 4). Diese sind von Beginn an mit einer
31 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 455 [Geografia, 1967]. Zuvor veröffentlicht in Távola Redonda, no. 19, 1962, S. 8–9, mit der folgenden Anmerkung: «Procelária: Ave marinha que voa sobre as ondas durante as tempestades». Dt.: «Sturmvogel // Sie wird gesehen bei Wind und großen Wellen / Sie macht ihr Nest im Toben der Wut / Und fliegt fest und sicher wie eine Kugel // Ihre Flügel leiht sie dem Unwetter / Wenn die Löwen des Meeres in den Höhlen brüllen / Zieht sie über die Tiefen hinüber und weiter voran // Sie sucht nicht den Felsen, das Kap, den Kai / Sondern macht aus der Unsicherheit ihre Stärke / Und aus dem Risiko zu Sterben ihre Nahrung // Deshalb scheint sie mir das rechte Bild zu sein / Für jemanden, der in schlechtem Wetter lebt und singt» [Übersetzung d. Verf.]
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Isotopie der Bedrohung und Dunkelheit verwoben, die einerseits von der Natur ausgeht: «vento e grande vaga» (V. 1), «tempestade» (V. 4), «leões do mar» (V. 5), «grutas» (V. 5), «abismos» (V. 6). Andererseits wird diese natürliche Bedrohung durch Ausdrücke wie «fúria» (V. 2), «bala» (V. 3), «insegurança» (V. 8) und «risco de morrer» (V. 9) unterstrichen. In der Beschreibung der besonderen Eigenschaften des Sturmvogels überwiegt zunächst die Faszination von der vitalistischen Kraft der Natur. Diese steht in den ersten Versen im Vordergrund, wird jedoch im Verlauf des Gedichts durch die Lebensbedrohlichkeit der Naturgewalten abgelöst. Als besondere Eigenschaft des Sturmvogels beschreibt das lyrische Ich bereits zu Beginn des Gedichts dessen hohe Anpassungsfähigkeit an stürmisches Wetter: «É vista quando há vento e grande vaga / Ela faz o ninho no rolar da fúria / E voa firme e certa como bala» (V. 1–3). Durch die Formulierung «É vista quando» (V. 1) wird das Leben des Sturmvogels eng mit dem stürmischen Wetter verknüpft, da so der Eindruck entsteht, der Vogel komme ausschließlich gemeinsam mit dem Sturm zum Vorschein, als sei der Sturm existenziell für ihn. Dementsprechend werden auch elementare Anstrengungen des Vogels, wie das Fliegen oder der Nestbau, untrennbar mit dem Toben des Wetters verbunden. Diese enge Verbindung erfährt im vierten Vers ihre höchste Steigerungsform: «As suas asas empresta à tempestade» (V. 4). Durch das Verb emprestar wird die physische Verbindung zwischen Flügel und Sturm metaphorisch als ein freiwilliges Sich-Ausliefern beschrieben: der Vogel leiht seine Flügel dem Sturm, somit übergibt er die Kontrolle über seinen Flug vorübergehend an das Unwetter. Der Naturgewalt wird im dritten Vers durch «bala» (V. 3) eine von Menschenhand geschaffene Gewalt gegenübergestellt, die durch ihre Unnatürlichkeit hervorsticht. Die durch das Kugelgeschoss evozierte Gewalt steht zudem durch ihren Ursprung im Menschen in Kontrast zur «fúria» (V. 2), die in Verbindung mit dem Sturm auf den Zorn der Götter verweist, der in der Antike als Auslöser von Unwettern galt. Ab dem fünften Vers nimmt das Bedrohliche im Gedicht überhand. In den wilden «leões do mar» (V. 5) wird in Rückbezug zur «grande vaga» (V. 1) dabei die Verbindung zum Meer verdeutlicht, das den Lebensraum des Sturmvogels ausmacht. Sie verweisen zunächst auf alte erfahrene Seefahrer, die im Deutschen auch metaphorisch als «Seebären» bezeichnet werden, im Portugiesischen jedoch als «leões-do-mar» (dt. «Seelöwen»). Der zoologische Seelöwe heißt auf Portugiesisch zwar «leão-marinho», wird hier jedoch ebenfalls assoziiert, da dieser sich auch zwischen Felsen in Höhlen, «grutas» (V. 5), zurückzieht. Durch das Verb rugir wird jedoch der Löwe – die Raubkatze, die sowohl für die Bezeichnung «leão-do-mar» als auch für «leão-marinho» als Bildspender dient – und vor allem sein bedrohliches Brüllen in den Vordergrund gestellt. In der
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Gegenüberstellung mit dem Mächtigsten aller Tiere, als welcher der Löwe in vielen Kulturen angesehen wird, nimmt der Sturmvogel eine übergeordnete Position ein. In einer Situation, in der sogar die Mächtigsten und Erfahrensten Schutz suchen und sich zurückziehen, bleibt er sichtbar und trotzt durch seine Anpassungsfähigkeit der gefährlichen Lage: «Sobre os abismos passa e vai em frente» (V. 6). Das schadlose Überfliegen von bedrohlichen Abgründen und Meerestiefen wird zu einer weiteren Metapher für das sichere, unbeirrte Vorankommen des den Gefahren trotzenden Vogels, das bereits in «voa firme e certa como bala» (V. 3) evident wurde. In der dritten Strophe wird diese Besonderheit nochmals antithetisch zusammengefasst: «Ela não busca a rocha o cabo o cais / Mas faz da insegurança sua força / E do risco de morrer seu alimento» (V. 7–9). Der Sturmvogel sucht nicht das sichere Land, das hier in «a rocha o cabo o cais» metonymisch und kontrastierend zum Meer, über dem der Vogel fliegt, ausgedrückt wird. Er lässt sich stattdessen auf die Unsicherheit ein und zieht aus ihr seine Stärke. Die Gegenüberstellung von «insegurança» (V. 8) und «risco de morrer» («V. 9) auf der einen und «força» (V. 8) und «alimento» (V. 9) auf der anderen Seite verdeutlicht, dass der Sturmvogel die hier lebensbedrohlich dargestellte Situation, in der er mit einem unvorstellbaren Kontrollverlust über das eigene Leben konfrontiert ist, zu seinem Vorteil zu wenden versteht. Er weiß, wie er die unsicheren Lebensbedingungen in eigene Kraft verwandeln und damit entgegen aller Erwartungen überleben kann. Bereits an dieser Stelle ist deutlich, dass sich hier, allein durch die Metapherntradition von Sturm und Unwetter, die als Bildspender für kriegerische Angriffe und verschiedenste Katastrophen dienen, auch eine mehrfache Lesart des Sturmvogels anbietet. Der Sturmvogel kann somit als Metapher für besonders starke und anpassungsfähige Menschen fungieren, die außergewöhnliche Überlebensstrategien in Zeiten der Krise und Katastrophe entwickeln. Das lyrische Ich weist in der letzten Strophe ausdrücklich auf diesen Umstand hin und eröffnet zudem eine metapoetische Lesart: «Por isso me parece imagem justa / Para quem vive e canta no mau tempo» (V. 10–11). Hier wird zunächst in einem metapoetischen Verweis ausdrücklich auf die bildlich-metaphorischen Qualitäten des Sturmvogels hingewiesen: «me parece imagem justa» (V. 10). In einem zweiten Schritt wird der Bildempfänger identifiziert: «quem vive e canta no mau tempo» (V. 11). In «mau tempo» (V. 11) ist einerseits das Bild des Unwetters eingeschrieben, welches das Leben des Sturmvogels bestimmt. Durch die Mehrdeutigkeit von «tempo» (V. 11) wird dabei die metaphorische Dimension des bedrohlichen Wetters unterstrichen: Im Portugiesischen bezeichnet der Ausdruck «tempo» (lat. tempus) nicht nur das ‹Wetter› sondern in erster Linie die ‹Zeit›. Damit wird nochmals deutlich herausgestellt,
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II Ethik und Ästhetik
dass das Bild des Sturmvogels auf alle übertragbar ist, die in schlechten Zeiten leben. Das lyrische Ich bezieht seine zuvor dargelegte Metapher des Sturmvogels jedoch nicht nur auf jeden, der sich mit schlechten Zeiten konfrontiert sieht und darin leben muss, sondern mit «canta» (V. 11) explizit auf den Dichter. In einer metapoetischen Wendung wird am Ende des Gedichts somit der Fokus auf die besondere Situation des Dichters in Krisenzeiten gelegt, während in «mau tempo» (V. 11) der semantische Bezug zum Sturmvogel nochmals durchscheint. Damit wird einerseits in einer zirkulären Bewegung wieder an den ersten Vers angeschlossen, in dem das Thema des bedrohlichen Wetters seinen Anfang nimmt. Andererseits eröffnet sich in diesem Ausdruck gleichzeitig eine zeitliche Perspektive: das durchgängig verwendete Tempus des Präsens, das bis dahin allgemein gültige Sachverhalte ausdrückt, die an keine Zeit gebunden sind, erhält durch die subjektive Einschätzung des lyrischen Ichs in «me parece» (V. 10) und das Signalwort «tempo» (V. 11) rückwirkend eine zusätzliche temporale Dimension und kann auch als Präsens des Gegenwärtigen gelesen werden. Die Bilanz des lyrischen Ichs hat somit die Qualität einer Gegenwartsanalyse, die vor allem die Situation der Dichter im Blick hat. Durch die Metapher des Sturmvogels lässt sich diese als Krisensituation auflösen, in der jeder, der schreibt, nur durch Anpassung und Verlust der Kontrolle überleben kann. Zudem lässt sich in einem weiteren Schritt der Sturmvogel, dessen Genus in der portugiesischen Sprache weiblich ist, was im Gedicht in der Personaldeixis sichtbar gemacht wird, nicht nur allgemein auf die Situation aller Dichter, sondern auch explizit auf Sophia Andresen selbst beziehen, nicht zuletzt, weil im Bild der procelária die Isotopie des Meeres enthalten ist, die das gesamte Werk der Autorin durchdringt. So kann man die Selbststilisierung der Dichterin als Sturmvogel zwar als Hinweis auf eine Notwendigkeit der Anpassung verstehen, aber vielmehr auch als vehemente Ablehnung des Rückzugs in eine sichere Höhle, was in diesem Fall den Gang ins Exil bedeuten würde. Wie der Sturmvogel sind demnach auch Dichter dazu in der Lage, ihre Kraft und ihre Nahrung aus der gefährlichen Situation zu ziehen und weiter ihren Weg zu gehen. Damit drückt dieses Gedicht sowohl einen wesentlichen Aspekt der Ästhetik von Sophia Andresen aus als auch – durch die Metapher des Sturms – die Gewissheit, dass sich die beschriebene Zeit um einen vorübergehenden Zustand handelt.
II.2 Tradition der klassischen Antike Die künstlerischen Formen, Stoffe und Motive der klassischen Antike gehören zu den dominierenden Themen der andresianischen Poesie und infolgedessen
II.2 Tradition der klassischen Antike
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ebenso zu den Schwerpunkten der Forschungsliteratur. Darin wird die Dominanz des antiken Griechenlands im Werk Sophia Andresens von Kritikern oft als ein Zeichen von Atemporalität und Eskapismus gelesen.32 Im folgenden Kapitel wird aufgezeigt, dass die Bezugnahmen in Andresens Dichtung zur klassischen Antike keineswegs als Flucht vor der eigenen Realität gelesen werden müssen, sondern als bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit gesehen werden können. Anhand ausgewählter poetischer Texte soll im Folgenden dargelegt werden, wie Sophia Andresen klassische Motive nutzt, um ihre eigene Rolle als Schriftstellerin zu reflektieren und wie sie das widerständige Potential antiker künstlerischer Formationen für ihre Zeit aktualisiert. In einem abschließenden Schritt soll zudem ihr unterschiedlich ausgeformter Rekurs auf die stark mit der griechischen Antike verknüpfte elegische Form untersucht werden, die im Modus des Gedenkens ein Aufbegehren gegen die als unerträglich empfundene Gegenwart transportiert.
II.2.1 Anrufung der Muse Dass die Ästhetik von Sophia de Mello Breyner Andresen eng an die der griechischen Antike geknüpft ist, lässt sich nicht nur an der Aktualisierung der mythologischen Narrative und an Rückgriffen auf die ästhetischen Traditionen dieser Zeit erkennen, sondern ebenso am dichterischen Selbstverständnis der Autorin. Das Gedicht «Musa» enthält fundamentale Einsichten in die Poetik von Sophia Andresen und soll deshalb, obwohl es in der Chronologie des Werks eines der späteren Gedichte ist, in diesem Unterkapitel zur Tradition der klassischen Antike an erster Stelle behandelt werden. In einem der fünf publizierten poetologischen Texte, «Arte Poética IV»,33 wird das Gedicht von der Autorin selbst kommentiert. Wie «Musa» ist «Arte Poética IV» in dem 1972 erschienenen Band Dual enthalten, beide Texte sollen im Folgenden gemeinsam untersucht werden.
32 So stellt ihr António Guerreiro in seinem Interview von 1989 zum Beispiel die Frage: «Essa relação com a Grécia tem a ver com a procura de uma certa intemporalidade e com a fuga à factualidade histórica e biográfica?» Andresen antwortet ausweichend und geht auf den Zusammenhang zwischen der Bedeutung der griechischen Antike für ihr Werk und der eigenen historischen Erfahrung nicht ein. (António Guerreiro: Os poemas de Sophia. In: Expresso (15. Juli 1989), S. 54R–57R, hier: S. 54R). 33 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 844–847.
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Musa 34 Aqui me sentei quieta Com as mãos sobre os joelhos Quieta muda secreta Passiva como os espelhos Musa ensina-me o canto Imanente e latente Eu quero ouvir devagar O teu súbito falar Que me foge de repente
Das Gedicht besteht aus zwei Strophen zu je vier und fünf Versen. In der ersten Strophe beschreibt das als weiblich markierte lyrische Ich sich selbst: es sitzt, mit den Händen auf den Knien, ruhig und stumm, wobei die Ruhe in der wiederholten Verwendung des Adjektivs «quieta» (V. 1, 3) besonders betont wird. Die auf die Knie gelegten Hände drücken metonymisch aus, dass das lyrische Ich in dieser Position untätig ist, und vermitteln eine abwartende Haltung. Es spricht nicht einmal, bleibt ruhig, stumm, im Geheimen verborgen und passiv – «Quieta, muda, secreta / Passiva» (V. 3–4) – und sieht diese sich selbst attestierten Eigenschaften als Charakteristika, die es mit Spiegeln teilt: «como os espelhos» (V. 4). In dem Spiegel-Vergleich überträgt sich metaphorisch ebenso die Fähigkeit des Spiegels, ein Objekt zu reflektieren, auf das lyrische Ich. Die zweite Strophe beginnt mit einer Apostrophe an eine Muse: «Musa ensina-me o canto / Imanente e latente» (V. 5–6). Diese Art der Anrufung von Musen, also verschiedener griechischer Schutzgöttinnen der Künste, ist seit Homers berühmtem Proöm der Odyssee, in denen er eine Muse um Inspiration bittet, Bestandteil griechischer Epen. Diese Tradition wurde auch in die römische Literatur aufgenommen, wo die Muse jedoch nicht mehr ausschließlich als Göttin, sondern vermehrt in Gestalt der Geliebten angerufen wurde, und fand ebenso Einzug in die Dichtung der Neuzeit. Durch die Hinwendung zur Muse in der zweiten Strophe erscheint die erste Strophe rückblickend als Vorbereitung auf diesen Anruf: das lyrische Ich hat zunächst eine ruhige Atmosphäre geschaffen und sich in eine gespannte Konzentration versetzt, bevor es sich an die Muse wendet. In ihrem Essay «Arte Poética IV» beschrieb Sophia Andresen eben diese Situation als wesentlich für ihren eigenen Schreibprozess:
34 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 571 [Dual, 1972]. Dt.: «Muse // Hier setzte ich mich still / Mit den Händen auf den Knien / Still stumm geheim / Passiv wie die Spiegel // Muse lehre mich den Gesang / Innerlich und unbemerkt / Ich will langsam hören / Dein plötzliches Sprechen / Das mir unversehens entflieht» [Übersetzung d. Verf.]
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Sei que o poema aparece, emerge e é escutado num equilíbrio especial da atenção, numa tensão especial da concentração. O meu esforço é para conseguir ouvir o «poema todo» e não apenas um fragmento. Para ouvir o «poema todo» é necessário que a atenção não se quebre ou atenue e que eu própria não intervenha. É preciso que eu deixe o poema dizer-se. […] Mas sei que o nascer do poema só é possível a partir daquela forma de ser, estar e viver que me torna sensível – como a película de um filme – ao ser e ao aparecer das coisas. E a partir de uma obstinada paixão por esse ser e esse aparecer.35
Sophia Andresen beschreibt hier, wie ihre Gedichte aus einer ausgeglichenen Aufmerksamkeit und gespannten Konzentration heraus entstehen. Diese Haltung dürfe nicht unterbrochen werden, um den poetischen Prozess nicht zu stören. Eine bestimmte Form der Sensibilität und Leidenschaft für das Wesen und das Erscheinen der Dinge sei die Voraussetzung für das Entstehen von Gedichten. Anstelle des Spiegels, mit dem sich das lyrische Ich im Gedicht vergleicht, vergleicht Sophia Andresen sich hier mit «a película de um filme»,36 dem Material der analogen Aufzeichnung von Fotos und Filmen. Beiden Vergleichen, sowohl mit dem Spiegel als auch mit dem fotografischen Film, ist das Selbstverständnis als Medium gemein. Zudem spielt bei beiden Bildern das Licht eine entscheidende Rolle, ohne welches die Reflexion eines Objekts beziehungsweise die Belichtung eines Films nicht möglich ist. Beide Metaphern beschreiben den Moment der Inspiration als den Moment der Einschreibung in das Medium. Jedoch schließt sich, auf den Dichter übertragen, diesem Moment noch der Schreibprozess an, der ebenfalls in beiden Metaphern angelegt ist. Beim Belichten eines Films entsteht zunächst ein verborgenes Bild, das erst beim Entwickeln sichtbar gemacht werden kann. Auch das Bild, das im Spiegel entsteht, muss festgehalten werden, da es mit dem Objekt verschwindet. Sowohl das Verborgene als auch das Flüchtige des durch die Muse zu übertragenden Objekts, also der Inspiration eines Kunstwerks, werden auch im Gedicht thematisiert: das lyrische Ich beschreibt den «canto» (V. 5), auf den es wartet, als «Imanente e latente» (V. 6) und das Sprechen der Muse als flüchtig: «Que me foge de repente» (V. 9). In «Eu quero ouvir devagar / O teu súbito falar» (V. 7–8) formuliert das lyrische Ich seinen Wunsch, die Muse sprechen zu hören. Auch dieses Verständnis des Dichters als Zuhörer hat Sophia Andresen in «Arte Poética IV» weiter ausgeführt:
35 Sophia Andresen: Arte Poética IV. In: Dies.: Obra Poética, S. 844–847, hier: S. 844–845. 36 Ebda.
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O poema aparece feito, emerge, dado (ou como se fosse dado). Como um ditado que escuto e noto. […] Encontrei a poesia antes de saber que havia literatura. Pensava que os poemas não eram escritos por ninguém, que existiam em si mesmos, por si mesmos, que eram como que um elemento do natural, que estavam suspensos, imanentes. E que bastaria estar muito quieta, calada e atenta para os ouvir. […] Desse encontro inicial ficou em mim a noção de que fazer versos é estar atento e de que o poeta é um escutador. É difícil descrever o fazer de um poema. Há sempre uma parte que não consigo distinguir, uma parte que se passa na zona onde eu não vejo.37
Durch den Verweis auf ihre Kindheit erinnert Sophia Andresen an die mündliche Tradition der Gedichtform. Sie hörte bereits Gedichte, bevor sie lesen und schreiben konnte. Als Dichterin sieht sie sich ebenfalls als Zuhörerin, wie es auch das lyrische Ich in «Musa» beschreibt. Die Vorgänge, die während des Schreibens ablaufen, führt Andresen auf etwas Unbestimmtes zurück, das die griechischen Dichter als Musen bezeichneten. Man könne es sich jedoch auch als das menschliche Unbewusste vorstellen, das wie ein aufgerollter Film funktioniere, der sich auf bestimmte Reize hin abspielt: Como, onde e por quem é feito esse poema que acontece, que aparece como já feito? A esse «como, onde e quem» os antigos chamavam Musa. É possível dar-lhe outros nomes e alguns lhe chamarão o subconsciente, um subconsciente acumulado, enrolado sobre si próprio como um filme que de repente, movido por qualquer estimulo, se projecta na consciência como num écran.38
Die Unberechenbarkeit und Zerbrechlichkeit der Inspiration, die im Gedicht durch «súbito» (V. 8) und «foge de repente» (V. 9) ausgedrückt wird, bestätigt Sophia Andresen auch in folgendem Abschnitt: Deixar que o poema se diga por si, sem intervenção minha (ou sem intervenção que eu veja), como quem segue um ditado (que ora é mais nitido, ora mais confuso), é a minha maneira de escrever.39
Dabei beansprucht sie keineswegs Allgemeingültigkeit für ihre Ausführungen, sondern kennzeichnet es deutlich als ihre persönliche Art zu schreiben, wobei der Moment und die Art der Inspiration in ihrer Erfahrung ganz unterschiedlich sein können. Als ein Beispiel beschreibt sie die Entstehung des Gedichts «Musa»:
37 Ebda., S. 844. 38 Ebda., S. 844–845. 39 Ebda., S. 845.
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E enquanto escrevi este texto para a Crítica apareceu um poema que cito por ser a forma mais concreta de dar a resposta que me é pedida: Aqui me sentei quieta Com as mãos sobre os joelhos Quieta muda secreta Passiva como os espelhos Musa ensina-me o canto Imanente e latente Eu quero ouvir devagar O teu súbito falar Que me foge de repente Durante vários dias disse a mim própria: «tenho de responder a Crítica». Sabia que ia escrever e sobre que tema ia escrever. Escrevi pouco a pouco, com muitas interrupções, metade escrito num caderno, metade num bloco, riscando e emendando para trás e para a frente, num artesanato muito laborioso, perdida em pausas e descontinuidades. E através das pausas o poema surgiu, passou através da prosa, apareceu na folha direita do caderno que estava vazia. Ninguém me tinha pedido um poema, eu própria não o tinha pedido a mim própria e não sabia que o ia escrever. Direi que o poema falou quando eu me calei e se escreveu quando parei de escrever. Ao tentar escrever um texto em prosa sobre a minha maneira de escrever «invoquei» essa maneira de escrever para a «ver» e assim a poder descrever. Mas, quando «vi», aquilo que me apareceu foi um poema.40
Hier fasst Sophia Andresen die Situation zusammen, die das lyrische Ich in ihrem Gedicht «Musa» in der ersten Strophe ausdrückt: «o poema falou quando eu me calei e se escreveu quando parei de escrever».41 Stille und Untätigkeit, das was Sophia Andresen als «pausa» 42 bezeichnet, sind ihre Grundbedingungen für musische Inspiration.43 In diesem zuletzt zitierten Absatz wird nochmals deutlich, wie sehr die Inspiration und der Schreibprozess als sinnlich erfahrbare Prozesse aufgefasst werden, was der griechischen Vorstellung von einer Muse, die zum Dichter spricht, sehr nahe kommt. Gleichzeitig ist hier jedoch auch der Bezug zum Unbewussten gegeben, da das Gedicht «Musa» entstand, während Andresen an einem Prosatext arbeitete, in dem sie über ihren eigenen kreativen Prozess schreiben wollte. Aus diesem Prozess entstand sowohl das Gedicht als auch der Text, der letztendlich als «Arte Poética IV» veröffentlicht wurde.
40 Ebda., S. 846–847. 41 Ebda. 42 Ebda. 43 Vgl. Platon: Ion, 533c–534e. (Platon: Ion. Griechisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Hellmut Flashar. Sammlung Tusculum. Berlin: De Gruyter 1963).
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Dem Unbewussten wird ein Großteil der schöpferischen Kreativität zugeschrieben. Die Themen, über die der auf die Muse wartende Dichter schreiben will, sind bereits in ihm selbst angelegt. Die Muse ist damit nur für die Unterstützung bei der ästhetischen Ausformung zuständig. So schien auch Homer in seiner Anrufung bereits das Thema der Odyssee klar gewesen zu sein: Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung, Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat, Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet, Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft.44
Jedoch wünscht sich der Dichter hier nicht nur Inspiration für seinen Schreibprozess, sondern er fragt direkt nach Informationen über einen bestimmten Sachverhalt. Dies wird auch in der Ilias deutlich: Sagt mir anitzt, ihr Musen, olympische Höhen bewohnend: (Denn ihr seid Göttinnen und wart bei allem und wißt es; Unser Wissen ist nichts; wir horchen allein dem Gerüchte): Welche waren die Fürsten der Danaer, und die Gebieter? Nie vermöcht ich das Volk zu verkündigen, oder zu nennen, Wären mir auch zehn Kehlen zugleich, zehn redende Zungen, Wär unzerbrechlicher Laut und ein ehernes Herz mir gewähret, Wenn die olympischen Musen mir nicht, des Ägiserschüttrers Töchter, die Zahl ansagten, wie viel vor Ilios kamen. Drum die Ordner der Schiffe genannt und die sämtlichen Schiffe.45 Sagt mir anitzt, ihr Musen, olympische Höhen bewohnend, Wer der Achaier zuerst des Erschlagenen blutige Rüstung Raubte, nachdem gewendet die Schlacht der gewaltige Meergott.46
Hier ist deutlich erkennbar, dass die Musen den Dichtern der Antike als Quelle des Wissens und nicht nur der künstlerischen Inspiration galten. Sie waren als allgegenwärtige Göttinnen gleichzeitig Augenzeuginnen aller Geschehnisse und somit vertrauenswürdige Quellen, um dem Wahrheitsanspruch der Epen gerecht zu werden. Zwar beruft sich Sophia Andresen durch den Anruf der Muse auf die Tradition der großen griechischen Dichter, jedoch sieht sie den Ursprung des Wis-
44 Homer: Odyssee, I. Gesang, V. 1–5, aus: Homer: Ilias. Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Düsseldorf: Patmos 2003, S. 441. 45 Homer: Ilias, II. Gesang, V. 484–493, aus: Homer: Ilias. Odyssee, S. 35. 46 Homer: Ilias, XIV. Gesang, V. 508–510, aus: Homer: Ilias. Odyssee, S. 251.
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sens, das zum Schreiben nötig ist – das Wissen über eine bestimmte Sache, ein Ereignis, eine Person – nicht in den Musen begründet, sondern in ihrem eigenen Unbewussten, das mit ihren eigenen sinnlichen Erfahrungen gefüllt ist. Im Gedicht lautet die Aufforderung des lyrischen Ichs dementsprechend: «Musa ensina-me o canto» (V. 5). Hier wird evident, dass es dem lyrischen Ich bei der Inspiration durch die Muse nicht um den Transfer von Wissen geht, sondern um eine Lehre von der Kunst.
II.2.2 Mythologische Figuren Die semantischen Bezüge zum antiken Griechenland werden einerseits durch räumliche Deiktika hergestellt, die auf griechische Geschichtsorte verweisen, andererseits durch die Namen und Attribute mythologischer Figuren, die sowohl als lyrisches Ich als auch als Adressaten der Gedichte in Erscheinung treten. Im Werk zeigt sich ein besonderes Interesse für weibliche Figuren der griechischen und römischen Mythologie. So ist beispielsweise der Orpheus-Mythos ein zentraler Stoff des Gesamtwerks, in den einzelnen Gedichten steht jedoch meist Eurydike im Vordergrund.47 Zudem enthält das poetische Werk Sophia Andresens zahlreiche Gedichte, bei denen weitere weibliche mythologische Figuren im Fokus stehen: Kassandra, Elektra, Antigone, Iphigenie, Ariadne, sowie die Furien, Musen, Parzen, Nereïden und Sibyllen. Auch das im Folgenden exemplarisch untersuchte Gedicht «Penélope» handelt nicht von Odysseus, dem Helden der Odyssee, sondern von seiner Frau. Penélope 48 Desfaço durante a noite o meu caminho. Tudo quanto teci não é verdade, Mas tempo, para ocupar o tempo morto, E cada dia me afasto e cada noite me aproximo.
Das Gedicht spielt nicht nur durch den Titel, sondern auch durch weitere semantische Bezugspunkte auf die List der Penelope an, wie sie in der Odyssee beschrieben wird.49 Demnach vertröstete Penelope während der Abwesenheit
47 Vgl. «Soneto de Eurydice», Kapitel II.4.1. 48 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 240 [Coral, 1950]. Dt.: «Penelope // Ich zerstöre während der Nacht meinen Weg. / Alles was ich webte ist nicht Wahrheit, / Sondern Zeit, um die tote Zeit zu besetzen, / Und jeden Tag entferne ich mich und jede Nacht komme ich näher.» [Übersetzung d. Verf.] 49 Homer: Odyssee II. Gesang, V. 93–110 (Homer: Ilias. Odyssee, S. 455 f.); XIX. Gesang, V. 134– 156 (Homer: Ilias. Odyssee, S. 700 f.).
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ihres Mannes Odysseus ihre aufdringlichen Verehrer, indem sie vorgab, zunächst ein Leichentuch für ihren Schwiegervater weben zu müssen, bevor sie in eine erneute Heirat einwilligen könne. Um die Fertigstellung des Tuchs zu verzögern, machte sie nachts die am Tag zuvor erledigte Arbeit rückgängig. Im Gedicht klingt dieses Narrativ bereits im Beginn des ersten Verses mit, «Desfaço durante a noite» (V. 1), worin das lyrische Ich das nächtliche Rückgängigmachen einer getätigten Arbeit beschreibt. Im zweiten Vers wird dieser Bezug durch «Tudo quanto teci» (V. 2) fortgeführt: hier wird einerseits mit tecer die zuvor unbestimmte Tätigkeit als Weben identifiziert, andererseits durch die Vergangenheitsform der Kontrast zwischen dem vergangenen Tag und der gegenwärtigen Nacht hergestellt. Über die titelgebende Figur und wenige Signalworte wird somit eine eindeutige semantische Verbindung zur Odyssee und dem Schicksal der Penelope hergestellt. Durch die deiktischen Markierungen der konjugierten Verben und der Possessivpronomen ist ebenso evident, dass das lyrische Ich die Perspektive der Penelope einnimmt. Im ersten Vers, «Desfaço durante a noite o meu caminho.» (V. 1), wird außerdem eine Rückwärtsbewegung beschrieben. Hier wird nicht nur etwas entwebt, sondern in «caminho» (V. 1) wird das nächtliche Auflösen von etwas zuvor Erschaffenem als ein Zurückgehen des hinter sich gelegten Weges gedacht. Den Grund für die Zerstörung liefert das lyrische Ich im zweiten Vers, der durch ein Enjambement in den dritten überläuft: «Tudo quanto teci não é verdade, / Mas tempo, para ocupar o tempo morto,» (V. 2–3). Das Tagewerk des lyrischen Ichs wird darin zu einer Unwahrheit erklärt, so dass sich das Beseitigen dieser Unwahrheit als moralischer Auftrag darstellt. Der eigentliche Zweck der täglichen Arbeit ist dagegen in «tempo» (V. 3) doppelt benannt: es ist die Zeit, die sowohl bei der verrichteten Tätigkeit vergeht als auch dabei gewonnen wird. Penelope verschafft sich durch das tägliche Weben und nächtliche Zerstören Zeit, um ihre Verehrer bis zur Rückkehr des Odysseus zu besänftigen. Das Werk als Produkt der Arbeit steht dabei im Hintergrund, wichtiger ist der Schaffensprozess, dessen einziger Zweck es ist, die Zeit auszufüllen, die als tot charakterisiert wird: «o tempo morto» (V. 3). Übertragen auf den Mythos wird hier die Zeit, die Penelope ohne Odysseus verbringt, als tote Zeit interpretiert. So erscheint das Bild des Webens und Entwebens hier als Metapher des Aufschubs und der Überbrückung einer Zeit, die nicht dem Leben zugerechnet wird. Das lyrische Ich befindet sich in einer permanenten Pendelbewegung, die im vierten Vers in einem antithetischen Dikolon zum Ausdruck kommt: «E cada dia me afasto e cada noite me aproximo» (V. 4). Die tote Zeit wird somit ausgefüllt durch ein ständiges Vor und Zurück, das zwar eine Bewegung in der Zeit aber insgesamt kein Vorankommen bedeutet. Trotz der permanenten Bewegung befindet sich das lyrische Ich somit im Stillstand. Durch sei-
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ne Aktivität kann es die tote Zeit zwar besetzen – «ocupar» (V. 3) – jedoch kann es sie nicht überwinden. Dies wird ebenso im Paradoxon des vierten Verses evident, wenn hier der Schaffensprozess als ein Sich-Entfernen von der toten Zeit und die Rückwärtsbewegung als ein Sich-Annähern an selbige begriffen wird. Die Zeit ist im Mythos der Penelope eine bedeutende Größe. Bei Homer wird betont, dass Penelope insgesamt 20 Jahre auf Odysseus wartete 50 und ihre Verehrer drei Jahre durch ihre List täuschte,51 bis ihr Mann zurückkehrte und die Prätendenten tötete. Dementsprechend wird auch im Gedicht zwei Mal auf diese Größe verwiesen. Die Aufeinanderfolge von «tempo» (V. 3) beschränkt sich auf den dritten Vers, so dass diese Doppelung durch die zusätzliche Nähe besonders unterstrichen wird. Auf diese Weise wird hervorgehoben, wie lange Penelope auf ihren Gatten wartete, während ihr Glaube an seine Rückkehr entgegen aller Wahrscheinlichkeit ungebrochen blieb. So ist in dem Gedicht ebenso die Hoffnung verborgen, dass die tote Zeit vorübergehen wird. Der Mythos der Penelope ist ebenso in ihren sprechenden Namen eingeschrieben. Dieser beruht vermutlich auf einer Zusammensetzung der griechischen Wörter πήνη (pēnē, dt. Gewebe) und λέπειν (lépein, dt. abreißen, abschälen).52 Damit betont der Name die Tätigkeit des Entwebens. Vielmehr ist jedoch in dem in der Antike beliebten Stilmittel des sprechenden Namens ein Verweis auf poetische Verfahren enthalten, die zur Verschlüsselung von Texten und einer daraus resultierenden Vielschichtigkeit führen. Wie das Gewebe besteht auch der Text aus einem Verbindungssystem: während im Gewebe einzelne Fäden miteinander verbunden und gekreuzt werden, entsteht im Text ein ähnliches Gefüge aus Signifikanten. Nicht zufällig ist im zweiten Vers im portugiesischen Verb tecer das lateinische texere noch sichtbar, das wiederum auf die dazugehörigen Substantive textum und textura (dt. ‹Gewebe›) sowie textus (dt. ‹Zusammenhang der Rede›), verweist. Im Portugiesischen existieren für die Bedeutung ‹Gewebe› sowohl textura als auch tecido, der Bedeutung ‹Zusammenhang der Rede› entspricht texto. Hier wird vor Augen geführt, dass der Begriff des Texts als Bezeichnung für einen schriftlich fixierten Wortzusammenhang begriffsgeschichtlich eine lexikalisierte Metapher ist, die bereits in der lateinischen Sprache verwendet wurde. Die metaphorische Verwendung textiler Begriffe wie die des Gewebes zur Beschreibung der Eigenschaften von Texten ist
50 Homer: Odyssee, XXIV. Gesang, V. 321 (Homer: Ilias. Odyssee, S. 769). 51 Homer: Odyssee, II. Gesang, V. 106 (Homer: Ilias. Odyssee, S. 456). 52 Johannes Schmidt: Penelope. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Dritter Band, Zweite Abteilung, Leipzig: Teubner 1909, Sp. 1901–1920, hier: Sp. 1911–1914.
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damit nicht mehr als eine «Re-Metaphorisierung».53 Im Gedicht kommt dieser in tecere enthaltenen Remetaphorisierung eine stark metapoetische Signalwirkung zu. Die Leserschaft wird auf diese Weise an die etymologisch und metaphorisch eingeschriebene Beschaffenheit des Textes als Gewebe aus miteinander verbundenen Signifikanten erinnert. So wird auf einer metapoetischen Ebene das Gewebe des lyrischen Ichs zu einem Text, der am Tage erschaffen und in der Nacht wieder zerstört werden muss. Diese Lesart enthüllt ein poetologisches Verständnis vom Schreiben als Möglichkeit des Aufschubs, als List und als Überlebensstrategie in einer toten Zeit. In der Betrachtung der Penelope als Schriftstellerin öffnet sich ebenso der Blick auf ein dichterisches Selbstverständnis, in dem für Schreibende der Tag und somit die Sichtbarkeit des Geschriebenen mit Unwahrheit verknüpft ist und nur in der Dunkelheit der Nacht eine Annäherung an die Wahrheit möglich wird. Dies offenbart ebenso einen Einblick in die Umgebung des webenden beziehungsweise schreibenden lyrischen Ichs: wie die mythologische Figur der Penelope, wird es von vermeintlichen Verehrern bedrängt, die eine andere Realität, eine andere Wahrheit vertreten – im Mythos ist dies eine Realität, in der Odysseus nicht zurückkehrt. Es sieht sich dazu gezwungen, durch List die eigene Überzeugung zu verstecken, um Zeit zu gewinnen. Dabei wird es misstrauisch beobachtet und ist der Gefahr ausgesetzt, wie Penelope von ihren Mägden eines Tages von Mitwissern verraten zu werden54. Wie Barbara Clayton in ihrer Studie A Penelopean Poetics: Reweaving the Feminine in Homer’s Odyssey 55 herausgestellt hat, unterscheidet sich Penelope bereits im Ursprungstext deutlich von anderen weiblichen Figuren, da sie sich nicht durch äußerliche Attribute auszeichnet, sondern durch ihr Handeln. Sie erscheint einerseits als kluge Anti-Helena, und andererseits als Inbegriff von Start und Ziel, als Verkörperung eines statischen, sicheren und stets offenstehenden Zuhauses. Das ihr zugeschriebene Attribut der Treue basiert auf ihrer Fähigkeit des Wartens, Webens und Erinnerns. Clayton hebt Penelope von anderen mythologischen Weberinnen wie Arachne und Philomena ab und liest ihr Weben und Entweben als genuin weibliches Narrativ eines unendlichen,
53 Vgl. Ellen Harlizius-Klück: Weberei als episteme und die Genese der deduktiven Mathematik in vier Umschweifen entwickelt aus Platons Dialog Politikos. Berlin: Edition Ebersbach 2004 (zugleich Dissertation Universität Oldenburg 2003), S. 19; Mareike Buss/Jörg Jost: Die Schrift als Gewebe und als Körper. Eine metaphorologische Skizze. In: Elisabeth Birk/Jan Georg Schneider (Hrsg.): Philosophie der Schrift. Tübingen: Niemeyer 2009, S. 169–182. 54 Homer: Odyssee, XIX. Gesang, V. 154–155 (Homer: Ilias. Odyssee, S. 701); II. Gesang, V. 109– 111 (Homer: Ilias. Odyssee, S. 456). 55 Barbara Clayton: A Penelopean Poetics: Reweaving the Feminine in Homer’s Odyssey. Lanham, Maryland: Lexington Books 2004.
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zyklischen Produktionspotentials sowie des natürlichen Zyklus aus Wachstum, Verfall und erneutem Wachstum. 56 Ihr gewebtes Netz ist potentiell unendlich, in ihrem Weben spiegeln sich die Erzählkunst sowie der Text der Odyssee selbst. Auf dieser Interpretation des Webens der Penelope als Kennzeichen einer weiblichen Ästhetik hat Clayton die Wirkungskraft des Mythos begründet. Im Vordergrund der Poetik der Penelope stehen der Prozess, das mehrfache Erzählen sowie Doppeldeutigkeit. Auf diese Weise widersteht das Netz der Penelope einem dominant männlichen Diskurs, indem es vermeintlich stabile und feststehende Bedeutungen unterminiert. Dieser konterdiskursiven Eigenschaft der ‹penelopeanischen Poetik› bedient sich Sophia Andresen in ihrem Gedicht aus dem Jahr 1950 und entfaltet darin das widerständige Potential des Mythos. In der Odyssee wird Penelope als ideale, weil geduldige und treue Ehefrau dargestellt. In modernen Adaptionen und Interpretationen des Mythos hat sich der Fokus oft auch auf das Weben der Penelope als Metapher des Schreibens verschoben. Dies ist auch im Gedicht von Sophia Andresen zu erkennen. Sie stellt in diesem Gedicht durch die Verarbeitung der homerischen Episode über Penelope eine Situation heraus, in der in einer bedrohlichen Lage der Schaffensprozess dem reinen Überleben dient. Die Bedeutung von Poesie als Lebensrettung unterstreicht Andresen ebenfalls in einem Interview von 1997, in welchem sie das Schreiben von Gedichten als «salvação da alma»,57 als ‹Rettung der Seele› begreift, wobei sie direkt im Anschluss bemerkt, dass sie mit Seele Begriffe wie amor, liberdade, dignidade und beleza meint. Damit ist die Entscheidung für die Gattung der Dichtung nach Auffassung Andresens immer auch eine ethische Entscheidung für Freiheit und Menschenwürde. Nicht nur die Stoffe der antiken Epen, sondern auch die der großen griechischen Tragödien werden von Sophia Andresen in ihren Gedichten bearbeitet. Eine der bedeutendsten Tragödien ist die Orestie von Aischylos (525 v. Chr.– 456 v. Chr.), die 458 v. Chr. erstmalig aufgeführt wurde. Aischylos behandelt darin in drei zusammenhängenden Dramen – Agamemnon, Choephoren und Euminiden – das blutige Schicksal der Familie des Agamemnon, dem König von Mykene. Als dieser aus dem Trojanischen Krieg heimkehrt, wird er von seiner Frau Klytaimnestra und deren Geliebten Aigisthos getötet. Klytaimnestra handelt aus Rache, da Agamemnon zuvor ihre gemeinsame Tochter Iphigenie der Artemis geopfert hatte. Auch Kassandra, die Agamemnon als Sklavin mit nach Mykene gebracht hatte, wird von ihnen ermordet. Im zweiten Teil der
56 Barbara Clayton: A Penelopean Poetics: Reweaving the Feminine in Homer’s Odyssey, S. 85 f. 57 Ricardo Araújo Pereira: O regresso de Sophia. In: Jornal de letras (17. Dezember 1997), S. 6– 8, hier: S. 7.
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II Ethik und Ästhetik
Trilogie kehrt Orestes nach Mykene zurück und trifft seine Schwester Elektra am Grab ihres Vaters Agamemnon. Sie planen den Mord an der Mutter und ihrem Geliebten, um den Vater zu rächen und Aigisthos an der Einnahme des Throns zu hindern. Nachdem Apollon Orestes in den Mordplänen bestärkt hat, tötet dieser zunächst Aigisthos und dann seine Mutter Klytaimnestra, die selbst ihren Sohn verstorben geglaubt hatte. Im dritten Teil fordern die Rachegöttinnen (Erinnyen), dass Orestes bestraft werde, so wie auch seine Mutter bestraft worden sei. Apollon verteidigt Orestes und auch Athene befindet ihn für unschuldig, so dass er freigesprochen wird. Die Erinnyen verwandeln sich letztendlich in die Eumeniden, die Wohlgesinnten, und beenden so die blutige Spirale der Rachemorde. Die Rache von Elektra und Orestes steht wenige Jahre später im Zentrum der Tragödien von Sophokles (497 v. Chr.–406 v. Chr.) und Euripides (485 v. Chr.–407 v. Chr.), die Elektra zur Titelfigur machten. Sophia Andresen gibt zweien ihrer Gedichte ebenfalls den Titel Electra.58 Das frühere der beiden Gedichte enthält zudem einen eindeutigen Verweis auf eine moderne Adaption des Orestes-Stoffes. Die «muros da casa dos Manon» (V. 1) lassen bereits ab dem ersten Vers keinen Zweifel daran, dass das Gedicht ein Werk des modernen Dramatikers Eugene O’Neill (1888–1953) aufgreift. In seiner modernen Adaption der Orestes-Trilogie mit dem Titel Mourning becomes Electra,59 in der er die Tragödie nach New England und in die Jahre 1865 und 1866 überträgt, wird die Familie des Agamemnon zur Familie des Generals Ezra Mannon, der zu Beginn der Trilogie aus dem amerikanischen Bürgerkrieg zurückkehrt. Auch in der Adaption von Eugene O’Neill kommt der Figur Elektra, wie schon bei Sophokles und Euripides, eine größere Bedeutung zu. O’Neill behält die Dreiteilung nach dem Vorbild des Aischylos bei (Homecoming, The Hunted, The Haunted), jedoch tritt Elektra – in der Figur der Lavinia Mannon – hier in allen drei Dramen auf und ist zudem ebenso die titelgebende Heldin. O’Neills Drama stammt aus dem Jahr 1931 und wurde 1943, basierend auf einer Übersetzung von Henrique Galvão, unter dem Titel Electra e os Fantasmas am Teatro Nacional Dona Maria II in Lissabon zum ersten Mal in Portugal aufgeführt.60 58 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 342 [Mar Novo, 1958]; Ebda., S. 500 [Geografia, 1967]. 59 Eugene O’Neill: Mourning becomes Electra [1931]. In: Ders.: Nine plays. New York: Random House 1954, S. 683–867. Uraufführung am Broadway im Guild Theatre (heute August Wilson Theatre) am 26. Oktober 1931. 60 Eugene O’Neill: Electra e os Fantasmas [Mourning becomes Electra]. Traduçao ̃ livre do texto americano por Henrique Galvão. Lisboa: Livraria Popular de Francisco Franco 1943. «Eugene O’Neill was first produced in Portuguese in Lisbon in 1943. Mourning Becomes Electra, which in Henrique Galvão’s translation became Electra e os Fantasmas (Electra and the Ghosts), was chosen to inaugurate the rejuvenated Teatro Nacional de D. Maria II. The production later played in the city of Oporto. The Companhia Amélia Rey Colaço-Robles Mon-
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Insgesamt sind die Figuren im Drama O’Neills an die der Orestie angelehnt und auch die Themen der griechischen Vorlage – Ehebruch, Mord, Rache – werden in die Handlung übernommen. Jedoch sind die Figuren in der modernen Version der Tragödie nicht dem Willen der Götter ausgeliefert, sondern werden getrieben durch ihre inzestuösen Begierden. Im ersten Drama vergiftet Christine Mannon (Klytaimnestra) den zurückgekehrten Ezra Mannon (Agamemnon) um mit ihrem Geliebten Adam Brant (Aigisthos) zusammenzuleben. Ihre Tochter Lavinia (Elektra), die ihren Vater abgöttisch liebt und sich auch zum Geliebten der Mutter hingezogen fühlt, durchschaut sowohl das Verhältnis als auch den Mord, wodurch sich ihr Hass gegen die Mutter noch verstärkt. Im zweiten Teil bringt sie ihren Bruder Orin (Orestes) – ebenfalls aus dem Bürgerkrieg zurückkehrt – dazu, den Geliebten der Mutter zu töten. Orin begehrt seine Mutter und träumt davon, nach der Heirat seiner Schwester, mit ihr allein zusammenzuleben. Nachdem er der Mutter den Mord an Brant gestanden hat, begeht diese Selbstmord, ohne dass ihre Kinder versuchen, sie daran zu hindern. Im dritten Teil versuchen Lavinia und Orin das Geschehene zu vergessen. Lavinia bemerkt, dass ihr Bruder nun sie begehrt und stellt ihn entsetzt zur Rede. Orin ist zudem von Schuldgefühlen geplagt und will sich stellen. Lavinia reagiert darauf mit einem Wutausbruch, woraufhin Orin auf die gleiche Weise Selbstmord begeht wie seine Mutter. Der Selbstmord der Mutter und vor allem der Tod Orins sind nicht in der Tragödie des Aischylos enthalten. Während in der griechischen Vorlage Orestes von den Göttern begnadigt wird und Elektra Pylades heiratet, lässt O’Neill Orin von seiner Schwester und seinem Gewissen in den Selbstmord treiben und auch Lavinia findet kein Glück. Sie verzichtet auf eine Heirat mit Peter (Pylades) und will sich selbst bestrafen, indem sie bis zu ihrem Tod allein mit den Geistern ihrer Ahnen im Haus der Mannons lebt: Don’t be afraid. I’m not going the way Mother and Orin went. That’s escaping punishment. And there’s no one left to punish me. I’m the last Mannon. I’ve got to punish my-
teiro staged the play with José Robles Monteiro and Amélia Rey Colaço, a husband-and-wife team that doubled in acting and directing, as the leads (Aufdemberge 766–767). It was heralded as ‹the most ambitious initiative of the Portuguese theatre,› ‹as an ‹elite› work for those who are of the ‹elite›› and as being ‹more than theatre,› being ‹philosophy, philosophy in the teatre› (‹Era preciso› 1, Oliveira Guimarães). All three plays were presented opening night, running from 6:00 P.M. to 2:00 A. M. Preceding the performance, the translator read his introduction to the text published in Lisbon by the Livraria Popular de Francisco Franco, in June 1942, well in anticipation of the theater season. Reviews were, on the whole, laudatory.» (George Monteiro: Eugene O’Neill in Portugal and Brazil. In: Resources For American Literary Study 26, Nr.1 (2000), S. 29–48, hier S. 30).
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self! Living alone here with the dead is a worse act of justice than death or prison! I’ll never go out or see anyone! I’ll have the shutters nailed closed so no sunlight can ever get in. I’ll live alone with the dead, and keep their secrets, and let them hound me, until the curse is paid out and the last Mannon is let die! 61
Das Gedicht von Sophia Andresen, in dem das von Elektra bewohnte Haus der Mannons beschrieben wird, knüpft an dieses Ende von O’Neills Bearbeitung des Tragödienstoffes an: Electra 62 Os muros da casa dos Manon escorrem sangue E as àrvores do jardim escorrem lágrimas. O lago busca em vão o reflexo antigo duma infância Que se tornou homens, mulheres, ódios e armas. Numa janela aparecem duas mãos torcidas E nos corredores ressoam as palavras Da traição, da nauséa, da mentira E o tempo vestido de verde senta-se nas salas. O rosto de Electra é absurdo. Ninguém o pediu e não pertence ao jogo. As suas mãos vingadoras destoam na conversa Assustam a penumbra e ofendem o pecado.
Die Wände des Hauses Manon/Mannon, aus denen Blut tropft, und die weinenden Bäume im Garten versinnbildlichen die blutige Familiengeschichte und die dunklen Geheimnisse der dort lebenden Figur der Lavinia, die im Titel auf ihren mythischen Ursprung, «Electra», zurückgeführt wird. Durch den Titel ist die Orestie als Intertext des Dramas Mourning becomes Electra, das wiederum durch das Haus der Mannons als Intertext des Gedichts identifiziert wird, somit von Beginn an präsent.
61 Eugene O’Neill: Mourning becomes Electra [1931]. In: Ders.: Nine plays. New York: Random House, 1954, S. 683–867, hier: S. 866 f. 62 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 342 [Mar Novo, 1958]. Dt.: «Elektra // Die Mauern des Hauses der Mannons strömen Blut aus / Und die Bäume des Gartens vergießen Tränen. // Der See sucht vergebens die alte Spiegelung einer Kindheit / Die sich verwandelte in Männer, Frauen, Hass und Waffen. // An einem Fenster tauchen zwei gerungene Hände auf / Und in den Fluren schallen die Worte // Des Verrats, des Ekels, der Lüge / Und die grün gekleidete Zeit setzt sich in die Zimmer. // Das Gesicht der Elektra ist absurd. / Niemand hat es verlangt und es gehört nicht zum Spiel. / Ihre Rächerinnen-Hände spielen falsch im Gespräch / Erschrecken den Halbschatten und beleidigen die Sünde.» [Übersetzung d. Verf.]
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Das Blut verweist einerseits auf die Genealogie und andererseits auf die Morde und Selbstmorde, die im Zusammenhang mit der Familie Mannon stehen. Das Haus und der dazugehörige Garten sind wie das Blut Metonymien der Familie. Die trauernde Natur unterstreicht das Schreckensbild dieses unheimlichen Ortes sowie die Isolierung des Grundstücks von der Außenwelt. In der zweiten Strophe wird ein Blick in die Vergangenheit angedeutet: «O lago busca em vão o reflexo antigo duma infância» (V. 3). Der See soll als eine Art magischer Spiegel die verlorene Kindheit zurückbringen. Diese hat sich jedoch unwiderruflich verwandelt: «Que se tornou homens, mulheres, ódios e armas.» (V. 4). Der Kindheit werden die Erwachsenen antithetisch gegenübergestellt, mit denen das lyrische Ich zudem «ódios e armas» (V. 4) verbindet. Durch den Kontrast zur Kindheit entsteht der Eindruck, dass hier die Erwachsenenwelt als eine Welt des Hasses und der Gewalt konzipiert ist. Die Wandlung vom Kind zum Mann oder zur Frau wird hier als Eintritt in eine düstere Welt beschrieben, aus der es keinen Ausweg gibt. Damit wird auf das Einsetzen des sexuellen Begehrens in der Pubertät angespielt, das bei O’Neill – meist als inzestuöses Begehren – als Auslöser von Hass und Eifersucht zum Blutvergießen führt. O’Neills Drama wurde – auch durch seine eigenen Notizen gestützt – als literarische Umsetzung der psychoanalytischen Theorien Freuds gelesen. Dies ist bereits umfassend kritisiert worden.63 Dabei ist der Hauptkritikpunkt, dass das Unbewusste in O’Neills Drama nicht existiert, sondern den Figuren, obwohl ihnen maskenartige Mienen attestiert werden, ihr Begehren sehr deutlich bewusst ist und sie ihr Innenleben stets preisgeben. Susan Georgia Nugent legt überzeugend dar, dass das, was in Mourning becomes Electra unterdrückt wird, eben nicht etwa inzestuöses Begehren ist, sondern stattdessen das nicht-inzestuöse Begehren und vor allem weibliche Sexualität.64 Dennoch lässt sich für das vorliegende Gedicht zunächst festhalten, dass das sexuelle Begehren der Figuren, ob bewusst oder unbewusst, ein zentrales, wenn auch oberflächlich bleibendes Motiv in O’Neills Drama ist. Die dritte Strophe führt die Beschreibung des Hauses fort: «Numa janela aparecem duas mãos torcidas / E nos corredores ressoam as palavras» (V. 5– 6). Der Blick des lyrischen Ichs fällt auf ein Fenster, in dem zwei Hände zu
63 U. a. Susan Georgia Nugent: Masking Becomes Electra: O’Neill, Freud, and the Feminine. In: Comparative Drama 2, Nr. 1 (1988), S. 37–55; Erika Fischer-Lichte: Postmoderne: Fortsetzung oder Ende der Moderne? Literatur zwischen Kulturkrise und kulturellem Wandel. In: Neohelicon 16, Nr. 1 (1989), S. 11–27. 64 Vgl. Susan Georgia Nugent: Masking Becomes Electra: O’Neill, Freud, and the Feminine. In: Comparative Drama 2, Nr. 1 (1988), S. 37–55.
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II Ethik und Ästhetik
sehen sind. Das Ringen der Hände ist ein deutliches Zeichen von Verzweiflung, während das Hallen der Worte in den Fluren Leere und Verlassenheit andeutet. In einem Strophenenjambement schließt sich die Art der Worte an, die im Haus widerhallen: «palavras // Da traição, da nauséa, da mentira» (V. 6–7). Wieder werden in wirkungsvollen Substantiven, die im Haus verortet sind, die gesamte Familientragödie, der Hass und die Intrigen aufgerufen, die immer noch im Haus präsent sind. Sowohl die Hände als auch die Worte, die niemandem zugeordnet werden, lassen sich auf die Geister der toten Mannons zurückführen, die Lavinia im Haus vermutet. Dies bestätigt sich im achten Vers, «E o tempo vestido de verde senta-se nas salas.» (V. 8), der eine Anspielung auf die Figur der Christine enthält, die bei ihrem ersten Auftritt im Drama ein grünes Satinkleid trägt: Christine Mannon is a tall striking-looking woman of forty but she appears younger. She has a fine, voluptuous figure and she moves with a flowing animal grace. She wears a green satin dress, smartly cut and expensive, which brings out the peculiar color of her thick curly hair, partly a copper brown, partly a bronze gold, each shade distinct and yet blending with the other.65
Sie erscheint im Gedicht somit als ein Geist, der keine Ruhe findet und ihre Tochter heimsucht, wie diese es vorausgesagt hat.66 Zugleich ist es die personifizierte Zeit, die sich im Haus niederlässt und auf das nahende Ende der Familie Mannon hinweist. Nimmt man den nächsten Vers hinzu, entsteht der Eindruck, Elektra sei diejenige, die das Kleid trägt, da als nächstes ihr Gesicht beschrieben wird: «O rosto de Electra é absurdo» (V. 9). Tatsächlich wandelt sich O’Neills Lavinia nach Christines Tod, sie wird schön und begehrenswert wie ihre Mutter und trägt dasselbe Grün, das diese zuvor trug: Then Lavinia enters, coming up the drive from left, front, and stands regarding the house. One is at once aware of an extraordinary change in her. Her body, formerly so thin and undeveloped, has filled out. Her movements have lost their square-shouldered stiffness. She now bears a striking resemblance to her mother in every respect, even to being dressed in the green her mother had affected.67
Die Ähnlichkeit der seltsam wirkenden, maskenähnlichen Gesichter von Christine und Lavinia wird bereits zu Beginn des Dramas beschrieben.68 Zudem wird
65 66 67 68
Eugene Eugene Eugene Eugene
O’Neill: O’Neill: O’Neill: O’Neill:
Mourning Mourning Mourning Mourning
becomes becomes becomes becomes
Electra, Electra, Electra, Electra,
S. 690 f. S. 866 f. S. 823. S. 692.
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über Christine bemerkt: «There’s somethin’ queer lookin’ about her face.» 69 Die darauf gegebene Antwort identifiziert den speziellen Gesichtsausdruck als einen spezifischen Ausdruck der Mannons, der sich sogar auf den Gärtner Seth übertragen habe, da dieser bereits sein ganzen Leben mit der Familie verbracht hat: Secret lookin’--’s if it was a mask she’d put on. That’s the Mannon look. They all has it. They grow it on their wives. Seth’s growed it on too, didn’t you notice--from bein’ with ’em all his life. They don’t want folks to guess their secrets.70
Insgesamt ist festzustellen, dass das Begehren untereinander den Ausgangspunkt bei Marie Brantôme, der Mutter Adam Brants, nimmt, die von Ezra begehrt wird. Alle weiteren Beziehungen beruhen auf den physischen Ähnlichkeiten der Figuren, die entweder Marie oder Ezra gleichen. Dieser Kreislauf schließt sich, als Orin vor seinem Selbstmord Lavinia mit Marie vergleicht: «Perhaps you’re Marie Brantôme, eh? And you say there are no ghosts in this house?» 71 Dies wird auch durch Wiederholungen von Handlungen und Dialogen unterstrichen. Erika Fischer-Lichte stellt diesbezüglich fest: O’Neill verwendet das System der physischen und psychischen Ähnlichkeiten und Entsprechungen, um die Personen jeglicher Individualität zu entkleiden: jeder wiederholt nur einen anderen, der seinerseits wiederum das Double eines anderen ist. Es gibt kein «Original» und damit kein individuelles Ego. Jeder repetiert einen anderen, der einen anderen repetiert, der einen anderen repetiert und so fort ad infinitum. Keiner erscheint so als ein individuelles Selbst, sondern jeder als Ersatz für einen abwesenden anderen […].72
So wird über Elektras Gesicht im neunten Vers nicht nur metonymisch an die spezifischen physischen Ähnlichkeiten innerhalb der Familie Mannon erinnert, sondern auch an die Austauschbarkeit der Figuren im Drama O’Neills, die bereits durch die grüne Kleidung im achten Vers angedeutet wurde. Jedoch wird Elektras Gesicht in einem zweiten Schritt als nicht zugehörig gekennzeichnet: «Ninguém o pediu e não pertence ao jogo.» (V. 10) Elektra steht abseits ihrer Familie, allein. Es ist weder jemand übrig, an dem sie sich rächen könnte, noch gibt es jemanden, der sie bestraft. In den abschließenden Versen werden nochmals Hände beschrieben, die hier eindeutig Elektra zugeordnet sind: «As suas mãos vingadoras destoam na conversa / Assustam a penumbra e ofendem o pecado.» (V. 11–12). Der zweite Blick auf die Hände (V. 5,
69 Eugene O’Neill: Mourning becomes Electra, S. 691. 70 Ebda. 71 Eugene O’Neill: Mourning becomes Electra, S. 853. 72 Erika Fischer-Lichte: Postmoderne: Fortsetzung oder Ende der Moderne? Literatur zwischen Kulturkrise und kulturellem Wandel, S. 6.
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II Ethik und Ästhetik
11) enthüllt Elektras Rachedurst – «mãos vingadoras» (V. 11). In der Gegenüberstellung von «mãos» (V. 11) und «conversa» (V. 11) wird, wie bereits in der dritten Strophe durch «mãos» (V. 5) und «palavras» (V. 6), metonymisch der Kontrast zwischen Tat und Wort reflektiert. So hat Elektra zwar zum Mord ihrer Mutter angestiftet, selbst aber nicht die Tat begangen – weder in der griechischen Vorlage der Orestie noch bei O’Neill.73 Dennoch wird die von ihren Händen ausgehende Gefahr im letzten Vers metaphorisch durch die Personifikationen des Halbschattens und der Sünde versinnbildlicht, die vor Elektra zurückschrecken. Die Betonung der Hände am Ende des Gedichts weist darauf hin, dass Elektra sich mitschuldig gemacht hat, auch wenn sie nie selbst jemanden tötete. So bleibt bei Aischylos letztendlich die Frage, warum nur Orins aber nicht Elektras Strafe verhandelt wird, unbeantwortet. O’Neill spielt darauf an, wenn zum Beispiel Orin über seine Schwester sagt: «She’s got to be punished»,74 oder wenn Peter gegenüber Lavinia ausspricht: «I hope you’ll be punished».75 Das letzte Wort des Gedichts, «pecado» (V. 12), betont abschließend nochmals die Tatsache, dass auch Elektra gesündigt hat. O’Neill hat in seinem Drama diese Frage gelöst, indem er Lavinia ihre Strafe selbst wählen lässt: Sie geht davon aus, dass es ihr Schicksal sei, das Unheil, das in der Familiengeschichte liegt, weiterzutragen und zu vergrößern. So bestraft sie sich selbst, indem sie bis zu ihrem Tod mit den Geistern der Familie im Haus der Mannons leben will, um so den Fluch zu brechen. Sophia Andresens letzte Strophe weist deutlich darauf hin, dass O’Neills für Elektra erdachtes Ende in der griechischen Mythologie nicht so vorgesehen war. Dies spiegelt sich in Begriffen wie «absurdo» (V. 9), «Ninguém o pediu» (V. 10) und «não pertence ao jogo» (V. 10). Darin wird angedeutet, dass die Kausalkette, die zu der Selbstbestrafung führt, nicht nachvollziehbar ist. Das Verb destoar (V. 11) fasst es zusammen und bleibt dabei dennoch vage: etwas klingt falsch. Blickt man in diesem Kontext nochmals auf die zweite Strophe, eröffnet sich dort eine mögliche Ursache. Nicht nur die verlorene Kindheit der Protagonisten wird vergebens gesucht. In «reflexo antigo» (V. 3) verbirgt sich zudem die Spiegelung der antiken Welt, die vermisst wird. Sowohl in der Figur der Penelope als auch in Elektra ist der Widerstand bereits eingeschrieben. Während Penelope durch eine List dem gesellschaftlichen Druck entgegenwirkt, initiiert Elektra eine blutige Revolte gegen das Unrecht. Somit kann die dichterische Bearbeitung dieser und ähnlicher antiker Stoffe keineswegs als Flucht in eine entfernte Welt verstanden werden, son-
73 Nur in der Fassung von Euripides wird Elektra zur Täterin. 74 Eugene O’Neill: Mourning becomes Electra, S. 848. 75 Eugene O’Neill: Mourning becomes Electra, S. 866.
II.2 Tradition der klassischen Antike
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dern stattdessen als eine Aktualisierung des widerständigen Potentials dieser klassischen Narrative.
II.2.3 Elegische Dichtung Die Gattung der Elegie hat ihren Ursprung ebenfalls in der griechischen Antike. Sie umfasst nach formalen Gesichtspunkten zunächst solche Gedichte, die aus sogenannten elegischen Distichen bestehen, die sich wiederum jeweils aus einem Pentameter und einem Hexameter zusammensetzen. Thematisch sind Elegien dagegen von Beginn an durch Vielseitigkeit geprägt. Die Gattung umfasst Lobgesänge auf Kriegshelden und Liebesgedichte sowie ebenso Gesänge der Trauer und der Klage. Die Form der Elegie wurde zu allen Zeiten adaptiert und thematisch sowie formal modifiziert.76 Friedrich Schiller löste die Elegie von ihren formalen Kriterien und entwarf das Elegische – als Unterkategorie der sentimentalischen Dichtung – als eine Haltung, die sich im Gedicht ausdrückt. Die so neu interpretierte Elegie verleihe einer Melancholie Ausdruck, die weit über eine Totenklage hinausreicht: Die Trauer über verlorene Freuden, über das aus der Welt verschwundene goldene Alter, über das entflohene Glück der Jugend, der Liebe u.s.w.77
Schiller beschrieb das Elegische als eine potentiell geschichtsphilosophische Perspektive, als Bewusstsein darüber, dass die im Gedicht thematisierte Zeit unwiederbringlich verloren ist. In seinem Gedicht «Die Götter Griechenlandes» von 1788 beschreibt Schillers lyrisches Ich das antike Zeitalter als eine glückliche Lebenswelt mit einer harmonischen Einheit von Natur und Kultur und bedauert dessen Ablösung durch eine durch Verlust geprägte christliche Kultur, in der die antike Welt nur noch als Ideal in der Dichtung fortbestehen kann.78 Auch im Werk Sophia Andresens nimmt das lyrische Ich zuweilen eine elegische Haltung ein, wenn es den Verlust der griechischen Götterwelt thematisiert. Kurz und prägnant wird dieser Verlust in «Exílio» von 1977 formuliert:
76 Vgl. Jürgen Kühnel: Elegie. In: Günther Schweikle/Irmgard Schweikle (Hrsg.): Metzler Literatur Lexikon. Stuttgart: Metzler 1984, S. 113a–114a. 77 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Fünfter Band. Erzählungen / Theoretische Schriften. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München: Carl Hanser 1959, S. 694–780. 78 Friedrich Schiller: Die Götter Griechenlandes [1788]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Erster Band. Gedichte / Dramen I. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München: Carl Hanser 81987, S. 163–173.
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II Ethik und Ästhetik
Exílio 79 Exilámos os deuses e fomos Exilados da nossa inteireza
Das lyrische Wir interpretiert hier die Verbannung der Götter als Ursache für die Verbannung des eigenen Kollektivs aus der Ganzheitlichkeit. Durch den Titel «Exílio» sowie die Anapher in «Exilámos» (V. 1) und «Exilados» (V. 2) wird auf eine Teilung des Raumes verwiesen, durch die das lyrische Wir von den Göttern getrennt ist. Im Ausdruck «Exilámos os deuses» (V. 1) wird eine aktive Handlung beschrieben: die Götter sind somit nicht von selbst verschwunden, sondern vom lyrischen Wir verbannt worden. Mit diesem autoritären Akt geht der Machtverlust der zuvor allmächtigen Götter einher: jemand – das lyrische Wir – hat sich über sie erhoben. Der Verlust auf Seiten des lyrischen Wirs, der darauf folgt, ist jedoch viel gravierender. Es leidet an einer inneren Spaltung, die durch ein Enjambement formal abgebildet wird: «e fomos / exilados da nossa inteireza» (V. 2). Die Verdrängung der griechischen Kultur durch die Christianisierung bedeutet für das lyrische Wir den Verlust eines Teils seiner zuvor ganzheitlichen Identität. Während in «Exílio» die «deuses» (V. 1) metonymisch auf die griechische Welt der Antike verweisen und damit deutlich den Verlust der antiken Einheit von Menschen und Göttern bedauern, bleibt ein anderes Gedicht, das 30 Jahre zuvor in Dia do Mar (1947) erschienen ist, noch unbestimmter in seiner Beschreibung eines unerreichbaren Ideals der Einheit von Natur und Kultur: As imagens transbordam fugitivas E estamos nus em frente às coisas vivas. Que presença jamais pode cumprir O impulso que há em nós, interminável, De tudo ser e em cada flor florir? 80
Im Gedicht «As imagens transbordam fugitivas», bestehend aus einer Strophe von fünf Versen, werden Lebenskraft und die Sehnsucht nach Einheit in Bildern dargestellt, die durch die Isotopie der Natur bestimmt sind: «transbordam» (V. 1), «coisas vivas» (V. 2), «impulso» (V. 4), «flor florir» (V. 5). Der erste
79 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 642 [O Nome das Coisas, 1977]. Dt.: «Exil // Wir haben die Götter verbannt und wurden / verbannt aus unserer Ganzheit» [Übersetzung d. Verf.] 80 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 125 [Dia do Mar, 1947]. Dt.: «Die Bilder fließen über, flüchtig / Und wir sind nackt angesichts der lebenden Dinge. / Welche Gegenwart kann jemals den Drang befriedigen, / den es in uns gibt, den unendlichen, / Alles zu sein und in jeder Blume zu blühen?» [Übersetzung d. Verf.]
II.2 Tradition der klassischen Antike
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Vers «As imagens transbordam fugitivas» (V. 1) beschreibt ein Überschäumen an flüchtigen Bildern. Im zweiten Vers wird die Diffusität der Bilder konfrontiert mit einer Beschreibung des lyrischen Wir: «E estamos nus em frente às coisas vivas» (V. 2). Die Nacktheit symbolisiert Natürlichkeit und Reinheit und evoziert durch die Gegenüberstellung mit den «coisas vivas» (V. 2) das Gegenüber von Mensch und Natur. Sie verweist zudem auf den paradiesischen Zustand der Unschuld. Diese Unschuld ist begründet durch eine Unkenntnis über die Dinge und wird erst durch das Bewusstwerden des Unbekannten und die Benennung der Dinge aufgehoben. Durch «em frente» (V. 2) wird eine Trennung zwischen dem lyrischen Wir und den «coisas vivas» (V. 2) markiert und damit eine Teilung angezeigt, die in der Gegenwart des lyrischen Wir verortet wird: «Estamos» (V. 2). In den darauffolgenden Versen fragt das lyrische Wir nach der Möglichkeit der Wiederherstellung der Einheit und sucht diese in der Natur: «Que presença jamais pode cumprir / O impulso que há em nós, interminável, / De tudo ser e em cada flor florir?» (V. 3–5). Die Sprechinstanz fragt nach einer Zeit, in welcher der Drang, alles zu sein und in jeder Blume zu blühen, befriedigt werde. Die Formulierung «De tudo ser» (V. 5), ‹alles zu sein›, enthält das Verlangen nach einer universellen Einheit. Durch die Metapher «florir» (V. 5) wird dieser Wunsch um das Verlangen nach einem Neubeginn, einem Erwachen ergänzt. Die figura etymologica «em cada flor florir» (V. 5) hebt die Bedeutung der ersehnten Allgegenwärtigkeit des eigenen Seins und die Dringlichkeit des Wunsches der Vereinigung mit der Natur zusätzlich hervor. Insgesamt tritt hier – vor allem durch die Indefinitpronomen «tudo» (V. 5) und «cada» (V. 5) – der Aspekt der Universalität und damit der Wunsch nach Vollkommenheit in den Vordergrund. Die beschriebene Sehnsucht wird einem nicht näher bestimmten Kollektiv zugeschrieben, «que há em nós» (V. 4), wodurch der Eindruck eines allgegenwärtigen, ewigen Drangs entsteht, der durch das nachgestellte Adjektiv «interminável» (V. 4) bestärkt wird. In der Formulierung der rhetorischen Frage nach der Möglichkeit der Wiederherstellung der Einheit in der Zukunft, «jamais pode» (V. 3), ist bereits ein deutlicher Zweifel enthalten. Der Verlust von Einheit äußert sich in der andresianischen Ästhetik in unterschiedlichen Ausformungen, wie etwa in einer ‹geteilten Zeit›,81 und ist ebenso Thema des ersten poetologischen Texts, der Arte Poética I: A beleza da ânfora de barro pálido é tão evidente, tão certa que não pode ser descrita. Mas eu sei que a palavra beleza não é nada. Sei que a beleza não existe em si mas é
81 Vgl. Kapitel III.1.2.
132
II Ethik und Ästhetik
apenas o rosto, a forma, o sinal de uma verdade da qual ela não pode ser separada. Não falo de uma beleza estética mas sim de uma beleza poética.82
Der Tonkrug steht in diesem Text metonymisch für die Welt der Antike. Er stellt durch seine natürliche Beschaffenheit und die jahrhundertealte Tradition der Töpferkunst die alte Verbindung zwischen Kultur und Natur wieder her und hebt sich dadurch von all den anderen von Menschenhand geschaffenen Dingen ab: Porém, lá fora na rua, sob o peso do mesmo sol, outras coisas me são oferecidas. Coisas diferentes. Não têm nada de comum nem comigo nem com o sol. Vêm de um mundo onde a aliança foi quebrada. Mundo que pode ser um habitat mas não é um reino.83
Die zeitgenössische Welt bietet zwar Raum zum Leben, aber sie ist kein in sich vollkommenes Reich mehr, da die Verbindung zwischen Natur und Kultur und damit die Ganzheit der Welt zerstört wurde. Die Wiederherstellung dieser verlorenen Einheit muss jeder selbst für sich erreichen: O reino agora é só aquele que cada um por si mesmo encontra e conquista, a aliança que cada um tece. Este é o reino que buscamos nas praias de mar verde, no azul suspenso da noite, na pureza da cal, na pequena pedra polida, no perfume do oregão. Semelhante ao corpo de Orpheu dilacerado pelas fúrias este reino está dividido. Nós procuramos reuni-lo, procuramos a sua unidade, vamos de coisa em coisa.84
Doch nicht nur der Verlust der antiken Einheit von Menschen und Göttern, Natur und Kultur, sondern auch sehr persönliche Verlusterfahrungen werden von Sophia Andresen in elegischer Dichtung verarbeitet. Ihr Werk enthält zahlreiche Gedichte, die sie Freunden und historischen Persönlichkeiten widmet, die ihr Leben und ihr Werk beeinflusst haben. Davon sind einige Gedichte poetische Nachrufe auf historische Personen, wie zum Beispiel «Carta a Ruben A.»,85 das den Tod ihres Cousins Ruben Alfredo Andresen Leitão beklagt, der als Schriftsteller unter dem Künstlernamen Ruben A. bekannt war. Dagegen richtet sich die Totenklage «Carta aos amigos mortos» nicht namentlich an eine bestimmte historische Person. Sophia Andresen nutzt darin die elegische Gattung und den ihr eigenen Modus des Gedenkens als Instrument ihres ästhetischen Widerstands.
82 83 84 85
Sophia Andresen: Arte Poética I. In: Dies.: Obra Poética, S. 837–838, hier: S. 837. Ebda., S. 838. Ebda. Sophia Andresen: Obra Poética, S. 654–655 [O Nome das Coisas, 1977].
II.2 Tradition der klassischen Antike
133
Carta aos amigos mortos 86 Eis que morrestes – agora já não bate O vosso coração cujo bater Dava ritmo e esperança ao meu viver Agora estais perdidos para mim – O olhar não atravessa esta distância – Nem irei procurar-vos pois não sou Orpheu tendo escolhido para mim Estar presente aqui onde estou viva Eu vos desejo a paz nesse caminho Fora do mundo que respiro e vejo Porém aqui eu escolhi viver Nada me resta senão olhar de frente Neste país de dor e incerteza Aqui eu escolhi permanecer Onde a visão é dura e mais difícil Aqui me resta apenas fazer frente Ao rosto sujo de ódio e de injustiça A lucidez me serve para ver A cidade a cair muro por muro E as faces a morrerem uma a uma E a morte que me corta ela me ensina Que o sinal do homem não é uma coluna
86 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 419 [Livro Sexto, 1962]. Erstmalig veröfffentlicht in Jornal de Almada Suplemento Literário [número dedicado a Sebastião da Gama] (5. Februar 1961), S. 8. Dt.: «Brief an die toten Freunde // Seht, die ihr gestorben seid – nun schlägt nicht mehr / Euer Herz dessen Schlagen / Meinem Sein Rhythmus und Hoffnung gab / Jetzt seid ihr verloren für mich / – Der Blick überquert nicht diese Distanz – / Auch werde ich euch nicht suchen gehen denn ich bin nicht / Orpheus sondern habe für mich gewählt / Hier präsent zu sein wo ich am Leben bin / Ich wünsche euch den Frieden auf dem Weg / Außerhalb der Welt die ich atme und sehe / Doch hier wählte ich zu leben / Nichts bleibt mir außer nach vorn zu schauen / In diesem Land des Schmerzes und der Unsicherheit / Hier wählte ich zu bleiben / Wo das Sehen hart ist und schwieriger // Hier bleibt mir nur die Stirn zu bieten / Dem schmutzigen Gesicht des Hasses und der Ungerechtigkeit / Die Klarheit hilft mir zu sehen / Wie die Stadt Mauer für Mauer fällt / Und die Gesichter eines nach dem anderen sterben / Und der Tod der mich schneidet, er lehrt mich / Dass das Merkmal des Menschen nicht eine Säule ist // Und ich bitte euch für diese beschnittene Liebe / Dass ihr euch an mich erinnert, dort wo die Liebe / Nicht mehr sterben noch gebrochen werden kann / Dass euer Herz, das nicht mehr schlägt / Die dichte Zeit des Blutes und der Sehnsucht / Sondern erlebt die Perfektion der Helligkeit / Sich meiner und meiner Klage erbarme / Sich meiner und meinem Gesang erbarme» [Übersetzung d. Verf.]
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II Ethik und Ästhetik
E eu vos peço por este amor cortado Que vos lembreis de mim lá onde o amor Já não pode morrer nem ser quebrado Que o vosso coração que já não bate O tempo denso de sangue e de saudade Mas vive a perfeição da claridade Se compadeça de mim e de meu pranto Se compadeça de mim e de meu canto
Das Gedicht besteht aus drei Strophen, von denen die erste mit 15 Versen die längste ist, die zweite und dritte Strophe bestehen dagegen jeweils aus sieben respektive acht Versen. Das lyrische Ich wendet sich in einer Apostrophe an seine verstorbenen Freunde: «Eis que morrestes – agora já não bate / O vosso coração» (V. 1–2). In einem Enjambement fügt es hinzu, wie wichtig und wegweisend die Verstorbenen für sein eigenes Leben waren: «O vosso coração cujo bater / Dava ritmo e esperança ao meu viver» (V. 2–3). Es macht den Verlust deutlich – «estais perdidos para mim» (V. 4) –, betont in Vers fünf, dass die Distanz unüberwindbar sei, und vergleicht sein eigenes Schicksal in einer weiteren versübertretenden Konstruktion mit jenem der mythologischen Gestalt des Orpheus: «Nem irei procurar-vos pois não sou / Orpheu tendo escolhido para mim / Estar presente aqui onde estou viva» (V. 6–8). In diesem Vergleich wird metonymisch der Ort der griechischen Unterwelt, ein Ort des Todes, aufgerufen. Das lyrische Ich kündigt an, es werde im Gegensatz zu Orpheus, der Eurydike gefolgt ist, nicht seinen Freunden folgen, sondern in der Welt der Lebenden bleiben: «aqui onde estou viva» (V. 8). Hier wird durch «aqui» (V. 8) zum ersten Mal der Aufenthaltsort des lyrischen Ichs markiert, der in der Folge durch zusätzliche und sich wiederholende Markierungen der Lokaldeixis in den Vordergrund tritt: «mundo» (V. 10), «aqui» (V. 11), «Neste país» (V. 13), «Aqui» (V. 14), «Aqui» (V. 16). Der Verweis auf Orpheus ist im Zusammenhang mit dem Thema des Todes einerseits eine Referenz an den Gott Hades, den Orpheus durch seinen Gesang überzeugte, Eurydike aus der Unterwelt zurück in die Welt der Lebenden zu lassen. Zugleich weist diese Referenz auf die Selbstreflexivität des Gedichts hin: so wie Orpheus Eurydike mit seinem Gesang befreite, so könnte auch das dichterische Ich mit seinem Gedicht «Carta aos amigos mortos» dasselbe für seine Freunde zu tun. Diesen Versuch will es jedoch nicht unternehmen. Stattdessen wünscht es seinen Freunden eine gute Reise aus der Welt der Lebenden hinaus: «Eu vos desejo a paz nesse caminho / Fora do mundo que respiro e vejo» (V. 9–10). In «respiro e vejo» (V. 9–10) wird der Unterschied des lebenden lyrischen Ichs zu den Toten unterstrichen, wobei der Verbleib im Reich der Lebenden im darauffolgenden Vers als eine bewusst getroffene Wahl dargestellt wird: «Porém aqui escolhi viver» (V. 11). In den letzten vier Versen der Strophe beschreibt das lyrische Ich seine eigene Einstel-
II.2 Tradition der klassischen Antike
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lung als zuversichtlich, jedoch wechselt sich diese mit der düsteren Beschreibung seiner Umgebung ab: «Nada me resta senão olhar de frente / Neste país de dor e incerteza / Aqui eu escolhi permanecer / Onde a visão é dura e mais difícil» (V. 12–15). Dieser antithetische Wechsel setzt sich auch in den ersten vier Versen der zweiten Strophe fort: «Aqui me resta apenas fazer frente / Ao rosto sujo de ódio e de injustiça / A lucidez me serve para ver / A cidade a cair muro por muro» (V. 16–19). In einem zweiten Paradoxon erscheint das lyrische Ich einerseits als Entscheidungsträger seiner Handlungen – «tendo escolhido para mim» (V. 7), «eu escolhi viver» (V. 11), «eu escolhi permanecer» (V. 14) – und andererseits als durch seine Umgebung determiniert – «Nada me resta senão» (V. 12), «Aqui me resta apenas» (V. 16). Es ist somit nur beschränkt handlungsfähig. Dies spiegelt sich in der Schilderung des Daseins des lyrischen Ichs, das in Kontrast zu den toten Freunden lediglich durch die Isotopie des Lebens – «estou viva» (V. 8), «respiro» (V. 10), «viver» (V. 11), «permanecer» (V. 14) gekennzeichnet ist. Neben dem bloßen Überleben bleibt die einzige Handlung des lyrischen Ichs das Sehen: «o olhar» (V. 5), «vejo» (V. 10), «olhar de frente» (V. 12), «visão» (V. 15), «ver» (V. 18). Das Objekt seiner Beobachtung ist eine durch Schmerz geprägte, unsichere, hasserfüllte und ungerechte Welt, die langsam verfällt. Die Helligkeit dient hier nur dazu, den Verfall mitansehen zu können. Der mittlere Vers der zweiten Strophe bildet den Übergang zu einem neuen Sinnabschnitt, in dem der Verfall der Stadt mit dem sukzessiven Sterben der darin lebenden Menschen verwoben wird: «A cidade a cair muro por muro / E as faces a morrerem uma a uma / E a morte que me corta ela me ensina / Que o sinal do homem não é uma coluna» (V. 19–22). Durch die Mehrdeutigkeit der Ausdrücke «faces» (V. 20) (dt. ‹Gesichter›, ‹Mienen› aber auch ‹Fläche›, ‹Seite›) und «coluna» (V. 22) (dt. ‹Wirbelsäule›, ‹Rückgrat› sowie ‹Säule›) vermischt sich die Architektur der Stadt mit der Anatomie der Menschen. Die spezielle Krümmung der menschlichen Wirbelsäule unterscheidet den Menschen von anderen Wirbeltieren und befähigt ihn zum aufrechten Gang. Sie ist sein besonderes Merkmal, worauf in «sinal» (V. 22) angespielt wird. Sowohl als architektonisches Bauteil als auch als zentrales Element des menschlichen Skeletts übernimmt die Säule eine tragende Funktion. Der Verlust der stützenden Säulen bedeutet den Verlust von Stabilität und Tragfestigkeit. Diese Eigenschaften sind in der Metapher des Rückgrats enthalten, das zwar auch den menschlichen Körperteil der Wirbelsäule bezeichnet, sich jedoch durch das Bild der Standfestigkeit und der aufrechten Haltung vielmehr als Metapher für Charakterfestigkeit und Prinzipientreue etabliert hat. Durch den im Gedicht ausgedrückten Mangel an Standfestigkeit schafft der Mensch es nicht, die Stadt zu stützen und sie vor ihrem Verfall zu bewahren. In der letzten Strophe greift das lyrische Ich die Apostrophe an seine Freunde wieder auf, «E eu vos peço» (V. 23), und formuliert in der Folge seine
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II Ethik und Ästhetik
Bitte an sie. Diese enthält wiederum einen Vergleich der Welt, in der das lyrische Ich lebt, mit der Welt der Toten. Letztere wird als Ort der ewigen Liebe dargestellt – «lá onde o amor / Já não pode morrer nem ser quebrado» –, die zudem durch «a perfeição da claridade» (V. 28) mit Helligkeit assoziiert wird. Kontrastierend beschreibt das lyrische Ich seine eigene Umgebung als «tempo denso de sangue e de saudade» (V. 27). Das Paradoxon wird durch die an die Toten gerichtete Bitte des lyrischen Ichs ergänzt, sie sollen sich seiner erinnern: «Que vos lembreis de mim» (V. 24). In seinem Gedicht, das vordergründlich dem Gedenken der toten Freunde gewidmet ist, stellt das lyrische Ich sich selbst sowie die Umgebung, in der es lebt, in den Fokus und wünscht sich in der letzten Strophe, nicht vergessen zu werden. Dabei stilisiert es sich selbst durch die Isotopie des Sehens zum Beobachter und Zeitzeugen. Somit wird herausgestellt, dass das Gedicht in erster Linie dem Gedenken der von ihm dargestellten Welt dient. Tatsächlich werden die Freunde, an die das Gedicht gerichtet ist, nicht näher beschrieben, sondern lediglich am Anfang sowie am Ende des Gedichts durch ein nicht mehr klopfendes Herz repräsentiert: «o vosso coração cujo bater» (V. 2) «o vosso coração que já nao bate» (V. 26). Dieses solle sich – aufgrund der in dem Klagegedicht dargestellten unerträglichen Situation – des lyrischen Ichs erbarmen: «Se compadeça de mim e de meu pranto / Se compadeça de mim e de meu canto» (V. 29–30). Hier ist in «meu pranto» (V. 29) und «meu canto» (V. 30) die Absicht des lyrischen Ichs metapoetisch deutlich herausgestellt: seine Klagegedicht soll an das Beschriebene erinnern und in seinen Adressaten Anteilnahme hervorrufen. Die finale Bitte um Erbarmen bestätigt eine biblische Bezugnahme, die bereits in der Klage über den Verfall einer Stadt (V. 19) angelegt ist. Diese erinnert an die Lamentationes, die Klagelieder des Jeremias, welche die Zerstörung Jerusalems und des Tempels beschreiben. Bereits die ersten Worte des Gedichts, «Eis que» (V. 1), verweisen auf den biblischen Stil. Auch das Reich der Toten, das in der ersten Strophe durch den Bezug zu Orpheus zunächst als die düstere Unterwelt der griechischen Mythologie assoziiert wird, verweist in der letzten Strophe, unterstrichen durch die Attribute «amor» (V. 23–24) und «claridade» (V. 28) vielmehr auf eine biblische Vorstellung des Jenseits. Der Verweis auf die Klagelieder des Jeremias enthält letztendlich die Beantwortung der Frage nach dem Warum, die auch in Vers 22 angedeutet wird: der Mensch selbst trägt die Schuld an der Zerstörung. Mit der Wahl der elegischen Form nimmt Sophia Andresen in «Carta aos amigos mortos» somit nicht nur Bezug auf den antiken Ursprung der elegischen Totenklage, sondern ebenso auf elegische Passagen des Tanach und des Alten Testaments. Damit bildet sie einen kleinen Teil des Facettenreichtums der elegischen Formen ab, der sich bis in die Moderne hinein erweitern sollte und deren auffälligste Gemeinsamkeit in der Perspektive besteht: ein Blick aus der
II.3 Biblische Bezüge
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Gegenwart in die Vergangenheit. Das widerständige Potential der elegischen Formen87 gründet auf eben jener Perspektive: Es wird die Unerreichbarkeit einer besseren Welt thematisiert, die gleichzeitig die Möglichkeit enthält, die Gegenwart zu transformieren. Sophia Andresen verschiebt in «Carta aos amigos mortos» zudem diese elegische Perspektive: Das lyrische Ich blickt nicht nur gemäß der elegischen Tradition aus der Gegenwart in die Vergangenheit, sondern es beschreibt vornehmlich sich selbst und seine eigene Gegenwart. Diese starke Bindung der Klage an die Gegenwart unterstreicht die der Form der Elegie bereits inhärente Zeitgebundenheit.
II.3 Biblische Bezüge Nicht nur antike Stoffe haben das Werk Sophia Andresens geprägt. Auch Formen und Motive aus biblischen Texten sind in ihrer Dichtung verarbeitet. Darin formuliert das lyrische Ich seine Klagen und Bitten gegenüber einem Gott, der weder verfügbar erscheint noch eindeutig als der allmächtige Gott der abrahamitischen Religionen identifiziert wird. Der Inhalt der Texte erlaubt dabei stets Rückschlüsse auf die Gegenwart des lyrischen Ichs, das durch seine Klagen und Bitten auf Veränderung seiner Lebensumstände abzielt. In diesem Teilkapitel werden einerseits Referenzen zu biblischen Textformen wie Psalmen und Gebeten untersucht und andererseits die Verarbeitung einzelner biblischer Bilder im poetischen Schreiben Sophia Andresens diskutiert.
II.3.1 Psalmen und Gebete Im Werk Sophia Andresens gibt es einige Gedichte, in denen sich das lyrische Ich durch die Apostrophe «Senhor» an eine göttliche Instanz wendet.88 Das Gedicht «Senhor se da tua pura justiça» ist in dem Band Mar Novo von 1958 enthalten und an den Gestus biblischer Klagepsalmen angelehnt:
87 Das widerständige Potential des Elegischen beschrieb Susanne Zepp bereits in ihrem Aufsatz »Bleierne Zeit. Varianten des Elegischen in der Dichtung der fünfziger Jahre bei Vicente Aleixandre und Eugénio de Andrade». Vgl. Susanne Zepp: Bleierne Zeit. Varianten des Elegischen in der Dichtung der fünfziger Jahre bei Vicente Aleixandre und Eugénio de Andrade. In: Daniel Jacob/Andreas Kablitz u. a. (Hrsg.): Romanistisches Jahrbuch. Band 61. Berlin: De Gruyter 2010, S. 414–433. 88 Zum Beispiel in «Senhor», Obra Poética, S. 38 [Poesia, 1944], «Chamo-Te porque tudo está ainda no princípio», Obra Poética, S. 201 [Coral, 1950], «Senhor», Obra Poética, S. 753 [Ilhas, 1995].
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II Ethik und Ästhetik
Senhor se da tua pura justiça Nascem os monstros que em minha roda eu vejo É porque alguém te venceu ou desviou Em não sei que penumbra os teus caminhos Foram talvez os anjos revoltados. Muito tempo antes de eu ter vindo Já se tinha a tua obra dividido E em vão eu busco a tua face antiga És sempre um deus que nunca tem um rosto Por muito que eu te chame e te persiga.89
Das Gedicht besteht aus vier Strophen, deren Versanzahl ausgehend von zunächst vier jeweils um einen Vers pro Strophe abnimmt, so dass die letzte Strophe aus lediglich einem Vers besteht. Das erste Wort des Gedichts, «Senhor» (V. 1), stellt eine gebetsartige Apostrophe dar, die durch Pronomen und Verbformen bis zum Ende des Gedichts aufrechterhalten wird: «tua» (V. 1), «te» (V. 3), «teus» (V. 4), «tua» (V. 7), «tua» (V. 8), «És» (V. 9), «te» (V. 10). Auf die Apostrophe folgt ein mit «se» (V. 1) eingeleiteter Konditionalsatz. In der ersten Hälfte des Satzgefüges formuliert das lyrische Ich die Bedingung: «se da tua pura justiça / Nascem os monstros que em minha roda eu vejo» (V. 1–2). Der Begriff «justiça» (V. 1) verweist im Zusammenhang mit «Senhor» (V. 1), dem angesprochenen Gott, auf die christliche Vorstellung eines gerechten Gottes, der als allmächtiger Richter sowohl auf Erden als auch im Jenseits über Recht und Unrecht entscheidet. Der Ursprung der «monstros» (V. 2), die das lyrische Ich um sich herum sieht, wird in Gottes Gerechtigkeit gesehen, somit besteht die formulierte Bedingung in der Billigung der Monster durch den angesprochenen Gott. Als Konsequenz dieser Voraussetzung folgert das lyrische Ich, jemand müsse den gerechten Gott besiegt oder in seiner Entscheidung fehlgeleitet haben: «É porque alguém te venceu ou desviou / Em não sei que penumbra os teus caminhos» (V. 3–4). Durch den Konditionalsatz wird in der spekulativen Begründung Zweifel daran ausgedrückt, dass die Monster von Gott gewollt sind. Vielmehr enthält die Strophe die implizite, an Gott gerichtete rhetorische Frage: entspringen diese Monster wirklich deinem Willen? Im
89 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 309 [Mar Novo, 1958]. Dt.: «Herr wenn aus deiner reinen Gerechtigkeit / Die Monster entspringen die ich rings um mich herum sehe / Ist es weil jemand dich besiegt oder deine Wege / In ich weiß nicht welchen Halbschatten fehlgeleitet hat. // Vielleicht waren es die aufständischen Engel. / Lange Zeit bevor ich gekommen bin / Hatte sich dein Werk bereits geteilt // Und vergebens suche ich dein altes Antlitz / Du bist immer noch ein Gott der nie ein Gesicht hat // So viel ich dich auch rufe und dich verfolge.» [Übersetzung d. Verf.]
II.3 Biblische Bezüge
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Grunde genommen ist dies eine Frage nach der Theodizee, also danach, wie es Leid und Böses in der Welt geben kann, wenn Gott allmächtig und gut ist. Das lyrische Ich glaubt nicht daran, dass Gott das Böse, das es in Gestalt der Monster um sich herum sieht, gewollt hat und sucht in seiner Mutmaßung über mögliche Schuldige nach Antworten. In der zweiten Strophe spekuliert das lyrische Ich darüber, wer oder was seinen Gott um seine Allmacht gebracht haben könnte: «Foram talvez os anjos revoltados.» (V. 5). Die aufständischen Engel, die hier als mögliche Schuldige ausgemacht werden, sind Bestandteil der apokalyptischen Vorsehung vom Ende der Zeit. Sie, die aufgrund ihrer Auflehnung gegen Gott mit der Verbannung aus dem Himmelreich bestraft wurden, werden als Repräsentanten des Bösen und Widersacher Gottes als mögliche Verantwortliche für die «monstros» (V. 2) ausgemacht und sollen Gott besiegt sowie die Macht ergriffen haben. Nach dieser Vermutung lässt sich ein inhaltlicher Schnitt feststellen, der formal durch den Punkt am Ende des fünften Verses unterstrichen wird, der zudem mit der Mitte des Gedichts zusammenfällt. In der darauffolgenden zweiten Hälfte stellt das lyrische Ich keine weiteren Mutmaßungen über die vermeintlichen Bezwinger seines Gottes an, sondern erinnert sich: «Muito antes de eu ter vindo / Já se tinha a tua obra dividido» (V. 6–7). Das lyrische Ich nimmt hier Bezug auf einen lange zurückliegenden Vorfall, der zur Teilung des göttlichen Werkes geführt hat. Im Anschluss an die zuvor formulierten theodizistischen Zweifel, kann dieser Moment als der Sündenfall und der Ausschluss des Menschen aus dem Garten Eden identifiziert werden. Der Verlust des paradiesischen Garten Edens bedeutet den Verlust der Einheit mit Gott und wird in der christlichen Lehre von der Erbsünde als Beginn des vom Menschen verursachten Übels angesehen. Auf diese Trennung des Menschen von Gott und dem Paradies wird mit «dividido» (V. 7) hingewiesen. Im Aufwerfen des Theodizee-Problems wird durch das Voraussetzen der «pura justiça» (V. 1) an der Güte Gottes festgehalten, jedoch folgt für das lyrische Ich daraus, dass Gott besiegt worden sein muss, also nicht allmächtig sein kann. So versucht es, das Paradoxon aufzulösen und bekennt seine Annahme eines dualistischen Weltbildes, in dem das Böse durch die gefallenen Engel neben dem Guten existiert. Diese Annahme beinhaltet als logische Folge eine Abwendung vom Monotheismus, da das lyrische Ich seinem Gott die Allmacht abspricht. Das Böse ist ihm in seiner Vermutung über den Ursprung der «monstros» (V. 2) nicht untergeordnet, sondern besteht neben ihm als eigenständige Macht. So spricht das lyrische Ich in der Folge nicht von Gott als absoluter Instanz, sondern von «um deus» (V. 9), also einem Gott unter vielen. Das hier evozierte eher polytheistische Verständnis wird durch die Schreibweise unterstrichen: entgegen der für die monotheistischen Religionen im Portu-
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II Ethik und Ästhetik
giesischen üblichen Schreibweise Deus wird hier auf die Großschreibung verzichtet. In den letzten drei Versen des Gedichts beschreibt das lyrische Ich seine beständige Suche nach dem angerufenen Gott: «E em vão eu busco a tua face antiga / És sempre um deus que nunca tem um rosto // Por muito que eu te chame e te persiga.» (V. 8–10). In «face» (V. 8) und «rosto» (V. 9) wird wiederholt das Gesicht des Gottes thematisiert, auf dessen Suche das lyrische Ich ist. Gleichzeitig bekennt es in «em vão» (V. 8) und «nunca» (V. 9), dass die Suche vergeblich ist, da der gesuchte Gott kein Gesicht habe. Die darin beschriebene Immaterialität des Gottes verweist ebenso auf das in den abrahamitischen Religionen herrschende Bilderverbot, das aus dem Dekalog hervorgeht und letztendlich daran erinnert, dass es kein eindeutiges Bild Gottes geben kann. Mit dem Verweis auf das Verbot der bildlichen Darstellung des Gottes wird wiederum auf die Religionen verwiesen, in denen eben jene kultische Verehrung von Gottesbildern praktiziert wird, die jedoch in den abrahamitischen Religionen als heidnische Götzenverehrung gilt. Damit wird die Unverfügbarkeit des einen, gestaltlosen Gottes der Präsenz der verschiedenen Götter und Göttinnen gegenübergestellt, die jeweils für einen Bereich oder ein Problem zuständig sind. Gläubige in polytheistischen Gesellschaften stellen sich diese als ansprechbare und beeinflussbare Wesen vor, egal ob in Menschengestalt, Tiergestalt oder als Mischwesen. Im Gegensatz zu dem im Gedicht beschriebenen Gott haben diese ein Gesicht. Das lyrische Ich erhält auf seine Frage nach der Vereinbarkeit der Gerechtigkeit Gottes mit dem Bösen, das es um sich herum beobachtet, keine Antwort und sucht seinen Gott zwar unermüdlich, aber doch vergeblich. Auf der Suche nach einer Erklärung spricht es seinem Gott dessen Allmacht ab und nähert sich, eine göttliche Gestalt vermissend, einer polytheistischen Vorstellung an. Sophia Andresen präsentiert in ihrem poetischen Text, der noch in der ersten Strophe an die im Buch der Psalmen tradierten Klagelieder erinnert, ein in seinem Glauben zerrissenes lyrisches Ich, das sich in seiner Not vergeblich an seinen Gott wendet. Die «monstros» (V. 2) und «anjos revoltados» (V. 5) symbolisieren das Böse, von dem sich das lyrische Ich umzingelt sieht und die auf die Apokalypse verweisen. Die im Gedicht zum Ausdruck gebrachte Verzweiflung wird durch den angedeuteten Glaubensverlust verstärkt und durch die schrittweise Verringerung der Strophenlänge auch visuell unterstrichen. Das lyrische Ich löst sich in der von ihm beschriebenen düsteren Umgebung langsam auf und verstummt schließlich ganz, was den Eindruck von Hilflosigkeit und Resignation hinterlässt. In dem 1972 veröffentlichten Gedicht «A paz sem vencedor e sem vencidos» wird der Einfluss der christlichen Liturgie noch sehr viel deutlicher. Geprägt
II.3 Biblische Bezüge
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wird das Gedicht durch den Refrain «Dai-nos Senhor a paz que vos pedimos / A paz sem vencedor e sem vencidos» (V. 1–2, 5–6, 11–12, 17–18). Dieses Verspaar leitet das Gedicht ein und wird bei seiner ersten Wiederholung am Ende der ersten Strophe an der Versgrenze aufgetrennt. Fortan bildet der erste Teil des Distichons den jeweils letzten Vers der insgesamt drei fünfversigen Strophen und der zweite Teil wird zwischen den Strophen als einzelner Vers vom restlichen Text abgesetzt. Abgesehen von den zahlreichen Wiederholungen von «Dai-nos» (V. 1, 5, 11, 14, 15, 16, 17) enthält der Text noch weitere Apostrophen an den «Senhor» (V. 1, 5, 11, 13, 17), wie «Erguei» (V. 7) und «Fazei» (V. 13), die das Gedicht durchziehen. A paz sem vencedor e sem vencidos 90 Dai-nos Senhor a paz que vos pedimos A paz sem vencedor e sem vencidos Que o tempo que nos deste seja um novo Recomeço de esperança e de justiça Dai-nos Senhor a paz que vos pedimos A paz sem vencedor e sem vencidos Erguei o nosso ser à transparência Para podermos ler melhor a vida Para entendermos vosso mandamento Para que venha a nós o vosso reino Dai-nos Senhor a paz que vos pedimos A paz sem vencedor e sem vencidos Fazei Senhor que a paz seja de todos Dai-nos a paz que nasce da verdade Dai-nos a paz que nasce da justiça Dai-nos a paz chamada liberdade Dai-nos Senhor a paz que vos pedimos A paz sem vencedor e sem vencidos
90 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 591 [Dual, 1972]. Dt.: «Der Frieden ohne Sieger und ohne Besiegte // Gebt uns Herr den Frieden um den wir bitten / Den Frieden ohne Sieger und ohne Besiegte / Dass die Zeit die du uns gabst eine neue / Wiederaufnahme der Hoffnung und der Gerechtigkeit sei / Gebt uns Herr den Frieden um den wir bitten // Den Frieden ohne Sieger und ohne Besiegte // Erhebet unser Sein in die Transparenz / Damit wir das Leben besser lesen können / Damit wir euer Gebot besser verstehen / Damit euer Reich zu uns kommt / Gebt uns Herr den Frieden um den wir bitten // Den Frieden ohne Sieger und ohne Besiegte // Macht Herr dass es der Frieden aller sei / Gebt uns den Frieden der der Wahrheit entspringt / Gebt uns den Frieden der der Gerechtigkeit entspringt / Gebt uns den Frieden der Freiheit genannt wird / Gebt uns Herr den Frieden um den wir bitten // Den Frieden ohne Sieger und ohne Besiegte» [Übersetzung d. Verf.]
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II Ethik und Ästhetik
Im Refrain formuliert ein lyrisches Wir eine Bitte an seinen Gott: es bittet um Frieden, einen Frieden ohne Sieger und Besiegte. Die zusätzliche nähere Bestimmung des Begriffs «paz» macht deutlich, dass es sich bei dem gewünschten Frieden nicht lediglich um die bloße Abwesenheit oder Beendigung von Krieg handelt, der bekanntlich immer Sieger und Besiegte hervorbringt, sondern um einen umfassenderen Frieden, wie er auch in der Bibel beschrieben wird.91 Was sich das lyrische Wir im Einzelnen unter diesem Frieden vorstellt, beschreibt es in den jeweiligen Strophen. In der ersten Strophe wünscht es sich zunächst einen Neubeginn: «Que o tempo que nos deste seja um novo / Recomeço de esperança e de justiça» (V. 3–4). Dies lässt darauf schließen, dass die Vergangenheit des lyrischen Ichs durch einen Mangel an Frieden gekennzeichnet ist, weshalb die Erfüllung des formulierten Friedenswunsches ein Neuanfang wäre. Durch das Enjambement liegt der Fokus in diesen Versen dementsprechend auf «Recomeço» (V. 4). Der Wunsch, die neue Zeit sei eine Zeit der Hoffnung und der Gerechtigkeit, gibt Aufschluss darüber, dass das lyrische Ich seine Gegenwart als hoffnungslos und ungerecht empfindet. Die zweite Strophe enthält konkretere Vorstellungen des lyrischen Wir darüber, wie es sich den Frieden vorstellt. Auf die Bitte «Erguei o nosso ser à transparência» (V. 7) folgen drei Hoffnungen, die an diese Bitte geknüpft sind und die anaphorisch eingeleitet werden: «Para podermos ler melhor a vida / Para entendermos vosso mandamento / Para que venha a nós o vosso reino» (V. 8–10). In «Erguei» (V. 7) ist in der bildlichen Aufwärtsbewegung der Wunsch nach einer geistigen Erhöhung enthalten: «à transparência» (V. 7). Davon verspricht sich das lyrische Wir ein besseres Verständnis, was hier in «ler» (V. 8) und «entendermos» (V. 9) ausgedrückt wird und das sich sowohl auf das eigene Leben, «vida» (V. 8), als auch auf die Gebote Gottes, «vosso mandamento» (V. 9), bezieht. Insgesamt soll Gottes Reich auf Erden einziehen: «que venha a nós o vosso reino» (V. 10). In diesen Versen beschreibt das lyrische Wir somit seinen Wunsch nach einer erfüllenden Beziehung zu seinem Gott, von der es sich geistigen Frieden erhofft. In der dritten Strophe fügt das lyrische Wir den Wunsch hinzu, dass dieser Frieden ausnahmslos für alle erreicht werden soll: «Fazei Senhor que a paz seja de todos» (V. 13). Auch auf diese Bitte folgen parallel zur vorherigen Strophe drei Anaphern, die jedoch an dieser Stelle mit dem Versbeginn des Refrains übereinstimmen, der sich nahtlos als vierte Anapher anschließt und so den Rhythmus kurz vor Ende des Gedichts beschleunigt. Dieser Effekt wird durch die Erweiterung der Anapher verstärkt: die Verse 14 und 15 stimmen bis auf das letzte Wort überein, was wiederum den Fokus auf die Versenden richtet: «Dai-nos a paz que nasce da verdade / Dai-nos a paz que nasce da justiça» (V. 14–15). Während in der ersten Strophe bereits 91 Zum Beispiel in Ps 72, dem Segenswunsch für den König Salomo.
II.3 Biblische Bezüge
143
«esperança» (V. 4) und «justiça» (V. 4) den Wunsch des lyrischen Ichs prägen, werden diese hier um «verdade» (V. 14) ergänzt. Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, «justiça» (V. 15), wird an dieser Stelle wiederholt. Der Frieden solle aus der Wahrheit und der Gerechtigkeit neu entspringen, die damit zu seiner Grundlage erklärt werden. Der darauffolgende Vers enthält eine syntaktische Änderung, die nochmals den Fokus auf das Versende erhöht: «Dai-nos a paz chamada liberdade» (V. 16). Die Ersetzung von «que nasce da» (V. 14, 15) durch «chamada» (V. 16), wird ein semantischer Unterschied herausgestellt: während Wahrheit und Gerechtigkeit gebraucht werden, um Frieden zu erreichen, wird die «liberdade» (V. 16) mit dem Frieden gleichgesetzt. Auch sie ist damit ohne Wahrheit und Gerechtigkeit nicht möglich. Gleichzeitig schafft der Ausdruck «chamada» (V. 16) eine Distanz zur «liberdade» (V. 16), so als sei dies ein neuer oder fremder Begriff, der dem lyrischen Wir bisher nur aus Erzählungen bekannt ist. Auch der Refrain enthält im Grunde eine Paraphrase von Freiheit und Gerechtigkeit: «a paz sem vencedor e sem vencidos». Der geforderte Frieden ist somit vor allem durch die Tatsache geprägt, dass es darin weder Unterdrücker noch Unterdrückte gibt. In «A paz sem vencedor e sem vencidos» präsentiert Sophia Andresen ein lyrisches Wir, das seine Wünsche für eine bessere Welt als Bitte an seinen Gott formuliert. Die gebetsartige Wiederholung des Refrains «Dai-nos Senhor a paz que vos pedimos / A paz sem vencedor e sem vencidos» hebt den am Ende des Gedichts genannten Begriff der Freiheit durch die verfremdende Paraphrase besonders hervor. Somit nutzt Sophia Andresen auch den paraphrasierenden Stil der Bibel, um den kritischen Gehalt ihres Gedichts zu verschleiern. Denn auch wenn «paz» im Gedicht 13 Mal genannt wird und der Begriff «liberdade» dagegen nur ein einziges Mal, ist letzterer sowohl in der Paraphrase «a paz sem vencedor e sem vencidos» semantisch enthalten, als auch durch die Gleichsetzung von «paz» und «liberdade» in der letzten Strophe immer dann, wenn das lyrische Ich von «paz» spricht.
II.3.2 Biblische Bilder Nicht nur der Verlust der Einheit zwischen Menschen und Göttern in der antiken Welt wird im Werk Sophia Andresens thematisiert, sondern ebenso die Trennung des Menschen von Gott im Christentum, beginnend mit dem Ausschluss von Adam und Eva aus dem Paradies. So gibt es zwei Gedichte mit dem Titel «Jardim Perdido»,92 in der das lyrische Ich den Verlust der Welt, wie sie vor dem Sündenfall war, betrauert. Ein anderer Fokus liegt auf apokalypti92 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 45 [Poesia, 1944], S. 144 [Dia do Mar, 1947].
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II Ethik und Ästhetik
schen Motiven. So thematisiert das folgende Gedicht die Stadt Babylon, die in der Tora und im Alten Testament sowohl der Ort der Sprachverwirrung 93 als auch des babylonischen Exils 94 ist. Aufgrund des erzwungenen Exils galt Babylon als Ort der Unterdrückung, die babylonische Kultur und ihre wissenschaftlichen Errungenschaften wurden als Zeichen des Unglaubens, des Hochmuts und der Sünde angesehen. Diese Perspektive findet sich im Neuen Testament in der Offenbarung wieder, in der Babylon als Ort der antichristlichen Mächte 95 beschrieben ist, dessen Zerstörung96 vorausgesagt wird. Im Gedicht «Babilónia» aus dem Band Livro Sexto von 1962 beschreibt das lyrische Ich in einer Reihe aus adverbialen Bestimmungen die Stadt Babylon in ihren verschiedenen Facetten und stellt darin die mythischen und historischen Inhalte nebeneinander. Babilónia 97 Com Com Com Com
pátios interiores e com palmeiras muros de tijolo com pequenos tanques fontes com estátuas com colunas deuses desenhados nas paredes de barro
Com Com Com Com
corredores e silêncios e penumbras vestidos de linho tocando a pedra pura cinamomo e nardo jarras donde corria azeite e vinho
Com multidões com gritos com mercados Com esteiras claras sob os pés pintados Com escribas com magos e adivinhos Com prisioneiros com servos com escravos Com lucidez feroz com amargura Com ciência e arte Com desprezo Babilónia nasceu de lodo e limo
1. Mo 11,1–9. 2. Könige 24,8–17. Offb 17,5. Offb 18,21. Sophia Andresen: Obra Poética, S. 438 [Livro Sexto, 1962]. Dt.: «Babylon // Mit Innenhöfen und mit Palmen / Mit Mauern aus Backstein mit kleinen Wannen / Mit Brunnen mit Statuen mit Säulen / Mit Göttern gezeichnet auf die Lehmwände // Mit Gängen und Pausen und Halbschatten / Mit Leinenkleidern die den puren Stein berühren / Mit Zimtbaum und Narde / Mit Krügen aus denen Olivenöl und Wein lief // Mit Massen mit Schreien mit Märkten / Mit hellen Matten unter den bemalten Füßen / Mit Kopisten mit Sterndeutern und Wahrsagern / Mit Gefangenen mit Dienern mit Sklaven / Mit scharfer Klarheit mit Bitterkeit / Mit Wissenschaft und Kunst / Mit Verachtung / Ist Babylon aus Schmutz und Schlamm geboren» [Übersetzung d. Verf.]
93 94 95 96 97
II.3 Biblische Bezüge
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Bis auf den letzten Vers beginnen alle Verse anaphorisch mit dem Adverb «Com» (V. 1–15), das jeweils verschiedene Aufzählungen einleitet. Auch innerhalb der Verse wird die Anapher wiederholt, so dass der Rhythmus des Gedichts durch sie geprägt ist und abhängig von der Häufigkeit ihrer Verwendung variiert. In der ersten Strophe zählt das lyrische Ich Einzelheiten der babylonischen Architektur auf: Innenhöfe, Lehmziegel, Statuen, Säulen. Dabei verweisen die Wandmalereien, «deuses desenhados nas paredes de barro» (V. 4), metonymisch auf die babylonische Religion, die ähnlich der griechischen Mythologie viele verschiedene Götter verehrt. Die erste Strophe thematisiert architektonische Auffälligkeiten, demgegenüber sind die Beobachtungen der zweiten Strophe verschiedenen sinnlich erfahrbaren Besonderheiten gewidmet. Während «corredores» (V. 5) noch in den Bereich der Architektur gehört, werden mit «silêncios»(V. 5) und «penumbras» (V. 5) zwei Phänomene beschrieben, die auf den Hörsinn respektive den Sehsinn verweisen. Im darauffolgenden Vers «Com vestidos de linho tocando a pedra pura» (V. 6) enthält die Beschreibung der Berührung des Steins durch das Kleid das Verb tocar und damit einen semantischen Bezug zum Tastsinn. Der siebte Vers verweist auf den Geruchssinn durch die Aufzählung zweier Gewächse, Zimtbaum und Narde.98 Und der Geschmacksinn wird in Vers acht durch «azeite e vinho» (V. 8) thematisiert. Auf die Fülle der sinnlichen Wahrnehmungen folgt in der dritten Strophe ein Überblick über die facettenreiche babylonische Gesellschaft. Neben dem allgemeinen Volk, das durch «multidões […] gritos […] mercados» (V. 9) repräsentiert wird, werden auch besondere Gruppen genannt. Die «escribas» (V. 10) lassen sich im Deutschen mit ‹Schreiber› übersetzen und repräsentieren Babylon als Ursprungsort der Schrift. Die «magos» (V. 10) sind im Weitesten Sinne Magier, lassen sich jedoch auf die babylonischen Sterndeuter zurückführen, die als die Begründer der Astrologie gelten. Auch die Wahrsagerei, hier in «adivinhos» (V. 10) vertreten, wurde bereits im alten Orient praktiziert. Auf diese Aufzählung kultureller Errungenschaften der Babylonier folgt ein Blick auf das Leben der Unterdrückten: «prisioneiros […] servos […] escravos» (V. 12). Daraufhin wird zum ersten Mal nicht etwas genannt, was das lyrische Ich sehen kann, sondern Eigenschaften, «Com lucidez feroz» (V. 13) und «com amargura» (V. 13). Die «lucidez», zu Deutsch ‹geistige Klarheit›, nimmt im Anschluss an den zehnten Vers Bezug auf die ersten wissenschaftlichen Entwicklungen, die auf Babylon zurückzuführen sind. Die «amargura» (V. 13) enthält, da sie sich im selben Vers unmittelbar daran anschließt, eine Anspielung auf die Ableh-
98 Die Narde und vor allem das Nardenöl wird in der Bibel als sehr wertvoll beschrieben: Mk, 14,3; Joh 12,3; Hl 4,14. In Hl 4,14 wird ebenso Zimt erwähnt.
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II Ethik und Ästhetik
nung der gläubigen Exilanten der als ketzerisch angesehenen Forschung der Babylonier. Der 14. Vers fasst knapp zusammen wofür Babylon in der Geschichte steht: «ciência e arte» (V. 14). Im jüdisch-christlichen Mythos um Babylon, wie er in den heiligen Schriften dargestellt wird, wird das Volk der Babylonier aufgrund ihrer fortschrittlichen Entwicklungen mit dem Vorwurf des Unglaubens behaftet. Dies ist Ausdruck der «amargura» (V. 13) sowie des in Vers 15 ausgedrückten «desprezo». Beide Begriffe spiegeln die in der Bibel festgehaltenen Empfindungen der Zwangsexilierten für ihre Unterdrücker. Nachdem von Vers zwölf bis 15 die Verse immer kürzer wurden, hebt sich der letzte Vers sowohl durch seine Länge als auch durch das Fehlen der Anapher «Com» deutlich vom restlichen Gedicht ab. Der Name der Stadt wird nochmals genannt, wodurch mit dem Titel ein Rahmen entsteht: «Babilónia nasceu de lodo e limo» (V. 16). Der Schlamm verweist auf den daraus gewonnen Lehm, mit dem die Stadt und ihre berühmte riesige Befestigungsanlage erbaut wurden. Somit bildet auch der restliche Vers einen Rückbezug zum Beginn des Gedichts, zur Beschreibung der Architektur. Jedoch verleiht die Personifikation, die durch die Metapher der Geburt konstruiert wird, der Entstehungsgeschichte der Stadt einen mythologischen Charakter. Das lyrische Ich beschreibt den Reichtum der Stadt, ihre Vielfalt und ihren Glanz. In dieser scheinbar harmlosen Beschreibung ist das Bild der Zerstörung durch die biblische Bedeutung der Stadt jedoch beständig zugegen. Denn auch in der Offenbarung des Johannes werden die Reichtümer der Stadt aufgezählt, nur um gleich darauf ihren Untergang zu beschwören.99 Die Thematisierung von Babylon in einem poetischen Text ist immer auch in metapoetischer Hinsicht aufschlussreich, da die biblische Metapher der Stadt Babylon das Thema der Verschlüsselung in sich trägt. So gilt die Stadt Babylon im ersten Petrusbrief des Neuen Testaments als Deckname für Rom, um letztere verdeckt als gottesfeindlich zu bezeichnen.100 Auch die Offenbarung des Johannes wird als eine verschlüsselte Kritik an der Stadt Rom ausgelegt. Demnach wurde Babylon schon im frühen Christentum als Metapher der sündigen, gottlosen Stadt stellvertretend für Rom verwendet. Man bediente sich einer Verschlüsselung, um Kritik an den römischen Machthabern zu üben, dessen Kaiser Christen verfolgten und keine göttliche Verehrung neben der eigenen duldeten. Das Gedicht «Babilónia» spiegelt somit nicht nur die biblische Darstellung Babylons, sondern ebenso die metaphorische Verwendung dieses Ortes als Kritik am Römischen Reich. In dieser zweiten Lesart können beispielsweise die 99 Offb 18, 1–24. 100 Vgl. C.-L. Hunzinger: Babylon als Deckname für Rom und die Datierung des 1. Petrusbriefs. In: Henning Graf Reventlow (Hrsg.): Gottes Wort und Gottes Land. Festschrift H.-W. Hertzberg. Göttingen 1965, S. 67–77.
II.4 Rückgriffe auf neuzeitliche Literaturgeschichte
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«deuses desenhados nas paredes» (V. 4) als Metapher der Kaiserbilder der römischen Herrscher gelesen werden, die einen Kaiserkult pflegten und sich wie Götter anbeten ließen. Damit wird in diesem Gedicht die Möglichkeit vorgeführt, die Metapher Babylon entsprechend ihrer Verwendung im Neuen Testament auf beliebige Orte als verdeckte Kritik anzuwenden, an denen ein Herrscherkult betrieben wird oder Andersgläubige verfolgt werden. So wird evident, dass das lyrische Ich weder von der historischen Stadt Babylon noch von Rom spricht, sondern sich selbst dieser antiken Verschlüsselungsmethode bedient, um über seine eigene Gegenwart sprechen zu können. Zwar ist im Gedicht kein eindeutiger Hinweis auf den Bildempfänger enthalten, jedoch umso deutlicher die Möglichkeit des Widerstands.
II.4 Rückgriffe auf neuzeitliche Literaturgeschichte Neben den Bezugnahmen auf die griechische sowie die biblische Tradition enthält das Werk Sophia Andresens immer wieder vertiefte Bezugnahmen auf Gattungen und Autoren der neuzeitlichen Literaturgeschichte. Im Folgenden soll der Fokus zunächst auf der Sonettdichtung liegen, welche die gesamte europäische Dichtungstradition tief geprägt hat. Für das Werk Andresens sind darüber hinaus sowohl die portugiesische Literaturgeschichte als auch die spanische Tradition von großer Bedeutung. Eine exemplarische Lektüre von Gedichten, die sich auf diese Traditionen beziehen, bildet den Abschluss dieses Kapitels.
II.4.1 Sonettdichtung Das Sonett ist eine der nachhaltigsten Gedichtformen fester Bauart, das sich von seiner Entstehung in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis in die Moderne erhalten hat. Der Mitte des 14. Jahrhunderts entstandene Canzoniere Petrarcas enthielt überwiegend Sonette, die in der Blütezeit des italienischen Petrarkismus im 15. und 16. Jahrhundert nach Spanien, Portugal, Frankreich und Deutschland gelangten und dort nachgeahmt wurden. In England entwickelte sich mit dem elisabethanischen Sonett eine eigene Sonettkultur. Nach Portugal kam das Sonett durch den Dichter Francisco Sá de Miranda (1481–1558), der nach einer Italienreise die literarischen Moden der Zeit in seiner Heimat einführte. Das italienische Sonett bestand aus vierzehn elfsilbigen Versen, unterteilt in zwei Quartette oder ein Oktett sowie zwei Terzette beziehungsweise ein Sextett. Die von Petrarca und seinen Nachahmern am häufigsten verwendeten Reimschemata etablierten sich als Formen hoher Sonettdichtung: abba-abba
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II Ethik und Ästhetik
und abab-abab für die Quartette sowie cde-cde und cdc-dcd für die Terzette. Thematisch handelte es sich bei den petrarkistischen Sonetten um Liebeslyrik, in der das lyrische Ich die Qualen seiner unerwiderten Liebe und die Abweisungen sowie die Schönheit seiner Angebeteten beschreibt. Die Unerfülltheit dieser Liebeskonzeption ist dabei die Inspiration des lyrischen Dichter-Ichs sowie Quelle seines Ruhms. Zu den bekanntesten portugiesischen Sonettdichtern gehören Luís de Camões und Antero de Quental (1842–1891), deren Werke Sophia Andresen bereits als Kind gelesen hatte.101 Ihr eigenes Oeuvre ist zwar deutlich durch offene Gedichtformen und freie Verse gekennzeichnet, jedoch finden sich darin auch einige Sonette.102 In ihrem «Soneto de Eurydice» greift Sophia Andresen den Orpheus-Mythos in der Sonettform auf, was den Gedichtzyklus Sonette an Orpheus (1922) von Rainer Maria Rilke in Erinnerung ruft. Arnaldo Saraiva hält fest, dass Sophia Andresen wie viele andere ihrer portugiesischen Kollegen Rilkes Werk in französischen Übersetzungen las. So besaß sie unter anderem eine Ausgabe der Sonette an Orpheus, handschriftlich datiert auf den Juli des Jahres 1938.103 Im Gegensatz zu Rilkes Dichtung steht in ihrem Sonett jedoch nicht die Figur des Orpheus im Mittelpunkt, sondern seine Frau Eurydike. Soneto de Eurydice 104 Eurydice perdida que no cheiro E nas vozes do mar procura Orpheu: Ausência que povoa terra e céu E cobre de silêncio o mundo inteiro
101 Vgl. António Guerreiro: Os poemas de Sophia, S. 56R. 102 «Em todos os jardins» (Poesia, 1944), «Kassandra» (Dia do Mar, 1947), «Catilina» (Dia do Mar, 1947), «Soneto à maneira de Camões» (Coral, 1950), «Soneto de Eurydice» (No Tempo Dividido, 1954), «As três parcas» (Mar Novo, 1958), «Corpo» (Mar Novo, 1958), «Esse que humano foi como um deus grego» (Dual, 1972). 103 Arnaldo Saraiva: Para a história da leitura de Rilke em Portugal e no Brasil. Porto: Árvore 1984, S. 9. Zur Rezeption Rilkes in Portugal vgl. Maria António Henriques Jorge Ferreira Hörster: Para uma história da recepção de Rainer Maria Rilke em Portugal (1920–1960). Lisboa: Fundação Calouste Gulbenkian 2001. 104 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 290 [No Tempo Dividido, 1954]. Dt.: «Sonett der Eurydike // Verlorene Eurydike die im Duft / Und in den Stimmen des Meeres Orpheus sucht. / Abwesenheit die Erde und Himmel bewohnt / Und die ganze Welt mit Stille bedeckt // So trank ich Nebelmorgen / Und hörte auf lebendig zu sein und ich zu sein / Auf der Suche nach einem Gesicht das meines war / Mein geheimes und wahres Gesicht. // Jedoch weder in den Gezeiten noch in der Luftspiegelung / Habe ich dich gefunden. Es erhob sich bloß / Das glatte und reine Gesicht der Landschaft. // Und langsam wurde ich transparent / Wie tot nach deinem Bild geboren / Und in der Welt fruchtlos verloren.» [Übersetzung d. Verf.]
II.4 Rückgriffe auf neuzeitliche Literaturgeschichte
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Assim bebi manhãs de nevoeiro E deixei de estar viva e de ser eu Em procura de um rosto que era o meu O meu rosto secreto e verdadeiro. Porém nem nas marés nem na miragem Eu te encontrei. Erguia-se somente O rosto liso e puro da paisagem. E devagar tornei-me transparente Como morta nascida à tua imagem E no mundo perdida esterilmente.
Bereits im Titel ist der Bezug zum Mythos um Orpheus und Eurydike hergestellt, dessen antike Vorlagen Vergils Georgica 105 sowie Ovids Metarmorphosen106 sind. Vergil zufolge starb Eurydike an einem Schlangenbiss, als sie vor Aristaios floh, der versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Orpheus stieg in die Unterwelt, um Hades durch die Macht seiner Gesangskunst davon zu überzeugen, Eurydike wieder in das Reich der Lebenden zu lassen. Tatsächlich waren Hades und seine Frau Persephone durch den Gesang des Orpheus gerührt und gaben seiner Bitte nach. Sie stellten jedoch die Bedingung, Orpheus dürfe sich auf dem Weg aus dem Totenreich heraus nicht nach Eurydike umsehen. Kurz bevor sie den Hades verließen, drehte Orpheus sich jedoch um und Eurydike blieb für immer in der Unterwelt zurück. Das Gedicht beginnt mit dem Namen «Eurydice» (V. 1), während «Orpheu» (V. 2) erst am Ende des zweiten Verses genannt wird. Zusammen bilden sie den Rahmen des ersten Verspaares, das durch ein Enjambement miteinander verbunden ist: «Eurydice perdida que no cheiro / E nas vozes do mar procura Orpheu» (V. 1–2). In der ersten Strophe wird somit Eurydice beschrieben, die auf der Suche nach ihren Mann Orpheus ist. Die darauffolgenden Verse erfassen das Ausmaß seiner Abwesenheit: «Ausência que povoa terra e céu / E cobre de silêncio o mundo inteiro» (V. 3–4). In «mar» (V. 2), «terra e céu» (V. 3) sowie «o mundo inteiro» (V. 4) wird seine definitive Unauffindbarkeit topographisch dargestellt. Die unmittelbare Konsequenz des beschriebenen Mangels ist Stille, «silêncio» (V. 4), die auf die mythische Macht der musikalischen Qualitäten des Orpheus verweist, die der Welt nun fehlen. So wird evident, dass
105 Vergil: Georgica, IV, 281–566. (Vergil: Georgica. Vom Landbau. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 1994, S. 126–143). 106 Ovid: Metamorphosen, Zehntes Buch, V. 1–105. (Ovid: Metamorphosen. Lateinisch/ Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht. Stuttgart: Reclam 1994, S. 511–517).
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II Ethik und Ästhetik
Eurydike ihn vergeblich «nas vozes» (V. 2) sucht, da seine Stimme nicht zu hören ist. Im Rückbezug auf den Mythos bedeutet dies für Eurydike, dass sie tatsächlich hoffnungslos verloren ist, wie es bereits in «perdida» (V. 1) angekündigt wird, da Orpheus nicht seine magische Gesangskunst einsetzt, um sie zu retten. Ab der zweiten Strophe spricht ein deutlich als weiblich gekennzeichnetes lyrisches Ich, das durch häufige deiktische Markierungen sehr präsent ist: «bebi» (V. 5), «deixei» (V. 6), «viva» (V. 6), «meu» (V. 7), «meu» (V. 8), «Eu» (V. 10), «encontrei» (V. 10), «tornei-me» (V. 12), «morta» (V. 13), «nascida» (V. 13), «perdida» (V. 14). In «Assim» (V. 5) vergleicht dieses weibliche lyrische Ich sein Schicksal mit dem der Eurydike. Dieser so hergestellte Bezug zur ersten Strophe wird im letzten Vers durch das Wiederaufgreifen von «perdida» (V. 1, 14) bestätigt. In der zweiten Strophe beschreibt das lyrische Ich in der Vergangenheitsform seine eigene Suche sowie die Folgen, die die Abwesenheit des Gesuchten für es hatte: «Assim bebi manhãs de nevoeiro / E deixei de estar viva e de ser eu» (V. 5–6). Die Orientierungslosigkeit wird hier im Anschluss an «perdida» (V. 1) durch die Metapher des Nebels wieder aufgegriffen. Durch die in «bebi» (V. 5) bildlich dargestellte Aufnahme des Nebels in den eigenen Körper vollzieht das lyrische Ich eine Verwandlung, die es von sich selbst entfernt: «deixei de estar viva e de ser eu» (V. 6). Die Unterscheidung zwischen «estar viva» (V. 6) und «ser eu» (V. 6) weist auf ein Selbstkonzept hin, das über das körperliche Überleben hinausgeht. Erläutert wird dies am Ende des zweiten Quartetts, wenn das lyrische Ich herausstellt, was es sucht: «Em procura de um rosto que era o meu / O meu rosto secreto e verdadeiro.» (V. 7–8). Das lyrische Ich sucht somit nicht nur nach dem Gesicht seines Geliebten, wie es der Logik des Mythos entspricht, sondern nach seinem wahren Ich. Die Wiederholung von «rosto» (V. 7, 8) und «meu» (V. 7, 8) unterstreicht die Dringlichkeit, welche die Suche nach der offensichtlich verlorenen Identität – «um rosto que era o meu» (V. 7) – für das lyrische Ich hat. Das Gesicht als Träger von Emotionen, Übermittler von Gedanken und Sprachrohr des Ichs ist hier Ausdruck des denkenden, fühlenden und handelnden Wesens. Die Metonymie des «rosto» (V. 7, 8) wird zudem als «secreto e verdadeiro» (V. 8) begriffen, das wahre Wesen des lyrischen Ichs liegt somit im Verborgenen. Im ersten der beiden Terzette beschreibt das lyrische Ich seine vergebliche Suche in der Natur und wendet sich dabei direkt an das gesuchte Objekt in einem lyrischen Du: «Porém nem nas marés nem na miragem / Eu te encontrei.» (V. 9–10). Die Gezeiten verweisen auf eine plötzlich auftretende, jedoch regelmäßige Veränderung, die der Macht der Natur unterliegt. Die darin enthaltene Schicksalsergebenheit assoziiert die zyklischen Kräfte von Leben und Tod. Dem wird mit dem Spiegel in «miragem» (V. 9) eine klassische Metapher der
II.4 Rückgriffe auf neuzeitliche Literaturgeschichte
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Selbsterkenntnis zur Seite gestellt. Beide Bilder sind starke Hinweise darauf, dass das lyrische Du im zehnten Vers mit dem im zweiten Quartett beschriebenen «rosto secreto e verdadeiro» (V. 8) gleichzusetzen ist. Die Spaltung des lyrischen Ich, die sich aus der Suche nach seinem wahren und geheimen Ich ergibt, wird im ersten Terzett nicht nur in den Gezeiten wieder aufgegriffen, sondern auch formal in der deutlichen Zäsur des zehnten Verses abgebildet: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Eu | te | en|con|trei. || Er|guia|-se | so|mente
Durch die Enjambements zwischen den Versen neun und zehn respektive zehn und elf führt die Zäsur nicht nur zu einer Teilung des einzelnen Verses, sondern des gesamten Terzetts. Der vergeblichen Suche nach dem «rosto secreto e verdadeiro» (V. 8) wird der «rosto liso e puro» (V. 11) gegenübergestellt, den das lyrische Ich stattdessen fand: «Erguia-se somente / O rosto liso e puro da paisagem.» (V. 10–11). Dies kann als Feststellung gelesen werden, dass das lyrische Ich bei seiner Suche nach sich selbst in der Natur nichts weiter als die Natur gefunden hat und es somit erfolglos war. Das zweite Terzett bestätigt den Misserfolg der Suche: «E devagar torneime transparente» (V. 12). Im Anschluss an «deixei de estar viva» (V. 6) wird in «tornei-me transparente» das Motiv der Verwandlung aufgerufen, das im Mittelpunkt der ovidischen Metarmorphosen steht. Das lyrische Ich vollzieht jedoch keine Verwandlung vom Leben in den Tod, sondern es begibt sich in einen todesähnlichen Zustand: «Como morta nascida à tua imagem / E no mundo perdida esterilmente.» (V. 13–14). In der unmittelbaren Nähe von Tod und Leben in «morta nascida» (V. 13) und dem abschließenden «esterilmente» (V. 14) wird eine Überlagerung von Leben und Tod angedeutet. Dabei stirbt das lyrische Ich nicht, es wird lediglich unsichtbar und, wie es im abschließenden Vers betont wird, ohne Nutzen verloren für die Welt: «no mundo perdida esterilmente» (V. 14). Anders als Eurydike sieht sich das lyrische Ich nicht von der Welt der Lebenden ausgeschlossen, es stirbt lediglich einen figurativen, emotionalen Tod. Es drückt sein Gefühl des Ich-Verlusts durch die Suche nach einem verlorenen Teil seines Selbst aus. Im Rückbezug auf den in der ersten Strophe aufgerufenen Mythos ergibt sich für das Gedicht zudem eine metapoetische Lesart. Orpheus ist als prototypischer Sänger und Dichter der griechischen Mythologie die personifizierte Dichtkunst. Sein Gesang hatte die Macht, den Tod zu überwinden. Durch sein Fehlen, also durch die Abwesenheit der Dichtung, ist das lyrische Ich, das hier weiblich markiert ist und sich mit Eurydike vergleicht, unvollkommen. In seiner Ganzheit besteht dieses Ich damit sowohl aus Orpheus als auch aus Eurydike. So ist es nicht nur die Dichtung des Orpheus, die
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II Ethik und Ästhetik
dem lyrischen Ich zu seiner Vollkommenheit fehlt, es ist gleichzeitig seine eigene. Das weibliche lyrische Ich dichtet über den fehlenden Gesang und spricht über das vermeintliche Schweigen. Es wird deutlich, dass es die Dichtung braucht, um sich lebendig zu fühlen. Ohne sie wird die Welt des lyrischen Ichs mit Stille überzogen und es selbst bewegt sich in einem Zustand zwischen Leben und Tod. Mit ihrem «Soneto de Eurydice» bewahrt Sophia Andresen die Charakteristika der Sonettform sowohl durch die traditionelle Architektur der Strophen als auch durch die Verwendung des decassílabo sowie des Reimschemas abbaabba-cdc-dcd. Durch das Aufgreifen des Mythos um Orpheus und Eurydike bewegt sich das Sonett auch inhaltlich innerhalb der Liebeskonzeption der Unerfülltheit, wodurch die Form ursprünglich geprägt wurde. Jedoch geht es hier nicht um die unerfüllte Beziehung zweier Liebenden, sondern um die Suche des lyrischen Ichs nach der Dichtkunst und seinem eigenen dichtenden Ich. Die darin ausgedrückte belebende Macht des Gesangs und die Möglichkeit der Erfüllung dieser Wirkung werden formal durch die Vollendung des Sonetts unterstrichen.
II.4.2 Portugiesische Tradition Sophia Andresen wurde von zahlreichen portugiesischen Dichtern geprägt. Nicht nur Antero de Quental und Luís de Camões, welche die Autorin selbst als frühe Einflüsse nennt,107 sondern auch Teixeira de Pascoaes und Cesário Verde haben im Schreiben Sophia Andresens Spuren hinterlassen. Am deutlichsten ist dies in den Gedichten zu erkennen, die an die einzelnen Autoren adressiert sind und in denen das lyrische Ich mit ihnen in einen Dialog tritt.108 Sehr stark ausgeprägt sind die Bezüge zur Dichtung der beiden großen portugiesischen Nationaldichter Luís de Camões und Fernando Pessoa. Nicht nur, dass Sophia Andresen die beiden Dichter mit Nachahmungen ihrer Stile ehrt, wie zum Beispiel in «Soneto à maneira de Camões» 109 oder in den Gedichten
107 Vgl. António Guerreiro: Os poemas de Sophia, S. 56R. 108 Sophia Andresen: Pascoaes. In: Dies.: Obra Poética, S. 721 [Ilhas, 1995], Sophia Andresen: Cesário Verde. In: Dies.: Obra Poética, S. 759 [Ilhas, 1995]. 109 Sophia Andresen: Soneto à maneira de Camões. In: Dies.: Obra Poética, S. 198 [Coral, 1950]. Ein weiteres bekanntes Gedicht zu Camões ist ebenso «Gruta de Camões» (In: Sophia Andresen: Obra Poética, S. 109 [Dia do Mar, 1947]). Zum Einfluss von Camões im Gesamtwerk Andresens vgl. Isabel Almeida: ‹Se nenhum amor pode ser perdido›. Sophia e Camões. In: Maria Andresen Sousa Tavares (Hrsg.): Sophia de Mello Breyner Andresen. Actas do Colóquio Internacional. Porto: Porto Editora 2013, S. 252–262.
II.4 Rückgriffe auf neuzeitliche Literaturgeschichte
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zu Ehren von Ricardo Reis,110 sie setzt sich ebenso mit den Dichtern in ihrer Funktion als nationale Symbole auseinander. Eines dieser Gedichte trägt den Titel «Camões e a tença». Das lyrische Ich beklagt darin die Beziehung des Vaterlandes zu seinen Dichtern und zu seinem Volk. Dabei lassen sich zwei camonianische Intertexte identifizieren. Zum einen verweist das Gedicht auf die letzten Strophen der Lusíadas, zum anderen ist die zweite Strophe an das erste Quartett des Sonetts «Erros meus, má Fortuna, Amor ardente» 111 angelehnt. Camões e a tença 112 Irás ao Paço. Irás pedir que a tença Seja paga na data combinada Este país te mata lentamente País que tu chamaste e não responde País que tu nomeias e não nasce Em tua perdição se conjuraram Calúnias desamor inveja ardente E sempre os inimigos sobejaram A quem ousou seu ser inteiramente
110 Das Kapitel «Homenagem a Ricardo Reis» ist Bestandteil des Bandes Dual und besteht aus sieben Gedichten (Sophia Andresen: Obra Poética, S. 547–555 [Dual, 1972]). Weitere mit Pessoa verbundene Gedichte sind «Cíclades» (Sophia Andresen: Obra Poética, S. 601–603 [O Nome das Coisas, 1977]), sowie «Em Hydra, Evocando Fernando Pessoa» (Sophia Andresen: Obra Poética, S. 576–577 [Dual, 1972]). Vgl. dazu Gustavo Rubim: O recorte do corpo: Sophia – Ricardo Reis – e a forma humana. In: Maria Andresen Sousa Tavares (Hrsg.): Sophia de Mello Breyner Andresen. Actas do Colóquio Internacional, S. 232–239; Anna M. Klobucka: Entre Orfeu e Odisseu. Negociações de género e sexualidade no diálogo Sophia-Pessoa. In: Maria Andresen Sousa Tavares (Hrsg.): Sophia de Mello Breyner Andresen. Actas do Colóquio Internacional, S. 240–245. 111 Vgl. Sofia de Sousa Silva: ‹Só a arte é didáctica’: Luís de Camões por Sophia de Mello Breyner Andresen. In: Floema. Caderno de Teoria e História Literária VI, Nr. 7 (2010), S. 123– 135, hier: S. 131 ff. 112 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 592 [Dual, 1972]. Dt.: «Camões und die Pension // Du wirst zum Palast gehen. Du wirst darum bitten, dass die Pension / Gezahlt werde zum vereinbarten Datum / Dieses Land bringt dich langsam um / Land, das du gerufen hast und das nicht antwortet / Land, das du benennst und das nicht entsteht // Zu deinem Verderben haben sie sich verschworen / Verleumdungen Geringschätzung glühender Neid / Und immer hatte mehr als genug Feinde / Wer es wagte ganz er selbst zu sein // Und diejenigen, die du anriefst, haben dich nicht gesehen / Weil sie krumm und gebeugt waren / Von der Geduld deren Hand aus Asche / Die Augen in ihrem Gesicht gelöscht hatte // Du wirst zum Palast gehen, du wirst geduldig gehen / Denn sie bitten dich nicht um Gesang, sondern um Geduld // Dieses Land bringt dich langsam um» [Übersetzung d. Verf.]
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II Ethik und Ästhetik
E aqueles que invocaste não te viram Porque estavam curvados e dobrados Pela paciência cuja mão de cinza Tinha apagado os olhos no seu rosto Irás ao Paço irás pacientemente Pois não te pedem canto mas paciência Este país te mata lentamente
Das Gedicht richtet sich explizit an ein lyrisches Du: «Irás […] Irás» (V. 1), «te» (V. 3), «tu chamaste» (V. 4), «tu nomeias» (V. 5), «tua» (V. 6), «invocaste» (V. 10), «te» (V. 10), «Irás […] irás» (V. 14), «te» (V. 15), «te» (V. 16). Im Rückbezug auf den Titel ist das lyrische Du mit dem portugiesischen Nationaldichter Camões besetzt. Zudem wird über die «tença» im Titel sowie über die ersten beiden Verse die Legende um den armen und zu Lebzeiten verkannten Dichter Camões aufgerufen, der vom König D. Sebastião, dem er sein Nationalepos gewidmet hatte, mit der Zusage einer kleinen Pension abgefunden wurde und diese dann weder pünktlich noch vollständig erhalten hat.113 Das lyrische Du erhält durch die ihm zugeordneten Verbformen «irás» (V. 1, 14), «irás pedir» (V. 1), «chamaste» (V. 4), «nomeias» (V. 5), «invocaste» (V. 10) einen aktiven Charakter, der auf die schöpferische Kraft des Dichters verweist. Diese wird einem passiven Land gegenübergestellt: «País que […] não responde / País que […] não nasce» (V. 4–5), «aqueles […] não te viram» (V. 10). Diese dem país zugeschriebene Passivität und Ignoranz, wird im Vers »Este país te mata lentamente» (V. 3, 16) zum Todesurteil. Hier ist auf einer ersten Ebene, in der «país» (V. 3, 16) ebenso wie «Paço» (V. 1) als Metonymie für die Machthaber steht, das physische Sterben des um seine Pension bettelnden Mannes gemeint. In einer zweiten Lesart stirbt jedoch auch der Dichter, da er nicht gesehen wird und durch die fehlende Rezeption und Anerkennung in der öffentlichen Wahrnehmung nicht existiert. In den beiden Quartetten wird eine feindliche Atmosphäre beschrieben. Gegen den Dichter verschworen sich «Calúnias desamor inveja» (V. 7). Hinter dieser gegen den Dichter gerichteten Trias stehen mit «Paço» (V. 1) zum einen die Machthaber und mit «país» (V. 3, 4, 5) das ganze Land, zum anderen sind
113 Der Wahrheitsgehalt dieser Begebenheit ist umstritten, vor allem weil seine Biographie im 19. Jahrhundert aus wenigen Quellen und seinem literarischen Werk rekonstruiert wurde. Jedoch ist sie als Legende fest im portugiesischen Gedächtnis verankert. Dieser Legende nach handelte es sich bei der Pension um 15.000 Reis, die Camões jährlich für einen Zeitraum von drei Jahren bekommen sollte. Vgl. Maria Vitalina Leal de Matos: Biografia de Luís de Camões. In: Vítor Aguiar e Silva (Hrsg.): Dicionário de Camões. Alfragide: Editorial Caminho 2011, S. 80b–94a, hier: S. 92a–93b.
II.4 Rückgriffe auf neuzeitliche Literaturgeschichte
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Neider insbesondere in den eigenen Reihen zu finden. Auf Camões bezogen kommen hier zeitgenössische Dichterkollegen in Frage und all jene, die den Rang des portugiesischen Nationaldichters anstreben. Ebenso spiegelt sich hier auf einer metapoetischen Ebene Sophia Andresens eigene Situation als Dichterin. In den Versen acht und neun wird die Ursache der Feindschaft benannt. Es ist das Bestehen auf der persönlichen Freiheit, «seu ser inteiramente» (V. 9), das ein Wagnis, «ousou» (V. 9), darstellt und viele Feinde mit sich bringt. Das Fehlen der Freiheit und die Gefahr, die darin besteht, sie einzufordern, sind ein deutlicher Verweis auf das Leben innerhalb eines autoritären Systems. Das Zeitadverb «sempre» (V. 8) verweist zudem auf die Zeitlosigkeit des Beschriebenen und erklärt es damit für alle diktatorischen Systeme als allgemeingültig. In der dritten Strophe verweist das lyrische Ich auf diejenigen, die Camões mit seinen Lusíadas anrief und die ihn nicht beachteten: «aqueles que invocaste não te viram» (V. 10). Durch den Zusatz «Porque estavam curvados e dobrados» (V. 11) wird deutlich, dass hier das einfache Volk gemeint ist, das in gebeugter und somit unterdrückter Stellung leben muss. Das Ausmaß der Untergebenheit wird durch die metaphorische Tautologie «curvados e dobrados» (V. 11) anschaulich, die durch eine weitere Metapher verstärkt wird: «Pela paciencia cuja mão de cinza / Tinha apagado os olhos no seu rosto» (V. 12–13). Die Geduld als Fähigkeit, zu warten und seine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, ist hier eine Voraussetzung für Passivität und die Ursache der Unterwerfung. Sie wird über die ihr zugeschriebenen Körperteile «mão» (V. 12), «olhos» (V. 13) und «rosto» (V. 13) personifiziert dargestellt. Das Bild des durch die aschene Hand gelöschten Augenlichts verweist auf eine durch die Geduld verursachte metaphorische Blindheit. Das Volk kann also Camões nicht ‹sehen›, da es arm und unterdrückt ist und zudem gelernt hat, diesen Zustand geduldig hinzunehmen. In der vierten Strophe wird sowohl der erste Vers des Gedichts mit «Irás ao Paço» (V. 14) anaphorisch wiederholt als auch das Thema der Geduld mit «irás pacientemente» (V. 14) und «paciência» (V. 15) wieder aufgegriffen. Im ersten Vers wurden die beiden Teilsätze mit einem Punkt voneinander getrennt, der die einzige Form der Interpunktion im gesamten Gedicht darstellt. In Vers 14 werden die beiden Sätze ohne Interpunktion aneinandergereiht, was den Lesefluss beschleunigt und somit formal der thematisierten Geduld entgegensteht. Als Antwort auf die Bitte der ersten Strophe «Irás pedir que a tença / Seja paga na data combinada» (V. 1–2) erfolgt nun eine Gegenbitte: «não te pedem canto mas paciencia» (V. 15). Das lyrische Du wird um Geduld gebeten, was bedeutet, seine eigenen Bedürfnisse für unbestimmte Zeit zurückzustellen. Tatsächlich fehlt der Bezug auf die «data combinada» (V. 2), denn es wird in der Antwort keine konkrete Angabe darüber gemacht, bis wann es sich gedulden soll. Im
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II Ethik und Ästhetik
selben Vers wird durch «não te pedem canto» (V. 15) ebenso die Geringschätzung des dichterischen Werks deutlich, denn es bleibt nicht nur unbeachtet, es ist sogar unerwünscht. Auffällig ist hier, dass das Tempus der Gegenwart in «pedem» (V. 15) den Vers von den vorausgehenden Versen unterscheidet, was dieser Tatsache einen Anschein von Allgemeingültigkeit verleiht. Die letzte Strophe des Gedichts besteht nur aus einem Vers, der den gesamten dritten Vers «Este país te mata lentamente» (V. 3, 16) wiederholt. Auch hier wirkt das Tempus des Präsens ernüchternd, denn es sorgt zusammen mit dem Adverb «lentamente» (V. 3) für den Eindruck eines in der Vergangenheit begonnenen, gegenwärtigen und unendlich andauernden Sterbeprozesses des lyrischen Dus. Die Agonie wird formal unterstrichen durch die immer kürzer werdenden Strophen innerhalb des Gedichts. Nach der ersten Strophe, die aus fünf Versen besteht, folgen zwei Quartette, darauf eine Strophe mit zwei Versen und zum Schluss ein einzelner Vers. Das Gedicht schrumpft förmlich, bis letztendlich das Sterben in der letzten einversigen Strophe durch die Wiederholung der Ankündigung des Todes und die darauffolgende Stille gewiss wird. Während Sophia Andresen insgesamt eher den freien Vers bevorzugt, ehrt sie den portugiesischen Nationaldichter hier durch die Verwendung der klassischen Versform des decassílabo. Zudem verbirgt sich in dem Gedicht formal die Möglichkeit zweier Oktette. Die letzten drei Verse bilden vor allem durch die Wiederholungen eine paradigmatische und syntaktische Einheit mit der ersten Strophe. Ebenso bilden die beiden Quartette der zweiten und dritten Strophe ein Oktett. Damit evoziert das Gedicht formal die Strophen der Lusíadas und unterstreicht so die Apostrophe an Camões. Auch inhaltlich lassen sich camonianische Intertexte herauslesen. Ein auffälliger Bezug besteht zu den letzten Strophen der Lusíadas, in denen sich Camões nach der Ankunft in Lissabon direkt an seinen König D. Sebastião richtet. So beklagt er sich: Nô mais, Musa, nô mais, que a Lira tenho Destemparada e a voz enrouquecida, E não do canto, mas de ver que venho Cantar a gente surda e endurecida.114
Auch hier wird die fehlende Wahrnehmung des dichterischen Werks metaphorisch durch eine beschädigte Fähigkeit der Sinneswahrnehmung ausgedrückt. Wie bei Camões bezieht sich auch das lyrische Ich Sophia Andresens auf die Taubheit der Menschen, «não responde» (V. 4), und verstärkt die Metapher zusätzlich durch das Bild der Erblindung: «não te viram» (V. 10), «Tinha apaga-
114 Luís de Camões: Os Lusíadas, Canto X, 145, V. 1–4 (Luís de Camões: Os Lusíadas. Herausgegeben von Amélia Pinto. Porto: Areal 1996, S. 611).
II.4 Rückgriffe auf neuzeitliche Literaturgeschichte
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do os olhos» (V. 13). Bei Camões wird in den zitierten Versen ebenso deutlich, dass zuvor noch Hoffnung vorhanden war, erhört zu werden, die jedoch enttäuscht wurde. Dies verweist auf die eigentliche Belohnung, die Camões sich erhofft hat und die eben nicht aus materieller Vergütung besteht, sondern aus Ruhm und Ehre für sein dichterisches Werk. Das Verschmähen materieller Güter wird in der ausgedrückten Abscheu gegenüber der Goldgier des Volkes deutlich, die mit dessen Verrohung einhergeht: O favor com que mais se acende o engenho Não no dá a pátria, não, que está metida No gosto da cobiça e na rudeza Dũa austera, apagada e vil tristeza.115
Wie Camões benutzt Sophia Andresen das Partizip apagado, das der Masse einen Zustand der Betäubung und Gleichgültigkeit zuschreibt. Beide reflektieren über die Rolle des Dichters und das Problem der fehlenden Rezeption. Camões beklagt die Ungebildetheit und die Goldgier, die aus Armut resultiert, für die er die Machthaber verantwortlich macht. In ihren Metaphern beziehen sich beide auf die Unfähigkeit, zu lesen, was als deutlicher Hinweis auf das Problem des Analphabetismus gesehen werden kann, der auch im Estado Novo ein großes Problem war. Zudem wurde die Rezeption zu dieser Zeit durch die Zensur beeinträchtigt. Auch hier sind die Machthaber verantwortlich, die ihr Volk bewusst ungebildet halten, um den Wunsch nach persönlicher Freiheit im Keim zu ersticken. Trotz dieser pessimistischen Sicht auf die eigene Zeit wurde Camões und sein Hauptwerk der Lusíadas aufgrund deren Glorifizierung der portugiesischen Geschichte und der Zuschreibung einer Portugal vorbestimmten Größe im Estado Novo als nationalistisches Symbol gefeiert. Die politische Instrumentalisierung der Lusíadas nahm ihren Ursprung im 19. Jahrhundert und erreichte einen Höhepunkt bei den offiziellen Feierlichkeiten zur 300. Jährung von Camões’ Todestag im Juni 1880.116 Danach wurden die Lusíadas als Gründungsmythos einer nationalen Identität gerne von den Republikanern zitiert, und auch in der Propaganda für den Eintritt Portugals in den Ersten Weltkrieg wurden die zahlreichen Heldengeschichten aus den Lusíadas benutzt. So war die propagandistische Instrumentalisierung des Dichters und seines Werks keine Erfindung des Estado Novo. Doch auch das Salazar-Regime versuchte durch die Erinnerung
115 Luís de Camões: Os Lusíadas, Canto X, 145, V. 5–8 (Luís de Camões: Os Lusíadas. Herausgegeben von Amélia Pinto. Porto: Areal 1996, S. 611). 116 Vgl. Alan Freeland: The people and the poet: Portuguese national identity and the Camões tercentenary. In: Clare Mar-Molinero/Angel Smith (Hrsg.): Nationalism and the Nation in the Iberian Peninsula: Competing and Conflicting Identities. Oxford: Berg 1996, S. 53–67.
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an sein Werk den Mythos von der großen portugiesischen Nation aufrecht zu erhalten, die er in den letzten Strophen der Lusíadas verkündet hat.117 Durch die Hervorhebung der zeitkritischen Elemente in den Lusíadas sowie der prekären Situation des Dichters zu seinen Lebzeiten, stellt sich Sophia Andresen mit ihrem Gedicht der populistischen Camões-Rezeption entgegen. Zudem verankert sie den dargestellten Vorwurf der Geringschätzung von Kunst und Künstlern in der Gegenwart und macht so darauf aufmerksam, dass diese Problematik in ihrer Zeit nicht überwunden ist.
II.4.3 Spanische Tradition Was die spanische Literatur betrifft, war es Federico García Lorca (1898–1936), der Sophia Andresen am stärksten prägte.118 Lorca hat viele portugiesische Dichter beeinflusst, unter anderem Pedro Homem de Melo, Armindo Rodrigues, Eugénio de Andrade und Manuel da Fonseca.119 Zudem widmeten ihm zahlreiche Dichter nach seinem Tod einzelne Gedichte. Die Ermordung Lorcas durch franquistische Militärs in der Nähe von Granada ist auch Thema in einem der Gedichte Andresens. Darin betrauert ein lyrisches Wir den Tod Lorcas, identifiziert deutlich die Umstände seines Todes als Verbrechen und beschreibt den immerwährenden Schmerz und die anhaltende Empörung über diese Tat. Túmulo de Lorca 120 Em ti choramos os outros mortos todos Os que foram fuzilados em vigílias sem data
117 Zum Beispiel durch seine Statue auf dem «Monumento aos Descobrimentos» in Lissabon, das ursprünglich für die «Exposição do Mundo Português» im Jahre 1940 errichtet wurde. 118 Eduardo Prado Coelho: Sophia de Mello Breyner Andresen fala a Eduardo Prado Coelho. In: ICALP Revista Nr. 6 (1986), S. 60–77, hier S. 76: «Por exemplo, um dos poetas que mais me influenciaram foi o Lorca – ninguém diria … – mas há no Lorca aquelas superimagens a que eu chamo «imagens que dão a volta», e que são metáforas muito especiais.» 119 Manuel G. Simões: A recepção literária de García Lorca em Portugal. In: M. Rosa Álvarez Sellers (Hrsg.): Literatura portuguesa y literatura española: influencias y relaciones. Valencia: Universitat de València 1999 (Cuadernos de Filologia XXXI), S. 71–80. 120 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 461 [Geografia, 1967]. Dt.: «Lorcas Grab // In dir beweinen wir all die anderen Toten / Die erschossen wurden bei Nachtwachen ohne Datum / Die sich namenlos verlieren im Schatten der Verließe / So vergessen dass wir noch nicht einmal fragen / können nach ihnen, uns ihr Gesicht vorstellen / Wir beweinen ohne Trost diejenigen, die erliegen / Zwischen den Hörnern der Wut unter dem Gewicht der Gewalt. // Wir können es nicht hinnehmen. Dein Blut trocknet nicht / Wir ruhen nicht in Frieden bei deinem Tod / Die Stunde deines Todes dauert an, nah und heftig / Und der Boden, in den sie dein Grab geöffnet haben, / Gleicht einer Wunde, die sich nicht schließt // Dein Blut hat weder Mündung noch Ausweg gefunden / Von Nord bis Süd von Ost
II.4 Rückgriffe auf neuzeitliche Literaturgeschichte
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Os que se perdem sem nome na sombra das cadeias Tão ignorados que nem sequer podemos Perguntar por eles imaginar seu rosto Choramos sem consolação aqueles que sucumbem Entre os cornos da raiva sob o peso da força Não podemos aceitar. O teu sangue não seca Não repousamos em paz na tua morte A hora da tua morte continua próxima e veemente E a terra onde abriram a tua sepultura É semelhante à ferida que não fecha O teu sangue não encontrou nem foz nem saída De Norte a Sul de Leste a Oeste Estamos vivendo afogados no teu sangue A lisa cal de cada muro branco Escreve que tu foste assassinado Não podemos aceitar. O processo não cessa Pois nem tu foste poupado à patada da besta A noite não pode beber nossa tristeza E por mais que te escondam não ficas sepultado
Im ersten Vers von «Túmulo de Lorca» wendet sich das lyrisches Wir an ein lyrisches Du, dessen Tod es als einen von vielen beweint, «Em ti choramos os outros mortos todos» (V. 1). Die darauffolgenden Verse enthalten im Rückbezug auf diese «outros mortos todos» (V. 1) Informationen über die Gemeinsamkeiten, die zwischen den Umständen des Todes des lyrischen Du und denen der unbekannten Toten bestehen. Dabei wird zunächst der Tatbestand des Mordes hervorgehoben. Dieser wird durch Einzelheiten näher beschrieben, die auf die Vertuschung des Verbrechens hinweisen. In «fuzilados em vigílias sem data» (V. 2) wird die Unbestimmtheit des Zeitpunkts der Ermordung festgehalten und somit die nicht erfolgte Dokumentation der tatsächlichen Morde, in «sem nome» (V. 3) die gewalttätige Anonymisierung der Opfer. Die Verse «Tão ignorados que nem sequer podemos / Perguntar por eles imaginar seu rosto» (V. 4–5) fassen zusammen, dass die Ungewissheit über die Identität der Opfer dazu führt, dass das lyrische Wir weder über sie sprechen – «Perguntar por eles» (V. 5) – noch ihrer gedenken kann – «imaginar seu rosto» (V. 5). Deshalb wird der Tod derer,
bis West / Wir leben versunken in deinem Blut / Der glatte Kalk aller weißen Mauern / Schreibt dass du ermordet worden bist // Wir können es nicht hinnehmen. Der Prozess endet nicht / Denn nicht einmal du wurdest verschont vom Hieb der Bestie / Die Nacht kann unsere Traurigkeit nicht trinken / Und so sehr sie dich auch verstecken, du wirst nicht beerdigt» [Übersetzung d. Verf.]
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deren Gedenken unmöglich gemacht wurde, stellvertretend im Tod Lorcas beweint: «Em ti choramos» (V. 1). Im August 1936 wurde Lorca – wie in der Strophe beschrieben – an einem nicht genau bekannten Ort zusammen mit anderen Gefangenen erschossen und begraben, jedoch wurde dieses Grab nie gefunden und niemand weiß, wie viele Opfer des Bürgerkriegs dort insgesamt liegen.121 In der Beschreibung der Menge an Gefangenen, die nie wieder zurückkehren, «que se perdem sem nome na sombra das cadeias» (V. 3), und Opfer der unkontrollierbaren Gewalt werden, «aqueles que sucumbem / Entre os cornos da raiva sob o peso da força» (V. 7), wechselt das lyrische Wir ins Präsens, so dass aus der zeitlichen Perspektive das dargestellte Morden in der Gegenwart andauert. Gegen diesen Zustand formuliert das lyrische Wir ab der zweiten Strophe deutlich seinen Widerstand: «Não podemos aceitar.» (V. 8). Am Beispiel Lorcas, der zuvor als Stellvertreter einer unbekannten Größe von Opfern deklariert wurde, führt das lyrische Wir in der Folge aus, wie präsent das Geschehen in seiner Gegenwart ist: […] O teu sangue não seca Não repousamos em paz na tua morte A hora da tua morte continua próxima e veemente E a terra onde abriram a tua sepultura É semelhante à ferida que não fecha (V. 9–12)
Die Metaphern der sich nicht schließenden Wunde und des noch nicht getrockneten Blutes drücken den Schmerz, den das lyrische Wir nach wie vor über den Verlust empfindet, durch Bilder aus, die auf den Mord zurückweisen, und stellen damit eine unmittelbare Nähe zur Tat her. Dies wird nicht nur metaphorisch dargestellt sondern auch explizit formuliert: «A hora da tua morte continua próxima e veemente» (V. 10). Das Bild des nicht getrockneten Blutes wird in der dritten Strophe weiter ausgeführt. Das lyrische Wir beschreibt in einer topographischen Metapher das Blut Lorcas als einen nicht versiegenden Strom, der sich in alle Himmelsrichtungen ausbreitet und alles überschwemmt. Die Unerträglichkeit des Zustands wird in dem antithetischen Bild deutlich, welches das lyrische Wir im 15. Vers beschreibt: «Estamos vivendo afogados no teu sangue» (V. 15). In der Allgegenwärtigkeit des Blutes wird ebenso die Sichtbarkeit der Tat offenbart, die das lyrische Wir am Ende der Strophe metapoetisch ausformuliert: «A lisa cal de cada muro branco / Escreve que tu foste
121 Vgl. Ian Gibson: La represión nacionalista en Granada en 1936 y la muerte de García Lorca. Paris: Ruedo Ibérico 1971.
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assassinado» (V. 16–17). Durch die schriftliche Fixierung der Tat werden ihr Vergessen und ebenso das Vergessen der Schuld verhindert. In der Wiederholung von «Não podemos aceitar» (V. 18) zu Beginn der letzten Strophe beteuert das lyrische Wir nochmals seinen Willen zum Widerstand. Die darin enthaltene Weigerung, die beschriebenen Geschehnisse zu akzeptieren, enthält einen Aufruf gegen das Vergessen und gegen das stille Erdulden der andauernden Gewalt. Die Trauer des lyrischen Wir werde nicht einfach über Nacht verschwinden, «A noite não pode beber nossa tristeza» (V. 20), doch es drückt zuletzt seine Zuversicht aus, dass die Methoden der Täter, die Wahrheit zu verdecken, erfolglos bleiben werden: «E por mais que te escondam não ficas sepultado» (V. 21). Die Versuche, die Wahrheit zurückzuhalten, werden demnach zum Gegenteil führen und den Tod Lorcas in der Gegenwart präsent halten. Der Fokus des Gedichts liegt auf Lorca und der unbekannten Anzahl der Opfer des Bürgerkriegs und des Franquismus sowie autoritärer Gewalt im weitesten Sinne. Die Täter bleiben im Gedicht vage und sind lediglich in den Verbformen «abriram» (V. 11) und «escondam» (V. 21) markiert. Es steht weniger ihre Identität im Vordergrund der Anklage, sondern vielmehr ihre Taten sowie die Methoden, diese zu verbergen. Das lyrische Wir macht jedoch deutlich, dass es kein Vergessen dieser Geschehnisse geben darf.
III Dichtung als Chronographie Einleitung: Zur Zeithaltigkeit von Dichtung Paul Celan postulierte in seiner Rede zum Bremer Literaturpreis im Jahr 1958: Das Gedicht ist nicht zeitlos. Gewiß, es erhebt einen Unendlichkeitsanspruch, es sucht, durch die Zeit hindurchzugreifen – durch sie hindurch, nicht über sie hinweg.1
Celan widersprach in seiner Bremer Ansprache der Rede von der Zeitlosigkeit des Gedichts, und verstand stattdessen die Bewegung des Gedichts als eben nicht an der Zeit und der Geschichte vorbei, sondern als etwas, das durch sie hindurch führt. Die historische Zeit schreibe sich stets in ein Gedicht ein. Auch wenn die historischen Konstellationen im Hinblick auf Celan gänzlich unterschiedlich sind, finden sich in Sophia Andresens Nachdenken über die Zeithaltigkeit von Dichtung ähnliche Reflexionen, ja Berührungspunkte zu Celans Dichtungsverständnis. Sophia Andresen hat in ihrem poetischen Schreiben die Zeithaltigkeit poetischer Texte als Modus von Kritik verstanden. Ihre Gedichte beziehen sich über Verweise auf Orte, Personen, Ereignisse zuweilen direkt auf die historische Zeit. «A minha relação com a História é quase invisível, mas muito profunda»,2 erklärte sie einmal im Interview. Dieser Kommentar ist aufschlussreich und zeigt, dass für die Autorin die Frage der Sichtbarkeit von Bezügen – hier auf die Geschichte – keine Auskunft erteilt über den Grad ihrer Intensität. Sie habe stets versucht, so Andresen weiter, ihre Gedichte zeitlich nicht zu stark zu markieren – bis auf die sogenannten «poemas de ‹resistência›».3 Sophia Andresen stellt hier also selbst eine Verbindung her zwischen
1 Paul Celan: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen [1958]. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Dritter Band: Gedichte III. Prosa. Reden. Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitw. v. Rolf Bücher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 186. 2 António Guerreiro: Os poemas de Sophia, S. 56R. 3 Ebda., S. 54R: «A não ser os meus poemas de «resistência», chamemos-lhes assim, sempre procurei que os meus textos não fossem datados.» Dass mit datados nicht lediglich die bloße Datierung der Texte gemeint ist, lässt sich dem darauffolgenden Abschnitt entnehmen. Darin erklärt sie, dass sie bei einer ihrer Erzählungen die starke Referenz zur Wirklichkeit bereut: «Quando leio o meio conto «O Jantar do Bispo», penso que deveria tê-lo feito de uma maneira menos datada, porque hoje em dia já encontramos là muita coisa que não faz sentido, todas as referências ao Estado Novo, muito embora a ideia fundamental permaneça actual.» (Ebda., S. 54R). https://doi.org/10.1515/9783110525144-004
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III Dichtung als Chronographie
dem widerständigen Gehalt von Gedichten und der Bedeutung von deren Zeithaltigkeit.4 Dieses Teilkapitel soll veranschaulichen, dass nicht nur explizite historische Markierungen von Gedichten Sophia Andresen als chronographische Mittel der Kritik dienten. Es werden auch Gedichte untersucht, die sich etwa mit Fragen von Zeitempfinden befassen oder um Chronotopoi wie die Revolution kreisen. Dies geschieht mit dem Ziel, zu zeigen, dass auch diese Texte durch ihre Zeithaltigkeit ebenso von einer widerständigen Ästhetik gekennzeichnet sind wie die Texte, die allein durch deiktische Merkmale und ihre innere Zeitstruktur auf die äußere Zeit verweisen. Das folgende Kapitel liest also die Zeithaltigkeit der Gedichte Sophia Andresens – neben der dichterischen Auseinandersetzung mit dem Diskurs des Estado Novo in Kapitel I und der Demonstration des widerständigen Potentials der lyrischen Form in Kapitel II – als dritten Modus ihrer kritischen Ästhetik. So werden in einem ersten Schritt Gedichte untersucht, welche Charakterisierungen der Gegenwart vornehmen, das Zeitempfinden des lyrischen Ichs beschreiben und metapoetisch akzentuierte Aussagen über Zeit machen. In einem zweiten Schritt wird die Auseinandersetzung mit Vergangenem anhand von Gedichten beleuchtet, die Zeugnis ablegen und Erinnerungen an Ereignisse, Personen und Orte festhalten. Das Kapitel schließt mit der Untersuchung der Gedichte, die um das Jahr 1974 herum entstanden sind und anhand derer die rasante Entwicklung von Gegenwartskritik über Gegenwarts- und Zukunftseuphorie bis hin zu rückblickender Ernüchterung und zweifelnden Zukunftsausblicken nachvollzogen werden kann.
III.1 Zeitkritik III.1.1 Charakterisierung der Gegenwart Die für dieses Kapitel ausgewählten Gedichte stammen aus den Bänden Mar Novo von 1958 sowie Livro Sexto von 1962 und ähneln sich durch ihre deutliche Hervorhebung von Zeit als Gegenstand des poetischen Texts. Dies geschieht zunächst durch eine starke Markierung der Temporaldeixis als Gegenwart des lyrischen Ichs, die im Folgenden als Zeitkritik der Autorin verstanden werden
4 Als «poemas de resistência» werden im Allgemeinen die Gedichte der Antologie Grades bezeichnet: Sophia Andresen: Grades. Antologia de Poemas de Resistência. Lisboa: Publicações Dom Quixote 1970. Vgl. auch Saraiva/Lopes: História da literatura portuguesa, S. 1099; Óscar Lopes, Os sinais e os sentidos. Literatura portuguesa do século XX, S. 111 f.
III.1 Zeitkritik
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soll. In «Este é o tempo» beschreibt das lyrische Ich seine Zeit als düster, beengend und bitter. Este é o tempo Da selva mais obscura Até o ar azul se tornou grades E a luz do sol se tornou impura Esta é a noite Densa de chacais Pesada de amargura Este é o tempo em que os homens renunciam.5
Das Gedicht wird nicht nur durch die vier unterschiedlich langen Strophen gegliedert, sondern auch durch die sich wiederholenden anaphorischen Einleitungen der ersten, dritten und vierten Strophe in drei Sinnabschnitte geteilt: «Este é o tempo» (V. 1), «Esta é a noite» (V. 5) und «Este é o tempo» (V. 8).6 Dabei entsprechen die ersten beiden Strophen dem ersten Abschnitt während die beiden folgenden Abschnitte mit der dritten und vierten Strophe übereinstimmen. Auf die sich wiederholenden Einleitungen folgt jeweils eine Charakterisierung der Atmosphäre, die sich im Laufe des Gedichts zunehmend verdüstert. Die Demonstrativpronomina «Este» (V. 1, 8) und «Esta» (V. 5) sowie die Verwendung des Präsens stellen deutlich die Gegenwärtigkeit der beschriebenen Zeit und Nacht heraus. Zudem verweist die Verwendung der bestimmten Artikel «o» (V. 1, 8) und «a» (V. 5) auf eine Pluralität verschiedener Zeiten sowie einen festen Zeitenverlauf. Ebenso wird durch die Demonstrativpronomina deutlich, dass hier der Blick ohne Einschränkung in eine einzige Richtung gelenkt werden soll. Dieser demonstrative Charakter des Texts weist auf eine durch das lyrische Ich intendierte Enthüllung hin, dessen Objekt die Zeit ist. Im ersten Sinnabschnitt, den ersten beiden Strophen, werden die Dunkelheit sowie der Prozess der Verdunkelung beschrieben. Die «selva mais obscura» (V. 2), die durch die pleonastische Formulierung als besonders dunkel dargestellt wird, ist nicht nur Symbol der Verborgenheit und Täuschung sowie
5 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 338 [Mar Novo, 1958]. Dt.: «Dies ist die Zeit / Der dunkelsten Wildnis // Sogar der blaue Himmel wurde zu Gittern / Und das Licht der Sonne wurde unrein // Dies ist die Nacht / Dicht von Schakalen / Schwer von Bitterkeit // Dies ist die Zeit, in der die Menschen aufgeben» [Übersetzung d. Verf.] 6 Eine ähnliche Struktur findet man in dem Gedicht «Eurydice I» aus No tempo Dividido (1954): «Este é o traço em redor do teu corpo amado e perdido / Para que cercada sejas minha / Este é o canto do amor em que te falo / Para que escutando sejas minha / Este é o poema – engano do teu rosto / No qual busco a abolição da morte.»
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III Dichtung als Chronographie
ein Ort des Geheimnisses und der unheimlichen oder verbotenen Begegnung, sondern auch ein intertextueller Verweis auf die prominente «selva oscura» aus den ersten Versen von Dantes Commedia.7 Nel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura, che la diritta via era smarrita.8
Die «selva oscura» erscheint in Dantes Werk als «Zeichen der Abkehr vom Weg des rechten Lebens.» 9 Lawrence Warner legt jedoch dar, dass Dantes dunkler Wald nicht nur als Ort der Sünde und des spirituell verlorenen und moralisch verirrten Wanderers zu deuten ist, sondern ebenso als Allegorie der Heiligen Schrift fungiert, wie beispielweise bei Augustinus und Bonaventura.10 In dieser allegorischen Verwendung verweist der Wald auf die Obskurität der Bibel, die eine intellektuelle Herausforderung an den Leser darstellt, da der biblische Text diesen durch seine Beschaffenheit zur Deutung aufruft.11 Mit der Metapher der «selva mais obscura» (V. 2) beschreibt das Gedicht also nicht nur einen dunklen Ort voller Geheimnisse, sondern auch die Herausforderung, welche von diesem obskuren Ort ausgeht sowie das Bedürfnis, ihn zu durchdringen und ihn zu befragen. Zudem wird darin metapoetisch auf die Notwendigkeit der Entschlüsselung des vorliegenden Texts verwiesen. Gleichzeitig wird mit dem Verweis auf Dantes Inferno das Thema der Unterwelt evoziert, das im weiteren Verlauf des Gedichts noch verdichtet wird. Dem Zustand der Obskurität geht ein Prozess der Verdunkelung voraus: «Até o ar azul se tornou grades / E a luz do sol se tornou impura» (V. 3–4). In diesen Versen wird ein Wendepunkt beschrieben, der in der Vergangenheit stattgefunden und die Zustände in ihr Gegenteil gekehrt hat. So verwandelte sich «o ar azul» (V. 3), Symbol der Freiheit, in «grades» (V. 3), die Gefangenschaft und Unterdrückung symbolisieren, und das Sinnbild von Reinheit, «a luz do sol» (V. 4), erfuhr eine Trübung und ist nun unrein. Das zweimalig wiederholte Präteritum «se tornou» (V. 3, 4) zeigt an, dass in der vergangenen Zeit, der Himmel noch blau und die Luft rein war. Mit der Verwandlung des Him-
7 Vgl. Günther Butzer/Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 470b. 8 Dante Alighieri: La Commedia / Die Göttliche Komödie. I. Inferno / Hölle. Italienisch / Deutsch. In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Stuttgart: Reclam 2012, S. 8. 9 Günther Butzer/Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 470b. 10 Vgl. Lawrence Warner: The Dark Wood and the Dark Word in Dante’s Commedia. In: Comparative Literature Studies 32, Nr. 4 (1995), S. 449–478, hier: S. 449 f. 11 Vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen: Francke Verlag 102010, S. 13–18.
III.1 Zeitkritik
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mels in Gitter wird die beschriebene Gegenwart zu einem Gefängnis. Gleichzeitig bedeutet die Unreinheit des Sonnenlichts eine zusätzliche Verdunkelung des Himmels, was als Zeichen drohenden Unheils gilt. Die Verfinsterung der Sonne ist auch eines der apokalyptischen Bilder sowie bei Homer ein Hinweis auf den Übergang zum Eingang des Hades und damit zum Reich der Toten: Und die Sonne sank und Dunkel umhüllte die Pfade. Jetzo erreichten wir des tiefen Ozeans Ende. Allda liegt das Land und die Stadt der kimmerischen Männer. Diese tappen beständig in Nacht und Nebel, und niemals Schauet strahlend auf sie der Gott der leuchtenden Sonne, Weder wenn er die Bahn des sternichten Himmels hinansteigt, Noch wenn er wieder hinab vom Himmel zur Erde sich wendet: Sondern schreckliche Nacht umhüllt die elenden Menschen. 12
Auch im Gedicht wird an die Dunkelheit die Thematisierung der Nacht in «Esta é a noite» (V. 5) angeknüpft. Die Nacht wird charakterisiert als «Densa de chacais» (V. 6) und durch die Tiermetapher des Schakals, der als Aasfresser für Ausbeutung und Opportunismus steht,13 wird sie zur Gefahr für Schwache erklärt. Zudem sind Schakale in der Bibel ein Indiz für Zerstörung, da sie die Ruinen verwüsteter Städte bewohnen14 oder ganze Ernten vernichten.15 Ferner ist der Schakal in der ägyptischen Mythologie eine Darstellungsform des Totengottes Anubis, der Verstorbene in die Unterwelt geleitet.16 Durch das Adjektiv «Densa» (V. 6) wird deutlich, dass die Schakale und damit Ausbeutung, Zerstörung und Tod die beschriebene Zeit dominieren. Mit der zweiten Charakterisierung «Pesada de amargura» (V. 7) wird die Schwere der Bitterkeit ausgedrückt, die durch die Dunkelheit und die Herrschaft der Ausbeuter verursacht wird. Die Bitterkeit wird im letzten Vers wieder aufgegriffen: «Este é o tempo em que os homens renunciam» (V. 8). Die Resignation als Ausdruck der Angst bildet den Abschluss dieses Gedichts. Da die vorhergehenden Strophen durch die metaphorischen und symbolischen Assoziationen um «selva mais obscura»
12 Homer: Odyssee, XI. Gesang, V. 12–19 (Homer: Ilias. Odyssee, S. 583). 13 Vgl. Ps 63,11. 14 Vgl. u. a. Jes 13,22; Jer 9,10; Jer 50,39; Jer 51,37. 15 Vgl. 5. Mo 8,8. Schakale sind außerdem wolfsähnliche Wildhunde. In Dantes Commedia kommt ebenfalls eine Wölfin vor, Sinnbild der Habgier, die u. a. den Protagonisten auf dem Weg aus dem dunklen Wald zum Berg der Tugend in ein finsteres Tal drängt. Auch in der Bergpredigt wird vor falschen Propheten gewarnt, die als Wölfe bezeichnet werden, die sich im Schafspelz kleiden (Mt 7,15). 16 Holger Kockelmann: Anubis. In: Michaela Bauks/Klaus Koenen u. a. (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2008 [05. 04. 2017].
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III Dichtung als Chronographie
(V. 2), «chacais» (V. 6) und «noite» (V. 5) deutlich auf das christliche Inferno und die griechische Unterwelt verweisen, kann man «renunciam» (V. 8) hier als endgültige Entsagung und somit als Eintritt in das Reich des Todes verstehen. Vielmehr liegt in «renunciam» (V. 8) die Betonung jedoch darauf, dass nicht mehr gekämpft wird. Durch diesen Ausdruck der Resignation erscheint die als düster und wie eine apokalyptische Endzeit dargestellte Zeit schwer beladen und im Stillstand gefangen. Das im Gedicht durch die den Himmel ersetzenden «grades» (V. 5) gezeichnete Bild der Gefangenschaft fügt der Beschreibung der Zeit, die durch Finsternis, Unreinheit, Opportunismus, Bitterkeit und Resignation gekennzeichnet ist, die Eigenschaft der Unfreiheit hinzu. Der dadurch erfolgende Hinweis darauf, dass das lyrische Ich die beschriebene Umgebung nicht verlassen kann, verstärkt jedoch nur die bereits im Gedicht angelegte Unausweichlichkeit der Situation. Schließlich ist es kein umgrenzter Ort, der durch die Attribute der Gefangenschaft charakterisiert wird, sondern die Zeit, die sich grenzenlos im Raum ausdehnt. Diese Grenzenlosigkeit wird unterstrichen durch die beschriebenen Beeinträchtigungen von «ar» (V. 3) und «luz» (V. 4), die zudem beide lebenswichtig sind, was die Bedrohlichkeit des beschriebenen Zustands hervorhebt. Die im Gedicht beschriebene Bedrohung erscheint durch die untrennbare Bindung an die Zeit allgegenwärtig. Eine ähnliche Struktur weist das Gedicht «Data» auf. Darin wird in allen 12 Versen durch die Alliteration «Tempo» (V. 1–12) die Aufmerksamkeit auf die Zeit gelenkt. Data 17 (à maneira d’Eustache Deschamps) Tempo Tempo Tempo Tempo
de de de de
solidão e de incerteza medo e tempo de traição injustiça e de vileza negação
Tempo Tempo Tempo Tempo
de covardia e tempo de ira de mascarada e de mentira que mata quem o denuncia de escravidão
17 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 433 [Livro Sexto, 1962]. Dt.: «Zeitpunkt // (nach Eustache Deschamps) // Zeit der Einsamkeit und der Unsicherheit / Zeit der Angst und des Verrats / Zeit der Ungerechtigkeit und der Niedertracht / Zeit der Ablehnung // Zeit der Feigheit und Zeit des Zorns / Zeit der Maskerade und der Lüge / Zeit, die den tötet, der sie verrät / Zeit der Sklaverei // Zeit der Mitschuldigen ohne Akte / Zeit der Stille und des Knebels / Zeit, in der das Blut keine Spur hat / Zeit der Bedrohung» [Übersetzung d. Verf.]
III.1 Zeitkritik
Tempo Tempo Tempo Tempo
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de coniventes sem cadastro de silêncio e de mordaça onde o sangue não tem rastro de ameaça
Die Zeit wird in jedem Vers durch eine Aufzählung von Substantiven charakterisiert. Lediglich in den Versen sieben und elf schließt sich an «Tempo» ein Relativsatz an. Alle verwendeten Substantive sind negativ konnotiert und ergeben ein Bild der Bedrohung, die im letzten Vers «Tempo de ameaça» (V. 12) ausgesprochen wird. Im Titel des Gedichts, «Data», werden die Zuschreibungen, die im Gedicht an die Zeit gemacht werden, in einem einzigen Zeitpunkt konzentriert. So wird der Eindruck verstärkt, dass mit «Tempo» immer wieder auf denselben Zeitpunkt Bezug genommen wird. Während in der ersten Strophe die Substantive noch allgemein und vage sind, wie «solidão» (V. 1), «traição» (V. 2), «injustiça» (V. 3) und «negação» (V. 4), werden sowohl die Zuschreibungen selbst als auch ihre semantischen Bezüge untereinander spezifischer. So stehen in der zweiten Strophe sowohl «covardia» (V. 5) und «ira» (V. 5) als auch «mascarada» (V. 6) und «mentira» (V. 6) in enger Verbindung zum siebten Vers «Tempo que mata quem o denuncia» (V. 7). Die genannte Feigheit und der Zorn sind als Emotionen zu verstehen, deren Auslöser die Lüge und die metaphorische Maskerade sind. Zum Aufdecken dieser systematischen Unwahrheiten braucht es Mut, denn dies wird, wie in Vers sieben beschrieben, mit dem Tode bestraft. So wird in «Tempo de escravidão» (V. 8) der Zustand der Tyrannei zusammengefasst und als Versklavung derjenigen interpretiert, die durch die Herrschaft über Leben und Tod unter permanenter Bedrohung stehen. In der dritten Strophe wird das erzwungene Schweigen weiter ausgeführt. Die Schweigenden machen sich mitschuldig, werden aber nicht offiziell als Schuldige registiriert: «coniventes sem cadastro» (V. 9). Und nochmals wird die Tatsache hervorgehoben, dass das Schweigen erzwungen ist: «silêncio e […] mordaça» (V. 10). Im Bild des Knebels wird nochmals die Gewalt sichtbar, mit der das Aufdecken der Wahrheit unterdrückt wird. Die Wahrheit wird zuletzt deutlich als Verbrechen gekennzeichnet, das verheimlicht wird: «onde o sangue não tem rastro» (V. 11). Das Blut, das keine Spur hinterlässt, fungiert als Indiz der ungesühnten Gewalt. Der Verweis im Titel des Gedichts auf Eustache Deschamps (1345–1404), einem französischen Dichter, der unter Karl V. und Karl VI. am Pariser Hof lebte, ist entgegen der Angabe «à maneira d’» weniger als stilistische Verwandtschaft zu verstehen, da dieser vor allem als Balladendichter bekannt ist. Was Deschamps jedoch mit dem vorliegenden Gedicht teilt, ist die zeitkritische Thematik. Auch Deschamps beklagte in seinen Werken die Umstände seiner
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III Dichtung als Chronographie
eigenen Zeit, wie die Zerstörung durch den Hundertjährigen Krieg und die Wirren seiner Epoche, er kritisierte Staat und Kirche sowie die höfische Gesellschaft. Somit macht Sophia Andresen durch den Verweis auf Deschamps auf dessen dichterische Zeitkritik aufmerksam und stellt sich mit ihrem Gedicht in diese Tradition. Ebenfalls als Zeitkritik zu verstehen ist das Gedicht «Pranto pelo dia de hoje», das bereits im Titel durch die deiktische Bestimmung der Zeit, «hoje», einen deutlichen Bezug zur Gegenwart anzeigt. Somit ist die im Gedicht enthaltene Thematik von Unterdrückung und Manipulation zeitlich eindeutig zuzuordnen. Pranto pelo dia de hoje 18 Nunca choraremos bastante quando vemos O gesto criador ser impedido Nunca choraremos bastante quando vemos Que quem ousa lutar é destruído Por troças por insídias por venenos E por outras maneiras que sabemos Tão sábias tão subtis e tão peritas Que não podem sequer ser bem descritas
Zunächst werden in den Versen eins bis vier Missstände angeprangert, die jeweils durch denselben Vers eingeleitet werden: «Nunca choraremos bastante quando vemos» (V. 1, 3). Durch die Wiederholung des Weinens in «choraremos» (V. 1, 3) wird das ausgedrückte Leid des lyrischen Wirs hervorgehoben. Das verwendete Präsens in «quando vemos» (V. 1, 3) suggeriert eine Regelmäßigkeit und Allgemeingültigkeit des Beschriebenen. Dessen Fortsetzung gilt als sicher, was durch das Tempus des Futurs in «choraremos» (V. 1, 3) und die dadurch erzielte Verlängerung des Blicks aus der Gegenwart bis in die Zukunft vorausgesetzt wird. Als erster Punkt der Klage wird in Vers zwei zunächst die Unterbindung von schöpferischen Kräften bedauert: «O gesto criador ser impedido» (V. 2). Die Klage wird in Vers vier präzisiert: «Que quem ousa lutar é destruído» (V. 4). In «ousa» (V. 4) wird das Risiko ausgedrückt, mit dem das kreative Schaffen und der Kampf behaftet sind. Wer nach Neuem strebt oder
18 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 431 [Livro Sexto, 1962]. Dt.: «Weinen um den heutigen Tag // Niemals werden wir genug weinen, wenn wir sehen / Wie die schöpferische Geste verhindert wird / Niemals werden wir genug weinen, wenn wir sehen / Dass, wer zu kämpfen wagt, zerstört wird / Durch Spott durch Tücke durch Bosheit / Und durch andere Arten, die wir kennen / So weise so subtil so fachmännisch / Dass sie nicht einmal gut beschrieben werden können» [Übersetzung d. Verf.]
III.1 Zeitkritik
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für etwas kämpft, wird zerstört. Die ersten vier Verse prangern somit einen lähmenden Zustand an, der durch eine Gewaltherrschaft erzeugt wird, die jegliche Schöpfungskraft zerstört. Die Instrumente der beschriebenen Zerstörung werden in den Versen fünf und sechs aufgezählt: «Por troças por insídias por venenos / E por outras maneiras que sabemos» (V. 5–6). Es wird in Vers sechs angedeutet, dass es noch mehr Methoden der Schreckensverbreitung gibt, die zudem bekannt und somit alltäglich sind. Schließlich verweisen die Verbformen «vemos» (V. 1, 3) und «sabemos» (V. 6) auf ein sehendes und wissendes Kollektiv und somit auf die Bekanntheit des Leids und seiner Ursachen. In den Versen sieben und acht wird die Beschaffenheit der Unterdrückungsmethoden näher beschrieben als «Tão sábias tão subtis e tão peritas / Que não podem sequer ser bem descritas» (V. 7–8). Die eigentlich neutralen Adjektivformen «sábias», «subtis» und «peritas» (V. 7) werden durch das jeweils vorangestellte «tão» (V. 7) anaphorisch verschärft, wodurch eine strukturelle Ähnlichkeit zur anaphorischen Aufzählung in Vers fünf entsteht und damit eine Verknüpfung zu «troças», «insídias» und «venenos» (V. 5). Zudem werden sie durch die Einbettung in den Kontext der vorherigen Verse den herrschenden Machtstrukturen zugewiesen, was die von ihnen ausgehende Gefahr und technische Manipulationskraft verdeutlicht. Die Techniken der Unterdrückung werden als so perfektioniert dargestellt, dass sie kaum beschrieben werden können: «Que não podem sequer ser bem descritas» (V. 8). Hier wird eine Ausdrucksunfähigkeit beschrieben, die auf der Intransparenz der Zustände beruht. Zugleich ist «não podem» (V. 8) auch als Verbot, als ein ‹nicht dürfen› zu verstehen. Somit ist dieser Vers sowohl als Indiz der Einschränkung der Ausdrucksfreiheit im Allgemeinen als auch als metapoetischer Verweis auf eine fehlende dichterische Freiheit zu lesen. Sophia Andresen beschreibt in diesem wie auch in den anderen beiden Gedichten dieses Teilkapitels eine Zeit, die durch Repression, Gewalt und Leid gekennzeichnet ist. Dabei ist die zeitliche Verankerung der Texte so deutlich auf die Gegenwart gerichtet, dass diese ausschließlich als Kritik an der eigenen Zeit zu verstehen sind. Auch der zuletzt dargestellte Hinweis auf das Unvermögen der Beschreibung der Unterdrückungsmechanismen ist unmissverständlich als Seitenhieb auf die Zensur zu lesen, von der Sophia Andresen in den sechziger Jahren selbst betroffen war.19 19 Sophia Andresen berichtet Jorge de Sena in ihren Briefen sowohl von der Einstellung der kurzzeitig von ihr geleiteten Zeitschrift Távola Redonda durch die Zensurbehörde sowie von der Durchsuchung ihres Hauses, bei der Briefe Senas beschlagnahmt wurden. Vgl. Sophia de Mello Breyner Andresen/Jorge de Sena: Correspondência (1959–1978). Lisboa: Guerra e Paz Editores 2010, S. 65, 76.
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III Dichtung als Chronographie
III.1.2 Geteilte Zeit Wie im Kapitel zur Tradition der klassischen Antike bereits dargelegt, ist der Verlust der antiken Welt, wie sie unter anderem von Schiller als dichterischer Topos beschrieben wurde, ein wichtiger Bestandteil der andresianischen Poesie. Jedoch wird in ihrem Schreiben nicht nur das Aufbrechen der antiken Einheit beklagt, wie bereits anhand der elegischen Dichtung dargelegt wurde, sondern auch eine Teilung der Zeit. Da Sophia Andresen vertrat, dass Zeitwahrnehmung in der Antike durch Gleichzeitigkeit geprägt war und damit durch eine absolute Zeit, ist die Zerteilung der Zeit in der Dichtung Andresens ein Zeichen der durch Ereignisse und Veränderungen zerstückelten Zeit, einer geschichtlichen Zeit. Deutlich wird dies vor allem im Band No Tempo Dividido, in der die von der Zeit ausgehenden Veränderungen vor allem mit Tod und Verfall in Verbindung gebracht werden. So beschreibt das lyrische Ich in «A liberdade que dos deuses eu esperava» das Ende einer absoluten und leuchtenden Zeit, die durch eine scheinbar willkürlich agierende Zeit des Verderbens abgelöst wird. A liberdade que dos deuses eu esperava Quebrou-se. As rosas que eu colhia, Transparentes no tempo luminoso, Morreram com o tempo que as abria.20
In diesen vier Versen beschreibt das lyrische Ich einen Bruch, der im zweiten Vers mit der Zäsur nach «Quebrou-se» (V. 2) auch formal abgebildet wird. Der Bruch bezieht sich auf «A liberdade» (V. 1), die Freiheit, die sich das lyrische Ich von den Göttern erhoffte. In der Beschreibung der Rosen, die nicht nur Symbol der Liebe, sondern auch der darin angelegten Hoffnung sind, erinnert
Zum Beispiel eine Direktive der Pressezensur an das Jornal de Notícias zwischen November 1965 und Mai 1966: «Jeglicher Bezug auf die folgenden Schriftsteller ist zu streichen: Luís Francisco Rebello, Urbano Tavares Rodrigues, Sofia de Mello Breyner Andresen, Francisco de Sousa Tavares, Mário Sacramento, Fausto Lopes de Carvalho, José-Augusto França, Jorge Reis, Natália Correia, Manual Mendes Atanásio, Alexandre Pinheiro Torres, Augusto Abelaria, Fernanda Botelho, Manuel da Fonseca e Jacinto do Prado Coelho. DIESE NAMEN SIND GESTRICHEN. DIESE SCHRIFTSTELLER SIND GESTORBEN!» (aus: Jornal de Notícias (29. Juni 1974), zitiert bei Kian-Harald Karimi: ‹Es wird nicht diskutiert!› Die Ordnung des Diskurses im Neuen Staat. In: Henry Thorau (Hrsg.): Portugiesische Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 236–258, hier: S. 243.) 20 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 277 [No Tempo Dividido, 1954]. Dt.: «Die Freiheit, die ich von den Göttern erhoffte / Zerbrach. Die Rosen die ich pflückte, / Transparent in der leuchtenden Zeit, / Sind mit der Zeit, die sie öffnete, gestorben» [Übersetzung d. Verf.]
III.1 Zeitkritik
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sich das lyrische Ich an die Zeit vor dem Bruch. Die Rosen, die das lyrische Ich pflückte, beschreibt es als «Transparentes no tempo luminoso» (V. 3). Die Helligkeit und Reinheit, die in diesem Vers ausgedrückt sind, werden nicht nur den Rosen, sondern auch der Zeit zugeschrieben. Der durch Licht und Leben gekennzeichneten Zeit, «tempo luminoso» (V. 3), wird im letzten Vers eine todbringende Zeit gegenübergestellt: «Morreram com o tempo que as abria» (V. 4). In dieser Formulierung wird ausgedrückt, dass die leuchtende Zeit, die für das Öffnen der Rosen verantwortlich war, vorbei ist und die Rosen sowie die damit verbundene Hoffnung mit dem Ende dieser Zeit ebenso verwelkt sind. Mit dem Bruch wird die als leuchtend beschriebene Zeit geteilt. Die Ereignishaftigkeit wird in «Quebrou-se» (V. 2) und «Morreram» (V. 4) grammatikalisch unterstrichen durch das Tempus des pretérito passado simples, das für einmalige abgeschlossene Handlungen verwendet wird. Demgegenüber ist die vergangene Zeit durch Beständigkeit und Regelmäßigkeit geprägt, ausgedrückt durch die Formen des imperfeito: «esperava» (V. 1), «colhia» (V. 2), «abria» (V. 4). Im Gedicht lässt sich somit ein melancholisches Zurückblicken auf eine Zeit der Hoffnung und Beständigkeit ausmachen, auf deren Ende eine Zeit folgt, die nicht nur durch Leben, sondern auch durch den Tod gekennzeichnet ist. Im Gedicht «No Tempo Dividido» wendet sich das lyrische Ich direkt an die Götter einer vergangenen Zeit und beschreibt seine Gegenwart als Zeit des langsamen Todes. No Tempo Dividido 21 E agora ó Deuses que vos direi de mim? Tardes inertes morrem no jardim. Esqueci-me de vós e sem memória Caminho nos caminhos onde o tempo Como um monstro a si próprio se devora.
Das lyrische Ich gibt an, den Göttern von sich selbst berichten zu wollen, und beschreibt ihnen «Tardes inertes que morrem no jardim» (V. 2). Das Sterben der personifizierten Nachmittage im Garten kann durch den zeitlichen Verlauf des Nachmittags in Richtung des Abends und der Nacht als Aneinanderreihung vergehender Tage gelesen werden. Das Sterben der Tage wird durch das den Nachmittagen zugeordnete Attribut «inertes» (V. 2) als ein langsamer Prozess
21 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 292 [No Tempo Dividido, 1954]. Dt.: «In der geteilten Zeit // Und nun, oh Götter, was werde ich euch über mich sagen? / Träge Nachmittage sterben im Garten. / Ich habe euch vergessen und ohne Erinnerung / Gehe ich auf den Wegen, wo die Zeit / Wie ein Monster sich selbst verschlingt.» [Übersetzung d. Verf.]
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III Dichtung als Chronographie
dargestellt. Es macht dennoch die Endlichkeit der Tage deutlich und führt die Unwiederbringlichkeit vergangener Zeit vor Augen. Das lyrische Ich gibt an, die Götter vergessen zu haben: «Esqueci-me de vós» (V. 3). Im Fehlen der Erinnerung liegt gleichzeitig der Ursprung für den weiteren Weg des lyrischen Ichs: «e sem memória / Caminho nos caminhos onde o tempo / Como um monstro a si próprio se devora.» (V. 3–5). Die Zeit läuft zwar weiter und das lyrische Ich bewegt sich mit ihr auf seinen Wegen vorwärts, jedoch wird das chronologische Fortschreiten der Zeit als unerbittlich und selbstzerstörerisch empfunden, was im Bild der sterbenden, sich selbst verschlingenden Zeit seinen Ausdruck findet. Der Zerstückelung der Zeit und dem Fokus auf die Zeit als selbstzerstörerische Kraft wird in anderen Gedichten eine absolute, beständige Zeit entgegengestellt. Diese fällt mit der Vorstellung von der antiken Einheit zusammen und wird dementsprechend meist in der Vergangenheit verortet.22 Während in den elegischen Texten das Bewusstsein über die verlorene Einheit durch Hoffnungslosigkeit bezüglich deren Rückkehr ausgedrückt wird,23 fungiert die absolute Zeit in anderen Gedichten als Zukunftsutopie, auf deren Eintreffen das lyrische Ich hofft. Das bekannteste dieser Gedichte ist «Ressurgiremos» aus dem Band Livro Sexto. Ressurgiremos 24 Ressurgiremos ainda sob os muros de Cnossos E em Delphos centro do mundo Ressurgiremos ainda na dura luz de Creta
22 Vgl. Kapitel II.2.3. 23 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 49 [Poesia, 1944]. «Nunca mais / Caminharás nos caminhos naturais. // Nunca mais te poderás sentir / Invulnerável, real e densa – / Para sempre está perdido / O que mais do que tudo procuraste / A plenitude de cada presença // E será sempre o mesmo sonho, a mesma ausência.» Dt.: «Nie mehr / Wirst du auf natürlichen Wegen wandern // Nie mehr wirst du dich / Unverwundbar, real und geschlossen fühlen können – / Für immer ist verloren / Was du mehr als alles andere gesucht hast / Die Vollkommenheit jeder Gegenwart // Und es wird immer derselbe Traum sein, dieselbe Abwesenheit» [Übersetzung d. Verf.] 24 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 399 [Livro Sexto, 1962]. Dt.: «Wir werden auferstehen // Wir werden auferstehen noch unter den Mauern von Knossos / Und in Delphi, Zentrum der Welt / Wir werden auferstehen noch im harten Licht von Kreta // Wir werden auferstehen dort wo die Worte / Der Name der Dinge sind / Und wo die Konturen klar und lebendig sind / Im grellen Licht von Kreta // Wir werden auferstehen dort wo Stein Stern und Zeit / Das Reich des Menschen sind / Wir werden auferstehen um die Erde frontal zu betrachten / Im sauberen Licht von Kreta // Denn man muss das Herz des Menschen erhellen / Und die schwarze Genauigkeit des Kreuzes errichten / Im weißen Licht von Kreta» [Übersetzung d. Verf.]
III.1 Zeitkritik
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Ressurgiremos ali onde as palavras São o nome das coisas E onde são claros e vivos os contornos Na aguda luz de Creta Ressurgiremos ali onde pedra estrela e tempo São o reino do homem Ressurgiremos para olhar a terra de frente Na luz limpa de Creta Pois convém tornar claro o coração do homem E erguer a negra exactidão da cruz Na luz branca de Creta
Die titelgebende und auch im Gedicht zentrale Ankündigung «Ressurgiremos» impliziert einen vorausgegangenen Zusammenbruch, welcher ein Wieder-Auferstehen des lyrischen Wir erst notwendig macht. Der Ort, an dem das lyrische Wir sich wieder aufzurichten hofft, wird durch «Cnossos» (V. 1), «Delphos» (V. 2) und «Creta» (V. 3, 7, 11, 14) deutlich als das antike Griechenland markiert. Die «muros de Cnossos» (V. 1) verweisen metonymisch auf dort verortete Bauwerke, wie den Palast von Knossos sowie das mythische Labyrinth. «Creta» (V. 3, 7, 11, 14) fungiert in der Folge wiederholt als Totum pro parte, da Knossos sich auf Kreta befindet, und weist somit immer auch auf Knossos zurück. Sowohl Knossos und Kreta als auch Delphi werden als Ort der Auferstehung genannt. Der Zusatz «o centro do mundo» (V. 2) verweist auf den Glauben der Menschen der Antike, Delphi sei das Zentrum der Welt, sowie auf die Bedeutung des Orakels von Delphi als religiöser Mittelpunkt Griechenlands. So ist die Bezugnahme auf Delphi und die dortige Stätte der Prophezeiung ein metapoetischer Verweis auf den voraussagenden Charakter des Gedichts, welcher durch die Anapher «Ressurgiremos» (V. 1, 3, 4, 8, 10) gebetsartig wiederholt und hervorgehoben wird. Zudem endet jede Strophe mit einer Aussage über das Licht von Kreta: «na dura luz de Creta» (V. 3), «Na aguda luz de Creta» (V. 7), «Na luz limpa de Creta» (V. 11), «Na luz branca de Creta» (V. 14). Die darin metaphorisch beschworene absolute Reinheit und Transparenz wird in der zweiten Strophe weiter ausgeführt: «ali onde as palavras / São o nome das coisas / E onde são claros e vivos os contornos» (V. 4–6). Vorausgreifend auf den Band O Nome das Coisas (1977) wird bereits hier die Eindeutigkeit und Klarheit der Worte als Kennzeichen von Wahrheit gesehen. Im harten, grellen, sauberen, weißen Licht von Kreta ist alles sichtbar, die Konturen sind deutlich, nichts verschwindet im Dunklen oder verschwimmt im Unklaren. Es gibt keinen Raum für Obskures oder Mehrdeutigkeiten. An dem beschriebenen Ort konstituieren «pedra estrela e tempo» (V. 8) das Reich des Menschen: «São o reino do homem» (V. 9). Ab dem zehnten Vers
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III Dichtung als Chronographie
wird nicht mehr der Ort der Wiederauferstehung beschrieben, sondern der Grund: «para olhar a terra de frente» (V. 10). Der Blick, der sich in die Isotopie des Lichts einreiht, richtet sich frontal auf die Erde. Dem lyrischen Wir geht es somit um ein universelles Betrachten der transparenten Welt, das erst durch das Licht von Kreta möglich werde. Die fortwährende Betonung des Lichts, durch welches das lyrische Wir den Ort seiner gewünschten zukünftigen Wiederauferstehung charakterisiert, drückt ex negativo aus, dass die Gegenwart des lyrischen Wirs eben nicht durch Helligkeit und Transparenz geprägt ist. In der letzten Strophe wird mit «claro» (V. 12) ebenfalls an die Isotopie des Lichts angeknüpft. Das Herz des Menschen soll erhellt werden: «Pois convém tornar claro o coração do homem» (V. 12). Hier wird durch das Verb «tornar» (V. 12) nochmals deutlicher, dass das Herz des Menschen in der Gegenwart des lyrischen Wir nicht mit Helligkeit assoziiert wird, sondern mit dunklen Attributen. Um erhellt zu werden, muss sich das Herz des Menschen einer Wandlung unterziehen, für welche die Wiederauferstehung an dem beschriebenen erleuchteten Ort die Voraussetzung ist. Dieser Zusammenhang wird durch die kausale Hauptsatzkonjunktion «Pois» (V. 12) auch grammatikalisch gefestigt. Durch diese wird angezeigt, dass im Folgenden der Grund für etwas geliefert wird, das zuvor festgestellt wurde. Andersherum formuliert ergibt sich daraus: Weil das Herz der Menschen erhellt werden soll, muss das lyrische Wir an einem erleuchteten Ort wieder auferstehen. Dabei hat «convém» (V. 12) semantisch vielmehr den Charakter einer vorsichtigen Empfehlung 25 als den einer offensichtlichen Notwendigkeit. Abschließend wird dem weißen Licht Kretas die «negra exactidão da cruz» (V. 13) antithetisch gegenübergestellt. Mit «cruz» (V. 13) und ebenso mit «reino» (V. 9) schließt das lyrische Wir an den in «Ressurgiremos» enthaltenen zentralen christlichen Auferstehungsglauben an, so dass sich das Bild des hellen, transparenten Griechenlands mit der christlichen Theologie vermischt. Das lyrische Wir präsentiert seine Vorstellung von der Welt, in der es wieder auferstehen will, als eine christliche und zugleich pagane Welt. Was es sucht, ist universell und geht über die Grenzen einzelner Religionen hinaus.26 So ist das Kreuz nicht nur das christliche Symbol des Opfertodes von Jesus Christus, sondern ebenso, durch seine waagerechte Achse, Symbol der Verbundenheit des Menschen mit der Erde und gleichzeitig, durch seine senkrechte Achse, Symbol
25 Vgl. Porto Editora: Dicionário da Língua Portuguesa, Porto: Porto Editora 2008, S. 435b. 26 Richard Zenith versteht dieses Gedicht als Schlüsseltext für das Verständnis der Religiösität der andresianischen Dichtung und attestiert ihrer Poesie ebenfalls ein synkretisches Fundament. Vgl. Richard Zenith: Uma Cruz em Creta: a salvação sophiana. In: Maria Andresen Sousa Tavares (Hrsg.): Sophia de Mello Breyner Andresen. Actas do Colóquio Internacional. Porto: Porto Editora 2013, S. 207–213.
III.2 Zeugnis und Erinnerung
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der Verbindung des Menschen mit dem Göttlichen. Dabei ist die Natur das, was «o reino do homem» (V. 9) bestimmt: In «pedra, estrela, tempo» (V. 8) wird auch die Zeit deutlich dem Bereich der Natur zugeordnet. Die Zeit erscheint hier als ein durch die Sterne gesteuerter natürlicher Lauf der Dinge. Diese harmonische Zeit ist das, was sowohl die in den elegischen Gedichten betrauerte verlorene antike Welt ausmacht als auch die in «Ressurgiremos» beschriebene Welt der Auferstehung des Menschen. Die Gegenwart des lyrischen Wir liegt dagegen zwischen diesen Welten im Dunklen und wird als geteilte Zeit empfunden. Erst durch ein Ausbrechen aus dieser Gegenwart, kann sich die Situation der Menschen verbessern.
III.2 Zeugnis und Erinnerung Im folgenden Kapitel stehen solche Gedichte im Vordergrund, in denen die «perseguição do real»,27 wie Sophia Andresen ihre Dichtung in «Arte Poética III» nennt, am deutlichsten hervorsticht. Neben der zeitlichen Verankerung sind in diesen Gedichten die Hinweise auf reale Orte und Personen die wichtigsten Indikatoren für einen klaren Realitätsbezug des poetischen Texts.
III.2.1 Widerständige Persönlichkeiten Das poetische Werk Sophia Andresens enthält zahlreiche Gedichte, die namentlich auf historische Personen verweisen. Dazu gehören zum einen bekannte Autoren wie Fernando Pessoa, Luís de Camões und Federico García Lorca, oder Künstler aus dem persönlichen Umfeld wie Ruben A. und Maria Helena Vieira da Silva. Zum anderen thematisieren einige Texte Persönlichkeiten, die durch ihr Handeln zu Symbolen des Widerstands wurden, wie Catarina Eufémia, Che Guevara und António Ferreira Gomes, der von 1952 bis 1982 Bischof von Porto war. Bereits im ersten Kapitel wurde anhand des Gedichts über Catarina Eufémia dargestellt, wie die poetische Fokussierung bestimmter Persönlichkeiten zur widerständigen Ästhetik der Autorin beiträgt. Während in «Catarina Eufémia» neben dem Mythos um ihre Person auch die Armut als Thema des poetischen Texts im Vordergrund stand, sollen im Folgenden zwei weitere Gedichte behandelt werden, die einzelne Personen hervorheben, die beide, allerdings in sehr unterschiedlicher Intensität, für ihre Widerständigkeit bekannt waren. Dabei handelt es sich zum einen um den Guerillaführer Che Guevara (1928–1967), 27 Sophia Andresen: Arte Poética III. In: Dies.: Obra Poética, S. 841–843, hier: S. 841.
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III Dichtung als Chronographie
der Symbolfigur der kubanischen Revolution, dessen Portrait sich infolge des posthumen Personenkults zum allgemeinen Symbol für Widerstand und Protest entwickelte. Zum anderen soll zuvor ein Text über Maria Natália Duarte Silva Teotónio Pereira (1930–1971) behandelt werden, eine Freundin Sophia Andresens, die ebenfalls Gedichte 28 schrieb und seit Ende der 1950er Jahre im katholischen Widerstand der católicos progressistas gegen das Salazar-Regime aktiv war. Maria Natália Teotónio Pereira 29 Aquela que tanto amou O sol e o vento da canção Agora jaz no silêncio terrestre Oculta na ressurreição Porque em seu viver nascia Porque estando era procura Sua imagem permanece Não passada mas futura Sempre que rio e confio E passo além do meu pranto A sua presença irrompe Erguida em nós como canto Aquela que agora jaz Como semente no chão Ergue no vento seu riso Transpõe a destruição
Das Gedicht besteht aus vier Strophen zu je vier Versen, in denen das lyrische Ich eine weibliche Person beschreibt, «Aquela» (V. 1, 13), die durch den Titel als Maria Natália Teotónio Pereira identifiziert werden kann. In den ersten beiden Strophen wird jeweils in den ersten beiden Versen rückblickend ihr Wesen beschrieben, worauf in den jeweiligen zweiten Strophenhälften ihr Tod thema-
28 Der Gedichtband Mão Aberta erschien 1963. Außerdem gab sie ebenfalls 1963 zusammen mit Sophia de Mello Breyner Andresen und Madalena Ferin die Sammlung Nosso Mundo heraus. Vgl. Maria Natália Duarte Silva: Obra Poética. Porto: Afrontamento 2011. 29 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 595 [Dual, 1972]. Dt.: «Maria Natália Teotónio Pereira // Jene, die so sehr liebte / Die Sonne und den Wind des Liedes / Ruht nun in der irdischen Stille / Verborgen in der Auferstehung // Weil in ihrem Leben entstand / Weil ihr Sein Suche war / Bleibt ihr Bild / Nicht vergangen sondern zukünftig // Immer wenn ich lache und vertraue / Und über mein Klagen hinausgehe / Bricht ihre Präsenz herein / Erhoben in uns wie Gesang // Jene, die jetzt ruht / Wie Samen im Boden / Erhebt im Wind ihr Lachen / Überschreitet die Zerstörung» [Übersetzung d. Verf.]
III.2 Zeugnis und Erinnerung
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tisiert wird. Ihrer Liebe zu «O sol e o vento da canção» (V. 2) wird antithetisch der «silêncio terrestre» (V. 3) gegenübergestellt. Das Zusammenfallen der Antithese von Leben und Tod mit jener von Lied und Stille unterstreicht die Eindeutigkeit des Todes, welche jedoch am Strophenende durch den Begriff der «ressurreição» (V. 4) aufgebrochen wird. Die gesamte zweite Strophe knüpft an das die erste Strophe abschließende Bild der Auferstehung an. In den Versen «Porque em seu viver nascia / Porque estando era procura» (V. 5–6) wird in zwei parallelen kausalen Nebensätzen die Progressivität der Beschriebenen betont. Aus ihrem Leben ist etwas Neues entstanden, sie stand nicht still, sondern war auf der Suche. Diese Feststellungen gelten dem lyrischen Ich als Begründungen dafür, dass ihr Andenken nicht in die Vergangenheit, sondern durch die Früchte des Erschaffenen in die Zukunft gerichtet ist: «Sua imagem permanece / Não passada mas futura» (V. 7–8). So wird das Bild der Auferstehung in der zweiten Strophe durch die Vorstellung ergänzt, Maria Natália Teotónia Pereira lebe durch ihr Lebenswerk in der Zukunft weiter. Auch auf persönlicher Ebene beeinflusst die Verstorbene noch immer das lyrische Ich: «Sempre que rio e confio / E passo além do meu pranto / A sua presença irrompe / Erguida em nós como canto» (V. 9–12). Das lyrische Ich verbindet Lachen und Vertrauen mit der Verstorbenen sowie das Überwinden von Wehklagen, was darauf schließen lässt, dass sie sich durch eben diese Qualitäten auszeichnete und nun darin für das lyrische Ich lebendig bleibt. Jedoch wirkt diese vorbildhafte Funktion, die die Verstorbene für das lyrische Ich einnimmt, nicht nur für dieses, sondern auch für ein lyrisches Wir. Dabei wird die fortbestehende Präsenz der Maria Natália Teotónia Pereira mit einem innerlichen Gesang verglichen, der sich im lyrischen Wir erhebt: «Erguida em nós como canto» (V. 12). In der letzten Strophe wird durch den einleitenden Vers «Aquela que agora jaz» (V. 13) auf die erste Strophe zurückverwiesen: «Aquela» (V. 1), «Agora jaz» (V. 3). Die Wirkung, die die Besungene immer noch auf das lyrisch Ich und das lyrische Wir hat, wird durch ein weiteres Bild intensiviert: «Como semente no chão» (V. 14). Der im Boden liegende Samen verweist metonymisch auf etwas, dass im Begriff ist zu entstehen und dessen Sichtbarkeit an der Erdoberfläche in der Zukunft liegt. So verweist der Vergleich der verstorbenen Maria Natália Teotónia Pereira mit dem Samenkorn auf die Fruchtbarkeit ihrer zu Lebzeiten hinterlassenen Taten. Ihre fortdauernde Präsenz in der Welt der Lebenden wird durch «Ergue no vento seu riso / Transpõe a destruição» (V. 15) nochmals Nachdruck verliehen. Das zentrale Motiv des Gedichts wird zusammengefasst in «ressurreição» (V. 4). Die Interpretation des Fortbestehens der Verstorbenen durch ihr Lebenswerk als Auferstehung zu einem ewigen Leben verweist durch die Einbettung in die christliche Theologie auf den katholischen Widerstand, der sich gegen
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III Dichtung als Chronographie
das Salazar-Regime formierte. Maria Natália Teotónio Pereira war in dieser Gruppe aktiv und hat darin Projekte auf den Weg gebracht, die nach ihrem Tod weiterhin wirksam waren. So erinnert sich ihr Mann Nuno Teotónio Pereira an die politischen Initiativen seiner Frau: Pela força das suas convicções, pela coragem e pela determinação que punha em tudo em que se empenhava, pode dizer-se que foi a alma de muitas das actividades contra o regime, desenvolvidas nos meios católicos, desde a campanha de Humberto Delgado até à sua morte. E fê-lo sempre com um grande sentido de trabalho em comum, suscitando colaborações e entusiasmos. Entre essas actividades, podem destacar-se: o jornal clandestino Direito à Informação, policopiado, de que foram publicados 18 números de 1963 a 1969; a vigília de S. Domingos, com a ocupação da igreja para um debate sobre a guerra colonial, durante toda a madrugada do 1.° de Janeiro de 1969; o jornal Igreja Presente, impresso em Madrid, passado clandestinamente na fronteira do Caia e depois distribuído pelo país, quando da censura imposta à imprensa sobre a viagem de Paulo VI à Índia; o Manifesto dos 101, quando da farsa eleitoral de 1965, que bateu à máquina e para o qual se empenhou em angariar assinaturas; a Comissão Nacional de Socorro aos Presos Políticos, da qual foi, juntamente com Maria Eugénia Varela Gomes e Cecília Areosa Feio, uma das impulsionadoras; os cadernos GEDOC, publicados pelo padre Felicidade Alves também clandestinamente; os Sete Cadernos sobre a guerra colonial, que passou integralmente à máquina em 1970, publicados depois do 25 de Abril, pela editora Afrontamento com o título Colonialismo e Lutas de Libertação, de que foram distribuídos os primeiros exemplares quando da sua morte.30
Im Gedicht wird das Wirken dieser Leistungen als bis in die Zukunft fruchtbar beschrieben und als Sieg über Zerstörung und Tod interpretiert. Die Verbindung zum katholischen Widerstand wird nicht nur durch den Namen Maria Natália Teotónio Pereira hergestellt, sondern ebenso durch den Begriff der «ressurreição» (V. 4). Auf diese Weise interpretiert Sophia Andresen in ihrem Gedicht über die verstorbene Freundin den Widerstand der católicos progressistas als eine Form der Auferstehung, die der «destruição» (V. 16) widersteht. Die Wirksamkeit des Widerstands von Maria Natália Teotónio Pereira über ihren Tod hinaus wird somit zum hoffnungsvollen Mahnmal dafür, dass der Kampf gegen die Zerstörung keineswegs sinnlos ist, sondern für lange Zeit Früchte trägt. Das Gedicht über Che Guevara beschreibt eine prominente Figur des Widerstands, deren Wirken nicht nur über den Tod hinaus fortbesteht, sondern sich durch den Tod um ein Vielfaches potenzierte. Jedoch lässt das lyrische Ich die Wirkung Che Guevaras als Märtyrer und Idol einer ganzen Generation ins Leere laufen.
30 Frei Bento: Evocações, homenagens. In: Público (13. 02. 2011) [05. 04. 2017].
III.2 Zeugnis und Erinnerung
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Che Guevara 31 Contra ti se ergueu a prudência dos inteligentes e o arrojo dos patetas A indecisão dos complicados e o primarismo Daqueles que confundem revolução com desforra De poster em poster a tua imagem paira na sociedade de consumo Como o Cristo em sangue paira no alheamento ordenado das igrejas Porém Em frente do teu rosto Medita o adolescente à noite no seu quarto Quando procura emergir de um mundo que apodrece Lisboa, 1972
Das Gedicht richtet sich an ein lyrisches Du, bei dem es sich dem Titel zufolge um Che Guevara handelt. Die erste Strophe beschreibt verschiedene Gruppierungen, die sich gegen das Du richten. Dabei werden die Eigenschaften dieser Gruppierungen einander diametral gegenübergestellt: während die Intelligenten vorsichtig sind, sind die Dummen mutig: «a prudência dos inteligentes e o arrojo dos patetas» (V. 1). Während diejenigen, die diffenzieren können, unentschlossen sind, sind diejenigen, die eindeutig nach Vergeltung sinnen, Amateure: «A indecisão dos complicados e o primarismo / Daqueles que confundem revolução com desforra» (V. 2–3). Das lyrische Ich verdeutlicht zudem durch «primarismo» (V. 2) sowie «confundem» (V. 3), dass es mit dem Verständnis von Revolution als persönlichem Rachefeldzug nicht einverstanden ist. In der zweiten Strophe wird die posthume romantisierende Verklärung Guevaras zur Ikone des Widerstands und die quasireligiöse Verehrung, die ihm fortan zukam, in den Blick genommen: «De poster em poster a tua imagem paira na sociedade de consumo / Como o Cristo em sangue paira no alheamento ordenado das igrejas» (V. 4–5). Das zweifach genannte «poster» (V. 4) verweist auf das Bild Guevaras, vielmehr auf das Porträt Guerrillero Heroico, beruhend auf einem Foto von Alberto Korda, das als Symbol des Unangepasstseins und der Kapitalismuskritik ironischerweise in die ganze Welt verkauft wurde. Die Ironie, die in dieser Vermarktung des Bildes eines Kommunisten und Konsumgegners liegt, spiegelt sich im darauffolgenden Vers ebenso in der Gleichset-
31 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 605 [O Nome das Coisas, 1977]. Dt.: «Che Guevara // Gegen dich erhob sich die Vorsicht der Intelligenten und der Wagemut der Dummköpfe / Die Unentschlossenheit der Komplizierten und die Mittelmäßigkeit / Derer, die Revolution mit Rache verwechseln // Von Poster zu Poster schwebt dein Bild in der Konsumgesellschaft / Wie der blutende Christus in der verordneten Entfremdung der Kirchen schwebt // Jedoch / Vor deinem Gesicht / Denkt der Heranwachsende abends in seinem Zimmer nach / Wenn er versucht, aus einer faulenden Welt hervorzutreten» [Übersetzung d. Verf.]
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zung Guevaras mit Jesus Christus sowie der Konsumgesellschaft mit der Kirche. Die Gemeinsamkeit wird in «alheamento» (V. 5) und damit in der Entfremdung von der eigentlichen Bedeutung evident. Von dieser Parallelisierung ausgehend, beschreibt das lyrische Ich, eingeleitet durch die Konjunktion «Porém» (V. 6), die zudem durch die unmittelbar folgende Versgrenze hervorgehoben wird, eine Ausnahme von dieser Gemeinsamkeit der ‹falschen› Vereinnahmung: «Em frente do teu rosto / Medita o adolescente à noite no seu quarto / Quando procura emergir de um mundo que apodrece» (V. 7–9). Durch die Konjunktion wird somit betont, dass es Che Guevara ist, an den sich die Jugend angesichts einer verfallenden Welt wendet. Dieser wird damit nicht nur als Idol der Konsumgesellschaft, sondern auch als authentische Erlöserfigur qualifiziert. Das lyrische Ich beschreibt Che Guevara als Opfer, gegen das sich verschiedene Mächte gerichtet haben. In der Beschreibung seines posthumen Ruhms wird deutlich, dass erst seine Marginalisierung und sein Tod die Stilisierung seiner Person zu einem Märtyrer des Widerstands ermöglichten. Während im Gedicht «Maria Natália Teotónio Pereira» der katholische Widerstand im Mittelpunkt steht, wird in «Che Guevara» die Ablösung dieser Tradition durch eine neue Erlöserfigur beschrieben.
III.2.2 Orte der Vernichtung und des Widerstands Nicht nur die poetische Bearbeitung einzelner historischer Personen ist als Indiz eines deutlichen Realitätsbezugs zu lesen, sondern die Nennung wichtiger historischer Orte ist ebenso ein Mittel im Werk Andresens, um die Reflexion von Geschichte im poetischen Werk hervorzuheben. In dieser Hinsicht ist unter anderem das Gedicht «Caxias 68» interessant, das im Titel zusätzlich zur Ortsangabe auch eine zeitliche Perspektive auf den Ort vorgibt. Zudem ist diese durch die Datierung «Fevereiro de 1968» zusätzlich eingegrenzt. Caxias 68 32 Luz recortada nesta manhã fria Muros e portões chave após chave O meu amor por ti é fundo e grave Confirmando nas grades deste dia Fevereiro de 1968
32 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 590 [Dual, 1972]. Dt.: «Caxias 68 // Geschnittenes Licht an diesem kalten Morgen / Mauern und Tore Schlüssel nach Schlüssel / Meine Liebe für dich ist tief und schwer / Während sie sich in den Gittern dieses Tages bekräftigt» [Übersetzung d. Verf.]
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Die Kombination aus Orts- und Zeitangabe verweist auf eine Zeit im Leben Sophia Andresens, in der sie und ihr Mann intensiv von der PIDE überwacht wurden. Francisco Sousa Tavares wurde im November 1966 für drei Wochen festgenommen und war ebenfalls von Januar 1968 bis zum 1. März 1968 in Caxias inhaftiert, wo Sophia Andresen ihn besucht hat.33 Nicht nur der Name des Ortes Caxias steht symbolisch für das dort von der PIDE bis 1974 betriebene politische Gefängnis, auch der Vers «Muros e portões chave após chave» (V. 2) sowie die «grades» (V. 4) verweisen auf einen Ort der Gefangenschaft. Die Liebeserklärung im dritten Vers ist somit eindeutig an einen Gefangenen gerichtet. Durch die Veröffentlichung dieses sehr persönlichen Gedichts macht Sophia Andresen gleichzeitig auf die Situation aller politischen Gefangenen aufmerksam.34 Weniger persönlich, aber mit ähnlicher Konsequenz werden historische Orte in dem Gedicht «Não te esqueças nunca» eingesetzt. Não te esqueças nunca 35 Não te esqueças nunca de Thasos nem de Egina O pinhal a coluna a veemência divina O templo o teatro o rolar de uma pinha O ar cheirava a mel e a pedra a resina Na estátua morava a tua nudez marinha Sob o sol azul e a veemência divina Não esqueças nunca Treblinka e Hiroshima O horror o terror a suprema ignomínia
Hier werden in zwei Strophen verschiedene Welten einander gegenübergestellt. Beide Strophen beginnen mit der an ein lyrisches Du gerichteten Auffor33 Vgl. Pedro Jorge Castro: Um casal apaixonado contra Salazar. In: Sábado 519 (10. April 2014)
[05. 04. 2017]. In diesem Artikel berichtet Miguel Sousa Tavares auch über die Briefe, die seine Eltern sich während dieser Zeit geschrieben haben und in denen sie von Verfahren der Verschlüsselung Gebrauch machten: «Miguel Sousa Tavares revela que os pais se correspondiam em código. ‹O código era fabuloso. De tal maneira que jurei aos meus pais que nunca o diria. Eu era o único que sabia. Não era fácil decifrar e sobretudo escrever em código. A PIDE apreendia poucas cartas, porque aquilo parecia inocente. Mas as palavras tinham uma ordem de um enigma inventado por eles que era brilhante.›» 34 Im Jahr 1969 wurde die Comissão Nacional de Socorro aos Presos Políticos gegründet, in der Sophia Andresen sich engagierte. 35 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 712 [Ilhas, 1983]. Dt.: «Vergiss niemals // Vergiss niemals weder Thasos noch Ägina / Den Pinienhain die Säule die göttliche Vehemenz / Den Tempel das Theater das Rollen eines Zapfens / Die Luft roch nach Honig und der Stein nach Harz / In der Statue wohnte deine marine Nacktheit / Unter der blauen Sonne und der göttlichen Vehemenz // Vergiss niemals Treblinka und Hiroshima / Das Grauen den Terror die höchste Schande» [Übersetzung d. Verf.]
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III Dichtung als Chronographie
derung «Não te esqueças nunca» (V. 1, 7), worauf jeweils zwei Orte genannt werden. In der ersten Strophe folgen darauf zunächst drei Verse, in denen charakteristische Substantive jeweils mit ihrem bestimmten Artikel aufgezählt werden. Auch der zweite Vers der zweiten Strophe enthält diese Art der Aufzählung. Allerdings endet die zweite Strophe nach dem zweiten Vers, so dass der Eindruck eines abrupten Abbruchs entsteht. Der formale Kontrast unterstreicht die inhaltlichen Gegensätze. In der ersten Strophe stehen die Inseln «Thasos» (V. 1) und «Egina» (V. 1) als pars pro toto für Griechenland und die griechische Antike. Innerhalb der nachfolgenden fünf Verse stechen «pinhal» (V. 2) und «pinha» (V. 3) sowie die «vêemencia divina» (V. 2, 6) durch ihre Wiederholung hervor. Der Pinienzapfen gilt, wegen seiner Vielzahl an Kernen, als Fruchtbarkeitssymbol und wird in der griechischen Tradition im Zusammenhang mit den Fruchtbarkeitsgöttern Artemis und Dionysos erwähnt.36 Durch die Wiederholung der «vêemencia divina» (V. 2, 6) wird die göttliche Präsenz in der antiken Welt hervorgehoben und macht ihr Fehlen in der zweiten Strophe umso deutlicher. Zudem verweist der Vers «Na estátua morava a tua nudez marinha» auf den Meeresgott Poseidon, der hier direkt angesprochen wird. Neben der griechischen Kultur, die darüber hinaus auch durch «coluna» (V. 2), «templo» (V. 3), und «teatro» (V. 3) symbolisiert wird, spielt auch die Natur mit ihren Düften (V. 4) und Farben (V. 6) in der ersten Strophe eine große Rolle. Dieser reinen, süßen, lebendigen und von Göttern bewohnten Welt wird in der zweiten Strophe eine Welt des Schreckens und des Todes gegenübergestellt. An der Stelle von «Thasos» (V. 1) und «Egina» (V. 1) folgen hier auf «Não esqueças nunca» (V. 7) die Orte «Treblinka e Hiroshima» (V. 7), welche metonymisch für die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges stehen. Der achte und letzte Vers fasst diese in einer knappen Aufzählung zusammen und beendet so das Gedicht: «O horror o terror a suprema ignomínia» (V. 8). Die Gleichmäßigkeit der einheitlich zwölfsilbigen Verse hebt den Eindruck des Bruchs noch stärker hervor. Dadurch wird sprachlose Betroffenheit angesichts des Grauens ausgedrückt. Diese Sprachlosigkeit lässt sich als anhaltender Schock und eine fehlende Aufarbeitung des Geschehenen deuten. Das Gedicht hat durch den Titel und die zweifache Wiederholung von «Não [te] esqueças nunca» (V. 1, 7) eine mahnende Wirkung. Es erinnert sowohl an Griechenland als Wiege des Humanismus als auch an den Zivilisationsbruch im 20. Jahrhundert. Auch das Gedicht «Tão grande dor» befasst sich mit einem dunklen Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Darin wird zum einen die Situation in
36 Vgl. Edward Tripp: Thyrsos. In : Ders.: Reclams Lexikon der antiken Mythologie. Stuttgart: Reclam 2001, S. 522b.
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Osttimor zu Beginn der 1990er Jahre thematisiert. Das Land stand seit 1975 unter indonesischer Besatzung und hat qualvolle Jahre der Gewalt und des Hungers erlebt. Zum anderen wird auf einer metapoetischen Ebene die Rolle der Lyrik im Zeitalter der audiovisuellen Medien reflektiert. Tão grande dor 37 «Tão grande dor para tão pequeno povo» Palavras de um timorense à RTP Timor fragilíssimo e distante «Sândalo flor búfalo montanha Cantos danças ritos E a pureza dos gestos ancestrais» Em frente ao pasmo atento das crianças Assim cantava o poeta Ruy Cinatti Sentado no chão Naquela noite em que voltara da viagem Timor Dever que não foi cumprido e que por isso dói Depois vieram notícias desgarradas Raras e confusas Violência mortes crueldade E ano após ano Ia crescendo sempre a atrocidade E dia a dia – espanto prodígio assombro – Cresceu a valentia
37 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 774–775 [Musa, 1994]. Dt.: «So großer Schmerz // («So großer Schmerz für ein so kleines Volk» / Worte eines Timoresen bei RTP) // Timor, sehr zerbrechlich und weit entfernt // «Sandelholz Blume Büffel Gebirge / Lieder Tänze Riten / Und die Reinheit der Gesten der Vorfahren» // Vor dem aufmerksamen Staunen der Kinder / So sang der Dichter Ruy Cinatti / Auf dem Boden sitzend / An jenem Abend, an dem er von der Reise zurückkehrte // Timor / Pflicht, die nicht erfüllt wurde und deshalb schmerzt // Danach kamen vereinzelt Nachrichten an / Seltene und verworrene / Gewalt Tote Grausamkeit / Und Jahr für Jahr / Würden die Gräuel fortwährend zunehmen / Und von Tag zu Tag – Erstaunen Wunder Verblüffung – / Stieg die Kraft / Des Volkes und der Freiheitskämpfer / Verborgen im Bergnebel // Timor umgeben von einer Mauer des Schweigens / Schwerer und dicker als die Berliner / Mauer, von der immer so viel gesprochen wurde // Weil sie keine Mauer war sondern ein Ring / Der von einem zweiten Ring umgeben war // Der Ring der Taubheit der Konsumisten / So voll von Zeitungen und Nachrichten // Aber als wäre es ein erflehtes Wunder / Durch den Strom der Gebete im Klang der Kugeln wurden / Die Bilder des Massakers gerettet / Die Bilder brachen die Ringe des Schweigens / Brachen in die Bildschirme ein und die Tauben sahen / Die nackte Offensichtlichkeit der Bilder» [Übersetzung d. Verf.]
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Do povo e da guerrilha Evanescente nas brumas da montanha Timor cercado por um muro de silêncio Mais pesado e mais espesso do que o muro De Berlim que foi sempre tão falado Porque não era um muro mas um cerco Que por segundo cerco era cercado O cerco da surdez dos consumistas Tão cheios de jornais e de notícias Mas como se fosse o milagre pedido Pelo rio da prece ao som das balas As imagens do massacre foram salvas As imagens romperam os cercos do silêncio Irromperam nos écrans e os surdos viram A evidência nua das imagens
Sophia Andresen stellt ihrem Gedicht ein Zitat eines Timoresen voran: ««Tão grande dor para tão pequeno povo» / Palavras de um timorense à RTP». Ob dieser diese eingängigen Worte tatsächlich so im portugiesischen Fernsehen gesagt hat, ist nicht belegt. Jedoch entsteht so schon vor Beginn der Gedichtlektüre ein Eindruck der Zeitzeugenschaft. Zudem ist dies eine Bezugnahme auf die neuen Medien, die in Sophia Andresens Werk eher ungewöhnlich ist. Der zitierte Satz weist jedoch durch seine parallele Satzstruktur und seine antithetische Gegenüberstellung von «grande» und «pequeno» poetische Qualitäten auf. Das Gedicht selbst besteht aus 32 Versen und ist in unregelmäßig lange Strophen mit wiederum unregelmäßigem Versmaß unterteilt. An drei Stellen erfolgen Apostrophen an Timor (V. 1, 9, 20), die jeweils auch thematisch einen neuen Abschnitt einleiten. In den Versen eins bis acht geht es um den portugiesischen Autor Ruy Cinatti (1915–1986), der als Dichter, Agronom und Anthropologe über Osttimor geschrieben und auch mehrere Jahre dort gelebt hat. Nach der Apostrophe an Timor, das als «fragilíssimo e distante» (V. 1) charakterisiert wird, folgt über drei Verse ein Zitat aus einem Lied von Ruy Cinatti. Darin werden verschiedene Assoziationen zu Timor geknüpft. So beziehen sich «Sândalo flor bûffalo montanha» (V. 2) auf Flora und Fauna des Landes, während «Cantos danças ritos / E a pureza dos gestos ancestrais» (V.3–4) auf die Kultur des timoresischen Volkes verweisen. Ob diese Passage ein echtes Zitat von Ruy Cinatti ist, lässt sich nicht belegen. Die Sprechinstanz nimmt keinen Bezug zu einem veröffentlichten Werk, sondern bezieht sich, wie es in den Versen fünf bis acht beschrieben wird, auf ein Lied, das der Dichter vor einer Gruppe von Kindern gesungen hat. Nach dem Bezug zu RTP, dem portugiesischen öffentlich-rechtlichen Fernseh-
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sender, gibt es hier einen zweiten Medienbezug, und zwar zu dem ältesten, dem einfachsten Medium: dem mündlichen Vortrag vor Publikum. Die zweite Apostrophe an Timor leitet einen Sinnabschnitt ein, der die Gräuel und Schrecken des timoresischen Volkes unter der indonesischen Besatzung thematisiert: «Violência mortes crueldade» (V. 13). Die Ursache des Schmerzes sieht das lyrische Ich in einer nicht erfüllten Pflicht: «Dever que não foi cumprido e que por isso dói» (V. 10). Hier ist zum einen die Pflicht der portugiesischen Kolonisatoren angesprochen, die Osttimor nicht vor der indonesischen Invasion beschützt haben, die kurz nach der Ausrufung der Unabhängigkeit von Portugal erfolgte. Die darauffolgenden Verse «Depois vieram notícias desgarradas / Raras e confusas» (V. 11–12) stellen jedoch einen direkten Bezug zu den Nachrichtenmedien her, die auch eine Pflicht zu erfüllen hatten. Jedoch gab es nur vereinzelte und verworrene Nachrichten. Die mangelhafte Berichterstattung wird daraufhin in direktem Zusammenhang mit der Zunahme der Gräuel gesehen: «E ano após ano / Ia crescendo sempre a atrocidade» (V. 14–15). Die Verse 16 bis 19 nehmen Bezug auf den Freiheitskampf der Timoresen, die trotz ihrer Isolation nicht aufgegeben haben. Der dritte Sinnabschnitt, wiederum eingeleitet durch eine Apostrophe an Timor (V. 20), beschreibt die Isolation Osttimors, dessen Qualen erst dann in der Welt wahrgenommen wurden, als Bilder von einem Massaker in den Medien auftauchten. Die Ursache der Isolation wird mit der Metapher «um muro de silêncio» (V. 20) benannt. Es folgt eine Gegenüberstellung dieser Mauer des Schweigens mit «o muro / De Berlim que foi sempre tão falado» (V. 21–22). Durch diesen Vergleich werden die Mächtigen angeklagt, die von der Situation in Osttimor genauso wussten wie von der Berliner Mauer, jedoch nichts unternommen oder veröffentlicht haben. Die Mauer des Schweigens wird zusätzlich verstärkt durch «O cerco da surdez dos consumistas / Tão cheios de jornais e de notícias» (V. 25–26). Der Überfluss an Nachrichten führt demnach dazu, dass die Inhalte nicht mehr reflektiert, sondern nur noch konsumiert werden. Die Metapher der Taubheit drückt an dieser Stelle aus, dass die Rezipienten nichts mehr wirklich wahrnehmen. Dies steht in direktem Gegensatz zu dem «pasmo atento das crianças» (V. 5), dem aufmerksamen Staunen der Kinder, die Ruy Cinatti zugehört haben. In den Versen 27 bis 32 beschreibt der Sprecher, wie es zum Durchbrechen der beiden Mauern kommt. Es sind die Bilder eines Massakers, die gerettet und veröffentlicht wurden.38 Die Anapher «As imagens» (V. 29–30) hebt formal die 38 Die Rettung der Bilder ist wahrscheinlich ein Verweis auf den Kameramann Max Stahl und das Dili-Massaker von 1991. Stahl hatte seine Aufnahmen während des Massakers in einem Grab versteckt, um diese später zu retten. Daraus entstanden u. a. die Reportagen In Cold Blood: The Massacre of East Timor und Massacre: The Story of East Timor.
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Bedeutung der Bilder hervor. Sie ermöglichen die eindringlichste Art der Wahrnehmung: «A evidência nua das imagens» (V. 32). Die Gegenüberstellung der Fernsehbilder mit denen aus den Liedern Ruy Cinattis ist hier eine Reflexion der Rolle des Dichters in Zeiten der neuen Medien. Während die Fernsehbilder die öffentliche Wahrnehmung dominieren, bringen die Bilder eines Dichters nur noch unschuldige Kinder zum Staunen. Er wird in der Welt nicht mehr erhört. Es sind nun andere, die das Verborgene enthüllen. Jedoch wird dadurch ebenso die Wirkungsmacht von Bildern im Allgemeinen, seien sie sprachlich oder visuell, thematisiert. Auch durch das Aufgreifen der gesehenen Fernsehbilder in ihrem poetischen Text sowie der Beschreibung der Gräuel trägt Sophia Andresen bewusst dazu bei, dass das Beschriebene nicht vergessen wird. Sie benutzt ihre Dichtung gezielt als Instrument des Gedenkens und als Widerstand gegen das Vergessen.
III.3 Poesie der Revolution Im Jahr 1977, drei Jahre nach den Ereignissen des 25. April 1974, veröffentlichte Sophia Andresen den ersten Gedichtband ihres Werks, der nicht der Zensur des Regimes ausgesetzt war. Es ist der erste Band der Autorin, in dem Gedichte datiert und die Kapitel nach Jahreszahlen zusammengefasst und betitelt wurden. Während das erste Kapitel die Jahre unmittelbar vor der Revolution umfasst (1972–73), ist das zweite Kapitel nach den Umbruchsjahren benannt (1974–75). Das dritte Kapitel bleibt ohne Titel, dennoch sind einige Gedichte darin auf die Jahre 1975 bis 1977 datiert. Der Titel des Bandes, O Nome das Coisas, kündigt einen starken, klaren Bezug zu den Dingen und somit der Realität an. Frei von staatlichen Einschränkungen können die Dinge von nun an bei ihrem Namen genannt werden. Im Folgenden soll entlang der Chronologie der Gedichte des Bandes exemplarisch die Entwicklung der Poesie von Sophia Andresen während dieser Jahre und vor dem Hintergrund früherer Werke nachgezeichnet werden.
III.3.1 Vor der Revolution Im ersten Kapitel des Bandes O Nome das Coisas sind Gedichte zusammengefasst, die in den Jahren 1972 und 1973 verfasst wurden. Die Kolonialkriege, die seit 1961 geführt wurden, riefen Anfang der 1970er Jahre auch unter den Militärs zunehmend Unzufriedenheit und Widerstand hervor, so dass etliche Soldaten desertierten. Gleichzeitig hatten zu diesem Zeitpunkt fast zwei Millionen
III.3 Poesie der Revolution
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Portugiesen das Land verlassen. Seit 1968 wurde Portugal von Marcelo Caetano regiert, der den Estado Novo auf die gleiche autoritäre Weise wie Salazar weiterführte. Zu dieser Zeit entstand das Gedicht «Guerra ou Lisboa 72», in dem Sophia Andresen die Kritik an der Sinnlosigkeit und Brutalität des Krieges bereits direkter adressiert als beispielsweise noch in «O soldado morto» 39 aus dem Jahr 1958. Guerra ou Lisboa 72 40 Partiu vivo jovem forte Voltou bem grave e calado Com morte no passaporte Sua morte nos jornais Surgiu em letra pequena É preciso que o país Tenha a consciência serena
Im Titel des Gedichts wird durch «Guerra» mit dem ersten Wort bereits das Thema vorgestellt. Das durch «ou» angeschlossene «Lisboa 72» lässt keinen Zweifel daran, dass mit «Guerra» nicht der Krieg im Allgemeinen, sondern unmissverständlich der portugiesische Kolonialkrieg gemeint ist. «Lisboa 72» und «Guerra» werden durch «ou» als gleichbedeutend und somit austauschbar erklärt. Wer 1972 vom Krieg spricht, spricht auch von Lissabon und umgekehrt.
39 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 330 [Mar Novo, 1958]. «O soldado morto // Os infinitos céus fitam seu rosto / Absoluto e cego / E a brisa agora beija a sua boca / Que nunca mais há-de beijar ninguém. // Tem as duas mãos côncavas ainda / De possessão de impulso de promessa. / Dos seus ombros desprende-se uma espera / Que dividida na tarde se dispersa. // E a luz, as horas, as colinas / São como pranto, em volta do seu rosto / Porque ele foi jogado e foi perdido / E no céu passam aves repentinas.» Dt.: «Der tote Soldat // Die unendlichen Himmel starren in sein Gesicht / Absolut und blind / Und die Brise küsst nun seinen Mund / Der niemals mehr jemanden küssen wird. // Seine beiden Hände sind noch hohl / Vom Besitz vom Drang vom Versprechen. / Von seinen Schultern löst sich eine Hoffnung / Die geteilt am Nachmittag sich zerstreut. // Und das Licht, die Stunden, die Hügel / Sind wie Wehklagen, um sein Gesicht herum / Denn er wurde aufs Spiel gesetzt und wurde verloren / Und am Himmel ziehen plötzlich Vögel vorbei.» [Übersetzung d. Verf.] 40 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 606 [O Nome das Coisas, 1977]. Dt.: «Krieg oder Lissabon 72 // Brach auf lebend jung stark / Kehrte zurück sehr ernst und schweigend / Mit Tod im Pass // Sein Tod in den Zeitungen / Erschien in kleinen Buchstaben / Es ist nötig dass das Land / Ein ruhiges Gewissen hat» [Übersetzung d. Verf.]
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III Dichtung als Chronographie
Die erste Strophe besteht aus drei Versen, die durch einen umschließenden Reim nach dem Schema aba miteinander verbunden sind. Im ersten Vers wird ein Junge bei seiner Abfahrt beschrieben: «Partiu vivo jovem forte» (V. 1). Durch den Gedichttitel ist evident, dass es sich hier um die Beschreibung eines jungen Soldaten handelt, der in den Krieg zieht. Der zweite Vers beginnt syntaktisch äquivalent zum ersten, bildet zu ihm jedoch einen semantischen Kontrast. «Voltou» (V. 2) bildet die Antwort auf «Partiu» (V. 1). Die direkte Abfolge von Abfahrt und Ankunft lässt den Eindruck einer sehr kurzen oder nicht nennenswerten Abwesenheitsperiode entstehen. Der Fokus liegt darauf, in welchem Zustand der Soldat gefahren ist und in welchem er zurückkehrt. Den Adjektiven «vivo jovem forte» (V. 1) wird im zweiten Vers «bem grave e calado» (V. 2) gegenübergestellt, worauf im dritten Vers «Com morte no passaporte» (V. 3) folgt. Die Reimbindung zwischen «forte» (V. 1) und «passaporte» (V. 3) wird ergänzt durch den Binnenreim mit «morte» (V. 3), wobei der Binnenreim zwischen «morte» und «passaporte» durch die geringere Distanz stärker wirkt. Der Tod tritt somit an die Stelle der in «forte» ausgedrückten Lebenskraft und Stärke. Er wird jedoch nicht in Verbindung mit dem Körper des Soldaten gebracht,41 sondern lediglich mit seinem Pass. Dieser steht metonymisch für seine Staatsangehörigkeit und verweist gemeinsam mit dem im Titel genannten Lissabon auf Portugal. So wird ohne jegliches Pathos die Nation thematisiert, für die der Soldat gestorben ist. Durch den Begriff «passaporte» erscheint die Nation als nichts weiter als ein bürokratisches Konstrukt, so dass die Vorstellung, dass Soldaten für einen Verwaltungsapparat in den Tod ziehen, umso absurder erscheint. Die zweite Strophe besteht aus vier Versen im Reimschema cdcd. Im ersten Verspaar wird eine Strategie der Kriegspropaganda beschrieben: «Sua morte nos jornais / Surgiu em letra pequena» (V. 4–5). Der Tod des Soldaten ist nur eine kleine Nachricht, die kaum wahrgenommen wird, da andere, größer und breiter thematisierte Ereignisse von ihm ablenken. Die darauffolgenden Verse enthalten die Begründung für das Schweigen über die Toten: «É preciso que o país / Tenha a consciência serena» (V. 6–7). Damit das Land ein ruhiges Gewissen hat, dürfen die Toten nicht thematisiert werden. Dieser zynische Kausalzusammenhang ist gleichzeitig eine Kritik am Krieg, an der Pressezensur und an den Regierenden, die das Land ruhigstellen wollen. Das Gedicht «Guerra ou Lisboa 72» ist im Vergleich zu allen früheren Texten das erste, in dem offen und direkt Kritik an den herrschenden Zuständen
41 Vgl. Sophia Andresen: O soldado morte. In: Dies.: Obra Poética, S. 330 [Mar Novo, 1958]. Hier werden Gesicht, Schultern und Hände detailliert beschrieben.
III.3 Poesie der Revolution
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geübt wird. In einem anderen Gedicht aus derselben Zeit geht Sophia Andresen sehr viel impliziter vor. Soror Mariana – Beja 42 Cortaram os trigos. Agora A minha solidão vê-se melhor
Während es hier vordergründig um die Einsamkeit des lyrischen Ichs geht, enthält allein der Titel bereits zwei intertextuelle Bezüge, die mit dem Jahr 1972 in Verbindung stehen. Sóror Mariana Alcoforado (1640–1723) war eine portugiesische Nonne im Kloster von Beja, der die Autorschaft der zunächst in französischer Sprache und anonym veröffentlichten Liebesbriefe Lettres portugaises 43 zugeschrieben wurde. In fünf Briefen drückt Mariana ihre bedingungslose Liebe gegenüber ihrem Angebeteten aus, der ihre Hingabe nicht in gleichem Maße erwidert, was sie in Einsamkeit und Verzweiflung stürzt. Im Jahr 1969 wurde das Werk von Eugénio de Andrade neu übersetzt und in einer zweisprachigen Ausgabe veröffentlicht.44 Diese Neuauflage nahmen drei portugiesische Schriftstellerinnen als Inspiration für die 1972 veröffentlichten Novas Cartas Portuguesas. Maria Isabel Barreno, Maria Teresa Horta und Maria Velho da Costa 45 dekonstruieren darin das in der Vorlage präsentierte Stereotyp der verschmähten, unterwürfigen Frau und ersetzen es durch fragmentarische moderne Entwürfe selbstbestimmter weiblicher Identitäten. Mit dem Vorwurf der Pornographie und des Angriffs auf die öffentliche Moral konfrontiert wurden die drei Autorinnen nach Beschlagnahmung des Buches angeklagt und erst nach der Revolution freigesprochen.46
42 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 608 [O Nome das Coisas, 1977]. Dt.: «Schwester Mariana – Beja // Sie haben den Weizen geschnitten. Jetzt / Sieht man meine Einsamkeit besser» [Übersetzung d. Verf.] 43 Anon.: Lettres portugaises. Paris: Claude Barbin 1669. Die Autorschaft der Briefe ist umstritten. Auch Gabriel de Guilleragues, der sich als Übersetzer der Briefe ausgab, kommt als Autor in Frage. Vgl. Ana Luísa Amaral: Breve Introdução. In: Maria Isabel Barreno/Maria Teresa Horta/Maria Velho da Costa: Novas Cartas Portuguesas. Herausgegeben von Ana Luísa Amaral, Lisboa: Dom Quixote 2010, S. XV–XXI, hier: S. XV–XVI. 44 Anon.: Cartas portuguesas atribuídas a Mariana Alcoforado. Tradução de Eugénio de Andrade, desenhos de José Gonçalves Rodrigues. Porto: Editorial Inova Lda. 1969. 45 Sophia Andresen und Maria Velho da Costa waren befreundet. Francisco Sousa Tavares hat Maria Velho da Costa im Prozess vertreten. Vgl. Alberto Vaz da Silva: Evocação de Sophia. Prefácio de Maria Velho da Costa, posfácio de José Tolentino Mendonça. Lisboa: Assírio & Alvim 2009, S. 16. 46 Vgl. Ana Luísa Amaral: Breve Introdução, S. XIX.
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III Dichtung als Chronographie
Mit dem Titel ihres Gedichts «Soror Mariana – Beja» ruft Sophia Andresen nicht nur die beiden angeführten Texte auf, sowohl die klassische Vorlage als auch das Werk von 1972. Sie reflektiert ebenso die Verschleierung der Autorschaft beider Texte sowie das Verbot des Buches von 1972 und die Anklage der Autorinnen. Die Verse des Gedichts sind ebenso vieldeutig. In einer ersten Lesart kann man im lyrischen Ich die Nonne Mariana erkennen, die vor der Kulisse des ländlichen Alentejo ihre Einsamkeit beklagt. Mit dem Wissen um die moderne Adaption des Stoffes, lassen sich jedoch auch andere Assoziationen herstellen. Der in «Cortaram os trigos» enthaltene Weizen ist ein christliches Symbol für Maria.47 Während Sóror Mariana eine abgewandelte Form des Namens trägt, ist Maria der Name aller drei Autorinnen der Novas Cartas Portuguesas, weshalb sie auch als «trés Marias» 48 bezeichnet werden. Somit wird der Bezug zu den Novas Cartas Portuguesas unterstrichen. Während die Weizenähre im antiken Griechenland ein Fruchtbarkeitssymbol der Erde und des Menschen war, kann die Ernte des Getreides als Symbol für den Tod gelten.49 Das durch das Enjambement herausgestellte «Agora» (V. 1) verankert die Perspektive des lyrischen Ichs auf die Zeit nach der Ernte bzw. des Todes. Durch die Ernte und die daraus resultierenden leeren Felder entsteht eine bessere Sichtbarkeit über die Landschaft, was den Blick auf die Einsamkeit des lyrischen Ichs freilegt: «A minha solidão vê-se melhor» (V. 2). Die Einsamkeit ist in den Liebesbriefen der Mariana neben ihrer verzweifelten Liebe das am stärksten zum Ausdruck gebrachte Gefühl. Auf der metapoetischen Ebene steht die im Gedicht bloßgestellte Einsamkeit somit für das gesamte Buch, das zu einem französischen Klassiker wurde und so die Einsamkeit für alle sichtbar machte. Auch 250 Jahre nach dem Tod Marianas hat das Buch nichts von seiner Sichtbarkeit verloren, sondern ist stattdessen, sowohl durch die Neuauflage als auch durch die Adaption des Stoffes, nochmals zu großer Bekanntheit gelangt. Das Erntebild, das hier durch das Verb cortar zerstörerisch und bedrohlich wirkt, kann ebenso als Metapher für Beschlagnahmung der Novas Cartas Portuguesas verstanden werden. Die Kommunikation zwischen Autor und Leser wurde unterbrochen. Die darauffolgende Verbesserung der Sichtbarkeit wirkt paradox, entspricht jedoch den Begebenheiten. Die Wahrnehmung des Buches wurde in der Tat nicht verhindert, sondern durch die Aufmerksamkeit, die der Prozess gegen die Autorinnern hervorrief, verstärkte sie sich sogar. Das Gedicht hebt so die Tragweite des adaptierten Stoffes und der Novas Cartas hervor und
47 Herder-Lexikon Symbole, S. 182. 48 Vgl. Ana Luísa Amaral: Breve Introdução, S. XX. 49 Ebda.
III.3 Poesie der Revolution
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stellt die Wirkungsgewalt literarischer Wahrnehmung heraus. Das Buch hat es geschafft, maximale Aufmerksamkeit auf sich und seine Inhalte zu ziehen. Es wurde sofort im Ausland übersetzt und sollte zum Standardwerk des portugiesischen Feminismus werden. Somit ist in der Formulierung «vê-se melhor» (V. 2) bereits eine Ahnung dessen enthalten, was dieses Werk noch bewirken sollte sowie die Vergewisserung, dass künstlerisches Sichtbar-Machen und ästhetische Wahrnehmung ein wichtiger Antrieb kultureller Veränderung sind.
III.3.2 Zeit des Neubeginns und nach der Revolution Die Ereignisse des 25. April 1974 haben Sophia Andresen zu einigen Gedichten inspiriert, von denen das folgende das bekannteste ist: 25 de Abril 50 Esta é a madrugada que eu esperava O dia inicial inteiro e limpo Onde emergimos da noite e do silêncio E livres habitamos a substância do tempo
Das gesamte Gedicht bezieht sich durch «Esta […] madrugada» (V. 1) und «O dia […] / Onde» (V. 2–3) auf das im Titel angegebene Datum. Der Ausdruck «madrugada» 51 (V. 1) steht metaphorisch für eine Zeit der Erneuerung und des Aufbruchs, die sich das lyrische Ich seit langer Zeit erhoffte: «que eu esperava» (V. 1). Der anbrechende Tag wird als der erste, «dia inicial» (V. 2), also als Beginn einer Serie von Tagen bestimmt, die als «inteiro e limpo» (V. 2) charakterisiert sind. Auf diesen Ausblick auf eine perfekte, reine Zeit folgt eine Rückschau, in der das lyrische Ich ein Kollektiv mit einschließt: «onde emergimos
50 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 618 [O Nome das Coisas, 1977]. Dt.: «Dies ist die Morgendämmerung die ich erhoffte / Der erste Tag vollständig und sauber / An dem wir aus der Nacht und aus dem Schweigen auftauchen / Und frei die Substanz der Zeit bewohnen.» [Übersetzung d. Verf.] 51 Sophia Andresen vermeidet die in politischer Rhetorik häufiger gebrauchte Metapher «aurora» (dt. ‹Morgenröte›) und verwendet stattdessen «madrugada» (dt. ‹Morgendämmerung›, ‹Morgengrauen›). Dies kann als Hinweis auf eine bewusste Reduzierung der ideologischen Einfärbung des Gedichts gesehen werden. Auch in Bibeltexten ist die Morgendämmerung die Zeit des Aufbruchs (Vgl. Gen 19,27; Ex 24,4; Ex 34,4; u. a.) und göttlicher Botschaften (Vgl. Gen 19,15; Ex 19,16; Ex 14,24; u. a.). Als Metapher für geschichtliche Ereignisse sind Jahres- und Tageszeiten generell beliebt (Vgl. Alexander Demandt: Metaphern fur Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historischpolitischen Denken. München: Beck 1978, S. 158–160).
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III Dichtung als Chronographie
da noite e do silêncio» (V. 3). An dieser Stelle wird ein Schnitt gemacht, es gibt nun ein Vorher und ein Nachher, die sich um einen Punkt der radikalen Veränderung reihen. Das Vorher ist gekennzeichnet durch die Begriffe «noite» (V. 3) und «silêncio» (V. 3), die sich metaphorisch auf die Lebenswirklichkeit im Estado Novo beziehen lassen und bereits in früheren Gedichten zur Beschreibung dieser Zeit verwendet wurden. Die Nacht steht für Dunkelheit, Intransparenz, Angst und Schrecken während das Schweigen für Unterdrückung und fehlende Meinungsfreiheit steht. Im letzten Vers gibt das lyrische Wir einen Ausblick auf die Zukunft: «E livres habitamos a substância do tempo» (V. 4). Die Suche nach dem Wesen der Zeit beschäftigt die Philosophie seit der Antike. Die Annäherung an das Phänomen der Zeit hat etwas Utopisches, da Zeit selbst nur anhand einer Abfolge von Ereignissen erfahrbar ist. Die im Gedicht Gegenwart und Zukunft ausmachende «substância do tempo» (V. 4) wirkt somit leer, was gleichzeitig eine unendliche Fülle von Möglichkeiten ausdrückt. Dies wird unterstrichen durch «livres» (V. 4), das sich auf das lyrische Wir bezieht. Zum ersten Mal kann das lyrische Wir in Freiheit leben und sieht die Zeit als utopischen Raum der unendlichen Möglichkeiten. Im Rückbezug auf «dia […] inteiro» (V. 2) verweist «tempo» (V. 4) auf das in früheren Werken abgebildete Konzept des «tempo dividido». Im Gedicht zum 25. April wird diese Zeit der Teilung für das lyrische Ich als abgeschlossen betrachtet. Dieser Bezug auf das eigene Werk lässt den im Gedicht thematisierten Anbruch einer neuen Zeit auch als Veränderung für das eigene Schreiben erscheinen. Es wirkt wie eine Ankündigung, dass der 25. April nicht nur politische Folgen, sondern ebenso Einfluss auf die Ästhetik der Autorin haben werde. Evident wird dies durch das im gesamten Band wiederholte Heranziehen des metapoetischen Vergleichs der Revolution mit einem leeren Blatt Papier: Como página em branco Onde o poema emerge 52 […] Como poema a partir da página em branco 53 […]
52 Sophia Andresen: Revolução. In: Dies.: Obra Poética, S. 619 [O Nome das Coisas, 1977], hier: V. 11–12. Dt.: «Wie eine weiße Seite / Auf der das Gedicht auftaucht» [Übersetzung d. Verf.] 53 Sophia Andresen: Revolução – Descobrimento. In: Dies.: Obra Poética, S. 623 [O Nome das Coisas, 1977], hier: V. 3. Dt. «Wie ein Gedicht von der weißen Seite» [Übersetzung d. Verf.]
III.3 Poesie der Revolution
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Recomeçar a partir da página em branco Como escrita de poema obstinado? 54 […] Por isso recomeço sem cessar a partir da página em branco E este é o meu ofício de poeta para a reconstrução do mundo 55
Der metapoetische Bezug der Metapher ist in jeder ihrer Verwendungen deutlich, er wird jedoch in der Chronologie der Gedichte und somit mit zunehmendem Abstand zum Revolutionstag konkreter. Während in den ersten beiden Verwendungen des Jahres 1974 die leere Seite als Metapher für den Neuanfang nach der Revolution steht, wird im dritten Gedicht, das mit 1975 datiert ist, die Möglichkeit der Umsetzung dieses sauberen Neubeginns in Frage gestellt. In «A forma justa» einem aus dem dritten Kapitel stammenden Gedicht, das wahrscheinlich von 1976 stammt, wird die Metapher deutlicher. Das weiße Blatt Papier ist nicht mehr nur Metapher einer diffusen Hoffnung auf einen Neuanfang, sondern steht in einem konkreteren Bezug zur Arbeit der Schriftsteller. Die Erschaffung der neuen Welt wird auch als Dienst der Dichter aufgefasst: «E este é o meu ofício de poeta para a reconstrução do mundo».56 Das ständige Erschaffen von neuem, das die Arbeit der Schriftsteller kennzeichnet, werde zum Wiederaufbau der Welt beitragen. Hier wird sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Dichtung für Sophia Andresen eine schöpferische Wirkung auf die Gesellschaft besitzt und deshalb, wie Platon bereits in seinen Staatsentwürfen dargelegt hat, jeder Dichter eine ethische Verantwortung trägt. Auch wenn sich ästhetisch eine Veränderung abzeichnet, verdeutlicht sich im Band O Nome das Coisas umso mehr der ethische Anspruch der Dichterin. Das Ende der Zensur sollte für Sophia Andresen zwar das Ende des Zwangs eines verdeckten Schreibens darstellen, jedoch nicht das Ende ihrer zeitkritischen Dichtung. Dies wird beispielsweise in dem bereits hier behandelten Gedicht «Com fúria e raiva» 57 oder auch in «Nesta Hora» 58 und «Lagos II» 59 deutlich.
54 Sophia Andresen: Os Erros. In: Dies.: Obra Poética, S. 635 [O Nome das Coisas, 1977], hier: V. 10–11. Dt.: «Neu beginnen ab der weißen Seite / Wie das Schreiben eines hartnäckigen Gedichts?» [Übersetzung d. Verf.] 55 Sophia Andresen: A forma justa. In: Dies.: Obra Poética, S. 660 [O Nome das Coisas, 1977], hier: V. 14–15. Dt.: «Deshalb beginne ich fortwährend neu von der weißen Seite / Und dies ist mein Handwerk als Dichter für den Neubau der Welt» [Übersetzung d. Verf.] 56 Sophia Andresen: A forma justa, V. 15. 57 Vgl. Kapitel III.1.3. 58 Sophia Andresen: Nesta Hora. In: Dies.: Obra Poética, S. 620 [O Nome das Coisas, 1977]. 59 Sophia Andresen: Lagos II. In: Dies.: Obra Poética, S. 633–634 [O Nome das Coisas, 1977].
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III Dichtung als Chronographie
In «Nesta Hora» ist im Anschluss an die Gedichte «25 de Abril» und «Revolução», auf die es in der Chronologie des Bandes folgt, bereits im Titel der temporale Bezug zur Umbruchszeit hervorgehoben. Darin fordert das lyrische Ich «a verdade toda» (V. 1) und warnt vor der «meia verdade» (V. 5). In «Lagos II» wird der zeitliche Bezug in Abschnitt IV über den Monat «Abril» (V. 1) hergestellt. IV 60 Ou poderemos Abril ter perdido O dia inicial inteiro e limpo Que habitou nosso tempo mais concreto? Será que vamos paralelamente Relembrar e chorar como um verão ido O país linear e transparente E sua luz de prumo e de projecto?
Hier wird, datiert auf das Jahr 1975, bereits der Erfolg der Revolution in Frage gestellt. Der Vergleich mit der Trauer um einen vergangenen Sommer, «Relembrar e chorar como um verão ido» (V. 5), enthält den Eindruck einer nicht genutzten Zeit und einer verpassten Chance.
60 Sophia Andresen: Obra Poética, S. 633–634 [O Nome das Coisas, 1977]. Dt.: «IV // Oder werden wir April schon verloren haben / Den ersten Tag vollkommen und rein / Der unsere konkretere Zeit bewohnte? // Werden wir gleichsam / Erinnern und beweinen wie einen vergangener Sommer / Das lineare und transparente Land // Und sein Licht von Haltung und Plan?» [Übersetzung d. Verf.]
IV Schlussbetrachtung Aufgrund ihrer ersten Veröffentlichungen in den Cadernos de Poesia zählte man Sophia Andresen häufig zu einer Dichtergeneration, die Jorge de Sena gar nicht als eine solche bezeichnen wollte: «Tudo os separa» 1 war rückblickend seine Bilanz über die Gemeinsamkeiten der Autorinnen und Autoren, die zu dieser Generation gezählt werden. Dazu gehörten neben Sena und Andresen beispielsweise auch Ruy Cinatti und Eugénio de Andrade, Tomás Kim und José Blanc de Portugal. Diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller einte die Betonung der Freiheit von Literatur und ihre Ablehnung einer Unterwerfung unter eine bestimmte ästhetische Schule. Dies muss vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Auseinandersetzungen zwischen den Konzeptionen einer «poesia social» und der «poesia pura» betrachtet werden, die zwischen «neo-realistas» und «presencistas» in den 1930er Jahren fortgeführt worden waren.2 Mit den Cadernos de Poesia beabsichtigten die Herausgeber, sich über diesen Streit hinwegzusetzen und eine Plattform für verschiedenste Stimmen zu bieten. Jorge de Sena betrachtete die damalige Zeit als Möglichkeit der politischen Experimente und sollte später voller Wehmut auf die Dichter der Cadernos als «as vozes da liberdade perdida» 3 zurückblicken. Die gemeinsamen Überzeugungen der in der Zeitschrift vereinten unterschiedlichen Schriftstellerinnen und Schriftsteller waren demnach nicht allein ästhetischer, sondern auch ethischer Natur. So hielt auch Luís Adriano Carlos in seiner Einleitung der Gesamtausgabe der Cadernos fest, was diese Autoren verbinde sei eine «homogeneidade, sem dúvida geracional, de uma mesma altitude vital e de um mesmo fundo de consciência crítica da poesia como expressão da dignidade humana».4 Und Sena selbst schrieb in seinem Vorwort zur zweiten Serie der Zeitschrift über die daran beteiligten Autoren: «representam […] uma atitude de lucidez, compreensão e independência».5
1 Jorge de Sena: Estudos de Literatura Portuguesa I. Lisboa: Ediç̃oes 70 1988, S. 234. 2 Vgl. Luís Adriano Carlos: Fenomenologia do Discurso Poético. Porto: Campo das Letras 1999, S. 305–314; Ders.: A poesia de Sophia. In: Línguas e literaturas: revista da Faculdade de Letras do Porto Nr. 17 (2000), S. 233–250. 3 Jorge de Sena: Estudos de Literatura Portuguesa III. Lisboa: Ediç̃oes 70 1988, S. 148. 4 Luís Adriano Carlos: A Geração dos Cadernos de Poesia. In: Óscar Lopes/Maria de Fátima Marinho u. a.: Hístoria da Literatura Portuguesa – As Correntes Contemporâneas. Vol. 7. Lisboa: Publicações Alfa 2002, S. 241. 5 Jorge de Sena/José Blanc de Portugal u. a.: A Poesia é só uma. In: Jorge de Sena/Ruy Cinatti u. a. (Hrsg.): Cadernos de Poesia II, Nr. 6 (1951), S. 5–8, hier: S. 6 (In: Luís Adriano Carlos/ Joana Matos Frias, Cadernos de poesia, Reprodução fac-similada. Porto: Campo das letras 2004 (Obras clássicas da literatura portuguesa 118. Séc. XX)). https://doi.org/10.1515/9783110525144-005
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IV Schlussbetrachtung
Das den Cadernos de Poesia vorangestellte Motto «A Poesia é só uma» fasst das Verständnis von Poesie zusammen als Resultat eines «compromisso firmado entre um ser humano e o seu tempo, entre uma personalidade e uma consciência sensível do mundo, que mútuamente se definem.».6 Somit war Poesie im Verständnis der Cadernos auch immer ein Spiegel ihrer Zeit. Die Verbindung von Ethik und Ästhetik als Ausdruck menschlicher Würde gilt zu Recht als die Schnittmenge, in der die unterschiedlichen dichterischen Projekte der Autorinnen und Autoren einander berührten. In dieser Tradition ist die Dichtung von Sophia Andresen zu verstehen und aus dieser Haltung heraus wandte sie sich durch die mit der beschriebenen Dichtergruppe geteilten Prinzipien gegen ein autoritäres System und eine inhumane Welt. Ein Modus dieser Kritik war ihre dichterische Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen des Salazar-Regimes. Sie legte in ihren Gedichten die Gefahr messianistischer Verehrung politischer Führer und die Scheinheiligkeit der Mächtigen sprachlich präzise offen. Das distanzierte Verhältnis zur Salazarschen Vorstellung der portugiesischen pátria verhandelte das lyrische Ich ihrer Gedichte aus dem Exil heraus, in das Sophia Andresen selbst nie gegangen ist. Ihre Kritik schöpfte sich aus der vertieften Befassung mit der portugiesischen Sprach- und Literaturgeschichte, wenn sie traditionelle Nationalsymbole und -metaphern neu kontextualisierte und interpretierte, diskursive Grenzen poetisch überschritt und den Zynismus der Salazarschen Rhetorik in der Sprachbetrachtung des Gedichts enttarnte. Als zweiten Modus von Kritik lotete Sophia Andresen das widerständige Potential der lyrischen Form im Allgemeinen sowie einzelner ästhetischer Traditionen im Besonderen aus. Dabei stand die Wirkungskraft von Poesie als ethisches Korrektiv im Vordergrund. Der dritte Modus der Kritik, der in der Analyse des Gesamtwerks der Autorin auffällig war, besteht in der Zeithaltigkeit der Gedichte Andresens. In ihrer Auseinandersetzung mit Zeit sowie historischen Orten, Personen und Ereignissen entfaltete ihre Dichtung ihr zeitkritisches Potential. Die drei Hauptkapitel dieser Studie sollten in ihrer Zusammenschau verdeutlichen, wie Sophia Andresen die poetische Form als Form geistigen Widerstands in einer bis heute zutiefst beindruckenden Konsequenz umgesetzt hat. Was für die hier untersuchte Dichterin gilt, hat nicht nur für ihr Werk Geltung: Insgesamt ist die Zeit der nicht regimekonformen, dabei aber nicht explizit engagiert zu nennenden Literatur während des Estado Novo als Kapitel der portugiesischen Literaturgeschichte in der lusitanistischen Forschung noch
6 Ebda., S. 6–7.
IV Schlussbetrachtung
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nicht hinreichend behandelt worden. Dies gilt vor allem für diejenigen Autorinnen und Autoren, die im Land geblieben sind und unter massiv erschwerten Bedingungen ihre Texte veröffentlichten. Aus dieser Forschungslücke herausragende Projekte sind beispielsweise jene der internationalen Forschergruppe «Novas Cartas Portuguesas 40 Anos Depois», geleitet von Ana Luísa Amaral. Doch nicht nur dieses durch seine Veröffentlichungsgeschichte bereits bekannte Werk verlangt eine präzise Aufarbeitung. Neben den bereits im Kontext der Cadernos de Poesia genannten Autoren sind ebenso die Dichtung von Natália Correia, Alexandre O’Neill und Mário Cesariny, das Theater von José Régio und Bernardo Santareno sowie die Romane von José Cardoso Pires und Agustina Bessa-Luís zu nennen. Dies gelte es auch zu prüfen für die Autorinnen und Autoren des Nachbarlandes Spanien, die während der franquistischen Diktatur ihrer Kritik durch poetische Texte Ausdruck verliehen haben, wie etwa Vicente Aleixandre. Vor diesem iberoromanischen Horizont wäre insgesamt die Rolle der lyrischen Dichtung erneut historisch zu bedenken. In den vergangenen Jahrzehnten ist das Verhältnis von Lyrik und Gesellschaft aus dem Fokus geraten. Sophia Andresens dichterisches Werk legt ein eindrucksvolles Zeugnis davon ab, wie das Ernstnehmen aller Facetten der poetischen Form in Zeiten der Unfreiheit geistigen Widerstand zu erhalten vermag.
V Literaturverzeichnis V.1 Primärtexte V.1.1 Sophia de Mello Breyner Andresen Die bibliographischen Angaben zum Werk Sophia Andresens sind exemplarisch und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Dichtung Andresen, Sophia de Mello Breyner: Obra poética. Herausgegeben von Carlos Sousa Mendes. Alfragide: Caminho ²2011. Erstausgaben: – Poesia. Coimbra: Edição da Autora 1944. – Dia do Mar. Lisboa: Edições Ática 1947. – Coral. Porto: Livraria Simões Lopes 1950. – No Tempo Dividido. Lisboa: Guimarães Editores 1954. – Mar Novo. Lisboa: Guimarães Editores 1958. – O Cristo Cigano. Lisboa: Minotauro 1961. – Livro Sexto. Lisboa: Livraria Morais Editora 1962. – Geografia. Lisboa: Edições Ática 1967. – O Nome das Coisas. Lisboa: Moraes Editores 1977. – Dual. Lisboa: Moraes Editores 1972. – Navegações. Lisboa: Imprensa Nacional-Casa da Moeda 1983. – Ilhas. Ilustração de Xavier Sousa Tavares. Lisboa: Texto Editora 1989. – Musa. Lisboa: Editorial Caminho 1994. – O Búzio de Cós e outros poemas. Lisboa: Editorial Caminho 1997.
Kinderliteratur Andresen, Sophia de Mello Breyner: A Menina do Mar. Lisboa: Edições Ática 1958. – A Fada Oriana. Lisboa: Edições Ática 1958. – A Noite de Natal. Lisboa: Edições Ática 1959. – O Cavaleiro da Dinamarca. Porto: Figueirinhas 1964. – O Rapaz de Bronze. Lisboa: Minotauro 1966. – A Floresta. Porto: Figueirinhas 1968.
Prosa Andresen, Sophia de Mello Breyner: Contos Exemplares. Lisboa: Livraria Morais Editora 1962. – Os Três Reis do Oriente. Lisboa: Estúdios Cor 1965. – Histórias da Terra e do Mar. Lisboa: Edições Salamandra 1984. https://doi.org/10.1515/9783110525144-006
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V Literaturverzeichnis
Theater Andresen, Sophia de Mello Breyner: O Bojador. Separata da Escola Portuguesa, DirecçãoGeral do Ensino Primário 1961. – O Colar. Lisboa: Editorial Caminho 2001.
Essays Andresen, Sophia de Mello Breyner: A Poesia de Cecília Meireles. In: Cidade Nova – Revista de Cultura IV, Nr. 6 (1956). – Poesia e Realidade. In: Colóquio – Revista de Artes e Letras, Nr. 8 (1960). – Caminhos da Divina Comédia. In: Diário de Lisboa, 13 de Maio e 1 de Julho de 1965. – O Nu na Antiguidade Clássica. Lisboa: Estúdios Cor 1975.
Korrespondenz Andresen, Sophia de Mello Breyner/Sena, Jorge de: Sophia de Mello Breyner, Jorge de Sena: Correspondência 1959–1978. Lisboa: Guerra e Paz 2010 (Colecção tempos modernos).
Übersetzungen Claudel, Paul: A anunciação de Maria. Lisboa: Editorial Aster (s/d [1960]). Dante: O Purgatório. Lisboa: Minotauro 1962. Eurípides: Medeia. Lisboa: Editorial Caminho 2006. Mireaux, Émile: A vida quotidiana no tempo de Homero. Lisboa: Livros do Brasil (s/d [c.1957]). Shakespeare, William: Hamlet. Porto: Lello & Irmão Editores 1987.
V.1.2 Andere Autoren Alighieri, Dante: La Commedia / Die Göttliche Komödie. I. Inferno / Hölle. Italienisch / Deutsch, In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler, Stuttgart: Reclam 2012. Anon.: Cartas portuguesas atribuídas a Mariana Alcoforado. Tradução de Eugénio de Andrade, desenhos de José Gonçalves Rodrigues. Porto: Editorial Inova Lda. 1969. Anon.: Lettres portugaises. Paris: Claude Barbin 1669. Barreno, Maria Isabel et al.: Novas cartas portuguesas: Edição anotada. Lisboa: D. Quixote 2010. Camões, Luís de: Os Lusíadas. Herausgegeben von Amélia Pinto. Porto: Areal 1996. Camões, Luís de: Os Lusíades – Die Lusiaden. Übersetzt von Hans Joachim Schaeffer. Berlin: Elfenbein 2010. Carlos, Luís Adriano/Frias, Joana Matos (Hrsg.): Cadernos de poesia, Reprodução facsimilada. Porto: Campo das letras 2004 (Obras clássicas da literatura portuguesa 118. Séc. XX). Cooperativa Cultural Alentejana (Hrsg.): 50 anos depos da morte. Catarina de Baleizão. Colectânea de textos. Beja: Edição Cooperativa Cultural Alentejana 2004, S. 52–62.
V.2 Sekundärliteratur
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Homer: Ilias. Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Düsseldorf: Patmos 2003. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Band 2, herausgegeben von Karl Schlechta. München: Hanser 1954. O’Neill, Eugene: Electra e os Fantasmas. Traduçao ̃ livre do texto americano [Mourning becomes Electra] por Henrique Galvão. Lisboa: Livraria Popular de Francisco Franco 1943. – Mourning becomes Electra [1931]. In: Ders.: Nine plays. New York: Random House 1954, S. 683–867. Ovid: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht. Stuttgart: Reclam 1994. Pessoa, Fernando: Mensagem [1934]. Edição Fernando Cabral Martins. Lisboa: Assirio & Alvim 42004. – Da República (1910–1935). Herausgegeben von Joel Serrão. Lissabon: Àtica 1978. – A grande alma portuguesa: a carta ao Conde de Keyserling e outros dois textos inéditos. Lisboa: Lencastre 1988 (Colecçao ̃ Pessoana 2). – Esoterische Gedichte. Mensagem. Englische Gedichte. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Georg Rudolf Lind. Zürich: Ammann-Verlag 1989. – Pessoa Inédito. Hrsg. von Teresa Rita Lopes. Lissabon: Livros Horizonte 1993. – Contra Salazar. Hrsg. von António Lourenço. Coimbra: Angelus Novus 2008. – Sobre o Fascismo, a Ditadura Militar e Salazar. Hrsg. von José Barreto. Lisboa: Tinta-daChina 2015. Rousseau, Jean-Jacques: Les Confessions [1782]. Livre VI. Paris: Launette 1889. Schiller, Friedrich: Die Götter Griechenlandes [1788]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Erster Band. Gedichte / Dramen I. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München: Carl Hanser 81987, S. 163–173. Silva, Maria Natália Duarte: Obra Poética. Porto: Afrontamento 2011. Sophokles: Antigonae. Übersetzt von Friedrich Hölderlin. In: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 5. Band, Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1954. Vergil: Georgica. Vom Landbau. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 1994. Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Übersetzt von Rudolf Preiswerk. Stuttgart: Reclam 1997.
V.2 Sekundärliteratur V.2.1 Zur Geschichte Portugals und des Estado Novo Abreu, José Guilherme: Sagres’ Saga. Monument in Landscape, or Landscape as Monument. In: CITAR Research Center for Science and Technology of the Arts. Portuguese Catholic University 4, Nr. 1 (2012), S. 11–25. Alexandre, Valentim: Der Estado Novo und das Kolonialreich. In: Fernando Rosas (Hrsg.): Vom Ständestaat zur Demokratie: Portugal im 20. Jh. München: Oldenbourg Verlag 1997, S. 75–88. Almeida, João Miguel: A oposição católica ao Estado Novo, 1958–1974. Lisboa: Nelson de Matos 2008 (Colecção História hoje 1).
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V.2.6 Übersetzungen einzelner Gedichtbände und Anthologien Andresen, Sophia de Mello Breyner/Fainlight, Ruth: Marine rose: Selected poems. Redding Ridge, CT: Black Swan Books 1986 (Contemporary European poets series). Andresen, Sophia de Mello Breyner/Vital, Joaquim: Navigations: Poèmes. Paris: La Différence 1988. Andresen, Sophia de Mello Breyner/Bertolazzi, F.: Come un grido puro. Milano: Crocetti 2013 (Lekythos 56). Andresen, Sophia de Mello Breyner/Bakke, Tove: Sjøfarar, Oslo: Cappelen 2000. Andresen, Sophia de Mello Breyner/Bellessi, Diana: Desnuda y aguda la dulzura de la vida: Traducción de Diana Bellessi. Buenos Aires: Adriana Hidalgo Editora 2002. Andresen, Sophia de Mello Breyner/Zenith, Richard u. a.: Ilhas: Poemas escolhidos − Islands: selected poems. Lisboa: Texto Editora 1995. Andresen, Sophia de Mello Breyner/Cattaneo, Carlo Vittorio: Il nome delle cose. Rom: Associazione culturale «Portucale» 1983. Andresen, Sophia de Mello Breyner/Jingming, Yao: Suofeiya shi xuan: Poemas de Sophia: 1944–1989 / Sophia de Mello Breyner Andresen. Macao, Shijiazhuang: Instituto Cultural, Montanha das Flores 1995 (Pu yu zuo jia cong shu. Wen xue xi lie 4). Andresen, Sophia de Mello Breyner/Jingming, Yao: Viver em Pleno Vento. Macao: Instituto Camões/IPOR 2015. Andresen, Sophia de Mello Breyner/Masin, Simonetta: Corpo a corpo e altre poesie. Pistoia: Petite plaisance 2011 (Filo di perle). Andresen, Sophia de Mello Breyner/Chandeigne, Michel: La Nudité de la vie: Anthologie. Bordeaux: L’Escampette 1996. Andresen, Sophia de Mello Breyner/Parada, Ruis Cascais: Shores, horizons, voyages: Selected poems. Hong Kong: Orchid 2005.
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Gedichtverzeichnis 25 de Abril 193, 196, 247 A Anémona dos Dias 26, 34, 40, 41, 219 A Forma Justa 195, 249 „A liberdade que dos deuses eu esperava“ 172, 239 „A longinqua memória de uma pátria“ 61, 62, 222 A paz sem vencedor e sem vencidos 140, 141, 143, 233 A veste dos fariseus 26, 47, 49, 91, 221 „As imagens transbordam fugitivas“ 130, 131, 230 As pessoas sensíveis 26, 42, 44, 47, 49, 91, 220 Babilónia 144, 146, 234 Camões e a tença 153, 236 Carta aos amigos mortos 49, 132, 133, 134, 136, 137, 231 Catarina Eufémia 82, 84, 90, 91, 177, 226 Caxias 68 182, 242 Che Guevara 181, 182, 242 Com Fúria e Raiva 103, 195, 227 Data 168, 169, 238 Electra 122, 124, 229 Esta Gente 77, 78, 82, 91, 98, 225 „Este é o tempo“ 67, 165, 167, 238 Exílio [Livro Sexto, 1962] 66, 67, 223 Exílio [O Nome das Coisas, 1977] 130, 230
Maria Natália Teotónio Pereira 178, 182, 241 Musa 111, 112, 114, 115, 228 Não te esqueças nunca 183, 184, 243 No Tempo Dividido 173, 239 „Nunca mais“ 174, 240 O soldado morto 189, 245 O Super-Homem 99, 101, 227 O Velho Abutre 95, 98, 226 O Vidente 26, 27, 31, 32, 34, 35, 41, 218 Os Erros 195, 248 Pátria 63, 64, 65, 66, 223 Penélope 117, 229 Pirata 56, 57, 58, 60, 222 Poema inspirado nos panéis que Júlio Resende desenhou para o monumento que devia ser construído em Sagres 68, 69, 224 Pranto pelo dia de hoje 170, 239 Procelária 107, 228 „Profetas falsos vieram em teu nome“ 26, 39, 219 Ressurgiremos 174, 175, 176, 177, 240 Revolução – Descobrimento 194, 248 Revolução 194, 196, 247
Guerra ou Lisboa 72 189, 190, 246
„Senhor se da tua pura justiça“ 137, 138, 232 Soneto de Eurydice 117, 148, 152, 235 Soror Mariana – Beja 191, 192, 246
Lagos II 195, 196, 250 Lusitânia 75, 76, 80, 225
Tão grande dor 184, 185, 244 Túmulo de Lorca 158, 159, 237
https://doi.org/10.1515/9783110525144-007
Anhang Übersetzungen ins Deutsche Die folgenden Übersetzungen sind keineswegs poetische Nachbildungen, sondern bieten als wörtliche Übertragungen ins Deutsche eine Hilfestellung für Leser ohne Portugiesischkenntnisse. Jedoch wurden die Versgrenzen auch für die Übersetzung weitestgehend eingehalten, so dass darin der grammatikalisch korrekten Syntax meist eine positionsäquivalente Anordnung vorgezogen wurde. Die dadurch erschwerte Lesbarkeit der deutschen Texte sei zu entschuldigen.
https://doi.org/10.1515/9783110525144-008
220
Anhang
O Vidente O Vidente
Der Seher
Vimos o mundo aceso nos seus olhos, E por os ter olhado nós ficámos Penetrados de força e de destino.
Wir sahen die brennende Welt in seinen Augen Und weil wir in sie hineingeschaut haben, wurden wir Durchdrungen von Kraft und von Schicksal.
Ele deu carne àquilo que sonhámos, E a nossa vida abriu-se, iluminada Pelas imagens de oiro que ele vira,
Er gab dem Fleisch was wir erträumten, Und unser Leben öffnete sich, erleuchtet Durch die goldenen Bilder, die er sah,
Veio dizer-nos qual a nossa raça, Anunciou-nos a pátria nunca vista, E a sua perfeição era o sinal De que as coisas sonhadas existiam.
Er kam, uns zu sagen, welches unser Volk ist, Kündigte uns ein nie gesehenes Vaterland an, Und seine Perfektion war das Zeichen Dafür, dass die erträumten Dinge existierten.
Vimo-lo voltar das multidões Com o olhar azulado de visões Como se tivesse ido sempre só.
Wir sahen ihn zurückkehren aus den Mengen, Mit dem Blick bläulich von Visionen, Als wäre er immer allein gegangen.
Tinha a face voltada para a luz, Intacto caminhava entre os horrores, Interior à alma como um conto.
Sein Antlitz war dem Licht zugewandt, Unversehrt schritt er durch die Gräuel, Der Seele innerlich wie eine Geschichte.
E ei-lo caído à beira do caminho, Ele – o que partira com mais força Ele – o que partira pra mais longe.
Und da ist er, gefallen am Rande des Weges, Er – der aufgebrochen war mit mehr Kraft Er – der aufgebrochen war in weitere Ferne.
Porque o ergueste assim como um sinal? Pusemos tantos sonhos em seu nome! Como iremos além da encruzilhada Onde os seus olhos de astro se quebraram?
Weshalb hast du ihn so wie ein Zeichen erhoben? Wir haben so viele Träume in seinen Namen gesetzt! Wie werden wir über die Kreuzung hinausgehen An der seine Sternenaugen zerbrachen?
Aus: Obra Poética (2011), S. 69 [Poesia, 1944].
Übersetzungen ins Deutsche
221
A Anémona dos Dias A Anémona dos Dias
Die Anemone der Tage
Aquele que profanou o mar E que traiu o arco azul do tempo Falou da sua vitória
Derjenige, der das Meer entweihte Und den blauen Bogen der Zeit verriet Sprach von seinem Sieg
Disse que tinha ultrapassado a lei Falou da sua liberdade Falou de si próprio como de um Messias
Er sagte, er habe das Gesetz übertreten Sprach von seiner Freiheit Sprach von sich selbst wie von einem Messias
Porém eu vi no chão suja e calcada A transparente anémona dos dias.
Jedoch sah ich am Boden, schmutzig und zertreten Die transparente Anemone der Tage.
Aus: Obra Poética (2011), S. 329 [Mar Novo, 1958], ursprünglich erschienen in: Jornal da Juventude Universitária Católica Portuguesa, n.° 7, Jan. 1957, S. 1.
«Profetas falsos vieram em teu nome» Profetas falsos vieram em teu nome Anjos errados disseram que tu eras Um poema frustrado Na angústia sem razão das Primaveras
Falsche Propheten kamen in deinem Namen Irrtümliche Engel sagten du seiest Ein gescheitertes Gedicht In der grundlosen Beklemmung der Frühjahre
Porém eu sei que tu és a verdade E és o caminho transparente e puro Embora eu não te encontre e no obscuro Mundo das sombras morra de saudade.
Jedoch weiß ich, dass du die Wahrheit bist Und du bist der transparente und reine Weg Obwohl ich dich nicht finde und in der dunklen Welt der Schatten vor Sehnsucht vergehe.
Aus: Obra Poética (2011), S. 319 [Mar Novo, 1958].
222
Anhang
As pessoas sensíveis As pessoas sensíveis
Die Feinfühligen
As pessoas sensíveis não são capazes
Die Feinfühligen sind nicht fähig
De matar galinhas Porém são capazes De comer galinhas
Hühner zu töten Jedoch sind sie fähig Hühner zu essen
O dinheiro cheira a pobre e cheira À roupa do seu corpo Aquela roupa Que depois da chuva secou sobre o corpo Porque não tinham outra O dinheiro cheira a pobre e cheira A roupa Que depois do suor não foi lavada Porque não tinham outra
Das Geld riecht ärmlich und riecht Nach der Kleidung seines Körpers Jene Kleidung Die nach dem Regen am Körper trocknete Denn sie hatten keine andere Das Geld riecht ärmlich und riecht Nach Kleidung Die nach dem Schweiß nicht gewaschen wurde Denn sie hatten keine andere
«Ganharás o pão com o suor do teu rosto»
«Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein [Brot verdienen» So wurde es uns auferlegt Und nicht: «Mit dem Schweiße der anderen sollst du dein [Brot verdienen»
Assim nos foi imposto E não: «Com o suor dos outros ganharás o pão»
Ó vendilhões do templo Ó construtores Das grandes estátuas balofas e pesadas Ó cheios de devoção e de proveito Perdoai-lhes Senhor Porque eles sabem o que fazem
Aus: Obra Poética (2011), S. 435 [Livro Sexto, 1962].
Oh Händler des Tempels Oh Baumeister Der großen wulstigen und schweren Statuen Oh voll Frömmigkeit und Profit Verzeih Ihnen Herr Denn sie wissen was sie tun
Übersetzungen ins Deutsche
A veste dos fariseus A veste dos Fariseus
Das Gewand der Pharisäer
Era um Cristo sem poder Sem espada e sem riqueza Seus amigos o negaram Antes do galo cantar A polícia o perseguia Guiada pelos Fariseus
Er war ein Christus ohne Macht Ohne Schwert und ohne Reichtum Seine Freunde verleugneten ihn Bevor der Hahn krähte Die Polizei verfolgte ihn Geführt durch die Pharisäer
O poder lavou as mãos Daquele sangue inocente Crucificai-o depressa Lhe pedia toda a gente Guiada pelos Fariseus
Die Macht wusch ihre Hände Von diesem unschuldigen Blut Kreuzigt ihn schnell Verlangten alle von ihr Geführt durch die Pharisäer
Foi cuspido e foi julgado No centro de uma cidade Insultos o perseguiam E morreu desfigurado
Er wurde angespuckt und verurteilt Im Zentrum einer Stadt Beleidigungen verfolgten ihn Und er starb entstellt
O templo rasgou os seus véus E Pilatos seus vestidos Rasgaram seu coração Maria, mãe de João João, filho de Maria
Der Tempel zerriss seine Schleier Und Pilatus seine Gewänder Sie zerrissen sein Herz Maria, Mutter des Johannes Johannes, Sohn der Maria
A treva caiu dos céus Sobre a terra em pleno dia Nem uma nódoa se via Na veste dos Fariseus
Die Finsternis fiel von den Himmeln Über die Erde am helllichten Tag Nicht einen Fleck sah man Auf dem Gewand der Pharisäer
Aus: Obra Poética (2011), S. 434 [Livro Sexto, 1962].
223
224
Anhang
Pirata Pirata
Pirat
Sou o único homem a bordo do meu barco. Os outros são monstros que não falam, Tigres e ursos que amarrei aos remos, E o meu desprezo reina sobre o mar.
Ich bin der einzige Mensch an Bord meines Schiffes. Die anderen sind Ungeheuer, die nicht sprechen, Tiger und Bären, die ich an die Ruder festgebunden [habe, Und meine Verachtung beherrscht das Meer.
Gosto de uivar no vento com os mastros E de me abrir na brisa com as velas, E há momentos que são quase esquecimento Numa doçura imensa de regresso.
Ich mag es im Wind mit den Masten zu heulen Und mich in der Brise mit den Segeln zu öffnen, Und es gibt Momente, die fast Vergessenheit sind In einer unerschöpflichen Süße der Rückkehr.
A minha pátria é onde o vento passa, A minha amada é onde os roseirais dão flor, O meu desejo é o rastro que ficou das aves,
Meine Heimat ist dort, wo der Wind vorüberzieht, Meine Geliebte ist dort, wo der Rosenstock blüht, Mein Verlangen ist die Spur, die von den Vögeln [blieb, Und niemals erwache ich aus diesem Traum und [niemals schlafe ich.
E nunca acordo deste sonho e nunca durmo.
Aus: Obra Poética (2011), S. 231 [Coral, 1950].
«A longinqua memória de uma pátria» A longinqua memória de uma pátria Eterna mas perdida e não sabemos Se é passado ou futuro onde a perdemos
Die ferne Erinnerung an eine Heimat Ewig aber verloren und wir wissen nicht Ob es Vergangenheit oder Zukunft ist, in der wir [sie verlieren
Aus: Obra Poética (2011), S. 263 [No Tempo Dividido, 1954].
Übersetzungen ins Deutsche
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Pátria Pátria
Vaterland
Por um país de pedra e vento duro Por um país de luz perfeita e clara Pelo negro da terra e pelo branco do muro
Für ein Land aus Stein und hartem Wind Für ein Land aus perfektem und reinem Licht Für das Schwarz der Erde und für das Weiß der Mauer
Pelos rostos de silêncio e de paciência Que a miséria longamente desenhou Rente aos ossos com toda a exactidão Do longo relatório irrecusável
Für die Gesichter des Schweigens und der Geduld Die das Leid lange gezeichnet hat Dicht an die Knochen mit aller Sorgfalt Des langen, nicht zurückzuweisenden Berichts
E pelos rostos iguais ao sol e ao vento E pela limpidez das tão amadas Palavras sempre ditas com paixão Pela cor e pelo peso das palavras Pelo concreto silêncio limpo das palavras Donde se erguem as coisas nomeadas Pela nudez das palavras deslumbradas
Und für die Gesichter, die der Sonne und dem Wind [gleichen Und für die Klarheit der so geliebten Worte, immer mit Leidenschaft gesprochen Für die Farbe und für das Gewicht der Worte Für die feste, saubere Stille der Worte Aus denen sich die benannten Dinge erheben Für die Nacktheit der begeisterten Worte
– Pedra rio vento casa Pranto dia canto alento Espaço raiz e água Ó minha pátria e meu centro
– Stein Fluss Wind Haus Wehklage Tag Gesang Hauch Raum Wurzel und Wasser Oh mein Vaterland und mein Zentrum
Me dói a lua me soluça o mar E o exílio se inscreve em pleno tempo
Mich schmerzt der Mond mir schluchzt das Meer Und das Exil schreibt sich mitten in die Zeit
Aus: Obra Poética (2011), S. 429 [Livro Sexto, 1962].
Exílio Exílio
Exil
Quando a pátria que temos nao a temos Perdida por silêncio e por renúncia Até a voz do mar se torna exílio E a luz que nos rodeia é como grades
Wenn wir das Vaterland, das wir haben, nicht haben Verloren durch Stille und Aufgabe Wird sogar die Stimme des Meeres zum Exil Und das Licht, das uns umgibt, ist wie Gitter
Aus: Obra Poética (2011), S. 432 [Livro Sexto, 1962].
226
Anhang
Poema inspirado nos panéis que Júlio Resende desenhou para o monumento que devia ser construído em Sagres Poema inspirado nos panéis que Júlio Resende desenhou para o monumento que devia ser construído em Sagres
Gedicht, inspiriert durch die Tafeln, die Júlio Resende für das Monument entworfen hat, das in Sagres gebaut werden sollte
I
I
Nenhuma ausência em ti cais da partida. Movimento ritual, surdo rumor de búzios,
Keine Abwesenheit in dir, Ablegekai. Rituelle Bewegung, dumpfes Rauschen der [Muscheln, Freude, die Ekstase des Meeres anzuschauen Mit seinen Hundewellen, seinen Pferden, Seinen Windmähnen, seinen Schaumkragen, Seinen Schreien, seinen Gefahren, seinen [Abgründen aus Feuer.
Alegria de ir ver o êxtase do mar Com suas ondas-cães, seus cavalos, Suas crinas de vento, seus colares de espuma, Seus gritos, seus perigos, seus abismos de fogo.
Nenhuma ausência em ti cais da partida. Impetuosas velas, plenitude do tempo, Euforia desdobrando os seus gestos na hora [luminosa Do Lusíada que parte para o universo puro Sem nenhum peso morto, sem nenhum obscuro Prenúncio de traição sob os seus passos.
Keine Abwesenheit in dir, Ablegekai. Stürmische Segel, Fülle der Zeit, Euphorie, die ihre Gesten entfaltet zur [leuchtenden Stunde Des Lusiaden, der ins reine Universum fährt Ohne irgendein totes Gewicht, ohne irgendein [dunkles Anzeichen des Verrats unter seinen Schritten.
II
II
Regresso
Rückkehr
Quem cantará vosso regresso morto Que lágrimas, que grito, hão-de dizer A desilusão e o peso em vosso corpo?
Wer wird eure tote Rückkehr beweinen? Welche Tränen, welcher Schrei, werden berichten Von der Enttäuschung und dem Gewicht in eurem [Körper?
Portugal tão cansado de morrer Ininterruptamente e devagar Enquanto o vento vivo vem do mar
Portugal so müde des Sterbens Ununterbrochen und langsam Während der lebendige Wind vom Meer kommt
Quem são os vencedores desta agonia? Quem os senhores sombrios desta noite Onde se perde morre e se desvia A antiga linha clara e criadora Do nosso rosto voltado para o dia?
Wer sind die Gewinner dieser Agonie? Wer die düsteren Herren dieser Nacht Wo sich verliert stirbt und abweicht Die alte Linie, klar und schöpferisch, Unseres dem Tag zugewandten Gesichts?
Aus: Obra Poética (2011), S. 346 [Mar Novo, 1958].
Übersetzungen ins Deutsche
227
Lusitânia Lusitânia
Lusitanien
Os que avançam de frente para o mar E nele enterram como uma aguda faca A proa negra dos seus barcos Vivem de pouco pão e de luar.
Die, die vorne voranfahren über das Meer Und in ihm wie ein spitzes Messer versenken Den schwarzen Bug ihrer Schiffe, Leben von wenig Brot und von Mondschein.
Aus: Obra Poética (2011), S. 357, Mar Novo [1958].
Esta Gente Esta Gente
Diese Leute
Esta gente cujo rosto Às vezes luminoso E outras vezes tosco
Diese Leute deren Gesicht Manchmal leuchtend Und andere Male ungeschliffen
Ora me lembra escravos Ora me lembra reis
Bald erinnern sie mich an Sklaven Bald erinnern sie mich an Könige
Faz renascer meu gosto De luta e de combate Contra o abutre e a cobra O porco e o milhafre
Erwecken wieder zum Leben meine Lust Des Kampfes und des Gefechts Gegen den Geier und die Kobra Das Schwein und den Milan
Pois a gente que tem O rosto desenhado Por paciência e fome É a gente em quem Um país ocupado Escreve o seu nome
Denn die Leute deren Gesicht gezeichnet ist Von Geduld und Hunger Sind die Leute in die Ein besetztes Land Seinen Namen schreibt
E em frente desta gente Ignorada e pisada Como a pedra do chão E mais do que a pedra Humilhada e calcada
Und gegenüber diesen Leuten Vergessen und getreten Wie der Stein vom Boden Und mehr noch als der Stein Gedemütigt und zerstampft
Meu canto se renova E recomeço a busca De um país liberto De uma vida limpa E de um tempo justo
Erneuert sich mein Gesang Und es beginnt von neuem die Suche Nach einem befreiten Land Nach einem sauberen Leben Und nach einer gerechten Zeit
Aus: Obra Poética (2011), S. 458 [Geografia, 1967].
228
Anhang
Catarina Eufémia Catarina Eufémia
Catarina Eufémia
O primeiro tema da reflexão grega é a justiça
Das erste Thema der griechischen Überlegung ist [die Gerechtigkeit Und ich denke an diesen Augenblick, in dem du [der Gefahr ausgesetzt wurdest Du warst schwanger, jedoch bist du nicht [zurückgewichen Denn dies ist deine Lektion: die Stirn bieten
E eu penso nesse instante em que ficaste exposta Estavas grávida porém não recuaste Porque a tua lição é esta: fazer frente Pois não deste homem por ti E não ficaste em casa a cozinhar intrigas
Denn du sandtest keinen Mann für dich Und du bliebst nicht zu Haus, um Intrigen zu [köcheln Nach der uralten krummen Methode der Frauen
Segundo o antiquíssimo método oblíquo das [mulheres Nem usaste de manobra ou de calúnia Du brauchtest weder Trick noch Verleumdung E não serviste apenas para chorar os mortos Und warst nicht nur dazu gut, um die Toten zu [beweinen Tinha chegado o tempo Em que era preciso que alguém não recuasse E a terra bebeu um sangue duas vezes puro
Die Zeit war gekommen, In der es nötig war, dass jemand nicht [zurückweicht Und die Erde trank ein zweifach reines Blut
Porque eras a mulher e não somente a fêmea
Denn du warst die Frau und nicht bloß das [Weibchen Eras a inocência frontal que não recua Du warst die vorderste Unschuld, die nicht [zurückweicht Antígona poisou a sua mão sobre o teu ombro Antigone legte ihre Hand auf deine Schulter in [no instante em que morreste [dem Augenblick, in dem du starbst E a busca da justiça continua
Und die Suche nach Gerechtigkeit geht weiter
Aus: Obra Poética (2011), S. 594 [Dual, 1972].
O Velho Abutre O Velho Abutre
Der alte Geier
O velho abutre é sábio e alisa as suas penas A podridão lhe agrada e seus discursos Têm o dom de tornar as almas mais pequenas
Der alte Geier ist weise und putzt seine Federn Die Fäulnis gefällt ihm und seine Reden Haben die Gabe die Seelen kleiner zu machen
Aus: Obra Poética (2011), S. 439 [Livro Sexto, 1962].
Übersetzungen ins Deutsche
229
O Super-Homem O Super-Homem
Der Über-Mensch
Onde está ele o super-homem? Onde? – Encontrei-o na rua ia sozinho Não via a dor nem a pedra nem o vento
Wo ist er, der Über-Mensch? Wo? – Ich habe ihn auf der Straße getroffen, er ging allein Er sah weder den Schmerz noch den Stein noch den [Wind Seine Verrücktheit und seine Unwirklichkeit Dienten ihm als Spiegel und als Nahrung
Sua loucura e sua irrealidade Lhe serviam de espelho e de alimento
Aus: Obra Poética (2011), S. 436 [Livro Sexto, 1962]. Erstveröffentlichung in: Rumo: Revista de Problemas Actuais, n.° 54, Ago. 1961, S. 163.
Com Fúria e Raiva Com Fúria e Raiva
Mit Furor und Wut
Com fúria e raiva acuso o demagogo E o seu capitalismo das palavras
Mit Furor und Wut klage ich den Demagogen an Und seinen Kapitalismus der Worte
Pois é preciso saber que a palavra é sagrada Denn es ist nötig zu wissen, dass das Wort heilig ist Que de longe muito longe um povo a trouxe Dass von weit her sehr weit her ein Volk es mitbrachte E nela pôs sua alma confiada Und in es seine anvertraute Seele legte De longe muito longe desde o início O homem soube de si pela palavra E nomeou a pedra a flor a água E tudo emergiu porque ele disse
Von weit her sehr weit her von Beginn an Hat der Mensch sich selbst erkannt durch das Wort Und er hat benannt den Stein die Blume das Wasser Und alles entstand weil er es sagte
Com fúria e raiva acuso o demagogo Que se promove à sombra da palavra E da palavra faz poder e jogo E transforma as palavras em moeda Como se fez com o trigo e com a terra
Mit Furor und Wut klage ich den Demagogen an Der sich vorwärts bewegt im Schatten des Wortes Und aus dem Wort macht er Macht und Spiel Und er verwandelt die Worte in Münzen Wie man es mit dem Weizen und der Erde gemacht hat
Junho de 1974
Juni 1974
Aus: Obra Poética (2011), S. 621 [O Nome das Coisas, 1977].
230
Anhang
Procelária Procelária
Sturmvogel
É vista quando há vento e grande vaga Ela faz o ninho no rolar da fúria E voa firme e certa como bala
Sie wird gesehen bei Wind und großen Wellen Sie macht ihr Nest im Toben der Wut Und fliegt fest und sicher wie eine Kugel
As suas asas empresta à tempestade Quando os leões do mar rugem nas grutas Sobre os abismos passa e vai em frente
Ihre Flügel leiht sie dem Unwetter Wenn die Löwen des Meeres in den Höhlen brüllen Zieht sie über die Tiefen hinüber und weiter voran
Ela não busca a rocha o cabo o cais Mas faz da insegurança sua força E do risco de morrer seu alimento
Sie sucht nicht den Felsen, das Kap, den Kai Sondern macht aus der Unsicherheit ihre Stärke Und aus dem Risiko zu Sterben ihre Nahrung
Por isso me parece imagem justa Para quem vive e canta no mau tempo
Deshalb scheint sie mir das rechte Bild zu sein Für jemanden, der in schlechtem Wetter lebt und singt
Aus: Obra Poética (2011), S. 455 [Geografia, 1967]. Zuvor veröffentlicht in Távola Redonda, no. 19, 1962, S. 8–9, mit der folgenden Anmerkung: «Procelária: Ave marinha que voa sobre as ondas durante as tempestades».
Musa Musa
Muse
Aqui me sentei quieta Com as mãos sobre os joelhos Quieta muda secreta Passiva como os espelhos
Hier setzte ich mich still Mit den Händen auf den Knien Still stumm geheim Passiv wie die Spiegel
Musa ensina-me o canto Imanente e latente Eu quero ouvir devagar O teu súbito falar Que me foge de repente
Muse lehre mich den Gesang Innerlich und unbemerkt Ich will langsam hören Dein plötzliches Sprechen Das mir unversehens entflieht
Aus: Obra Poética (2011), S. 571 [Dual, 1972].
Übersetzungen ins Deutsche
231
Penélope Penélope
Penelope
Desfaço durante a noite o meu caminho. Tudo quanto teci não é verdade, Mas tempo, para ocupar o tempo morto, E cada dia me afasto e cada noite me aproximo.
Ich zerstöre während der Nacht meinen Weg. Alles was ich webte ist nicht Wahrheit, Sondern Zeit, um die tote Zeit zu besetzen, Und jeden Tag entferne ich mich und jede Nacht [komme ich näher.
Aus: Obra Poética (2011), S. 240 [Coral, 1950].
Electra Electra
Elektra
Os muros da casa dos Manon escorrem sangue
Die Mauern des Hauses der Mannons strömen [Blut aus Und die Bäume des Gartens vergießen Tränen.
E as àrvores do jardim escorrem lágrimas.
O lago busca em vão o reflexo antigo duma Der See sucht vergebens die alte Spiegelung [infância [einer Kindheit Que se tornou homens, mulheres, ódios e armas. Die sich verwandelte in Männer, Frauen, Hass [und Waffen. Numa janela aparecem duas mãos torcidas E nos corredores ressoam as palavras
An einem Fenster tauchen zwei gerungene Hände [auf Und in den Fluren schallen die Worte
Da traição, da nauséa, da mentira E o tempo vestido de verde senta-se nas salas.
Des Verrats, des Ekels, der Lüge Und die grün gekleidete Zeit setzt sich in die [Zimmer.
O rosto de Electra é absurdo. Ninguém o pediu e não pertence ao jogo.
Das Gesicht der Elektra ist absurd. Niemand hat es verlangt und es gehört nicht zum [Spiel. Ihre Rächerinnen-Hände spielen falsch im [Gespräch Erschrecken den Halbschatten und beleidigen die [Sünde.
As suas mãos vingadoras destoam na conversa Assustam a penumbra e ofendem o pecado.
Aus: Obra Poética (2011), S. 342 [Mar Novo, 1958].
232
Anhang
Exílio Exílio
Exil
Exilámos os deuses e fomos Exilados da nossa inteireza
Wir haben die Götter verbannt und wurden verbannt aus unserer Ganzheit
Aus: Obra Poética (2011), S. 642 [O Nome das Coisas, 1977].
«As imagens transbordam fugitivas» As imagens transbordam fugitivas E estamos nus em frente às coisas vivas. Que presença jamais pode cumprir O impulso que há em nós, interminável, De tudo ser e em cada flor florir?
Die Bilder fließen über, flüchtig Und wir sind nackt angesichts der lebenden Dinge. Welche Gegenwart kann jemals den Drang befriedigen, den es in uns gibt, den unendlichen, Alles zu sein und in jeder Blume zu blühen?
Aus: Obra Poética (2011), S. 125 [Dia do Mar, 1947].
Übersetzungen ins Deutsche
233
Carta aos amigos mortos Carta aos amigos mortos
Brief an die toten Freunde
Eis que morrestes – agora já não bate O vosso coração cujo bater Dava ritmo e esperança ao meu viver Agora estais perdidos para mim – O olhar não atravessa esta distância – Nem irei procurar-vos pois não sou
Seht, die ihr gestorben seid – nun schlägt nicht mehr Euer Herz dessen Schlagen Meinem Sein Rhythmus und Hoffnung gab Jetzt seid ihr verloren für mich – Der Blick überquert nicht diese Distanz – Auch werde ich euch nicht suchen gehen denn ich bin [nicht Orpheus sondern habe für mich gewählt Hier präsent zu sein wo ich am Leben bin Ich wünsche euch den Frieden auf dem Weg Außerhalb der Welt die ich atme und sehe Doch hier wählte ich zu leben Nichts bleibt mir außer nach vorn zu schauen In diesem Land des Schmerzes und der Unsicherheit Hier wählte ich zu bleiben Wo das Sehen hart ist und schwieriger
Orpheu tendo escolhido para mim Estar presente aqui onde estou viva Eu vos desejo a paz nesse caminho Fora do mundo que respiro e vejo Porém aqui eu escolhi viver Nada me resta senão olhar de frente Neste país de dor e incerteza Aqui eu escolhi permanecer Onde a visão é dura e mais difícil Aqui me resta apenas fazer frente Ao rosto sujo de ódio e de injustiça A lucidez me serve para ver A cidade a cair muro por muro E as faces a morrerem uma a uma E a morte que me corta ela me ensina Que o sinal do homem não é uma coluna
Hier bleibt mir nur die Stirn zu bieten Dem schmutzigen Gesicht des Hasses und der [Ungerechtigkeit Die Klarheit hilft mir zu sehen Wie die Stadt Mauer für Mauer fällt Und die Gesichter eines nach dem anderen sterben Und der Tod der mich schneidet, er lehrt mich Dass das Merkmal des Menschen nicht eine Säule ist
E eu vos peço por este amor cortado Que vos lembreis de mim lá onde o amor Já não pode morrer nem ser quebrado Que o vosso coração que já não bate O tempo denso de sangue e de saudade Mas vive a perfeição da claridade Se compadeça de mim e de meu pranto Se compadeça de mim e de meu canto
Und ich bitte euch für diese beschnittene Liebe Dass ihr euch an mich erinnert, dort wo die Liebe Nicht mehr sterben noch gebrochen werden kann Dass euer Herz, das nicht mehr schlägt Die dichte Zeit des Blutes und der Sehnsucht Sondern erlebt die Perfektion der Helligkeit Sich meiner und meiner Klage erbarme Sich meiner und meinem Gesang erbarme
Aus: Obra Poética (2011), S. 419 [Livro Sexto, 1962]. Erstmalig veröffentlicht in Jornal de Almada, Suplemento Literário [número dedicado a Sebastião da Gama], 5. Februar 1961, S. 8.
234
Anhang
«Senhor se da tua pura justiça» Senhor se da tua pura justiça Nascem os monstros que em minha roda eu vejo É porque alguém te venceu ou desviou Em não sei que penumbra os teus caminhos
Herr wenn aus deiner reinen Gerechtigkeit Die Monster entspringen die ich rings herum sehe Ist es weil jemand dich besiegt oder deine Wege In ich weiß nicht welchen Halbschatten fehlgeleitet [hat.
Foram talvez os anjos revoltados. Muito tempo antes de eu ter vindo Já se tinha a tua obra dividido
Vielleicht waren es die aufständischen Engel. Lange Zeit bevor ich gekommen bin Hatte sich dein Werk bereits geteilt
E em vão eu busco a tua face antiga És sempre um deus que nunca tem um rosto
Und vergebens suche ich dein altes Antlitz Du bist immer noch ein Gott der nie ein Gesicht hat
Por muito que eu te chame e te persiga.
So viel ich dich auch rufe und dich verfolge.
Aus: Obra Poética (2011), S. 309 [Mar Novo, 1958].
Übersetzungen ins Deutsche
235
A paz sem vencedor e sem vencidos A paz sem vencedor e sem vencidos
Der Frieden ohne Sieger und ohne Besiegte
Dai-nos Senhor a paz que vos pedimos A paz sem vencedor e sem vencidos Que o tempo que nos deste seja um novo Recomeço de esperança e de justiça Dai-nos Senhor a paz que vos pedimos
Gebt uns Herr den Frieden um den wir bitten Den Frieden ohne Sieger und ohne Besiegte Dass die Zeit die du uns gabst eine neue Wiederaufnahme der Hoffnung und der Gerechtigkeit [sei Gebt uns Herr den Frieden um den wir bitten
A paz sem vencedor e sem vencidos
Den Frieden ohne Sieger und ohne Besiegte
Erguei o nosso ser à transparência Para podermos ler melhor a vida Para entendermos vosso mandamento Para que venha a nós o vosso reino Dai-nos Senhor a paz que vos pedimos
Erhebet unser Sein in die Transparenz Damit wir das Leben besser lesen können Damit wir euer Gebot besser verstehen Damit euer Reich zu uns kommt Gebt uns Herr den Frieden um den wir bitten
A paz sem vencedor e sem vencidos
Den Frieden ohne Sieger und ohne Besiegte
Fazei Senhor que a paz seja de todos Dai-nos a paz que nasce da verdade Dai-nos a paz que nasce da justiça Dai-nos a paz chamada liberdade Dai-nos Senhor a paz que vos pedimos
Macht Herr dass es der Frieden aller sei Gebt uns den Frieden der der Wahrheit entspringt Gebt uns den Frieden der der Gerechtigkeit entspringt Gebt uns den Frieden der Freiheit genannt wird Gebt uns Herr den Frieden um den wir bitten
A paz sem vencedor e sem vencidos
Den Frieden ohne Sieger und ohne Besiegte
Aus: Obra Poética (2011), S. 591 [Dual, 1972].
236
Anhang
Babilónia Babilónia
Babylon
Com Com Com Com
pátios interiores e com palmeiras muros de tijolo com pequenos tanques fontes com estátuas com colunas deuses desenhados nas paredes de barro
Mit Innenhöfen und mit Palmen Mit Mauern aus Backstein mit kleinen Wannen Mit Brunnen mit Statuen mit Säulen Mit Göttern gezeichnet auf die Lehmwände
Com Com Com Com
corredores e silêncios e penumbras vestidos de linho tocando a pedra pura cinamomo e nardo jarras donde corria azeite e vinho
Mit Gängen und Pausen und Halbschatten Mit Leinenkleidern die den puren Stein berühren Mit Zimtbaum und Narde Mit Krügen aus denen Olivenöl und Wein lief
Com multidões com gritos com mercados Com esteiras claras sob os pés pintados Com escribas com magos e adivinhos Com prisioneiros com servos com escravos Com lucidez feroz com amargura Com ciência e arte Com desprezo Babilónia nasceu de lodo e limo
Mit Massen mit Schreien mit Märkten Mit hellen Matten unter den bemalten Füßen Mit Kopisten mit Sterndeutern und Wahrsagern Mit Gefangenen mit Dienern mit Sklaven Mit scharfer Klarheit mit Bitterkeit Mit Wissenschaft und Kunst Mit Verachtung Ist Babylon aus Schmutz und Schlamm geboren
Aus: Obra Poética (2011), S. 438 [Livro Sexto, 1962].
Übersetzungen ins Deutsche
237
Soneto de Eurydice Soneto de Eurydice
Sonett der Eurydike
Eurydice perdida que no cheiro E nas vozes do mar procura Orpheu: Ausência que povoa terra e céu E cobre de silêncio o mundo inteiro
Verlorene Eurydike die im Duft Und in den Stimmen des Meeres Orpheus sucht. Abwesenheit die Erde und Himmel bewohnt Und die ganze Welt mit Stille bedeckt
Assim bebi manhãs de nevoeiro E deixei de estar viva e de ser eu Em procura de um rosto que era o meu O meu rosto secreto e verdadeiro.
So trank ich Nebelmorgen Und hörte auf lebendig zu sein und ich zu sein Auf der Suche nach einem Gesicht das meines war Mein geheimes und wahres Gesicht.
Porém nem nas marés nem na miragem Eu te encontrei. Erguia-se somente O rosto liso e puro da paisagem.
Jedoch weder in den Gezeiten noch in der [Luftspiegelung Habe ich dich gefunden. Es erhob sich bloß Das glatte und reine Gesicht der Landschaft.
E devagar tornei-me transparente Como morta nascida à tua imagem E no mundo perdida esterilmente.
Und langsam wurde ich transparent Wie tot nach deinem Bild geboren Und in der Welt fruchtlos verloren.
Aus: Obra Poética (2011), S. 290 [No Tempo Dividido, 1954].
238
Anhang
Camões e a tença Camões e a tença
Camões und die Pension
Irás ao Paço. Irás pedir que a tença Seja paga na data combinada Este país te mata lentamente País que tu chamaste e não responde País que tu nomeias e não nasce
Du wirst zum Palast gehen. Du wirst darum bitten, [dass die Pension Gezahlt werde zum vereinbarten Datum Dieses Land bringt dich langsam um Land, das du gerufen hast und das nicht antwortet Land, das du benennst und das nicht entsteht
Em tua perdição se conjuraram Calúnias desamor inveja ardente E sempre os inimigos sobejaram A quem ousou seu ser inteiramente
Zu deinem Verderben haben sie sich verschworen Verleumdungen Geringschätzung glühender Neid Und immer hatte mehr als genug Feinde Wer es wagte ganz er selbst zu sein
E aqueles que invocaste não te viram
Und diejenigen, die du anriefst, haben dich nicht [gesehen Weil sie krumm und gebeugt waren Von der Geduld deren Hand aus Asche Die Augen in ihrem Gesicht gelöscht hatte
Porque estavam curvados e dobrados Pela paciência cuja mão de cinza Tinha apagado os olhos no seu rosto Irás ao Paço irás pacientemente Pois não te pedem canto mas paciência
Du wirst zum Palast gehen, du wirst geduldig gehen Denn sie bitten dich nicht um Gesang, sondern um [Geduld
Este país te mata lentamente
Dieses Land bringt dich langsam um
Aus: Obra Poética (2011), S. 592 [Dual, 1972].
Übersetzungen ins Deutsche
239
Túmulo de Lorca Túmulo de Lorca
Lorcas Grab
Em ti choramos os outros mortos todos Os que foram fuzilados em vigílias sem data
In dir beweinen wir all die anderen Toten Die erschossen wurden bei Nachtwachen ohne [Datum Os que se perdem sem nome na sombra das Die sich namenlos verlieren im Schatten der [cadeias [Verließe Tão ignorados que nem sequer podemos So vergessen dass wir noch nicht einmal fragen Perguntar por eles imaginar seu rosto können nach ihnen, uns ihr Gesicht vorstellen Choramos sem consolação aqueles que Wir beweinen ohne Trost diejenigen, die erliegen [sucumbem Entre os cornos da raiva sob o peso da força Zwischen den Hörnern der Wut unter dem Gewicht [der Gewalt. Não podemos aceitar. O teu sangue não seca Não repousamos em paz na tua morte A hora da tua morte continua próxima e veemente E a terra onde abriram a tua sepultura É semelhante à ferida que não fecha O teu sangue não encontrou nem foz nem saída De Norte a Sul de Leste a Oeste Estamos vivendo afogados no teu sangue A lisa cal de cada muro branco Escreve que tu foste assassinado Não podemos aceitar. O processo não cessa Pois nem tu foste poupado à patada da besta A noite não pode beber nossa tristeza E por mais que te escondam não ficas sepultado
Aus: Obra Poética (2011), S. 461 [Geografia, 1967].
Wir können es nicht hinnehmen. Dein Blut trocknet [nicht Wir ruhen nicht in Frieden bei deinem Tod Die Stunde deines Todes dauert an, nah und heftig Und der Boden, in den sie dein Grab geöffnet [haben, Gleicht einer Wunde, die sich nicht schließt Dein Blut hat weder Mündung noch Ausweg [gefunden Von Nord bis Süd von Ost bis West Wir leben versunken in deinem Blut Der glatte Kalk aller weißen Mauern Schreibt, dass du ermordet worden bist Wir können es nicht hinnehmen. Der Prozess [endet nicht Denn nicht einmal du wurdest verschont vom [Hieb der Bestie Die Nacht kann unsere Traurigkeit nicht trinken Und so sehr sie dich verstecken, du wirst nicht [beerdigt
240
Anhang
«Este é o tempo» Este é o tempo Da selva mais obscura
Dies ist die Zeit Der dunkelsten Wildnis
Até o ar azul se tornou grades E a luz do sol se tornou impura
Sogar der blaue Himmel wurde zu Gittern Und das Licht der Sonne wurde unrein
Esta é a noite Densa de chacais Pesada de amargura
Dies ist die Nacht Dicht von Schakalen Schwer von Bitterkeit
Este é o tempo em que os homens renunciam.
Dies ist die Zeit, in der die Menschen aufgeben
Aus: Obra Poética (2011), S. 338 [Mar Novo, 1958].
Data Data (à maneira d’Eustache Deschamps)
Zeitpunkt (nach Eustache Deschamps)
Tempo Tempo Tempo Tempo
de de de de
Zeit Zeit Zeit Zeit
Tempo Tempo Tempo Tempo
de covardia e tempo de ira de mascarada e de mentira que mata quem o denuncia de escravidão
Zeit der Feigheit und Zeit des Zorns Zeit der Maskerade und der Lüge Zeit, die den tötet, der sie verrät Zeit der Sklaverei
Tempo Tempo Tempo Tempo
de coniventes sem cadastro de silêncio e de mordaça onde o sangue não tem rastro de ameaça
Zeit der Mitschuldigen ohne Akte Zeit der Stille und des Knebels Zeit, in der das Blut keine Spur hat Zeit der Bedrohung
solidão e de incerteza medo e tempo de traição injustiça e de vileza negação
Aus: Obra Poética (2011), S. 433 [Livro Sexto, 1962].
der der der der
Einsamkeit und der Unsicherheit Angst und des Verrats Ungerechtigkeit und der Niedertracht Ablehnung
Übersetzungen ins Deutsche
241
Pranto pelo dia de hoje Pranto pelo dia de hoje
Weinen um den heutigen Tag
Nunca choraremos bastante quando vemos O gesto criador ser impedido Nunca choraremos bastante quando vemos Que quem ousa lutar é destruído Por troças por insídias por venenos E por outras maneiras que sabemos Tão sábias tão subtis e tão peritas Que não podem sequer ser bem descritas
Niemals werden wir genug weinen, wenn wir sehen Wie die schöpferische Geste verhindert wird Niemals werden wir genug weinen, wenn wir sehen Dass, wer zu kämpfen wagt, zerstört wird Durch Spott durch Tücke durch Bosheit Und durch andere Arten, die wir kennen So weise so subtil so fachmännisch Dass sie nicht einmal gut beschrieben werden können
Aus: Obra Poética (2011), S. 431 [Livro Sexto, 1962].
«A liberdade que dos deuses eu esperava» A liberdade que dos deuses eu esperava Quebrou-se. As rosas que eu colhia, Transparentes no tempo luminoso, Morreram com o tempo que as abria.
Die Freiheit, die ich von den Göttern erhoffte Zerbrach. Die Rosen die ich pflückte, Transparent in der leuchtenden Zeit, Sind mit der Zeit, die sie öffnete, gestorben
Aus: Obra Poética (2011), S. 277 [No Tempo Dividido, 1954].
No Tempo Dividido No Tempo Dividido
In der geteilten Zeit
E agora ó Deuses que vos direi de mim?
Und nun, oh Götter, was werde ich euch über [mich sagen? Träge Nachmittage sterben im Garten. Ich habe euch vergessen und ohne Erinnerung Gehe ich auf den Wegen, wo die Zeit Wie ein Monster sich selbst verschlingt.
Tardes inertes morrem no jardim. Esqueci-me de vós e sem memória Caminho nos caminhos onde o tempo Como um monstro a si próprio se devora.
Aus: Obra Poética (2011), S. 292 [No Tempo Dividido, 1954].
242
Anhang
„Nunca mais” Nunca mais Caminharás nos caminhos naturais.
Nie mehr Wirst du auf natürlichen Wegen wandern
Nunca mais te poderás sentir Invulnerável, real e densa –
Nie mehr wirst du dich Unverwundbar, real und geschlossen fühlen [können – Für immer ist verloren Was du mehr als alles andere gesucht hast Die Vollkommenheit jeder Gegenwart
Para sempre está perdido O que mais do que tudo procuraste A plenitude de cada presença E será sempre o mesmo sonho, a mesma ausência
Und es wird immer derselbe Traum sein, dieselbe [Abwesenheit
Aus: Obra Poética (2011), S. 49 [Poesia, 1944].
Ressurgiremos Ressurgiremos
Wir werden auferstehen
Ressurgiremos ainda sob os muros de Cnossos
Wir werden auferstehen noch unter den Mauern [von Knossos Und in Delphi, Zentrum der Welt Wir werden auferstehen noch im harten Licht von [Kreta
E em Delphos centro do mundo Ressurgiremos ainda na dura luz de Creta
Ressurgiremos ali onde as palavras São o nome das coisas E onde são claros e vivos os contornos Na aguda luz de Creta
Wir werden auferstehen dort wo die Worte Der Name der Dinge sind Und wo die Konturen klar und lebendig sind Im grellen Licht von Kreta
Ressurgiremos ali onde pedra estrela e tempo
Wir werden auferstehen dort wo Stein Stern und [Zeit Das Reich des Menschen sind Wir werden auferstehen um die Erde frontal zu [betrachten Im sauberen Licht von Kreta
São o reino do homem Ressurgiremos para olhar a terra de frente Na luz limpa de Creta Pois convém tornar claro o coração do homem E erguer a negra exactidão da cruz Na luz branca de Creta
Denn man muss das Herz des Menschen erhellen Und die schwarze Genauigkeit des Kreuzes [errichten Im weißen Licht von Kreta
Aus: Obra Poética (2011), S. 399 [Livro Sexto, 1962].
Übersetzungen ins Deutsche
Maria Natália Teotónio Pereira Maria Natália Teotónio Pereira
Maria Natália Teotónio Pereira
Aquela que tanto amou O sol e o vento da canção Agora jaz no silêncio terrestre Oculta na ressurreição
Jene, die so sehr liebte Die Sonne und den Wind des Liedes Ruht nun in der irdischen Stille Verborgen in der Auferstehung
Porque em seu viver nascia Porque estando era procura Sua imagem permanece Não passada mas futura
Weil in ihrem Leben entstand Weil ihr Sein Suche war Bleibt ihr Bild Nicht vergangen sondern zukünftig
Sempre que rio e confio E passo além do meu pranto A sua presença irrompe Erguida em nós como canto
Immer wenn ich lache und vertraue Und über mein Klagen hinausgehe Bricht ihre Präsenz herein Erhoben in uns wie Gesang
Aquela que agora jaz Como semente no chão Ergue no vento seu riso Transpõe a destruição
Jene, die jetzt ruht Wie Samen im Boden Erhebt im Wind ihr Lachen Überschreitet die Zerstörung
Aus: Obra Poética (2011), S. 595 [Dual, 1972].
243
244
Anhang
Che Guevara Che Guevara
Che Guevara
Contra ti se ergueu a prudência dos inteligentes Gegen dich erhob sich die Vorsicht der [e o arrojo dos patetas [Intelligenten und der Wagemut der Dummköpfe A indecisão dos complicados e o primarismo Die Unentschlossenheit der Komplizierten und [die Mittelmäßigkeit Daqueles que confundem revolução com desforra Derer, die Revolution mit Rache verwechseln De poster em poster a tua imagem paira na Von Poster zu Poster schwebt dein Bild in der [sociedade de consumo [Konsumgesellschaft Como o Cristo em sangue paira no alheamento Wie der blutende Christus in der verordneten [ordenado das igrejas [Entfremdung der Kirchen schwebt Porém Em frente do teu rosto Medita o adolescente à noite no seu quarto
Jedoch Vor deinem Gesicht Meditiert der Heranwachsende abends in seinem [Zimmer Quando procura emergir de um mundo que Wenn er versucht, aus einer faulenden Welt [apodrece [hervorzutreten Lisboa, 1972
Lissabon, 1972
Aus: Obra Poética (2011), S. 605 [O Nome das Coisas, 1977].
Caxias 68 Caxias 68
Caxias 68
Luz recortada nesta manhã fria Muros e portões chave após chave O meu amor por ti é fundo e grave Confirmando nas grades deste dia
Geschnittenes Licht an diesem kalten Morgen Mauern und Tore Schlüssel nach Schlüssel Meine Liebe für dich ist tief und schwer Während sie sich in den Gittern dieses Tages [bekräftigt
Fevereiro de 1968
Februar 1968
Aus: Obra Poética (2011), S. 590 [Dual, 1972].
Übersetzungen ins Deutsche
245
Não te esqueças nunca Não te esqueças nunca
Vergiss niemals
Não te esqueças nunca de Thasos nem de Egina O pinhal a coluna a veemência divina O templo o teatro o rolar de uma pinha O ar cheirava a mel e a pedra a resina Na estátua morava a tua nudez marinha Sob o sol azul e a veemência divina
Vergiss niemals weder Thasos noch Ägina Den Pinienhain die Säule die göttliche Vehemenz Den Tempel das Theater das Rollen eines Zapfens Die Luft roch nach Honig und der Stein nach Harz In der Statue wohnte deine marine Nacktheit Unter der blauen Sonne und der göttlichen [Vehemenz
Não esqueças nunca Treblinka e Hiroshima O horror o terror a suprema ignomínia
Vergiss niemals Treblinka und Hiroshima Das Grauen den Terror die höchste Schande
Aus: Obra Poética (2011), S. 712 [Ilhas, 1983].
246
Anhang
Tão grande dor Tão grande dor «Tão grande dor para tão pequeno povo» Palavras de um timorense à RTP
So großer Schmerz «So großer Schmerz für ein so kleines Volk» Worte eines Timoresen bei RTP)
Timor fragilíssimo e distante
Timor, sehr zerbrechlich und weit entfernt
«Sândalo flor búfalo montanha Cantos danças ritos E a pureza dos gestos ancestrais»
«Sandelholz Blume Büffel Gebirge Lieder Tänze Riten Und die Reinheit der Gesten der Vorfahren»
Em frente ao pasmo atento das crianças Assim cantava o poeta Ruy Cinatti Sentado no chão Naquela noite em que voltara da viagem
Vor dem aufmerksamen Staunen der Kinder So sang der Dichter Ruy Cinatti Auf dem Boden sitzend An jenem Abend, an dem er von der Reise [zurückkehrte
Timor Dever que não foi cumprido e que por isso dói
Timor Pflicht, die nicht erfüllt wurde und deshalb [schmerzt
Depois vieram notícias desgarradas Raras e confusas Violência mortes crueldade E ano após ano Ia crescendo sempre a atrocidade E dia a dia – espanto prodígio assombro – Cresceu a valentia Do povo e da guerrilha Evanescente nas brumas da montanha
Danach kamen vereinzelt Nachrichten an Seltene und verworrene Gewalt Tote Grausamkeit Und Jahr für Jahr Würden die Gräuel fortwährend zunehmen Und von Tag zu Tag – Erstaunen Wunder [Verblüffung – Stieg die Kraft Des Volkes und der Freiheitskämpfer Verborgen im Bergnebel
Timor cercado por um muro de silêncio Mais pesado e mais espesso do que o muro De Berlim que foi sempre tão falado
Timor umgeben von einer Mauer des Schweigens Schwerer und dicker als die Berliner Mauer, von der immer so viel gesprochen wurde
Porque não era um muro mas um cerco Que por segundo cerco era cercado
Weil sie keine Mauer war sondern ein Ring Der von einem zweiten Ring umgeben war
O cerco da surdez dos consumistas Tão cheios de jornais e de notícias
Der Ring der Taubheit der Konsumisten So voll von Zeitungen und Nachrichten
Mas como se fosse o milagre pedido Pelo rio da prece ao som das balas
Aber als wäre es ein erflehtes Wunder Durch den Strom der Gebete im Klang der Kugeln [wurden
Übersetzungen ins Deutsche
As imagens do massacre foram salvas As imagens romperam os cercos do silêncio Irromperam nos écrans e os surdos viram A evidência nua das imagens
247
Die Bilder des Massakers gerettet Die Bilder brachen die Ringe des Schweigens Brachen in die Bildschirme ein und die Tauben [sahen Die nackte Offensichtlichkeit der Bilder
Aus: Obra Poética (2011), S. 774–775 [Musa, 1994].
O Soldado Morto O soldado morto
Der tote Soldat
Os infinitos céus fitam seu rosto Absoluto e cego E a brisa agora beija a sua boca Que nunca mais há-de beijar ninguém.
Die unendlichen Himmel starren in sein Gesicht Absolut und blind Und die Brise küsst nun seinen Mund Der niemals mehr jemanden küssen wird.
Tem as duas mãos côncavas ainda De possessão de impulso de promessa. Dos seus ombros desprende-se uma espera Que dividida na tarde se dispersa.
Seine beiden Hände sind noch hohl Vom Besitz vom Drang vom Versprechen. Von seinen Schultern löst sich eine Hoffnung Die geteilt am Nachmittag sich zerstreut.
E a luz, as horas, as colinas São como pranto, em volta do seu rosto Porque ele foi jogado e foi perdido
Und das Licht, die Stunden, die Hügel Sind wie Wehklagen, um sein Gesicht herum Denn er wurde aufs Spiel gesetzt und wurde [verloren Und am Himmel ziehen plötzlich Vögel vorbei.
E no céu passam aves repentinas. Aus: Obra Poética (2011), S. 330 [Mar Novo, 1958].
248
Anhang
Guerra ou Lisboa 72 Guerra ou Lisboa 72
Krieg oder Lissabon 72
Partiu vivo jovem forte Voltou bem grave e calado Com morte no passaporte
Brach auf lebend jung stark Kehrte zurück sehr ernst und schweigend Mit Tod im Pass
Sua morte nos jornais Surgiu em letra pequena É preciso que o país Tenha a consciência serena
Sein Tod in den Zeitungen Erschien in kleinen Buchstaben Es ist nötig dass das Land Ein ruhiges Gewissen hat
Aus: Obra Poética (2011), S. 606 [O Nome das Coisas, 1977].
Soror Mariana – Beja Soror Mariana – Beja
Schwester Mariana – Beja
Cortaram os trigos. Agora A minha solidão vê-se melhor
Sie haben den Weizen geschnitten. Jetzt Sieht man meine Einsamkeit besser
Aus: Obra Poética (2011), S. 608 [O Nome das Coisas, 1977].
Übersetzungen ins Deutsche
249
25 de Abril 25 de Abril
25. April
Esta é a madrugada que eu esperava O dia inicial inteiro e limpo Onde emergimos da noite e do silêncio
Dies ist die Morgendämmerung die ich erhoffte Der erste Tag vollständig und sauber An dem wir aus der Nacht und aus dem [Schweigen auftauchen Und frei die Substanz der Zeit bewohnen
E livres habitamos a substância do tempo
Aus: Obra Poética (2011), S. 618 [O Nome das Coisas, 1977].
Revolução Revolução
Revolution
Como casa limpa Como chão varrido Como porta aberta
Wie sauberes Haus Wie gekehrter Boden Wie offene Tür
Como puro início Como tempo novo Sem mancha nem vício
Wie reiner Anfang Wie neue Zeit Ohne Makel und Fehler
Como a voz do mar Interior de um povo
Wie die Stimme des Meeres Im Innern eines Volkes
Como página em branco Onde o poema emerge
Wie eine weiße Seite Auf der das Gedicht auftaucht
Como arquitectura Do homem que ergue Sua habitação
Wie Architektur Des Mannes, der errichtet Seine Wohnung
27 de Abril 1974
27. April 1974
Aus: Obra Poética (2011), S. 619 [O Nome das Coisas, 1977].
250
Anhang
Revolução – Descobrimento Revolução – Descobrimento
Revolution – Entdeckung
Revolução isto é: descobrimento Mundo recomeçado a partir da praia pura Como poema a partir da página em branco – Katharsis emergir verdade exposta Tempo terrestre a perguntar seu rosto
Revolution ist dies: Entdeckung Vom puren Strand aus neubegonnene Welt Wie ein Gedicht von der weißen Seite – Katharsis auftauchen exponierte Wahrheit Irdische Zeit ihr Gesicht befragend
Aus: Obra Poética (2011), S. 623 [O Nome das Coisas, 1977].
Os Erros Os Erros
Die Fehler
A confusão a fraude os erros cometidos A transparência perdida – o grito Que não conseguiu atravessar o opaco O limiar e o linear perdidos
Die Verwirrung der Betrug die begangenen Fehler Die verlorene Transparenz – der Schrei Dem es nicht gelang das Undurchsichtige zu [durchqueren Die Schwelle und das Lineare verloren
Deverá tudo passar a ser passado Como projecto falhado e abandonado Como papel que se atira ao cesto Como abismo fracasso não esperança Ou poderemos enfrentar e superar Recomeçar a partir da página em branco Como escrita de poema obstinado?
Es wird alles durchleben müssen was zu durchleben ist Wie gescheiterter und verlassener Plan Wie Papier dass man in den Korb wirft Wie Abgrund Scheitern nicht Hoffnung Oder werden wir konfrontieren und überwinden können Neu beginnen ab der weißen Seite Wie das Schreiben eines hartnäckigen Gedichts?
1975
1975
Aus: Obra Poética (2011), S. 635 [O Nome das Coisas, 1977].
Übersetzungen ins Deutsche
251
A Forma Justa A Forma Justa
Die gerechte Form
Sei que seria possível construir o mundo justo
Ich weiß, dass es möglich wäre die gerechte Welt [aufzubauen As cidades poderiam ser claras e lavadas Die Städte könnten klar und gewaschen sein Pelo canto dos espaços e das fontes Durch den Gesang der Räume und der Quellen O céu o mar e a terra estão prontos Der Himmel das Meer und die Erde sind bereit A saciar a nossa fome do terrestre Zu stillen unseren Hunger des Irdischen A terra onde estamos – se ninguém atraiçoasse – Die Erde wo wir sind – wenn niemand verriet – [proporia [würde anbieten Cada dia a cada um a liberdade e o reino Jeden Tag jedem Einzelnen die Freiheit und das [Reich – Na concha na flor no homem e no fruto – In der Muschel der Blume im Menschen und in [der Frucht Se nada adoecer a própria forma é justa Wenn nichts erkrankt ist die eigene Form gerecht E no todo se integra como palavra em verso Und integriert sich in das Ganze wie ein Wort in [den Vers Sei que seria possível construir a forma justa Ich weiß, dass es möglich wäre die gerechte [Form aufzubauen De uma cidade humana que fosse Von einer menschlichen Stadt die wäre Fiel à perfeição do universo Treu der Perfektion des Universums Por isso recomeço sem cessar a partir da página Deshalb beginne ich fortwährend neu von der [em branco [weißen Seite E este é meu ofício de poeta para a reconstrução Und dies ist mein Handwerk als Dichter für den [do mundo [Neubau der Welt
Aus: Obra Poética (2011), S. 660 [O Nome das Coisas, 1977].
252
Anhang
Lagos II Lagos II
Lagos II
I
I
Lagos onde reinventei o mundo num verão ido
Lagos, wo ich die Welt in einem vergangenen [Sommer neu erfand Lagos, wo ich fand Eine neue Form des Sichtbaren ohne Gedächtnis Klar wie Kalk, konkret wie Kalk Lagos, wo ich lernte zu leben dicht an Dem klarsten und jüngsten Moment
Lagos onde encontrei Uma nova forma do visível sem memória Clara como a cal concreta como a cal Lagos onde aprendi a viver rente Ao instante mais nitido e recente Lagos que digo como passado agora Como verão ido absurdamente ausente Quase estranho a mim e nunca tido
Lagos, das ich jetzt wie Vergangenheit sage Wie vergangener Sommer auf absurde Weise [abwesend Mir fast fremd und nie gehabt
II
II
Foi um pais que eu encontrei de frente Desde sempre esperado e prometido O puro dom de ter nascido E o sol reinava em Lagos transparente
Es war ein Land, dass ich von vorn fand Seit jeher erhofft und versprochen Die pure Gabe geboren worden zu sein Und die Sonne regierte in Lagos transparent
III
III
Lagos lição de lucidez e liso Onde estar vivo se torna mais completo – Como pode meu ser ser distraído De sua luz de prumo e de projecto?
Lagos, Lektion der Klarheit und glatt Wo am Leben sein vollkommener wird – Wie kann mein Wesen zerstreut werden Aus seinem Licht des Lots und des Plans?
IV
IV
Ou poderemos Abril ter perdido O dia inicial inteiro e Iimpo Que habitou nosso tempo mais concreto?
Oder werden wir April schon verloren haben Den ersten Tag vollkommen und rein Der unsere konkretere Zeit bewohnte?
Será que vamos paralelamente Relembrar e chorar como um verão ido O país linear e transparente
Werden wir gleichsam Erinnern und beweinen wie einen vergangener [Sommer Das lineare und transparente Land
E sua luz de prumo e de projecto?
Und sein Licht der Haltung und des Plans?
1975
1975
Aus: Obra Poética (2011), S. 633–634 [O Nome das Coisas, 1977].
Abstract
253
Abstract In dieser Studie werden die vielschichtigen und zuweilen auch verdeckten oder verschlüsselten Referenzen zur empirischen Wirklichkeit in der portugiesischen Dichtung des 20. Jahrhunderts am Beispiel des Werks von Sophia de Mello Breyner Andresen (1919–2004) untersucht. Die Dichterin hat die politischen Konstellationen ihrer Geschichtsperiode genau beobachtet und in ihren lyrischen Texten kritisch reflektiert. Der Estado Novo vertrat eine geschichtspolitische Vision von Portugal, der sich eine ganze Generation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern in einer sehr spezifischen Art und Weise widersetzte. Da seit 1926 in Portugal eine rigide Zensur Presse- und Verlagswesen kontrollierte, trug sich die Auseinandersetzung mit dem Regime in literarischen Texten in einer Weise aus, die oft dazu geführt hat, dass diese Texte als unpolitisch und von der historischen Realität des Landes abgewandt wahrgenommen wurden. Auch wenn evident war, dass hier keine regimetreue Literatur entstanden ist, steht in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der portugiesischen Literatur des 20. Jahrhunderts eine philologische Entschlüsselung der Verfahren von Autoren und Autorinnen wie Sophia Andresen noch aus. Dabei transformierte diese Generation kritischer Intellektueller die Bedrohung der Zensur in eine poetische Ressource: Sie interpretierten die ästhetische Autonomie lyrischer Texte als politisch. In den drei Hauptkapiteln dieser Studie werden drei verschiedene Modi der Kritik herausgearbeitet, die verdeutlichen, wie Sophia Andresen die poetische Form als Form geistigen Widerstands in einer bis heute zutiefst beeindruckenden Konsequenz umgesetzt hat.
This study investigates the complex and sometimes hidden or codified references to empirical reality in the Portuguese poetry of the 20th century by recourse to the poetic work of Sophia de Mello Breyner Andresen (1919–2004). She closely observed the political constellations of her time and critically reflected on them in her lyrical texts. The Estado Novo represented a historical and political vision of Portugal that a whole generation of writers opposed in a very specific manner. Since 1926, a rigid censorship controlled the press, as well as the publishing sector, in Portugal. As a result, the way in which the respective literary texts dealt with the regime has often been deemed apolitical and disconnected from the country’s historical reality. Although it is evident that these authors, including Sophia Andresen, did not write pro-regime literature, their specific modes of expressing criticism have not been philologically decoded yet by the scholarly debate concerning the Portuguese literature of the 20th century. For this generation of critical intellectuals transformed the threat of censorship into a poetic resource: they interpreted the aesthetic autonomy of lyrical texts as a political one. The three main chapters of this study describe three different modes of criticism illustrating how consistently Sophia Andresen employed the poetic form as a form of intellectual resistance.