Poetischer Enthusiasmus: Else Lasker-Schülers Ästhetik der Kolportage 9783412212278, 9783412206802


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Poetischer Enthusiasmus: Else Lasker-Schülers Ästhetik der Kolportage
 9783412212278, 9783412206802

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Magnus Klaue

Poetischer enthusiasmus Else Lasker-Schülers Ästhetik der Kolportage

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Else Lasker-Schüler: Jussuf modelliert seine Mutter. Aus: Else Lasker-Schüler: Theben. Gedichte und Bilder. Hg. v. Ricarda Dick. Frankfurt/M. 2002. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages.

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst GmbH, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20680-2

für Sonja

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I.

II.

Elemente des poetischen Enthusiasmus. Kindheit – Kolportage – Popularität

9

21 21 21 39 57

1.

Diätetik des poetischen Enthusiasmus a) Kindliches Lesen, kindliches Schreiben (Benjamin, Bloch) b) Enthusiasmus und Lustkritik (Schlaffer, Wolgast) c) Offene Läden: Kolportage, Handel, Phantasie

2.

66 Phantasie, poetische Subjektivität und Gemeinschaft a) Kompensatorische und lebendige Phantasie (Bloch, Freud) 66 b) Hochkultur, Nonsense und ‚freie Komik’ (Kempner, 85 Mauthner) c) Königliches Eigentum: Autorschaft und poetische 116 Subjektivität in Ich räume auf! d) Das Geblüt des Dichters: Selbstherrlichkeit und 126 Gemeinschaft (Mühsam, Landauer)

Der ‚Fels’ als ‚Spielbibel’. Die Topographie der Kindheit bei Peter Hille und Else Lasker-Schüler 1.

2.

Erpresste Unschuld: Zur Poetik der Kindheit im Werk von Peter Hille a) Poetik und Pädagogik b) Das ‚lebenstüchtige’ Kind c) Das ‚schöne’ Kind d) Strategien der Petrifizierung: Nonsense, Dinglyrik, Felsmetaphorik Die Belebung des Felsens: Else Lasker-Schülers Peter-Hille-Texte a) Die Poetik der ‚blassen’ Kindheit

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155 155 165 171 178

189 189

b) Das Peter-Hille-Buch I: Felsmetaphorik und Namengebung c) Komik, Trivialisierung, Kollektivität d) Das Peter-Hille-Buch II: Legende – Kolportage – Prophetie e) Zweierlei Eigentum: Autograph und Widmung III. Ästhetische Entnüchterung. Kitsch und poetische Subjektivität in den Werken der Bohème-Zeit 1. Poetische Kinderszenen: Ansichten aus der „Paradiesinnerlichkeit“ a) Affektive Bilder: Paradiesische Familie b) Affektive Sprache: Intersubjektivität und Intimität c) Die paradiesischen Gemeinplätze: Kitsch und Fragment 2.

Kunst als Geschenk: Fragmente einer Sprache der Liebe a) Mein Herz I: Urbanität – Maskerade – Koketterie (Serner, Simmel) b) Mein Herz II: Liebesgesichter: Tableau vivant, Marionette, Karikatur c) Mein Herz III: Flüstern lernen: Intimität und poetische Kommunikation

206 217 228 252

257 260 260 271 288 295 295 322 337

Schlussbemerkung: Enthusiasmus und Subjektivität

345

Literaturverzeichnis

354

Personenregister

381

Ich bin so allein, wäre ich wenigstens einsam, dann könnte ich davon dichten. Else Lasker-Schüler, Mein Herz

Einleitung

Else Lasker-Schülers gesamtes Werk ließe sich lesen als emphatischer Versuch, das ‚Alleinsein’ zu überwinden. Schon eine oberflächliche Lektüre macht den besonderen Stellenwert des kommunikativen, spielerischen Moments ihrer poetischen Produktion evident, ohne dass ihre Werke freilich ‚Gebrauchsliteratur’ im konventionellen Sinn wären. In den Prosatexten bis hin zur Zeit der Emigration dominiert die Gattung des Briefromans und des Porträtessays, in der Lyrik zumindest seit etwa 1910 eine Form poetischer Dialogizität, die mit der für Lasker-Schüler charakteristischen zweizeiligen Strophe, mit dem permanenten Wechsel von lyrischem ‚Ich’ und angesprochenem ‚Du’ sowie mit einem ungewöhnlich vielfältigen Rekurs auf literarische Widmungen einhergeht. Implizite Widmungen sind auch vielen ihrer Dramen und Prosatexte eingeschrieben. Letztere setzen sich, wie Mein Herz oder Der Malik, häufig aus zuvor veröffentlichten Briefen der Autorin zusammen, während umgekehrt in privaten Briefen die poetischen Rollennamen des Werks wiederkehren.1 Titel wie Das Peter-Hille-Buch (1906), Meine Wunder (1911), Mein Herz (1912), Ich räume auf! Meine Anklage an meine 1

Die Briefe aus Mein Herz sind bekanntlich zuerst 1911/12 im „Sturm“ unter dem Titel Briefe nach Norwegen erschienen, Der Malik beruht auf einem Briefwechsel der Autorin mit Franz Marc. Die jeweils folgende Veröffentlichung als Roman belegt indes nicht nur, dass Privates und Öffentliches, literarisches Werk und persönliche Äußerungen sich bei Lasker-Schüler nicht trennen lassen, sondern ist überdies bereits ein Hinweis darauf, dass die Aufhebung der Dichotomie von Fiktion und Wirklichkeit von ihr selbst als ästhetisches, artifizielles Verfahren begriffen wird. Bei der Interpretation von Mein Herz wird daher im Folgenden der Romanfassung der Vorzug vor der Erstfassung gegeben, zumal sie gegenüber dem Erstdruck mehrere Änderungen enthält. – Alle übrigen Texte Lasker-Schülers werden mit nachgestellten Seitenzahlen in Klammern zitiert nach: E. LASKER-SCHÜLER, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe (KA), hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Frankfurt/M. 1996 ff. Bd. 1: Gedichte, Bd. 3: Prosa 1903-1920, Bd. 4: Prosa 1921-1945 / Nachgelassene Schriften, Bd. 5: Prosa: Das Hebräerland, Bd. 6 / 7: Briefe 1893-1924, Bd. 8 / 9: Briefe 19251936. – Zu Lasker-Schülers Brieffreundschaft mit Marc siehe E. LASKER-SCHÜLER / F. MARC, „Mein lieber, wundervoller blauer Reiter“. Privater Briefwechsel, hg. von Ulrike Marquardt und Heinz Rölleke. Düsseldorf u. a. 1998.

Ich bin so allein, wäre ich wenigstens einsam, dann könnte ich davon dichten. Else Lasker-Schüler, Mein Herz

Einleitung

Else Lasker-Schülers gesamtes Werk ließe sich lesen als emphatischer Versuch, das ‚Alleinsein’ zu überwinden. Schon eine oberflächliche Lektüre macht den besonderen Stellenwert des kommunikativen, spielerischen Moments ihrer poetischen Produktion evident, ohne dass ihre Werke freilich ‚Gebrauchsliteratur’ im konventionellen Sinn wären. In den Prosatexten bis hin zur Zeit der Emigration dominiert die Gattung des Briefromans und des Porträtessays, in der Lyrik zumindest seit etwa 1910 eine Form poetischer Dialogizität, die mit der für Lasker-Schüler charakteristischen zweizeiligen Strophe, mit dem permanenten Wechsel von lyrischem ‚Ich’ und angesprochenem ‚Du’ sowie mit einem ungewöhnlich vielfältigen Rekurs auf literarische Widmungen einhergeht. Implizite Widmungen sind auch vielen ihrer Dramen und Prosatexte eingeschrieben. Letztere setzen sich, wie Mein Herz oder Der Malik, häufig aus zuvor veröffentlichten Briefen der Autorin zusammen, während umgekehrt in privaten Briefen die poetischen Rollennamen des Werks wiederkehren.1 Titel wie Das Peter-Hille-Buch (1906), Meine Wunder (1911), Mein Herz (1912), Ich räume auf! Meine Anklage an meine 1

Die Briefe aus Mein Herz sind bekanntlich zuerst 1911/12 im „Sturm“ unter dem Titel Briefe nach Norwegen erschienen, Der Malik beruht auf einem Briefwechsel der Autorin mit Franz Marc. Die jeweils folgende Veröffentlichung als Roman belegt indes nicht nur, dass Privates und Öffentliches, literarisches Werk und persönliche Äußerungen sich bei Lasker-Schüler nicht trennen lassen, sondern ist überdies bereits ein Hinweis darauf, dass die Aufhebung der Dichotomie von Fiktion und Wirklichkeit von ihr selbst als ästhetisches, artifizielles Verfahren begriffen wird. Bei der Interpretation von Mein Herz wird daher im Folgenden der Romanfassung der Vorzug vor der Erstfassung gegeben, zumal sie gegenüber dem Erstdruck mehrere Änderungen enthält. – Alle übrigen Texte Lasker-Schülers werden mit nachgestellten Seitenzahlen in Klammern zitiert nach: E. LASKER-SCHÜLER, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe (KA), hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Frankfurt/M. 1996 ff. Bd. 1: Gedichte, Bd. 3: Prosa 1903-1920, Bd. 4: Prosa 1921-1945 / Nachgelassene Schriften, Bd. 5: Prosa: Das Hebräerland, Bd. 6 / 7: Briefe 1893-1924, Bd. 8 / 9: Briefe 19251936. – Zu Lasker-Schülers Brieffreundschaft mit Marc siehe E. LASKER-SCHÜLER / F. MARC, „Mein lieber, wundervoller blauer Reiter“. Privater Briefwechsel, hg. von Ulrike Marquardt und Heinz Rölleke. Düsseldorf u. a. 1998.

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Einleitung

Verleger (1925) oder Mein blaues Klavier (1943) exponieren entweder schon im ‚Paratext’ ein poetisches Ich oder sind explizit an eine Figur oder Personengruppe adressiert. Selbst wenn eine Adressierung unterbleibt oder paradox negiert wird – Mein Herz enthält in der Romanausgabe die Widmung „Mein Herz – Niemandem“ –, werden die Texte durch das ‚Mein’ des Titels doch als Gaben gekennzeichnet und auf eine zunächst nicht näher bestimmte Gemeinschaft bezogen. Die wohl einzigartige Beharrlichkeit, mit der Lasker-Schüler ihre Arbeiten schon im Titel als ‚Mein’ reklamiert, folgt mithin keiner Logik des Eigentums, sondern einer Poetik der Selbstentäußerung. Das ‚Mein’ beansprucht kein Exklusivrecht, ist nicht Signatur unveräußerlicher Originalität, sondern weist das eigene Werk als Geschenk aus, das beantwortet statt konsumiert oder nur kontemplativ genossen werden will.2 Zugleich bleibt der Impuls poetischer Subjektivität, die nicht mit der biographischen Subjektivität der Autorin verwechselt werden sollte, im ‚Mein’ als Konstituens der ästhetischen Form bewahrt. Das poetische Subjekt realisiert sich nicht im Akt solipsistischer Produktion, sondern in einem Akt des Schenkens, der die Logik des Warentauschs zugleich wiederholt und suspendiert. Diese gleichzeitige Ablehnung einer solipsistischen Schöpfungsästhetik und einer heteronomen, warenförmig geprägten Massenkultur spricht sich in der sarkastischen Gegenüberstellung von ‚Einsamkeit’ und ‚Alleinsein’ aus, wie Lasker-Schüler sie programmatisch in Mein Herz formuliert. Dichtung und ‚Einsamkeit’ schließen sich dem Wortlaut der Passage zufolge nicht aus, Dichtung und ‚Alleinsein’ dagegen schon. Der Heroismus der Einsamkeit als Komplement zur bürgerlichen Ideologie der schöpferischen Einzelpersönlichkeit vermag literarische Produktion als ‚Dichtung’ zu begründen, das privative, unheroische ‚Alleinsein’ dagegen wirft weder literarischen noch ökonomischen Mehrwert ab. Vermag der ‚einsame’ Dichter eine Gemeinde der ihm Hörigen um sich zu versammeln, so bleibt demjenigen, der ‚allein’ ist, nur der Appell an die atomisierten Individuen, sich auf ein poetisches Spiel einzulassen, das durch nichts als sich selbst verbürgt ist. Die Krise poetischer Produktivität, die aus der Unmöglichkeit resultiert, sich vom ‚Alleinsein’ zur ‚Einsamkeit’ zu läutern, wird indessen nicht einfach resignativ beklagt. Vielmehr demontiert der Sarkasmus des Satzes das hohle Pathos einsamen Schöpfer2

Dieser Gedanke, der nach wie vor als entscheidend für jeden adäquaten Deutungsversuch von Lasker-Schülers Werk gelten kann, ist zum ersten Mal entfaltet worden von M. FESSMANN, Spielfiguren. Else Lasker-Schülers Ich-Figurationen als Spiel mit der Autorrolle. Ein Beitrag zur Poetologie des modernen Autors. Stuttgart 1992. – Obwohl Feßmanns Arbeit für die Forschung kanonisch geworden ist, erschöpft sich ihre Rezeption leider meist in der Entlehnung einzelner Thesen, ohne dass deren sozialgeschichtlicher, ökonomischer und ästhetischer Begründungszusammenhang, in dessen Ausarbeitung Feßmanns wesentliches Verdienst besteht, zur Kenntnis genommen würde. Die folgenden Überlegungen verstehen sich demgegenüber, auch wo sie Feßmanns Ansatz widersprechen, als dessen Weiterführung.

Einleitung

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tums und verweist demgegenüber auf das Desiderat einer Poesie, die nicht mehr ‚Dichtung’ im bürgerlichen Sinn wäre und auf jene Erfahrung des ‚Alleinseins’ antworten würde, der sich kein genieästhetischer Glanz abringen lässt und die doch überwunden werden will. Der poetologische Gehalt dieses Begriffs vom ‚Alleinsein’ lässt sich erschließen vor dem Hintergrund des um die Jahrhundertwende zunehmend virulenten Zerfalls der Allianz von Bürgertum und literarischer Intelligenz, durch den sich die Bohème-Kultur, in deren Umfeld Lasker-Schülers Poetik ihre Prägung erfahren hat, allererst etablieren konnte.3 Die Berliner Bohème und ihre Institutionen wie Kabarett, Café, Kneipe und Zeitschrift sind keine bloßen Neuauflagen früherer Assoziationen antibürgerlicher Gegenkultur, sondern Produkt einer Pathogenese der bürgerlichen Gesellschaft, von deren prekärer Dialektik sich Romantiker oder Jungdeutsche noch keinen Begriff machen konnten. Schien noch im 18. und im frühen 19. Jahrhundert ein lebendiger Austausch zwischen bürgerlicher Elite und künstlerischer Intelligenz als Movens der Entwicklung einer als emanzipatorisch begriffenen Populärkultur prinzipiell möglich zu sein, so hatte sich während des Kaiserreichs die Entfremdung zwischen Künstler und Publikum im Zuge der Herausbildung eines nicht mehr aufklärerisch ‚kulturräsonierenden’, sondern passiv ‚kulturkonsumierenden’ Massenpublikums drastisch verschärft.4 Die romantische Utopie einer nicht-hierarchischen Volkskultur, die das Glückversprechen bürgerlicher Emanzipation für alle einzulösen vermöchte, erschien zunehmend illusorisch und wurde ‚von unten’ durch das Surrogat einer standardisierten Unterhaltungskultur, ‚von oben’ durch das volkspädagogische Ideal einer repräsentativen Nationalkultur ersetzt.5 Die 3

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Über die Dissoziation von Bürgertum und literarischer Intelligenz als Voraussetzung für die Konstitution moderner Bohème-Zirkel siehe H. KREUZER, Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1968. Zum sozialgeschichtlichen Kontext J. HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt/M. 1990, besonders S. 161 ff. und S. 275 ff. Zur Entgegensetzung von ‚Kulturräsonnement’ und ‚Kulturkonsum’ siehe J. HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 248 ff. – Über die Verdrängung kritischer Populärästhetik in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, insbesondere im Zuge des Aufstiegs des populären realistischen Romans, siehe R. SCHENDA, Volk ohne Buch. Zur Sozialgeschichte der populären Bildungsstoffe 1770-1910. Frankfurt/M. 1970; H. GEYER-RYAN, Der andere Roman. Versuch über die verdrängte Ästhetik des Populären. Wilhelmshaven 1983; G. BUTZER / M. GÜNTER, Der Wille zum Schönen. Deutscher Realismus und die Wirklichkeit der Literatur. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 28 (1997), S. 54-77. Dieser für Deutschland charakteristische Prozess der Dichotomisierung, der eine besondere Sparte der ‚Unterhaltungsliteratur’ hervorgebracht hat, wie es sie etwa im angloamerikanischen Sprachraum nie gegeben hat, ist prägnant dargestellt bei C. BÜRGER / P. BÜRGER / J. SCHULTE-SASSE, Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur. Frankfurt/M. 1982. Vgl. vor allem die Einleitung von C. BÜRGER, S.

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Einleitung

ästhetische Armut beider Institutionen war, wie sich an den Kampagnen gegen ‚Schundliteratur’, an der Kritik am wilhelminischen Denkmalskult und an der Polemik gegen Feuilletonismus und politische Rhetorik illustrieren ließe,6 schon im ausgehenden 19. Jahrhundert evident geworden. Dennoch verwies die immer deutlichere Kluft zwischen einer marktförmig produzierten Trivialkultur und einer hohlen, zur Ideologie erstarrten bürgerlichen Repräsentationskultur stärker als je auf das Desiderat einer populären Kunst, die sozial und autonom, nicht-hierarchisch und kollektiv zugleich wäre. Eben dieses Desiderat, das für Lasker-Schülers gesamtes Bohème-Werk relevant wird, ist mit der Sehnsucht nach einer Aufhebung des ‚Alleinseins’ angesprochen. Die subkulturellen Strömungen der Jahrhundertwende, die auf durchaus gegenläufige Weise allesamt eine ‚Rückführung von Kunst in Lebenspraxis’ anstreben,7 arbeiten sich je individuell an diesem zu neuer Brisanz gelangten Begriff der Popularität ab: Der unversöhnliche Hass auf den wilhelminischen Denkmalskult und die Verachtung einer die Individuen unmündig haltenden Massenkultur stiften eine Gemeinsamkeit zwischen so inkommensurablen Charakteren wie George, Brecht und Kraus, die vom Schlagwort der ‚Stilpluralität’ eher verdeckt wird. Zugleich aber erweist sich jeder Versuch, die skizzierte Dichotomie ästhetisch aufzuheben, als problematisch: Die Affinität des deutschen Naturalismus zu völkischen Ideologien, des Jugendstils zum Hand-

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9-39, die den Versuchen im Umfeld von Aufklärung und Jungem Deutschland nachgeht, den sich abzeichnenden Dichotomisierungsprozess im Modus nicht-hierarchischer Formen von Unterhaltungskultur zu unterlaufen. Bis ins 20. Jahrhundert wird die subkutane Geschichte einer ‚anderen’ Populärkultur in Deutschland bei Bürger nicht weiterverfolgt. Eine Studie, die sich dieser Aufgabe widmete, hätte wohl zuvorderst die Literatur der Bohème in den Blick zu nehmen. Seit dem späten 19. Jahrhundert werden Literatur und Sprachphilosophie, exemplarisch im Werk von Karl Kraus und Fritz Mauthner, zum Ort der Kritik an der Banalisierung metaphorischer Rede durch die warenförmige Rhetorik von Feuilleton und Tagespolitik, während die puristische Kritik der ‚Sprachreiniger’, die noch im 18. Jahrhundert als Einforderung allgemeiner Sprachstandards einen egalitären Impuls besaß, zur Domäne völkischer Chauvinisten und Antisemiten wird. Vgl. J. SCHIEWE, Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart. München 1998, besonders S. 150 ff. Zur Relevanz des Feuilletonismus für die Berliner und Wiener Moderne, besonders um Herwarth Walden und Karl Kraus, siehe P. SPRENGEL / G. STREIM, Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Köln, Weimar, Wien 1998, S. 152 ff. Mit dieser Formulierung bezeichnet Peter Bürger die eingreifende, ‚performative’ Tendenz der Avantgarden, die er unter dem Aspekt der Auflösung des Werkbegriffs und der ‚Institutionalisierung’ von Kunst seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters diskutiert. P. BÜRGER, Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M. 1974, besonders S. 76 ff. – Vgl. B. LINDNER, Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis? Über die Aktualität der Auseinandersetzung mit den historischen Avantgarde-Bewegungen. In: M. LÜDKE (Hg.), „Theorie der Avantgarde“. Antworten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft. Frankfurt/M. 1976, S. 72-104.

Einleitung

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werkskitsch und des Expressionismus zu religiösem Eigentlichkeitspathos ist keine retrospektive wertungsästhetische Konstruktion, sondern wurde bereits von Zeitgenossen erkannt und kritisiert.8 In diesem Kontext steht der KitschDiskurs, der sich vom späten 19. Jahrhundert bis in die zwanziger Jahre verfolgen lässt und auf den Lasker-Schülers Bohème-Werk mit seiner charakteristischen Aufwertung von Tand und Tinnef reagiert. Kitsch war schon in der zeitgenössischen Diskussion nie nur eine Bezeichnung für minderwertige Kunst, sondern für prätendierte ästhetische und moralische Wahrheitsansprüche. Insofern betrifft die Kitsch-Problematik nicht allein die herabgesunkene Hochkultur, sondern auch die ihre eigenen ästhetischen Ansprüche korrumpierende Avantgarde, mithin den Umschlag expressionistischer, impressionistischer oder auch ‚neusachlicher’ Stilformen in bloße ‚Technik’.9 Dem Kitsch ist – daraus erklärt sich seine Komik – stets ein Moment des Unfreiwilligen eigen. In ihm artikuliert sich das Scheitern ästhetischer Versöhnungsversprechen, die sich ungewollt ihrer schlechten Partikularität überführen, zugleich aber auf eine ungestillte kollektive Sehnsucht verweisen, die sich nicht einfach als illegitim verspotten lässt. Indem er den unversöhnten Riss zwischen ‚Hohem’ und ‚Populärem’, Besonderem und Allgemeinem kenntlich macht, ist Kitsch nicht nur das ‚Böse’ oder das ‚schlechte Gewissen’ im System der Kunst, sondern Ausdruck einer Wunde.10 An Rilkes „Du musst dein Leben 8

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Vgl. besonders den Katalog zur 1909 präsentierten Ausstellung „Geschmacksverirrungen im Kunstgewerbe“ des Stuttgarter Landesgewerbemuseums, die dem deutschen Publikum Kitsch erstmals als massenhaftes Phänomen nicht nur der Populär-, sondern auch der trivialisierten Hochkultur präsentierte: G. E. PAZAUREK, Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe. Stuttgart, Berlin 1912. Hier finden sich neben Beispielen für Kitsch in der Alltags- und Gebrauchskultur auch bereits solche für jugendstilhaften, ‚naturalistischen’ oder religiösen Kitsch. Das synkretistische Moment von Kitsch gehört zu den Kontinuitäten in der Tradition des Begriffs seit seinem Aufkommen Ende des 19. Jahrhunderts. Siehe D. KLICHE, Kitsch. In: K. BARCK u. a. (Hgg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3. Stuttgart, Weimar 2001, S. 272-288. – Eine eher semiotische Bestimmung von Kitsch als trüber Mischung aus hoch- und populärkultureller Prätention leistet der lesenswerte Beitrag von U. ECO, Die Struktur des schlechten Geschmacks. In: ders., Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt/M. 1986, S. 59-115. Die moraltheologische Bestimmung von Kitsch als dem ‚Bösen’ im Wertesystem der Kunst stammt von H. BROCH, Das Böse im Wertesystem der Kunst. In: ders., Kommentierte Werkausgabe, hg. von Paul Michael Lützeler. Bd. 9 / 2: Schriften zur Literatur / Theorie. Frankfurt/M. 1975, S. 119-157. Wolfgang Braungart hat dieses Diktum in den Satz überführt, Kitsch sei das „schlechte Gewissen der Kunst“. W. BRAUNGART, Einleitung. In: ders. (Hg.), Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Tübingen 2002, S. 1-24, hier S. 3. Braungarts Sammelband gehört zu den wenigen überzeugenden Versuchen, Kitsch und ästhetische ‚Affirmation’ jenseits ideologiekritischer Pauschalurteile auf ihre kritischen Gehalte zu befragen. Zur älteren Kitschforschung vgl. W. KILLY, Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen. Göt-

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Einleitung

ändern“, in dem epiphaner Schauer und süßliches Pathos konvergieren und das ohne die Tendenz zum Kitsch seinen Wahrheitsgehalt verlöre, ließe sich diese Allianz von Kitsch und Sehnsucht illustrieren. Auch im Kitsch der Bohème-Literatur selbst, so etwa in den neuchristlichen Exaltationen eines Wille, Bölsche oder der Hart-Brüder, artikuliert sich die unversöhnte Kluft zwischen gemeinschaftsstiftendem Anspruch und realer Vereinzelung einer Subkultur, deren ‚Geselligkeit’ gezeichnet bleibt von jener Entfremdung, die sie transzendieren will. Umgekehrt ist der Rekurs auf Kitsch und Trivialästhetik in Lasker-Schülers Werk, den die Forschung bislang nur am Rande bemerkt hat,11 kein Symptom von Naivität, sondern konstitutiv für das Verständnis

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tingen 1962; J. SCHULTE-SASSE (Hg.), Literarischer Kitsch. Texte zu seiner Theorie, Geschichte und Einzelinterpretation. Tübingen 1979; P. NUSSER, Trivialliteratur. Stuttgart 1991. – All diese Arbeiten behandeln traditionelle Erscheinungsformen von Kitsch und Trivialästhetik und fragen höchstens am Rande nach deren Adaption in qualitativ moderner Kunst, wodurch sie die Opposition von hoher und niederer Literatur, die sie inhaltlich infrage stellen, der Form nach reproduzieren. In der frühen Forschung ist Lasker-Schülers Vorliebe für Kitsch und kindliches Spiel mehrfach beobachtet, aber stets als Zeichen einer unreflektierten Naivität abgetan worden. Drastisch geschieht dies bei D. BÄNSCH, Else Lasker-Schüler. Zur Kritik eines etablierten Bildes. Stuttgart 1971. Vgl. auch A. KOCH, Die Bedeutung des Spiels bei Else Lasker-Schüler. Bonn 1971; B. HINTZE, Else Lasker-Schüler in ihrem Verhältnis zur Romantik. Ein Vergleich der Thematik und des Sprachstils. Bonn 1972; E. KLÜSENER, Else Lasker-Schüler. Eine Biographie oder ein Werk? St. Louis 1979. – Die verniedlichende Perspektive der frühen Arbeiten ist erst revidiert worden durch die Biographie von S. BAUSCHINGER, Else Lasker-Schüler. Ihr Werk und ihre Zeit. Heidelberg 1980, die Lasker-Schülers Selbstmythisierungen nachgeht (siehe auch S. BAUSCHINGER, Else Lasker-Schüler. Biographie. Göttingen 2004). Weit hinter Bauschinger zurück fällt die populäre Monographie von K. DECKER, Mein Herz – Niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler. Berlin 2009. Zur Kritik an der Rezeption LaskerSchülers aus einer dezidiert ‚jüdischen’ Perspektive vgl. J. HESSING, Else LaskerSchüler. Biographie einer deutsch-jüdischen Dichterin. Karlsruhe 1985; ders., Die Heimkehr einer jüdischen Emigrantin. Else Lasker-Schülers mythisierende Rezeption 1945 bis 1971. Tübingen 1993. – Wohl aus der an sich berechtigten Furcht, die Autorin erneut zur ‚Naiven’ zu stempeln, hat sich die Forschung seither kaum mit LaskerSchülers Rekursen auf Kitsch und Trivialität beschäftigt. Einzelne Beobachtungen finden sich bei M. SCHULLER, Literatur im Übergang. Zur Prosa Else Lasker-Schülers. In: J. DICK / B. HAHN (Hgg.), Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Wien 1993, S. 232-247; dies.: Poetographie – Schriftbild – SammelLesen. Zur Prosa Else Lasker-Schülers. In: E. GILSON (Hg.): Literatur im Zeitalter des Totalitarismus. Hildesheim 2008, S. 35-47; S. HENKE, Fehl am Platz. Studien zu einem kleinen Drama im Werk von Alfred Jarry, Else Lasker-Schüler, Marieluise Fleißer und Djuna Barnes. Würzburg 1997; V. LISKA, Die Dichterin und das schelmische Erhabene. Else Lasker-Schülers Die Nächte Tino von Bagdads. Tübingen, Basel 1998; S. KIRSCHNICK, Tausend und ein Zeichen. Else Lasker-Schülers Orient und die Berliner Alltags- und Populärkultur um 1900. Würzburg 2007. Die neue Studie von M. LINDINGER, Glitzernder Kies und Synagogengestein. Kindheit und Erinnerung in El-

Einleitung

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ihrer Poetik, die sich gegen die Normen des bürgerlichen Literaturbetriebs ebenso sperrt wie gegen die Versöhnungs- und Gemeinschaftsideologien der Bohème. Lasker-Schülers Roman Mein Herz, der sich in gewisser Weise gar nicht als Bohème-Roman, sondern als Suche nach einem Ausweg aus der Bohème, als Versuch ihrer Transzendierung verstehen lässt, macht diese Dialektik zum Konstituens seiner ästhetischen Form. Das zitierte Einsamkeits-Diktum fungiert darin nicht als Ausgangspunkt für den Weg in die Gemeinde der Bohemiens, sondern ist selbst Reflex der Bohème-Kultur, Produkt und Diagnose ihrer sozialen wie ästhetischen Erosion. Die Bohème-Existenz macht es dem Ich zwar unmöglich, die Distanz zwischen Künstler und Publikum mittels der bürgerlich-individualistischen Ideologie des ‚einsamen Genies’ zur Gewinnstrategie umzumünzen, vermag aber ebenso wenig den Zustand privativen ‚Alleinseins’ aufzuheben; die Aporien künstlerischer Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft wiederholen sich verschärft in der Bohème.12 Eben weil Lasker-Schüler dieses Dilemma schon früh reflektiert hat, lässt sich ihre Poetik, so viel sie auch der Berliner Bohème verdankt, innerhalb dieses Kontextes nicht angemessen verstehen. Stattdessen entspringt ihr Bohème-Werk dem in seiner Radikalität wohl singulären Impuls, das Desiderat einer populären, gemeinschaftsstiftenden und in diesem Sinne kommunikativen Poesie gegen alle kurrenten Sinn- und Versöhnungsangebote, sei es der organisierten Massenoder der Subkultur, zu verteidigen und einzulösen. Diese Intention auf Popularität, die dem Begriff ästhetischer Autonomie nicht zuwiderläuft, sondern ihn verwirklichen soll, entfaltet sich in Lasker-Schülers Werk in Verbindung mit einem Begriff kindlicher Erfahrung, der auf das mimetische Potential poetischer Sprache zielt und als Gegenentwurf zur Kindheits-Idolatrie der Jahrhundertwende verstanden werden muss. Der Konnex zwischen Kindheit und Ästhetik, der gerade in seiner Intention auf eine Aufhebung des ‚Alleinseins’ Affinitäten zu Walter Benjamins Reflexionen über kindliche Erfahrung aufweist, soll im Folgenden ausführlich im Kontrast zu Peter Hilles Ideal ‚lebenstüchtiger’ Kindheit entwickelt werden. In Lasker-Schülers späteren Werken der Bohème-Zeit, vor allem in Mein Herz, wird der ‚kindliche’ Impuls überführt in ein Konzept von ‚Massenkunst’, das auf Kitsch und Tand als Signatu-

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se Lasker-Schülers-Prosa, Frankfurt/M. 2011, bezieht zwar einige wichtige Texte, unter anderem das Peter-Hille-Buch ein, untersucht das Kindheitsmotiv aber rein inhaltsbezogen und übersieht so die systematische Bedeutung von Kitsch, Trivialität und Naivität für Lasker-Schülers Poetik. Diesen Prozess, in dessen Folge die Bohème tendenziell zum bloßen Komplement des Bürgertums wird, analysiert H. KREUZER, Die Boheme, besonders S. 140 ff.

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Einleitung

ren einer Poesie zurückgreift, die sich aus herrenlosen, ‚wandernden’ Worten konstituiert und sich gegen das Verständnis von Autorschaft als Eigentumsverhältnis ebenso wie gegen kulturindustrielle Vereinnahmungen sperrt.13 Der Begriff von Popularität im hier anvisierten Sinn, der sich für LaskerSchülers gesamtes Werk aus der Zeit ihres Bohème-Daseins geltend machen ließe und erst an der Schwelle zum Exil erodiert, wäre gründlich missverstanden, sofern er als Antizipation der Performance Art oder als Vorform ‚interaktiver Kunstvermittlung’ aufgefasst würde;14 Lasker-Schülers Poetik verweigert sich jeder Logik ästhetischer ‚Vermittlung’, in der die Dichotomie von Künstler und Publikum immer schon präjudiziert ist. Nicht zuletzt widersetzt sie sich aber auch einem in verkürzender Rezeption von Adornos Ästhetik etablierten Moderneverständnis, das Avanciertheit strikt an ‚ästhetische Negativität’ bindet und jede Bezugnahme auf Popularität und Kommunikativität im Namen ästhetischer Autonomie verpönt.15 Die vermeintliche Ignoranz der 13

14 15

Im Sinne einer Verweigerung gegenüber der bürgerlichen Definition von Autorschaft als durch Originalität begründetes ‚Eigentum’ werden die Ich-Figurationen LaskerSchülers gedeutet von M. FESSMANN, Spielfiguren. Feßmann bezieht sich auf H. BOSSE, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethe-Zeit. Paderborn u. a. 1981. Beispielhaft dafür ist M. HALLENSLEBEN, Else Lasker-Schüler. Avantgardismus und Kunstinszenierung. Tübingen, Basel 2000. Dieses Zerrbild ‚ästhetischer Negativität’, das die in der Ästhetischen Theorie entfalteten Überlegungen nicht nur enthistorisiert, indem es Adornos Begriffe zu wertungsästhetischen Prämissen hypostasiert, sondern überdies die Kritik an mitteilender Sprache zu einer Ablehnung jedes kommunikativen Gehalts von Kunst überhaupt verfälscht, wird gerade von Adornos sogenannten Schülern, die seine Gedanken fortzusetzen vorgeben, meist umstandslos auf Adorno selbst übertragen. Adorno erscheint so als geistreiches enfant terrible, dessen apodiktische Urteile freilich ‚differenziert’ und ‚pragmatisiert’ werden müssen, um heutigen Menschen etwas sagen zu können. Vor allem die rezeptionsästhetische Schule in Deutschland verdankt ihren nachhaltigen Einfluss dem Scheingefecht gegen die angebliche Vernachlässigung der kommunikativen Dimension ästhetischer Erfahrung durch Adorno. Vgl. exemplarisch H. R. JAUSS, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt/M. 1982, besonders S. 43 ff. – So ergiebig der von Jauß skizzierte rezeptionsästhetische Ansatz für einzelne materiale Arbeiten sein mag, restituiert er mit der Aufwertung kommunikationspragmatischer Termini wie „Identifikation“ (S. 244 ff.), „Interaktion“ (S. 260 ff.) und „Kommunikation“ (S. 293 ff.) jenes Codemodell von Sprache als Medium des Tauschs von Zeichen zwischen ‚Sender’ und ‚Empfänger’, gegen das Adornos Mimesisbegriff sich richtet. Während ästhetische Kommunikation von der Rezeptionsästhetik lediglich als, wenn auch gern originelle, Variation des immergleichen Code-Schemas, also letztlich am Modell des Äquivalenztauschs konzeptualisiert wird, zielt Adornos Begriff mimetischer Kommunikation auf die Suspendierung dieses warenförmigen Verständnisses von Sprache. Vgl. P. V. ZIMA, Kritik der Literatursoziologie. Frankfurt/M. 1978, S. 72-112. Außerdem E. LENK, Adorno gegen seine Liebhaber verteidigt. In: F. HAGER / H. PFÜTZE (Hgg), Das unerhört Moderne. Berliner Adorno-Tagung. Lüneburg 1990, S. 10-27.

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rezeptiven, kommunikativen Potentiale populärer Kunstformen, die Adorno anders als Benjamin bis heute unterstellt wird, ist in weiten Teilen ein Gerücht. Anhand von Lasker-Schüler ließe sich en détail zeigen, dass der Begriff der Mimesis, auf den Adorno in Anschluss an Benjamin rekurriert,16 eben jenes freie, unverkürzte Kommunikationspotential meint, für das ästhetische Erfahrung einsteht, weil es nicht in der Wirklichkeit vorzufinden ist, sondern ihr durch Poetisierung erst abgewonnen werden muss. Es kann hier nicht darum gehen, diesen Gedanken in extenso zu entfalten oder gar zur Folie der Lektüre zu machen. Dennoch wäre ein wichtiges Ziel der Arbeit erreicht, wenn die Explikation von Lasker-Schülers Œuvre als Entwurf einer Poetik des Populären deren Affinität zur Ästhetik Benjamins und Adornos und ihren Abstand zur scheinbar so kommunikationsfreudigen Postmoderne zugleich veranschaulichen könnte. Das Telos der Popularität in Lasker-Schülers Poetik bewahrt – vermittelt über Gustav Landauers Konzept nicht-hierarchischer Volkskunst – einen romantisch-frühsozialistischen Impuls, der ästhetische Erfahrung wesentlich als Euphorie und Selbstentäußerung fasst und sich in der Ästhetik der Moderne stets nur intermittierend Geltung verschaffen konnte; mit der postmodernen Verwechslung von Popularität und Marktgängigkeit oder einem germanistisch verschandelten Begriff von ästhetischer Lust ist er unvereinbar.17 Im Gegenteil versucht er zu realisieren, worum Adornos Äs16

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Der Konnex zwischen dem Mimesisbegriff der Ästhetischen Theorie und Benjamins frühen Reflexionen zum mimetischen Gehalt von Sprache ist gut entfaltet in der wenig rezipierten Studie von A. ALLKEMPER, Rettung und Utopie. Studien zu Adorno. Paderborn u. a. 1981, besonders S. 92 ff. und 144 ff. Die von der kulturwissenschaftlich renovierten Germanistik hin und wieder unternommenen Versuche, das enthusiastische Moment ästhetischer Erfahrung für die literaturwissenschaftliche Praxis zurückzugewinnen, kranken alle daran, dass sie ästhetische Lust einerseits weiterhin ausschließlich anhand der Bestimmungen bürgerlicher Ästhetik zu denken vermögen, wie sie modellhaft in Kants Kritik der Urteilskraft vorliegen, andererseits aber für dieses rezeptionsästhetisch normierte Modell eben jene Erfahrungen von Glück, Hedonismus, Dispens von Arbeit usw. geltend machen, die längst mit größerem Recht von der verschmähten Populär- und Massenkultur reklamiert werden. Was dabei herauskommt, ist meistens nicht viel mehr als eine kulinarisch drapierte Version bürgerlicher Autonomieästhetik. Symptomatisch hierfür ist T. ANZ, Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998. Trotz seines begrüßenswerten Ansinnens, hermeneutische Reflexion und Lusterfahrung aufeinander zu beziehen, folgt Anz’ Buch einem Modell ästhetischer Kompensation, wenn ästhetische Lust als „[k]ompensatorische Aufhebung [!] realer Mangelerfahrungen“ bestimmt und mit der als anthropologisch gedachten Neigung der Menschen erklärt wird, „überlebensnotwendige Aktivitäten durch Lustprämien [!] zu motivieren“ (S. 11 und S. 56). Vor solch ideologischen Kurzschlüssen hat sich wohl auch Wolfgang Braungart nicht ausreichend geschützt, wenn er etwa die Aufwertung von Kitsch mit der Notwendigkeit begründet, eine Ästhetik der „Zustimmung“ und des „Einverstanden-Seins“ zu entwerfen (W. BRAUNGART, Einleitung, S. 19).

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thetik – aus historisch unabweisbaren Gründen – nur ex negativo, aber beharrlich kreist. Auf diesen Impuls zielt der Begriff des poetischen Enthusiasmus. Er entfaltet sich in jenen ‚niederen’ Formen poetischer Rede, auf die LaskerSchüler ihr Schaffen hindurch rekurriert, deren Relevanz jedoch bisher nicht erkannt wurde: Elemente der Kindersprache und kindlichen Erfahrung; Bruchstücke einer Poetik des Trivialen; Kolportage, Kitsch und Tand. Erst durch ihre Reflexion hindurch erschließt sich der poetologische und gesellschaftliche Gehalt ihrer Dichtung. Die Explikation von Lasker-Schülers Œuvre als Poetik des Populären erlaubt nicht nur eine neue Situierung ihres Werks im Zusammenhang zeitgenössischer Diskurse über den Konnex von Poesie, Kindersprache, kindlicher Erfahrung und Trivialästhetik, sondern vermag jene Momente ihrer Dichtung und ihres Selbstverständnisses zu fokussieren, die bislang allenfalls als Zeichen ihrer ‚Naivität’ aufgefasst wurden. Während Lasker-Schüler bis in die achtziger Jahre hinein – manchmal kritisch, meist aber anempfindelnd – als naives ‚Gotteskind’ betrachtet wurde, dessen Werk auf sozial- und geistesgeschichtliche Rezeptionszusammenhänge gar nicht erst befragt werden müsse,18 gilt sie der Forschung mittlerweile als Avantgardistin, als Vorläuferin der Postmoderne und der Gender-Ästhetik oder gar – was Lasker-Schüler zweifellos als Beschimpfung empfunden hätte – als ‚Intellektuelle’.19 Beiden Einschätzungen entgeht das Moment emphatischer Selbsttrivialisierung, das ihre gesamte Poetik des Rollenspiels grundiert. Wenn das Ich in Mein Herz Herwarth Walden bittet, in den Briefen die Kommas zu setzen, wenn LaskerSchüler betont, sie lese keine Bücher außer die eigenen, und wenn sie ihre Begeisterung für Tand, Clichés, Indianer- und Abenteuerspiele hervorhebt, so artikuliert sich in diesen Gesten ein anti-akademischer Impuls, der nichts mit 18

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Obwohl sie gerade die Idealisierung Lasker-Schülers kritisiert, ist die Studie von D. BÄNSCH, Else Lasker-Schüler, beispielhaft für diese Tendenz, weil sie lediglich die Bewertung von Lasker-Schülers ‚naivem’ Habitus umkehrt, aber nirgends nach dem poetologischen und historischen Begründungszusammenhang dieser ‚Naivität’ fragt. Auch in neueren Arbeiten wird der ‚naive’, unakademische Duktus Lasker-Schülers meist nicht interpretiert, sondern als Legitimation dafür in Dienst genommen, ihr ein eigenständiges poetologisches Konzept gar nicht erst zuzutrauen. Besonders vehement geschieht dies (trotz des Untertitels) bei U. MÜLLER, Auch wider dem Verbote. Else Lasker-Schüler und ihr eigensinniger Umgang mit Weiblichkeit, Judentum und Mystik. Bern u. a. 1989. Vgl. etwa auch C. REISS-SUCKOW, „Wer wird mir Schöpfer sein!!“ Else Lasker-Schülers Entwicklung als Künstlerin. Konstanz 1997. T. HÖFERT, Signaturen kritischer Intellektualität. Else Lasker-Schülers Schauspiel „Arthur Aronymus“. St. Ingbert 2002. – Für Poststrukturalismus und Gender-Ästhetik wird Lasker-Schüler aus eher psychoanalytischer Perspektive in Anspruch genommen von D. BISCHOFF, Ausgesetzte Schöpfung. Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers. Tübingen 2002. Vgl. auch die teilweise ähnlich gelagerten Arbeiten von M. HALLENSLEBEN, Else Lasker-Schüler, und S. KIRSCHNICK, Tausend und ein Zeichen.

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Geistesfeindlichkeit zu tun hat, aber auch nicht als Koketterie abgetan werden sollte. Lasker-Schüler wollte nie ‚Intellektuelle’ (und übrigens auch nicht ‚emanzipierte Frau’) sein, sondern ‚Clown’ oder ‚Kind’; keine Rolle dürfte ihr ferner gelegen haben als die des poeta doctus. Ebenso wenig lässt sich ihr Versuch einer Aufhebung des Gegensatzes zwischen Kunst und Leben als Revitalisierung unbefragbarer Authentizitätserfahrungen begreifen, wie sie seit einiger Zeit unter dem Label der ‚Rückkehr des Körpers’ eine Renaissance erfahren. Ihre Welt mit ihren ‚Indianern’, ‚Slawen’ und ‚wilden Juden’ bleibt eine Kunstwelt, deren Ursprung tatsächlich eher in den Kolonialausstellungen und in der Kolportage als in der naiven Sehnsucht nach ‚Ursprünglichkeit’ aufzufinden sein dürfte.20 Mit der Betonung des ‚Gemachten’, Künstlichen geht indessen ein radikaler Freiheitsanspruch einher: die Utopie eines ‚Lebens’, das im empirischen Leben eben nicht aufzufinden ist und sich ihm erst im Durchgang durch die Welt der kollektiven Glücks- und Fluchtträume, wie sie in authentischer Kolportage vorliegen, abgewinnen lässt. Mehr Ähnlichkeiten als mit postmoderner Performance-Kunst hat LaskerSchülers Poetik der Selbstfiguralisierung mit der meist als Wahn oder Hochstapelei denunzierten poetischen ‚Selbsterfindung’ eines Karl May, der die Fluchtwelten seiner Werke als authentischen Erfahrungshorizont begriffen wissen wollte, die Differenz zwischen Wirklichkeit und eskapistischer Phantasie, die von konventioneller Trivialliteratur festgeschrieben wird, mithin gerade nicht akzeptiert hat.21 In diesem Sinne soll hier mit Blick auf ihr spezifisches Verständnis von Kolportage und Trivialität versucht werden, LaskerSchüler den marktgängigen akademischen Diskursen zu entrücken, um das Befremdliche ihres Werks wieder stärker zur Geltung zu bringen. Gerade im Befremdlichen artikuliert sich jene Intention auf Kollektivität, die von der undialektischen Begeisterung für alles ‚Populäre’, auf die eine kulturwissenschaftlich verwässerte Philologie heute stolz ist, verkannt wird. Diese Konstellation ist im Folgenden zunächst anhand genauer Textlektüre in ihrem geistesgeschichtlichen und systematischen Zusammenhang zu entfalten (I), um dann exemplarisch in zwei verschiedenen Facetten veranschaulicht zu werden: anhand der Ikonographie einer ‚blassen’, unheroischen Kindheit im Peter-Hille-Buch, die als Gegenentwurf zu Hilles eigener Poetik zu verstehen ist (II), und anhand von Lasker-Schülers Konzept einer ‚liebenden’, affektiven 20

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Dieser Aspekt ist aus Perspektive der Postcolonial Studies hervorgehoben worden von N. BERMAN, Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900. Stuttgart 1997, und S. KIRSCHNICK, Tausend und ein Zeichen. Die kritische Dimension literarischer Kolportage, die für Lasker-Schülers Kolportageverständnis unmittelbar relevant wird, betont in Abgrenzung zum Kitschbegriff und mit Rekurs auf Ernst Blochs Deutung von Mays Abenteuerromanen G. UEDING, Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt/M. 1973.

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Sprache, wie sie sich vor allem an der Lyrik aus dem Zeitraum von Meine Wunder und am Liebesbegriff in Mein Herz ausmachen lässt (III). Dabei geht es weniger um Erarbeitung eines geschlossenen Deutungsansatzes, der sich abstrakt auf Lasker-Schülers gesamtes Schaffen übertragen ließe – obzwar auch die Arbeiten des Exils, die hier ausgespart bleiben, aus dieser Perspektive in neuem Licht erscheinen dürften – als um den Versuch, am Leitfaden exemplarischer Lektüren eine subkutane Tradition populärer Ästhetik zu skizzieren, welche sich mit den tradierten Begriffen ‚engagierter’ oder ‚autonomer’ Kunst nicht fassen lässt und dennoch eine eigene Geschichte ausgebildet hat, die bislang kaum erforscht ist. Der Grund für ihre Verborgenheit liegt wohl in der Sache selbst: So wenig sich die Elemente des Populären in Lasker-Schülers Œuvre zu einem bündigen ‚Verfahren’ synthetisieren lassen, so schwierig ist es, sie historisch zu kontextualisieren oder einem bestehenden Kanon einzufügen. Das Triviale ist nicht zu hypostasieren: Es kann nicht zum Paradigma gerinnen, weil sich in ihm ein Glücks- und Freiheitsanspruch artikuliert, der bis heute unabgegolten ist. Ihn einzulösen, bedürfte es jener Antwort, die Lasker-Schülers Werk einklagt, indem es weder an hörige Bewunderer noch an sachliche Archivare, sondern an Mitspieler appelliert. Mitspielen ist nicht gleichbedeutend mit bedingungsloser Identifikation, setzt aber jene affektive Phantasie voraus, auf die der Begriff des Enthusiasmus zielt und ohne die jede philologische Erkenntnis zur Buchhaltung wird.

I.

Elemente des poetischen Enthusiasmus. Kindheit – Kolportage - Popularität

1. Diätetik des poetischen Enthusiasmus a) Kindliches Lesen, kindliches Schreiben (Benjamin, Bloch) Der Begriff des Enthusiasmus und die poetische Intention auf Trivialität, wie sie hier erst nur skizziert werden konnten, müssen vor dem Hintergrund eines Diskurses betrachtet werden, der mit den ästhetischen Debatten der Jahrhundertwende scheinbar wenig zu tun hat, tatsächlich aber in deren Zentrum führt: Zwischen dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erscheint in Deutschland eine Flut volkspädagogischer und kulturkritischer Schriften über die Gefahren der ‚Lesewut’.1 In dieser Polemik, die ihren wohl vielfältigsten Niederschlag in den Publikationen der sogenannten Jugendschriftenbewegung um Heinrich Wolgast gefunden hat, verbinden sich eine rezeptions- und eine produktionsästhetische Stoßrichtung, insofern die Kritik an einem als unmoralisch und gefährlich bewerteten Leseverhalten mit der Denunziation der

1

Die noch immer beste Darstellung dieser Debatte findet sich bei G. WILKENDING, Volksbildung und Pädagogik „vom Kinde aus“. Eine Untersuchung zur Geschichte der Literaturpädagogik in den Anfängen der Kunsterziehungsbewegung. Weinheim, Basel 1980. Vgl. ferner dies., Einleitung. In: G. WILKENDING (Hg.), Kinder- und Jugendliteratur. Mädchenliteratur. Vom 18. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Stuttgart 1994, S. 6-70; dies., Kritik der Jugendlektüre von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Herausbildung der Hamburger Jugendschriftenbewegung. In: Kinder- und Jugendliteraturforschung 1996/97, S. 38-68. – Zur Geschichte der Lesekritik seit dem 18. Jahrhundert siehe D. VON KÖNIG, Lesesucht und Lesewut. In: H. G. GÖPFERT (Hg.), Buch und Leser. Hamburg 1977, S. 89-112; K. RUTSCHKY, Die Lesewut. Autonome Bildungsprozesse von Kindern im 19. Jahrhundert. In: Der Deutschunterricht 32 (1980), S. 78-98; D. RICHTER, Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt/M. 1987; R. WILD, Die Vernunft der Väter. Zur Psychographie von Bürgerlichkeit und Aufklärung in Deutschland am Beispiel ihrer Literatur für Kinder. Stuttgart 1987; R. STEINLEIN, Die domestizierte Phantasie. Studien zur Kinderliteratur, Kinderlektüre und Literaturpädagogik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1987; B. KÜMMERLING-MEIBAUER, Kinderliteratur, Kanonbildung und literarische Wertung. Stuttgart, Weimar 2003, S. 32 ff.

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Elemente des poetischen Enthusiasmus

‚Schundliteratur’ und ‚Backfischliteratur’ einhergeht.2 Beide Ebenen werden in der Argumentation miteinander verbunden: Die ‚Schundliteratur’ provoziert nicht nur einen schlecht identifikatorischen, ‚lesewütigen’ Blick, sondern trägt ihrerseits zur ‚Verwilderung’ des literarischen Rezeptionsverhaltens bei, während umgekehrt der ‚lesewütige’ Blick teilhat an der Trivialisierung literarischer Kultur. Beidem lässt sich, so das vorherrschende Urteil, allein durch ästhetische Erziehung begegnen. Neu gegenüber den ästhetischen Schundund Schmutzdebatten des 18. Jahrhunderts ist, dass die Kritik an der Trivialliteratur bevorzugt auf dem diskursiven Feld der Kindheit ausgetragen wird. Kitsch und Kindheit scheinen aus Sicht der Volkspädagogen eine heimliche Allianz zu bilden, die im Namen ästhetischer Erziehung zerschlagen werden muss. Kindliches Lesen wird als stark kitschanfällig wahrgenommen, während die Lektüre von ‚Schundliteratur’ den erwachsenen Leser wiederum zum ‚Kind’ zu machen droht.3 Auf welche Impulse kindlichen Lektüreverhaltens diese Kritik abhebt, lässt sich an drei Schilderungen kindlichen Lesens zeigen, die mit unterschiedlicher Bewertung eine ähnliche Erfahrung reflektieren. 1894 liefert der Mädchenschullehrer Albrecht Goerth in einem pädagogischen Handbuch folgende Beschreibung einer ‚gefährlichen’ Mädchenlektüre:

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Dass Populärliteratur unter dem Begriff ‚Schund’ hierzulande jahrhundertelang den bevorzugten Diskurskampfplatz von Sprachreinigern und Volkspädagogen abgeben konnte, hat wohl mit Deutschlands Status als ‚zuspätgekommener Nation’ zu tun, der die Pflege einer kanonisierten Nationalliteratur zum Ersatz für die nicht realisierte nationale Einheit werden konnte. Die Geschichte populärer Lesestoffe seit dem 18. Jahrhundert ist vor diesem Hintergrund hervorragend dargestellt worden von R. SCHENDA, Volk ohne Buch. Zum Verhältnis von Kultur, Bildungsbürgertum und Nation siehe G. BOLLENBECK, Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945. Frankfurt/M. 1999, sowie M. STORIM, Ästhetik im Umbruch. Zur Funktion der ‚Rede über Kunst’ um 1900 am Beispiel der Debatte um Schmutz und Schund. Tübingen 2002. – Zum Begriff ‚Backfischliteratur’ vgl. L. GÖHRING, Ein pädagogisches Urteil über Backfisch-Litteratur. In: JugendschriftenWarte 3 (1895). Nr. 10, S. 38 f.; H. WOLGAST, Über Lektüre für Backfische. In: ders., Vom Kinderbuch. Gesammelte Aufsätze. Leipzig, Berlin 1906, S. 100-109. Zusammenfassend auch G. WILKENDING, Einleitung, S. 59-70. Da ästhetische ‚Avanciertheit’ im Kontext der Berliner Moderne meist ‚männlich’ kodiert ist, erscheint die von Trivialliteratur angeblich ausgehende Regressionsgefahr oft als Schreckbild der ‚Verweiblichung’. Siehe P. SPRENGEL / G. STREIM, Berliner und Wiener Moderne, S. 215 ff., sowie U. HELDUSER, Geschlechterprogramme. Konzepte der Moderne um 1900. Köln, Weimar, Wien 2005, S. 98 ff. – Indem LaskerSchüler ihre Rekurse auf Kolportage und Trivialität an Bilder kindlicher Lektüre knüpft, entgeht sie von vornherein der unkritischen Feier einer ‚femininen’ Kreativität, wie sie sich unter postmodernen Vorzeichen findet bei G. LEHNERT, Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur. Berlin 2000. Lasker-Schülers Selbstfiguralisierungen als ‚Kind’ oder ‚Knabe’ sind nicht zuletzt ein Versuch, sich solch dreister Subsumption unter die Gattung ‚der Frauen’ zu entziehen.

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Während des Lesens sitzen sie nach vorn übergebeugt, haben meistenteils die Füße übereinander geschlagen [...] und jagen die spannende Erzählung durch. Dabei steigt das Blut übermäßig nach dem Gehirn, das Gesicht färbt sich hochrot, das Herz fängt an unregelmäßig zu klopfen; der Körper gerät in einen Zustand, der nur zu sehr geeignet ist, im Blutumlauf [...] bedenkliche Störungen zu erzeugen und die Thätigkeit der Nerven zu stören und zu schwächen. [...] Die übermäßig bleichsüchtigen Mädchen pflegen sämtlich an der Lesewut zu kranken.4

1905 erinnert sich der Zoologe Friedrich Ratzel, Sohn eines Kammerdieners, an seine frühesten Lektüreerfahrungen: Die Lesestunden waren Wonnestunden, je einsamer desto schöner; auf das Buch kam es weniger an. Hinreißend wie ‚Robinson’, ‚Lederstrumpf’ oder ‚Sigismund Rüstig’ waren nicht viele; aber das machte ja gar nichts, denn ein großer Teil des Lesens war Sinnen und Träumen [...]. Ich erinnere mich denn auch, dass ich auf dem Höhepunkt der Lesewut nie geneigt gewesen wäre, ein Buch langweilig zu finden [...]. Wenn ich in dem Winkelkämmerchen unter den Ziegeln saß, [...] konnte das Buch so vollkommen unlesbar sein, wie ein Band von Sturms ‚Insekten Deutschlands’ [...]: das Gedruckte wirkte wie ein Zauber.5

1928 erscheint im Abschnitt „Vergrößerungen“ von Benjamins Einbahnstraße der Text „Lesendes Kind“, der eine bezwingende Erinnerung an die Lektüre von Büchern aus der „Schülerbibliothek“ wiedergibt: Für eine Woche war man gänzlich dem Treiben des Textes anheimgegeben, das mild und heimlich, dicht und unablässig, wie Schneeflocken einen umfing. Dahinein trat man mit grenzenlosem Vertrauen. Stille des Buches, die weiter und weiter lockte! Dessen Inhalt war gar nicht so wichtig. Denn die Lektüre fiel noch in die Zeit, da man selber Geschichten im Bett sich ausdachte. Ihren halbverwehten Wegen spürt das Kind nach. Beim Lesen hält es sich die Ohren zu; sein Buch liegt auf dem viel zu hohen Tisch und eine Hand liegt immer auf dem Blatt. Ihm sind die Abenteuer des Helden noch im Wirbel zu lesen wie Figur und Botschaft im Treiben der Flocken. [...] Es ist viel näher unter die Gestalten gemischt als der Erwachsene. Es ist unsäglich betroffen von dem Geschehen und den gewechselten Worten und wenn es aufsteht, ist es über und über beschneit vom Gelesenen.6

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A. GOERTH, Erziehung und Ausbildung der Mädchen. Ein Wegweiser für gebildete Eltern, für Lehrer und Erzieher. Leipzig 1894, S. 396. F. RATZEL, Glücksinseln und Träume. Leipzig 1905, S. 97 f. W. BENJAMIN, GS IV.1, S. 113.

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Rüdiger Steinlein, der die letzten beiden Beispiele in seiner Studie zur Kinderlektüre und Literaturpädagogik im 18. und 19. Jahrhundert analysiert, weist mit Recht darauf hin, dass es falsch wäre, die hier fokussierte Erfahrung schlicht als ‚evasorisches’ oder ‚identifikatorisches’ Lesen abzuqualifizieren.7 Die Unterstellung des Eskapismus, die in solchen Termini mitschwingt, wird von der Metaphorik der Texte konterkariert. Wenn die lesenden Kinder durch die Erzählung „jagen“, „das Gedruckte“ wie ein „Zauber“ wirkt und das Kind dem „Treiben des Textes anheimgegeben“ ist, figuriert das Buch nicht als Medium der Flucht vor der Wirklichkeit, sondern ist eine eigene Wirklichkeit mit autonomem Geltungsrecht. In drei Aspekten ähneln sich alle drei Beschreibungen: Voraussetzung der Lektüreerfahrung ist das Alleinsein des Kindes mit dem Buch, sei es in Verstecken wie dem „Winkelkämmerchen“, sei es durch ‚Einigelung’, indem es sich „vorn überbeugt“ und die „Ohren zu[hält]“. Auf diese Ausblendung des aktuell Gegenwärtigen zielt auch der um die Jahrhundertwende prominente Topos von der Unterhaltungslektüre als ‚Insel’, die in die empirische Realität gleichsam einen Zauberkreis mit eigenen Gesetzen zeichnet, ohne doch die Gesetze jener einfach aufzuheben.8 Zweitens wird die „Lesewut“ mit verschiedener Akzentuierung als somatische Erfahrung exponiert, die Goerth offen sexualisiert und pathologisiert (rotes Gesicht, beschleunigter Herzschlag, Schwächung der Nerven), während Ratzel und Benjamin sie als ‚Hingerissensein’ und in die „Gestalten“ des Buches ‚Gemischtsein’ beschreiben. Drittens heftet sich die affektive Erfahrung an jede Art Stoff, worin keineswegs Indifferenz, sondern die von keinem habitualisierten Geschmackurteil eingeschränkte Spontaneität der Lektüre zum Ausdruck kommt. Entscheidend ist der produktive, autonome Impuls solchen Lesens, den selbst Goerths Schilderung nicht verleugnen kann. Das Alleinsein mit dem Buch, vor dem schon im 18. Jahrhundert in lesepädagogischen Diskursen gewarnt worden ist,9 bleibt nicht privativ, sondern schlägt um in eine ungedeckte kommunikative Erfahrung, die das ‚Alleinsein’, dem sie entspringt, transzendiert. Der (auch beim Kind) zunächst intellektuelle Akt der Lektüre überschreitet sich selbst in dieser Erfahrung, in der sich die ‚Betroffenheit’ 7 8

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Vgl. R. STEINLEIN, Die domestizierte Phantasie, S. 23 ff. – Steinlein spricht stattdessen von „symbiotischem“ bzw. „symbiotisierendem“ Lesen (S. 27). Zu dieser Metapher und ihrer Herkunft aus der Tradition der Robinsonaden siehe G. WILKENDING, Einleitung, S. 32 f., sowie dies., Kinder- und Jugendbuch. Bamberg 1987, S. 115 ff. – Im Insel-Topos ist jenes Moment ‚abenteuerlicher’ Lektüre noch mitgedacht, das dann in der Lesekritik seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend diffamiert wird. Noch Simmel vergleicht 1911 in der Philosophischen Kultur das „Abenteuer“ emphatisch mit „einer Insel im Leben“ und erkennt in der „Begrenztheit, mit der das Abenteuer sich aus dem Gesamtverlauf eines Schicksals heraushebt“, dessen Affinität zum Kunstwerk. Vgl. G. SIMMEL, GA 14, S. 168 ff., hier S. 170. Siehe D. RICHTER, Das fremde Kind, besonders S. 56 ff., sowie R. STEINLEIN, Die domestizierte Phantasie, S. 23 ff.

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des Lesers Bahn bricht und die gerade Goerth eindrücklich als Euphorie beschreibt. Die euphorische Teilhabe des Kindes am Gelesenen beruht weder auf naiver Verwechslung von Fiktion und Realität noch auf fehlender Geschmacksbildung, sondern auf der Fähigkeit zur Mimesis, die nicht darauf zielt, mit dem Gelesenen zu verschmelzen, sondern sich mit ihm zu mischen; ‚Mischung’ impliziert Ähnlichkeit, nicht Identität. Einzig von Benjamin wird dieser Aspekt unentstellt erfasst. Goerth deutet die Intention auf ‚Vermischung’ als sexuellen Akt, als ‚Sünde’, die mit ‚Krankheit’ bestraft wird.10 Ratzel spricht eher harmonisierend von „Wonnestunden“ und nennt als Beispiel für den ungerichteten Impuls kindlichen Lesens ausgerechnet ein Buch über Insekten: Seine vermeintlich inkommensurable Lektüre antizipiert seinen späteren Beruf, erweist sich rückblickend also gerade als ‚nützlich’. Benjamin dagegen sperrt sich gegen pädagogische Rationalisierungen. Indem er ein Buch aus der „Schülerbibliothek“ als Beispiel kindlicher Lektürepraxis wählt und zur Beschreibung der Affektation des Kindes durch das Gelesene auf das ‚purifizierende’ Bild der „Schneeflocken“ zurückgreift, kehrt er die in der Lesekritik dominante Metaphorik der ‚Befleckung’ gegen sich selbst. Die Metapher der Flocken, die den Leser nicht gewaltsam, sondern „mild“ umfangen und von denen er nach der Lektüre „über und über beschneit“ ist, beschreibt das kindliche Lesen als eine Erfahrung, in der ‚Heimlichkeit’ und „Abenteuer“ in eins fallen. Die „Stille des Buches“ verspricht Zugang zu einer Welt des ‚Treibens’ und ‚Wirbelns’, von der das Kind „unsäglich betroffen“ ist, in die es sich aber doch „mit grenzenlosem Vertrauen“ begibt. Im kindlichen Lesen realisiert sich das Glücksversprechen abenteuerlicher Fremde, indem es sich vom Schatten der Bestrafung, die in normierter Trivialliteratur dem Genuss stets auf dem Fuße folgt, emanzipiert. Die Lust der Lektüre wird nicht, wie Goerth es sich wünscht, mit Angst vergolten, sondern verwandelt noch die Erfahrung der Angst in ungekannte Lust. Zugleich ist solche Lektüre das Gegenteil identifikatorischen Konsums. Sie eignet sich ihren Gegenstand nicht an, sondern respektiert das Geschriebene als „Gestalt“ und „Figur“ in seiner Autonomie. Die „Geschichten“, die das Kind liest, und jene, die es sich „im Bett“ ausdenkt, sind unterschiedliche Formen derselben Phantasieproduktion, die keinen starren Gegensatz von Leser und Werk, Rezeption und autonomer Schöpfung kennt. In dieser finden ‚Abenteuer’ und ‚Stille’, Selbstentäußerung und Kontemplation zusammen. Von der empirischen Realität isoliert, bleibt sie doch Teil der Wirklichkeit: Das Kind tritt aus dem Buch verändert hervor wie der Wanderer aus einem Schneesturm.

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Dieser Diskurs von ‚Krankheit’ und ‚Befleckung’ knüpft an Elemente der Lesekritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert an, in der einsame kindliche Lektüre regelmäßig mit den angeblichen Gefahren der Masturbation verknüpft wurde. Vgl. R. STEINLEIN, Die domestizierte Phantasie, S. 62 ff.

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Im Abschnitt „Schmöker“ in der Berliner Kindheit beschreibt Benjamin seine eigenen kindlichen Leseerfahrungen mit ähnlicher Bildlichkeit und gibt ihnen eine Wendung, die direkt in die Ikonographie von Lasker-Schülers poetographischen Schreibszenen hineinführt: Der Klassenlehrer sagte meinen Namen, und dann machte das Buch über die Bänke seinen Weg […]. An seinen Blättern haftete die Spur von Fingern, die sie umgeschlagen hatten. […] Vor allem aber hatte sich der Rücken viel bieten lassen müssen; daher kam es, dass beide Deckelhälften sich von selbst verschoben und der Schnitt des Bandes Treppchen und Terrassen bildete. An seinen Blättern aber hingen, wie Altweibersommer am Geäst der Bäume, bisweilen schwache Fäden eines Netzes, in das ich einst beim Lesenlernen mich verstrickt hatte. Das Buch lag auf dem viel zu hohen Tisch. Beim Lesen hielt ich mir die Ohren zu. So lautlos hatte ich doch schon einmal erzählen hören. Den Vater freilich nicht. Manchmal jedoch, im Winter, wenn ich in der warmen Stube am Fenster stand, erzählte das Schneegestöber draußen mir so lautlos. Was es erzählte, hatte ich zwar nie genau erfassen können, denn zu dicht und unablässig drängte zwischen dem Altbekannten Neues sich heran. […] Nun aber war der Augenblick gekommen, im Gestöber der Lettern den Geschichten nachzugehen, die sich am Fenster mir entzogen hatten. Die fernen Länder, welche mir in ihnen begegneten, spielten vertraulich wie die Flocken umeinander. Und weil die Ferne, wenn es schneit, nicht mehr ins Weite, sondern ins Innere führt, so lagen Babylon und Bagdad, Akko und Alaska, Tromsö und Transvaal in meinem Innern.11

Weder der Klassiker noch das Kinderbuch, sondern der namenlose „Schmöker“, der schon durch zahllose fremde „Finger“ gegangen ist, wird zum Kristallisationspunkt einer Leseerfahrung, die nicht unter dem Gesetz des ‚Vaters’ steht. Sein lautloses Erzählen, worin sich „Altbekannte[s]“ und „Neues“ „dicht und unablässig“ mischen, wird mit unpädagogischer Emphase als Erfahrung des ‚Zuviel’ gepriesen: Wie das „Schneegestöber“ zu dicht ist, um sich „genau erfassen“ zu lassen, so formt das „Gestöber der Lettern“ sich weder zu einem Diskurs noch zu einem distinkten Bild, sondern lockt das Kind in ‚ferne Länder’, die „vertraulich“ sind und sich dennoch ‚entziehen’.12 Diese 11 12

W. BENJAMIN, GS IV.1, S. 274 f. Steinlein deutet die Passage aus seiner psychoanalytischen Perspektive als Evokation der „Mutter-Kind-Dyade des Säuglings- und frühen Kleinkindalters“ (R. STEINLEIN, Die domestizierte Phantasie, S. 26), womit der autonome, eben nicht einfach ‚regressive’ Impuls solcher Lektüre wohl eher zurückgenommen wird. Siehe dagegen die stärker auf Benjamins Mimesisbegriff abhebende Deutung von H. BRÜGGEMANN, Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg 2007, S. 285 ff. – Zu Benjamins Lektüreerinnerungen vgl. K. STIERLE, Walter Benjamin und die Erfahrung des

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paradoxe Bewegung annähernden Sich-Entziehens, die Benjamin als konstitutiv für kindliche Lektüre beschreibt, widerlegt das Ressentiment gegen die ‚Lesewut’ als Modus identifikatorischen Konsums. Das vermischende Lesen, das sich dem „Gestöber der Lettern“ aussetzt, wird gerade durch das ‚Zuviel’ angestachelt, das jeder konsumgerechten Aufbereitung widersteht. Im Bild vom „viel zu hohen Tisch“, das in beiden Szenen wiederkehrt und den im besten Sinne ungelenken, unsouveränen und daher erfahrungsoffenen Modus kindlichen Lesens beschreibt, bringt Benjamin diesen Aspekt auf den Punkt. Wie der Tisch muss auch die Lektüre, an der kindliches Lesen sich entzünden kann, ‚zu hoch’ sein, das Kind in „die Ferne“ führen und in die „Fäden“ ihres „Netzes“ verstricken. Gegenüber dieser Erfahrung erweist sich jene pädagogische Kinderliteratur, für die der „Vater“ und der buchstäblich an den Rand des Textes gedrängte „Klassenlehrer“ stehen, als der eigentliche Konsum, weil sie ihr Material ‚kindgerecht’ aufbereitet und ‚die Ferne’ auf die Dimension des bürgerlichen Kinderzimmers herunterbringt.13 In Benjamins Szenario dagegen ist das Buch weder kultureller Fetisch noch Erziehungsinstrument, sondern Landschaft und Subjekt: Sein „Rücken“, sein „Geäst“, seine „Blätter“, seine „Treppchen“ und „Terrassen“ weisen es als Gegenstand aus, der an jeder Stelle über sich selbst hinausweist. Bürge dieser Subjekthaftigkeit sind gerade die Spuren des Gebrauchs – Fingerspuren, Brüche und Risse, die ihm eine Geschichte verleihen, welche seinen Objektstatus überschreitet. In den Spuren kollektiven Gebrauchs sedimentiert sich das Fremde im Vertrauten; an sie kann sich die Phantasie des Kindes heften, die ‚die Ferne’ nicht einebnet, sondern als Teil des „Innern“ respektiert. „Babylon und Bagdad“ artikulieren in ihrer klanglichen Valenz das Glücksversprechen einer utopischen Fremde, die sich weder geographisch noch historisch einhegen lässt und die der kindlichen Lebenswelt nicht als Anderes gegenübersteht, sondern aus deren ‚Heimlichkeit’ selbst erwächst. Nicht nur weil sie sich an Ortsnamen wie Babylon und Bagdad heftet, hat die von Benjamin beschriebene Erfahrung kindlichen Lesens Ähnlichkeiten mit Lasker-Schülers poetischen Schreibszenen, die ebenfalls als Erinnerungen an die Kindheit ausgegeben werden. Nur scheinbar indessen geht es bei Benjamin um rezeptions-, bei Lasker-Schüler um produktionsästhetische Reflexionen. Vielmehr beschreiben beide eine ganz ähnliche Erfahrung, in der die kindliche Phantasie sich selbst als produktive Kraft wahrzunehmen beginnt

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Lesens. In: Poetica 12 (1980), S. 227-248, sowie A. HONOLD, Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin 2000. Die Transformation der „Kinderstube“ vom zumindest teilweise individualisierten „Spielparadies“ zum Privatgefängnis mit Laufstall und Gitterbett und die allmähliche Pädagogisierung von Spielzeug, Kinderbüchern usw. während des 19. Jahrhunderts ist materialreich dargestellt bei I. WEBER-KELLERMANN, Die Kindheit. Eine Kulturgeschichte. Frankfurt/M. 1979, S. 138 ff., hier S. 138.

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und die noch keine starre Grenze zwischen Rezeption und Produktion, Lesen und Schreiben kennt. Kristallisationspunkt dieser Erfahrung ist bei LaskerSchüler die Handschrift, in der das gestische Element gegenüber der Diskursivität und Linearität der Schrift hervortritt. Benjamin wie Lasker-Schüler entrücken ihre Lese- und Schreibszenen der pädagogischen Topographie, welcher sie entspringen, und deuten sie als Orte autonomer Phantasieproduktion. Die Erfahrung des Lesens als Hineintreten in das ‚Gestöber der Lettern’ korrespondiert mit der Erfahrung des Schreibens als Aufblühen der Schrift. Im Text „Wie ich zum Zeichnen kam“, der 1927 als Beitrag zur im Berliner Tageblatt erschienen Artikelserie „Maler, die keine Maler sind“ erschien und 1932 in Konzert übernommen wurde, beantwortet Lasker-Schüler die titelgebende Frage mit den Worten: Wahrscheinlich so: meinen Buchstaben ging die Blüte auf – über Nacht; oder besser gesagt: über die Nacht der Hand. Man weiß eben nicht – in der Dunkelheit des Wunders. Blicke ich über einen Grasplatz wie über einen runden Bogen voll grüner Buchstaben oder über einen herbstlichen Garten, rauschendem Schreiben der Erdhand, der Urkunde Gottes, so löst sich das Rätsel. – Wie ich zum Zeichnen kam? Ganz genau wie das Laub sich nach der Blume sehnt, so zaubert die Sehnsucht meiner lebendigen Buchstaben das Bild in allen Farben hervor. Nicht zu erzwingen ... Manch einer aber warte nur vertrauend auf den Mai seiner Schrift. (4.1, 137)

Die Metapher vom Aufblühen der Schrift, die zentral für Lasker-Schülers Poetologie ist und in ihren Texten vielfach variiert wird, lässt sich nicht auf eine ‚emblematische’ Poetik reduzieren, die das bildhafte Moment der Schrift einseitig hervorzukehren sucht.14 Vielmehr enthält sie eine Produktions- und Wirkungsästhetik, die mit der skizzierten Verschränkung von ‚Lesen’ und ‚Schreiben’ korrespondiert. Trotz des Vergleichs mit dem „Schreiben der Erdhand“ auf der „Urkunde Gottes“ geht es nicht um das inspirationsästhetische Phantasma einer sich selbst schreibenden Schrift als Korrelat zur göttlichen Schöpfung,15 sondern um ein Verständnis von ästhetischer Autonomie,

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Im Sinne einer emblematischen Poetik wird das Handschriftmotiv gedeutet bei M. SCHULLER, Literatur im Übergang, S. 238 f. – Die Affinität dieses Motivs zu Benjamins Reflexionen zum Kinderbuch ist zuerst erkannt worden von S. BAUSCHINGER, Else Lasker-Schüler. Ihr Werk und ihre Zeit, S. 305 ff. Zu den kabbalistischen Ursprüngen dieses Motivs siehe G. SCHOLEM, Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt/M. 1973, S. 49 ff. – Wollte man Lasker-Schülers Schriftmotivik in den Kontext jüdisch-kabbalistischer Traditionen stellen, wäre die metaphorische Brechung und Trivialisierung der kabbalistischen Elemente zum Ausgangspunkt zu machen. Ob Lasker-Schüler, die erst im Exil eher schlecht als recht

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in dem konstruktive Arbeit und ‚Aufblühen’ konvergieren: Erst die „Nacht der Hand“, in welcher der Akt poetischer Produktion gleichsam sich selbst vergisst und dadurch autonom wird, treibt den „Mai“ der Schrift hervor. Die mystische Rede von der „Dunkelheit des Wunders“, durch die diese Erfahrung möglich werde, zielt nicht auf einen genieästhetischen Irrationalismus, sondern auf eine spezifisch poetische Erkenntnisweise, die alles diskursive ‚Wissen’ überschreitet. Dem ‚Wissen’ wird mit der Formulierung von den „Buchstaben“, denen „die Blüte auf[geht]“, eine Erkenntnis gegenübergestellt, die sich nicht „erzwingen“, sondern nur „vertrauend“ erwarten lässt und in der Begreifen und Ergriffenwerden in eins fallen: Was einem ‚aufgeht’, hat unabweisbare Evidenz und ist doch kein Ergebnis von Inspiration, sondern aktiv gewonnene Erkenntnis. Die ‚blühenden Buchstaben’ werden dem „Laub“ als Korrelat zur ‚abgestorbenen’ diskursiven Sprache denn auch nicht einfach kontrastiert, sondern entwickeln sich aus ihm, werden selber „grün“. Der „Sehnsucht“ des Laubs nach der „Blume“ entspricht die „Sehnsucht“ der „lebendigen Buchstaben“ nach ihrem „Mai“. Der romantische Topos der Naturschrift wird gleichsam invertiert: Nicht die Natur wird als Schrift begriffen, die zu lesen der Künstler oder auch das Kind begabt sei,16 sondern die Schrift selbst wird, befreit von den Restriktionen der Diskursivität, Natur. Im Warten auf den ‚Mai der Schrift’ artikuliert sich der Wunsch, das isolierte Für-SichSein der Buchstaben im Modus des Schreibens selbst aufzuheben, ihre Bezeichnungsfunktion zu sprengen und sie dadurch wahrhaft zum Sprechen zu bringen. Das Lesen, an das dieses emphatische Konzept poetischer Kommunikation appelliert, entspricht jener Selbstpreisgabe ans ‚Gestöber der Lettern’, die Benjamin nicht mit frühlingshafter, sondern mit winterlicher Metaphorik umkreist. Es ist kein nur rezeptiver Akt, sondern immer auch Lesen im ganz anderen Sinn – als Sammeln der ‚Blüten’, welche die Schrift an den Leser verschenkt. In ihrem 1910 im „Sturm“ publizierten Essay „Handschrift“, einer Phänomenologie der Schriftgesten, präzisiert Lasker-Schüler diesen kommunikativen Anspruch: Ich habe ein kleines Laboratorium von Schreibkaninchen, die ich anrege, mir Briefe zu schreiben. Sie können sich also schon auf meine Erfahrung verlassen, lieber Sturmleser; es tut mir unendlich leid, dass mein Manuskript dieses Aufsatzes nicht in Ihre Hände gelangt. Trotzdem es mit schwarzer Tinte geschrieben ist, wirkt es blau, tiefblau, liebesblau. Den wissenschaftlichen, langweili-

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Hebräisch gelernt hat, ihr eigenes Werk ernsthaft im Zusammenhang der kabbalistischen Schrifttradition gesehen hat, scheint mir zweifelhaft. Zur Genese dieses romantischen Topos ‚kindlicher’ Einbildungskraft siehe H.-H. EWERS, Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. München 1989.

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gen Inhalt müssen Sie schon in Kauf nehmen – seine Handschrift ist ein Liebesbildnis. [...] Das Manuskript liegt dem interessierten Leser zur Verfügung in der Direktion. (3.1, 161)

Hier, bezeichnenderweise im Vorfeld der Entstehung des Briefromans Mein Herz, ist bereits der emphatische Anspruch auf Kommunikativität formuliert, der für Lasker-Schülers weiteres Schaffen konstitutiv wird. Poetische Kommunikation in diesem Sinne verweigert sich der Vermittlung von „langweiligen Inhalt[en]“ und realisiert sich erst in der Autonomie der Worte, wie sie mit der Transfusion vom Schwarz der Tinte ins ‚Liebesblau’ der Poesie illustriert wird.17 In dem Hinweis, das „Manuskript dieses Aufsatzes“ gelange zwar leider nicht in die „Hände“ des Lesers, liege jedoch zu dessen „Verfügung in der Direktion“, ist die Adresse dieses Autonomiekonzepts benannt: Der bürgerliche Literaturbetrieb vermag poetische Kommunikation nicht als Gaben-, sondern nur als Warentausch zu denken, dessen Produkte „dem interessierten Leser“ zur „Verfügung“ stehen wie Gebrauchsgegenstände. Erst wenn Poesie nicht länger ‚Vermittlung’, sondern Austausch wäre, wären denn auch die Briefschreiber keine „Schreibkaninchen“ – keine Objekte eines poetischen Experiments –, sondern wirkliche Spielgefährten. Das Motiv der aufblühenden Schrift als Bild einer kommunikativen poetischen Sprache gehört in eine Reihe poetischer Urszenen von Lasker-Schülers Werk, die sich – ohne dass sich eine wechselseitige Rezeption nachweisen ließe18 – wie eine Antwort auf Benjamins Phänomenologie kindlicher Lektüre lesen. Die prägnanteste dieser Szenen begegnet in Ich räume auf!: 17

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Die Farbe Blau, die bei Lasker-Schüler geradezu als Sinnbild der Dichtung fungiert, bezieht sich auf Franz Marc und den ‚Blauen Reiter’, verdankt sich also selbst einer fremden Bezugsquelle. Insofern hat Lasker-Schüler ihre Dichtung nicht nur als poetischen Tausch postuliert, sondern auch praktiziert. Siehe hierzu die Beobachtungen zum Konnex von Farbe und Phantasiebildung bei H. BRÜGGEMANN, Walter Benjamin, S. 127 ff. Ferner E. K. PAEFGEN, „Grüngelbblaulilarot“ – farbige Dichtung. Über Funktion und Wirkung von Farben in der Dichtung Else Lasker-Schülers. In: ELSJB 1 (2000), S. 9-35. Obwohl sich Benjamin und Lasker-Schüler mehrfach begegnet sind, scheint keiner von beiden die Gemeinsamkeit ihrer ästhetischen Interessen etwa für Kinderreime, Spielzeug oder Dialektformen wahrgenommen zu haben. Benjamin erwähnt 1914 in einem Brief an Herbert Belmore, er sei im Café des Westens an Lasker-Schülers Tisch gebeten worden, wo „irrsinnige Späße“ getrieben worden seien, und kommentiert: „Sie ist im Umgang leer und krank – hysterisch“, bekennt aber einige Jahre später, ihr Gedicht „David und Jonathan“ sehr zu lieben. 1936 schreibt er an Werner Kraft, der ihm seinen Essay über Lasker-Schüler geschickt hatte, durchaus zweideutig: „Unter Ihrer Lektüre gewann ich mehr und mehr das Gefühl, dass von dieser Dichterin nie vorher mit soviel Liebe und Einsicht gesprochen worden ist. Sie haben gleich zu Beginn den glücklichen (dialektischen) Griff ins Unzulängliche dieser Erscheinung hinein: das will aber hier

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Lang ist es her, als ich auf dem Schoß meiner teuren Mutter saß, sie mit mir spielte. „Einwortsagen!“ Einwortsagen, nannten wir geheimnisvoll ein Spiel, das meine Mutter, eine Weile wenigstens, von meinen Quälereien befreite. Ich langweilte mich nämlich immer so ....... Meine Mutter rief wichtig „Schokolade“ und ich erwiderte ein sich darauf reimendes Wort. Meine Mutter: Tinte „Finte“ (Flinte), „Paul“, „faul“! bis mein viel älterer Bruder, der mir seiner Herbheit wegen imponierte und ich ihn darum wohl auch „Mann“ nannte, sich einmischte, auf das Wort „hoch“, das ungeschickt reimende Wort „Koch“ wählte und ich zu ersticken drohte vom dumpfen Schall der Paarung [...]. Ich zählte zwei Jahre. Im vierten lernte ich zum Zeitvertreib der Gouvernante schreiben. Jedem Buchstaben malte ich ein Tuch um den Hals, da er fror, es war im Winter. Fünfjährig dichtete ich meine besten Gedichte; meine Mutter fand immer die bekritzelten Papierflocken, die mir aus meinem Kleidertäschchen beim Herausholen von Lieblingsknöpfen meiner Knopfsammlung entkamen. Die retteten mich vor meinem kleinen Selbstmord. Ich hatte mich bis dahin so gelangweilt [...] und erst als die vielen vielerlei großen und kleinen [...] Knöpfe ankamen aus den Knopffabriken meiner Heimat, [...] die meine teure Mutter für mich zum Spielen bestellt hatte, milderte sich beträchtlich mein Übel. Ich legte Knopf an Knopf, [...] ebenmäßige Reihen in Zwischenräumen auf dem großen Tisch und führte dann meine kleinen Fingerchen über die Knopfreihen [...]. Wenn ich dann durch die Unregelmäßigkeit der Knopfgrößen mit der Fingerspitze stolperte [...], schrie ich laut auf, genau wie ich mich heute körperlich verletzt fühle, durch einen Vokal oder Konsonanten [...]. Aber einer der herrlichsten Knöpfe durfte überall liegen, wo er wollte; er war aus Jett, besäet mit goldenen Sternlein und ich schaute ihn an. Er war das Himmelreich meiner Knöpfe und hieß: Josef von Ägypten. So oft neckt man mich mit einem Ausdruck, der sich immer wiederhole in meinen Gedichten. Es ist wahrscheinlich der sternbesäete Knopf. (4.1, 57 f.)

Die Affinität dieser Schreib- und Spielszene zu Benjamins Lektüreszenen ist evident: Wie bei Benjamin die ‚Lettern’ des gelesenen Textes Autonomie gewinnen, aus der Logik der Diskursivität heraustreten und zu ‚Flocken’ werden, in denen das Kind sich tummeln kann, werden bei Lasker-Schüler die Buchstaben, mit einem wärmenden „Tuch um den Hals“, als autonome Figuren respektiert. Das beschriebene Papier wird zu „bekritzelten Papierflocken“, die aus dem „Kleidertäschchen“, in dem sie versteckt sind, eigenmächtig „entsagen in ihr Tiefstes und Lebendigstes. [...] Bei Gelegenheit will ich mir das ‚Konzert’ verschaffen, indessen glauben, dass Weniges sich darin schöner darstellt denn die Zitate im Zusammenhang Ihres Textes.“ (W. BENJAMIN, Briefe, hg. von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Bd. 1 / 2, Frankfurt/M. 1966, S. 114 f., 169 und 706 f.) – Dass Lasker-Schüler sich je intensiv mit Benjamin beschäftigt hätte, ist nicht nachzuweisen.

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kommen“. Wie bei Benjamin die Worte Babylon und Bagdad nicht aufgrund eines sie verbindenden Sinns, sondern wegen ihres alliterativen Zusammenklangs zum Kristallisationspunkt kindlicher Sehnsucht nach der Fremde werden, so stiftet beim „Einwortsagen“ der Reim ein affektives Band zwischen den Worten. Wird bei Lasker-Schüler einer der Knöpfe, die in ihren „ebenmäßige[n] Reihen“ den im Reimspiel zusammenklingenden Worten ähneln, zu „Josef von Ägypten“ ernannt, weil er „besäet mit goldenen Sternlein“ ist, umreißt Benjamin eine ähnliche Belebung des Ephemeren durch kindlichen Gebrauch, wenn er schreibt: In solch farbenbehängte, undichte Welt, wo bei jedem Schritt sich alles verschiebt, wird das Kind als Mitspieler aufgenommen. Drapiert mit allen Farben, welche es beim Lesen und Betrachten aufgreift, steht es in einer Maskerade mitten inne und tut mit. Beim Lesen – denn es haben auch die Worte zu diesem Maskenball sich eingefunden, sind mit von der Partie und wirbeln, tönende Schneeflocken, durcheinander. ‚Prinz ist ein Wort mit einem umgebundenen Stern’, sagt ein Junge von sieben Jahren. Kinder, wenn sie sich Geschichten ausdenken, sind Regisseure, die sich vom ‚Sinn’ nicht zensieren lassen.19

Gleich der ‚undichten’ Welt des Kinderbuchs, in der sich immer wieder „alles verschiebt“, repräsentieren Lasker-Schülers poetische Kinderszenen eine formbare Wirklichkeit, die bearbeitet und spielerisch verändert werden kann und es dem Kind ermöglicht, sich als „Mitspieler“ zwischen die Bilder und Worte zu mischen, die ihm als gleichberechtigte Akteure gelten. Wie die „Worte“ sich im Kinderbuch „ins Kostüm“ werfen,20 bekommen LaskerSchülers „Buchstaben“ ein „Tuch um den Hals“; Worte, Figuren und Objekte verwandeln sich ständig ineinander, „Mitspieler“ sind immer auch „Regisseure“. Gleichzeitig jedoch ist die Sphäre des Spiels, in der diese Metamorphosen sich vollziehen, gänzlich real: Eben weil es wirklich Winter ist, sollen die Buchstaben nicht frieren. Gerade wegen ihrer Abenteuerlichkeit ist diese Spielwelt ‚Rettung’ vor dem „kleinen Selbstmord“, der Bedrohung des Kindes durch die Langeweile des prosaischen Alltags, dessen geheimnislose Vertrautheit im Vergleich zur „Heimat“ des kindlichen Spiels als entfremdete Fassade offenbar wird. Indem die Spielwelt mit dem „Schoß“ der Mutter und mit Gesten des Wärmens und Behütens konnotiert ist, erscheint sie dagegen als Ort von Fremde und Geborgenheit zugleich. Diese abenteuerliche Geborgenheit, die der privativen Geborgenheit des bürgerlichen Kinderdaseins entgegengesetzt wird, ermöglicht erst die nicht solipsistische, sondern kommunikative Tätigkeit des Spiels, das nur dann gestört wird, wenn andere sich – wie hier der Bruder – in dessen Autonomie ‚einmischen’, statt sie zu achten. Die 19 20

W. BENJAMIN, Aussicht ins Kinderbuch. In: ders., GS IV.2, S. 609-615, hier S. 609. Ebd.

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Ikonographie des bürgerlichen Kinderzimmers und Kinderspiels – um 1900 war der pädagogische Nutzen von Kinderreimen, Lautspielen usw. gerade neu entdeckt worden21 – wird nicht durch eine fiktive Welt ersetzt, sondern durch die Handlungen des Kindes verwandelt. Für diese Verwandlung und Bearbeitung von Wirklichkeit durch das kindliche Spiel hat der Melanie KleinSchüler D. W. Winnicott den Begriff des ‚Übergangsraums’ bzw. ‚Übergangsobjekts’ geprägt, mit dem sich die Phänomene des Einwortsagens, der Buchstabenzeichnung und des Knopfspiels bei Lasker-Schüler erstaunlich präzise analysieren lassen. ‚Übergangsobjekte’ nennt Winnicott Gegenstände wie Puppen, Tücher oder Stoff-Fetzen, von denen sich das Kind nicht trennen möchte und die doch nicht im üblichen Sinne ‚benutzt’ werden dürfen. Das Übergangsobjekt fungiert als Brücke zwischen subjektiver Phantasie und realer Lebenswirklichkeit des Kindes; es ermöglicht die Loslösung von der Mutter-Kind-Dyade und die Ausbildung freier Objektbeziehungen: „Zur Beschreibung dieses kostbaren Gegenstandes würde ich sagen, es bestehe eine stillschweigende Übereinkunft, niemand werde behaupten, dieses reale Ding sei ein Teil der Welt oder es werde von dem Kind geschaffen. Man weiß, das beides zutrifft: das Kind hat es geschaffen, und die Welt hat es bereitgestellt.“22 In seinem Essay „Übergangsobjekte und Übergangsphänomene“ bestimmt Winnicott diesen Doppelstatus des Übergangsobjekts als realem und imaginärem Gegenstand dahingehend, dass „die Fähigkeit des Kindes, das Objekt als ‚Nicht-Ich’ […] zu erkennen“, dabei ebenso vorausgesetzt werde wie die Fähigkeit, „ein Objekt zu erschaffen: es sich vorzustellen, zu erdenken, zu erfinden“.23 Exakt diesen Doppelstatus als ‚Nicht-Ich’ und ‚Erfindung’ haben die Worte, Buchstaben und Knöpfe bei Lasker-Schüler, die einerseits als reale Objekte von der Außenwelt ‚bereitgestellt’, andererseits im Modus des Klangspiels, der figurativen Zeichnung und Namengebung verändert und der subjektiven Phantasie des Kindes zugänglich gemacht werden. Während Winnicott die ästhetischen Implikationen seiner Begriffe jedoch vor allem mit Blick auf deren Relevanz für eine ‚gelingende’ Sozialisation des Kindes zum mündigen Individuum entwickelt, werden die ‚Übergangsobjekte’ in Lasker-Schülers Szenario zu Konstituenten einer Realität des Spiels, die der Realität des bürgerlichen Alltags, dessen Bestandteile sie verwandelt, gegen21

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Das Interesse an Kindersprache und –reimen wurde befördert durch den frühexpressionistischen Charon-Kreis um Verena und Otto zur Linde sowie die pädagogischen Schriften Berthold Ottos. Siehe G. WILKENDING, Reformpädagogik, ‚Altersmundart’ und Dichtung ‚vom Kinde aus’. In: B. DOLLE-WEINKAUFF / H.-H. EWERS (Hgg.), Theorien der Jugendlektüre. Beiträge zur Kinder- und Jugendliteraturkritik seit Heinrich Wolgast. Weinheim, München 1996, S. 27-49. D. W. WINNICOTT, Familie und individuelle Entwicklung. Frankfurt/M. 1984, S. 206. D. W. WINNICOTT, Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1974, S. 10 ff., hier S. 10 f.

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übergestellt wird: Das Reimspiel nützt nicht primär dem Spracherwerb, sondern genügt sich selbst; das Schreibenlernen dient nicht der Bildung des Zöglings, sondern dem „Zeitvertreib der Gouvernante“. Die Elemente kindlicher Lebenswelt liefern selbst das Material, an dem das Kind jene mimetischen Fähigkeiten erproben kann, die von pädagogischer Zurichtung geknebelt werden. Im 1927 publizierten Text „Nur für Kinder über fünf Jahre“ findet ein vergleichbarer ‚Umbau’ pädagogischer Phraseologie statt: Schule muss sein, in die Schule muss man gehen, wie sollte man sonst fürs Leben die nützlichen Dinge lernen, die man zur Verständigung nötig hat; bitte, wie? Zum Beispiel, man verreist einmal zur Tante oder zum Onkel – und möchte nach Hause schreiben. Schreiben m u ß man eben lernen! Oder, du siehst im Kiosk die kleinen Indianerheftchen. Mit dem Bild auf dem Umschlag ist’s doch nicht allein getan. Lesen m u ß man eben lernen! Hätte ich nur besser im Rechnen aufgepasst; jeder Kaufmann, der meine Bilderbücher verlegt, versteht sich die Wurzel herauszuziehen – rücksichtslos, j a, a u s j e d e r S e i t e ! Mit sechs Jahren ist das Gehirn noch weich (von Mörtel keine Spur), Buchstaben und Ziffern prägen sich leicht und tief in die nachgiebige Gehirnmasse, wie in den warmen Mondamin-Puddingteich die übliche Fischform. (4.1, 143)

Die kalauernde Rede vom ‚weichen Gehirn’ ist ambivalent. Einerseits verspottet sie die widerstandslose Formbarkeit des kindlich-naiven Geistes, in dessen „nachgiebige Gehirnmasse“ sich „Buchstaben und Ziffern“ prägen lassen wie eine vorgestanzte Form in wabbeligen „Puddingteich“; andererseits gewinnt sie durch die Parenthese „von Mörtel keine Spur“ eine durchaus ernsthafte Dimension: Das ‚weiche Gehirn’ mag zur Nachgiebigkeit neigen, ist aber eben deshalb nicht zu „Mörtel“ verhärtet. Welcher Unsinn sich ihm auch einprägt, er erstarrt doch nicht zur Weltanschauung. Die Metapher vom weichen Gehirn, die sich als parodistische Adaption pseudonaturwissenschaftlicher Diskurse à la Weininger liest, veranschaulicht insofern das mimetische Vermögen des Kindes in seiner Stärke und Schwäche. Nachgiebig und ‚weich’, nimmt es sinnliche und geistige Erfahrungen noch als Eindrücke wahr, die eine materielle Erinnerungsspur hinterlassen. Die sinnliche Dimension geistiger Erkenntnis, die stets ein Moment von Rezeptivität und ‚Weiche’ impliziert, das vom instrumentellen Erkenntnisbegriff verdrängt wird und das Adorno und Horkheimer in Anlehnung an einen FaustVers mit dem schönen Bild vom „tastenden Gesicht“ als „Wahrzeichen der Intelligenz“ zu fassen suchen,24 bleibt im mimetischen Vermögen gleichbe24

„Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke ‚mit dem tastenden Gesicht’, mit dem sie, wenn man Mephistopheles glauben darf, auch riecht. Das Fühl-

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rechtigt erhalten. Seine Anschmiegsamkeit kann im Vergleich mit dem ‚rücksichtslosen’ Geist, der aus allen „Bilderbücher[n]“ die „Wurzel“, die Substanz kindlicher Erfahrung, ‚herauszieht’ und sie erziehungskompatibel macht, Schwäche und Manipulierbarkeit bedeuten. Sie kann aber auch einen Lernprozess initiieren, der sich nicht an verordneten Maximen, sondern an wahrhaft „nützlichen Dinge[n]“ wie bunten „Indianerheftchen“ orientiert, die vom Kind in seine subjektive Phantasiewelt integriert und ‚bearbeitet’ werden können, statt ihm heteronome ‚Lernziele’ welcher Art auch immer anzudressieren. Indem sie pädagogische Spruchweisheiten („Schule muss sein“, ‚Für das Leben lernen’) auf die Sphäre des Banal-Familiären („nach Hause schreiben“) und auf die Lektüre von ‚Schundliteratur’ bezieht, fasst Lasker-Schüler den Begriff des Lernens eben nicht als ‚Aufdrücken’ vorgestanzter Formen, sondern als Auseinandersetzung mit dem Abhub der kulturellen Erscheinungswelt, an den der unreglementierte Affekt kindlicher Phantasie sich heften kann. In der Lektüre von Indianerheftchen vermag diese Phantasie sich in einer Weise zu realisieren, die der pädagogischen Praxis widerspricht und doch von ihr ermöglicht wurde. Der Unterschied zwischen diesem ‚begeisterten’ Lesen, dessen anarchischer Impuls sich in der affektiven Anteilnahme am Gelesenen verwirklicht, und jener passiven, identifikatorischen Lektüre, mit der es von den Kritikern der ‚Lesewut’ gleichgesetzt wird, lässt sich in Rekurs auf Ernst Blochs Unterscheidung zwischen Kolportage und Magazingeschichte präzisieren, die den Kern von Lasker-Schüler Lob der Kolportage trifft. Die Magazingeschichte repräsentiert für Bloch die heteronome Massenkultur, die den Unterdrückten das Prinzip ihrer eigenen Unterdrückung als Glücksphantasie zurückspiegelt und sie in ihrer Unfreiheit bestätigt. Authentische Kolportage dagegen schlägt sich auf die Seite der Marginalisierten und befreit deren Fluchtträume vom Gängelband der Kompensation. Ihr Held, schreibt Bloch in einer Metaphorik, die der Bildlichkeit von Lasker-Schülers Werk überraschend nahe ist,

horn wird vor dem Hindernis sogleich in die schützende Haut des Körpers zurückgezogen, es wird mit dem Ganzen wieder eins und wagt als Selbständiges erst zaghaft wieder sich hervor. Wenn die Gefahr noch da ist, verschwindet es aufs Neue, und der Abstand bis zur Wiederholung des Versuchs vergrößert sich. Das geistige Leben ist in den Anfängen unendlich zart. Der Sinn der Schnecke ist auf den Muskel angewiesen, und Muskeln werden schlaff mit der Beeinträchtigung ihres Spiels. Den Körper lähmt die physische Verletzung, den Geist der Schrecken. Beides ist im Ursprung gar nicht zu trennen.“ (T. W. ADORNO, GS 3: Dialektik der Aufklärung, S. 295) – Dieser Passus macht übrigens schlagend deutlich, dass der Rekurs auf anthropologische Kategorien, sofern der Begriff der Naturgeschichte ernstgenommen wird, nicht in Ideologie münden muss, sondern zur Verteidigung eines substantiellen Begriffs menschlicher Freiheit wahrscheinlich sogar notwendig ist.

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wartet nicht ab, wie in der Magazingeschichte, bis ihm das Glück in den Schoß fällt [...]. Am Helden der Kolportage ist ein Mut, der, meist wie sein Leser, nichts zu verlieren hat. Und ein bejahtes Stück vom bürgerlichen Tunichtgut dringt an, vom durchgebrannten [...]; er hat, wenn er zurückkommt, Palmen, Messer, die wimmelnden Städte Asiens um sich her.25

Während die Magazingeschichte Glück nur als gesellschaftlich sanktioniertes kennt, verwirklicht es sich in der Kolportage als das Fremde, das alle präfabrizierten Wunschphantasien zerschlägt: „Der Glanz, auf den die Abenteuergeschichte zugeht, wird nicht [...] durch reiche Heirat und dergleichen gewonnen, sondern durch aktive Ausfahrt in den Orient des Traums.“26 Das bejahende Lesen, auf das sie zielt, dient nicht der Affirmation des Bestehenden, sondern der lebendigen Phantasie, die gegen ein „Leben“ protestiert, „dessen Grabschrift schon mit zwanzig Jahren feststeht“.27 Nicht zu pädagogischen Zwecken, sondern im Namen dieser kritischen Phantasie lohnt es sich, wie Lasker-Schüler in maliziöser Parodie gängiger Oberlehrerdiktion erklärt, Lesen zu lernen. In der Besprechung eines vom Impressionisten Max Slevogt illustrierten Indianerromans aus dem Jahr 1908 rekurriert sie auf die verbreitete Überzeugung von der schädlichen Wirkung der Indianer-Kolportage auf Kinder, um eine Phänomenologie kindlicher Lektüre zu skizzieren, die Blochs Reflexionen zur Kolportage bis in die konkrete Bildlichkeit hinein antizipiert: Mein Junge trägt einen Indianerschmuck in den Haaren, grüne, gelbe, blaue, lila und rote Federn [...]. Aber er weiss nichts von den Menschen in Wild-West. Ich kaufe ihm aus Furcht, er könne eines Tages nach Drüben durchbrennen, keine Indianergeschichten. Der kupferne Gott ist der Fanatismus der Knaben. Seine Legenden sind gefährlich, sie kommen über einen, ihre Bilder machen Mut, stählern; grüngelbblaulilarot! Meine Brüder machten sich in nächtlicher Frühe mit ihren Freunden auf und davon – der Skalpgott rief sie aus dem Elternhaus. [...] Aber die Reise ging nur bis Bremen, die strafenden Väter liessen die Durchbrenner grausam wieder in die Heimat transportieren. Mein Vater jedoch war im Grunde seines Herzens stolz darauf; er liess meinen Brüdern im Garten ein Indianerzelt aufschlagen, kaufte Speere und andere Mordwaffen und Gürtel, deren Skalpflachshaare fast bis zur Erde reichten ... Es ist schon lange, lange her, ich habe seit Indianerjahren kein Indianerbuch mehr aufgeschlagen. Nun liegt ein grosses in der Farbe der Kupferhaut auf meinem Schoss. Slevogt hat gezaubert, als er die Gestalten des Werkes erschuf nächtlich auf weisser Prärie; seine schwarze Feder zeichnete kupferrotes Leben. Ich muss die wilden Wild-Westmenschen festhalten, sie laufen, galoppieren meinen Blick entlang, 25 26 27

E. BLOCH, WA 5: Das Prinzip Hoffnung I, S. 426. Ebd. Ebd., S. 427.

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über meine Hände hinweg in die Freiheit [...]. Mich ergreift die Sehnsucht meiner Brüder. (3.1, 107)

Die Lektüre von Indianergeschichten – dank Karl May, dessen Werke das Paradigma für Blochs Kolportagebegriff abgeben, schon damals das beliebteste Beispiel für volkspädagogisch ‚gefährliche’ Kolportageliteratur28 – erscheint in diesen Zeilen als ganz konkrete Gefahr für die bürgerliche Alltagswelt, die von der anarchischen Phantasie der Indianer-Kolportage zersprengt zu werden droht. Lesen wird dabei zu einer buchstäblich mitreißenden Erfahrung, die den Lesenden „nach Drüben“, zu „den Menschen in Wild-West“ ruft. Während pädagogisch sanktionierte Kinderlektüre in allen ihren phantasievollen Ausschmückungen doch immer das Prinzip bürgerlicher Häuslichkeit reproduziert, reißt die Indianer-Lektüre die Kinder vom „Elternhaus“ fort und verwandelt sie in jene „Durchbrenner“, wie sie für Bloch in der Figur des Tunichtgut repräsentiert sind. Der Terminus ‚evasorisches Lesen’ wird dabei seiner kompensatorischen Bedeutung beraubt und beim Wort genommen:29 Gerade weil ihre „Bilder“ dem Lesenden „Mut“ machen und ihn anstacheln, nicht nur metaphorisch, sondern tatsächlich ‚durchzubrennen’, sind die Indianergeschichten „gefährlich“ – eine Gefahr, der die Erzählerin trotz ihrer bewundernd artikulierten „Furcht“ mit Sympathie begegnet, weil sich in ihr eine unabgegoltene „Sehnsucht“ nach Freiheit ausspricht. Entsprechend wird der Fluchtversuch der „Brüder“ zum „Skalpgott“ nicht vom Vater bestraft, sondern „stolz“ mit dem Bau eines Indianerzelts im Garten und dem Kauf von „Mordwaffen“ und „Skalpflachshaare[n]“ beantwortet. Die Phantasie, die mit dem ‚Drüben’ als dem Anderen der bürgerlichen Realität lockt, soll von der Welt, der sie entstammt, ernstgenommen und eingelöst werden. Die Heimholung der ‚Durchbrenner’ wird denn auch selbst im Modus des Abenteuers, als „grausame[r]“ Transport durch ihre „strafenden Väter“, erzählt; die Welt des 28

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Exemplarisch hierfür ist K. WILKER, Karl May, ein Volkserzieher? Eine dringende Abwehr zum Schutze unserer Jugend gegen die Verherrlichung Mays. Langensalza 1910. Zur Entwicklung des Kolportage-Begriffs vgl. R. SCHENDA, Volk ohne Buch, S. 228 ff.; A. GRAF, Literarisierung und Kolportageroman. Überlegungen zu Publikum und Kommunikationsstrategie eines Massenmediums im 19. Jahrhundert. In: U. BRUNHOLD-DIGLER / H. BAUSINGER (Hgg.), Hören Sagen Lesen. Bausteine einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Festschrift für Rudolf Schenda. Berlin u. a. 1995, S. 277-291. – Bloch hat bekanntlich gern den Satz „Ich kenne nur Karl May und Hegel; alles, was es sonst gibt, ist aus beiden eine unreinliche Mischung“ zum Besten gegeben. Siehe G. UEDING, Bloch liest Karl May. In: Jahrbuch der Karl-MayGesellschaft 1991, S. 124-147. Für den Versuch einer Rehabilitierung von Blochs Kolportage-Begriff vgl. ders., Glanzvolles Elend, S. 68 ff. Ueding entfaltet seinen Begriff von Kolportage allerdings direkt an Mays Romanen und unterstellt Blochs spekulatives Modell als darin unmittelbar realisiert. Zur Kritik dieses Terminus vgl. R. STEINLEIN, Die domestizierte Phantasie, S. 32 f.

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Abenteuers bleibt keine fixe Idee, sondern steckt die Alltagswelt an und macht sie auf Wünsche hin durchlässig, die sie sprengen könnten, aber doch in ihrer Inkommensurabilität festgehalten werden. Eben dies macht für Bloch den Kern der Indianer-Kolportage aus: „Das gleichgültig Nahe verschwindet, Fernes, das besser und näher scheint, rückt heran.“30 Als Ausdruck der Sehnsucht nach Einlösung evasorischer Phantasien taucht das Motiv der nahen Ferne, das schon in Benjamins Lektüreszenen begegnet, bei Lasker-Schüler immer wieder in Verbindung mit Kolportage auf. In „Nur für Kinder über fünf Jahre“ berichtet sie, ihre Mutter habe einen „Fetzen vom Kanapee, darauf Napoleon geboren wurde“, besessen und oft „an irgendeine Frau oder irgendeinen Ritter“ aus einem „Roman“ gedacht: „Ihre Augen waren dann so groß aufgetan und so fern, auf dem anderen Ende der Welt – oder hoch über dem Wasser wie bei mächtigen Vögeln, die weit fortfliegen möchten.“ (4.1, 147) Wie die Worte Babylon und Bagdad laut Benjamin als Ausdruck des Fernsten im Innern des Kindes ruhen, verschränken sich für den „aufgetan[en]“ Blick im „Fetzen vom Kanapee“ Napoleons und in den Ritter- und Indianerfiguren profane Gegenwart und utopische Sehnsucht nach dem „Ende der Welt“. Nicht um autoritätssüchtige Identifikation mit ‚Helden’ geht es, sondern darum, den Abglanz der in ihnen repräsentierten ‚Größe’ gerade im Kleinsten, in „Fetzen“ und im Abhub der Buchläden aufzusuchen. Deshalb gelingt es authentischer Kolportage, das vom bürgerlichen Kulturideal verpönte Versprechen kreatürlichen Glücks in Erinnerung zu rufen: Die „Wild-Westmenschen“ wollen über die „Hände“ des Lesers „in die Freiheit“ galoppieren und treiben dadurch auch den Leser an, die ihm angebotene gesellschaftlich präfabrizierte Identität abzulehnen und sich „auf und davon“ zu machen. Gerade als Kunstfiguren, als kulturell produzierte Clichés, drohen sie das Buch, in das sie gebannt sind, zu überschreiten und das ungebändigte Leben, das sie scheinbar nur bezeichnen, aus eigener Dynamik zu verwirklichen. Die exotistischen Wunschbilder der Kolportage sind, ganz im Sinne Blochs, keine kompensatorischen Gegenentwürfe zur Wirklichkeit, sondern „nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will“.31 Im Bild der galoppierenden Indianer und der „fortfliegen[den]“ Vögel artikuliert sich die Sehnsucht, die Phantasie in Aktion umspringen zu lassen und die Ferne als das Fremde, auf das sie verweist, zu verwirklichen.

30 31

E. BLOCH, WA 5: Das Prinzip Hoffnung I, S. 410. E. BLOCH, Über Märchen, Kolportage und Sage. In: ders., WA 4: Erbschaft dieser Zeit, S. 168-186, hier S. 172.

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b) Enthusiasmus und Lustkritik (Schlaffer, Wolgast) Wenn Lasker-Schüler euphorisch von der ‚Gefährlichkeit’ der Indianerbücher spricht und den „kupferne[n] Gott“ als „Fanatismus der Knaben“ bezeichnet, rückt sie die Indianer-Kolportage in die Nähe zur Magie und verleiht ihrer Rezeption den Ruch der Besessenheit. Ihre Lektüre hat mit genussvoller Kontemplation so wenig zu tun wie mit aneignendem Konsum; vielmehr „kommen“ die Geschichten „über einen“ wie ein Zauberbann. Ausdrücklich heißt es, Slevogt habe „gezaubert, als er die Gestalten des Werkes erschuf“; seine „schwarze Feder“ habe „kupferrotes Leben“ geschaffen, das in der „Kupferhaut“ des Einbandes seine Entsprechung findet. Dem Klischee der kolportagetypischen ‚Lesewut’ wird nicht mit Hinweis auf die Harmlosigkeit von Unterhaltungslektüre, sondern durch Aufwertung des lesewütigen „Fanatismus“ und der mit ihm verbundenen ‚Gefahr’ begegnet. Mit ihren mystischen Konnotationen erinnert diese Beschreibung eines in das Indianerbuch gebannten Zaubers, der durch euphorische Lektüre lebendig wird und die Grenzen des Einbandes sprengt, an die Formulierung von der ‚Dunkelheit des Wunders’, welche das ‚Blühen’ der Schrift ermögliche. Wird mit der Metapher vom ‚Blühen’ eine poetische Erkenntnisweise visiert, in der alles diskursive ‚Wissen’ überschritten wird, so sprengt das ‚kupferrote Leben’ der Indianerbücher die Linearität der Schrift und den Rahmen der Illustration. Ganz ähnlich – und keineswegs kokett-ironisch – beschreibt Lasker-Schüler in der 1932 in Konzert publizierten Skizze „Meine Wupper“ die Entstehung ihres Dramas: Ich brachte wahrscheinlich mein Herz ins Fließen, als ich mein Schauspiel Die Wupper schrieb. Es war in der Nacht, ich schlief, ja ich schlief. Mein Gehirn war also nicht imstande, mich zu dirigieren, den Takt zu meiner kleinen Erdkugel zu schlagen. Ein Theaterstück muss ja immer eine Welt sein, ins Rollen kommen. Nicht um etwa auf die Bühne zu gelangen. Wer daran im Erschaffen auch nur [...] denken kann, der z i m m e r t eine Welt, aber er erschafft sie nicht und – [...] z a u b e r n heißt des Dichters – Handwerk. (4.1, 225)

An Leopold Jeßner schreibt sie in einem wichtigen, 1927 publizierten Brief aus Anlass einer geplanten Neuaufführung der Wupper: Mein Schauspiel „Die Wupper“ ist eine echte Gabe, eine kleine Welt. Ich glaube, wenn Sie von der Tatsache nicht auch überzeugt wären, Herr Intendant, würden Sie sich nicht die Mühe machen, meine „Wupper“ wieder ins Fließen zu bringen. [...] Ich möchte Sie, Herr Intendant, durch die breiten Straßen und engen Gassen meines Schauspiels selbst geleiten, Ihnen die Geheimnisse der Stadt offenbaren, Sie von der schwarzen Wupper kosten lassen, und Sie werden einsehen, dass man meine Wupper nicht kurzweg ein Märchen oder [...]

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ein Drama nennen kann, höchstens eine Stadtballade mit rauchenden Schornsteinen und Signalen. (4.1, 134)

In keiner Interpretation dieser Ausführungen fehlt der Hinweis auf LaskerSchülers notorische Selbststilisierung – unmöglich kann sie das Schauspiel in einer Nacht geschrieben haben!32 –, keine aber auch lässt sich wirklich auf die nur scheinbar naive Bildlichkeit ein, mit der die Entstehung des Stücks als Erschaffung einer „Welt“ beschrieben wird, die durchwandert und von der gekostet werden muss. Eben weil das Stück nicht ‚gezimmert’, sondern ‚gezaubert’ wurde, verlangt es nach einer Lektüre, die es weder bloß genießt noch versucht, seinen ‚Bauplan’ zu rekonstruieren, sondern es „ins Fließen“ bringt, mithin von seinem Status als Kunstwerk, als geronnenem Objekt befreit. Weil das Kunstwerk nicht Werk bleiben, sondern „echte Gabe“ sein will, appelliert es an einen Blick, der ihm antwortet, indem er es ebenso verwandelt wie sich ihm aussetzt. Damit aber provoziert es eine Tradition der Hermeneutik, die sich bei all ihrem Bemühen, das literarische Werk nicht unter vorgefasste Begriffe zu subsumieren, stets gegen jene Erfahrung der Selbstpreisgabe zu wappnen sucht, die Lasker-Schüler nicht nur für die Erschaffung des Werks, sondern auch für dessen Rezeption einfordert. Sowohl Niederschrift wie Rezeption werden als autonomer Prozess verstanden, der sich vom empirischen Subjekt nicht vollständig beherrschen lässt, sich von ihm sogar löst und vorgefasste Erkenntnisabsichten transzendiert: Wie die Autorin ‚schläft’, ihr „Herz ins Fließen“ bringt und sich nicht mehr vom „Gehirn [...] dirigieren“ lässt, damit sich das Werk seinem eigenen „Takt“ gemäß entfalten kann, muss sich der Leser durch die „Straßen“ des Stücks „geleiten“, sich dessen „Geheimnisse [...] offenbaren“ lassen und den „Signalen“ folgen, die ihm vom Gegenstand vorgegeben werden. Damit wird auf der Autonomie einer poetischen Erkenntnis beharrt, die keinen Gegensatz zwischen Passivität und Aktivität, Hingabe und Verstehen akzeptiert und von hermeneutischer Erkenntnis einerseits ständig visiert, andererseits ebenso beharrlich verdrängt wird. Diese Erkenntnis, die sich aus dem Erfahrungspotential eines ‚wütenden’, euphorisierten Lesens speist, lässt sich als poetischer Enthusiasmus beschreiben.

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Die eher kryptischen Selbstaussagen Lasker-Schülers waren für die problematische Rezeption der Wupper als ‚lyrisches Stimmungsbild’, die dessen sozialkritische Implikationen verharmlost, bis in die zwanziger Jahre hinein prägend. Vgl. den Abriss zur Rezeptionsgeschichte bei A. PARR, Drama als „schreitende Lyrik“. Die Dramatikerin Else Lasker-Schüler. Frankfurt/M. 1988, S. 195 ff. Noch Fritz Martini sieht LaskerSchülers Kommentare in seinem ansonsten instruktiven Essay zur Wupper als Versuch, sich gegen Kritik zu immunisieren (F. MARTINI, Nachwort. In: E. LASKERSCHÜLER, Die Wupper. Mit Dokumenten zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Stuttgart 1977, 156-173, besonders S. 156 f.). Siehe dagegen die interessante Deutung des Stücks als ‚Fließtext’ bei S. HENKE, Fehl am Platz, S. 66 ff.

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Die Verfallsgeschichte des Enthusiasmus ist am Leitfaden der abendländischen Ausdifferenzierung des Gegensatzes von ‚Poesie’ und ‚Wissen’ von Heinz Schlaffer dargestellt worden.33 Ertragreich sind Schlaffers historisch nicht immer abgesicherte Überlegungen, weil sie den Konnex von poetischem Enthusiasmus, prophetischer Rede und ‚Besessenheit’ entfalten, der in LaskerSchülers poetographischen Schreib- und Lektüreszenen leitmotivisch begegnet. An ihre Grenze stoßen sie jedoch gerade mit Blick auf Lasker-Schüler, weil sie jene vom bürgerlichen Verständnis ästhetischer Geschmacksbildung marginalisierten Formen poetischer Produktion und Rezeption ausblenden, die mit dem Begriff der Kolportage und der ‚Lesewut’ angesprochen sind und an denen Lasker-Schülers Poetik sich primär entzündet. Schlaffer verbindet eine wissenschafts- und eine literaturgeschichtliche Perspektive: Ausgehend von Platons frühem Dialog „Ion“ und dem dort verhandelten Streit zwischen Philosophen und Rhapsoden, wird zunächst die Entwicklung der philologischen Erkenntnis als eines spezifischen Wissens von der Dichtung, das die Poesie bewusstlos bewahrt, ohne es aussprechen zu können, vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Dichotomisierung von poetischer Erfahrung und diskursiver Erkenntnis nachgezeichnet. In Platons Urteil, „dass Nicht-Dichter, da sie nüchtern denken, mehr von Dichtung verstünden als die Dichter, die der Enthusiasmus produktiv, jedoch nicht klug gemacht habe“,34 sieht Schlaffer die Konstitution einer spezifisch philologischen Erkenntnis präfiguriert, die auf der Annahme beruhe, „Erkenntnis über Dichtung“ beginne erst, „sobald kognitive Distanz und historischer Abstand den Bann poetischer Ergriffenheit aufgehoben haben“.35 Ästhetische Erkenntnis schließt in diesem Sinne jene emphatische Teilhabe aus, die der Begriff des Enthusiasmus impliziert: „Über Dichtung nachzudenken, erfordert einen räumlichen und zeitlichen Abstand von ihr, ein Davor und ein Danach, aber kein Dabei.“36 Erst die Transformation der enthusiastischen Erfahrung, in der Begreifen und Ergriffenheit in eins fallen, zur ästhetischen Erkenntnis, welche die Erfahrung des Enthusiasmus nur reflektieren, aber nicht durchleben kann, verwandelt „Poesie“ in „Literatur“ und macht ein „erlebbares Ereignis“ zur „verdinglichte[n] Gestalt“.37 Dieser Prozess konstituiert den Hermeneutiker als Deuter einer Poesie, die sich aus sich selbst heraus nicht mehr verstehen kann: „Dem Philosophen fällt es zu, das so unphilosophische Wesen der Dichtung zu erklären. Gerade weil er nicht vom poetischen Enthusiasmus ergriffen ist, vermag er ihn zu analysie-

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Siehe H. SCHLAFFER, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewusstseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M. 1990, besonders S. 11 ff. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd.

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ren.“38 Mit dieser Entstehung eines ästhetischen Bewusstseins von der Poesie, die Schlaffer durchaus auch als Fortschritt und nicht rein abschätzig beurteilt, wird der enthusiastische Impuls marginalisiert. Seine Artikulation wird vor dem Horizont der Arbeitsteilung zwischen Poesie und Philologie allenfalls negativ, als Zeichen von ‚Besessenheit’, wahrgenommen. In Vergessenheit gerät dabei, dass er kein vom Zivilisationsprozess überwundenes vorrationales Verhalten, sondern ein autonomes Erkenntnisvermögen ist, das von der neuzeitlichen Departementalisierung des Geistes verdrängt wurde: „Das Wissen aber, das im Enthusiasmus gewonnen wird, ist etwas anderes als ein archaischer Vorläufer moderner wissenschaftlicher Empirie und Theorie. Es vereinigt in sich Aufgaben, die später in die Sphäre der Religion, der Naturwissenschaft, der Geschichtsschreibung, der Literatur und der Musik auseinandertreten. Eben diese Einheit ist ‚poetisch’ im ursprünglichen Sinne.“39 Dass Schlaffer mit diesem Verständnis von Poesie als Erfahrung einer im Zuge des Prozesses der Aufklärung zerfallenen Einheit der Erkenntnisvermögen auf keine vage Dekadenzdiagnose zielt, sondern im Grunde die Verdinglichung geistiger und sinnlicher Vermögen zu partikularen ‚Fertigkeiten’ in der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft beschreibt, wird deutlich, wenn es über das Auseinandertreten von poietike, techne und episteme heißt: „Wie der philosophische Begriff der episteme dem Dichter die Zuständigkeit für das Gebiet des Wissens entzieht, so verdrängt auch der Begriff der techne die magischen Qualitäten, mit denen die handwerklichen Fähigkeiten des Demiurgen verbunden gewesen waren, und lässt nur die instrumentellen Kenntnisse und ökonomischen Funktionen einer arbeitsteiligen Gesellschaft übrig.“40 Der Konnex zwischen diesem Begriff des Enthusiasmus und dem in Lasker-Schülers Schreibszenen artikulierten poetischen Selbstverständnis wird spätestens an dieser Stelle evident. Wenn sich Lasker-Schüler in dem zitierten Passus über Die Wupper gegen die Vorstellung einer ‚gezimmerten’ Literatur mit den Worten „zaubern heißt des Dichters Handwerk“ wendet, beansprucht sie für ihre Autorschaft jene Einheit der Vermögen, die Schlaffer als charakteristisch für den Enthusiasmus herausarbeitet. Mit dem Entwurf eines ‚somnambulen’, nicht vom ‚Gehirn’ dirigierten poetischen Schaffens wird die für den Enthusiasmus konstitutive Überzeugung bejaht, „dass die Dichtung im Grunde nicht als das Werk eines Subjekts zu gelten hat“ und ein „Wissen“ zum Ausdruck bringe, „das die menschliche Empirie übersteigt“.41 In ihrem Rekurs auf Zauberei und Magie als Movens poetischer Schöpfung zieht Lasker-Schüler sich nicht auf einen inspirationsästhetischen Irrationalismus zurück, sondern fordert die Revitalisierung des enthusiastischen Potentials poetischer Sprache 38 39 40 41

Ebd., S. 13. Ebd., S. 29 f. Ebd., S. 18; Hervorhebung M.K. H. SCHLAFFER, Poesie und Wissen, S. 27.

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ein, das durch die Arbeitsteilung zwischen Dichter, Regisseur und Publikum verdrängt worden ist: „Poetische Sprache ist am Anfang besessene Sprache und behält immer etwas davon. Von alltäglicher Kommunikation hebt sie sich durch Tropen, Bilder, Personifikationen, Archaismen, Metren und Reime ab, also durch das gesamte Instrumentarium ungewöhnlicher Ordnungen und Verwirrungen, die einen geheimen Sinn hinter den offensichtlichen Rätseln vermuten lassen. Man könnte etwa die Metapher als inspiriertes oder besessenes Wort bezeichnen, das die bloße Tatsache verdunkelt, indem es deren höhere Bedeutung erhellt.“42 Mit der Formulierung vom „geheimen Sinn hinter den offensichtlichen Rätseln“, die an Lasker-Schülers Rede von den ‚Geheimnissen’ der Wupper-Stadt erinnert, die zu ‚offenbaren’ seien, ist das kommunikative Potential ‚besessener’ Sprache angesprochen, das sich verwirklicht, indem es die herrschenden Regeln der Kommunikation suspendiert. Die Metapher als „besessenes Wort“ ist kein Bedeutungsträger, sondern kommuniziert sich selbst in ihrer Autonomie, indem sie die bloßen ‚Tatsachen’ verdunkelt, den Schein ihrer isolierten Faktizität zerstört. ‚Besessenheit’ meint also keine Heteronomie, sondern eine Erfahrung der Selbstentäußerung und überschreitung, die die unverkürzte Autonomie der Sprache wie des Subjekts erst ermöglicht: „Der Besessene ist zugleich er selbst und ein anderer, d. h. der Gott oder Dämon, der von ihm Besitz ergriffen hat.“43 Entscheidend für Lasker-Schülers Konzept ‚besessener’ Rede ist, dass der ‚Besessene’ in seiner Exzeptionalität gerade das Allgemeine verkörpert: Wie Ion dem „Privileg, aus Inspiration und Wahnsinn zu sprechen“, misstraut und „seine Talente“ stattdessen „als Teil der allgemeinen Vernunft“ ansehen möchte,44 wird in LaskerSchülers Metapher von der ‚Zauberei’ als ‚Handwerk’ das Exzeptionelle scheinbar paradox als Allgemeines, als zu erlernende Fertigkeit bestimmt. Tatsächlich ist diese Einheit des Exzeptionellen und Allgemeinen kennzeichnend für das „Privileg“ enthusiastischer Poesie, deren Wahrheitsgehalt „durch die Mitteilung im Gesang zum Gemeinbesitz der Menschheit“ werden soll.45 Die Sprengung des partikularen Selbst im Modus des Enthusiasmus dient nicht erneut dem bloßen Selbstgenuss, sondern will „Gemeinbesitz“ werden und das „Privileg“, dem sie entspringt, aufheben. Den Zerfall dieser enthusiastischen Erfahrung, in der Außer-sich-Sein und Bei-sich-Sein konvergieren, beschreibt Schlaffer als deren Depravation zur „unbestimmten Ergriffenheit“, die sich „über ihren enthusiastischen Ursprung im unklaren bleibt“: „Der Zuschauer ist ergriffen, aber er kennt den Dämon nicht mehr, der ihn ergriffen hat. So schreibt er dem Künstler und dem Kunstwerk als Leistung zu, was einst eine Folge dämonischer Besessenheit gewesen 42 43 44 45

Ebd., S. 32. Ebd., S. 31. Ebd., S. 12. Ebd., S. 27; Hervorhebung M.K.

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war. Kultur beginnt […], wenn sie ihre Herkunft vergisst.“46 Obwohl Schlaffer seine Darstellung des Verfalls enthusiastischer Erfahrung nicht konkret auf die Herausbildung der bürgerlichen Warengesellschaft bezieht, ist dieser Konnex mit dem Terminus der „Leistung“, als welche Kunst aus der Perspektive nach-enthusiastischer „Ergriffenheit“ erscheint, deutlich benannt. Nicht nur das Kunstwerk, auch die von ihm ermöglichte Erfahrung wird mit dem Zerfall des Enthusiasmus vergegenständlicht und neutralisiert. Die ‚Ergriffenheit’, die sich in Folge dieses Prozesses erst herausbildet, kennt zwei Erscheinungsformen: die ‚begrenzte Selbststeigerung’ und die ‚Epiphanie’. Über erstere heißt es mit Blick auf die Antike: „[D]iese Selbststeigerung und Selbstvergessenheit musste exzeptionell und begrenzt bleiben, damit die Rückkehr zum nüchternen und verständigen Tagewerk nicht gefährdet wurde. Dazu dienten die Feste, die an einem besonderen Ort und für eine befristete Zeitspanne Momente des Enthusiasmus erlaubten, sogar erforderten“.47 Die zweite Variante zielt nicht auf die enthusiastische Erfahrung selbst, sondern auf den Genuss des „Wissen[s] von enthusiastischen Zuständen, das in Kunsttheorien und Kunstinterpretationen erhalten ist“: „Innerhalb dieser gesicherten Grenzen dürfen sich Künstler und Publikum von der Epiphanie einer höheren Wahrheit ergreifen lassen, die im Modus des ‚Als Ob’ sich vollzieht.“48 Obschon nicht recht deutlich wird, auf welche historischen Entwicklungsstufen ästhetischer Erfahrung Schlaffer sich jeweils bezieht, ist evident, dass er im Grunde die Genese der bürgerlichen Dichotomie von Unterhaltungskultur und Hochkultur nachzeichnet, die er teils auf die Antike zu projizieren scheint. In der ‚begrenzten Selbststeigerung’, die als Komplement zum „verständigen Tagewerk“ die empirische Realität, über die sie hinausweist, zugleich bestätigt, ist jene so ‚unterhaltende’ wie sozial ‚erforderliche’ Kunst präfiguriert, deren jüngste Depravationsform die Kulturindustrie ist, während die von „gesicherten Grenzen“ eingehegte epiphane Schau einer „höheren Wahrheit“ auf den Kunstgenuss des bürgerlichen Wagner-Hörers vorausweist, der durchschauert in seinen Konzertsessel gebannt bleibt. Jede dieser beiden Erfahrungen enthält ein Versprechen, das allein durch den Wahrheitsgehalt der jeweils anderen eingelöst werden könnte; gemeinsam verweisen sie in ihrer Partikularität auf jene Einheit von geistigen und sinnlichen Vermögen, an die der Enthusiasmus erinnert. Indem Lasker-Schüler Jeßner in ihrem Brief über Die Wupper auffordert, sich durch das Schauspiel ‚geleiten’ zu lassen und von ihm zu ‚kosten’, es also nicht einfach kontemplativ zu genießen, dringt sie auf Entfesselung jener enthusiastischen Impulse, die im bürgerlichen Theater zur ‚unbestimmten Ergriffenheit’ sublimiert worden sind und die Schlaffer – in offensichtlicher An46 47 48

Ebd., S. 39 f.; Hervorhebung M.K. Ebd., S. 41. Ebd., S. 43.

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lehnung an Adorno – auf einen Begriff von Mimesis bezieht, der in der neuzeitlichen Ästhetik marginalisiert worden sei: „Durch die Maske des mimos [...] spricht der Verstorbene, als lebte er wieder. Die spätere Poetik hat den Begriff von ‚Mimesis’ zur ‚Nachahmung der Natur’ umgedeutet, so dass sein ältester Sinn und damit seine Herkunft aus dem Besessenheitsritual vergessen wurden: Er bezeichnete das tänzerisch-enthusiastische Nachspielen fremder Gestalten“.49 Einen solchen Akt der Mimesis, in welchem das Kreatürliche und zugleich Subjektfremde nicht nur repräsentiert wird, sondern selbst zur Sprache gelangt, reklamiert Lasker-Schüler nicht nur mit den Bildern der ‚aufblühenden Schrift’ und des somnambulen Schreibens für ihr eigenes Schaffen, sondern verlangt es mit der Aufforderung zur Durchwanderung ihres Werks auch dem Rezipienten ab. Während Schlaffer sich auf der Suche nach Revitalisierungsversuchen dieses mimetischen Potentials jedoch nur ‚hohen’ Spielarten prophetischer Dichtung in der Traditionslinie von Klopstock bis Hölderlin zuwendet, ordnet Lasker-Schüler ihr Schauspiel durch die Bezeichnung als „Stadtballade“ ausdrücklich einer ‚niederen’ Gattung zu und sucht den enthusiastischen Impuls in trivialen poetischen Formen wie der Indianer-Kolportage auf. Im Text „Paradiese“ von 1928, der mit dem Satz „Ueberall hängt noch ein Fetzen Paradies“ beginnt, erkennt sie das „Gesicht des Paradieses“ ausgerechnet in einer „Indianerlegende“ (4.1, 158 f.): Die Einsicht, dass das „Paradies“ einerseits „[ü]berall“, andererseits nur in „Fetzen“ erfahrbar sei, wird mit der Diagnose verbunden, dass es sich weder in vermeintlich mystischen Zuständen der Ekstasis noch in sanktionierten Formen ästhetischer Kontemplation erschließt, sondern ins Partikulare, Verdinglichte und kulturell ‚Wertlose’ abgewandert sei, das zwar kollektiv verfügbar ist, jedoch keine eigene Stimme hat. In dem zitierten Passus aus Ich räume auf! erklärt sie denn auch den mit Flittern besetzten Jettknopf zum Ausgangspunkt der Genesis ihres Werks und macht den Grundimpuls ihres Schaffens in der kindlichen Langeweile angesichts der Alltagsroutine aus, verortet die Urszene ihrer poetischen Produktion also in einer Sphäre kindlichen Spiels und kindlicher Erfahrung, die jedem bekannt ist, ja nachgerade Teil des kollektiven bürgerlichen Unbewussten sein dürfte, aber keinen kulturellen Legitimationswert besitzt. Noch 1930 verkündet sie in dem für die Anthologie „Führende Frauen Europas“ verfassten Selbstporträt „Etwas von mir“ ebenso programmatisch wie kontrafaktisch: „Mit fünf Jahren dichtete ich mein erstes Buch; es erschien in einer Auflage von 30000 Stück bei Ullstein. Seitdem leiste ich nichts mehr.“ (4.1, 188) – Kindheit und Kolportage kommen hier exemplarisch in einem absurden poetischen Urbild zusammen: Die einzige ‚Leistung’ der Dichterin soll, in parodistischer Verkehrung der bürgerlichen Leistungsethik, das in Massenauflage publizierte Buch einer Minderjährigen gewesen sein. 49

H. SCHLAFFER, Poesie und Wissen, S. 33.

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Die eigene poetische Sprache wird als eine Rede gekennzeichnet, die zugleich populär und unverantwortlich ist – das paradoxe Ideal einer ebenso kollektiven wie anarchischen Poesie, die sich an alle richtet, die jedermann kennt, die aber nichts repräsentiert und jedem Kanon entschlüpft. Um den historischen Zusammenhang zu skizzieren, vor dem sich dieser Konnex von Kindheit und Popularität in der ästhetischen Moderne entfaltet, ist auf die um 1900 virulente volkspädagogische Debatte über kindliche ‚Lesewut’ zurückzukommen, die beharrlich um die Gefahr von Indianerbüchern kreist.50 Der sozialdemokratische Volksschullehrer Heinrich Wolgast, dessen 1896 erschienene, allein bis 1921 fünfmal neuaufgelegte Schrift Das Elend unserer Jugendliteratur innerhalb der sogenannten Jugendschriftenbewegung das wohl differenzierteste Konzept ästhetischer Erziehung für Kinder entwirft und der als Vorsitzender der Literarischen Gesellschaft nicht nur Förderer von Dehmel und Liliencron war, sondern auch Kontakt zu den Protagonisten der Freien Volksbühne wie Gustav Falke oder Gerhart Hauptmann hatte,51 gewinnt seinen Begriff von ästhetischem Genuss im Beharren auf der Autonomie kindlicher Erfahrung, zugleich aber in Abgrenzung gegen eine ‚wütende’ Lektüre, wie er sie mit den Indianerbüchern Karl Mays assoziiert. Wolgasts Ausgangspunkt ist die Kritik am Zerfall der vermeintlich verbindlichen, Hoch- und Volkskultur umschließenden Nationalkultur in eine standardisierte, die ästhetische Genussfähigkeit korrumpierende Massenkultur und eine rituell erstarrte, gesellschaftlich wirkungslos gewordene bürgerliche Repräsentationskultur. Er beschreibt diesen Zerfall mit dem Begriff der „zwei verschiedene[n] Nationen“, in die die deutsche Leserschaft sich mit der Dichotomisierung zwischen einem „literarisch interessierte[n] Häuflein“ und der „literarisch indifferente[n]“ Masse aufgespalten habe.52 Telos ästhetischer Erziehung ist insofern von vornherein nicht die Ausbildung autonomer Phantasiefähigkeit, sondern die Versöhnung der sozial gespaltenen Leserschaft zu einer „Na50

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Zur volkspädagogischen Denunziation von Indianer- und Abenteuerliteratur siehe R. STEINLEIN, In finstern und blutigen Gründen. Das Indianerbuch als Jugendmassenlektüre. In: J. MERKEL / D. RICHTER (Hgg.), Sammlung alter Kinderbücher. Bd. 4. München 1979, S. 135-188. Vgl. H. WOLGAST, Das Elend unserer Jugendliteratur. Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend. Neuauflage: Worms 1950. – Wolgasts enorme Bedeutung als Vermittler zwischen ästhetischen und pädagogischen Diskursen in so unterschiedlichen Kontexten wie der Jugendbewegung, der Diskussion um ‚wertvolle’ Kinderliteratur und im Volksbildungskonzept der Freien Volksbühne ist bisher nicht annähernd erschlossen. Siehe G. WILKENDING, Volksbildung; M. STORIM, Ästhetik im Umbruch, S. 140 ff.; H.-H. EWERS, Eine folgenreiche, aber fragwürdige Verurteilung aller „spezifischen Jungendliteratur“. Anmerkungen zu Wolgasts Schrift Das Elend unserer Jugendliteratur von 1896. In: Theorien der Jugendlektüre, S. 9-25; B. KÜMMERLING-MEIBAUER, Kinderliteratur, S. 61 ff. und passim. H. WOLGAST, Vom Kinderbuch, S. 2.

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tion“, deren Homogenität durch gemeinsame Anteilnahme am kulturellen Erbe gesichert werden soll. Ästhetische Erziehung, heißt es, solle „den Menschen aus seiner Vereinsamung herausheben […] zu immer umfangreicherer und innigerer Vergesellschaftung“.53 Ihr Ziel ist nicht die Selbstbefreiung der Individuen, sondern deren Integration in einen homogenen Sozialverband, der sie vom Gefühl der „Vereinsamung“ entlasten soll. Ganz im Geiste des sozialdemokratischen Kulturideals sieht Wolgast seine pädagogischen Bemühungen als Teil eines „Befreiungskampf[s] des Menschen gegen die ihn beherrschende Produktion“, bindet sie jedoch im gleichen Atemzug an jenen Arbeitsprozess, zu dessen Umwälzung sie beitragen sollen: Ist der Mensch nicht mehr der gefesselte Sklave der Produktion, so gewinnt er Muße und Lust, Ausblick zu halten auf die Weite der Welt […]. Es entsteht das Genussbedürfnis, und die Erziehung eilt, den Menschen für den Genuss fähig zu machen.54

Schon hier deutet sich an, dass Wolgasts Begriff von ästhetischem Genuss dem bürgerlichen Schema ästhetischer Kontemplation folgt, gegen dessen ökonomische Voraussetzungen er Front machen will. Als „Muße“ und lustvoller „Ausblick“ auf die „Weite der Welt“ ist Genuss nur ein anderes Wort für Freizeit, die die Arbeitssphäre als temporäre Entlastung ergänzen soll. Deshalb wird er als zu erringende Leistung verstanden, zu der die Menschen erst „fähig“ gemacht werden müssen. Anders als etwa Brecht oder Benjamin in ihren Überlegungen zum emanzipatorischen Gehalt proletarischer Massenkunst,55 stellt Wolgast noch nicht einmal die Frage, ob die trivialästhetischen Produktions- und Rezeptionsweisen, die sich mit der Entstehung eines massenhaft produzierenden Literaturmarkts herausgebildet haben, in ihrer Inkommensurabilität zur bürgerlichen Genussökonomie nicht zumindest auch ein emanzipatorisches Potential enthalten. Stattdessen stellt er die „Kultur des poetischen Genusses“ dem „literarischen Hunger“ der Massen undialektisch gegenüber:

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H. WOLGAST, Jugendliteratur, S. 11. – Dass Wolgast trotz seiner Kritik an der Propaganda patriotischer Inhalte ästhetische Erziehung als ‚vaterländisch’ verstanden hat, wird deutlich, wenn er Liliencrons Kriegsnovellen wegen ihres „keusch[en]“ Patriotismus als Beispiel dafür anführt, wie Dichtung „alle Segenskräfte der Nation“ verkörpern könne. Vgl. H. WOLGAST, Vom Kinderbuch, S. 24 ff., hier S. 50 f. – Die Bedeutung, die der auch von Peter Hille hochgeschätzte Liliencron für das Selbstverständnis des völkischen Naturalismus im Deutschland der Jahrhundertwende besaß, ist meines Wissens bisher nicht untersucht worden. H. WOLGAST, Jugendliteratur, S. 3. Siehe hierzu das Nachwort von Rolf Tiedemann in: W. BENJAMIN, Versuche über Brecht. Frankfurt/M. 1966, S. 137-152.

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Es ist gewiss für das öffentliche Leben in jedem Betracht von Bedeutung, wie die großen Massen der arbeitenden Klassen ihre ästhetischen Bedürfnisse befriedigen. Ob sie mit den rohen oder albernen Erzeugnissen einer Afterkunst ihren literarischen Hunger stillen, oder an den Schätzen der echten Kunst lebendigen Anteil haben, ist für die Entwicklung des sozialen Kampfes nicht gleichgültig.56

Literatur als kulturelle Institution bleibt für Wolgast, auch darin ist er guter Sozialdemokrat, eine öffentliche Bedürfnisanstalt, die „[d]ie Massen literarisch konsumfähig“ machen soll.57 Die Rhetorik der Bedürfnisbefriedigung, der die Logik von Angebot und Nachfrage eingeschrieben bleibt und die sich in postmodernen, Roland-Barthes-gesättigten Rehabilitationsversuchen ästhetischer Lust wiederholt,58 verkauft dem Massenpublikum die Propaganda von Entsagung und Verzicht als Erfüllung ureigener ‚Bedürfnisse’ im Namen des „sozialen Kampfes“, ist in Wahrheit jedoch lustfeindlich und antihedonistisch. Die berechtigte Befürchtung, der „Mörtel“ standardisierter Massenliteratur drohe das passiv konsumierende Publikum „zu einem gewaltigen Bollwerk“ zu homogenisieren, „das die echte Poesie und ihre kritischen Wortführer scheinbar vergeblich berennen“,59 wird zum Pauschalargument gegen jede Form ‚hungriger’, nicht durch ästhetische Distanz sublimierter Lektüre. Umgekehrt büßt auch das Konzept ästhetischer Autonomie, das Wolgast gegen die Kulturindustrie in Anschlag bringt, sein umstürzendes Potential ein, indem es zwecks ästhetischer Volkserziehung instrumentalisiert wird. Ästhetische Bildung mutiert dabei zum Erste-Hilfe-Einsatz zwecks volkspädagogischer Menschenbeackerung:

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H. WOLGAST, Jugendliteratur, S. 42 f. Ebd., S. 44. Vgl. etwa T. ANZ, Literatur und Lust. – Anz’ Absicht, den Eigenwert ästhetischer Lusterfahrung für die alltägliche wie akademische Lektüre zu betonen, schlägt in Affirmation um, wenn Barthes’ „genialische Monologizität“ und die „im Zeichen der Postmoderne wiederentdeckte Lust an Literatur“ gepriesen werden (S. 10 und 20), um dem ästhetischen Spiel als „lustvolle Befreiung von Realitätszwängen“ (S. 41) und „Befriedigung sozialer Bedürfnisse“ (S. 71) jene pragmatische Relevanz zuzuschreiben, mit der die Literaturwissenschaft im Namen einer „literaturwissenschaftlichen Hedonistik“ (S. 229) ihren Marktwert meint sichern zu können. Barthes selbst beschreibt den ‚lustvollen Leser’ bereits als eine Art Literatur-DJ, „der alle Sprachen miteinander vermengt, mögen sie auch als unvereinbar gelten“. Die Depravation des ästhetischen Hedonismus zur Party-Folklore, wie sie heute unter dem Label der Pop-Literatur Furore macht, ist hier antizipiert. Vgl. R. BARTHES, Die Lust am Text. Frankfurt/M. 1974, Zitat S. 8. H. WOLGAST, Jugendliteratur, S. 45.

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Die Flut der Unterhaltungslektüre wird zurückgedämmt werden, um fruchtbares Ackerland bloßzulegen. Wo umgekehrt die Lektüre gegen Schularbeit, Spiel und Erwerbsarbeit nicht hat aufkommen können, [...] müssten im Gegenteil erst die Gräben gezogen werden, von denen aus erquickendes Lebenswasser die Flur des jugendlichen Geistes durchdringt. Diese Arbeit wird leichter sein, als [...] das verwüstete und überschwemmte Feld einer gesunden Kultur zurückzugeben.60

Weil er zwar am Autonomiebegriff der bürgerlichen Ästhetik festhalten, ihn aber gleichzeitig für ein paternalistisches Volksbildungsideal in Dienst nehmen möchte, verkennt Wolgast den emanzipatorischen Gehalt der Massenkultur letztlich ebenso wie den kritischen Impuls der Autonomieästhetik. Stattdessen schlägt seine Volksbeglückungsrhetorik in faschistoide Allmachtsphantasien um, denen sich der ‚jugendliche Geist’ als „Ackerland“ darstellt, das kultiviert, vor Austrocknung und Überdüngung geschützt werden müsse. Seine kapitalismuskritische Intention, die trivialliterarische „Ware“ durch „wenige an den Fingern herzählbare Kunstwerke“ zu ersetzen,61 huldigt selbst dem Fetisch der Quantifizierbarkeit und möchte die ‚Massen’ auf ein Ideal von Größe und Einzigartigkeit einschwören, gegen das Kolportage ihrer puren Produktions- und Distributionsform nach mit vollem Recht Einspruch erhebt. Konsequent agitiert Wolgast in seinen Schriften gegen jene ungelenken, aber auch erfahrungsoffenen Formen kindlichen Lesens, die in Benjamins und Lasker-Schülers Lektüreszenen rehabilitiert werden. Sein vielzitierter Satz „Die Jugendschrift in dichterischer Form muss ein Kunstwerk sein“62 richtet sich zwar zu Recht gegen die didaktische und weltanschauliche Instrumentalisierung von Kinderliteratur, misst diese aber ihrerseits ausschließlich an den ästhetischen Normen der bürgerlichen Hochkultur. Im Aufsatz „Über Bilderbuch und Illustration“ dekretiert er: Über den Wert und Unwert eines Kunstprodukts entscheidet der Geschmack des künstlerisch empfindenden Teils der gebildeten Menschheit; die Jugend ist also vom Urteil ausgeschlossen, und die [...] Befriedigung der kindlichen Schaulust kann absolut keinen Maßstab für den Wert eines Bilderbuchs abgeben.63

Wie kindliche „Schaulust“ als vorästhetisches, allererst zu kultivierendes Vermögen erscheint, wird dem „Sensationsbedürfnis“ die „literarische Ge-

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Ebd., S. 7 f.; Hervorhebung M.K. Ebd., S. 8 f. Ebd., S. 25. H. WOLGAST, Vom Kinderbuch, S. 124.

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nussfähigkeit“ als reifes ästhetisches Urteilsvermögen kontrastiert.64 Dieser unkindliche Genussbegriff, der das Muster ästhetischer Kontemplation als rezeptionsästhetisches Korrelat zum Ideal der Zweckfreiheit auf kindliche Rezeptionsweisen überträgt, wird einem „naschende[n] Lesen“ gegenübergestellt, das „Träumen und Abschweifen der Gedanken“ zur Folge habe.65 Mit dieser Dichotomisierung, die an eine lange Tradition der Kritik der Einbildungskraft anknüpfen kann,66 neutralisiert Wolgast jene Impulse kindlicher Phantasietätigkeit, die er zuvor mit dem Begriff des ‚Tätigkeitstriebs’ aufgewertet hatte. „Das Kind“, heißt es anfangs, „ist zufrieden und glücklich, solange es tätig sein kann [...]. Darum ist das Spielzeug um so wertvoller, je mehr es dem Kinde gestattet, tätig zu sein; die Puppe nebst Zubehör, der Baukasten, ein Haufen Sand sind sein liebstes Spielzeug.“67 Der kindliche Tätigkeitstrieb folgt keinen pädagogischen oder pragmatischen Zwecksetzungen, sondern betrachtet die Wirklichkeit als „Baukasten“ oder „Haufen Sand“ – als formbares Material für die eigene Phantasie, das im gleichen Moment ‚angeschaut’ und ‚bearbeitet’ werden kann. An anderer Stelle grenzt Wolgast diese Phantasietätigkeit, die er vor allem im Kinder- und Volkslied aufgehoben glaubt – 1903 hat er im Selbstverlag eine Sammlung alter Kinderreime herausgegeben –, gegen eine „aus der Natur herausgerissene Kunst“ ab, in der alles „aufs Moralische gestellt“ sei: Nicht das freie schöpferische Spiel der Phantasie hat hier mit tappendem Finger aus der realen Welt weise einen Zug und noch einen Zug zu einem kleinen Weltbilde herausgehoben, sondern der philanthropische Erzieher hat für eine Reihe von Tugenden und Unarten [...] Beispiele herauskonstruiert.68

Der hier konturierte kindliche Phantasiebegriff, der in seiner Kritik moralischer ‚Beispielhaftigkeit’ Wolgasts Denunziation der ‚Lesewut’ zuwiderläuft, hat mit seiner Aufwertung von Erfahrungsoffenheit und produktiver Unsouveränität (die ‚tappenden Finger’) mehr Ähnlichkeit mit Benjamins Verständnis 64 65

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H. WOLGAST, Jugendliteratur, S. 24. Ebd., S. 51 f. – Benjamin spricht in einem 1929 publizierten Essay über „Dienstmädchenromane des vorigen Jahrhunderts“ dagegen emphatisch von den Kolportagebüchern, die „nie Bestandteil einer ‚Bibliothek’“, sondern „Gebrauchsgegenstand“, ja „Lebensmittel“ gewesen und daher „verschlungen“ worden seien. (W. BENJAMIN, Dienstmädchenromane des vorigen Jahrhunderts. In: ders.: GS IV.2, S. 620-622, hier S. 622). Nicht zufällig enthält das Kinder-Panorama der Einbahnstraße neben dem Text „Lesendes Kind“ eine Skizze mit dem Titel „Naschendes Kind“ (W. BENJAMIN, GS IV.1, S. 114). Siehe die Ausführungen über die Erziehung zur ‚Selbstbeobachtung’ als Verinnerlichung des ‚väterlichen Blicks’ bei R. WILD, Die Vernunft der Väter, S. 310 ff. H. WOLGAST, Jugendliteratur, S. 4. H. WOLGAST, Vom Kinderbuch, S. 7.

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kindlicher Phantasie, als Wolgast nach Maßgabe seiner pädagogischen Intentionen lieb sein kann. Obwohl sich in seiner Bestimmung kindlicher Phantasie als Einheit von „Empfänglichkeit“ und „Selbsttätigkeit“ Benjamins Begriff des mimetischen Vermögens andeutet,69 wird diesem mimetischen Potential denn auch keine Autonomie zugestanden. Vielmehr wird die Tatsache, dass die „Seele“ des Kindes – wie es analog zu Lasker-Schülers Metapher vom ‚weichen Gehirn’ heißt – „weich und bildsam“ sei,70 als Gefahr wahrgenommen: „Das empfängliche und bestimmbare Gemüt“ des Kindes könne, so heißt es, „den köstlichen Schatz [...] unserer nationalen Poesie in sich zu unverlierbarem Eigentum“ aufnehmen, könne sich aber auch „mit dem Unsinn der Schundliteratur“ füllen.71 Nicht zwecks eigener Bestimmung soll das ‚empfängliche Gemüt’ an die Werke des bürgerlichen Literaturkanons herangeführt werden, sondern im Dienste der Nation, deren „Schatz“ sich der ‚bildsamen Seele’ als „Eigentum“ einschreiben soll. Das Kind hat dabei überhaupt nicht mitzureden: „Die literarische Genussfähigkeit ist im Kinde nur in der Anlage vorhanden, und aus diesem Keim kann ich ebensogut den starken herrlichen Baum wie kriechendes Gestrüpp ziehen.“72 Der im schlimmsten Sinn als Kindergärtner verstandene ästhetische Erzieher muss die sich an triviale Stoffe heftende autonome Einbildungskraft – die „geile Phantasie“73 – beschneiden und die von Benjamin als Vermischung mit dem Gelesenen beschriebene kindliche Lektürepraxis zivilisieren: Das stoffliche Interesse hastet von Ereignis zu Ereignis, es schätzt nach dem Grade des Ungewöhnlichen, des Außerordentlichen. Das ästhetische Interesse ist anspruchsloser [...]. Nicht das Übermenschliche, nie Dagewesene in Charakter und Handeln der Personen, sondern [...] das ‚Leben’, die Rundung der dargestellten Menschen erweckt Freude.74

In dieser Formulierung, in der das „Leben“ mit Recht in Anführungszeichen steht, schlägt die Abwehr der auf Neuigkeit und Abenteuer zielenden Lektüreimpulse des Kindes in einen Begriff des Ästhetischen um, der sich selbst ad 69

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H. WOLGAST, Jugendliteratur, S. 7. – Burkhardt Lindner betont zu Recht, dass Benjamins Mimesisbegriff auf Impulse ziele, in denen „die ‚Vergesellschaftung des Kindes’ sich noch nicht zum instrumentellen Können automatisiert hat, sondern im Zwischenbereich von Aneignung und Ohnmacht, Erschließen und Verstellen noch ungefestigt erscheint“ (B. LINDNER, Das Interesse an der Kindheit. In: Literaturmagazin 14 (1991), S. 112-132, hier S. 129). Im Bild der ‚tappenden Finger’ ist dieser Aspekt angedeutet. H. WOLGAST, Vom Kinderbuch, S. 103. H. WOLGAST, Jugendliteratur, S. 17. Ebd., S. 23. Ebd., S. 40. Ebd., S. 38.

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absurdum führt. Ästhetisches Interesse heftet sich demnach an das ‚Ordentliche’, stets schon ‚Dagewesene’ – an die Wiederholung, deren blinden Zwang authentische Kunst doch gerade durchbrechen müsste. Wolgasts Autonomiebegriff verkümmert dabei zur biedermeierlichen Selbstkarikatur: „Darin liegt der Vorzug, den wahre Dichterwerke vor den Pseudodichtungen haben, dass sie entweder die aufsehenerregenden Bestandteile ganz entbehren und in der eindringenden Darstellung eines bescheidenen Vorwurfs ihre Aufgabe erschöpfen oder [...] die starken Vorwürfe durch die Kunst der Darstellung nicht nur glaubwürdig sondern auch unschädlich machen“.75 Dieses wahrlich bescheidene Credo bildet den Kontrapunkt zur Aufwertung des ‚Zuviel’, des ‚Wirbelns’ und des ‚Gestöbers’ der Lettern in Benjamins Konzept kindlicher Lektüre. Der Gefahr des ‚Zuviel’, die sowohl mit einer falschen Lektüre – mit Indianerbüchern und der sogenannten Backfischliteratur76 – wie auch mit einem falschen, ‚hungrigen’ Lesen assoziiert wird, will Wolgast in doppelter Weise begegnen: Einerseits durch eine ästhetische Formgebung, die pädagogische Zwecksetzungen ablehnt und den Autonomieanspruch bürgerlicher Ästhetik auch für Kinderliteratur einklagt, in ihrer Abwehr von „Stoffgier“ und „geile[r] Phantasie“, die den Geist durch „unfruchtbare Bilder“ abstumpfen lasse,77 aber nur „intime Reize“ und „Kleinmalerei“78 gelten lässt und so das eigene Autonomiepostulat untergräbt. Zum anderen durch ein Konzept kindlicher Rezeption, dem der Begriff der ‚nachschaffenden Phantasie’ zugrundeliegt, der die kritischen Implikationen des Begriffs vom ‚Tätigkeitstrieb’ zurücknimmt. Nicht die aktive Phantasieproduktion, sondern das reproduktive ‚Nachschaffen’ steht nun im Mittelpunkt: In dieser nachschaffenden Phantasietätigkeit liegt ein großer Bildungswert. In dem Maße, als der Dichter anschaulich und charakteristisch ist, wird die innere Bildkraft des Lesers an Bestimmtheit und Kraft gewinnen; denn auch hier wirkt das Muster der Nacheiferung. [...] Der Wirklichkeitssinn, d. i. die Fähigkeit an den Dingen wie sie sind, genug zu haben [...], hat eine sehr beachtliche moralische Seite.79

Aus dem Kind, das in zweckfreier Phantasietätigkeit mit Sandhaufen spielt, ist endlich der Schüler geworden, der in „Nacheiferung“ ästhetischer „Muster“ einübt, wogegen alle authentische Kunst protestiert: an den „Dingen wie sie sind“ Genüge zu haben. Ex negativo jedoch ist damit ausgesprochen, dass 75 76

77 78 79

Ebd., S. 41; Hervorhebung M.K. Siehe hierzu Wolgasts Aufsatz „Über Lektüre für Backfische“ in der Sammlung „Vom Kinderbuch“. H. WOLGAST, Jugendliteratur, S. 40. Ebd., S. 45. Ebd., S. 54.

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Kunst, sofern sie nicht – sei es auch als Beispiel ästhetischer Zweckfreiheit – zum bloßen Bildungsgut depraviert werden will, selbst den Stachel des Trivialen in sich tragen muss, an dem Wolgasts ästhetisches Ethos sich stößt und das in literarischer Kolportage erstmals massenhafte Beachtung auf sich zieht. Indem sie die poetographischen Urszenen ihres Œuvres emphatisch auf die Sphäre von Kolportage und kindlichem Spiel bezieht, exponiert LaskerSchüler jenen trivialen, anti-pädagogischen Impuls als grundlegend für ihr eigenes Verständnis von ‚hoher’ Kunst. An den Aporien von Wolgasts Konzept ästhetischer Erziehung wird evident, weshalb gerade der ärgste Feind der Volkspädagogen bei vielen Autoren der Berliner Moderne beliebt gewesen ist: Karl May, Volksschullehrer, Dieb, Hochstapler und Dichter, vereinigt in Biographie und Werk, was in den zeitgenössischen Diskursen über den Konnex von Kindheit, Ästhetik und Volksbildung als unvereinbar behauptet wird.80 Das ‚gebrochene Leben’, das ihm bis heute entweder abschätzig oder mitleidig attestiert wird,81 hat eine anarchische Dimension, in der es sich, ohne dass dies bislang bemerkt worden wäre, mit Lasker-Schülers Ästhetik der Selbstfiguralisierung trifft. Wie Lasker-Schüler wollte May nicht bloß Schöpfer, sondern Figur seines Werks sein; wie sie hat er die Grenze zwischen poetischer Phantasie und Realität nicht akzeptiert. Wie Lasker-Schüler hat er Kostüme getragen, die er nicht als Verkleidung, sondern als authentische, der Welt seines Werks entstammende Kleidung angesehen hat. Wie für Lasker-Schüler das reale Berlin jederzeit zum nicht minder realen Theben werden konnte, nannte May sein Haus in Radebeul völlig unironisch ‚Villa Shatterhand’. Lasker-Schüler hat Rechnungen und Verträge mit ‚Prinz von Theben’ unterschrieben, May hat sich oft als Doktor der Philologie und hoher Staatsbeamter ausgegeben oder behauptet, mit Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi identisch zu sein. Wie LaskerSchüler sich in jedem ihrer Werke an eine poetische Gemeinschaft gerichtet hat und glücklich war, wenn andere sich an diesem Spiel beteiligten, so hat May sich über seinen Erfolg beim Publikum keineswegs nur aus finanziellen Gründen gefreut und auf der Grundlage von Fragen und Bitten seiner Leserschaft sein fiktives poetisches Reich ständig transformiert – wenn er damit auch keine vergleichbaren sozialen Utopien verbunden haben mag. Wie für Lasker-Schüler die Begegnung mit dem realen Palästina hat schließlich auch 80

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Zu Mays Fürsprechern im Kreis der Avantgarde gehörten Erich Mühsam, Egon Erwin Kisch, Albert Ehrenstein und Georg Heym. Vgl. zur May-Rezeption M. LOWSKY, Karl May. Stuttgart 1987, S. 133 ff., sowie den Artikel von H. Schmiedt in: G. UEDING (Hg.), Karl-May-Handbuch. 2., erweiterte Auflage. Würzburg 2001, S. 492-508. Vgl. hierzu die 1965 erschienene, inzwischen neu aufgelegte Biographie von H. WOLLSCHLÄGER, Karl May. Grundriss eines gebrochenen Lebens. Göttingen 2004. – Wollschlägers Arbeit ist eine Antwort auf das fasziniert-abschätzige May-Porträt, das Arno Schmidt 1963 in Sitarta und der Weg dorthin gezeichnet hat.

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für May seine erste Orient-Reise eine Krise des poetischen Selbstverständnisses ausgelöst. Was der Bohème-Dichterin indes eher als Symptom ‚weiblicher’ Extravaganz ästhetisch gutgeschrieben wurde, hat Karl May insgesamt acht Jahre Gefängnis beschert.82 Weder die Goutierung solcher Selbststilisierung als Signum eines avantgardistischen Stils noch ihre Diskreditierung als Publikumsbetrug erfasst jedoch den May und Lasker-Schüler verbindenden Impuls, den Lasker-Schüler am Beispiel der Indianerbücher als Grundzug von Kolportage hervorhebt: Kolportage zielt nicht auf die Festschreibung der poetischen Phantasie als Wunschtraum, sondern auf deren Verwirklichung im Modus einer Einholung der utopischen ‚Ferne’ ins Hier und Jetzt. Wenn extravagante Kostüme und Namen als Bestandteil der Wirklichkeit respektiert werden und für poetische Selbstauszeichnungen (Prinz von Theben, ‚Dr. May’) empirisches Geltungsrecht beansprucht wird, ist dies kein Symptom von Wahn oder Ruhmsucht, sondern Ausdruck der Sehnsucht, nicht länger 82

Über Mays ‚Hochstaplertum’ siehe H. WOLLSCHLÄGER, Karl May, besonders S. 95 ff.; F. HETMANN, Old Shatterhand, das bin ich. Weinheim 2001; C. HEERMANN, Winnetous Blutsbruder. Bamberg 2002; ferner den informativen Katalog zur MayAusstellung im Deutschen Historischen Museum: S. BENEKE / J. ZEILINGER (Hgg.), Karl May – Imaginäre Reisen. Berlin 2007, der auch die Verwurzelung von Mays Werk in der vom Kolonialismus geprägten Alltagskultur des Kaiserreichs nachzeichnet. – Dass die Ähnlichkeiten zwischen May und Lasker-Schüler von der Forschung bislang nicht registriert worden sind, liegt wohl daran, dass May – anders als zu Lebzeiten, da er von allen Bevölkerungsschichten gelesen wurde – heute allein der ‚Unterhaltungssparte’ zugeschlagen wird, mit der Lasker-Schüler als ‚Avantgardistin’ kategorial nichts gemein haben darf. So verortet Feßmann den poetologischen Terminus der ‚Spielfigur’, der Aspekte im Selbstverständnis beider Autoren trifft, primär anhand kanonisierter Autoren wie Jean Paul, Clemens Brentano, Alfred Jarry und Valéry (M. FESSMANN, Spielfiguren, S. 35 ff.). Der Begriff des ‚erschriebenen Ich’, den Gerhard Neumann für Mays Autorschaftsverständnis vorschlägt und als literarische „Bewahrheitung von Leben“ verstanden wissen will, korrespondiert zum Teil mit Feßmanns Konzeption, schlägt aber wiederum keinen Bogen zu Lasker-Schüler (G. NEUMANN, Das erschriebene Ich. Erwägungen zum Helden im Roman Karl Mays. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1987, S. 69-100, hier S. 86). Berman behandelt in ihrer Studie zum Orientalismus der Jahrhundertwende sowohl May wie Lasker-Schüler, fragt jedoch weder nach Gemeinsamkeiten beider Autoren noch nach dem Stellenwert des Rekurses auf Kolportage in qualitativ modernen Werken (N. BERMAN, Orientalismus, Kolonialismus und Moderne, S. 260 ff.). Als ‚orientalistischer’ Prätext, aber nicht mit Blick auf einen poetologischen Vergleich beider Autoren, wird May erwähnt bei S. KIRSCHNICK, Tausend und ein Zeichen, S. 75 ff. – Obwohl Lasker-Schüler lediglich in einigen Briefen aus dem Exil auf May anspielt, hat sie ihn zweifellos gekannt. Belegen lässt sich, dass Herwarth Walden sich im Zuge der Debatte um Mays angebliche Hochstapelei für ihn eingesetzt und im August 1910 einen Solidaritätsgruß an ihn geschickt hat, der u. a. von Kokoschka unterzeichnet war. Vgl. D. SUDHOFF, Über den Wunsch, Indianer zu werden. Karl Mays Spuren in der Literatur und Kunst der Moderne. In: Imaginäre Reisen, S. 251-262, hier S. 254.

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nur Beispiel eines übergeordneten Allgemeinen sein zu wollen. Die ‚angemaßten’ Doktor- und Adelstitel fordern das Privileg, das in der empirischen Wirklichkeit nur wenigen zukommt und dessen ästhetisches Zerrbild die bürgerliche Genie-Ideologie ist, als Allgemeines ein. Diese Sehnsucht, nicht die autoritäre Fetischisierung von ‚Größe’, zeichnet authentische Kolportage aus, deren „Pathos“ und „Überfülle“, wie auch Wolgast konzedieren muss, „einem lebendigen Bedürfnis“ entspricht.83 Nicht weil Kolportage sich in Ideologie erschöpft, sondern weil sie die ideologische Zurichtung der Individuen qua Erziehung zu sprengen droht, muss ästhetische Erziehung die „Genüsse“ immer aufs Neue „auswählen und regeln“.84 Besondere „Gefährlichkeit“ attestiert Wolgast der Indianergeschichte à la May: Den gewöhnlichen Lauf der Dinge gibt es für Karl May nicht; er hängt ein Abenteuer an das andere. Die in folgerichtiger Führung der Handlung [...] begründete Spannung in der Entwicklung ersetzt er durch Häufung von Abenteuern. Eine ungenierte Mischung von Zufall und Übermenschlichkeit des Helden motiviert und löst alle Konflikte.85

Andernorts heißt es, der „stoffhungrige Geist“ verzichte auf „vernünftige Kontrolle nach der Wirklichkeit“; seine bevorzugte Literatur biete „einen leckeren Bissen nach dem anderen“.86 Diese Kritik stößt sich nicht primär an der künstlerischen Anspruchslosigkeit der Werke, sondern an ihrem utopischen, subversiven Potential: Weil sie die Welt buchstäblich als Schlaraffenland darbietet, den „gewöhnlichen Lauf der Dinge“ außer Kraft setzt und „ungeniert“ Zufall und Abenteuer mischt, ist Kolportage begehrt. Negativ verweist diese Verurteilung auf das bürgerliche Prinzip von Triebunterdrückung, Verzicht und Nüchternheit, das jede Phantasietätigkeit „nach der Wirklichkeit“ kontrolliert und dessen ‚Folgerichtigkeit’ lediglich Spiegelbild des gesellschaftlich Immergleichen ist. Authentische Kolportage dagegen schwört ihre Leser nicht auf das Realitätsprinzip ein, sondern attackiert es im Modus evasorischer Phantasien, die nicht auf den Himmel des Transzendenten projiziert, sondern für real genommen werden: Es darf als sicher gelten, dass in der die Kindheit abschließenden Entwicklungsperiode, in der die Phantasie und neu erwachende Triebe so mächtig sind, die [...] Stoffe der Indianerbücher und Kolportageromane, weil sie durch keine Art der Kunst in eine reinere Sphäre gehoben sind, wie Beispiele aus dem Umgang wirken. Böse Gesellschaft verdirbt gute Sitten, und so tötet der Umgang 83 84 85 86

H. WOLGAST, Jugendliteratur, S. 23. Ebd. Ebd., S. 185 f. H. WOLGAST, Vom Kinderbuch, S. 20.

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mit den Zerrgestalten dieser Schundwerke das natürliche sittliche Empfinden und drängt den jugendlichen Geist in eine phantastische Stimmung, die einen vorzüglichen Nährboden für Ausschreitungen [...] abgibt.87

Die Metapher des ‚Umgangs’, die auf die ‚gierige’ Mischung von Leser und Lektüre und auf die Achtung der poetischen Figuren als reale zielt, begegnet erneut in Wolgasts Kritik der ‚Backfischliteratur’, wenn es heißt, der „Umgang“ mit einer „erlogenen Welt“ untergrabe die „Grundpfeiler der Sittlichkeit“.88 Kritisiert wird in Wahrheit gar nicht die ‚Erlogenheit’ der Kolportage, sondern die Tatsache, dass die ungerichteten „Triebe“ und Phantasien, die von hoher Kunst „in eine reine Sphäre gehoben“, mithin sublimiert, aber auch ungefährlich gemacht werden, von der Kolportage, die sie nicht in die Parallelwelt ästhetischen Scheins verbannt, entfesselt werden könnten. Gerade in der Kolportage kehrt so jener „poetische Glaube“ wieder, den Schlaffer als Kern des Enthusiasmus bestimmt: „Coleridges vielzitiertes Diktum, der ‚poetische Glaube’ erfordere die ‚freiwillige Aussetzung des Zweifels für einen Augenblick’ [...], enthält die kulturanthropologische Einsicht, dass einst geglaubt wurde, was wir heute nur noch für die verabredete Zeitspanne der ästhetische Illusion zu glauben bereit sind. Indem sie eine Ausnahme formuliert, verweist Coleridges Formel auf die Regel: Begegneten uns Vorstellungen, wie sie in der Poesie gang und gäbe sind, im praktischen Leben, so wäre es unsere intellektuelle Pflicht, sie zu bezweifeln.“89 Dieser Passus trifft ins Zentrum des in Wolgasts Formulierung vom ‚Umgang’ mit der Kolportage negativ Gemeinten: Während normierte Trivialliteratur und ‚hohe Kunst’ sich darin einig sind, dass der ‚poetische Glaube’ die Regeln des ‚praktischen Lebens’ immer nur für Augenblicke suspendieren darf, widerspricht die Kolportage dieser Diätetik und ruft den unverkürzten Wahrheitsgehalt des Enthusiasmus in Erinnerung, indem sie den realen ‚Umgang’ mit der Sphäre ästhetischen Scheins der Erfahrung zugänglich macht. May als Lehrer, Krimineller und Dichter scheint gerade in der ‚Gebrochenheit’ seiner Biographie die Möglichkeit eines solchen ‚Umgangs’ zwischen der Welt des Scheins und der Welt der Empirie zu verkörpern. Auf derlei „Großmäuligkeit“90 reagiert der Lehrer Wolgast mit einer Departementalisierung der Bücherwelt: Den „Papierläden“ des Grossobuchhandels, die Kolportageliteratur in billiger, aber gefälliger Aufmachung 87

88 89 90

Ebd., S. 93; Hervorhebung M.K. – Vgl. hierzu, ebenfalls mit Bezug auf Karl May, die positivere Beurteilung des gleichen Lektürephänomens durch S. BERNFELD, Zur Psychologie der Lektüre. In: Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse 3 (1915), S. 111, sowie R. STEINLEIN, Psychoanalytische Ansätze der Jugendliteraturkritik im frühen 20. Jahrhundert. In: Theorien der Jugendlektüre, S. 53-73. H. WOLGAST, Vom Kinderbuch, S. 102. H. SCHLAFFER, Poesie und Wissen, S. 42 f. H. WOLGAST, Jugendliteratur, S. 187.

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darbieten und in denen „die Indianergeschichten im grellbunten Umschlag“ ausliegen,91 sollen die „öffentlichen Leseeinrichtungen“ entgegengestellt werden, die der „schulentlassenen Jugend“ mittels preiswerter Volksausgaben die „literarischen Schätze“ der Nation schmackhaft machen.92 Auf die bunte Heterogenität der ‚Papierläden’, die eine kulturelle Zirkulation verkörpern, die sich nicht pädagogisch kontrollieren lässt, wird mit einer paternalistischen ‚Kultur für alle’ geantwortet, die doch immer eine ‚Kultur von oben’ bleibt. Das kollektive Glücksversprechen der Kolportage wird aufgespalten in die auratische ‚Ergriffenheit’, die den disziplinierten Leser für seinen Verzicht auf die Erfahrung des Enthusiasmus belohnt, und den passiven Konsum einer kompensatorischen Schundliteratur, die jeden Wahrheitsgehalt eingebüßt hat. Verdinglicht und neutralisiert, reflektieren sich ‚gute’ und ‚schlechte’ Literatur nur mehr wechselseitig als zerbrochene Hälften eines Dritten, das im Massenkonsum wie im literarischen Kanon allenfalls als Ideologie überlebt. Auf die Verwirklichung dieses Dritten zielt, mit unterschiedlicher Akzentuierung, Lasker-Schülers gesamtes Werk.

c) Offene Läden: Kolportage, Handel, Phantasie Lasker-Schülers Abneigung gegen jede Form von kulturellem Paternalismus äußert sich in einer euphorischen Begeisterung für Läden und Warenauslagen, die nicht mit blinder Affirmation der Konsumsphäre verwechselt werden sollte. Im Essay „Stadt, Buch und Läden“ von 1929, worin sich die Rekurse auf Kindheit, Trivialität und Popularität exemplarisch verschränken, heißt es: Bücher bedeuten für mich Städte, Städte Bücher, leere und lebensreiche. Und da das Buch mir eine ganze Stadt entfalten kann, mit Strassen und Läden und Menschen, die vor ihrem Schaufenster stehenbleiben, genügt mir schon das Buchhändlerlexikon mit der Anzeige neuerschienener Bücher. [...] Nicht der Handel allein lockt den Menschen in die Grossstadt oder gar die vielerlei Vergnügungen, aber der mächtige Atemschlag, die gewaltige Bewegungsmöglichkeit, der Austausch des spannenden Gaukelspiels seiner pulsierenden Gedanken und Gefühle. Wie jede Stadt einem Gulliver ein Riesenspielzimmer bedeutet, enthält selbst das wissenschaftlichste Buch seines Autors Spielsachen. Er stellt gedruckte Schau aus. Doch nicht bei jedem Buche trifft es zu, dass es sich um des Schreibers erwachsene, gereifte Spielsachen handelt, oft leider nur um übertünchte, zurückgebliebene. Darum begeistern sich gerade die bedeutenden 91 92

Ebd., S. 168 f. H. WOLGAST, Vom Kinderbuch, S. 95. – Zur Kritik am Grossobuchhandel ebd., S. 60 ff. Einen Überblick zur Entwicklung des populären Buchhandels seit dem 18. Jahrhundert vermittelt R. SCHENDA, Volk ohne Buch, besonders S. 186 ff.

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Dichter an der noch ungefälschten, schlichten Kindlichkeit des Volksliedes. [...] Ein Zwischending der Stadt und dem Buch ist der Laden. Im Grunde ist jeder Laden ein Spielzimmer. Sein Schaufenster, das grosse Guckloch, sein spielerisch dekoriertes Willkommen. [...] Und schon der Mitteilende – legt aus, ausbreitet seine Habseligkeiten. In einem Buche allerdings befleissigt sich der Niederschreibende, methodisch die Dinge und Undinge nebeneinander zu vereinen. Steht auch kein Preis auf jedem seiner Worte, so fordert er für seine Hingabe – Verständnis. Er legt seine Produktion, manchmal aber auch die aus fremder Bezugsquelle, [...] auf den Spielplatz des Marktes. Ja, die Spielsachen sind wohl die Hauptsachen der Welt, die fassbaren und die unberührbaren. Die Honorare sind es nicht, die man meist nicht einmal erhält. Die Flut des Talentes ist es, die die Muscheln und Korallen über den Rand unserer Lippen schleudert. Der angestellte Vermittler der Spielläden unserer Spielsachen ist der Verleger – – – bei uns klingelt es nur. (4.1, 171 f.)

Dieser Taumel der Verdoppelungen und Vertauschungen, dessen exemplarische Bedeutung für Lasker-Schülers Poetik bisher nicht erkannt worden ist, lässt sich weder durch den kulturwissenschaftlichen Gemeinplatz von der ‚Stadt als Text’ noch durch Kritik an einer vermeintlichen Fetischisierung der Warensphäre abtun. Einer orthodox marxistischen Kritik der Warenästhetik wie der von Wolfgang Fritz Haug, die „das Ästhetische der Ware“ nur als deren „Gebrauchswertversprechen“ zu fassen vermag, das sich zwar als ideologischer Schein „von der Sache ab[löst]“, aber eben dadurch ausschließlich als „Träger einer ökonomischen Funktion“, als Kompensation für gesellschaftlich verlangte Versagung in den Blick gerät,93 müsste solch emphatische Feier des ‚Ladens’ als „Spielzimmer“ fast zwangsläufig als wüster Ästhetizismus erscheinen, der die reale Warenförmigkeit kultureller Produktion verschleiert. Indes handelt es sich im Gegenteil um den Entwurf einer ‚Warenästhetik’, die nicht die Ästhetik der Warenform dienstbar macht, sondern den Warencharakter von Literatur aufzuheben sucht. Die Verwandlung des Schaufensters zum „Guckloch“, des Marktes zum „Spielplatz“ und des Verlegers zum „Vermittler der Spielläden“ erhebt im Namen der Autonomie poetischer Phantasie Einspruch gegen eine Sichtweise, die – sei es auch im Dienste ‚unterdrückter Bedürfnisse’ – den an den Objekten haftenden ästhetischen Schein a priori auf seine Kompensationsfunktion reduziert und den ‚Warenhunger’ als neurotische Gier begreift, die durch Auflösung ihrer „scheinhaft verdrehte[n] Form“ auf den materialistischen Boden der Tatsachen heruntergeholt werden muss.94 93 94

W. F. HAUG, Kritik der Warenästhetik. Frankfurt/M. 1971, S. 16 f. W. F. HAUG, Wirkungsbedingungen einer „Ästhetik von Manipulation“. In: ders. (Hg.), Warenästhetik. Beiträge zur Diskussion, Weiterentwicklung und Vermittlung ihrer Kritik. Frankfurt/M. 1975, 154-173, hier S. 170. – Zum Begriff des ‚Warenhungers’ vgl. R. PARIS, Kommentare zur Warenästhetik, ebd., S. 84-96.

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Gegen eine solche Sichtweise, die in ihrer normativen Unterscheidung zwischen ‚richtigen’ und ‚falschen’ Bedürfnissen allem revolutionären Impetus zum Trotz den sozialdemokratischen Paternalismus eines Wolgast reproduziert,95 macht Lasker-Schüler eine anarchische Phantasie geltend, die die Glückversprechen des ‚Ladens’ kindlich ernstnimmt und dadurch über sich hinaustreibt. Poetologische Grundfigur des Textes ist der Laden als intermediärer Raum – als „Zwischending“ –, der sich eben nicht auf ein bloßes Mittel zur Präsentation von Waren reduzieren lässt. Fungiert der Laden für den pragmatisch verengten Blick gewöhnlich als bloße Vermittlungsinstanz zwischen verdinglichten Waren und passiv konsumierendem Publikum, wird er hier zum autonomen Schauplatz einer lebendigen Transfusion von Realität und Poesie, die den Teilnehmern keinen quantifizierbaren Betrag, sondern den „Preis“ der „Hingabe“ abverlangt. Die Transformation des Buchs zur Stadt, der Stadt zum Buch und des Buchs zum Laden zielt nicht auf einen verwaschenen Textualitätsbegriff, dem jedes kulturelle Phänomen als zu lesender ‚Text’ erscheint, sondern hebt die Trennungen zwischen Buch, Autor, Leser und Gesellschaft auf, die das bürgerliche Verständnis von Literatur konstituieren,96 indem sie literarische Produktion und Rezeption als geregelten Verkehr zwischen den getrennten, aber aufeinander bezogenen Sphären von Autor, Markt und Publikum ermöglichen. Diese Departementalisierung und Entfremdung der verschiedenen Segmente des ‚literarischen Feldes’, die gerade der mittlerweile so beliebte Kulturmarxismus eines Pierre Bourdieu haltlos fetischisiert,97 wird bei Lasker-Schüler aufgekündigt, ohne dass Phantasmen von 95

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Laut Haug ist es Aufgabe des Kritikers, „eine Übersetzungssprache zu entwickeln, die [...] sich mit dem Ausgebeuteten verbündet und ihm auf die Sprünge hilft“, indem sie ihm „erklärt, dass es ganz berechtigte, wenn auch unter den gegebenen Bedingungen niedergetretene Bedürfnisse“ seien, die im Modus ästhetischen Scheins „kompensatorisch“ befriedigt würden (W. F. HAUG, Ästhetik der Manipulation, S. 170; Hervorhebung M.K.). Angesichts eines solchen Selbstverständnisses des Kritikers als kultureller Sozialhelfer überrascht es nicht, wenn Haug im selben Zusammenhang ein abschätziges Diktum Hanns Eislers über die Begeisterung der „bürgerliche[n] Jugend“ für „Indianergeschichten“ zustimmend zitiert (S. 167 f.). Meike FESSMANN, Spielfiguren, hat diese Kritik am bürgerlichen Autorschaftsmodell ausführlich expliziert. Siehe auch G. PLUMPE, Eigentum – Eigentümlichkeit. Über den Zusammenhang ästhetischer und juristischer Begriffe im 18. Jahrhundert. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979), S. 175-196. Der Ansatz von Plumpe wird nicht in Frage gestellt durch die Präzisierungen, die daran aus rechtsgeschichtlicher Perspektive vorgenommen werden von G. LAUER, Offene und geschlossene Autorschaft. Medien, Recht und der Topos von der Genese des Autors im 18. Jahrhundert. In: H. DETERING (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen (=Germanistische Symposien XXIV). Stuttgart, Weimar 2002, S. 461-478. Bourdieus Analyse der Ökonomie kultureller Güter ließe sich lesen als Versuch, die von den marxistischen Kritikern der Warenästhetik in den Blick gerückte Funktion des ästhetischen Scheins für die kapitalistische Warenzirkulation durch eine Untersuchung

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unentfremdeter ‚Gemeinschaftlichkeit’ schlicht an ihre Stelle treten. Die Handelssphäre wird nicht durch Rekurs auf vermeintlich authentische Formen unmittelbaren Tauschs regressiv durchbrochen, sondern als Ermöglichung von „Vergnügungen“, „Austausch“, „Bewegung“ und „Gaukelspiel“ in ihrem „mächtige[n] Atemschlag“ und ihrer ‚lockenden’ Kraft euphorisch bejaht. Großstadt und Läden verkörpern insofern jene dehierarchisierte, ‚bunte’ Zirkulation, die bei Wolgast mit dem Bild der ‚Papierläden’ im Namen eines paternalistischen Kulturverständnisses diffamiert wird. Entscheidend ist indes, dass diese Aufwertung der Handelssphäre nicht in eine undialektische Verklärung von Kolportagehandel und Massenkonsum umschlägt, sondern die Metapher vom ‚Spiel der Marktkräfte’ wörtlich nimmt, indem der Laden in einen Kaufmannsladen zurückverwandelt wird und die „Spielsachen“ zu den „Hauptsachen der Welt“ erklärt werden. Erscheint dem ideologiekritischen Blick das kindliche Kaufmannsladenspiel gewöhnlich nur als spielerische Einübung in die Logik des Handelskapitalismus, so wird bei Lasker-Schüler durch die Verwandlung des Ladens zum „Spielzimmer“ eben jene Logik außer Kraft gesetzt. Die Szenerie des Kaufmannsladens, die den bürgerlichen der sozialen Funktionalität ästhetischer Differenzen innerhalb ‚hochkultureller’ Zusammenhänge zu ergänzen. Aus dieser Perspektive, die ihre soziologische Berechtigung hat, erscheinen stilistische und ästhetische Unterschiede freilich ausschließlich als soziale und ökonomische Distinktionsleistungen. Einer solchen Theorie, die noch die emphatischsten Konzepte ästhetischer Autonomie tendenziell auf Formen von ‚Selbstmarketing’ herunterbringt, muss sich „populäre Ästhetik“ konsequent als Versuch darstellen, „zwischen Kunst und Leben einen Zusammenhang zu behaupten“ – und nicht etwa, einen solchen lebendigen Zusammenhang jenseits der Warenlogik tatsächlich zu verwirklichen. Dass Kunst ernsthaft den Anspruch anmelden könnte, die von seinen Analysen stets schon supponierte Marktförmigkeit des kulturellen Feldes aus eigener Dynamik heraus aufzuheben, übersteigt Bourdieus Vorstellungskraft. Sein Selbstverständnis als Ethnologe der eigenen Kultur führt ihn bei seiner Hinwendung zur Spezies der Unter- und Mittelschichten denn auch zu dem Urteil: „Woran sich das populäre Publikum in Film und Theaterstück delektiert, das sind logisch und chronologisch auf ein happy end hin angelegte Intrigen; worin es sich ‚wiederfindet’, sind die einfach gezeichneten Situationen und Charaktere“ (P. BOURDIEU, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. 1982, S. 64). – Bourdieu reproduziert damit nicht nur die seit mehr als einem Jahrhundert gerade unter ‚Linken’ verbreiteten Vorurteile gegen die konsumistischen ‚Massen’, sondern fragt überhaupt nicht mehr, welche Impulse sich in der Sehnsucht nach happy ends aussprechen und welche ästhetische Relevanz „einfach“ gezeichnete Situationen und Charaktere in populären Genres wie Märchen, Kalendergeschichte oder Abenteuerroman haben können. Während Adorno und Horkheimer ihre gern als elitär geschmähte Kritik der Kulturindustrie evidentermaßen im Namen jener ‚Massen’ und zur Beförderung der Freiheit jedes Einzelnen von ihnen unternommen haben, reduziert sich die sozialpsychologische Dynamik des Massenkonsums bei Bourdieu auf einen „vorgefassten Entschluss zu ‚Naivität’, Offenheit und Leichtgläubigkeit“ (S. 65), erscheint also als Produkt einer freien Willensentscheidung.

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Warenhandel selbst als Spiel inszeniert, ist nicht dessen infantile Vorform, sondern sein in die Kindheitssphäre gebanntes Gegenbild, das durch die fetischistische Reduktion des spielerischen Tauschs zum Äquivalenztausch verdrängt wird. Sie evoziert jene autonome, mit den pädagogischen Zwecksetzungen gerade nicht identische Praxis kindlichen Spiels, die die Spielmaterialien nicht benutzt, sondern verwandelt und die offenbar auch in der bürgerlichen Wirklichkeit der Kinder stets ihren lebensweltlichen Platz gehabt hat.98 Indem sie ganz wie beim Kaufmannsladen das Klingeln der Münzen für wichtiger als den Geldwert des Honorars erachtet, das „Schaufenster“ als „dekoriertes Willkommen“ preist, davon spricht, dass jeder Autor „gedruckte Schau“ ausstelle und seine „Spielsachen“ vor dem Leser auslege, hebt LaskerSchüler genau jenes Moment der Exhibition, des Dekorativen, Ornamentalen und ästhetisch Überschüssigen hervor, das Wolgast am „Literaturramsch“ kritisiert, wenn er den Grossobuchhandel mit „Galanterie- und Kurzwaren“ gleichsetzt und das „in bunten Farben“ gehaltene „Deckelbild“ als „Täuschung“ und Spekulation auf den „Schauer der Sensationslust“ verurteilt.99 Der sich an die Waren heftende ästhetische Schein, den Wolgast in Übereinstimmung mit der marxistischen Kritik der Warenästhetik als Ideologisierung denunziert, gewinnt eine Autonomie, die den Warencharakter, den er verdecken soll, überschreitet – auch in diesem Sinn werden die ‚Spielsachen’ zur ‚Hauptsache’. Indem sie die ‚gedruckte Schau’ und die „erwachsene[n], gereifte[n] Spielsachen“ gegen eine „übertünchte“ und „zurückgebliebene“ Kunst abgrenzt und demgegenüber die „Kindlichkeit des Volksliedes“ beschwört, sperrt sich Lasker-Schüler jedoch zugleich gegen jede blinde Verklärung der Warensphäre. Während kulturindustrielle Massenkunst die ‚Tünche’ als ästhetisches Komplement zur Ware fetischisiert und dadurch ‚zurückbleibt’, auf passiven Konsumismus regrediert, lebt in der ‚gedruckten Schau’, mit der die Tradition der Schausteller und Bänkelsänger evoziert ist, auch der Impuls der Volksund Kinderlieder fort, die nicht zur Ware gerinnen können, weil sie nie dem

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Weber-Kellermann kommt bei ihrer Untersuchung verschiedener Erinnerungen an Kinderspiele aus Autobiographien des 19. und 20. Jahrhunderts zu dem Schluss, dass die realen Spielregeln der Kinder selten mit den pädagogisch vorgegebenen Regeln der Spiele übereinstimmen: „Von den Spielenden her gesehen sind die Spiele pädagogisch zweckfrei, d. h. sie haben die Zwecke, die die jugendlichen Akteure ihnen zumessen. […] Es wäre aufschlussreich, könnte man die Wechselwirkung zwischen der Elternund Schulwelt und ‚meiner anderen Welt’ […] wenigstens in Stichproben erschließen.“ (I. WEBER-KELLERMANN, Die Kindheit, S. 229). – Exakt dieser Logik einer Verwandlung der ‚Ladenwelt’ in ‚meine andere Welt’, welche jene voraussetzt, aber nicht reproduziert, folgt Lasker-Schülers Imagerie. H. WOLGAST, Vom Kinderbuch, S. 61.

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lebendigen Gebrauch entzogen worden sind.100 Der Laden erscheint mithin sowohl als Gegenbild zur kulturindustriellen Warentheke wie zur bürgerlichen Bibliothek und stellt sich in seiner Verbindung mit der Sphäre kindlichen Spiels als Ort der Sammlung im Sinne Benjamins dar. In dem Essay „Ich packe meine Bibliothek aus“, einem Teil der Denkbilder, hebt Benjamin es als charakteristisch für die Buchsammlung hervor, dass sie die „Langeweile der Ordnung“ nicht kenne und Heterogenstes in ihr „gewohnte[s] Durcheinander“ zu integrieren wisse.101 Gerade als Exemplare seien ihr die einzelnen Bücher mehr als nur Beispiele eines Allgemeinen, worin sich „das Kindhafte“ an der Liebe zum Sammelsurium zeige: Die Kinder nämlich verfügen über die Erneuerung des Daseins als über eine hundertfältige, nie verlegene Praxis. Dort, bei den Kindern, ist das Sammeln nur ein Verfahren der Erneuerung, ein anderes ist das Bemalen der Gegenstände, wieder eines das Ausschneiden […] und so die ganze Skala kindlicher Aneignungsarten vom Anfassen bis hinauf zum Benennen.102

Im Sinne einer solchen permanenten „Erneuerung des Daseins“, die noch keinen Gegensatz zwischen „Anfassen“ und „Benennen“, zwischen sinnlicher Anschauung und Begriff kennt und sich die „Gegenstände“ lebendig aneignet, ist Lasker-Schülers Bild des Ladens zu verstehen. Wenn das Buch als ‚Laden’ begriffen wird, in dem sich die eigene Produktion mit solcher „aus fremder Bezugsquelle“ mischt, der aber auch von anderen ‚begangen’ werden kann, wird die bürgerliche Fetischisierung von ‚Eigentümlichkeit’ ebenso abgewiesen wie die Ideologie demokratischen Massenkonsums, die den ästhetischen Schein, wie Adorno und Horkheimer im „Schema der Massenkultur“ präzise konstatieren, zum „an die Waren zediert“, verdinglicht und seine kritische „Differenz zum praktischen Leben“ kassiert.103 Bei Lasker-Schüler dagegen 100

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Dass sich Lasker-Schüler in ihrer poetischen Formsprache dennoch nirgends unmittelbar an das romantische Verständnis von Volkspoesie anlehnt, zeugt von ihrem Bewusstsein, dass sich der Volksbegriff der Romantik im Zeitalter der Massenkultur eben nicht durch ungebrochene Adaption romantischer Formen revitalisieren lässt. Siehe dagegen die allzu simple Ableitung von Lasker-Schülers Poetik aus romantischen Prämissen bei B. HINTZE, Else Lasker-Schüler. – Zur ‚Erfindung’ der Volkspoesie im 18. Jahrhundert F.-J. DEITERS, Das Volk als Autor? Der Ursprung einer kulturgeschichtlichen Fiktion im Werk Johann Gottfried Herders. In: Autorschaft, S. 181-201. Den dezidiert staatskritischen Impuls des romantischen Volksbegriffs betont M. FRANK, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie I. Frankfurt/M. 1982, S. 153 ff. W. BENJAMIN, Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln. In: ders., GS IV.1, S. 388-396, hier S. 388. Ebd., S. 389f. Vgl. T. W. ADORNO, GS 3: Dialektik der Aufklärung, S. 299 ff., hier S. 299. – Anders als das Vorurteil es will, wird in der Dialektik der Aufklärung genau unterschieden

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wird jene Differenz des an den Objekten haftenden Scheins zum Bereich der Empirie gerade ernstgenommen und über sich hinausgetrieben: Statt bloße Objekte und Medien von Konsum zu sein, verdoppeln sich Buch, Laden, Schaufenster und Stadt wechselseitig in einer Bewegung, die dem Begriff des Handels durch Verräumlichung und Konkretisierung seinen lebendigen Gehalt zurückgibt. Das „Buchhändlerlexikon“ ist keine bloße Warenanzeige, sondern kann wie der Laden und das Schaufenster zum begehbaren Ort werden. Die Grenzziehungen zwischen Leser, Werk, Autor und Gesellschaft, die die Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur regulieren, werden unterminiert, das ‚Buch’ wird von seinem privativen Objektstatus befreit. Konsequent beschreibt Lasker-Schüler den Blick durch das Schaufenster als ein Sammeln mit den Augen, das den Akt des Kaufens nicht kompensiert, sondern im vollen Sinn an deren Stelle tritt: Selten möchte ich dieses oder jenes mir erstehen, denn – ich habe es ja, ich habe es angesehen. Und wie man gerne ab und zu einen Schmöker liest, so liebe ich auch die anspruchslosesten Ladenfenster primitiver Läden klirrend umzublättern. […] Es gibt ja soviel Läden, was brauch’ ich einen Bücherschrank! (4.1, 172)

Der anti-akademische Impetus, mit dem hier im Namen einer ‚anspruchslosen’ Populärkultur und eines ‚schmökernden’ Lesens gegen den „Bücherschrank“ polemisiert wird, stellt der bürgerlichen Fetischisierung von ‚Kultur’ und ‚Geist’ nicht Massenkultur und Kolportage dichotomisch gegenüber, sondern betrachtet den ‚Laden’ als Übergangsraum, der immer wieder durchquert und neu belebt werden muss. Eben dieser intermediäre Status des ‚Ladens’ korrespondiert mit Winnicotts Beschreibung des ‚Übergangsraums’ als Bereich, in dem – gerade weil sich die Trennung zwischen Außen- und Innenwelt noch nicht zu starren Subjekt-Objekt-Relationen verfestigt hat – „Kulturerfahrung ‚stattfindet’“.104 Der bürgerlichen Realität von Kultur als Warenhandel wird nicht mit einem illusionären Gegenbild begegnet, sondern mit der „Übereinkunft“, die strikte Dichotomie von Realität und Phantasie nicht zu akzeptieren: „Wichtig ist, dass eine Entscheidung in dieser Angelegenheit nicht erwartet

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zwischen den kritischen und ideologischen Potentialen populärer Kunstformen. So heißt es im „Schema der Massenkultur“ zur Dialektik des Kitsches, der „Hass“ auf diesen werde in der Kulturindustrie „zu seinem eigenen Element gemacht“: „Sentimentalität wird des Unwahrscheinlichen entkleidet, der ohnmächtig rührenden Utopie, die für einen Augenblick die Verhärteten erweichen […] könnte“ (S. 306). – Eben dieses ‚ohnmächtig Rührende’ des in den Waren sedimentierten Glücksversprechens wiederzugewinnen, ist das Ziel der Verwandlung des ‚Ladens’ zur ‚Sammlung’ bei LaskerSchüler. D. W. WINNICOTT, Vom Spiel zur Kreativität, S. 124.

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wird. Die Frage taucht gar nicht erst auf.“105 Diese „Übereinkunft“, die Winnicott als Voraussetzung kindlichen Spiels beschreibt, wird bei LaskerSchüler zum Pakt zwischen Autor, Figuren und Publikum, der eben diese Rollenverteilung zugleich aufhebt. Die Metapher vom ‚klirrenden Umblättern’ der als Buchseiten vorgestellten Ladenfenster und die Bezeichnung des Schaufensters als „dekoriertes Willkommen“ zielen auf eine Ästhetik der Gastlichkeit, die nicht nur den Status des Buches als ‚Werk’, sondern auch die individualistische Verkapselung des Autors als ‚Schöpfer’ und des Rezipienten als ‚Leser’ aufbrechen möchte, ohne sie ihrerseits einem heteronomen Konzept von ‚Volkskunst’ zu unterwerfen. Der Isolierung und Segmentierung von Autor, Werk und Leser, wie sie der bürgerlichen Genieästhetik zugrunde liegt, wird in der Formulierung von der „Flut des Talentes“, die „Muscheln und Korallen über den Rand unserer Lippen schleudert“, mit einem Verständnis von poetischer Schöpfung als kollektiver Phantasieproduktion begegnet, das einzulösen versucht, was das bürgerliche Originalitätsideal nur verspricht. Als „Muscheln“ und „Korallen“ sind die poetischen Worte kein bloßer Widerschein schöpferischer Originalität, sondern subjektfremde Fundstücke, die verschleudert, an den Leser verschenkt werden, der sie im Sinne Benjamins sammeln soll. Dieses Konzept von poetischer Produktion als ‚Verschleuderung’ von ‚Talent’ richtet sich nicht nur gegen die bürgerliche Diätetik des Enthusiasmus, sondern auch gegen die konservative Abwehr der Massenkultur, deren ‚Läden’ allererst den Ausgangspunkt des poetischen Tauschs bilden. Weil Kunst als immer schon warenförmige der Kolportage nur um den Preis ästhetischer Regression entgehen kann, muss sie sich auf deren Wunschund Glücksphantasien einlassen und sie über sich hinaustreiben. Die poetische ‚Gemeinschaft’, auf die diese Ästhetik des Schenkens und Verschwendens zielt, verwirklicht sich nicht etwa gegen die Gesellschaft, sondern durch deren kulturelle Manifestationen hindurch. Die ‚Indianer’ der Kolportage sind keine Sinnbilder für das archaische ‚Andere’ der Warengesellschaft, sondern der in deren eigenen Produkten sedimentierte utopische Überschuss, der darauf wartet, freigesetzt zu werden. Wie sich für Benjamin die Phantasie des Kindes an den Gebrauchsspuren der Bücher entzündet, werden bei Lasker-Schüler Markennamen und ‚Verpackungen’ zum Ausdrucksträger poetischer Imagination: Rosen, Nelkenseifen, weiss und lila Flieder Liegen waschgerecht in sauberen Schachteln immer wieder. Zwischen Kitschodeuren und Lavendel Pflegt man zu verpacken allerhändl, Für den Schauenden zum Zeitvertreib. In den Tagen unserer Osterzeit Schäumen Osterhasen gar nicht teuer, 105

Ebd., S. 23.

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Besen, Scheuertücher, „Liebgeruch“ für Tante Meier, Pinsel mit und ohne Stiel Und zur Seite ihnen Lux und auch Persil, Soda, Wichse, beinah viel zu viel, Nippes sind mir all die primitiven Dinge, und ich wand’re weiter und ich singe. (4.1, 172)

Die ästhetisierenden ‚Zugaben’ wie Verpackungen, „Schachteln“, Blütendüfte und klangvoll-traditionsreiche Markennamen (Lux, Persil), die den Warencharakter der Objekte verschleiern und den massenhaft produzierten Konsumgütern den Schein des Exquisiten verleihen sollen, werden – ganz im Sinne der skizzierten ‚Schau-Kunst’ – zur Hauptsache gemacht. Die Attribute von Luxus, Überfluss und Reinheit, die den Konsumgütern als nachfragesteigerndes Etikett angeheftet sind, gewinnen Autonomie und transformieren die Accessoires des kleinbürgerlichen Haushalts – Seife, Eau de Toilette, Wasch- und Putzmittel – in eine Sammlung poetischer Glücksversprechen, deren utopischer Gehalt ihre ideologische Funktion überstrahlt. Eben dieses Moment der Autonomisierung des ästhetischen Scheins gegenüber seiner bloß ideologischen Funktion wird wiederum von Bloch getroffen, wenn er es als charakteristisch für Kolportage beschreibt, dass sie „nicht nur Flucht und widerlichstes Falsifikat“ sei, sondern „die Mythen, die der Kapitalismus zerstört hat, nochmals durch vollendeten ‚ästhetischen’ Nicht-Ernst an ihnen“ ver- und eben dadurch auch entzaubere.106 Die zwanghafte Perpetuierung des Mythos durch eine Gesellschaft, die seiner sozialen Geltungskraft längst den Boden entzogen hat, wird gerade durch die ‚Vollendung’ des ästhetischen Scheins durchbrochen, die ihn freisetzt und von seinem nur funktionalen Status loslöst. Durch dieses „zu viel“ ästhetischen Scheins, das dessen ökonomische Funktionalisierung sprengt, verwandeln sich die Träume in Lasker-Schülers Gedicht buchstäblich in Schäume und werden wirklich: Der „’Liebgeruch’ für Tante Meier“ erscheint nicht mehr als ärmliche Kompensation für den real entbehrten Luxus eines glanzvollen Lebens, sondern bewahrt die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Zustand, der auch „Tante Meier“ die Glückserfahrung eines allgemein gewordenen und daher ihr gemäßen Privilegs gewährt. Dieses keineswegs affirmative, aber eben auch nicht regressiv abwehrende Verhältnis zur Warensphäre wird in den letzten Zeilen auf den Punkt gebracht: Eben weil „all die primitiven Dinge“ dem poetischen Subjekt „Nippes“ sind, werden sie nicht als bloße Kompensation versagten Glücks fetischisiert, sondern können gleichsam im Vorübergehen („ich wand’re weiter“) wie kuriose Fundstücke gesammelt und zum Material einer Poesie gemacht werden, in der sich kalauernde Improvisation und ‚Gesang’ verschränken, die mithin keinerlei sicheren 106

E. BLOCH, Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage. In: ders., WA 4: Erbschaft dieser Zeit, S. 372-380, hier S. 373.

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Besitzstand kennt, ihn aber auch nicht neidisch entbehrt. So werden die ‚Läden’, die Wolgast durch pädagogische Literaturverwahranstalten ersetzen wollte, einer poetischen Aneignung geöffnet, die mit den Versprechen, mit denen die Massenkultur nur lockt, ernstmachen will.

2. Phantasie, poetische Subjektivität und Gemeinschaft a) Kompensatorische und lebendige Phantasie (Bloch, Freud) Wenn Lasker-Schüler die Topographie der Auslage und des Ladens zum Signum ihres Konzepts einer nicht-hierarchischen populären Kunst macht, wertet sie eine Sphäre auf, die in Ernst Blochs Typologie populärer Wunschbilder interessanterweise abqualifiziert wird. Seinem Lob der Kolportage im Kontrast zur kulturindustriell normierten Magazingeschichte stellt er im Prinzip Hoffnung ein Kapitel voran, das die „beleuchtete Auslage“ als ideologisches Gegenstück zur Kolportage beschreibt.107 Darin heißt es: Die Auslage ist erst mit dem offenen kapitalistischen Markt entstanden, und sie trägt, bezeichnenderweise am meisten im Westen, immer noch die Eigenschaft: Bedürfnisse zu erregen [...]. Die gute Auslage muss darum suggestiv sein, setzt allemal Teile fürs Ganze und die Teile selbst wieder als bloß andeutende [...]. An jeder Ecke formt so das Schaufenster Wunschträume […]. Und keiner versteht sich besser auf diese Art Träume als der Dekorateur, der ihre Auslagen ordnet. Er stellt nicht nur Waren aus, sondern das Lockbild, das zwischen Mensch und Ware entsteht [...]. Unruhig, gewiss, jedoch nicht aufsässig gemacht [...] bejaht der Kleinbürger gerade vor den ihm unerschwinglichen Auslagen den eleganten und lobenswerten Anblick, zu dem die Herren ihr Leben formen.108

Mit Rücksicht auf die sozialistische Aversion gegen den „offenen kapitalistischen Markt“ und den „Westen“, aber wohl auch auf die gesamtdeutsche Abneigung gegen ‚Lockbilder’ von Luxus und Genuss, dementiert Bloch im Hinblick auf die Auslage jenes utopische Potential ästhetischer Bedürfnisstimulation, das er sonst programmatisch als Movens des ‚antizipierenden Bewusstseins’ in Anspruch nimmt. Auch die bei Bloch immer wieder begegnenden Motive des Lichts und des Glanzes als Bilder des über sich selbst hinauswei-

107 108

E. BLOCH, WA 5: Das Prinzip Hoffnung I, S. 397. Ebd., S. 398 f.

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senden ästhetischen Scheins werden pejorativ gewendet, wenn es über das „Licht der Reklame“ heißt: Die gezeichnete und gesprochene Auslage, die große Glocke ihrer heißt Reklame. Sie besonders verwandelt den Menschen ins Heiligste, was es neben Eigentum gibt, in den Kunden. Auch frühere Länder, andere als kapitalistische hatten eine Art Reklame, doch sie war mehr zufriedenes Selbstlob als Mittel im Erwerbskampf. Sie übersprang, sie ironisierte sogar die Ware […]. Bereits im alten Peking gab es folgende Firmenschilder: über einem Korbgeschäft „Die zehn Tugenden“; über einem Opiumladen „Die dreifache Rechtschaffenheit“ […]. Doch das sind Gedichte, nicht Kassenmagnete, wenn sie auch als Lockung und sozusagen Übertreibung lange der kapitalistischen Reklame vorhergehen. Noch schöner als der Dekorateur spielt nun der Reklamefachmann auf dem Klavier der Wunschträume […]. Es entstehen nun atlantische Schlager wie […] Call for Philipp Morris; Purity and a big bottle, that’s Pepsicola […]. Die Reklame macht aus der Ware, auch aus der beiläufigsten, einen Zauber, worin alles und jedes gelöst ist, wenn man sie nur kauft. Die Dame der Zeichnung, die Kölnisch Wasser auf die Schläfen tupft, […] ist eben dadurch die Glücklichgewordene schlechthin.109

Erscheint Blochs Unterscheidung zwischen Magazingeschichte und Kolportage zumindest insofern sinnfällig, als erstere ihrer immanenten Ideologie entsprechend das „Wohlgefällige“ privilegiert und sich mit einem „Zaunblick“ in die Welt der besseren Kreise begnügt,110 während die Kolportage Fluchtphantasien der Fremde inszeniert, blendet seine Beschreibung von Auslage und Reklame jeden möglichen Überschuss der ‚ausgestellten Wunschträume’ zugunsten der Kritik an deren falschem Schein aus. Im Rahmen einer Analyse der alltagspragmatischen Funktion von Reklame und Warenauslage mag dies triftig sein; ignoriert wird dabei jedoch das Moment der Exhibition und des eben nicht nur funktional Dekorativen, das Lasker-Schüler an Auslagen und Schaufenstern so sehr fasziniert. Indem er die ‚Zerteilung’ und das Arrangement der zum Bild gewordenen ‚Träume’ durch den ‚Dekorateur’ betont, also auf die konstruktiven Eingriffe zwecks Exponierung der Waren abhebt, erlaubt es Bloch dennoch, das Prinzip der ‚Zur-Schau-Stellung’ selbst als mögliche Spielart der „Traum-Montage“ zu begreifen.111 Die von Bloch bevorzugten altchinesischen Firmenschilder sind selbst nichts anderes als Montagen, die die ausgestellten Waren nicht ideologisch verdoppeln, sondern sie ‚ironisieren’ und ihnen eine über die Warenform hinausweisende Dimension verleihen. Gleiches kann jedoch prinzipiell auch mit Reklamebildchen für Philipp 109 110 111

Ebd., S. 400 f. Ebd., S. 408 f. E. BLOCH, Über Märchen, Kolportage und Sage, S. 177.

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Morris oder Kölnisch Wasser geschehen, sofern sie – wie bei Lasker-Schüler – als Nippes, als fremde, partikulare Fundstücke zu einem Stegreiflied montiert werden, das mit seinen holprigen Reimen die gehaltlose Glätte konventioneller Werbereime parodistisch aufbricht und so die durch die Reklame deformierten, aber auch wachgehaltenen Wunschphantasien erneut zu ihrem Recht kommen lässt. Lebendige und stereotype Phantasiebilder stehen sich also nicht dichotom gegenüber; vielmehr ist die lebendige Phantasie selbst als Arbeit an den Bildern kompensatorischer Phantasie zu verstehen. Elisabeth Lenk hat diese Dialektik in ihrer Studie zur mimetischen Struktur des Traums ausgezeichnet herausgearbeitet: „Die lebende Phantasie ist der ewige Widersacher von kollektiven Bildern, und umgekehrt gibt es nichts, was die Phantasie gründlicher lähmen und einengen könnte als das unbeweglich gewordene, mit sich identische Bild. Es bedarf dann schon einer Explosion, um die ehemalige Beweglichkeit wiederzufinden. Eine solche Explosion, die die Kraft hatte, die kollektiven Stereotype wieder zu zertrümmern, fand in der modernen Literatur statt. Die Phantasie ist eine anarchische Kraft. Sie schafft lebende Bilder.“112 Im Rahmen einer erst noch zu schreibenden Naturgeschichte der Phantasie skizzieren diese Sätze einen geschichtlichen Zustand, in dem die „lebende Phantasie“ immer schon durch das „identische Bild“ bedroht ist, welches ihr vorausgeht und sie zu fixieren sucht, die Phantasie selbst also ständig warenförmig zu werden droht. Um das „bilderschaffende Vermögen“ gegen seine warenförmige Reduktion zu behaupten und „die fixierten Bilder wieder aufzulösen“, entfesselt die Literatur der Moderne einen ewigen „Wettlauf der lebenden Phantasie mit dem sie verfolgenden Bild“.113 Nicht durch unvermittelte Beschwörung archaischer Urbilder, sondern nur mehr in der Arbeit an der kulturell produzierten Bilderwelt und im Kampf gegen deren fixierende Kraft vermag lebendige Phantasie sich angesichts ihrer warenförmigen Modellierung zu erhalten: Der historische Grund für die Aufwertung von Kolportage und ‚Läden’ bei Lasker-Schüler ist mit dieser Diagnose, die wohl tatsächlich einen zentralen Impuls der Moderne trifft, präzise angegeben. Während Lenks Berufung auf die ‚explosive’ ästhetische Phantasie jedoch eher auf ein am surrealistischen acte gratuit orientiertes Moderneverständnis zielt, nimmt die Kraft der Phantasie bei Lasker-Schüler nicht die Form des Attentats oder Eklats, sondern die Form des Spiels an und entzieht sich dadurch dem kämpferischen Pathos der ‚Avantgarde’, das in Lenks Metapher vom ‚Wettlauf’ nachklingt. Die bei Lasker-Schüler begegnenden Traumbilder sind eher dem Bereich des Märchen- und Zauberhaften verwandt als dem Albtraum oder der surrealistischen Provokation – was nicht heißt, dass sie nicht provokativ wären. 112

113

E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum. München 1983, S. 60. Ebd.

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In der 1926 publizierten Skizze „Das erleuchtete Fenster“ fungiert das Fenster, das die Metaphorik des Ladens und Schaufensters aufnimmt, als populärmythologischer Schaukasten, der zum spontanen Kristallisationspunkt kindlicher Phantasieproduktion werden kann: Schon als Schulmädchen standen ich und meine Freundin am Abend mit Vorliebe vor erleuchteten Fenstern und phantasierten Geschichten, die mir heute nie einfielen. Ich weiß nicht, ob alle Kinder gerne durch helle Fenster schauen im glitzernden Dunkel wie durch Ostereier ins Feenreich. Zu unserer Lieblingsbeschäftigung wenigstens gehörte es, und wir zauberten hinter dem Glas der Abendstunde unvergessliche Träume. Auf die schwarzmilchige Wupper unserer Heimat starren mysteriöse finstere Häuser aus Schiefer in den schwarzen Simili des Wassers. Diese Arbeiterbaracken mit ihren Gucklöchern hatten uns behext und unsere Sinne gespenstert. Meine Freundin hieß Martha Schmidt [...] [D]ie Schule war was Schauderhaftes für uns Schwärmerinnen, eine Strafe, die wir zehn Jahre unschuldig abzusitzen verurteilt waren. Ihr zu entrinnen für ein paar Tage, verdankten wir – auf Verabredung – unseren leicht entzündbaren Mandeln und übertriebenen Schluckbeschwerden. Nachmittags besuchten wir uns heimlich mit verbundenen Hälsen [...]. Herr Schmidt meinte, unsere Erkältung komme von vielem aus dem Fenster gucken in der fröstelnden Abendstunde [...]. Ich und Martha aber verschwanden nach dem Abendbrot in ihrer Eltern Schlafkämmerchen. Von dort beobachteten wir das erleuchtete Fenster vom gegenüberliegenden Hause, Schulter an Schulter gelehnt. Hinter den Seidengardinen, in Wirklichkeit einem Gewebe aus Zwirn, wohnte ein indischer Prinz, für den wir beide lebten mit unseren elfjährigen Feenherzen, von dem wir beide fabulierten, bis wir rücksichtslos auseinandergetrieben wurden. Manchmal aber schlief ich bei Martha die Nacht. Sie lieh mir dann eines ihrer Nachtkleider, sie war kleiner als ich, und es reichte nur für mich bis zum Knie, und ich schämte mich dann jedesmal im Traum vor dem exotischen Königssohn in Prachtgewändern und Turban. Gewöhnlich kam aber vorher mein Papa in seiner donnernden Gangart, eine ganze Schwadron, die enge Straße fluchend heranmarschiert und pflanzte sich vor Marthas Elternhaus schmetternd auf. Und wenn es mitten in der Nacht war, ich musste aus süßem Schlummer ohne Erbarmen mit nach Hause kommen! (4.1, 115 f.)

Der Topos vom gesundheitsschädlichen Charakter der ‚Backfischliteratur’ und ihrer klischierten Wunschphantasien wird in den „phantasierten Geschichten“ der sich „heimlich mit verbundenen Hälsen“ treffenden „Schulmädchen“ ebenso parodiert wie euphorisch beim Wort genommen: Nicht durch ihre Kolportagephantasien werden die „Schwärmerinnen“ krank, sondern umgekehrt müssen sie ihre „leicht entzündbaren Mandeln“ zum Vorwand nehmen, um ihre ‚leicht entzündbare’ Phantasie ungehindert entfesseln zu können. Ihre Schulmädchenphantasien werden nicht nur der explizit als Ge-

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fängnis beschriebenen bürgerlichen „Schule“, sondern durch ihre Bezeichnung als „unvergessliche Träume“, „die mir heute nie einfielen“, ebenso der retrospektiven Ernüchterung des poetischen Subjekts kontrastiert, können also nicht unmittelbar und identifikatorisch, sondern nur in erinnerndem Nachvollzug aktualisiert werden. Indes sind auch der ‚indische Prinz’, die „Seidengardinen“ und „Prachtgewänder“, von denen die Freundinnen ‚fabulieren’, nichts anderes als versprengte Erinnerungsreste an die Populärmythologie des Orients, deren Ikonographie bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert Teil der Alltagskultur geworden war.114 Das „erleuchtete Fenster“ wird dem euphorisierten Blick der beiden Mädchen buchstäblich zum Rahmen für die Entfaltung eines ‚bilderschaffenden Vermögens’, das die ‚fixierten Bilder’ exotischer Fluchtträume in ihrem Glücksversprechen und ihrer Fremdheit ernstnimmt und in ‚lebende Bilder’ zurückverwandelt. Wenn der „Königssohn“ im Fenster ganz im Sinne der populären Liebesmythologie vom Geliebten als ‚Einzigen’ als derjenige angesprochen wird, „für den wir beide lebten mit unseren elfjährigen Feenherzen“, handelt es sich dabei denn auch um das Gegenteil einer satirischen Mythenkritik, die das ‚falsche Bewusstsein’ und die Naivität der Figuren ausstellt und demontiert.115 Vielmehr wird emphatisch auf dem ‚richtigen’ Aspekt des illusionären Scheins beharrt, indem dieser von seiner Kompensationsfunktion losgelöst und im Modus kindlichen Träumens als autonom gesetzt wird. Obwohl das Bild vom „exotischen Königssohn“ durch die Metaphorik des Fensters als imaginärer Bühne und durch das ‚geliehene’ Nachtkleid als Inszenierung eines Kolportage-Zitats reflektiert wird, dient das Zitations- und Montageverfahren nicht einfach der Destruktion ‚fixierter Bil114

115

Die bisher differenzierteste Darstellung dieses Phänomens, auch mit Seitenblicken auf Karl May, bietet A. POLASCHEGG, Der andere Orientalismus. Regeln deutschmorgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin 2005. – Jüngst hat Sylke Kirschnick zu belegen versucht, dass Lasker-Schülers ‚Orient’ sich aus ikonographischen Elementen der zeitgenössischen Alltagskultur zusammensetze, eskamotiert dabei jedoch das Moment der Fremdheit und utopischen Phantasie, das in den oft nur vermuteten Referenzen zur Alltagskultur gerade nicht aufgeht. Stattdessen reduziert Kirschnick Lasker-Schülers Dichtungen auf eine ‚Umsetzung’ populärer medialer Techniken, etwa wenn sie bestimmte Stilformen in fragwürdiger Weise auf die Technik des ‚Rundlaufapparats’, einer Art Ein-Personen-Kino damaliger Jahrmärkte, zurückführt. Solch konkretistische Fehlschlüsse lassen Lasker-Schüler als versierte Medienexpertin erscheinen, die permanent auf reale Erlebnisse in Cabarets, Ausstellungen und Jahrmärkten ‚reagiert’ habe. Vgl. S. KIRSCHNICK, Tausend und ein Zeichen, S. 59 ff. sowie passim. – So kritikwürdig das Bild von Lasker-Schüler als wirklichkeitsentrücktem ‚Gotteskind’ sein mag, eine solche Entstellung zur ‚Zeitgenossin’, in der alles im besten Sinn Weltfremde ihrer Dichtung getilgt wird, erweist ihr erst recht einen Bärendienst. Wie ein solcher ‚mythenkritischer’ Umgang mit Kolportagephantasien aussehen kann, zeigt die Interpretation von Jelineks Liebhaberinnen durch M. JANZ, Elfriede Jelinek. Stuttgart, Weimar 1995, S. 21 ff.

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der’ und deren Denunziation als bloßem Schein, sondern der Bejahung der Autonomie des Scheins als Artikulation eines gesellschaftlich verpönten Glücksversprechens. In der Figur des Königssohns werden keine standardisierten Aufstiegs-, Herrschafts- oder Unterwerfungswünsche zum Ausdruck gebracht, sondern Sehnsüchte nach einer Form von Luxus und sinnlicher Erfüllung, die vom magazingerecht aufbereiteten Idol des ‚Prinzen’ gerade verdrängt werden. Pointiert wird diese paradoxe Aufwertung von Backfischphantasien und Clichés, wenn mit Blick auf die Zirkusbegeisterung der Mädchen von „bunten Plakaten“ die Rede ist, die die Erzählerin bewegen, sich in den Zirkusreiter „Joy Hodgini“ zu verlieben: „[E]r war mein Ideal, meine allererste, wahre Liebe“ (4.1, 117). Gleich dem Prinzen erscheint er mit seinem „englisch geschnittene[n] Antlitz“ (4.1, 117) wie ein zum Leben erwachtes kolportiertes Wunschbild, dessen Habitus die Ikonographie jener Plakate reinszeniert, auf denen die Mädchen ihn gesehen haben, bevor sie ihm zum ersten Mal begegnet sind. Die Backfischliebe nicht zu einer authentischen Person, sondern zu einem kollektive Sehnsüchte evozierenden Bild ist demnach nicht die infantile Vorform ‚echter’ Liebe, sondern verwirklicht im Modus des Spiels, was der bürgerliche Liebesmythos von Einzigkeit und Echtheit zugleich verspricht und verleugnet. Wenn die Mädchen Joy Hodgini heimlich dabei beobachten, „wie er sich hinter dem erleuchteten Mondstein seines Fensters die rote Krawatte [bindet]“, wenn die Erzählerin ihn ausdrücklich als „Traumbild“ bezeichnet (4.1, 118), seinen Namen in Anführungszeichen setzt und in Anführungszeichen bekennt, für „ihn“ geschwärmt zu haben (4.1, 117), wird die Zitatförmigkeit der Wunschträume einbekannt und zum Ausgangspunkt imaginärer Abenteuer gemacht, so dass sie den Charakter des Reproduktiven verlieren. Gerade die ‚unreifen’ Backfischträume geben den zu Stereotypen geronnenen Wunschbildern ihre Autonomie zurück, indem sie sie als lebendigen Ausdruck dessen ernstnehmen, was durch sie scheinbar nur bezeichnet wird. So wird die Backfischphantasie, ganz im Sinne von Blochs Kolportageverständnis, zum Einspruch gegen jene Logik der Kompensation, mit der pädagogische Kritik sie gleichsetzt. Die Fensterbilder in Lasker-Schülers Skizze mit ihrer Metaphorik von „glitzernde[m] Dunkel“ und „erleuchtete[m] Mondstein“ knüpfen an die Phantasien abenteuerlicher Geborgenheit an, wie sie als konstitutiv für Lasker-Schülers kindliche Schreibszenen aufgewiesen werden konnten. Indem sie zwischen Dunkelheit und ‚Erleuchtung’ changieren, Feen, Mondschein und Gespenster beschwören, die „finstere[n] Häuser“ an der „schwarzmilchige[n] Wupper“ und das „Schlafkämmerchen“ der Eltern zum Anknüpfungspunkt der Mädchenträume machen, gewinnen sie eine unauflösbare Ambiguität. Die Bilder von den „Gucklöchern“ der „Arbeiterbaracken“ und von der versteckten Wohnung des Geliebten hinter dem „Gewebe aus Zwirn“ evozieren einen Bereich des Heimelig-Verborgenen und Lockend-Verbotenen: eine

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der kindlichen Alltagserfahrung entzogene Welt, die ihnen gerade deshalb nicht zum Schreck-, sondern zum Lockbild wird, welches wie durch ein ‚Guckloch’ erkundet werden will. Die Referenz auf den kindlichen Voyeurismus, der sich an das Spähen durch fremde Fenster oder an das Schlafzimmer der Eltern knüpft, wo die Freundinnen sich „Schulter an Schulter“ ihren Backfischträumen hingeben, macht deutlich, dass es dabei auch um Lockbilder einer fremd und exotisch anmutenden Erotik geht, von der die empirische Sexualität der Erwachsenen, wie Kinder sie durch Erwerb ihrer ‚Reife’ kennenlernen, nur ein schaler Abklatsch ist und in der doch der Wahrheitsgehalt dessen aufscheint, was sich im Wunsch eines jeden Kindes, sexuell ‚erwachsen’ zu werden, artikuliert. Wenn die ‚Schwärmerinnen’ im Schlafzimmer der Eltern die körperliche Gegenwart des anderen spüren, beieinander schlafen, gemeinsam ihr Idol ausspionieren oder sich in Erwartung ihres ‚Prinzen’ umkleiden, erspielen sie sich eine Erotik, ohne souverän über sie zu verfügen, und machen dadurch eine Erfahrung, die ‚reifen’ Erwachsenen im Namen ihrer Erwachsenheit permanent ausgetrieben wird. ‚Heimlichkeit’ und Scheu sind nicht Symptome des internalisierten elterlichen Verbots, sondern positive Voraussetzung einer Erfahrung des Erotischen, die mit den klischierten Bildern von ‚erwachsener’ oder ‚infantiler’ Sexualität nicht adäquat zu fassen ist. Wenn sich die Erzählerin vor dem „Königssohn“ in ihrem zu kurzen Hemd „schämt“, ist diese Scham nicht Symptom des verinnerlichten Tabus, vielmehr wird sie genossen als konstitutives Moment einer Schwärmerei, die im Gegensatz zur ‚erwachsenen’ Liebe durch Scheu und Unsicherheit nicht gestört, sondern befeuert wird. Das Verbot wird im Modus der Wunschphantasie weder perpetuiert noch zerstört, sondern durch spielerische Überschreitung als Verbot erfahrbar gemacht, ohne länger an Schuld oder Strafe gekettet zu sein.116 Wenn die Freundinnen am Ende dennoch „rücksichtslos auseinandergetrieben“ werden und der „Papa“ der Erzählerin „fluchend“, „donnernd“ und „schmetternd“ erscheint, um sie „aus süßem Schlummer ohne Erbarmen nach Hause“ zu zerren, ist dies denn auch nicht so zu verstehen, als triumphiere das vom Vater inkarnierte Realitätsprinzip schließlich doch über die kindlichen 116

Der bloße Bruch eines Tabus ist, wie Bataille im Gegensatz zu seinen transgressionsbegeisterten Adepten noch klar gesehen hat, immer konservativ, weil er das Ausgeschlossene als Ausgeschlossenes voraussetzt und bestätigt: „Die organisierte Überschreitung bildet mit dem Verbot ein Ganzes, und dieses Ganze bestimmt das soziale Leben.“ (G. BATAILLE, Die Erotik. München 1994, S. 65). Batailles ‚AntiÖkonomie’, in deren Rahmen er Phänomene wie Religion, Erotik, Fest oder Freundschaft analysiert, ist dagegen ein Versuch, Formen sozialen Handels ausfindig zu machen, die jene Organisation von Überschreitung und Verbot, wie sie die homogene Gesellschaft konstituiert, aufheben könnten. Die von Bataille hervorgehobene Produktivität des Verbots, das im Sinne revolutionärer Praxis eben nicht einfach abgeschafft, sondern ins Spiel gebracht und von seiner Funktionalisierung im Dienst der Herrschaft befreit werden müsste, ist in Lasker-Schülers ‚Verbotsspiel’ unmittelbar präsent.

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Wünsche. In Lasker-Schülers Bilderwelt gibt es, entgegen dem gerade in poststrukturalistischen Deutungen omnipräsenten Vorurteil, gar keine ‚Vaterfiguren’ im psychoanalytischen Sinn.117 Auch hier tritt vielmehr statt des Vaters der „Papa“ auf, in dessen Person das ‚väterliche’ Verbot und bürgerliche Realitätsprinzip ins Clowneske gewendet und aus der Verkettung von Schuld und Strafe befreit wird. Lasker-Schülers ‚Papa’ mimt immer nur den ‚Vater’ und nimmt der Vater-Imago ihre bedrohliche Macht, indem er sie zur Rolle innerhalb eines Spiels werden lässt, das keiner erwachsenen, sondern einer kindlichen Logik folgt. Indem er den Vater spielt, ist der ‚Papa’ immer auch mehr und anderes als ein Vater: ein polternder Rabauke, der wie der ‚Seebär’ aus Kinderbüchern als „Spielgefährte“ (4.1, 117) anerkannt ist. Unmittelbar nach der Durchsetzung seiner Verbotsmacht steckt er dann auch, wie es heißt, „meine kleine Hand in seine große Manteltasche, aus der ich mir einen Meerrettichbonbon oder einen gläsernen Kragenknopf, oder von seinen Spielsachen den buntgeringelten Kreisel holen durfte“ (4.1, 116 f.). In „Kindheit im Wuppertal“ nennt Lasker-Schüler ihren „Papa“ ausdrücklich „eine[n] von den Jungens, mit denen ich Räuber und Gendarm spielte“: „[S]eine Autorität bewahrte er sich immer wieder, da er mir nach dem Sturm eines Streits eine Düte Bonbon zu kaufen pflegte.“ (4.1, 97). Die „Autorität“ des Papas beruht nicht auf patriarchalischer Macht, sondern auf Freundschaft und Zärtlichkeit, sie realisiert sich nicht in Befehl und Gehorsam, sondern in der zweckfreien Gegenseitigkeit von Spiel und Gabentausch, die den Streit zwar nicht ausschließt, aber buchstäblich versüßt. Die ‚väterlichen’ Prinzipien von Verbot und Lustaufschub werden in der Figur des Papas zum Movens nicht der Unterdrückung, sondern der Potenzierung kindlicher Lust- und Glückserfahrung: Obwohl er den Gang mit den Kindern zum Zirkus Renz „selbst nicht erwarten“ kann, lässt der Papa sich „wieder von neuem von uns drängen und quälen“, bis er endlich mitkommt (4.1, 117). Er ist mithin selbst ein großes Kind, das seine väterliche Rolle schelmisch nutzt, um die Leidenschaft der Kinder für Spiel, Zerstreuung und Rausch anzustacheln und sogar Herbheit und Strenge (Meerrettichbonbons) in Süße zu verwandeln. Um die Konstellation zu bestimmen, die Wunsch und Verbot in LaskerSchülers Fensterszenarien eingehen, empfiehlt es sich, die Unterscheidung zwischen Tag- und Nachttraum aufzugreifen, die Bloch in Anschluss an Freud im Prinzip Hoffnung entwickelt. Diese Unterscheidung knüpft, wie Elisabeth 117

Die jüngste Variante dieser These bietet D. BISCHOFF, Ausgesetzte Schöpfung, die Lasker-Schülers Werk – ausgehend von Weiblichkeitstheorien der Jahrhundertwende wie etwa denen Freuds und Weiningers, deren Rezeption bei Lasker-Schüler allererst konkret nachgewiesen werden müsste – als Variation vom Bild der ‚phallischen Frau’ und Demontage ‚phallogozentrischer’ Subjektkonzeptionen deutet. Dagegen vermerkt Marianne Schuller mit Recht, dass der Vater bei Lasker-Schüler „nicht als Repräsentant des väterlichen Gesetzes“ auftauche (M. SCHULLER, Literatur im Übergang, S. 236).

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Lenk gezeigt hat, an die ältere Unterscheidung zwischen der Kunst als Sphäre bewussten Phantasierens und dem Traum als „Verzerrung“, als „illusionäre Situation schlechthin“, an.118 In der Privilegierung des Tagtraums gegenüber dem Nachttraum reproduziert sich die seit Platon tradierte Bevorzugung der Kunst gegenüber dem Traum überhaupt, insofern dem Tagtraum wie der Kunst jeweils eine „größere Nähe zum Denken“ attestiert wird.119 Blochs Gegenüberstellung des Nachttraums als Sammelort archaischer Bilder und des Tagtraums als zukunftsoffener Phantasie vom besseren Leben schreibt diese Dichotomie mit veränderten Bewertungen fort. Bloch, der an der Psychoanalyse vor allem die Neigung kritisiert, den „bürgerlichen Alltag“ als „Maß alles Wirklichen“ zu nehmen,120 disqualifiziert die Nacht- gegenüber den Tagträumen, weil jene sich „aus zurückliegendem Triebleben, aus vergangenem, wo nicht archaischem Bildmaterial“ speisten, während Tagträume „Vorgriffe der Einbildungskraft“ zur Gestaltung einer besseren Zukunft seien.121 Diese vom Ich nicht kontrollierbare Erinnerung des Verdrängten vermag er nur als Bedrohung des Subjekts wahrzunehmen: [D]er Nachttraum lebt in Regression, er wird in seine Bilder wahllos hineingezogen, der Tagtraum projiziert seine Bilder in Künftiges, durchaus nicht wahllos, sondern noch bei ungestümster Einbildungskraft dirigierbar, mit objektiv Möglichem vermittelbar.122

Bloch stört am Nachttraum also dessen Inkommensurabilität, die sich darin äußert, dass der Nachtträumer seine Einbildungskraft nicht ‚dirigieren’ kann und in Dimensionen seines Selbst „hineingezogen“ wird, die mit Blochs eigenem Ideal vom utopisch-sozialistischen Menschen unvereinbar sind: „Der Tages-Wunschtraum [...] hat zwar so wenig wie der Nachttraum von Haus aus ein Maß, doch er hat, zum Unterschied vom Nachtspuk, ein Ziel und macht sich zu ihm nach vorwärts heraus.“123 Wie eine solche zielgerichtete Maßlosigkeit konkret aussehen mag, fragt Bloch nicht, weil er die Kategorie des ‚objektiv Möglichen’, an der er den praktisch-utopischen Gehalt von Träumen misst, nirgends in Zweifel zieht. Noch deutlicher wird dies an den anderen Kriterien, die er zur Unterscheidung von Tag- und Nachttraum anführt. Die „Tagtraum-Bilder“, heißt es, seien „nicht halluziniert“ und ständen unter keinem „Bann“, weil in ihnen „das Ego [...] nicht so geschwächt wie im Nacht-

118 119 120 121 122 123

E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 11. Ebd., S. 12. E. BLOCH, WA 5: Das Prinzip Hoffnung I, S. 97. Ebd., S. 96 f. Ebd., S. 111. Ebd.

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traum“ sei, dessen Ich als „spaltbar“ und „wie Brei“ erfahren werde.124 Gegen Freuds Analogisierung von Traum und infantiler Regression macht Bloch denn auch geltend, der „Träger der Tagträume“ sei „erfüllt von dem bewussten [...] Willen zum besseren Leben“, ihr Held sei „immer die eigene erwachsene Person“.125 Während das Ich des Nachttraums von regressiven Wünschen überschwemmt werde, die ihrerseits durch die Traumzensur entstellt würden, hebe das bewusst träumende Ich aktiv jede Zensur auf: Die Zensur ist hier nicht bloß geschwächt und lückenhaft [...], sondern sie hört, trotz völliger Ungeschwächtheit des Tagtraum-Ichs und eben wegen ihrer, völlig auf [...]. Tagträume haben also überhaupt keine Zensur durch ein moralisches Ego [...]; vielmehr: ihr utopisch übersteigertes Ego baut sich und das Seine als Luftschloss in ein oft verblüffend unbeschwertes Blau.126

Vollends hier wird deutlich, dass Bloch trotz seiner Kritik an der psychoanalytischen Konzeption des Ich, die er nicht zu Unrecht als Ideologisierung eines bürgerlichen Subjektverständnisses denunziert, das ‚bessere’, zukunftsoffene Ich selbst nur nach Maßgabe bürgerlicher Subjektivität zu denken vermag. ‚Unbeschwert’, durch keine inkommensurablen Triebregungen geschwächt, ‚erwachsen’ und auf diffuse Weise zukunftsoffen, ist sein Tagtraum-Ich in Wahrheit strukturidentisch mit dem Alltags-Ich des spätkapitalistischen Subjekts. Nicht dessen Form, nur sein Ziel hat sich geändert und wurde von Profitmaximierung auf Gemeineigentum justiert. Ignoriert wird dabei die Frage, ob nicht jenes ‚objektiv Mögliche’, das Bloch als empirischen Anknüpfungspunkt des Tagtraums voraussetzt, längst seinerseits zum Luftschloss im schlechten Sinne geworden ist. Wo die Vorstellung einer ‚objektiven’, mit dem utopischen Wunschtraum vermittelbaren Möglichkeit besseren Lebens nur mehr als Halluzination denkbar scheint, erweist sich Blochs Ideal des ‚erwachsenen Ich’ seiner bloßen Form nach selbst als Zensur, so sehr es auch die gesellschaftlichen Verbote abgeschüttelt zu haben glaubt. Indem er die Frage verdrängt, ob es überhaupt noch historisch möglich ist, in der von ihm gewünschten Weise zu träumen, wehrt Bloch zugleich alle ästhetischen Erfahrungen ab, die sich der Form des Nachttraums verdanken, und statuiert noch vehementer als Freud den „Tagtraum als Vorstufe der Kunst“, ja spricht ernsthaft von dessen „kerngesund-reelle[m] Charakter“.127 Dieses Ideal der ‚Gesundheit’ – in seiner Diffamierung der Triebsphäre bürgerlicher als die bürgerlichste Psychoanalyse – wird verknüpft mit einem Ideal unproblematischer

124 125 126 127

Ebd., S. 98 f. Ebd., S. 101. Ebd. Ebd., S. 106.

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Kommunikabilität. Nachtträume sind demnach opake, private Erfahrungen, während Tagträume appellativen Charakter haben: Dem wachen Traum als weitem ist es [...] wichtig, sich mitzuteilen. Er ist dazu fähig, wogegen der Nachttraum, wie jedes allzu private Erlebnis, nur schwer erzählt werden kann [...]. Dagegen sind die Tagträume [...] wegen ihrer allgemein interessierenden Wunschbilder kommunizierbar.128

Spätestens an dieser Stelle hat Bloch den von Lenk beschriebenen Wettlauf der lebendigen Phantasie mit dem fixierenden Bild verloren. Statt die Opazität der Nachtträume als Symptom zu entziffern, das auf verdrängte, aber eben deshalb nicht private, sondern kollektive Erfahrungen verweist, an deren Reflexion sich, gerade weil sie nicht bewusst sind, weit eher Hoffnung knüpfen könnte als an himmelblaue Luftschlösser, perhorresziert er die Nachtträume als „prälogische Bilder“ einer „verflossenen Gesellschaft“, die im Sinne eines „rationalen Kosmos“ zu überwinden seien.129 Dieser Kosmos ist jedoch von der Wirklichkeit, die in seinem Namen kritisiert werden soll, kaum zu unterscheiden: Wunschbilder, die ‚kommunizierbar’ sind, weil sie ‚allgemein interessieren’, sind selbst nichts anderes als Waren, die nicht nach ihrem authentischen Erfahrungsgehalt, sondern nach ihrer Verbreitung bewertet werden. Konsequent macht Bloch im Schiller’schen Traum von einer „ästhetische[n] Erziehung des Menschen“ die bürgerliche Variante jenes tagträumerischen Impulses aus, aus dem auch der „sozialistische Realismus“ schöpfe,130 der in seiner Haltung gegenüber der Triebsphäre wohl tatsächlich mit Schillers Ästhetik konvergiert. Kunst wird von Bloch, als reflektierte Konstruktion utopisch-antizipierender Tagträume, mithin apriorisch an ein ‚erwachsenes Ich’ gebunden, das die im Nachttraum entstellt artikulierten Triebe ebenso überwunden habe wie die internalisierte Zensur. Dass der Begriff des ‚erwachsenen Ich’ die Verdrängung infantiler Impulse zugunsten eines Scheins monolithischer Selbstidentität immer schon voraussetzt, kommt ihm nicht in den Sinn. Das Tagtraum-Ich reproduziert seiner inneren Form nach die Disposition des bürgerlichen Subjekts, das in ihm aufgehoben werden soll. Freud dagegen ruft gerade in seinem ‚bürgerlichen’ Beharren auf der Notwendigkeit von Verdrängung und Triebunterdrückung jene fortbestehende Unvereinbarkeit zwischen den Wünschen und der sozialen Wirklichkeit ins Bewusstsein, die Blochs ‚ewige Hofferei’ (Ulrich Holbein) idealistisch überspringt. Indem er alltägliches wie künstlerisches Phantasieren mit dem Wunsch nach Kompensation versagten Glücks begründet, hält Freud die Divergenz zwischen Phantasie und Realität kritisch gegenüber der gesellschaft128 129 130

Ebd., S. 105. Ebd., S. 107. Ebd., S. 109.

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lichen Wirklichkeit fest: „Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit.“131 Gegenüber der Reduktion des Phantasierens auf einen kompensatorischen Akt, die Freud von Bloch vorgeworfen wird, impliziert die Rede von der „Korrektur“ der Wirklichkeit jedoch einen aktiven Eingriff: Der Phantasierende kompensiert das Versagte nicht durch seine Imagination, sondern verändert die unbefriedigende Realität durch seine Phantasie; die Phantasie ist selbst eine produktive Kraft. Kurz zuvor dagegen behauptet Freud zur Begründung seiner These vom Phantasieren als Ersatz kindlichen Spiels: Der Heranwachsende hört also auf zu spielen, er verzichtet scheinbar auf den Lustgewinn, den er aus dem Spiele bezog. Aber wer das Seelenleben der Menschen kennt, der weiß, dass ihm kaum etwas anderes so schwer wird wie der Verzicht auf einmal gekannte Lust. Eigentlich können wir auf nichts verzichten, wir vertauschen nur eines mit dem andern; was ein Verzicht zu sein scheint, ist in Wirklichkeit eine Ersatz- oder Surrogatbildung. So gibt auch der Heranwachsende, wenn er aufhört zu spielen, nichts anderes auf als die Anlehnung an reale Objekte; anstatt zu spielen, phantasiert er jetzt. Er [...] schafft das, was man Tagträume nennt.132

Konsequent zieht er den Schluss, „dass die Dichtung wie der Tagtraum Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spielens“ sei, wobei der Dichter „den Charakter des egoistischen Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen“ mildere.133 Dieses Diktum steht im Widerspruch zu Freuds Behauptung, der Dichter tue „dasselbe wie das spielende Kind“: „[E]r erschafft eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d.h. mit großen Affektbeträgen ausstattet, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert.“134 Ist Dichtung also „dasselbe“ wie kindliches Spiel oder dessen gleichsam apollinisch gemilderter „Ersatz“? Die Brisanz von Freuds Phantasietheorie scheint gerade darin zu liegen, dass eine eindeutige Antwort verweigert wird: Indem Dichtung und Tagtraum nicht nur als „Ersatz“, sondern als „Fortsetzung“ kindlichen Spiels bestimmt werden und die phantasierende „Surrogatbildung“ nicht gleichgesetzt wird mit „Verzicht“, sperrt sich seine Theorie der Phantasie gegen jene Kompensationsthese, auf die sie von seinen Anhängern wie Gegnern meist reduziert wird. Den Grund für diese Widersprüchlichkeit gibt Freud selbst an, 131

132 133 134

S. FREUD, Der Dichter und das Phantasieren. In: ders., STA 10, S. 171 ff., hier S. 173 f.; Hervorhebung M.K. Ebd., S. 172. Ebd., S. 178 f. Ebd., S. 172.

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wenn er befindet, das Phantasieren Erwachsener sei schwerer zu beobachten als das Spielen der Kinder: Das Kind spielt zwar auch allein oder es bildet mit anderen Kindern ein geschlossenes psychisches System zum Zwecke des Spieles, aber wenn es auch den Erwachsenen nichts vorspielt, so verbirgt es doch sein Spielen nicht vor ihnen. Der Erwachsene aber schämt sich seiner Phantasien und versteckt sie vor anderen [...]. [Er] weiß einerseits, dass man von ihm erwartet, nicht mehr zu spielen oder zu phantasieren, sondern in der wirklichen Welt zu handeln, und andererseits sind unter den seine Phantasien erzeugenden Wünschen manche, die es überhaupt zu verbergen nottut; darum schämt er sich seines Phantasierens als kindisch135.

Das kindliche Spiel gehört mithin selbst dem Bereich des Verdrängten an, dessen Wiederkehr in einer vom Primat pragmatischen ‚Handelns’ beherrschten Gesellschaft mit Scham behaftet ist. Die von Freud diagnostizierte ‚scharfe Sonderung’ von Phantasiewelt und Realität hat daher beim kindlichen Spiel und beim erwachsenen Phantasieren einen jeweils anderen Stellenwert. Das Spiel des Kindes respektiert die Phantasiewelt als autonome Realität, die sich neben der empirischen Wirklichkeit, der sie ihre Materialien entnimmt, gleichberechtigt erhält, während der Phantasierende sie als bloß imaginär gegenüber dem Zwang des Realitätsprinzips marginalisiert. Der Grund dafür ist, dass das kindliche Spiel vom ‚Unerlaubten’ noch nichts weiß, während der Phantasierende die Logik von Verbot und Verdrängung internalisiert hat und die Wiederkehr kindlicher Glückserfahrung als kindisch disqualifiziert. Dennoch wirkt auch im erwachsenen Phantasieren die freie Tätigkeit kindlichen Spiels fort, die von Freud als Schaffung einer Sphäre der Imagination beschrieben wird, in der die Elemente der empirischen Wirklichkeit verwandelt werden: Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich seine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. [...] Das Kind unterscheidet seine Spielwelt sehr wohl, trotz aller Affektbesetzung, von der Wirklichkeit und lehnt seine imaginierten Objekte und Verhältnisse gern an greifbare und sichtbare Dinge der wirklichen Welt an.136

Freud und Bloch verbindet also die Neigung, Tagtraum und Phantasie einer die infantilen Triebimpulse sublimierenden Imagination zuzuordnen und den Nachttraum als temporären, durch die Traumzensur deformierten „Rückschritt 135 136

Ebd., S. 173. Ebd., S. 171 f.

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zum infantilen Zustand“ aufzufassen.137 Während aber bei Bloch die Analogie von Kunst und Tagtraum als Ausdrucksform des ‚erwachsenen Ich’ das letzte Wort behält und die infantilen Triebimpulse nur als zu Überwindendes in den Blick geraten, erlaubt es Freuds These vom Phantasieren als ‚Fortsetzung’ kindlichen Spiels, ästhetische Imagination als Austragungsort eines ungeschlichteten Konflikts zwischen ‚erwachsener’ und ‚kindlicher’ Phantasie zu begreifen. Da Freud anders als Bloch auf der Widersprüchlichkeit zwischen Wunsch und Realitätsprinzip beharrt, stellt sich ihm das erwachsene Phantasieren als Schauplatz eines Kampfes mit der immer schon verlorenen, aber nie besiegten Sphäre kindlicher Erfahrung dar, die als kindisch zu entwerten dem Subjekt niemals vollständig gelingt. Insofern die Traumregression nicht nur „die Eigentümlichkeiten unseres primitiven Seelenlebens“, sondern auch „unseren alten intellektuellen Besitz, wenn wir die Symbolbeziehung so auffassen dürfen“,138 ins Bewusstsein ruft, ist sie immer auch mehr als Regression: Sie erinnert an die mimetischen Potentiale kindlicher Erfahrung und an einen Begriff menschlichen Geistes, der vom Realitätsprinzip, dem Freud allenfalls verbal, aber nicht der Logik des Gedankens nach das Wort redet, verstümmelt wird. Damit ist in Freuds Phantasietheorie ein Gedanke angelegt, den Lenk gegen Freud ins Feld führt, dass nämlich „das Es ebenso Ich ist, allerdings unverantwortlich spielendes Ich“: „Es gibt einen Überschuss an Ausdruck noch in den alltäglichsten Dingen. Diesen Überschuss spürt der Träumende auf. Die Traumform entspringt einem fundamentalen Bedürfnis nach Formlosigkeit, denn aus den perfekten, wiederholbaren Träumen des Tages bleibt die subjektive Existenz als unzulänglich ausgeschlossen. In der Formlosigkeit des Traumes findet sie sich wieder. Der Traum ist daher immer auch Korrektur der ‚guten Gestalten’, der Schemata der Vollendung, des klassischen Ideals.“139 Der Impuls ästhetischer Subjektivität heftet sich demnach nicht an den kommunizierbaren, vom erwachsenen Ich kontrollierten Tagtraum, sondern an die dem direkten Zugriff des Ich entzogenen Nachtträume, deren „Formlosigkeit“ dem apollinischen Ideal der „guten Gestalt“, in deren Affirmation sich Bloch mit Schiller einig weiß, widerspricht. Der Träumende wie der Spielende trotzt den „alltäglichsten Dingen“ einen „Überschuss an Ausdruck“ ab und nimmt ihnen so den Schein pragmatischer Funktionalität.140 Dadurch aber wird der Gegensatz von Empirie und Schein, ‚erwachsenem’ Tag- und ‚reg137

138 139 140

S. FREUD, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, hg. von Alexander Mitscherlich u. a. Bd. I. Frankfurt/M. 1969, S. 214. Ebd., S. 215. E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 14. Auf diese Bearbeitung der Realitätsfragmente im Traum zielt Freuds Begriff der „Tagesreste“, die „aus unserem bewussten Leben“ stammen, im Prozess der Traumbildung aber „mit etwas anderem aus jenem Bereich des Unbewussten“ zu einem neuen Bild verschmelzen. S. FREUD, Vorlesungen I, S. 216.

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ressivem’ Nachttraum aufgehoben. Das Tages-Ich steht nicht dem von infantiler Regression überschwemmten Nacht-Ich gegenüber, sondern birgt in sich selbst ein nie besiegtes Kinder-Ich, das allenfalls temporär im Namen der ‚erwachsenen Person’ rationalisiert werden kann. Erst vor dem Hintergrund dieser Kritik am Ideal des ‚erwachsenen Ich’ und an der dichotomen Trennung von Tag- und Nachttraum erschließt sich der utopische Gehalt des ‚unreifen’, backfischhaften Phantasierens in LaskerSchülers Kindheitsszenen, die ebenfalls im Zwielicht von Dunkelheit und Glanz angesiedelt sind. Die Phantasien vom exotischen Prinzen und Zirkushelden speisen sich weder aus dem Repertoire der ‚guten Gestalten’ des Tagtraums noch aus der Regression des Nachttraums, sondern belehnen die von der empirischen Realität bereitgestellten kolportierten Wunschbilder mit verbotenen Wünschen. Sie heften sich an klischierte Ideale, um deren identitäre Starre aufzubrechen und die in ihnen aufgespeicherten anarchischen Sehnsüchte zu entfesseln. Nicht die ‚erwachsene Person’, aber auch nicht das bloß infantile Kind ist Träger dieser Phantasieproduktion, sondern der Backfisch, der die verbotene Welt der Erwachsenen erkundet, ohne selbst erwachsen zu sein. Im Backfischtraum ist die von Lenk eingeklagte Erfahrung aufgehoben, dass das Es immer auch Ich ist, dass die Fassade der ‚erwachsenen Person’ den Verrat an den verdrängten Triebimpulsen des eigenen kindlichen Selbst sanktioniert, die vom Erwachsenen nur als Klischeebilder genossen werden dürfen. Die Backfischphantasie nimmt jene Sehnsüchte beim Wort und hält der kindlichen Neugier die Treue: „Die endlosen Fragen des Kindes sind je schon Zeichen eines geheimen Schmerzes, einer ersten Frage, auf die es keine Antwort fand und die es nicht in rechter Form zu stellen weiß.“141 Während die ‚erwachsene Person’ sich formt, indem sie jenes Fragen arretiert, dadurch aber auch alle „Hoffnung“ auf Linderung des Schmerzes der Kreatur zum „Stillstand“ bringt,142 nimmt der Backfischtraum die Bilder der Kolportage als Antwort auf die kindlichen Sehnsüchte ernst. In der Weigerung, Kolportage als bloßes Surrogat zu verstehen, korrespondieren die Mädchenträume in Lasker-Schülers Skizze mit jener Aufwertung kindlicher Pubertät, die in Freuds Sexualtheorie angelegt ist. An der Schwelle zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität ist jene Dichotomie von ‚sinnlichen’ und ‚zärtlichen’ Trieben noch nicht starr ausgeprägt, die Freud als Ursache für die Spaltung der libidinösen Impulse in „himmlische“ und „irdische“ namhaft macht.143 Weil der Backfischtraum die Spaltung in himmlische und irdische Liebesobjekte nicht anerkennt, gerinnen ihm die kolportierten Wunschbilder nie zum 141 142 143

T. W. ADORNO, GS 3, S. 296. Ebd. S. FREUD, Über die allgemeine Erniedrigung des Liebeslebens. In: ders., STA 5, S. 197 ff., hier S. 202. Zur pubertären Sexualität vgl. ders., Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, ebd., S. 112 ff.

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Fetisch. Der Königssohn ist kein Abgott, sondern Gegenüber in einem Spiel, bei dem die Freundinnen Autoren, Akteure und Zuschauer zugleich sind. Das erleuchtete Fenster ist in diesem Sinne Bühne für die Entfaltung ästhetischer Subjektivität, die Lenk im Gegensatz zu Bloch an die Abwesenheit eines selbstidentischen Ich bindet: „Die Abwesenheit der identischen Person ist das Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Wachtraum und dem nächtlichen Traum, aber auch zwischen einer Pseudoliteratur der geronnenen Funktionen und der Literatur der Subjektivität. [...] [I]m Falle des Tagtraums, der den Formen des diskursiven Denkens näher ist und dem wiederum die Literatur der geronnenen Funktionen entspricht, bleibt die Ichperson intakt [...]. Das Ich, das sich hier spreizt, ist die Person, die die anderen sehen. In der Tagträumerei wird die Sozialfassade nicht demontiert, sondern lediglich verschönert. Der Angestellte wird vom Chef eingeladen, die Tochter lächelt ihm zu, immer nur ihm, und die Träumerei endet wie im Märchen mit sozialem Aufstieg und Verlobung. Im nächtlichen Traum und in der Literatur der Subjektivität fällt die Sozialfassade weg. Sie können daher niemals Abbild, gar Verschönerung des Abbilds, Idealisierung der Fassade sein. Das Ich ist aufgelöst, und an ihrer Stelle bewegt sich eine mimetische Vielheit. Es gibt nicht das eine Ich, sondern allen Personen, ja sogar den Dingen wird Subjektivität geliehen.“144 Obwohl nicht auf populäre Kunstformen, sondern auf die Avantgarde gemünzt, trifft dieser Passus besser als Blochs eher inhaltsästhetische Unterscheidung zwischen Magazingeschichte und Kolportage ins Zentrum seines Kolportagebegriffs: Die Magazingeschichte als eine „Literatur der geronnenen Funktionen“ verharrt auf der Ebene des bloßen Abbilds und ‚verschönert’ die Fassade des Bestehenden nach Geschmack der entfremdeten Subjektivität. Die Kolportage dagegen appelliert an eine Subjektivität, die zu sich selbst kommt, indem sie Dinge und Figuren in ihrer ichfremden Autonomie respektiert und in dieser Erfahrung Aspekte des eigenen Ich erschließt, die von identifikatorischer Lektüre verdrängt werden. Bloch selbst hat die Phantasien der Kolportage in einem Text, der noch nicht von seiner TagtraumIdeologie geprägt ist, „Wildträume“145 genannt und Kolportage als Verschränkung von Tag- und Nachttraum gefasst: „Einmal ist der kreatürliche Wille in ihr, der schreit, sodann der Widerschein dieses Willens in einer frühen Wunschwelt, die im Traum überall durch die heutige Dingwelt durchscheint. Beiden Eigenschaften [...] ist Kolportage der nächste und treueste Ort.“146 Anders als der Tagtraum respektiert der ‚Wildtraum’ nicht die Trennung zwischen Licht und Dunkel und bezieht seinen utopischen Gehalt gerade daraus, dass seine „Wunschwelt“ die Unversöhnlichkeit von Wunsch und Wirklichkeit, wie sie sich im ‚Schrei’ der verletzten Kreatur artikuliert, als 144 145 146

E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 22. E. BLOCH, Über Märchen, Kolportage und Sage, S. 170. Ebd., S. 178.

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Produktivkraft der eigenen Phantasien ernstnimmt. In diesem Sinne muss, wie Bloch an anderer Stelle deutlich sagt, das antizipierende Bewusstsein immer auch Anamnesis der kreatürlichen Erfahrungen sein, die sich im Nachtalb äußern: Nur wenn sich das Tages-Ich ausschaltet, können die ‚niederen’, sonst wie überblendeten Seelenregionen phosphoreszieren; und vermutlich reicht […] diese Fähigkeit traumhafter Halluzination so tief herab, das alles willensmäßig ‚Infantile’ in uns: das Tierische, Pflanzenhafte […], derart ‚geträumt’ im Traum bewusstseinsfähig werden könnte147.

Die ‚Wildträume’ befreien das abgespaltene Kreatürliche des Subjekts aus dem Gefängnis des Unbewussten, ohne die Erinnerung an den Schmerz zu verleugnen, der die Phantasien erzeugt. Wenn Bloch den Begriff des ‚Wildtraums’ später zugunsten des Tagtraums aufgibt, bezeugt dies negativ die reale Ohnmacht, die die lebendige Hoffnung zum ‚Prinzip’ gerinnen lässt. Blochs Konzeption der Kolportage als ‚Wildtraum’ ist auch insofern paradigmatisch für das Verständnis der Mädchenträume bei Lasker-Schüler, als diese „Geschichten, die mir heute nie einfielen“ von Beginn an als erinnerte reflektiert werden, deren Wahrheitsgehalt an eine Erfahrung von Trauer und Verlust geknüpft bleibt. Das ‚schwarze’ Wasser der Wupper mit ihren Arbeiterbaracken, das kurze Nachtkleid, der lose Kragenknopf des Vaters und der Zwirn der Gardinen sind Elemente einer ärmlichen Wirklichkeit, die ihre Würde erst durch den belebenden Mädchenblick zurückgewinnt, der sie in eine Welt voller Geheimnis und Luxus verwandelt. Die profane Realität wird weder ästhetisch verdoppelt noch idealistisch übersprungen, sondern verzaubert in eine ambivalente Wirklichkeit, in der Schmerz und Glück koexistieren. Für dieses Prinzip der Metamorphose steht bei Lasker-Schüler die Figur der Mutter, in der die melancholische Ambivalenz von Sehnsucht und Trauer konkret auf historische Marginalisierungserfahrungen bezogen wird. Im selben Text heißt es über den Blick in ein erleuchtetes „Bogenfenster“: Mit Allerleifurcht blickte ich durch den mysteriösen Bogen, dahinter ein altes Mütterchen, die Wäsche der Familie des Hauses wusch. Aber ich verwandelte die greise Wäscherin in einen Wunderrabbiner, von dem ich erst vor einigen Jahren ein Büchlein schrieb, in dem die Juden einen sicheren Palast Ihm bauten, dessen Kuppel Ihn schützte vor Ungemach. Vierteljahrhundert gährte diese Dichtung in meinem Herzen, wurde ein Weinberg, alter, spanischer Wein, sternenjährige Judenrebe. Mit der Kunst ist es nämlich wie mit dem Rebensaft. Je länger sie im Gewölbe des Herzens, im Schlauch der Ader ruht, desto tiefer und erfüllter ihre Blume sich entfaltet. Meiner teuren Mutter, die ich, seit sich 147

E. BLOCH, WA 10: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, S. 117.

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mir das Bogenfenster offenbarte, abends auf dem Weg zum Schlafengehen bange zu umklammern pflegte, erzählte ich mit großaufgetanen Augen das Geheimnis des erleuchteten Glases. „Du bist eine Dichterin“, sagte meine Mutter. Und dass sie nun tot ist, und nicht leibhaftig teilnehmen kann am gedeckten Mahle meiner Verse, betrübt meine Seele. Sie ist im Himmel, und wenn Abendrot ist, suche ich nach ihr hinter dem erleuchteten Granat des Wolkenfensters. (4.1, 118)

Im phantasierenden Fensterblick verschränken sich unterschiedliche Zeitebenen: die empirische, profane Gegenwart (das ‚alte Mütterchen’), das vom Erzählerstandpunkt her zukünftige „Büchlein“ Der Wunderrabbiner von Barcelona und die Erinnerung an die seit einem „Vierteljahrhundert“ gärende Erfahrung der Verfolgung der Juden,148 als deren Bezugspunkt mit dem Bild vom „spanische[n] Wein“ und der „Judenrebe“ die Vertreibung der Juden aus Spanien im 15. Jahrhundert benannt ist, auf die Lasker-Schüler sich zur Begründung des historischen Erfahrungsgehalts ihrer Dichtung mehrfach bezieht. Gleichzeitig wird die tote Mutter durch die Metaphorik des „Wolkenfensters“ als reale Erscheinung in die Gegenwart der Erzählung transponiert. Die Kolportagephantasie ist mithin zugleich Erinnerung und Vergegenwärtigung einer unabgegoltenen historischen Wunde, die über Generationen hinweg im „Gewölbe des Herzens“ einer Dichtung reifte, die zwar notwenig an ein poetisches Subjekt gebunden bleibt, zugleich aber dessen Gedächtnis auf eine kollektive Erfahrung hin übersteigt, welche sich den „großaufgetanen Augen“ der Dichterin als Fremdes „offenbart“, ihre partikulare Subjektivität überschreitet. Der Konnex der Sehnsuchtsphantasie mit der Erinnerung an historische Stigmata ist konstitutiv für Lasker-Schülers Poetik der Kolportage, die niemals als Inszenierung unbeschwerter Wunschträume missverstanden werden darf. Vielmehr ist es die „bange“ Erfahrung jahrhundertealten Schmerzes, aus der die „Blume“ der Dichtung sich entfaltet; Blume und Wunde, kreatürliches Leben und gesellschaftliches Stigma werden in eins gesetzt. Die Verzauberung der Wäscherin in einen „Wunderrabbiner“ ist sowohl als Auszeichnung zu verstehen, die ‚Armut’ in ‚Adel’ verwandelt, wie als Erinnerung an die 148

Über die Vertreibung der Juden aus Spanien als Ursprung der modernen jüdischen Historiographie vgl. Y. H. YERUSHALMI, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin 1988, S. 65 ff. Zur Bedeutung dieses Topos für Lasker-Schülers 1921 publizierte Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona siehe J. HESSING, Else Lasker-Schüler, S. 143 ff.; auch M. SCHULLER, Literatur im Übergang, S. 234 f. Zum historischen Hintergrund des im frühen 20. Jahrhundert neu erwachten Interesses am ‚kulturellen Gedächtnis’ des jüdischen Volkes vgl. A. HENNEKE-WEISCHER, Poetisches Judentum. Die Bibel im Werk Else Lasker-Schülers. Mainz 2003, S. 82 ff. – Henneke-Weischers Terminus ‚Bibelhermeneutik’ scheint mir Lasker-Schülers phantasierenden Umgang mit Elementen jüdischer Geschichte allerdings grundlegend zu verfehlen.

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fortdauernde Knechtung des Menschengeschlechts, die sich im historischen Gedächtnis der Juden sedimentiert hat – als Erinnerung also an die reale Versagung jenes ‚Adels’, der das adlige Privileg aufhöbe, indem er alle Menschen zu Königen macht. Die Glücksphantasie erweist sich, ganz im Sinne von Blochs ‚Wildtraum’, nicht als Verdrängung historischer Wunden, sondern als authentisches Eingedenken. Deshalb ist sie Kommunikation in einem Sinne, der von Blochs Ideal des ‚mitteilbaren’ Tagtraums nicht erfasst wird – nicht als Mitteilung oder Appell, sondern als poetisches Wort, das in seiner Autonomie und Materialität (als „Wein“ und „gedeckte[s] Mahl“) eine affektive Verbindung mit der „sternjährige[n]“ Geschichte der Verfolgten stiftet. Diese erinnerungsstiftende Kommunikation wird von der Mutter mit dem Satz „Du bist eine Dichterin“ beantwortet, der sich ebenso als Bestätigung der poetischen Berufung des Kindes wie als Hinweis auf dessen überhitzte Phantasie deuten lässt:149 Eben weil sie realen Personen fiktive Biographien erfindet und der Realität zurückgibt, was diese sich im Namen ihres eigenen Prinzips versagt, ist das Mädchen eine „Dichterin“, ihre Poesie ein Festschmaus. Dieses Plädoyer für die ‚erhitzte’ Mädchenphantasie wird in den Schlusszeilen indes selbst noch einmal melancholisch gebrochen: Es gibt keine erleuchteten Fenster auf unserem Erdteil mehr, da keine glühenden Herzen mehr pochen, es lohnt sich darum kaum weiter zu leben, und ich habe aufgegeben, nach erleuchteten Fenstern mir die Augen auszugucken. (4.1, 119)

Das erleuchtete Fenster als Kristallisationspunkt der „glühenden“, lebensspendenden Kraft überhitzten Phantasierens wird einer verlorenen Zeit, ja einem anderen „Erdteil“ zugeordnet. In einer erkalteten Realität, die dem ‚pochenden Herzen’ des Dichters kein Material mehr bietet, um sich zu erneuern, scheint der Versuch, sich „die Augen auszugucken“, sinnlos geworden zu sein. Wer sich nach etwas ‚die Augen ausguckt’, hebt den fixierenden, perspektivisch beschränkten Alltagsblick zugunsten einer Erkenntnisweise auf, in der der Blick über den Sehenden hinauswächst und ihn gerade dadurch zu sich selbst kommen lässt. In der enthusiasmusfeindlichen Zeit, aus der heraus das poetische Ich rückblickend spricht, scheint ein solcher Blick nur noch Illusion, das ‚erleuchtete Fenster’ identisch mit jenem falschen Schein zu sein, den 149

Lasker-Schülers wiederholte Behauptung, von spanischen Juden abzustammen, wurde lange für bare Münze genommen und lässt sich ähnlich wie die Selbststilisierungen Karl Mays als Kolportage – als für wahr genommenes Gerücht über die eigene Person – bezeichnen. Vgl. die Passagen in Ich räume auf!, wo Lasker-Schüler erzählt, ihr „Urgroßvater liebmütterlicherseits“ sei ein „spanischer Jude“ gewesen, der „unter dem in England angenommenen Namen Kissing“ als Weinbauer nach Süddeutschland übergesiedelt sei (KA 4.1, 68).

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Bloch an Auslage und Reklame denunziert. Dennoch wird das Glücksversprechen des ‚erleuchteten Fensters’ nicht einfach als Täuschung abgetan. Vielmehr geht der ‚unerwachsene’ Glaube an die Wahrheit ästhetischen Scheins in den Sprachgestus ein, der in seiner naiv anmutenden Einfachheit (‚pochende Herzen’, ‚sich die Augen ausgucken’) die Erinnerung an jenen Enthusiasmus bewahrt, der auf der Ebene der Aussage melancholisch verabschiedet wird.

b) Hochkultur, Nonsense und ‚freie Komik’ (Kempner, Mauthner) Welchen Stellenwert hat der weder ironische noch bloß naive Rekurs auf naiv-kindliche Sprach- und Wahrnehmungsformen in Lasker-Schülers Œuvre? Diese Frage führt in den zweiten wichtigen Aspekt des Begriffs von Kolportage, wie er sich an ihrer Poetik konturieren lässt: das Verhältnis zur Hochkultur, zur im bürgerlichen Kanon kodifizierten literarischen ‚Tradition’. Obwohl die Kritik an der bürgerlichen Repräsentationskultur und am bürgerlichen Bildungsbegriff in vielen Prosaskizzen Lasker-Schülers eine wichtige Rolle spielt, ist diesem Aspekt bisher noch kaum nachgegangen worden.150 Nimmt man den anti-pädagogischen, ‚enthusiastischen’ Impuls ihrer Poetik ernst, gewinnen jedoch gerade die bildungsparodistischen Albereien und Verballhornungen, die ihr Schaffen durchziehen, exemplarische Relevanz. Die Skizze „Das erleuchtete Fenster“ enthält auch in dieser Hinsicht eine programmatische Szene, wenn es über die Mutter von Martha Schmidt, der Freundin der Erzählerin, heißt: Wie Marthas weise Mutter stellte ich mir die Kassandra aus dem Weltgeschichtsunterricht unserer Schule vor. Frau Schmidt prophezeite jedenfalls genau so sicher wie Trojas Tochter, wenigstens uns beiden sagte sie alles voraus, wenn wir unsere Aufgaben durch unausgesetztes „Ausdemfenstergucken“ kichernd im Galopp zusammen hergestellt hatten. Die Klassiker konnte „Frau Emilie“ so nach dem Schnürchen auswendig, und manchmal fühlte sie sich berufen, uns Mädchen des Altmeisters Iphigenie oder Friedrich v. Schillers Glocke zu deklamieren. Uns rannen die Tränen vor Lachen übers Gesicht, unbemerkt von der in Ekstase sich bäumenden Frau. In ihrer Heimat fiel sie einmal, vertieft im Studium Kotzebues, aus dem zweiten Stock des Hauses auf die er150

Am ergiebigsten in dieser Hinsicht sind die Arbeiten, die sich, wenngleich am Rande, mit Lasker-Schülers Strategien der Parodie und der ‚Verkleinerung’ befassen. Vgl. vor allem Feßmann, die Lasker-Schülers Selbstbilder in die Tradition moderner IchTravestien wie Ehrensteins Tubutsch und Jarrys Ubu einordnet (M. FESSMANN, Spielfiguren, S. 38 ff.), und die Bemerkungen über das ‚Kleine’ in Lasker-Schülers Bilderwelt bei S. HENKE, Fehl am Platz, besonders S. 88 ff.

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schrockene Straße, worauf boshafte Zeitungen von der gestürzten Literatur berichteten. Martha und ich hatten sie aber beide lieb, sie hatte immer für uns eine kleine Ueberraschung in der Tischschublade, die uns den Schulgang versüßen sollte (4.1, 115).

Die für Lasker-Schülers Werk charakteristische Relation von Kindheit, poetischem Enthusiasmus, Hochkultur und Nonsense lässt sich an dieser Passage beispielhaft entfalten. Marthas Mutter figuriert geradezu als Inkarnation jenes zur ‚Ergriffenheit’ verdinglichten Enthusiasmus, den Schlaffer als Verfallsprodukt der bürgerlichen Dichotomisierung von Hoch- und Massenkultur beschreibt. Obwohl sie die zu Kürzeln ihrer selbst depravierten ollen Kamellen des bürgerlichen Bildungskanons („Altmeisters Iphigenie“, „Friedrich v. Schillers Glocke“) „nach dem Schnürchen“ hersagen kann, also ein entfremdetes, ‚auswendiges’ Verhältnis zur literarischen Tradition unterhält, belehnt Frau Schmidt deren Zeugnisse doch mit der Emphase des Enthusiasmus, gibt sich als „weise“ Prophetin in der Erbfolge von „Trojas Tochter“, bäumt sich in „Ekstase“ bei der Deklamation der Klassiker und „vertieft“ sich in das Studium Kotzebues wie in einen heiligen Text. Das gesamte Arsenal ‚besessener Rede’ im Sinne Schlaffers – Prophetie, Ekstase, poetische ‚Berufung’ – verschmilzt zu einer unfreiwilligen Selbstparodie des Philistertums. „Frau Emilie“ (der Name mag eine Anspielung auf Schillers Tochter sein151) ist als „Kassandra aus dem Weltgeschichtsunterricht“ eben nur das bildungspädagogisch deformierte Abbild einer ‚Seherin’; ihre Prophezeiungen warnen gerade vor allzu sehnsüchtigem „Ausdemfenstergucken“ und wollen dem kindlichen Enthusiasmus Grenzen setzen; ihre kontemplative Energie verwendet sie auf das „Studium“ eines so populären wie marginalisierten Schiller-Epigonen,152 und in ihrer ekstatischen Selbstvergessenheit merkt sie nicht, dass die Kinder sich vor Lachen biegen. Ihr kleinbürgerlicher Name und ihr naives Verhältnis zur bürgerlichen Bildungstradition machen aus ihr eine Repräsentantin der „gestürzten Literatur“ – der zum bloßen Attribut für Bildung herabgesunkenen Hochkultur, die gar nicht mehr unmittelbar von Schiller oder Goethe, sondern 151

152

Es könnte sich auch um eine ‚plebejisierende’ Anspielung auf Emilia Galotti handeln. – Der Kommentar der Kritischen Ausgabe, der sich leider oft in der Übernahme von Lexikonbestimmungen erschöpft, teilt hierzu nichts mit. August von Kotzebue, einer der beliebtesten Roman- und Bühnenautoren der GoetheZeit, hat sich mehrfach in der Imitation des Schiller’schen Bühnenpathos versucht (M. GREINER, Die Entstehung der modernen Unterhaltungsliteratur. Studien zum Trivialroman des 18. Jahrhunderts. Reinbek 1964, S. 89 ff.). Dennoch kann er durch sein biographisches Schicksal nicht einfach nur als Repräsentant der Trivialkultur gelten: 1819 von einem nationalistischen studentischen Burschenschaftler ermordet, der sich der Reinigung deutscher Kultur von allem Unrat verschrieben hatte, war er vielmehr zugleich Opfer der genuin deutschen Perhorreszierung des ‚Trivialen’ und verkörpert damit den unversöhnten Riss zwischen Hoch- und Trivialkultur selbst.

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von den zu ihrem eigenen Denkmal erstarrten ‚Altmeistern’ und popularisierenden Adepten verkörpert wird. Gegenstand der Szene ist also nicht allein das Missverhältnis zwischen Hoch- und Trivialkultur, sondern die trivialisierte Hochkultur, die den Versöhnungs- und Allgemeinheitsanspruch des bürgerlichen Bildungsbegriffs ungewollt seiner Hohlheit und Partikularität überführt. Dennoch bleibt die Mutter den Freundinnen „lieb“: Wenn ihnen „Tränen vor Lachen übers Gesicht“ rinnen, handelt es sich um kein höhnisches, sondern um ein ‚liebendes’, solidarisches Gelächter. Auch dies ist symptomatisch für Lasker-Schülers Werk, in dem sich bei aller Komik kein einziges denunziatorisches Lachen findet. Vielmehr wird die karikaturistische Metapher von der ‚gestürzten Literatur’ ausdrücklich den „boshafte[n] Zeitungen“ zugeschrieben, während die Mutter, die den Kindern den täglichen Schulgang ‚versüßt’, für die Naivität geliebt wird, mit der sie den ideologischen Charakter des von ihr rezipierten Bildungsmülls verkennt und ihn gerade in seiner Trivialität als Vorschein dessen ernstnimmt, was historisch in ihm nur noch nachklingt. In ihrem illusorischen Glauben, einen ‚enthusiastischen’ Bezug zu den Versöhnungsversprechen der bürgerlichen Kultur zu unterhalten, liegt daher ein im emphatischen Sinn illusionäres, utopisches Moment, das durch den Rekurs auf Kotzebue, der seiner Popularität zum Opfer gefallen ist und insofern gerade kein Erfolgsschriftsteller war, noch verstärkt wird. Die Komik der Szene hat somit einen doppelten Aspekt: Zum einen entlarvt die cartoonhafte Versinnbildlichung der ‚gestürzten Literatur’ in der aus dem Fenster purzelnden Leserin den bürgerlichen Bildungsanspruch als hohl und mechanisch; zum anderen wird die Mutter als Repräsentantin dieses Anspruchs nicht zur Witzfigur, sondern gerade wegen ihrer Selbstillusionierung verehrt, die über das bürgerliche Prinzip der Realitätstüchtigkeit, wie die ‚Schule’ es verkörpert, hinausweist. Das Lachen entzündet sich wohl an der Begrenztheit der Philisterin, erklärt sich aber solidarisch mit der Traumtänzerin, die nie ganz in ihrer bürgerlichen Rolle aufgeht. Sucht man nach einem zeitgenössischen Analogon zu dieser Form unfreiwilliger Komik, gerät eine Autorin in den Blick, die um die Jahrhundertwende sehr populär war und als paradigmatisch für das von ‚Frau Schmidt’ verkörperte ästhetische Verhalten gelten kann: Friederike Kempner, genannt ‚der Schlesische Schwan’, ist mit ihren Gedichten, deren achte Auflage noch zu ihren Lebzeiten 1903 erschien, nicht nur beim Publikum der Gründerzeit beliebt gewesen, sondern unfreiwillig zum Vorbild schon damaliger NonsenseLiteraten avanciert. Kempner wurde von den Exponenten des ‚Allgemeinen Deutschen Reimvereins’ um Heinrich Seidel, der in Parodie des ‚Allgemeinen Deutschen Sprachvereins’ das Goethe- und Schiller-Epigonentum à la Geibel aufs Korn nahm,153 als Leitstern der Nationaldichtung verspottet, erhielt iro153

Über die Schlüsselstellung Geibels in diesem Kontext vgl. W. HINCK, Epigonentum und Nationalidee. Zur Lyrik Emanuel Geibels. In: ZfdPh 85 (1966), S. 267-284. Zum

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nisch-liebevolle Huldigungen von Otto Julius Bierbaum, Richard Dehmel und von Lasker-Schülers Freund Paul Lindau, war also auch den Berliner und Münchener Autoren der Moderne ein Begriff. Später nahm sich, vermittelt wohl über Peter Hacks, die ‚Neue Frankfurter Schule’ ihre Gedichte zum Vorbild.154 1836 als Tochter einer assimilierten jüdischen Familie geboren, wuchs sie im sozial und ökonomisch rückständigen Posen auf, wo ihr Vater, einer der wenigen ‚Schutzjuden’ in der von Deutschnationalen und Antisemiten dominierten Provinz, ein Rittergut erworben hatte. Dort erhielt sie Privatunterricht. Kempners Epigonentum hat insofern einen konkreten sozialen und literaturgeschichtlichen Gehalt: Es ist nicht nur Zeugnis für das sprach- und bildungspolitische Desaster der damaligen Mädchenerziehung,155 die das von einem trivialisierten Goethe-Verständnis hergeleitete Modell der ‚Erlebnisdichtung’ als Ich-Aussprache zum genuinen Modus ‚weiblicher’ Lektüre stilisierte und die Banalisierung der literarischen Bildungssprache beförderte, sondern auch Symptom einer historischen Wunde. Trotz ihrer patriotischen Haltung als ‚jüdisch’ diskriminiert, suchte sich Kempners Familie wie viele bürgerliche Juden durch Akkumulation ökonomischer und kultureller ‚Adelsattribute’ gleichsam in die reichsdeutsche Mehrheitsgesellschaft einzukaufen. Die ‚schiefe’, missratene Adaption des herabgesunkenen Literatur- und Bil-

154

155

‚Allgemeinen Deutschen Reimverein’ siehe A. LIEDE, Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache. 2 Bd., hg. von Walter Pape. Berlin, New York 1992. Bd. II, S. 300 ff.. Kempners Epigonentum skizziert C. HÖPFNER, „Jener Lieder süße Worte“. Friederike Kempners Heine-Gedichte. In: Heine-Jahrbuch 36 (1997), S. 153-167. Vgl. das Vorwort von Peter Hacks in: F. KEMPNER, Dichterleben, Himmelsgabe. Sämtliche Gedichte, hg. von Nick Barkow und Peter Hacks. Berlin / DDR 1989, S. 733. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit Seitenzahlen in Klammern zitiert. – Robert Gernhardt und Klaus Cäsar Zehrer haben Kempner in ihrer 2004 publizierten Nonsense-Anthologie Hell und schnell einen wichtigen Platz eingeräumt. Über den Konnex von Naivität und Nonsense bei Kempner siehe den grundlegenden Beitrag von A. LIEDE, Dichtung als Spiel. Bd. I, S. 400 ff. Vgl. J. SCHÖNERT, Die populären Lyrik-Anthologien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum Zusammenhang von Anthologiewesen und Trivialliteraturforschung. In: Sprachkunst 9 (1978), S. 272-299; G. HÄNTZSCHEL, „In zarte Frauenhand. Aus den Schätzen der Dichtkunst“. Zur Trivialisierung der Lyrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: ZfdPh 99 (1980), S. 199-226. – Dass die ‚Sprachkrise’ der Jahrhundertwende angemessen nur zu verstehen ist als Reaktion auf die pädagogische Trivialisierung des Literatur- und Bildungsdeutschs, wird sehr plausibel belegt von P. VON POLENZ, Die Sprachkrise der Jahrhundertwende und das bürgerliche Bildungsdeutsch. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 14 (1983). H. 2, S. 3-13. Siehe ferner L. MACKENSEN, Die „Dichter“ und die Umgangssprache. In: ders., Die deutsche Sprache in unserer Zeit. Heidelberg 1971, S. 9-48. Zur Transformation des Bildungsbegriffs vgl. REINHART KOSELLECK (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990, insbesondere die Einleitung von Koselleck, ebd., S. 11-46.

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dungsdeutschs in Kempners Werk zeugt mithin nicht einfach von individueller Talentlosigkeit, sondern spiegelt die Sehnsucht nach sozialer Anerkennung ebenso wie deren politisch präjudiziertes Misslingen. Es ist kein Zufall, dass die pathetische Anklage gegen den Antisemitismus Kempners Werk durchzieht.156 Auch ihre Angst, lebendig begraben zu werden, die sie mit vielen Zeitgenossen teilte, hat poetologische Relevanz als (wie immer auch unbeabsichtigte) Selbstreflexion einer ‚scheintoten’ Bildungssprache, die längst zur fungiblen Hohlform geworden ist, aber als Ausdruck des bürgerlichen Emanzipations- und Versöhnungsversprechens weiterhin ernstgenommen und beschworen wird. Ihre Würde erhält Kempners Dichtung durch das Moment unfreiwilliger Komik, das aus der Dissonanz zwischen trivialisierter Form und ästhetischem Wahrheitsanspruch entspringt. Kempner verschmilzt den Duktus des Kalenderspruchs mit geradezu nietzscheanischem Pathos: Ich meint’ es rechtschaffen und ehrlich, Doch zu mir selber nicht gut – Mit jeglichem Wesen viel besser – Und schrieb meine Verse mit Blut! – (199)

Der genieästhetische Topos vom poetischen Schreiben mit dem eigenen Blut wird kurzgeschlossen mit einem biedermeierlichen Ethos von Rechtschaffenheit und Selbstbescheidung. Die daraus resultierende Dissonanz entlarvt einerseits ungewollt den Versöhnungsanspruch des bürgerlichen Kunsterziehungsideals als leeres Versprechen – wer sich selber „nicht gut“ ist, hat sein Samaritertum wohl allzu teuer erkauft. Andererseits bleibt gerade in der Unvermitteltheit zwischen Anspruch und Form die Sehnsucht, das „Blut“ der eigenen „Verse“ möge „jeglichem Wesen“ zugute kommen und die Partikularität des bloß Subjektiven überschreiten, gleichsam roh erhalten. Der Stilbruch – konstitutives Moment aller Lyrik Kempners – verweist nicht nur auf die ideologische Korruption der verwendeten Form, sondern zugleich auf die unkorrumpierte ‚Ehrlichkeit’ ihres eigenen scheiternden Anspruchs. Die Utopie einer versöhnten Menschheit gerät ihr denn auch zur Binsenweisheit im besten Sinne:

Kennst Du vielleicht ein Land, Wo keine Bösen sind? Das wär’ mein Lieblingsland, Ich ginge hin geschwind.

156

Dies ist gut dargestellt im Nachwort von Nick Barkow zu F. KEMPNER, Dichterleben, S. 247-273.

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Kennst Du vielleicht ein Land, Wo niemand Böses tut? Das wär’ mein Wunderland, Für das gäb’ ich mein Blut! (172)

Stilistisch und motivisch bedient sich das Gedicht beim Mignon-Lied, das Kempner als beliebig transponierbare Utopie-Schablone betrachtet zu haben scheint („Kennst Du das Land, / Wo die Lianen blüh’n“; 84). Dessen Ikonographie wird jedoch ins Allgemein-Menschliche gewendet und mit heroisch nationalem Pathos amalgamiert. Das Pathos freilich führt sich selbst ad absurdum: Indem sie den utopischen Raum des Goethe’schen Gedichts zum „Lieblingsland“ herunterbringt und die Diktion des patriotischen Freiheitsliedes auf keine Nation, sondern auf ein „Wunderland“ bezieht, nimmt sie der Utopie ihre uneinholbare Ferne und der politischen Rhetorik ihren Heroismus. Das Ergebnis ist ein Gemeinplatz – alles wäre gut, wenn es keine „Bösen“ gäbe –, der durch die Kraftanstrengung, die ihn hervorbringt, etwas hilflos Rührendes gewinnt, das über bloße Sentimentalität hinausreicht. Im hilflos Rührenden von Kempners Versen artikuliert sich die Ohnmacht eines Subjekts, das die bürgerliche Ideologie des Allgemein-Menschlichen ernstnimmt und ganz bieder für das Hier und Jetzt geltend machen will. Aus der Erfahrung der realen Ohnmacht des bloß ‚Menschlichen’ wiederum schöpft Kempner ihre Bestimmung ästhetischer Zweckfreiheit: Unnütz lyrisches Gesinge, Unnütz lyrisches Geklinge Gehst Du mir nicht aus dem Sinn, Schreib’ ich auf’s Papier Dich hin. (140)

Es wäre hämisch, diesen Vierzeiler einfach als unfreiwilliges Eingeständnis des eigenen Dilettantismus zu verstehen. Vielmehr macht er Ernst mit der Erfahrung, dass ästhetische Zweckfreiheit angesichts der Depravation des poetischen Kanons zum Bildungsgut tatsächlich mit Zwecklosigkeit zu konvergieren, lyrischer Gesang zum „Gesinge“ geworden zu sein scheint. Mit den Mitteln, die ihr von der bürgerlichen Mädchenerziehung an die Hand gegeben wurden, bringt Kempner die Wahrheit über das bürgerliche Kunst- und Bildungsideal auf den Punkt. Sie dichtet buchstäblich so, wie die Zeitgenossen es von ‚zarter Frauenhand’ erwarten, und ist eben darum besser als jene technisch versierteren Epigonen, die sich Kempners ‚Naivität’ überlegen dünkten. Gerade weil sie ein naiv bewunderndes Verhältnis zum Pantheon der Hochkultur hat, sieht Kempner nicht ein, weshalb das ‚lyrische Geklinge’ für wenige Große reserviert und auf bestimmte Formen eingeschränkt bleiben soll:

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Daktylen und Jamben, Trochäen, Sie schließ’ ich in einen Bund, Die Regel, sie ewig zu trennen Hat keinen vernünft’gen Grund. Nicht Stände gibt es und Kasten Im Reiche der Poesie, Das Mannigfache im Schönen, Es bildet die Harmonie. (159)

Der „Bund“, auf den Kempner zielt, ähnelt eher einem bunt zusammengestoppelten Blumenstrauß als einer poetischen Formensynthese. Kempners Entlehnungen folgen, wie Alfred Liede gezeigt hat, einer Logik literarischer Halbbildung, die ohne die „schulmeisterliche Bewunderung der ‚Klassiker’“ nicht denkbar ist,157 zugleich aber in der Entlehnung das Entlehnte unmittelbar präsent glaubt und das Zitierte als Authentisches genießt: „Ihr Weltbild ist das eines einfachen Menschen, der mit allem Bildungsgut der Zeit in Berührung gekommen ist. Sie empfängt es nicht aus erster Hand, sondern aus dem gesellschaftlichen Gespräch, aus Zeitung und Zeitschrift. Was selbst die Zeitgenossen in nüchternen Augenblicken als Phrase empfinden, erfüllt ihr leidenschaftliches Herz mit Begeisterung“.158 Begeisterung und Leidenschaft statt bürgerlicher ‚Nüchternheit’: Kempner bietet das gesamte Repertoire enthusiastischer Erfahrungen auf, um es auf prosaische Alltagsgegenstände zu beziehen. Insofern verhält sich ihre Poesie komplementär zur Kolportage im Sinne Blochs. Während diese das Fernste im Hier und Jetzt zu realisieren sucht, findet Kempner im banalsten Hier und Jetzt immer wieder das große Ganze: Poesie ist das Leben, Prosa ist der Tod. Engelein umschweben Unser täglich Brot. (102)

Poesie und Prosa können so friedlich koexistieren wie das „täglich Brot“ mit den „Engelein“, die es wie Mücken „umschweben“. Die Kluft zwischen Profanem und Transzendentem wird gar nicht mehr wahrgenommen; beides wird als harmonisch zusammenklingend gesetzt. Wie für Lasker-Schülers ‚Frau Schmidt’ Schiller und Kotzebue auf der gleichen Ebene rangieren, finden sich bei Kempner Gedichte über Heine, Goethe, Napoleon und Lord Byron neben Versen über ihren Schoßhund Nero, ihren Papagei Jakob, über ihre Eltern, über Zeitgenossen und Freundinnen. Kempner verharrt also nicht in der An157 158

A. LIEDE, Dichtung als Spiel. Bd. I, S. 408. Ebd., S. 411 f.

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himmelung der Kulturheroen; vielmehr nimmt sie die halbverdauten Brocken ihrer bürgerlichen Bildung derart konkret für wahr, dass sie deren Ideale ganz unmittelbar für alles und jeden glaubt geltend machen zu können. Dadurch schlägt ihre Devotion ungewollt um in kulturelle Anarchie. Allein Alfred Liede benennt diesen Aspekt, wenn er feststellt, dass Kempner „alles ohne Scheidung von Mein und Dein“ an sich reiße: „Was je gedichtet wurde, gehört ihr. Es gibt keine Trennung zwischen eigener und fremder poetischer Welt.“159 Gerade weil sie das Beglückungspathos ihrer poetischen Vorbilder wörtlich nimmt, kann Kempner den der Genieästhetik immanenten Eigentumsvorbehalt nicht respektieren und verstößt gegen alle Distanzgebote der bürgerlichen Ästhetik. Aus dieser familiarisierenden Perspektive heraus verzeiht sie Heines Normverstöße („Witzli Putzli sei vergeben – / Alle Poesie ist rein!“; 154) und zeichnet Wagner, den sie tantenhaft „Richard“ nennt, als kleinen Schwerenöter: „Hast Schulden über’n Kopf gemacht, / Hast Deinen König ausgesogen, / [...] / Und B ... um die Frau betrogen“ (217). Kempners Verhältnis zur bürgerlichen Hochkultur entspricht exakt dem Lektüreverhalten des Kolportagelesers: Wie dieser mit den Gestalten seiner Lektüre realen ‚Umgang’ pflegt und die Diätetik bürgerlicher Kunstrezeption missachtet, so holt sie sich den gesamten bürgerlichen Literaturkanon in ihr Wohnzimmer und rückt dessen Exponenten in die gleiche Nähe wie Kanarienvögel und Zimmerpflanzen. Diese falsche Nähe zu einer in ihrem Wahrheitsgehalt gar nicht mehr unmittelbar präsenten Hochkultur ist es, die in Lasker-Schülers Skizze von der vom Lektürehimmel auf die Straße stürzenden ‚Frau Schmidt’ zugleich verspottet und gepriesen wird. Verspottet, weil sich darin die Kluft zwischen bürgerlicher Bildungsideologie und ernüchternder Wirklichkeit offenbart. Gepriesen, weil die fehlgelenkte Intimität mit den großen Dichtern in all ihrer Verkehrtheit doch an dem Versöhnungsversprechen festhält, das einmal mit diesen verbunden war und nur noch als Selbstparodie fortbesteht. Die Travestien bürgerlicher Hochkultur in Lasker-Schülers Werk lassen sich weder bruchlos als Satire verbuchen noch als Marginalien abtun. Vielmehr handelt es sich um Versuche, dem Kempner’schen Impuls der falschen Nähe und fehlgelenkten Identifikation seinen poetischen Wahrheitsgehalt abzugewinnen. In einer 1932 zu Goethes hundertstem Todestag publizierten Huldigung ist der adäquate Ort für Goethe-Reliquien nicht der Marmorschrein, sondern das „Rosenholzkästchen“: Meine, von mir bewunderte Mama besaß neben ihrer Napoleon-Sammlung auch eine schwärmerische Verehrung für Goethe. Er und sie in ein und derselben Stadt, in Frankfurt, zur Welt gekommen, begegneten sich unter dem Himmel der Erinnerung, auf den Wegen ihrer liebenswürdigen Heimat. Dichtete der Dichter auch längst schon seine göttlichen Verse weiter im Olymp, so lebte 159

A. LIEDE, Dichtung als Spiel. Bd. I, S. 415.

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dennoch auf Erden im blühenden Herzen meiner Mutter der Ewigverehrte. Ohne meine Mutter hätte ich mir den Goethe nicht vorstellen können. Ob in ihn oder in Bonaparte, dem großen Kaiser, meine schwärmerische jugendliche Mama verliebt gewesen, weiß ich bis heute mir nicht zu enträtseln. Aber sicher wusste ich schon als Kind, dass Goethe der Dichter ihres reinen Herzens gewesen ist. Das bezeugten die vielen Gedichte in dem großen Poesiealbum in feiernder Abschrift niedergeschrieben. Meiner Mutter Handschrift war tropisch, den Buchstaben ging die Blüte auf. Die Zeilen der Goetheschen Dichtungen wurden zu prangenden Alleen. Eben noch blätterte ich in dem teueren Buch und erinnerte mich an einen Brief des jungen Goethe, den er weiland an Friederike schrieb. Das kostbare Gedenkblatt, nie veröffentlicht, lag aufbewahrt in einem geschnitzten Rosenholzkästchen im Wandschrank in meiner Mutter Stube hinter Schloss und Riegel. Für mich als Kind erhöhte sich sein Wert, im Glauben, Goethe habe ihn an „sie“ geschrieben. Das bewog mich, die Kopie, die für jedes meiner Geschwister angefertigt wurde, in Ehren zu halten. (217 f.)

Die Goethe-Schwärmerei, die gleich der Napoleon-Sammlung zum Besitz der Mama gerechnet wird, zeugt wie Kempners Begeisterung für die zum Nippes depravierten Zeugnisse bürgerlicher Hochkultur von falscher Identifikation, entspringt aber doch einem „blühenden Herzen“. Obwohl Goethes Lyrik die Mama lediglich zu schulmädchenhafter Nachbildung animiert, indem sie seine Gedichte in „feiernder Abschrift“ in ihrem „Poesiealbum“ verewigt, wird dieser Akt mit der Metapher von der ‚tropischen’ Handschrift und den ‚aufblühenden’ Buchstaben als autonomer Schaffensprozess gewertet, der die Verszeilen in „prangende Allen“ verwandelt. Weil der enthusiastische Impuls, den Lasker-Schüler mit der Metapher der blühenden Handschrift für ihr Schreiben beansprucht, auch dem schwärmerischen ‚Abschreiben’ zugrundeliegt, verwandeln sich die Zeilen zu einem begehbaren Ort. Gerade die naive Idolatrie scheint also imstande zu sein, die starre Fassade des Dichtergenies aufzubrechen. Eben dies meint die Erzählerin, wenn sie behauptet, ohne ihre Mutter hätte sie sich „den Goethe nicht vorstellen können“: Als Gegenstand schwärmerischer Jugendliebe und Bewohner „ein und derselben Stadt“ wird der zum Kulturdenkmal verhunzte Goethe wieder ‚vorstellbar’. Er thront nicht über dem Publikum, sondern ist Teil der „liebenswürdigen Heimat“ unter demselben „Himmel der Erinnerung“. Dass damit kein paternalistisches Volkskunstkonzept visiert wird, zeigt die Unbedarftheit der mütterlichen GoetheSchwärmerei, die ihrer Emphase zum Trotz das Gegenteil von Hagiographie ist. Ihre Referenzpunkte sind allesamt profanster Art: die gemeinsame Heimatstadt, das Interesse für faits divers und Liebesklatsch, die Tauglichkeit der Verse als Albumssprüchlein. Klatsch und Kolportage als Formen der Trivialisierung bürgerlicher Hochkultur avancieren selbst zum Modus der Huldigung. Konsequent erweist sich das „kostbare Gedenkblatt“, das die Mutter „hinter Schloss und Riegel“ aufbewahrt, als materialisiertes Gerücht. Nicht nur hat

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die Erzählerin es aus dem Irrtum heraus „in Ehren“ gehalten, der Brief sei an ihre Mutter gerichtet, überdies ist es nur als „Kopie“ verfügbar, also selbst nichts anderes als eine Abschrift. Der Brief, der mit „Zärtlich geliebte Friederike“ beginnt und dem wiederum eine „Abschrift meiner Dorothea“ beigefügt ist (4.1, 218), ist eine einzige Parodie auf ‚Authentizität’: Sein Stil imitiert die Diktion der Goethe-Zeit – „Der Winter dräut uns einzuhüllen mit Sternenflocken“ (4.1, 218) –, und neben Hermann und Dorothea werden die Zeilen „Wer mit dem Leben spielt, / Kommt nie zurecht. / Wer sich nicht selbst befiehlt, / Bleibt immer Knecht“ aus den „Zahmen Xenien“ zitiert (4.1, 218 f.). Auch ist der Text mehrfach durch den Einschub „einige Worte verblichen“ unterbrochen (4.1, 218), womit der fragmentarische Charakter der ‚Quelle’ als Bestandteil der Authentizitätsfiktion parodiert wird. Zugleich wird der Glaube an die Echtheit des Dokuments jedoch offen ad absurdum geführt: Die Liebe Goethes zu Friederike Brion entspann sich 1770, Hermann und Dorothea entstand 1796/97, der Spruch aus den „Xenien“ erst nach 1815. Es handelt sich also um eine wilde Kompilation von Biographemen aus unterschiedlichsten Schaffensphasen, so dass die Erzählerin konzediert, „die Echtheit dieses Schreibens“ sei angezweifelt worden, wovon sie aber unbeeindruckt bleibt – „immerhin war es Paul Lindau, der meiner herrlichen Mama das kostbare Dokument dedizierte“ (4.1, 219). Kostbarkeit und Authentizität des ‚Dokuments’ haben dieser Bestimmung nach gar nichts mit dessen historischer Echtheit zu tun, sondern resultieren aus den Sehnsüchten und affektiven Energien, die sich darin sedimentiert haben. Als Kristallisationspunkt solcher Affekte erscheinen Nippes und Kitsch als Möglichkeiten, das Versöhnungsversprechen der bürgerlichen Hochkultur aus seiner fetischistischen Starre zu erlösen und der realen Erfahrung zugänglich zu machen. Der Nähe des Kitsches zum Pastiche, zur unreinen Stilmischung, die meist für dessen Affinität zum ‚schlechten Geschmack’ namhaft gemacht wird,160 fällt somit eine neue Qualität zu. Das Moment der Vermischung, das dem Wort Kitsch etymologisch zugrundeliegt und sich nicht nur auf die Mischung ‚hohen’ und ‚niederen’ Stils, sondern auch auf die distanzlose Kitschrezeption bezieht,161 wird ge160

161

Den Eklektizismus des Kitschstils versucht Walther Killy durch Montage verschiedener Kitsch-Texte zu einem ‚homogenen’ Gesamttext zu belegen. W. KILLY, Deutscher Kitsch, S. 9 ff. Dieses Verfahren wird kritisiert von H. KREUZER, Trivialliteratur als Forschungsproblem. Zur Kritik des deutschen Trivialromans seit der Aufklärung. In: ders., Veränderungen des Literaturbegriffs. Göttingen 1975, S. 7-26. – Zum Eklektizismus des Kitsches vgl. auch U. ECO, Die Struktur des schlechten Geschmacks, besonders S. 60 ff. ‚Kitschen’ war im 19. Jahrhundert ein mundartlicher Ausdruck für ‚Zusammenscharren’. Zu den konkurrierenden Herleitungen des Begriffs vgl. D, KLICHE, Kitsch, S. 273 ff. Besonders deutlich wird die Denunziation der Kitschwahrnehmung als ‚klebrig’ und ‚penetrant’ bei L. GIESZ, Phänomenologie des Kitsches. Ein Beitrag zur anthropologischen Ästhetik. Heidelberg 1960, S. 43 ff.

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genüber devoter Hagiographie, aber auch respektloser Satire als verlebendigende Aneignung der ‚großen Dichter’ rehabilitiert. Die Versammlung der „literarischen Menschen der Stadt Elberfeld“ im Hause Schüler wird denn auch – in Analogie zum Kaffeekränzchen – „Lesekränzchen“ genannt: Mein Papa bekam die Schreirollen! Meine Mama las das Gretchen im Faust [...]. [Mein Papa] deklamierte den Mephisto genau in der Extase, wie er Schillers „Franz die Kanaille“ zu betonen pflegte. Das Lesekränzchen hörte ich durch den Türspalt der leicht angelehnten Tür [...] platzen vor Lachen. (4.1, 219)

Dieser Lesekreis, der an die Reimvereine unsinnsverliebter Akademiker im späten 19. Jahrhundert gemahnt,162 ist eine Travestie auf die Versammlung räsonierender Privatleute à la Habermas, vor dessen diskurstheoretischem Richterstuhl er kein Erbarmen finden dürfte. Dennoch handelt es sich nicht um eine entlastende Alberei, die als Komplement zum devoten Ernst bürgerlicher Kulturpflege diese letztlich affirmiert, sondern um den ganz und gar ernsthaften Versuch, den zum Denkmal mortifizierten Goethe von seiner Kanonisierung zu erlösen. Konsequent endet der Text mit der im besten Sinn konkreten Phantasie, „dass die Großmama und der Großpapa den Johann Wolfgang von Goethe noch gesehen haben Schlittschuhlaufen“ (4.1, 220): Schlittschuhlaufen war tatsächlich eine Mode der Goethezeit, und die scheinbar banale Imagination rückt den Dichter als Alltagsmenschen auf Augenhöhe mit „Großmama und Großpapa“. Seine Entsprechung findet dieses Verfahren in der unbedarften Sprachgebärde: Stilbrüche (die Mama „besaß“ eine „Verehrung“), falsche Grammatik (in „dem großen Kaiser“ verliebt), kalauernde Falschschreibungen („Extase“), unangemessene Sprachniveaus (‚der Goethe’) und Katachresen – Goethes Vierzeiler wird „Vierreiher“ genannt (4.1, 219) – bringen Goethe selbst gleichsam auf Kempner-Niveau und familiarisieren ihn rhetorisch, jedoch ohne Respektlosigkeit: Die Travestie ist Lasker-Schülers genuine Form der Respektbekundung. Die Ambivalenz der Goethe-Skizze als Huldigung und Travestie muss indes noch unter einem anderen Aspekt gesehen werden, der angesichts der Entstehungszeit des Textes unmittelbare Evidenz gewinnt: Für das kulturelle Selbstverständnis gerade des assimilierten jüdischen Bürgertums hatten Goethe als exemplarischer ‚Weltbürger’ und Napoleon als Vorkämpfer der jüdischen Emanzipation in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert substantielle 162

Der ‚Allgemeine Deutsche Reimverein’ war eine von vielen Unsinnsgesellschaften im späten 19. Jahrhundert. Diese setzten sich aus Akademikern zusammen, die das Bewusstsein um die Hohlheit des offiziell von ihnen vertretenen Bildungsideals in halbprivaten Blödeleien zum Ausdruck brachten. Sie können als Vorläufer des Kabaretts gelten. Vgl. A. LIEDE, Dichtung als Spiel. Bd. II, S. 279 ff.

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Bedeutung.163 In der Goethe- und Napoleon-Idolatrie spricht sich somit auch die Sehnsucht aus, das Versprechen der Judenemanzipation Wirklichkeit werden zu lassen, so dass das deutsche kulturelle Erbe auch den Juden als Teil einer gemeinsamen Tradition zufallen möge. Die Trivialphantasie von den Großeltern beim Betrachten des schlittschuhlaufenden Goethe inszeniert diese Sehnsucht ebenso wie deren reale Uneinholbarkeit. Die Albernheit der Skizze mit ihrer Neigung zu sprachlichen Schnitzern und Blödeleien hat wie LaskerSchülers Backfischphantasien mithin auch ein melancholisches Moment. Die Absurdität des Szenarios zeugt eben auch von dessen Irrealisierbarkeit, die ostentativ unbeholfene Sprache vom Misslingen der visierten Versöhnung. Das Rosenholzkästchen – wohl eine Anspielung auf Wilhelm Meister und Mignon164 – bewahrt die Hoffnung auf diese Versöhnung ebenso wie das Bewusstsein ihrer historischen Unmöglichkeit: Es ist Zauber- und Ramschkästchen zugleich und bezeugt, dass die Utopie in den Abhub der kulturellen Alltagswelt abgewandert und nur als zersplitterte zu bewahren ist. Konsequent sind in die Schilderung des launigen familiären Lesekränzchens selbst Reminiszenzen an jene Perversion bürgerlicher Öffentlichkeit eingelassen, die ihre Spuren in den Sprachschnitzern Kempner’scher Lyrik hinterlassen hat und nun bis vor die Tür des jüdischen Bürgertums zu dringen scheint: Während die Erzählerin den Deklamationen der Eltern lauscht, kommen „Metzgergesellen“ vor dem Haus vorbei, die „scharf“ und „vielstimmig“ singen: „Das Lesekränzchen stockte beleidigt, noch wenn just von der ‚Liebe’ gelesen wurde. Nur die zum Choral anschwellende Stimme meines Papas [...] war nicht zu ersticken.“ (4.1, 219) Auch hier geht es keineswegs um Verspottung eines in 163

164

Goethe, dessen ambivalente Haltung zum Judentum hervorragend dokumentiert ist, wurde im Gegensatz zu Schiller, dessen republikanisches Freiheitspathos eher im Ostjudentum Beachtung fand, vor allem dem jüdischen Bildungsbürgertum zur Identifikationsfigur. Vgl. besonders die Studien von W. BARNER, Von Rahel Varnhagen bis Friedrich Gundolf. Juden als deutsche Goethe-Verehrer. Göttingen 1992; ders., Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933. In: ders., Pioniere, Schulen, Pluralismen. Studien zur Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft. Tübingen 1997, S. 129-149. Außerdem N. OELLERS, Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum. In: H. O. HORCH / H. DENKLER (Hgg.), Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1988, S. 108-130, sowie G. L. MOSSE, Das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum. In: Bildungsgüter und Bildungswissen, S. 168-180. Als Beleg für die „kulturelle Assimilation im Hause Schüler“ wird die Goethe-Skizze gewertet in der eher biographischen Deutung von J. HESSING, Else Lasker-Schüler, S. 30. Als Kindheitsreminiszenz verbindet Mignons Kästchen im Wilhelm Meister das Erinnerungs- und das Versöhnungsmotiv. – Bei Lasker-Schüler bleibt das Kästchen wertvoll (‚Rosenholz’), wird aber zum Wohnungsinventar profaniert. Die Deutung von M. LINDINGER, Glitezrnder Kies, S. 84 ff., erkennt in der Szene keinerlei Trivialisierungsmoment und versteht sie als Ausdruck der „Anbindung der Kultfigur an das Generationengedächtnis der Familie“ (S. 86).

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Liebesphrasen schwelgenden biederen Epigonentums. Im Gegenteil erscheint das Beisammensein fröhlicher Dilettanten, in dem der utopische Impuls Kempner’scher Dichtung als gemeinschaftsstiftende Erfahrung fortlebt, als provisorischer, jedoch ständig gefährdeter Gegenentwurf zum Mörderkollektiv der Volksgemeinschaft, deren bodenständiger Frohsinn den ungelenken Frohsinn der Goetheverehrer zu „ersticken“ droht. Indem die Schülers auf derlei Störungen nicht verängstigt, sondern „beleidigt“ reagieren, nehmen sie für sich selbst jene genuin ‚bürgerliche’ Contenance in Anspruch, die die „Metzgergesellen“ – Repräsentanten einer barbarischen Geselligkeit – ihnen samt ihres bürgerlichen Selbstbewusstseins austreiben möchten. Noch das dilettantische Lesekränzchen bewahrt Momente jener Würde, die in unmittelbarer Zukunft tatsächlich als bürgerlicher Firlefanz verhöhnt werden sollte. Gegen solch mörderischen Hohn richtet sich die Komik von Lasker-Schülers Skizze mindestens ebenso wie gegen die erstarrte Saturiertheit bürgerlichen Ernstes. Wie wenig die Aufwertung von Albernheit und Trivialität gerade im späteren Werk Lasker-Schülers mit fröhlicher Affirmation zu tun hat, zeigt ihre Skizze „Der kleine Friedrich Nietzsche“, die in zwei Fassungen (1929 und 1938) vorliegt und wie der Goethe-Text die ‚Verkleinerung’ einer kulturellen Identifikationsfigur betreibt. Von der Goethe- unterscheidet sich die Nietzsche-Figur jedoch dadurch, dass Nietzsches Werk und Biographie selbst bereits die Zerstörung jenes Traditionszusammenhangs bezeugen, für dessen Totalität Goethe als ‚Weltbürger’ und Nationaldichter zu bürgen schien. Nicht nur philosophisch und ästhetisch, auch durch sein Leben fungierte Nietzsche als Antipode zu den brüchigen Idealen des Bildungsbürgertums. Insofern lässt sich die Skizze als Radikalisierung der im „Rosenholzkästchen“ exponierten Problematik kulturellen Eingedenkens lesen: Als ich vor einiger Zeit durch Thüringen fuhr, stieg in Weimar eine ältere Dame in mein Coupé, an die ich mein ganzes Leben lang dankerfüllt denken werde. Sie war die Freundin des kleinen Friedrich Nietzsche gewesen. [...] Mein Geplauder fand Wohlgefallen in den Augen der Frau Legationsrätin a.D. So kam’s denn, dass sie mir die süsse, heldenmütige Jugendgeschichte Friedrich Nietzsches anvertraute, die ich – die Schweigezeit ist um – der gesamten Menschheit grosszügig überliefere. Wie arm bedeutet dagegen eine Schenkung in Form einer Stiftung oder eines Museums oder gar eines Schlossparks an eine Heimat. Ein Schwarm Vögel zog am kalten Himmel silberspielend mit unserer Eisenbahn in die weite Welt. Ich sagte unwillkürlich das einsamste Gedicht, das vielleicht je geschrieben wurde: „Die Krähen schreien und ziehen schnellen Flugs zur Stadt, bald wird es schneien, wohl dem, der eine Heimat hat –.“ „Das verbindet uns, Liebste“, unterbrach mich die entzückte Dame tiefergriffen, „ich bin nämlich die kleine Freundin des kleinen Friedrich Nietzsche gewesen. Elf Jahre waren wir beide, seine Schwester Elisabeth zählte ein paar Jahre älter;

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aber wir spielten alle drei einträchtig zusammen und“, betonte sie, „der kleine Friedrich war der Vater meiner kleinen Johanna gewesen.“ Ob sie auch noch lebe, erkundigte ich mich überrascht, ob sie dichte, ob sie Friedrich Nietzsche ähnele? Als Antwort drehte die Legationsrätin a.D. immer nur verneinend den Kopf. Aber dann erzählte sie mir mit lodernden Augen wie eines Tages ihr Elternhaus in der Abendstunde brannte, sie jedoch und ihre Eltern und ihre älteren Geschwister, die Magd, der Hahn und die Hühner, selbst die Eier [...] gerettet wurden. [...] Und der kleine Friedrich Nietzsche mit seiner Schwester Elisabeth kamen gejagt und wir Kinder halfen den Feuerwehrmännern [...]. Plötzlich schrie der kleine Friedrich Nietzsche: „Wo ist Johanna?“ Kreidebleich schob er uns Spielgefährten zur Seite. „Johanna! Johanna! Johanna verbrennt!“ […] Todesverachtend lief er über die brennenden Stufen der Treppen [...]. Alles geschah im Sturm und der bezwang auch sicherlich den Brand und hielt ihn von des kleinen Friedrichs Leibe. So erklärten sich und begründeten die Einwohner Weimars die überstandene Heldentat des kleinen Friedrich Nietzsche. Aber er brachte Johanna lebendig in meine Arme, nur die blonden Flachszöpfe waren verkohlt, von unserer geliebten Johanna, unserer geliebten Puppe. (4.1, 179 f.)

Der Text, mit dem sich wohl wegen seiner scheinbaren Abstrusität kaum ein Interpret beschäftigt hat,165 erschien wie die Goethe-Skizze 1932 in Konzert. In der 1938 für die „Neue Zürcher Zeitung“ geschriebenen Fassung hat Lasker-Schüler eine wichtige Änderung vorgenommen: Die Pointe – Johanna ist kein Kind, sondern eine Puppe – wird bereits zu Beginn enthüllt. Die Erzählerin fragt die Legationsrätin nun, ob „die Puppe auch noch lebe“, ob sie „dichte wie ihr Vater“ (4.1, 301), und am Ende wird Nietzsche „der Vater meiner Puppe“ genannt: „Er brachte unsere niedliche Johanna lebendig in meine Arme, nur die blonden ‚Flachszöpfe’ waren – ach – verkohlt ...“ (4.1, 302). Was in der ersten Fassung nur als Überraschungseffekt erscheint, wird in der späteren zum Grundmotiv des Textes – die Belehnung des Unbelebten mit lebendiger Phantasie. Die Puppe wird von der alten Dame wie von der Erzählerin als Teil der Familie wahrgenommen, die es ebenso vor dem Feuer zu schützen gilt wie den Hausstand; sie ist nicht Objekt, sondern Kreatur. Gleichzeitig verarbeitet die Skizze möglicherweise eine Episode aus Nietzsches eigenem Leben: dass nämlich der alte Nietzsche sich vor einem ver-

165

Eine Ausnahme sind die Bemerkungen von J. HESSING, Else Lasker-Schüler, S. 61 f., der jedoch den anekdotisch-trivialen Charakter der Szene übergeht. – Im Umfeld Lasker-Schülers ist Nietzsche oft zum Gegenstand von Anekdoten geworden. Zu dem Gerücht, Lasker-Schüler sei von Nietzsches Schwester mit dem ‚irren’ Bruder bekannt gemacht worden, vgl. L. BLUHM, Else Lasker-Schüler beim kranken Nietzsche. Adnoten zu einer Legende. In: Wirkendes Wort 50 (2000), S. 325-328.

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wundeten Pferd niedergeworfen habe, um in Tränen auszubrechen.166 Auch wenn diese Episode in der Anekdote mitgedacht sein mag, wird sie bezeichnenderweise nicht erwähnt. Stattdessen werden Klatsch und „Geplauder“ – vor ihrer Konversation über Nietzsche unterhalten sich die Erzählerin und die Dame über „Eau de Cologne“ (4.1, 179) – zum Material der Konstruktion eines befremdlich unschuldigen Nietzsche-Bildes, das Nietzsche weder als Propheten einer vitalistischen Herrenmenschen-Ideologie noch als tragische Gestalt zeigt, sondern als kleinen Jungen, der ‚Heldenmut’ im Einsatz für die Relikte der Kinderzeit beweist, die nur als Gegenstand kindlicher Phantasieproduktion Wert erlangen und keine pragmatische Relevanz besitzen. Während die Pferde-Episode den ‚großen’ Nietzsche als Schmerzensgestalt verklärt, deren Wahn Kehrseite einer Anteilnahme am Leiden jeder Kreatur gewesen sei, ist Lasker-Schülers ‚kleiner’ Nietzsche ein Nietzsche vor jeder ‚Nietzsche-Identität’: ein Kind, das sich nicht reduzieren lässt auf die biographische Person, die später aus ihm geworden ist. Die Anekdote von der Rettung der Puppe ist insofern auch zu verstehen als Versuch der Rettung Nietzsches angesichts einer brennenden Welt, in der die Dimension des Verletzlichen der Nietzsche-Gestalt längst zugunsten eines pathetischen Heroismus annulliert worden ist. Indem sie ihr „dankerfüllt[es]“, von Affektivität gesättigtes Nietzsche-Gedenken abgrenzt gegen den Erinnerungskult von „Stiftung“ und „Museum“, aber zugleich parodistisch an Elemente konventioneller Bekenntnisund Erinnerungsrhetorik anknüpft („die Schweigezeit ist um“) und eine Überlieferung an die „Menschheit“ für sich reklamiert, profaniert die Erzählerin den Nietzsche-Kult und gibt ihm eine der Erfahrung von Vertreibung und Obdachlosigkeit adäquate Wendung ins Absurde. Zugleich aber wird die absurde Überlieferung als emphatisch wahrhaftig exponiert, indem die Erinnerung ans Vergangene sich in der Gegenwart geltend macht: Bei der Erzählung vom Brand „lodern“ die Augen der Legationsrätin auf, und die Nacherzählung ihrer Erinnerung im Text, anfangs durch wörtliche Rede abgegrenzt, wird allmählich Bestandteil der Erzählerinnen-Rede („wir Kinder halfen den Feuerwehrmännern“). Reflektiert wird dadurch die affektive Gemeinschaft, die zwischen Erzählerin und Zuhörerin besteht: Das Erzähler-Ich wie die Legationsrätin, die einen nach „Naphthalin“ riechenden „Umhang der Achtzigerjahre“ trägt (4.1, 179) und als ‚außer Dienst’ gestelltes Relikt jener Hochzeit deutschen Bürgertums erscheint, auf die die Dichterverehrung der Goethe-Skizze verweist, sind Reisende, für die „Weimar“ kein Symbol kultureller Bindungskraft, sondern eine Zugstation ist. Nicht nur die Erzählerin, auch die Vertreter des Großbürgertums Fontane’scher Provenienz scheinen, wie der „Schwarm Vögel“, der „mit unserer Eisenbahn in die weite Welt“ zieht, obdachlos ge166

Siehe die Darstellung Georges Batailles, der dies als Urszene von Nietzsches ‚tragischer’ Existenz versteht: G. BATAILLE, Wiedergutmachung an Nietzsche. Das Nietzsche-Memorandum und andere Texte. München 1999, S. 203 ff.

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worden zu sein. Eben weil „das einsamste Gedicht“ – die Erfahrung von Exterritorialität und Fremdheit – beide „verbindet“, kann ihr Gespräch zum Modus einer heterodoxen Überlieferung werden, in der es gleichfalls um die Destruktion von ‚Heimat’ geht. Nietzsches ‚Todesverachtung’ verliert in der Skizze, die sich als Kontrafaktur des Genres der ‚Nothelfergeschichte’ lesen lässt, jedes virile Pathos, indem sie einem Jungen zugeschrieben wird, der sich durch ‚Rettung’ einer als ‚Kind’ wahrgenommenen Puppe zum ‚Mann’ macht, ohne doch seinen kindlichen Status aufzugeben.167 Seine „Heldentat“ ist eine Konsequenz seines kindlichen Blicks, an dem er noch angesichts unmittelbarer Lebensbedrohung festhält. Dieses ‚naive’ Festhalten an der Autonomie lebendiger Phantasie im Augenblick ihrer Liquidation erscheint aus Perspektive des Textes als der wahre Heldenmut. Deshalb trägt die Puppe, die als Kinderspielzeug eigentlich einer kulturell ‚wertlosen’ Sphäre angehört, den gleichen Namen wie Johanna von Orleans, die als Hexe verbrannt wurde: Wie sich im kleinen Nietzsche als Puppenretter absurd der tragische Heroismus des ‚großen’ Nietzsche spiegelt, so erscheint die Puppe als absurde Widergängerin der republikanischen Nationalheldin. Der Heroismus des Einzelnen, der historisch notwendiger scheint als je, ist doch nur gebrochen und absurd, jenseits aller kulturellen Kanonisierung, denkbar. Deshalb wird die gesamte Szene, schon durch ihre Einbettung in eine Alltagskonversation, als Spinnerei reflektiert. Der genealogische Zusammenhang der Familie mit den Kindern als ‚Eltern’ und der Puppe als ‚Tochter’ ist ein Zerrbild genealogischer Überlieferung. Zu überliefern wäre mithin das Ersponnene, Nicht-Überlieferbare, das an keinen organischen Traditionszusammenhang mehr anknüpfen kann. Die phantasiegesättigte Spontaneität des kindlichen ‚Helden’ erweist sich angesichts der Vernichtung nicht nur lebendiger Phantasie, sondern lebender Menschen (denn natürlich sind mit der als Kreatur imaginierten Puppe auch die Opfer des Faschismus angespielt) zugleich im schlechten Sinn als naiv, als ohnmächtig und hilflos. Dies ist der aporetische Gehalt von Lasker-Schülers Inszenierung kultureller Überlieferung als Nonsense: Zu retten wäre das angesichts der historischen Realität rettungslos Verlorene, so dass Tradition sich 167

Die ‚Nothelfergeschichten’, die in der Kinderliteratur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt haben, erzählen von Kindern, die sich durch eigenes Fehlverhalten der Gefahr aussetzen und im Augenblick höchster Not, sei es durch Eingriff Dritter oder wundersame Zufälle, gerettet werden. Im 19. Jahrhundert verschwindet die Nothelfer-Figur, an ihre Stelle treten negative Beispiele verunglückender Kinder. Vgl. D. RICHTER, Das fremde Kind, S. 71 ff. – Bei Lasker-Schüler wird das Kind selbst zum ‚Nothelfer’ gegenüber einer Puppe, die aus ‚erwachsener’ Sicht gar nicht rettungsbedürftig ist. J. HESSING, Else Lasker-Schüler, S. 62, weist darauf hin, dass das Motiv des geretteten Kindes bei Lasker-Schüler mehrfach begegnet, etwa wenn in „Nur für Kinder über fünf Jahre“ die ebenfalls elfjährige Erzählerin aus dem Turm des elterlichen Hauses gerettet wird.

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buchstäblich als Unsinn reflektieren muss, um ihrem Wahrheitsanspruch die Treue zu halten. Möglich wird dies durch eine phantasierende Erinnerung, die das Verlorene nicht fetischistisch beschwört, sondern mit subjektiven Affekten auflädt, ja nach positivistischem Maßstab ‚verfälscht’, um der Geschichte zurückzugeben, was vom blinden Zwang ihrer Faktizität verschüttet wird. Wie wenig harmlos die Elemente von Albernheit und Nonsense in LaskerSchülers Œuvre sind, zeigt die Tatsache, dass die stegreifhaften Blödeleien, die ihr frühes Werk intermittierend durchziehen, in weiten Teilen der Exilproduktion in den Mittelpunkt treten. Dieser Befund, der hier nur angedeutet werden kann, verweist auf eine kaum entfaltete Dimension des NonsenseBegriffs: Nonsense als autonomes poetisches Phänomen konnte erst zu einem Zeitpunkt relevant werden, als die Verdinglichung und Hohlheit der im bürgerlichen Kanon kodifizierten Literatur- und Bildungssprache Teil allgemeinen Bewusstseins und das ‚geflügelte Wort’ als tote, entfremdete Bildungsreferenz erkennbar geworden war.168 Dieses Bewusstsein wurde angesichts der nicht mehr nur geistigen Erfahrung des Verlusts von ‚Heimat’ und Tradition im Exil unter dem Schlagwort vom ‚Kulturerbe’ zugunsten einer an den bürgerlichen Kulturbegriff anknüpfenden Kanonisierung verdrängt.169 Vom späten 19. Jahrhundert bis in die zwanziger Jahre jedoch war die Depravation bürgerlicher Bildung und Hochkultur, wie sie am schärfsten in Nietzsches Historismus-Kritik diagnostiziert wurde, drastisch präsent. Während Nietzsches Plädoyer für das ‚Vergessen’ als lebensstiftende Kraft, das in der bis in die Neue Sachlichkeit wirksamen Polemik gegen den ‚Kulturschutt’ fortlebt, jedoch virtuell bereits den kultur- und bildungsfeindlichen Impetus des deutschen Faschismus antizipiert,170 verschränken sich in Lasker-Schülers phanta168

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In Alfred Liedes Studie zum literarischen Unsinn finden sich eher nebenher zahlreiche Hinweise auf die sprach- und bildungsgeschichtlichen Entstehungsbedingungen der Nonsense-Literatur. Instruktiv sind seine Ausführungen zum ‚höheren Blödsinn’, der sich im späten 19. Jahrhundert unter Akademikern und Studenten im Spannungsfeld zwischen „Bildungsgläubigkeit“ und „Bierulk“ als gesellig-ironische Selbstreflexion des eigenen Bildungsstatus entwickelt habe. Auch für England macht Liede die Colleges mit ihrem „University Wit“ als „Brutstätte“ des Nonsense aus. A. LIEDE, Dichtung als Spiel. Bd. I, S. 145 ff., hier S. 146 und 162. Diese Restauration des bürgerlichen Kulturverständnisses ist – auch in ihren formsprachlichen Auswirkungen – zuerst benannt worden von H. MAYER, Lion Feuchtwanger oder die Folgen des Exils. In: Neue Rundschau 76 (1965), S. 120-129. Nietzsches zweite Unzeitgemässe Betrachtung wendet sich bekanntlich gegen ein ‚archivarisches’ Verständnis historischer (weniger literarischer) Bildung. Sein Anspruch, historische Überlieferung müsse mit der Erkenntnis ernstmachen, „dass Cultur noch etwas Andres sein kann als D e k o r a t i o n d e s L e b e n s“, und sich „dagegen sträuben, dass immer nur nachgesprochen, nachgelernt“ werde, setzt die Erfahrung der Verdinglichung von Kultur zum ‚Gut’ bereits voraus. Vgl. F. NIETZSCHE, KA I: Die Geburt der Tragödie u. a., S. 243-334, hier S. 333. – Nietzsches Diktum, eine dem „Le-

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sierender Erinnerung destruktive und affektive Impulse zu einer poetisch errungenen Rettung des ‚Vergessenen’. Ergiebiger für das Verständnis ihrer Poetik des Unsinns sind daher die Arbeiten des Landauer-Freundes Fritz Mauthner, in dessen Beiträgen zu einer Kritik der Sprache (1901/02) sich die Polemik gegen eine verdinglichte Bildungssprache mit dem Interesse für das schöpferische Potential von ‚Unsinn’ und Kindersprache verbindet. Tatsächlich verdankt sich Mauthners Sprachkritik einem profanen Impuls, der ihn mit Karl Kraus verbindet: der Kritik an der Omnipräsenz der Phrase als Korrelat zur totalen Warenförmigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie nicht nur die Massenkultur, sondern auch die zum Substitut ästhetischer Autonomie depravierte Hochkultur prägt.171 Attackiert Mauthner in seiner 1888 erschienenen Satire Schmock den Journalismus als Ausdruck einer die Worte zu Spielmarken degradierenden Massenkultur,172 so reflektieren die Beiträge die Erfahrung, dass selbst scheinbar inkommensurable Sprachformen wie Poesie und Bildungsdeutsch zu leeren Zeichenträgern verarmt seien. Statt einer ‚neuen Religion’ das Wort zu reden, erkennt Mauthner im Überangebot von Weltanschauungen das Bild einer zum Warenhaus herabgesunkenen Kultur: Wie die Gesellschaft der römischen Kaiserzeit keine geschlossene Weltanschauung mehr hatte, weil ihr alle möglichen Anschauungen in bunter Auswahl gefällig vorlagen, so glaubt auch heute eigentlich keiner mehr an etwas. Religionen und Philosophien werden [...] in Jahrmarktbuden ausgeschrieen, so wie in

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ben“ dienende Historiographie müsse „die Kraft haben […], eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen“ (S. 269), wurde später von Rudolf Pannwitz in die brachiale Forderung überführt, „den Kulturschutt wegzuräumen“, um nur jene „Elemente“ zu bewahren, die der „Organismus“ des Volkes „verdauen“ könne (R. PANNWITZ, Kultur, Kraft, Kunst. Charon-Briefe an Berthold Otto. Leipzig 1906, S. 25 und 27). LaskerSchülers Nietzsche-Skizze rekurriert dagegen auf das ‚Unverdauliche’ und verweigert sich einer erinnerungspolitischen Lebensmittelkunde, in deren Metaphorik sich schon der Völkermord ankündigt. Dieser Zusammenhang ist bislang kaum registriert worden. Stattdessen wird Mauthner meist auf eine ‚mystische’ Position reduziert. Siehe M. WAGNER-EGELHAAF, Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1984, S. 32 ff.; U. SPÖRL, Gottlose Mystik in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. Paderborn u. a. 1997, S. 41 ff. und S. 86 ff. Zur MauthnerRezeption vgl. J. KÜHN, Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk. Berlin, New York 1975, S. 3 ff. – Die Wirkung Mauthners auf die Avantgarde umreißt A. LIEDE, Dichtung als Spiel. Bd. I, S. 254 ff. Zur sozialkritischen Dimension von Mauthners Werk vgl. J. SCHIEWE, Die Macht der Sprache, S. 176 ff. – Die Ergiebigkeit von Mauthners Metapherntheorie für das Verständnis moderner Unsinnspoesie habe ich dargestellt in: „Artikuliertes Lachen“. Fritz Mauthner und die deutschsprachige Nonsensedichtung. In: ELSJB 3 (2006), S. 75-103. F. MAUTHNER, Schmock oder Die litterarische Karriere der Gegenwart. In: ders., Ausgewählte Schriften. Bd. 2, Stuttgart, Berlin 1919, S. 301-337.

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den Möbelhandlungen die Stoffe und Formen aller Zeitstile und Stilrevolutionen nebeneinander zu haben sind. [...] [S]o hat der Dichter und der Denker unserer Zeit alle Wortfetische zweier Jahrtausende [...] beisammen und kann kein Urteil mehr fällen, kann kein Gefühl mehr ausdrücken, ohne dass die Worte wie ein gespenstischer Verwandlungskünstler auf dem Drahtseil ein Maskenkostüm nach dem anderen abwerfen und ihn auslachen und unter den Kleidern durch das Rasseln ihrer Knochen verraten, dass sie halbverweste Gerippe sind.173

Gerade das „bunte“ Nebeneinander von „Religionen und Philosophien“ deutet Mauthner als Symptom dafür, dass „keiner mehr an etwas [glaubt]“, dass die Sinnangebote von Philosophie, Religion und Kunst zu ‚Stoffen’ herabgesunken sind, die wie an „Jahrmarktbuden“ verscherbelt werden, damit das Publikum die eigene geistige Obdachlosigkeit möblieren kann. Es geht also auch hier nicht einfach um Kritik an der Massenkultur, sondern an der trivialisierten Hochkultur: Die „Sprache der Bildung“, ja sogar das Stilrepertoire der ästhetischen ‚Revolutionen’ ist zum Jahrmarktflitter geworden. Die Metaphorizität der Worte, die laut Mauthner alle Sprache konstituiert, droht durch Verdinglichung („Wortfetisch“ ist Mauthners Bezeichnung für die Phrase174) jedes schöpferische Potential zu verlieren. Zu Spielmarken geworden, dienen die toten Worte als Material einer Kommunikation, die das bürgerliche Ideal vernünftigen Räsonnements nur noch parodiert: Die Kultursprachen sind heruntergekommen wie Knochen von Märtyrern, aus denen man Würfel verfertigt hat zum Spielen. Kinder und Dichter, Salondamen und Philosophieprofessoren spielen mit den Sprachen [...]. Alt und kindisch sind die Kultursprachen geworden, ihre Worte ein Murmelspiel.175

Evidentermaßen klagt Mauthner nicht die ‚Demokratisierung’ der „Kultursprachen“, sondern deren falsche Demokratisierung an, die das anarchische Potential von Sprache neutralisiert. Gerade wegen ihrer Metaphorizität – aufgrund der Tatsache, dass sie sich im Modus ihres Gebrauchs immer aufs Neue herstellt und stets nur zwischen Individuen existiert – ist die lebendige Sprache laut Mauthner nämlich „Gemeineigentum“, ja „die einzige Einrichtung der Gesellschaft, die wirklich schon auf sozialistischer Grundlage beruht“.176 Diese Einsicht hat er im Wörterbuch der Philosophie (1910/11) in eine Pole173

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F. MAUTHNER, Das philosophische Werk. Nach den Ausgaben erster Hand hg. von Ludger Lütkehaus. Bd. II: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 1. Teilband. Wien, Köln, Weimar 1997, S. 229 f. Der Begriff richtet sich sowohl gegen die instrumentelle Erstarrung der Alltagssprache wie gegen den ‚Wortaberglauben’ von Religion und Metaphysik. Vgl. ebd., S. 160 ff. F. MAUTHNER, Beiträge. Bd. 1, S. 230. Ebd., S. 27.

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mik gegen die Ideologie der Nationalsprachen überführt. Dort skizziert er eine Historiographie, die Sprachentwicklung analog zum Begriff der „Völkerwanderung“ als „Wanderung“ von Worten analysiert.177 Die Trennung zwischen ‚eigenen’ und ‚fremden’ Worten wird radikal verworfen: „Es gibt keine autochthonen Sprachen.“178 Die Vorstellung einer homogenen Nationalsprache erscheint demgegenüber als Produkt pädagogischer Normalisierung: Wörterbücher wie der Duden (1880), Kompendien ‚falscher’ Redwendungen wie Wustmanns Sprachdummheiten (1891) und Sammlungen ‚geflügelter Worte’ wie der Büchmann (1864) arbeiteten parallel zur Konstitution und Stabilisierung des Nationalstaats an der Konstruktion einer deutschen Normsprache, die als kodifizierte ‚Hochsprache’ zum kulturellen Distinktionsbeweis taugen sollte. Das dem bürgerlichen Bildungsbegriff immanente Versprechen, die ‚hohen’ Kulturgüter potentiell allen zugänglich zu machen und das bürgerliche Bildungsprivileg aus dessen eigenem Anspruch heraus aufzuheben, wurde so im gleichen Atemzug wieder zurückgenommen: Die Verdinglichung lebendiger Sprache zum ‚Eigentum’ und literarischer Bildung zum ‚Gut’ sistiert die Metaphorizität von Sprache und verwandelt sie in ein Repertoire der Gemeinplätze. Die Zitate im Büchmann werden durch Transformation in beliebig repetierbare Formeln ihrer Geschichtlichkeit beraubt, auf die Ebene konventionalisierter Alltagskommunikation herabgezogen und um jene ‚hohe’, transzendierende Qualität gebracht, die sie fortan nur mehr bedeuten. Gerade ihre Verwandlung zu ‚geflügelten Worten’ schneidet ihnen die Flügel ab, entpoesiert und pragmatisiert sie.179 Auf diese Degradierung der Bildungssprache zielt die Rede von den Worten als Spielzeug für „Salondamen und Philosophieprofessoren“. Zugleich jedoch – und dies trifft den Kern des Kempner’schen Impulses von Lasker-Schülers Dichtung – hat der Spielbegriff bei Mauthner eine utopische Dimension. Wenn Mauthner die Bildungsphrasen mit „gespenstische[n] Verwandlungskünstlern“ vergleicht, die ihre Maskenhaftigkeit „verraten“, spricht er der Sprache die Fähigkeit zu, aus eigener Dynamik heraus ihre fetischistische Starre wieder aufzubrechen. Zu Spielmarken geworden, können die Worte auch buchstäblich spielerisch gebraucht werden, ja sogar zu sich selbst in ein spielerisches Verhältnis treten. Letzteres ereignet sich in Fehlleistungen, Stilbrüchen und Katachresen, die Mauthner als konstitutive, im All177

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F. MAUTHNER, Das philosophische Werk. Bd. I: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 1. Teilband, S. XXXIII. Ebd., S. LXXX. Vgl. W. FRÜHWALD, Büchmann und die Folgen. Zur sozialen Funktion des Bildungszitates in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Bildungsgüter und Bildungswissen, S. 197-219. Dort finden sich zahlreiche Belege für den schon im 19. Jahrhundert üblichen Vergleich der ‚geflügelten Worte’ mit „Scheidemünzen“, „Silber“ bzw. „Zinn“ (S. 199 und 202).

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tagsgebrauch verdrängte Produktivkraft aller Sprachbildung auffasst. Solche Fehlleistungen, die er anders als Freud nicht durch Rekurs auf unbewusste Wünsche des Subjekts erklärt,180 fasst er mit dem Begriff ‚Wippchen’ zusammen. Zunächst allein auf den Sprachgebrauch von Politikern gemünzt, deren „Lügendeutsch“ sich durch „Sprachschnitzer“ entlarve,181 avanciert das ‚Wippchen’ in den Beiträgen zum Konstituens von Sprache überhaupt: Insofern „[j]ede Metapher […] witzig“ sei, weil sie gegenüber ihrer Bezeichnungsfunktion einen Überschuss an Bedeutung enthalte, stellt sich die „gegenwärtig gesprochene Sprache“ für Mauthner als „Summe von Millionen Witzen“ dar, „deren Geschichte verloren gegangen ist“.182 Wie im Sprachwitz – Mauthner versteht diesen Begriff in Analogie zu „wit“ und „esprit“ als schöpferische „Geistestätigkeit“183 – artikuliert sich im ‚Wippchen’ nicht allein die Defizienz einer hohlen Bildungssprache, sondern auch die produktive Selbsttätigkeit von Sprache, die unabhängig von individuellen Sprecherintentionen auf das „Erkennen von entlegenen Ähnlichkeiten“ ziele.184 Mauthner illustriert dies an der Metapher „Handschuh“, die etwas Inadäquates habe, das im alltäglichen Gebrauch nicht mehr präsent sei: Ein Kleidungsstück für die Hand als „Schuh“ zu bezeichnen, scheine selbstverständlich, obwohl es sich um ein ‚Wippchen’, eine ‚schiefe’ Wortneuschöpfung handele.185 Das Moment des Bruchs und der Nicht-Identität, welches in der zum Begriff gewordenen Metapher nicht mehr bewusst ist, wird am ‚Wippchen’ als unfreiwillig komisch wahrgenommen. Die ihrer eigenen Sinnträchtigkeit so sichere Sprache kippt in Versprechern und Stilblüten gleichsam weg und bildet neue Sprachschöpfungen, die den prätendierten Ernst demontieren. Die Worte lachen, ganz wie Mauthner es beschreibt, den Sprecher aus, durchbrechen ihre Kommunikationsfunktion und beweisen so ihre Autonomie. Das Komische hat in diesem Zusammenhang einen doppelten Aspekt: Es verweist nicht nur auf die Verdinglichung der Hochsprache, sondern auf das dieser Verdinglichung innewohnende anarchisch-schöpferische Potential. In Korrektur zu Bergsons Bestimmung des Komischen als Resultat des Umschlags einer orga-

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Die bei Mauthner als ‚Wippchen’ verhandelten Phänomene konvergieren verblüffend mit Freuds Analyse sprachlicher Fehlleistungen in der Psychopathologie des Alltagslebens. Da Mauthners und Freuds Arbeiten nahezu zeitgleich erschienen sind, dürfte sich diese Affinität kaum einfach auf ‚Einflüsse’ zurückführen lassen. F. MAUTHNER, Ein Urbild des Stilkünstlers Wippchen. In: ders., Von Keller bis Zola. Berlin 1887, S. 114-153, hier S. 148 f. – ‚Wippchen’ war der Spitzname eines Kriegsblattkorrespondenten, der für seine verrutschten Sprachbilder berüchtigt war. F. MAUTHNER, Beiträge. Bd. 2, S. 487. Ebd., S. 467. Ebd., S. 256. Ebd., S. 514 f.

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nischen in eine mechanische Bewegung186 wird das ‚Wippchen’ dialektisch gefasst: Einerseits bezeichnet es – das Bild der Wippe weist darauf hin – die Automatisierung der Sprachbewegung durch Verselbständigung des Sprachund Klangmaterials. Zum anderen artikuliert sich darin ein ‚organisches’ Moment: Entlastet von ihrer Verständigungsfunktion, setzt die sprachliche Dynamik spontane Impulse frei. Es geht beim ‚Wippchen’ also nicht um das Verlachen einer, wie Mauthner es nennt, ‚kindisch’ gewordenen, entfremdet vor sich hinklappernden Bildungssprache, deren Trümmer im Namen des vitalen Lebens zu entsorgen wären, sondern um das befreite Lachen über den dieser ‚Kindischkeit’ innewohnenden kindlichen Impuls, der den ‚Kulturschutt’ als Spielzeug ernstnimmt, um ihn aufs Neue der schöpferischen Phantasie anzuverwandeln. Insofern das Bewusstsein für die Metaphorizität von Sprache in der Sprachbildung von Kindern, die die Worte als formbare „Zufallslaute“ ansehen,187 stärker präsent ist als in der von kulturellen Kodizes präformierten Erwachsenensprache, kehrt im ‚Wippchen’ ein verdrängter kindlicher Impuls wieder. Darum empfindet Scham, wer sich verspricht: Im Versprecher artikuliert sich negativ, als Fehlleistung, die Sprache des Kindes, die im ‚gebildeten’ Ich zwar rationalisiert, aber nicht aufgehoben werden konnte. Der Gestus Kempner’scher Lyrik, der in den Stilbrüchen und ‚Verniedlichungen’ von Lasker-Schülers Travestien zum Bewusstsein seiner selbst gelangt, ist damit präzise benannt: Wie Kempners Gedichte unverstanden bleiben, solange sie als Beispiele ‚misslungener’ Literatursprache verlacht werden, sind Lasker-Schülers befremdliche Trivialisierungen nicht als stilistische Exzentrizitäten abzutun. Vielmehr deuten sie auf die Unversöhntheit von poe186

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Laut Bergson entspringt das Lachen der Erfahrung des Mechanischen an scheinbar lebendigen Gesten und Sprachgebärden: „Das ist kein Leben mehr, das ist Automatismus, der im Leben sitzt und seine Stelle einnimmt. Automatismus aber ist immer etwas Komisches“ (H. BERGSON, Das Lachen. Meisenheim 1948, hier S. 23). – Bergsons Konzeption des Lachens als Verlachen des ‚Automatischen’ im Namen des Organischen korrespondiert in vieler Hinsicht mit Nietzsches Postulat des Vergessens einer abgestorbenen Kultur zugunsten des ‚Lebens’. Die Rückbesinnung auf den kontingenten Charakter aller Sprachkonstitution ist bei Mauthner Ausgangspunkt einer nicht nur sprachlichen Utopie: „Könnten die menschlichen Kinder aufwachsen, ohne von ihrer Umgebung auch die entwickelte Sprache mit zu übernehmen, so müsste aus ihren Zufallslauten immer wieder eine neue Ursprache entstehen, und keine wäre der anderen ähnlich. Der Begriff der Ursprache löst sich uns also an dieser Stelle in den eines zufälligen Anfangs auf“ (F. MAUTHNER, Beiträge. Bd. 2, S. 401). – Seine Abwendung von der romantischen Theorie der ‚Ursprache’ hin zur konkreten Analyse kindlicher Sprachbildung verbindet Mauthner mit den Arbeiten von Carola und William Stern, deren Studie Die Kindersprache (1907) diesen Gegenstand auf breiter empirischer Basis erschließt. Zu den Studienobjekten der Sterns gehörte neben ihrem Sohn Günther, dem späteren Günther Anders, der kleine Walter Benjamin, der bekanntlich Anders’ Cousin war. Siehe H. BRÜGGEMANN, Walter Benjamin, S. 83 ff.

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tischer und empirischer Realität, wie sie gerade ‚trivialen’ Formen wie Kinderbuch, Kolportage oder Märchen eingeschrieben bleibt. Exponiert wird dieser Konnex von Nonsense und Melancholie bereits in Lasker-Schülers 1908 veröffentlichter Skizze „Künstler“, die sich nicht zufällig als Travestie des Aschenputtel-Märchens lesen lässt: Herr von Kuckuck sitzt immer auf dem Fenstersims und schnappt mit seinem zugespitzten Mund alle meine tottraurigen Worte auf, die sonst im Zimmer liegen bleiben und ich würde schliesslich in der Ueberschwemmung von Tottrauer ertrinken. Auch sieht er so spassig bei der Fütterung auf, ich muss manchmal hell auflachen. Mein Mann kann von Kuckuck nicht ausstehn. „Er ist eine Beleidigung neben dir“. Aber ich muss immer einen Hofnarr haben, das ist so ein uraltes erbübertragenes Gelüste. Er folgt mir überall hin – auf dem Salzfass sitzt er in der Küche, wenn ich am Herd stehe und mit dem Quirl dem Feuer behilflich bin – ich meine wegen des Weichwerdens der Erbsen. – Ich trage goldene Pantoffel aber in meinen seidenen Strümpfen sind schon Löcher. Herr von Kuckuck wird merkwürdig düster, immer wenn er auf dem Salzfass sitzt und meinem Kochen zusieht. Er erzählt von Prinzessinnen die in Goldpantoffeln und Seidenstrümpfen kochen und scheuern müssen und sich die Hände blutig reiben und aber der Himmel ihnen alle Sterne schulde. Ich glaube, ich bin am Anfang aus einem goldenen Stern, aus einem funkelnden Riesenpalast auf die schäbige Erde gefallen – meine leuchtenden Blutstropfen können vor Durst nicht ausblühen, sie verkümmern immer vor dem Tage der Pracht und mein Mann erzählte mir dasselbe und darum haben wir uns geheiratet. „Wenn sich mein Budget besser gestaltet“, sagt Herr von Kuckuck, „so braucht Prinzessin keine Erbsen mehr kochen“. [...] Alles hängt von Kuckucks Budget ab. Mein Mann der wünscht sich gar nichts mehr, er denkt morgens schon heimlich an seine Zigarette die er im Bett rauchen wird. (3.1, 104 f.)

Ihre goldenen Pantoffeln und löchrigen Seidenstrümpfe sowie ihr haushälterisches Bemühen um „Erbsen“ kennzeichnen die Erzählerin als depraviertes Aschenputtel, das seine Prinzessinnen-Zeit hinter sich hat. Während Pantoffeln und Seidenkleider im Märchen Geschenke des Haselbaums sind, die es Aschenputtel ermöglichen, zur Auserwählten des Königssohns zu werden und sich aus dem stiefmütterlichen Bann zu befreien,188 begegnet Aschenputtel in der Gestalt der Erzählerin als domestiziertes Märchenrelikt. Ihre ‚löchrige’ Kleidung erinnert zwar noch an ihr Prinzessinnen-Dasein, scheint jedoch jede Zauberkraft eingebüßt zu haben. Der Königssohn ist zum ‚wunschlosen’ E188

Unter dem Haselnussbaum werfen die Vögel Aschenputtel erst „mit Seide und Silber ausgesticke Pantoffeln“, später die „golden“ Pantoffeln zu, an denen der Prinz sie erkennen wird: KINDER- UND HAUSMÄRCHEN. Gesammelt durch die Brüder Grimm, hg. von Ingeborg Weber-Kellermann. Bd 1. Frankfurt/M. 1974, S. 153-162, hier S. 157 und 159.

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hemann, die Prinzessin zur Hausfrau geworden. Die Utopie des Märchens als Traum vom „Aufstand des kleinen Menschen gegen die mythischen Mächte“189 ist längst Teil einer nur mehr mythisierenden Erinnerung: Die Erzählerin weiß nicht, sondern glaubt nur, „am Anfang [...] aus einem funkelnden Riesenpalast auf die schäbige Erde gefallen“ zu sein. Die ‚Schäbigkeit’ der empirischen Wirklichkeit verweist negativ auf die Utopie eines Besseren, das nicht mehr als märchenhafte Zukunft, sondern nur noch als mythische Vergangenheit vorgestellt werden kann. Das Blut, das im Märchen im Kontext der Bestrafung der missgünstigen Stiefschwestern steht (‚Blut ist im Schuh’), bezeugt nun die Kapitulation der Utopie vor der Realität: Während die „leuchtende“ Qualität ihrer „Blutstropfen“ verkümmert, muss die Erzählerin sich als ‚gefallene Prinzessin’ sinnlos „die Hände blutig reiben“. Damit erzählt die Skizze selbstreflexiv vom Herabsinken des Volksmärchens zum toten Utopierelikt des bürgerlichen Haushalts. Dennoch gibt es auch hier eine Helferfigur, die als Travestie der Vögel in Aschenputtel erscheint: Herrn von Kuckuck, der die Erzählerin daran erinnert, dass „der Himmel“ ihr „alle Sterne“ schulde. Die Rede von den ‚Schulden’ rückt freilich in ein verdächtiges Licht, insofern Kuckucks Zauberkräfte sich in seinem knappen „Budget“ erschöpfen, von dem „alles“ abhängt: Aus den Goldtalern ist ein Notgroschen geworden. Gerade die Kuckuck-Figur hat jedoch zugleich eine utopische Dimension, insofern sie für eine Poesie einsteht, die Traurigkeit in Gelächter verwandelt. Wenn Herr von Kuckuck die „tottraurigen Worte“ der Erzählerin ‚aufschnappt’, damit sie nicht „im Zimmer liegen bleiben“ und sie „in der Überschwemmung von Tottrauer“ ertrinken lassen, und wenn dies als „Fütterung“ beschrieben wird, bei der die Erzählerin „hell auflachen“ muss, erscheinen die traurigen Worte in konkretistischer Verballhornung selbst als Erbsen, die von der Hausfrau vergessen wurden und nun als Vogelfutter dienen. Gerade die ‚spassige’ Trivialisierung ist fähig, die traurigen Worte in Gelächter zu verwandeln, das sich freilich von der ‚Tottraurigkeit’ selbst ernährt. Auf die Büchmannisierung des Volksmärchens – auf seine Verdinglichung zum bürgerlichen Hausschatz – reagiert der Text weder durch Desavouierung des Märchensinns noch durch dessen Verklärung, sondern durch ‚närrische’ Trivialisierung, die den utopischen Sinn des Märchens paradox bewahrt. Kuckuck, der „Hofnarr“, erscheint als Inkarnation dieser Ambivalenz: Sein Adelstitel verweist auf seine Exzeptionalität; zugleich ist in ihm die Redewendung ‚einen Vogel haben’ angespielt, die nahelegt, dass er nur die Figuration einer fixen Idee sein könnte. Die Hoffnung erscheint als Spinnerei, die Spinnerei als Hoffnung. Vollends überdreht wird diese Vertauschung von utopischem und trivialem Sinn, wenn am Ende auf dem „Sofa“ ein „Jüngling“ erscheint, der als eine Art Doppelgänger Kuckucks figuriert: „[E]r hat grosse, 189

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braune, spöttische Augen [...]. ‚Wer bist du!’ ruft mein Mann. ‚Ich bin der Schatten Ihrer Frau und habe Theologie studiert.’“ (3.1, 105 f.) Disparate Bild- und Stilebenen sind hier zu einem Kalauer zusammengezogen: Als „Schatten Ihrer Frau“ kann der „Jüngling“ deren faustisches zweites Ich sein (das ‚Theologiestudium’ spielt auf Fausts Bonmot an190), aber auch ein theologisch versierter Liebhaber (‚Kurschatten’) oder Inkarnation ihres religiös verwirrten Geistes (‚einen Schatten haben’). Durch Konkretisierung des ‚Schattens’ als auf dem Sofa sitzende Person wird das ‚zweite Ich’ in den profanen Alltag transponiert. Gerade diese Entidealisierung jedoch macht wiederum den Alltag durchlässig für jene ‚andere’ Dimension, die in der Märchenmotivik nachklingt. Ob die Erzählerin also eine ‚Berufene’ ist oder eine Spinnerin, bleibt unentschieden. Unsinn und Utopie werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in eins gesetzt, und unterlaufen dadurch die falsche Dichotomie von Empirie und Ideal, Alltag und poetischer Phantasie. Zur Bestimmung der spezifischen Komik, die sich in Lasker-Schülers Travestien des bürgerlichen literarischen Hausschatzes aus der Kollision zwischen utopischem Sinn und Nonsense ergibt, bietet sich der Begriff der ‚freien Komik’ an, den Dieter Henrich in Abgrenzung gegen herkömmliche Formen des Verlachens als typisch für das Komikverständnis von Kindern herausgearbeitet hat.191 Der Terminus ‚frei’ ist dabei nicht so zu verstehen, als bezeugte ‚freie Komik’ die Befreiung des Subjekts von sozialen Zwängen. Vielmehr meint er, dass die Komik selbst ‚frei’ wird, weil der Kontrast, auf dem sie beruht, nicht zugunsten eines der kontrastierenden Momente aufgehoben wird. ‚Freie Komik’ in diesem Verstande ist Ausdruck ausgehaltener Ambivalenz. Als Beispiel erwähnt Henrich „Verwandlungs- und Verkleidungseffekte, Grimassenschneiden, Versteckspiele […] und Spielereien mit verdrehtem Sinn“,192 in denen Vertrautes sich in Fremdes verwandelt, während doch das Vertraute im Fremden gegenwärtig bleibt: Entscheidend ist, „dass nicht einfach eine Sache an die Stelle der anderen tritt, sondern dass dieselben Sachen in anderem Zusammenhang erscheinen.“193 Daher artikuliert sich in ‚freier Komik’ weder der Sieg der Norm über den Normbrecher noch die Verhöhnung der Norm durch das von ihr Verdrängte. Vielmehr wird die Dichotomie von Norm und Normverstoß selbst unterlaufen, „so dass die bekannten Theo190

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In Fausts „Nacht“-Monolog finden sich auch die Sätze „Da steh ich nun, ich armer Tor! / Und bin so klug als wie zuvor“, die im Büchmann als ‚geflügeltes Wort’ geführt werden. D. HENRICH, Freie Komik. In: W. PREISENDANZ / R. WARNING (Hgg.), Das Komische (=Poetik und Hermeneutik VII). München 1976, S. 385-389. Vgl. die an Henrich anknüpfenden Überlegungen von M. LYPP, Zum Komischen in der Kinderliteratur. In: Wirkendes Wort 36 (1986), S. 439-455. D. HENRICH, Freie Komik, S. 385. Ebd., S. 387.

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rien der Komik entweder aus dem Überlegenheitsbewusstsein oder aus der Transzendenzerfahrung“ zur Erklärung des Phänomens „keinen Anhalt finden“.194 Das Lachen, in dem sich die ‚freie Komik’ realisiert, ist kein Lachen des Triumphes – weder des souveränen Subjekts noch der übermächtigen Norm. Es handelt sich vielmehr um eine Befreiung „der Imagination selbst“.195 Damit bringt der Begriff der ‚freien Komik’ wirkungsästhetisch auf den Punkt, was Mauthner am ‚Wippchen’ als sprachimmanenten schöpferischen Prozess hervorhebt: die sich in ‚Fehlern’, Brüchen und Entstellungen artikulierende poetische Phantasie, deren Autonomie sich der intentionalen Kontrolle des Subjekts gerade entzieht. Für das Verständnis der in diesem Sinne ‚freien’, niemals denunziatorischen oder satirischen Komik in LaskerSchülers Werk ist dieser Gedanke entscheidend, weil in ihm die Allianz von Komik und Phantasiefeindlichkeit aufgekündigt wird, wie sie Bergson als Liquidation jedes subjektiven Affekts im Namen des freiströmenden ‚Lebens’ gerechtfertigt hat. Die Verdinglichung des bürgerlichen Kulturbegriffs wird bei Bergson, anders als bei Mauthner, nicht durch eine anarchische, spielerische Phantasie aufgebrochen, die aus kindlichen Erfahrungen schöpft, sondern soll vom élan vital, der alles Partikulare, bloß Subjektive untergehen lässt, der „inneren Geschmeidigkeit des Lebens“ zugeführt werden.196 Die bürgerliche Kultur mit ihrer „sozialen Maskerade“ erscheint bei Bergson nicht als Trümmerfeld uneingelöster Glücksversprechen, die es zu retten und neu zu konstellieren gilt, sondern als „Träges, ganz Fertiges“, als „Konfektion“,197 die das ‚Leben’ im Namen seines eigenen Prinzips abwerfen müsse. In der abstrakten Kulturfeindlichkeit von Bergsons Komiktheorie, die mit der Polemik gegen den bürgerlichen ‚Kulturschutt’ bestens harmoniert, finden Heteronomiegläubigkeit und Antibürgerlichkeit zu einem virtuell faschistischen Lebensbegriff zusammen, der nicht nur das ‚Mechanische’ als „Kruste über Lebendigem“ denunziert,198 sondern auch die „sorglose[n] Träumer, denen das Leben schadenfroh ein Bein stellt“, als Lachmaterial verwertet.199 Lasker-Schülers Werk dagegen appelliert, in Einklang mit Mauthners Komikbegriff, an ein rettendes, liebendes Gelächter, das seine Gegenstände weder blind affirmiert noch denunziert, sondern durch Profanierung und Travestie zum Leben erweckt. 194 195 196 197 198 199

Ebd. Ebd., S. 388 f. H. BERGSON, Das Lachen, S. 29. Ebd. Ebd., S. 35. Ebd., S. 13. – Zu den faschistoiden Implikationen von Bergsons Lachtheorie vgl. bereits Adornos und Horkheimers Einschätzung: „[D]as Leben, das da Bergson zufolge die Verfestigung durchbricht, ist in Wahrheit das einbrechende barbarische, die Selbstbehauptung, die beim geselligen Anlass ihre Befreiung vom Skrupel zu feiern wagt.“ (T. W. ADORNO, GS 3: Dialektik der Aufklärung, S. 163)

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Wenn sie den Kempner’schen Impuls ungelenker Identifikation rehabilitiert, Goethe als Schlittschuhläufer und Nietzsche als kindlichen Puppenretter imaginiert und die Ambivalenz von Utopie und Nonsense, die eine strikte Unterscheidung zwischen Inspiration und Spinnerei unmöglich macht, zum Konstituens poetischer Sprache erklärt, bringt Lasker-Schüler negativ auf den Punkt, was im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung mit Blick auf den Faschismus formuliert wird: dass die Verachtung der Volkskultur und der Hass auf die Hochkultur, die bürgerliche Diffamierung von „Amusement“ und „glückliche[m] Unsinn“ und die antibürgerliche Verpönung kulturellen ‚Sinns’ in letzter Konsequenz dasselbe sind – Reflexe des autoritären Charakters, der alles Inkommensurable aus dem Horizont ästhetischer Erfahrung tilgen will.200 Insofern zeugt es nicht vom Verlust poetischer Schaffenskraft, sondern von singulärer Konsequenz, dass eine der letzten Publikationen LaskerSchülers vor ihrer Emigration – die 1932 in Konzert aufgenommenen „Zwei Ulkiaden“ – sich aus Nonsense-Versen zusammensetzt, die den Duktus weiter Teile ihres Exilwerks vorwegnehmen: Man riet mir ab, die beiden lieben Gedichte ins Buch aufzunehmen. Ich frage aber immer die Sterne und hier das Publikum? Die Erste Der Kartoffelpuffer An der Grenze zwischen Rheinland und Belgien nennt man ihn: Le Reibepfannekuchen. Kaiser Karl zu Aachen saß, Am liebsten auf den Throne, 200

Vgl. T. W. ADORNO, GS 3: Dialektik der Aufklärung, S. 164: „Amusement, ganz entfesselt, wäre nicht bloß der Gegensatz zur Kunst, sondern auch das Extrem, das sie berührt. [...] Das reine Amusement in seiner Konsequenz, das entspannte sich Überlassen an bunte Assoziation und glücklichen Unsinn wird vom gängigen Amusement beschnitten“. – Das gesamte Kapitel zur Kulturindustrie, dessen Diagnosen sich als umso triftiger erweisen, je dreister sie für überholt erklärt werden, ließe sich als Paraphrase dieses Gedankens lesen. Nirgends geht es den Autoren darum, den ‚Sinnverlust’ in der Massenkultur zu beklagen. Kritisiert wird vielmehr, dass der den ‚hohen’ wie ‚populären’ Produkten von der Kulturindustrie unterschobene ‚Sinn’ sowohl das Autonomieideal bürgerlicher Hochkultur wie das anarchische Glücksversprechen populärer Kunstformen verrät, um Kultur insgesamt in Reklame und Propaganda zu verwandeln. Hochwie Populärkultur werden unterm Monopol der Kulturindustrie nicht zu Unsinn, sondern zu Schwachsinn: „Biographische und andere Fabeln flicken die Fetzen des Unsinns zu schwachsinnigen Handlungen zusammen.“ (S. 165; Hervorhebung M.K.)

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Wenn er Le Reibekuchen aß Mit starker Kaffeebohne. Beide Völker, das deutsche wie das belgische, genießen ihn mit Vorliebe. Die Delikatesse schwimmt weiter den Rhein herauf bis zur Schweizer Grenze. In Züri der Vegetarierhirt, Stammt eigentlich aus Bayern. Wenn dir’s mal flau im Magen wird, Sein Küchli schwimmt in Eiern. (4.1, 230 f.)

Sodann tritt die Erzählerin den Beweis an, dass der Wuppertaler Reibekuchen ein „Gedicht“ sei – sogar ein „klassisches“: Wer knuspert so spät durch Nacht und Wind? Es ist ein Puffer in Tantchens Spind. (4.1, 231 f.)

Abschließend wird das Gericht in einer Reihe von Stegreif-Reimen zur planetarischen Substanz geadelt, die die abendländische Kulturgeschichte präge: In den Sternen steht es groß geschrieben, Dass die Mondbewohner den Kartoffelpuffer lieben; Und ihn backen jeden Sonntag fast. Fragt nur Einstein, er ist oft zu Gast. [...] Selbst Bonaparte speiste ihn Den Reibepuffer mit der Josephin. Ob Werner Krauß Napoleon – Ihn mag? Ich glaube schon. Und weiter, frei nach Schillers Text, Bis mir der Puffer aus dem Halse wächst, – Könnt ich Armeen aus der Pfanne stampfen, Sie alle würden heiß serviert und tüchtig dampfen. (4.1, 232 f.)

Thema des Textes ist die irreversible Depravation von kultureller und literarischer Überlieferung zu Blödsinn angesichts der unmittelbaren Gefahr von Vertreibung und Exil. Nicht nur motivisch, auch durch zahlreiche intertextuelle Verweise wird die Erfahrung von Exil und Exterritorialität evoziert: Die „lieben Gedichte“, die auf Rat des Publikums am besten aus dem „Buch“ verbannt werden sollten, erzählen in Anlehnung an Heines Deutschland. Ein

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Wintermärchen201 von der Wanderung des polyglotten Puffers („Le Reibepfannekuchen“) vom „Rheinland“ nach „Belgien“ bis zur „Schweizer Grenze“, wo ein exilierter „Bayer“ sich seiner annimmt. Schließlich landet er bei den „Mondbewohner[n]“, wo, wie es lapidar heißt, „Einstein [...] oft zu Gast“ ist: Die Welt, die vom Gedicht nicht beschrieben, aber vorausgesetzt wird, hat Einstein auf den Mond verwiesen. Nicht nur das schon bei Heine bitterernste Sujet der Grenzüberschreitung wird durch den ‚völkerverbindenden’ Kartoffelpuffer brutal profaniert, auch das Goethe- und Napoleon-Motiv, das im „Rosenholzkästchen“ gerade im Modus der Trivialisierung ein utopisches Moment bewahrte, scheint buchstäblich zu Blödelmaterial verbraten zu werden. In den „Sternen“, die von der Erzählerin in höhnischer Ignoranz gegenüber dem „Publikum“ als Inspirationsquelle reklamiert werden, scheint nur Unsinn „geschrieben“ zu stehen. Die Orientierung am Publikum, an einer zumindest virtuell ansprechbaren literarischen Öffentlichkeit, wird ebenso sarkastisch dementiert wie die Hoffnung auf eine sich in enthusiastischer Inspiration offenbarende Wahrheit. Die gesellige Funktion, die der NonsenseDichtung von Beginn an eingeschrieben war,202 wird widerrufen, wenn die Erzählerin ihre Zuhörer auffordert: „Bitte, machen Sie doch auch einmal einen Kartoffelpuffer-Reim!“ (4.1, 233) Die durch den Nonsense gestiftete Geselligkeit, die einst als provisorisches Gegenmodell zur entfremdeten bürgerlichen Öffentlichkeit fungierte, ist selbst zum sinnentleerten Zerstreuungsmechanismus geworden. Konsequent wird das Genre der Nonsense-Poesie seinerseits dekomponiert: Die strengen Regeln des Schüttelreims oder Limericks,203 die der freischwebenden Phantasie einen Rahmen bieten, werden an keiner Stelle durchgehalten und scheinen ebenso erodiert zu sein wie die zum Mumpitz verkommenen Versatzstücke bürgerlicher Hochkultur. Die Dialektik von Unsinn und Utopie, die der ‚freien Komik’ als „menschenfreundliche Anthropologie“ inhärent war,204 erweist sich als irreparabel beschädigt. Nonsense wird zur Kritik nicht nur an der herabgesunkenen Hochkultur, sondern am Unsinn selbst. Noch vor dem realpolitischen Sieg des Faschismus zieht Lasker-Schüler die Konsequenz aus der Erfahrung, dass die „Schlupfwinkel“ virtuoser „Artistik“, die „gegen den gesellschaftlichen Mechanismus das 201

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Auf Heine spielen Aachen, das Rhein-Motiv, die Bezüge zu Elsass-Lothringen und das Spiel mit deutsch-französischen Hybridworten an. Die Nonsense-Gesellschaften des 19. Jahrhunderts knüpften bereits an Traditionen des gebildeten Spiels der Barockzeit an. Die nicht nur in deutschsprachiger Unsinnsdichtung dominante Essens-Metaphorik, die bei Lasker-Schüler absurd nachklingt, dürfte sich historisch auch aus diesem ‚gebrauchsliterarischen’ Kontext erklären. Über den Konnex von Nonsense und Geselligkeit siehe ausführlich A. LIEDE, Dichtung als Spiel. Bd. II, S. 279 ff. und passim. Die teils mathematisch durchkomponierten Gattungen der Nonsense-Lyrik sind gut dargestellt bei A. LIEDE, Dichtung als Spiel. Bd. II, S. 58 ff. D. HENRICH, Freie Komik, S. 389.

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Menschliche vertritt“, ebenso wie das bürgerliche Autonomieideal zugunsten eines barbarischen ‚Sinns’ neutralisiert worden sind, der „das Sinnlose drunten so radikal verschwinden [lässt] wie oben den Sinn der Kunstwerke“.205 Die Nonsense-Elemente ihres Spätwerks richten sich denn auch nicht nur gegen kulturelle Sinnstiftungsversuche und gegen satirische Komik, die einen festen Standpunkt jenseits des historischen Prozesses fingieren sondern attackieren den Glauben an die spielerische Freiheit des Unsinns selbst. Wenn der Puffer, „frei nach Schillers Text“, der Dichterin „aus dem Halse wächst“ und sie sich vorstellt, „Armeen“ aus der Pfanne zu „stampfen“, mutiert der sprachlicher Kontrolle entgleitende Nonsense seinerseits zu einer destruktiven Macht.206 Dem humanen Impuls, der im Unsinn ein Residuum zu finden schien, droht der letzte Rückzugsort genommen zu werden. Die zwei Jahre zuvor (1930) entstandene erste „Ulkiade“ über den Schnupfen mit ihrer Diagnose, „Niesen“ sei „unmodern“ geworden, steht in Konzert denn auch am Ende – als sarkastische Diagnose des Umschlags von Kultur in Barbarei: In den Biedermeierjahren, Als die Leute noch gemütvoll waren, Wünschten sich „Gesundheit!“ beide Gatten. Oder auch: „Zum Wohlsein! wenn Sie mir gestatten.“ Haben doch die meisten Leute im Laufe der Jahrzehnte der Tournüre Artigkeit gewissenlos eingebüßt und opfern keine Worte weiter zur Verherrlichung des Schnupfens. Mit Rezepten sind sie bei der Hand. Ich trage meinen Schnupfen heute noch mit Würde, Und klage nicht das launige Sommerwetter an. Ich finde, „klagen“, irgendwie absürde, Wenn man noch eben etwas schnaufen kann. Nähm ein Verleger nur mir meine Bürde, Die ungedruckt an meinen Ästen hängt. Die vielen Verse werden erst zur Zierde, Wenn ein Verlag sich druckreif danach drängt. Gedichte, die ich in den letzten Jahren schmierte, Prosa hellrosa, cetera, was liegt daran – In die ich en passant die Welt einschnürte, 205 206

T. W. ADORNO, GS 3: Dialektik der Aufklärung, S. 165. Kaiser Karls Satz „Kann ich Armeen aus der Erde stampfen?“ in Schillers Jungfrau von Orleans (I. Akt, 3. Aufzug, Vers 596), den der Kommentar der Kritischen Ausgabe als Referenz anführt, bezieht sich auf die Verteidigung der Stadt gegen die feindliche Belagerung. Das Motiv der Abwehr einer Bedrohung schwingt im Zitat also mit, wird aber durch Bezug auf den metastatischen Pufferteig zum Kalauer.

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Beweise lieferte, dass ich was kann. (4.1, 233 f.)

Das Plädoyer für bürgerliche Höflichkeit – für „Tournüre“, Floskeln, „Artigkeit“ und „Würde“ – ist hier selbst eingewandert in die ‚unbürgerliche’, von keinem kulturellen Kanon gedeckte Form der Nonsense-Poesie. Angesichts einer Realität, in der alles Klagen absurd geworden ist und man froh sein darf, „noch eben etwas schnaufen“ zu können, muss Dichtung der „Verherrlichung“ der ärmlich-kreatürlichen Lebenslaute dienen, die in den „Biedermeierjahren“ wenigstens formelhaft beantwortet wurden. In einer poetischen Form, die den Zerfall des durch sie Beschworenen mitreflektiert und eben dadurch dessen Wahrheitsgehalt zu retten versucht, revoziert das Gedicht mit stegreifhafter Schnodderigkeit („en passant“) jene bürgerliche „Dialektik des Takts“, die Adorno als „paradoxe[n] Einstand von Absolutismus und Liberalität“ bestimmt hat: Frei und einsam steht [das bürgerliche Individuum] für sich selber ein, während die vom Absolutismus entwickelten Formen hierarchischer Achtung und Rücksicht [...] gegenwärtig genug sind, um das Zusammenleben innerhalb bevorzugter Gruppen erträglich zu machen. [...] Voraussetzung des Takts ist die in sich gebrochene und doch gegenwärtige Konvention. Diese ist nun unrettbar verfallen und lebt fort nur noch in der Parodie der Formen207.

Konsequent zitiert Lasker-Schülers Ulkiade die alten „Tournüre“ („Gesundheit“, „Wohlsein“) und frankophonen Redewendungen als obsolete Floskeln, gleichsam als Höflichkeitsruinen, die dennoch nicht preiszugeben sind, weil sich in ihnen Reste bürgerlicher Humanität sedimentiert haben, die nie mit jener Lüge identisch war, als welche ihre Feinde sie denunzieren. ‚Gemüt’ und Würde werden im Modus des Unsinns nicht etwa verhöhnt, sondern eingeklagt angesichts eines geschichtlichen Zustands, in dem die „Abschreibung der Konventionen“ mit „unmittelbarer Beherrschung“ konvergiert.208 An ihre Stelle sind längst ‚Gewissenlosigkeit’ und Propaganda für ‚Rezepte’ getreten – jene „Kameraderie der Anrempelei“, die die Konventionen als „äußerlichen Zierat“ nicht aufhebt, sondern liquidiert.209 Deshalb ist die für Lasker-Schüler eher untypische Beschwerde, dass kein „Verlag“ sie von der „Bürde“ ihrer „Verse“ befreit, unter denen sie gleichsam wie unter der Überfülle ihrer eigenen Früchte zu verkümmern droht, nur konsequent: Sie rehabilitiert die „Zierde“ gegenüber der zur Barbarei gewordenen prosaischen Sachlichkeit und appelliert an die Höflichkeit des Verlegers gegenüber dem Autor, wie sie im Vertrag, der die gegenseitigen Verpflichtungen regelt, formell kodifiziert ist. 207 208 209

T. W. ADORNO, GS 4: Minima Moralia, S. 38 f. T. W. ADORNO, GS 4: Minima Moralia, S. 40. Ebd.

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In der bürgerlichen Auffassung von Kunst als kultureller Ware, auf deren Aufhebung (nicht Abschaffung) Lasker-Schülers gesamte Poetik zielt, kann der Verkauf immerhin als „Beweis“ dafür gewertet werden, „dass ich was kann“, während die eigenen Werke angesichts der drohenden Annullierung von Kultur überhaupt als ‚Geschmiere’ und Fallobst erscheinen – als Ballast, an dem ‚nichts mehr liegt’. Ihre Nutzlosigkeit ist nur mehr Hohn auf das Ideal ästhetischer Zweckfreiheit, das der bürgerliche Kulturbegriff zumindest ideologisch bewahrte. Die Nonsense-Dichtung, ehemals Korrektiv zum prätendierten Ernst bürgerlicher Hochkultur und Residuum freischwebender Phantasie, wird zum letztmöglichen Artikulationsmedium dessen, was sie zuvor noch heiter ironisierte. Deshalb reimt sich „Würde“ auf „absürde“: Der Sinn von Würde selbst ist absurd geworden und wird eben darum im Modus absurder, ver-rückter Rede eingefordert. In den Unsinn geht die Erinnerung daran ein, was der bürgerliche Kulturbegriff einst als Sinn versprochen hat.

c) Königliches Eigentum: Autorschaft und poetische Subjektivität in Ich räume auf! Der paradoxe, in sich gebrochene Rekurs auf den verlorenen Wahrheitsgehalt des bürgerlichen Autorschafts- und Werkbegriffs sowie auf das verratene bürgerliche Glücksversprechen von Autonomie und „Würde“, wie sie charakteristisch für Lasker-Schülers Exilwerk sind, wären missverstanden, wollte man sie als bloßen Widerruf des antibürgerlichen Impulses ihrer Poetik deuten. Eine solche Schematisierung, die das ‚antibürgerliche’ Bohème-Werk dem ‚resignativen’ Exilwerk gegenüberstellt, verkennt die Kontinuität der immanenten Kritik am bürgerlichen Kunstverständnis, durch die sich LaskerSchüler schon in der Bohème-Zeit gegenüber den meisten ihrer Zeitgenossen ausgezeichnet hat. Wenn die Jussuf-Figur im Exil zerfällt und Lasker-Schüler ihre Briefe nun auffallend oft als „Dichterin Else Lasker-Schüler“ oder „Prinz Jussuf / Die Else Lasker-Schüler“ unterzeichnet bzw. mit „Ich bin die Dichterin Else Lasker-Schüler“ einleitet,210 impliziert dieses Beharren auf dem Eigennamen kein Dementi ihrer früheren Poetologie. Vielmehr ist die emphatische Selbstauszeichnung als „Else Lasker-Schüler“ angesichts der Bedrohung der eigenen Autorschaft durch Exilierung und Vertreibung als Einforderung des bürgerlichen Autornamens zu verstehen, der schon im Modus des poetographischen Spiels nicht preisgegeben, sondern aufgehoben werden sollte. Die Idolatrie, mit der eine sich zunehmend verbürgerlichende Literaturwissen210

E. LASKER-SCHÜLER, „Was soll ich hier?“ Exilbriefe an Salman Schocken, hg. von Siegrid Bauschinger und Helmut G. Hermann. Heidelberg 1986, S. 43, 44, 48, 49, 50, 52 und passim.

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schaft die Autorin als quirlige Exotin in Anspruch nimmt,211 beruht insofern auf einem Missverständnis. Gerade die extravaganten, ornamentalen und exotistischen Elemente ihrer Poesie und Selbstdarstellung zeugen nicht von dem Versuch, durch Kultivierung erstarrter Besonderheit den Philister zu düpieren, sondern machen das Versprechen freier Selbstentäußerung des Subjekts, wie es der bürgerlichen Ästhetik einst selbst innewohnte, gegen deren reales Zerrbild geltend. In Ich räume auf!, Lasker-Schülers „Anklage gegen meine Verleger“ von 1925, verschränken sich entsprechend, scheinbar paradox, die Kritik am bürgerlichen Literaturmarkt und an der Kodifizierung von Autorschaft als Eigentumsverhältnis mit emphatischem Genie- und Originalitätspathos.212 Dieser fast absatzlose, scheinbar kaum argumentativ strukturierte Text, den Lasker-Schüler 1923 in Berlin mündlich vorgetragen und zwei Jahre später im Selbstverlag publiziert hat, wirkt zunächst wie eine Melange aus anekdotischer Polemik gegen die konkrete Praxis des bürgerlichen Verlagswesens, ‚materialistischer’ Kritik an der bürgerlichen Genie-Ideologie und ‚idealistischer’ Überhöhung des Dichters zum inspirierten Schöpfer. Indessen zeugt diese Widersprüchlichkeit, die für zahlreiche komische Dissonanzen sorgt, nicht von Lasker-Schülers mangelnder Durchdringung ökonomischer Zusammenhänge, sondern führt ins Zentrum ihres Verständnisses ästhetischer Subjektivität. Die emphatische Berufung auf den bürgerlichen Autornamen, die in den Exilbriefen als Reaktion auf die drohende Annullierung selbst noch des Warenwerts ästhetischer Produktion begegnet, findet sich bereits in Ich räume auf! im Kontext einer Passage, die rückblickend den Vertragsabschluss mit Axel Juncker, Lasker-Schülers erstem Verleger, schildert:

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Besonderer Beliebtheit erfreut sich in diesem Zusammenhang seit einiger Zeit die von den Postcolonial Studies bezogene These, dass der Orient und das ‚Fremde’, woraus das Bilderrepertoire von Lasker-Schülers Œuvre sich speist, nie „ausgeschlossen“, sondern von der Populärkultur „im Gegenteil unablässig hergestellt“ worden seien, so dass die exotistische Ikonographie nicht mehr in ihrem utopischen Gehalt, sondern allein als „Zeichenvorrat“ in den Blick kommt, dessen „Bausteine“ als Material subversiver Reinszenierungen dienen (S. KIRSCHNICK, Tausend und ein Zeichen, hier S. 16 und 20). Wo die Qualität des poetischen Bildes, nicht nur ‚Zeichen’, sondern Artikulationsform von Phantasie zu sein, solcherart eskamotiert wird, können nur mehr oder minder originelle Kombinationen des gegebenen ‚Zeichenvorrats’ unterschieden werden, nach deren spezifischem Wahrheitsgehalt gar nicht mehr gefragt wird. Die Bedeutung von Ich räume auf! als Entwurf einer „Politik des Autors in eigener Sache“ ist bislang einzig erkannt worden von M. FESSMANN, Spielfiguren, S. 7 ff., hier S. 14. Obwohl der Text für Feßmanns Thesen zur autorschaftskritischen Funktion von Lasker-Schülers Ich-Figurationen entscheidende Belege liefert, beschränkt sie sich allerdings auf wenige Hinweise.

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Dieser Hex Axel! Zwei Kontrakte wurden mir Glückskind zur Unterschrift unterbreitet, die ich gefälligst unterschrieb: Else Lasker-Schüler. Ein starker Name, der zum ersten Male für mich zeugte. Wir beide, heute, unzertrennbar vereint, ein Verhängnis! (4.1, 61)

Die mittlerweile weitgehend reflexionslos wiederholte Feststellung, LaskerSchülers Strategie des poetographischen Rollenspiels habe die Dekonstruktion der Logik des bürgerlichen Eigennamens zum Ziel, der als Autorname Werk und Autor im gleichen Moment voneinander trennt wie aufeinander bezieht und dadurch das Werk zur Ware transformiert,213 erweist sich schon hier zwar nicht als unzutreffend, aber doch als einseitig. Vielmehr wird die Verwandlung des Eigennamens zum Autornamen im Modus der „Unterschrift“ mit erstaunlicher Prägnanz in ihrer ganzen Ambivalenz erfasst: als Konstitution eines ‚starken’ Namens, der „zum ersten Mal für mich zeugt“, und als „Verhängnis“, das Autorsubjekt und Autorname, die doch nie identisch sein können, „unzertrennbar vereint“, den Autor mithin nur als Eigentümer seiner Originalität in den Blick geraten lässt. Der Name „Else Lasker-Schüler“ ist also ein „starker Name“, insofern er für die Originalität des Künstlers „zeugt“ und ihn gleichsam erst zur literarischen Person macht, ist aber zugleich „Verhängnis“, weil er das Individuum durch die juristische und ökonomische Form des Autornamens von seiner eigenen Subjektivität, die ihm als geistiges Eigentum gegenübertritt, abschneidet und trennt. Diese Konstitution bürgerlicher Autorschaft durch Trennung des Individuums von seiner als Eigentum veräußerlichten Subjektivität hat Elisabeth Lenk als „Prinzip der Stellvertretung“ beschrieben: „Die Kunst als Institution beruht auf dem Prinzip der Stellvertretung. Sie setzt eine entwickelte gesellschaftliche Arbeitsteilung bereits voraus, derart, dass Prozesse, die einstmals an allen Menschen stattfanden, zerstückelt und auf verschiedene Personengruppen verteilt worden sind. Der Künstler ist derjenige, der stellvertretend für alle andern Subjektivität ausdrücken soll. Anders gesagt: alle verzichten auf den Ausdruck ihrer Subjektivität zugunsten des Künstlers, der zum berufsmäßigen Spezialisten von Subjektivität wird“.214 Gegen diesen Prozess der Departementalisierung, in dessen Zuge ästhetische Subjektivität zum konsumierbaren Gut verkümmert, das die ihrer eigenen Subjektivität nicht mächtigen Individuen sich als Vorschein von Versöhnung 213

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Vgl. M. FESSMANN, Spielfiguren, S. 3: „Die Trennung desjenigen, der schreibt, von dem, was er geschrieben hat, ist die Grundvoraussetzung für das Funktionieren von Autorschaft und für die Verwendung beider, einander korrelativ bedingender Begriffe Autor und Werk. Der Schreibende wird dann zum Autor, wenn er das Geschriebene von sich abtrennt und veräußert [...]; was ihm bleibt und worin der Rechtsanspruch auf das von ihm veräußerte Manuskript gründet, ist das juristisch so genannte ‚geistige Eigentum’“. – In allen späteren ‚dekonstruktiven’ Lektüren Lasker-Schülers wird dieser juristisch-ökonomische Komplex völlig ausgeblendet. E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 321.

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rezeptiv zueignen, während die Künstler den zu Waren geronnenen Produkten ihrer Selbstentäußerung fremd gegenüberstehen, wendet sich Lasker-Schülers Werk im Namen eines Enthusiasmus, der das „Prinzip der Stellvertretung“ aufheben will, um alle Individuen mit jenen Fähigkeiten zu begaben, die im Künstler als „Spezialisten von Subjektivität“ verkapselt sind. Nichts wäre mithin irreführender, als Lasker-Schülers Namens- und Rollenspiele auf eine Bewegung der Dekonstruktion zu reduzieren,215 die jeden substantiellen Begriff ästhetischer Subjektivität in einer sich selbst verdoppelnden Maskerade auflöst und dadurch die Liquidation des Subjekts, seine Reduktion auf einen juristischen und ökonomischen Durchgangspunkt für den Tauschakt, unter der Hand reproduziert. Gerade Ich räume auf! attackiert dagegen die von Lenk beschriebene Entwürdigung des Künstlers zum Subjektivitätsfreak, der nur noch als Schauspieler seiner selbst agiert, im Namen eines emphatischen Autonomie-Ideals – jenes ‚starken Namens’, den Lasker-Schüler gleichsam vom Verleger zurückfordert. Deshalb ist ihr Pamphlet, dessen Untertitel („Meine Anklage gegen meine Verleger“) bereits auf die Spaltung des Autorsubjekts in ein Subjekt ästhetischer Produktion und eine juristische und ökonomische Person verweist, angemessen nur zu verstehen als Einforderung jenes Versprechens unreglementierter Selbstentäußerung, das im bürgerlichen Autornamen angelegt ist und von dessen eigenem Begriff verraten wird. Konsequent unterschreibt sie den Essay mit ihrem ‚starken’ Namen „Else LaskerSchüler“ (4.1, 85) und reklamiert ihre Werke durchaus affirmativ als ‚Eigentum’, wenn sie die Käufer ihres „Luxuswerkes“, des Lyrikbandes Theben, „Inhaber meines Eigentums Theben“ nennt (4.1, 54). Der Eigentumsbegriff, wie er sich im bürgerlichen Genie- und Originalitätsideal sedimentiert hat, wird nicht liquidiert, sondern auf die Spitze getrieben und gegen sich selbst gewendet: „Eigentum“ wird nicht als Form verstanden, in der die ästhetische Subjektivität dem Schöpfer als von ihm getrenntes Produkt entgegentritt, sondern bleibt gerade als Produkt, das die ‚Eigentümlichkeit’ seines Schöpfers bezeugt, von dessen Subjektivität durchtränkt.216 Insofern ist der Prinz von

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Eine prägnante Kritik der Dekonstruktion und ihrer Vorliebe für endlose „Signifikantenketten“ als linguistisch verbrämte Fetischisierung der „selbstreferentiellen Zwanghaftigkeit der Akkumulation“ findet sich bei U. KRUG / T. KUNSTREICH, Dekonstruktion heißt Domestizierung. Judith Butlers Staatsbürgerkunde für die queer nation. In: Bahamas 26 (1998), S. 35-42, hier S. 39. – Vgl. auch die Polemik gegen den postmodernen „Albtraum“ einer vom Autor losgelösten „anonymen Literatur“ bei M. FESSMANN, Spielfiguren, S. 74 ff. In Feßmanns Bemühen, Lasker-Schülers Ich-Figurationen als Versuch zu deuten, sich selbst zu „erfinden“ (M. FESSMANN, Spielfiguren, S. 23), ist dieser Impuls noch mitgedacht, obschon Feßmann – motiviert durch ihre berechtigte Kritik am Biographismus weiter Teile der damaligen Forschung – das Moment der Identitätsverweigerung und – subversion einseitig hervorkehrt. In der jüngeren Forschung ist die Frage, welche Be-

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Theben, zu dem sich die Dichterin, wie es heißt, in „der Nacht meiner tiefsten Not erhob“ (4.1, 69), keine Figur oder Rolle, die den Begriff des Autors dekonstruiert, sondern Inkarnation jener unreglementierten Subjektivität, die vom Autornamen, der den Dichter als ‚Stellvertreter’ setzt, ebenso versprochen wie verstümmelt wird. Lasker-Schülers Ich-Figurationen lassen das poetische Subjekt nicht hinter einer Vielzahl von Masken verschwinden, vielmehr konstituiert es sich durch diese Masken hindurch in emphatischer Selbstherrlichkeit. Nicht Schauspieler ist der Dichter, sondern selbstherrliches Subjekt. Dies ist gemeint mit der „Weisung“: „Es soll der Dichter mit dem König gehen.“ (4.1, 78) Die Herrschafts- und Souveränitätsmetaphorik – im gleichen Kontext nennt Lasker-Schüler den Dichter „Aristokrat“ (4.1, 78) – hat freilich anders als bei George, in dessen Werk die Bildlichkeit von Luxus, Schmuck, Adel, Blut usw. ähnlich dominant ist, nichts mit sozialen Exklusivitätsansprüchen zu tun. Exklusivität, Autorität und Hierarchie gehören vielmehr zur Sphäre ästhetischer ‚Stellvertreterschaft’, die durch die Selbsterhebung zum König und die Gründung des Reichs Theben aufgehoben werden soll. Die mimetischen Prozesse der Selbstentäußerung, die nach Maßgabe des bürgerlichen Geniebegriffs gerade nicht freigesetzt, sondern „mittels der Kunst in Ausnahmemenschen hineinprojiziert“ werden, während „die Alltagsmenschen kein Recht“ auf sie haben,217 fordert der König, der über ein Volk von Königen herrschen will, für jeden ein.218 Weil er die Logik ästhetischer Stellvertretung im Modus enthusiastischer Selbstentäußerung suspendiert, ist der Prinz von Theben auch keine ‚Maske’,219 sondern jene reale Figur, die durch Zerstörung aller ‚Mas-

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deutung poetische Subjektivität in Lasker-Schülers Werk hat, nicht mehr explizit aufgenommen worden. E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 318. Diese Gedankenfigur lässt sich schlagend bereits daran illustrieren, dass LaskerSchüler nahezu allen Künstlern, mit denen sie sich, bei aller Unterschiedlichkeit der ästhetischen Konzeption, einig glaubte, ‚königliche’ Titel verliehen hat: Der Prinz von Theben duldet nicht nur, sondern wünscht Könige neben sich. – D. BISCHOFF, Ausgesetzte Schöpfung, deutet die Königsmetaphorik undialektisch als „Zertrümmerung des traditionellen Konzepts vom Künstlersouverän“ und unterstellt, die Königsfigur vollziehe durch „Opferung ihres Selbst“ den „Bruch“ mit der „bürgerlichen Welt“ (S. 217). Die hier skizzierte Poetik der ‚Selbstherrlichkeit’ beruht dagegen auf der Aufhebung jeglicher Logik des (Selbst-)Opfers, die Lasker-Schülers Poetik, im Unterschied zur Opfer-Begeisterung von Teilen der Avantgarde, grundlegend fremd ist. So etwa M. O’BRIAN, „Ich war verkleidet als Poet … Ich bin Poetin!!“ The Masquerade of Gender in Else Lasker-Schüler’s Work. In: The German Quarterly 65 (1992), S. 1-17; S. STOCKHORST, Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Perspektiven des androgynen Rollenspiels bei Else Lasker-Schüler. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 6 (2001), S. 165-179; R. KISS, Das transgressive Spiel zwischen Autor und Text. Einer Untersuchung der Texte von Else Lasker-Schüler mit einem Ausblick auf Fernando Pessoa. Tübingen 2007.

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ken’ in freier Individuation entstanden ist: Es geht nicht um ‚Subjektdekonstruktion’, sondern um poetische Subjektivität als Vorschein kollektiven Glücks. Ich räume auf! variiert in immer neuen Anläufen Szenen, in denen die Verleger, die Lasker-Schüler sich nicht als agile Kulturagenten, sondern als schöpferische Individuen, als Könige wünscht, dieses Glücksversprechen verraten, indem sie den Dichter, wie Lenk das nennt, zum „Scheinproduzenten“220 und ihre eigene Tätigkeit zum Handel mit ästhetischem Schein erniedrigen. Alle Embleme von Lasker-Schülers Dichtung – die poetische Namengebung, die Krönungstitel, das Motiv des Bluts und des Schenkens – werden im Munde der Verleger ihres ‚Adels’ beraubt und zu rhetorischem Schmieröl des Literaturbetriebs gemacht. Die Verleger in Ich räume auf! sprechen beinahe schon wie Lasker-Schülers heutige Interpreten: „Das ist der Prinz Jussuf von Theben, die Else Lasker-Schüler, die Blume meines Verlags!“ pflegte mich mein Hauptverleger: Paul Cassirer, stolzen Mutes seinen Gästen vorzustellen. „Die größte Dichterin der Jetztzeit.“ Wenn ich dann seinen Lobgesang, allerdings geschmeichelt, rügte, erklärte mir mein Hauptverleger, ich sei nicht allein die größte Dichterin der Jetztzeit, sondern die Dichterin aller Zeiten. Verzeihen Sie, h. P., diesen wortgetreuen Bericht, er soll Ihnen ja nur zum Beweis dienen in meiner Anklage, warum mein Hauptverleger, Paul Cassirer, […] sich selbst verurteilt zur ewigen Schmach. (4.1, 49) Am Ostersonntag trat er [Alfred Flechtheim vom Querschnitt-Verlag, wo Theben erschien; M.K.] in mein läutendes Dachzimmer, legte ein Schokoladenosterei in mein Strickkörbchen und erkundigte sich dann zart, wie viel elektrisches Licht ich wohl beim Kolorieren in der Galerie Flechtheim verbraucht haben könne? Die Summe erschien ihm doch höchst verdächtig. […] Überall erobert nun der spanische Rheinländer, Alfred Flechtheim, Salons. Er tut mit seiner spanischen Abkunft und pfändet sich selbst, indem er mit dem spanischen Pflaster sein Furunkel, sein wahres Milieu verklebt. „Wir beide sind gleichen Blutes, Prinz von Theben“, brüllte er mich bei jeder Begegnung schon von weitem an. Ich sagte ihm einmal: „Ich möchte es auf eine Blutuntersuchung ankommen lassen.“ (4.1, 50 f.)

Ich räume auf! ist auch deshalb mit „Else Lasker-Schüler“ unterzeichnet, um strikt klarzustellen, dass Lasker-Schüler nicht dieser „Prinz Jussuf“ ist, dessen ‚Königtum’ seinen Verlegern zur Verklärung des Ausbeutungsverhältnisses zwischen Verleger und Autor gerinnt. In der Degradierung von „Prinz Jussuf“ zur bloß schmückenden „Blume meines Verlags“, im „Schokoladenosterei“, das der Verleger der Dichterin ins „Strickkörbchen“ legt, im Geschwätz vom „Blut“, das ihn mit ihr verbinde, und im Bild des ‚spanischen Rheinländers’, 220

E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 322.

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das anbiedernd an Lasker-Schülers poetische Genealogie anknüpft, treten alle Epitheta dichterischen ‚Adels’, wie Lasker-Schüler ihn versteht, der Dichterin als verdinglichte Rollen gegenüber, die den Ausverkauf dessen befördern, wofür sie einstehen: Der Prinz wird nicht zum Regenten eines Volks königlicher Menschen erhoben, sondern dem kulturkonsumierenden Publikum, den „Gästen“, als Kuriosum präsentiert; das Osterei ist keine Gabe, die eine affektive Beziehung stiften würde, sondern kaschiert das ökonomische Interesse an den Kosten für die Elektrizität; das Blut ist keine Auszeichnung, sondern Leitfloskel einer bieder-aggressiven Kameraderie; der ‚spanischen Rheinländer’ verkörpert nicht mehr die Erinnerung an die jüdische Vertreibungsgeschichte, sondern ist bloßes Warenzeichen der eigenen Person. Gerade weil sie Jussuf nicht als Kristallisationsfigur poetischer Subjektivität, sondern als Rolle, als Maskerade auffassen, depravieren die Verleger Lasker-Schüler, die Autorin, zur Kulturcharge im „Staats- und Gesellschaftstheater“, als deren Bestandteil Lenk den Literaturbetrieb interpretiert: „Rolle, Identität, alle diese Begriffe, einschließlich des Begriffes der Person, verweisen, ihrem Ursprung nach, auf die Maske. […] Die Autorität der Wenigen, die dem Rest der Menschheit, auf deren Kosten, ‚Staat’ und ‚Geschichte’ vorspielen, wäre längst dahin, ohne diesen tiefen Mechanismus, der bewirkt, dass triviale Personen sich durch den Zauber der Bühne in imaginäre Personen verwandeln, in Personen, die die Menschen sich ausgedacht haben, die es aber nicht gibt.“221 In dieser Intention auf Zerstörung der „Identität“ als sozialer „Rolle“ im Namen poetischer Subjektivität konvergieren alle bisher skizzierten Aspekte von Lasker-Schülers Poetik des Populären. Der Rekurs auf kindliche Erfahrung, populäre Mythen, triviale Formen sowie der emphatische Bezug auf die Sphäre von ‚Ware’ und ‚Laden’ sollen den „Zauber“ des Gesellschaftstheaters und seiner Maskeraden gerade brechen, um hinter der Pseudosubjektivität der ‚trivialen Person’ das frei sich entäußernde Subjekt hervortreten zu lassen, das seine verkapselte Individualität als Maske erkennt und abstreift. Diese Selbstherrlichkeit trennt den Dichter nicht vom Publikum, sondern zerschlägt, wie Lenk nicht zufällig in Anlehnung an Schlegels Begriffspaar von „Enthusiasmus und Reflexion“ formuliert, das Missverständnis, wonach der Dichter „erleuchtet, aber auch naiv“ der ästhetisch unproduktiven Menge gegenüberstehe:222 Erst indem er niemanden vertritt, steht er für alle ein. Eben deshalb aber ist Lasker-Schülers ‚materialistische’ Kritik an der bürgerlichen Genie- und Originalitätsideologie nicht anti-idealistisch zu verkürzen. Wenn sie den „Lobgesang“ Cassirers als Beweis seiner „Schmach“ auffasst, die Schokolade, die ihr Flechtheim schenkt, als „süßen Beigeschmack“ seiner „Untaten“ (4.1, 53) und die Prahlerei mit seiner „spanischen Abkunft“ als ‚Selbstpfändung’ denunziert, um der Floskel vom ‚gleichen Blut’ mit der 221 222

E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 320. Ebd., S. 328 f.

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Forderung nach einer „Blutuntersuchung“ zu kontern, die, wie es heißt, „völlige Ungleichheiten“ ergeben habe (4.1, 55), geht es nie nur um parodistische Entlarvung der Kalkulation mit dem Idealismus.223 Indem Lasker-Schüler den Konnex von Idealismus und Ausbeutung bloßstellt, den Euphemismus vom armen Poeten, der von seiner „Not“ Inspiration empfange, als „Geschäftskniff“ bezeichnet (4.1, 55), die Unterscheidung zwischen „Dichter“ und „Journalist“ als Deklassierung des ersteren entlarvt (4.1, 62) und die Rede vom „Genie“ aufs Korn nimmt, das „von Luft“ lebe (4.1, 70 und 83) und „gefeit vor allen Äußerlichkeiten“ sei (4.1, 76), hält sie durch ‚materialistische’ Desillusionierung vielmehr dem Wahrheitsgehalt des ästhetischen Idealismus die Treue. Grundlegender Impuls ihrer Poetik ist auch in den ideologiekritischen Volten von Ich räume auf! nicht die Entlarvung, sondern die emphatische Bejahung ästhetischen Scheins – aber eben nicht als von der empirischen Wirklichkeit getrennter bloßer Schein, sondern als Versprechen wirklicher, sich im Profanen realisierender Versöhnung. Konsequent figuriert ihr Werk als ‚Eigentum Theben’, als materialisiertes Wunder. Dieser ‚materialistische’ Aspekt gerade der Sphäre ästhetischen Scheins ist angesprochen, wenn es heißt: Haben Sie meine Dichtungen gelesen und die meiner verehrten Freunde, mit deren Gedichte meine Verse einträglich spielen? Rücken Sie näher zueinander, dass ich mein Herz auf Ihren Schoß legen kann, Sie mir ins Gesicht blicken und mein Mund warm zu Ihnen spricht, zu elterlichen Richtern, die sich empören über das Unrecht, das man Eurer Dichterin, Euren Dichtern zufügt, deren Gedichte Euch die Welt vervielfachen, Euch entrücken in eine Paradiesinnerlichkeit, in der man nur durch den Zauber der Dichtung schon im Leben heimzulanden vermag. (4.1, 55 f.)

Dichtung in diesem Sinne ist weder ‚materialistisch’ dem Bereich sozialer Praxis zuzuschlagen, noch entwirft sie eskapistische Gegenwelten. Vielmehr ‚vervielfacht’ sie die Welt, vermehrt die profanen Möglichkeiten menschlicher Glückserfahrung, indem sie ‚Entrückung’ und ‚Innerlichkeit’, „Paradies“ und innerweltliches „Leben“ im Modus enthusiastischer Erfahrung in eins setzt. Möglich wird dieses ‚einträgliche Spiel’ nicht durch Beschwörung unmittelbarer Einheitserfahrungen, sondern nur – und darin liegt der Sinn der ständigen Appelle an das Publikum – durch Anerkennung der gesellschaftlichen Entzweiung, des ‚Unrechts’, das die Dichter zu Stellvertretern und die „Freunde“ zum Publikum degradiert. Erst durch solch trauerndes Erinnern und die daraus schöpfende ‚Empörung’ konstituiert sich die affektive Gemeinschaft, die es dem Dichter erlaubt, sein „Herz“ in den „Schoß“ des Publikums 223

Das idealismuskritische Moment wird betont bei M. FESSMANN, Spielfiguren, besonders S. 13 f.

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zu legen und „warm“ zu ihm zu sprechen, mithin seine ‚Stellvertreterschaft’ aufzugeben zugunsten mimetischen Austauschs. Nicht die Anpassung an herrschende gesellschaftliche Verkehrsformen, die gewöhnlich als Zeichen ästhetischer ‚Popularität’ gilt, stiftet solche Gemeinschaft, sondern die Erfahrung, „die Einsamkeit stark erlebt“ zu haben „im gedrängten sich amüsierenden Menschenknäuel“ (4.1, 65). Gerade die Erfahrung der Schalheit kurrenter kollektiver Glücksversprechen stiftet die Gemeinschaft, an die der Enthusiasmus sich entäußert. Lenk hat diese Kommunikation, die kein Kommunikationsmodell erfassen kann, beschrieben: „Was demnach aller ästhetischen Produktivität zugrunde liegt, ist, dass man überwältigt wird von einem schmerzenden Zustand, den man von nun an aktiv erzeugen, ewig wiedererzeugen, von sich abschütteln, mitteilen möchte.“224 Eine solche intime Gemeinschaft muss allen Formen unmittelbaren politischen Engagements inkommensurabel bleiben, auch wenn sie sich mit ihnen solidarisch erklärt: Die Arbeiter ziehen in langen Zügen durch die Straßen, über die Plätze, vom Oberhaupt geordnet, weltgeordnet bis vor die Tore der Schornsteine. Ja, nach uns ändert sich auch die Erde, der Mond und die Sterne und uns drängt, uns nach Gottes Schöpfung zu reihen, immer wieder. (4.1, 57)

Die „Arbeiter“ figurieren hier, wie auch sonst bei Lasker-Schüler, weder als Fetische literarischer Identifikation noch als Statisten, sondern als Gäste im eigenen Werk, die solidarisch willkommen geheißen werden, aber fremd bleiben müssen, weil ihr vom „Oberhaupt“ geordneter Zug mit dem ‚Zug’ der Dichtung, die sich „nach Gottes Schöpfung […] reihen“ will, nicht vereinbar ist. Obwohl die Arbeiterbewegung bei Lasker-Schüler immer wieder emphatisch erwähnt wird – in Ich räume auf! beruft sie sich nicht nur auf Landauer und Mühsam, sondern auch auf Leviné (4.1, 66) –, kommt sie, anders als im Naturalismus und in Teilen des Expressionismus, nie als Adressat literarischer Praxis in Betracht. Dichtung im Sinne Lasker-Schülers richtet sich an die Individuen als ‚Könige’, als selbstherrliche Subjekte, nicht als Träger einer sozialen Rolle. Wollte sie unmittelbar im Namen der Deklassierten sprechen, erniedrigte sie sich nur erneut zur ästhetischen ‚Stellvertretung’. Deshalb werden ‚die Arbeiter’ bei Lasker-Schüler stets nur gleichsam respektvoll gegrüßt, aber nie paternalistisch angekumpelt. Der mimetische Austausch, der bei Lasker-Schüler die Stelle einnimmt, die in ‚engagierter’ Literatur von der abstrakten Berufung auf soziale Solidarität besetzt zu werden pflegt, kristallisiert sich stattdessen im Bild des Kindes. Unmittelbar auf die Erwähnung der Arbeiter folgt denn auch scheinbar abrupt die Erinnerung an das ‚Einwortsagen’ 224

E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 330.

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mit der Mutter und das Knopfspiel, an deren Ende eine merkwürdige produktionsästhetische Phantasie steht: O ja, das erste Buch Gedichte aus jungem Fleisch und Blut und Seele, ein arglos wunderschönes Geschöpf […]. Man hebt es aus der Krippe des heiligen Stalls, darin auch der Dichter zu wohnen pflegt, nimmt es behutsam in den Arm und führt sein erstes Buch, in Weiß gebunden, spazieren. (4.1, 59)

Hier handelt es sich nicht um biologistische Zeugungsvorstellungen,225 sondern um die Inkarnation von Lasker-Schülers Ideal ästhetischer Autonomie. Das poetische Werk ist kein ‚geistiges Eigentum’ im bürgerlichen Verstande, sondern, als Zeugnis freier poetischer Subjektivität, selbst Subjekt, ein „arglos wunderschönes Geschöpf“ mit „Fleisch und Blut und Seele“, ebenso Teil des profanen Daseins wie der Dichter, der es nicht besitzt, sondern „spazieren“ führt. Als Zeugnis der erinnernden Aktualisierung kindlicher mimetischer Potentiale ist es selbst Kind, das nicht für heteronome Zwecke gebraucht werden kann, aber auch noch nicht ‚fertig’ ist, sondern am Leben teilhat in eigengesetzlicher Entwicklung. In diesem Sinne macht Lasker-Schüler gegen das verlegerische Gebaren von Cassirer die Erinnerung an den „Gymnasiasten“ Paul geltend, weil „ein anständiger Mensch […] sein Leben lang Primaner zu bleiben […], begeistert zu sein, in der Nachmittagsstunde sich schwermütig der Dämmerung anzuschließen“ und nie „den entzückenden Übermut“ zu verlieren habe (4.1, 80). Ein Dichter in diesem Sinne versteht seine Werke nicht als Eigentum, das sich in verdinglichter Form von seinem Schöpfer ablöst, ihm also im Modus der ‚Eigentümlichkeit’ gleichsam entwendet wird – LaskerSchüler erfasst dieses Paradox, wenn sie erzählt, sie sei gezwungen gewesen, ihre eigenen Bücher, „nicht imstande sie zu kaufen, vom Ladentisch zu rauben“ (4.1, 62 f.) –, sondern als Geschenk, das, gerade weil es Kristallisation poetischer Subjektivität ist, der Menschheit gehört: „Mögen meine Dichtungen mit mir über die Meere schwimmen und versinken in den Grund der Welt.“ (4.1, 84). Dieses Ideal einer „in den Grund der Welt“, des Profanen, eingehenden Dichtung, die sich verwirklicht, indem sie ihren geronnen Objektstatus aufhebt, speist sich aus den ästhetischen Reflexionen Gustav Landauers, den Lasker-Schüler in Ich räume auf! rückblickend explizit als „König“ tituliert (4.1, 66) und in dessen Œuvre der Konnex von Poesie und Enthusiasmus, die Vorstellung vom Königtum des Dichters sowie die Metapher des Blutes ebenfalls begegnen. Durch Skizzierung von Landauers Sonderstellung in der um Julius und Heinrich Hart gruppierten Neuen Gemeinschaft lässt sich nicht nur Lasker-Schülers eigener Entwurf einer populären und autonomen Dichtung präziser fassen, sondern auch dessen Gegensätzlichkeit zur 225

Siehe dagegen die obskurantistischen Spekulationen von K. THEWELEIT, Buch der Könige. Bd. 1: Orpheus (und) Eurydike. Basel, Frankfurt/M. 1988, S. 181 ff.

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Poetik Peter Hilles erläutern, dessen Faszination für die Sphäre der Kindheit nur scheinbar mit Lasker-Schüler konvergiert.,

e) Das Geblüt des Dichters: Selbstherrlichkeit und Gemeinschaft (Mühsam, Landauer) Unabhängig von allen bloß personellen und institutionellen Verflechtungen kann das Bemühen um die Idee einer neuen ‚Volkskunst’, die den Gegensatz von Autonomie- und Zweckästhetik unterlaufen und den als Urheberschaft kodifizierten bürgerlichen Autorschaftsbegriff aufheben soll, als wichtigste Gemeinsamkeit zwischen Lasker-Schülers Dichtung und den ästhetischen Konzepten der Neuen Gemeinschaft gelten, deren anarchistische Wurzeln in Ich räume auf! durch Nennung von Landauer und Mühsam in Erinnerung gerufen werden.226 Auf die Dissoziation des Zusammenhangs von Bürgertum und literarischer Intelligenz wollte die ‚anarchistische’, von Nietzsche und Stirner beeinflusste Bohème-Literatur weder durch Politisierung im Sinne einer sozialistischen ‚Massenkunst’ noch durch Rückzug auf einen elitären Ästhetizismus antworten. Stattdessen sah sie sich als Vorhut eines allererst zu schaffenden ‚Volkes’, das als freier Freundschaftsbund verstanden wurde. Dass kollektivistische und individualistische Impulse sich in diesem Ideal eines ‚neuen Bundes’227 auf durchaus verschiedene Weise verbinden konnten, wird an den Differenzen zwischen Mühsams Konzept der ‚Kameradschaft’ und Landauers Begriff der ‚Gemeinschaft’ evident. Im Gegensatz zu Mühsams Verständnis von Volkskunst, das bei aller Kritik am Parteiensozialismus 226

227

Zur Literatur der ‚anarchistischen’ Bohème siehe H. KREUZER, Die Boheme, besonders S. 301 ff.; H. SCHERER, Bürgerlich-oppositionelle Literaten und sozialdemokratische Arbeiterbewegung nach 1890. Die ‚Friedrichshagener’ und ihr Einfluss auf die sozialdemokratische Kulturpolitik. Stuttgart 1974, besonders S. 64 ff.; W. FÄHNDERS, Anarchismus und Literatur. Ein vergessenes Kapitel deutscher Literaturgeschichte zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1987. – Zu Lasker-Schülers Verbindungen mit der Neuen Gemeinschaft siehe vor allem C. REISS-SUCKOW, „Wer wird mir Schöpfer sein!!“, S. 90 ff.; S. BAUSCHINGER, Else Lasker-Schüler. Biographie, S. 51 ff.; V. DI ROSA, „Begraben sind die Bibeljahre längst“. Diaspora und Identitätssuche im poetischen Entwurf Else Lasker-Schülers. Paderborn 2006, S. 23 ff. Vgl. außerdem die materialreiche Dokumentation von G. CEPL-KAUFMANN / R. KUAFFELDT, Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt der Jahrhundertwende. München 1994. Siehe hierzu die instruktiven Arbeiten von R. KAUFFELDT, Erich Mühsam. Literatur und Anarchie. München 1983, besonders S. 47 ff.; ders.. Die Idee eines ‚Neuen Bundes’ (Gustav Landauer). In: M. FRANK, Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie II. Frankfurt/M. 1988, S. 131-179; ders., Zur jüdischen Tradition im romantisch-anarchistischen Denken Erich Mühsams und Gustav Landauers. In: Erich Mühsam und das Judentum. Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft 21, Lübeck 2002, S. 171-194.

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doch einem ‚sozialistischen’ Begriff politischer Kunst verhaftet bleibt, lässt sich Landauers meist als ästhetizistisch und elitär kritisierter Versuch einer Aufhebung der Dichotomie von ‚hoher’ Kunst und Volkskunst für das Verständnis von Lasker-Schülers Ästhetik in erstaunlicher Weise fruchtbar machen. Während Mühsams Modell der Kameradschaft ungewollt in der Dichotomie von Autonomie- und Zweckästhetik verharrt, indem es auf die Entthronung des esoterischen Künstlers und auf dessen Solidarisierung zwar nicht mit den Arbeitern, aber mit dem Lumpenproletariat zielt, trifft sich Landauer mit Lasker-Schüler im Festhalten am Ideal einer ‚hohen’ Kunst, die gerade durch Verweigerung jeglicher ‚Stellvertretung’ zur Volkskunst werden soll. Während Mühsam an den Dichter appelliert, sich durch Verzicht auf seine ‚Besonderheit’ zu den Parias zu bekennen, erhebt Landauer Einspruch gegen jede Logik des Verzichts. Statt die Idee des dichterischen Privilegs preiszugeben, fordert er sie als Allgemeines ein. Dass sich auch Mühsams Ideal der Kameradschaft gegen Formen staatlicher Zwangsvergemeinschaftung richtet, verdeutlicht sein programmatischer Essay „Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip“ von 1929, wo er unter Berufung auf Kropotkin davon spricht, dass „der Begriff der gesellschaftlichen Freiheit“ sich „mit dem der allgemeinen Kameradschaft unter den Menschen“ decke, und jede zentralistische Macht durch „Bünde der Freiwilligkeit“ ersetzt sehen möchte.228 Im Einklang mit Landauer proklamiert er Kameradschaft als zwanglose Einheit von Individualität und Kollektivität: „Die auf der Kameradschaft gleichberechtigter Menschen errichtete freie Gesellschaft ist ein Organismus, dem alle Elemente der Persönlichkeit innewohnen“.229 Diese Bestimmung von „Persönlichkeit“ als Konstituens der freien Assoziation „gleichberechtigter Menschen“ korrespondiert mit dem für die Neue Gemeinschaft charakteristischen Kunstverständnis, das die bürgerliche Schöpfungsund Genieästhetik nicht abstrakt negiert, sondern sowohl gegen die Verleugnung von Individualität in proletarischer ‚Massenkunst’ wie auch gegen die ästhetizistische Hypostasierung des Subjekts in Anschlag bringt. Seine Sehnsucht nach einem bereits im Hier und Jetzt angelegten, „positiv von Freiheit durchdrungenen sozialen Zustand“ und seine Aversion gegen Formen „rein negative[r] Befreiung“230 führen Mühsam freilich dazu, das im Begriff der Persönlichkeit angelegte Moment der Emanzipation, wie es mit der Herrschafts- und Königsmetaphorik bei Lasker-Schüler eingeklagt wird, einem Verständnis positiver Kollektivität zu subsumieren, das ‚Persönlichkeit’ nur als integrales Moment von Gemeinschaft duldet: 228

229 230

E. MÜHSAM, Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip. In: ders., Ich bin verdammt zu warten in einem Bürgergarten, hg. von Wolfgang Haug. Darmstadt, Neuwied 1983. Bd. 2: Literarische und politische Aufsätze, S. 156-166, hier S. 162 f. Ebd., S. 164. Ebd., S. 158.

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[T]atsächliche gesellschaftliche Freiheit [kann] gar nicht zur Begrenzung der Freiheit des Einzelnen zwingen, da ja Freiheit der Persönlichkeit nicht bestände, wo sie im Widerspruch zur allgemeinen Freiheit wirken wollte. Die Willkür nämlich, die für sich selber Rechte in Anspruch nimmt, die in der gesellschaftlichen Freiheit nicht begründet sind, hat mit Freiheit gar keine Berührung231.

Die „Freiheit des Einzelnen“ gerät in dieser tendenziell tautologischen Formulierung unter der Hand zur bloß individuellen Ausdrucksform des Allgemeinen, eben der „gesellschaftlichen Freiheit“, die aus sich selbst heraus determiniert, wann die „Freiheit der Persönlichkeit“ legitim sei und wann sie zur „Willkür“ werde. Statt die individualistische ‚Willkür’, in der sich das Subjekt als je Besonderes gegenüber dem gesellschaftlichen Sein ausspricht, als Movens einer gesellschaftlichen Freiheit zu begreifen, die die ‚Willkür’, von ihrer Borniertheit befreit, zu ihrem Recht kommen ließe, wird die individuelle Freiheit abstrakt vom Begriff der ‚gesellschaftlichen Freiheit’ her bestimmt, der ihre Grenzen festlegt. Möglich wird dies, weil der Begriff gesellschaftlicher Freiheit auf einen organischen Zusammenklang von Besonderem und Allgemeinem abzielt, der keine Vermittlungen mehr kennt: Die Gesellschaft der Freiheit ist ein Organismus, d.h. ein einheitlich und darum harmonisch schaltendes Lebewesen; das unterscheidet sie vom Staat und jeder Zentralgewalt, wo ein Mechanismus die Funktionen des organischen Lebens zu ersetzen sucht232.

Die Rede vom ‚einheitlich schaltenden Lebewesen’ macht bereits deutlich, dass die angeblich freie Gesellschaft sich als „Organismus“ gegenüber den Einzelnen ebenso zu verselbständigen droht wie der als ‚mechanisch’ denunzierte Staat gegenüber seinen Bürgern. Als ihr Modell dienen, in Anlehnung an Kropotkins optimistische Variante des Sozialdarwinismus und in deutlichem Gegensatz zum Ideal des ‚Königtums’ bei Lasker-Schüler, die vom puren Überlebenszwang geeinten Tiergemeinschaften: Alle [...] lebenden Tiere gründen ihr Gemeinschaftsdasein [...] auf die natürliche Veranlagung zur kameradschaftlichen Brüderlichkeit [...]. Die Jagdgemeinschaften der Wölfe sind ebenso wie die Massenwanderungen des Damwildes [...] Beispiele in Freiheit organisierten gesellschaftlichen Lebens. Hier wirkt [...] keine zentrale Regierungsmaschinerie, sondern Anarchie233.

231 232 233

Ebd., S. 164. Ebd., S. 165; Hervorhebung M.K. Ebd., S. 163.

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Abgelehnt wird allein die als mechanisch denunzierte ‚Gesellschaft’, der bürgerliche Staat, dem ‚natürliche’ Gemeinschaften auch dann vorgezogen werden, wenn ihr Zusammenhalt durch den Naturzwang, die Unterwerfung aller unters Diktat der Lebensnot, verbürgt wird. Dies ist der keineswegs harmlose Gehalt von Mühsams Diktum, wonach „Solidarität“ keine in Auseinandersetzung mit fehlbaren oder schwachen Subjekten erworbene Fähigkeit, sondern „naturgegebene Eigenschaft aller lebenskräftigen Geschöpfe“ sei.234 Nicht im Modus ‚königlicher’ Selbsterhebung, in der das Subjekt als je Besonderes in der Teilhabe am verbindenden Menschlichen seiner selbst gewahr wird, entsteht demnach Solidarität, sondern als Resultat des Naturzwangs, der die ohnmächtigen Einzelnen zusammenschweißt, auf dass sie ihre ‚Lebenskraft’ beweisen. Die militärischen und männerbündischen Konnotationen des Begriffs der Kameradschaft erscheinen vor diesem Hintergrund nicht mehr als zufällig. Genuss, Luxus und Zweckfreiheit, mithin auch das strikte Festhalten am ästhetischen Autonomiepostulat, müssen aus dieser Perspektive verdächtig wirken und können nicht als wie immer auch einseitiger Ausdruck der Autonomie des Subjekts anerkannt werden, in dessen ‚Willkür’ sich die Weigerung ausspricht, bloßes Gattungsexemplar zu sein. An der ästhetizistischen Abwendung des Dichters vom sozialen Leben stört Mühsam denn auch der Ekel vor der niederen Existenz, den er allein als Symptom von Hybris und nicht als Negation einer schlechten Wirklichkeit deutet. In Anlehnung an die Ikonographie vom Parnass denunziert er das Selbstbild ästhetizistischer Dichter in seinem 1911 veröffentlichten „Appell an den Geist“ als Ideologisierung philiströser Staatshörigkeit: Hoch über den Ebenen, in denen die Philister einander in die Seiten puffen, ragt die Burg, darin der Geist wohnt. Der Literat und der Künstler wenden den Blick degoutiert ab vom Gewimmel der Menge. [...] Zu ihnen hinauf, in die Domäne der Kultur, darf der Dunst des Alltags nicht steigen. Die Nase zu vor den Ausdünstungen des Volkes! Den Blick empor zu den reinen Höhen der Geistigkeit. Der Künstler, der sich allem, was die Umwelt angeht, so hoch überlegen dünkt, ist ein Philister. [...] Er verschließt die Augen vor dem Elend, in dem er selbst bis an die Knöchel watet, und macht sich damit für die Behörden zum erwünschtesten aller Staatsbürger.235

Die Dichotomie von Gipfel und Ebene, die den Dichter dem „Gewimmel der Menge“ als idealisches Gegenbild entrückt, verschleiert demnach nur die Saturiertheit des Spießers, dem die Idee ästhetischer Autonomie zum Alibi wird, 234 235

Ebd., S. 162 f.; Hervorhebung M. K. E. MÜHSAM, Appell an den Geist. In: ders., Ich bin verdammt. Bd. 2, S. 39-42, hier S. 41 f.

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sich in der „Domäne der Kultur“ wie in einer Trutzburg vor den „Ausdünstungen des Volkes“ zu verschanzen.236 Ob nicht auch die deklassierte Menge jene „Höhen des Geistes“ dem „Dunst des Alltags“ vorziehen und von ihrer elenden Existenz ebenso „degoutiert“ sein könnte wie der Dichter, ob dessen Ekel also nicht legitim und nur durchs Privileg entstellt ist, wird nicht gefragt. Sein Anspruch, als „Esoteriker“ dem „Spektakel des Lebens“ fernzustehen, wird in genuinem Kameradschaftsjargon als „Schwätzerei“ abgetan.237 Seine Distinktion gegenüber dem verpönten Staat soll er nicht in der Absonderung, als individuierter Einzelner, erreichen, sondern durch unmittelbare Identifikation mit dem Lumpenproletariat, indem er sich mit dem Stolz des ins Abseits gedrängten Kleinbürgers zu seiner Existenz „als Schmarotzer, als Schädling, als Verkehrsstörung“ bekennt: Paria ist der Künstler, wie der Letzte der Lumpen! [...] Wir, die wir geistige Menschen sind, wollen zusammenstehen – in einer Reihe mit Vagabunden und Bettlern, mit Ausgestoßenen und Verbrechern wollen wir kämpfen gegen die Herrschaft der Unkultur! Jeder, der Opfer ist, gehört zu uns!238

Verbrecher, Bettler und „geistige Menschen“ verbindet freilich, wenn überhaupt, allein ihre abstrakte Marginalität, die kaum dazu berechtigt, ein ganzes Kollektiv der „Opfer“ herbeizuphantasieren. Vielmehr erscheint die Identifikation mit ‚den Opfern’ als Versuch der Selbstrettung einer sich oppositionell verstehenden Intelligenz, die als „überflüssig, wertlos“ gilt und sich dennoch dem „Geschmack des Banausentums“ überlegen glaubt.239 Die Behauptung, das „Werk“ des authentischen Künstlers stehe „jenseits der Marktbewertung“,240 wird denn auch nicht durch Reflexion auf die Dialektik des Eigentumsbegriffs begründet, sondern affirmativ als Ausweis der Zugehörigkeit des Künstlers zum Mob in Anspruch genommen, der ebenfalls aus der Zirkulationssphäre ausgeschlossen sei. Wenn Mühsam es als Aufgabe der Künstler vorstellt, „durch die Mittel ihres Geistes, also durch ihre Kunst, Völker aufzu-

236

237 238 239 240

Siehe H. SCHLAFFER, Das Dichtergedicht im 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 10 (1966), S. 297-335. Mühsams ebenfalls 1911 begründetes Zeitschriftenprojekt „Kain“ sollte ausdrücklich dazu dienen, „den Abstand zur Quelle jeglicher Kunst, dem Volk, zu verringern“ und den Dichter vom „Elfenbeinturm“ herunterzuholen – ein Desiderat, das aus bürgerlich-liberaler Perspektive zeit- und wortgleich von Heinrich Mann in seinem Essay „Geist und Tat“ formuliert wurde. Vgl. R. KAUFFELDT, Erich Mühsam, S. 196. E. MÜHSAM, Appell an den Geist, S. 42. Ebd., S. 41 f. Ebd., S. 41. Ebd.

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richten und die Grenzen zwischen ihnen zu zertrümmern“,241 so richtet sich dies zwar gegen den homogenen Volksbegriff des deutschen Nationalstaats, appelliert demgegenüber jedoch nicht an den inkommensurablen Einzelnen, sondern an den vagabundischen Pöbel, der in seiner Inhomogenität gleichsam nur darauf wartet, im Modus der Destruktion staatlicher Zentralgewalt zum ‚Volk’ befreit zu werden: Volk muss noch geschaffen werden. Was heute besteht, ist sein Surrogat, ist Staat. Staat ist Krieg, Hass, Verfolgung, Zwang, Gesetz. Volk ist Friede, Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Ausgleich, Kultur. Der Künstler stellt sich […] in den Dienst des Volkes, so wird der Inhalt des Volkes Kultur und Schönheit sein.242

Diese Vorstellung von der Kunst als Schönheitsdienst am sich durch Unterminierung der Staatsmacht konstituierenden ‚Volk’ begegnet der historischen Erfahrung, dass dem Künstler „die höchste Freude des Schaffenden, mit seiner Arbeit Menschenseelen zu erfrischen“,243 versagt bleibe, indem sie den Künstler erneut zum ‚Stellvertreter’, diesmal eben nur der vermeintlich gerechteren Sache ernennt. An seinen ‚Geist’ wird appelliert, seine ‚Besonderheit’ aufzugeben, um sich mit einem im Hier und Jetzt verwurzelten ‚Menschentum’ zu verbrüdern: Das ist eine matte, blutleere, dürftige Kunst, die nicht getränkt ist vom warmen roten Zustrom der lebendigen Wirklichkeit. […] Ihr törichte Einsame, die ihr wähnt, oben in euern Ateliers andere, freiere Luft zu atmen als die Masse auf den Plätzen der Städte! […] Tut nicht, als wäret ihr Besondere! Seid Menschen! Habt Herz!244

Anders als Landauer, der – wie noch zu zeigen ist – die Metapher des Blutes als Bild für eine über Generationen hinweg sich konstituierende subkutane Tradition des Partikularen und Vergessenen einsetzt, die von jedem Individuum aufs Neue realisiert werden muss, und durch diese utopischbewahrende Intention Lasker-Schülers Verständnis von ‚Volk’ besonders nahe kommt, bezieht Mühsam die Blut-Metapher unmittelbar auf die ‚lebendige Wirklichkeit’, die zur Revitalisierung des modernen Künstlertums beitragen soll. Bedingung dieser Transfusion ist, dass der Künstler nicht als unnahbarer Einzelner, sondern als ‚Mensch mit Herz’ tätig werde; auf seine Isolation wird 241

242 243 244

E. MÜHSAM, Künstlerpflicht. In: ders., Sammlung 1898-1928. Berlin 1976, S. 236238, hier S. 237. Ebd. E. MÜHSAM, Appell an den Geist, S. 42. Ebd.

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geantwortet mit einer kleinbürgerlichen Ideologie des AllgemeinMenschlichen, die ‚Vereinsamung’ nur als zu beseitigenden Makel des Subjekts und nicht als Bedingung zur Selbstbefreiung des Menschengeschlechts ansieht: „Das Verhängnis des Künstlers ist seine Vereinsamung, seine selbstgewählte Abschließung von den Dingen des Volkes [...]. Er entzieht das geistig-seelische Gut seiner Künstlerschaft der Wirkung auf das Weltgeschehen.“245 Die ebenfalls genuin kleinbürgerliche Überzeugung, dass Kunst allein als ‚Gemeingut’ mit Verbindung zu den „Dingen des Volkes“ (wenn nicht am besten zum „Weltgeschehen“) Legitimation besitze, wirkt hier dem antibürgerlichen Impetus zum Trotz ungebrochen fort. Seiner ‚Besonderheit’ soll der Künstler nicht durch Selbstentäußerung, sondern durch Selbstaufgabe ledig werden, indem er noch die letzten Spuren seines Privilegs zugunsten der Solidarisierung mit Entbehrung und Beschränktheit liquidiert, die doch wohl nicht fetischisiert, sondern abgeschafft werden sollten. In ihrem Ressentiment gegen die ‚Besonderheit’ der ästhetischen Sphäre ist Mühsams Idee einer auf ‚Kameradschaft’ gegründeten Volkskunst repräsentativ für eine auch in Teilen der Neuen Gemeinschaft verbreitete Tendenz der anarchistischen Bohème, den in der bürgerlichen Autonomie- und Genieästhetik angelegten Freiheitsanspruch im Namen einer vermeintlich ‚solidarischen’ Anpassung des Künstlers an Heteronomie und blanke Lebensnot zu annullieren, wobei gerade dieser Akt der Erniedrigung zur Berufung umgedeutet wird. Mit dem Konzept einer sozialistischen Massenkunst, wie es im deutschen Naturalismus diskutiert worden ist, trifft sich solch dichterisches ‚Engagement’ nicht nur in der reaktionären Vorstellung, man müsse das Volk eben dort abholen, wo es steht, sondern auch im unverhohlenen Hass auf Luxus und Glück, die nicht etwa jedem gegönnt, sondern mit der Ranküne des Deklassierten noch in ihrer partikularen Erscheinungsform als bürgerliches Privileg durch ‚individuelle Expropriation’ getilgt werden sollen.246 Statt mit der Realisierung des bürgerlichen Freiheitsversprechens wird mit der Aussicht gelockt, es den Mächtigen in gleicher Münze heimzuzahlen, wenn man selbst obenauf ist.247 Landauers Gemeinschaftsideal, das in seiner Kritik an staatli245 246

247

E. MÜHSAM, Künstlerpflicht, S. 236. Zur „Zerstörung“ als „Form des Selbstgenusses“ sowie zur anarchistischen Verherrlichung von Raub und Terror vgl. H. KREUZER, Die Boheme, S. 301 ff., hier S. 309. Weitgehend affirmativ wird die „Traditionslinie der individuellen Expropriation“ nachgezeichnet durch W. FÄHNDERS, Anarchismus und Literatur, S. 36 ff., hier S. 37. Über die Affinität von Naturalismus und Anarchismus ebd., S. 1-35; außerdem H. SCHEUER, Zwischen Sozialismus und Individualismus – Zwischen Marx und Nietzsche. In: ders. (Hg), Naturalismus. Stuttgart u. a. 1974, S. 150-174. In diesem Sinn ist auch Mühsams ‚Tendenzlyrik’ zu verstehen, in der die Zusammengehörigkeit von Dichter und Lumpenproletariat durch affirmative Berufung auf den Neid der Entrechteten gestiftet werden soll. So heißt es im 1914 entstandenen „Lumpenlied“: „Der Bürger kann gesittet sein, / er lernte Bibel und Latein. – / Wir lernen nur

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chen Zwangsverbänden Mühsam durchaus nahe ist, unterscheidet sich von dessen Kameradschaftsidolatrie darin, dass jene Allianz von Antibürgerlichkeit und Ressentiment zugunsten einer Ethik der Selbstherrlichkeit und des Schenkens suspendiert wird, die in verblüffender Weise mit Lasker-Schülers Ästhetik korreliert. Während der meist als Lasker-Schülers Mentor angesehene Peter Hille, wie zu zeigen sein wird, eine antibürgerliche Poetik der ‚Lebenstüchtigkeit’ entwickelt hat, die Mühsams Kameradschaftsideal nicht unähnlich ist, lassen sich Lasker-Schülers Ineinssetzung von Luxus und Tand, von geknechtetem Menschentum und Königtum, sowie ihre Poetik enthusiastischer Selbstentäußerung erst vor dem Hintergrund von Landauers Gemeinschaftsideal angemessen verstehen. Wie Lasker-Schülers Bild vom Dichter als König eines Volks von Königen nicht auf die Liquidation des Impulses unreglementierter Subjektivität, sondern auf dessen Einlösung durch Aufhebung seiner Selbstverkapselung zielt, so macht Landauer in seiner „Ansprache an die Dichter“ von 1918 das kollektive Telos von Dichtung in der Einsamkeit des Künstlers aus, der allein als Inkommensurabler, Isolierter die wahre ‚Gemeinschaft’ antizipiert: Es tut not, dass Volk und Dichter zusammenkommen, tut auch dem Dichter not, wähne er nicht, in ihm steige der Geist göttlich zum Volk herab [...]. [N]icht dort ist das Verderben und hier der Retter, sondern die schon vom Verderben Verderbten sind da, und der Dichter ist einer unter ihnen, die im tiefsten Gewissen und in der gestaltenden Phantasie die Reinheit tragen, die sie aufruft, sich selber zu retten, sich selber zu finden. Nur so können das Volk und der Dichter sich und einander helfen und retten, dass der Dichter Volk, dass das Volk Dichter wird. So ist es möglich, [...] dass er, wenn er sich von den Gestalten seiner Phantasie zu den Mitmenschen wendet, mit deren Dasein und Gemeinschaft er in der Einsamkeit und Entrücktheit seiner Gebilde schon immer,

den Neid. / [...] / Oh, wär ich doch ein reicher Mann, / der ohne Mühe stehlen kann, / gepriesen und geehrt. / Träf ich euch auf der Straße dann, / ihr Strohkumpane, Fritz, Johann, / ihr Lumpenvolk, ich spie euch an. – / Das seid ihr Hunde wert!“ (E. MÜHSAM, Ich bin verdammt. Bd. 1: Gedichte, Stücke, Prosa, S. 19). – Mühsams Pazifismus und Antifaschismus, deretwegen er mehrfach inhaftiert und schließlich 1934 von den Nazis in Oranienburg ermordet wurde, verlieren dadurch nichts von ihrer Dignität. Umso problematischer ist es, dass die Mühsam-Gemeinde die Kluft zwischen politischer Anschauung und Werkgehalt beharrlich ignoriert. So meint Kauffeldt, an Mühsams „Tendenzlyrik“ dürfe „kein Dichter vorbeigehen“, der „zu einer erhöhten Kultur beitragen möchte“ (R. KAUFFELDT, Erich Mühsam, S. 127). Auch Fähnders zeigt sich begeistert, wie die „Rohheit“, das „Ordinäre“ und der Ton „eines sich unbekümmert gebenden Drauflosschlagens“ in anarchistischer Lyrik am „klassischen Erbe“ rüttelten (W. FÄHNDERS, Anarchismus und Literatur, S. 57).

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nur in gewandelter Form, innig und leidenschaftlich verbunden war, dass er nun unmittelbar [...] zur Arbeit an den Sachen der Öffentlichkeit geht.248

Nicht im Namen eines durch Annullierung des poetischen Privilegs gestifteten Bündnisses zwischen Dichter und Lumpenproletariat wird die Trennung des Dichters vom Volk, sein Ausschluss aus der „Öffentlichkeit“, kritisiert, sondern im Namen der Selbstrettung der Individuen, in deren „gestaltende[r] Phantasie“ die Aufforderung beschlossen liegt, das „Verderben“ hinter sich zu lassen und sich selbst zu ‚Dichtern’ zu krönen. Die Rede vom Volk als „Dichter“ hat daher mit autochthonen Vorstellungen von ‚Volkspoesie’ so wenig zu tun wie mit Mühsams Aufforderung zur Selbstentthronung des Poeten. Vielmehr sollen die „Verderbten“ in der „Entrücktheit“ und „Einsamkeit“ poetischer „Gebilde“, in deren Inkommensurabilität, ihre ganz und gar eigene Sache erkennen und im Anspruch ästhetischer Autonomie ein Freiheitsversprechen erblicken, das jeder Einzelne auf unwiederholbare Weise zu verwirklichen hat. Wie die Autorität des Monarchen bei Lasker-Schüler sich an sein Volk entäußert und jeden Einzelnen zum König macht, steht bei Landauer die ‚Entrücktheit’ des Dichters für eine Selbstherrlichkeit des Subjekts ein, die sich nicht im Ressentiment gegen andere durchsetzt, sondern jedem anderen gönnt, was einem selbst gebührt. Deshalb beharrt Landauer gegen jede ‚sozialistische’ Vereinnahmung auf der ‚Herrlichkeit’ des Dichters, durch die allein dieser für die Sache des Allgemeinen einstehe: Der Dichter ist der Führer im Chor, er ist aber auch – wie der Solotenor, der in der Neunten über die einheitlich rufenden Chormassen hinweg unerbittlichen Schwungs seine eigene Weise singt – der herrlich Isolierte, der sich gegen die Menge behauptet. Er ist der ewige Empörer. In der Revolutionszeit kann er der Vorderste sein, so sehr der Vorderste, dass er der erste ist, der wieder auf die Erhaltung, des neu Errungenen wie des ewig Bleibenden drängt. Wo aber Stockung und Starrheit gekommen ist, [...] da ist er, der immer die Sache des Lebens führt, [...] der Befreier. Philister und strohtrockene Systematiker träumen den unsäglich öden Traum von der Einführung des Patentsozialismus [...]. Wir aber brauchen in Wahrheit die immer wiederkehrende Erneuerung, wir brauchen die Bereitschaft zur Erschütterung, [...] den Wahn und den Rausch und die Tollheit, wir brauchen – wieder und wieder und wieder – die Revolution, wir brauchen den Dichter.249

248

249

G. LANDAUER, Eine Ansprache an die Dichter. In: ders., Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum. Potsdam 1921, S. 356-363, hier S. 358 f.; Hervorhebung M.K. Ebd., S. 363.

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Als „Führer im Chor“ und „Solotenor“ ist der Dichter Exponent einer Gemeinschaft, deren „Wir“ die Anmaßung des „herrlich Isolierte[n]“, im Namen des versöhnten Allgemeinen „seine eigene Weise“ zu singen, nicht als Anmaßung zurückweist, sondern als authentischen Ausdruck erlöster Gemeinschaft bejaht, die letztlich nichts anderes wäre als die Verwirklichung allumfassender, von partikularer Verstocktheit befreiter Subjektivität. Die Dichotomie zwischen ‚affirmativer’ und ‚negativer’ Ästhetik wird dabei ebenso aufgehoben wie der Gegensatz von Avantgarde und Tradition: Eben weil der Dichter der „Vorderste“ ist, dringt er gegenüber der Dynamik sozialer Umstürze wiederum auf „Erhaltung“, und seine „Bereitschaft zur Erschütterung“ kennt keine Opposition zwischen Bejahung und Negation. Während der Dichter bei Mühsam sich zum ‚Kameraden’ des Mobs machen soll, antizipiert der Dichter bei Landauer die wahre Gemeinschaft gerade in seiner Sprödigkeit gegen jegliche Kameraderie: „Der Ernst jener andern reizt ihn zum Lachen, – bei ihrer stürmischen Heiterkeit wird er ganz still und traurig, und er ist imstande, wenn sie dichterisch werden, sie zur groben Wirklichkeit nüchtern zurückzurufen.“250 Künstler des Volkes ist er dadurch, dass er sich nicht mit dem ‚Volk’ gemein macht; sein Enthusiasmus wird wirksam außerhalb des im Amüsement sich betäubenden ‚Menschenknäuels’, als das Lasker-Schüler das zeitgenössische Publikum in Ich räume auf! beschreibt. Konsequent kann Landauer den „Ekel“ des selbstherrlichen Subjekts angesichts der erniedrigten Menschheit, von dem sich der Dichter laut Mühsam in deren Namen zu befreien hätte, als „Triebfeder“ des Anarchisten geltend machen: Bei mir wenigstens ist es vor allem der Ekel über die Menschheit, [...] der Zorn über die Bequemlichkeit der Privilegierten, die es aushalten, ihr Glück auf die Trümmer verunglückter Existenzen und verkümmerter Wesen gebaut zu sehen, und der nicht geringere Zorn auf die Herabgekommenheit der Unterdrückten, die, als sie aus dem Mutterleibe kamen, jenen Erhabenen oft glichen wie fast ein Ei dem andern251.

Während Mühsam Gleichheit nach dem Modell eines ‚solidarischen’ Naturzustandes denkt, der sich aber eben deshalb vom durch den Naturzwang konstituierten blinden „Einverständnis“ der „menschlichen Gesellschaft als einem Massenracket in der Natur“ kaum unterscheiden lässt,252 macht Landauer mit 250 251

252

Ebd., S. 362. G. LANDAUER, Der Anarchismus und die Gebildeten. In: ders., Zeit und Geist. Kulturkritische Schriften 1890-1919, hg. von Rolf Kauffeldt und Michael Matzigkeit. München 1997, S. 47-55, hier S. 51. Vgl. T. W. ADORNO, GS 3: Dialektik der Aufklärung, S. 292. Der Begriff des Rackets, der zentral für die Faschismustheorie der frühen Kritischen Theorie ist, bezeichnet Banden- und Cliquenformationen, die sich durch das Prinzip der ‚Brüderlichkeit’ formieren und die negative Aufhebung des Staates zugunsten unmittelbarer ‚Volksherr-

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dem Theologem der Gottesebenbildlichkeit ernst, indem er Gleichheit nicht als Gattungseigenschaft versteht, sondern als Auszeichnung, die die Menschen dazu beruft, die Gattung zu verwirklichen. Nicht Neid auf die „Privilegierten“, sondern die Sehnsucht, deren „Glück“ von seiner Partikularität zu befreien, ist der Impuls solchen Anarchismus, der die „Herabgekommenheit der Unterdrückten“ – ihre keineswegs nur soziale Deformation – beim Namen nennt, statt sie als Odium des Outcasts zu verklären. Nicht darum geht es, den Pöbel zu animieren, sich seinen Anteil vom Tisch der Herrschenden zu rauben, sondern den „Ausgeschlossenen“ die Möglichkeit zu geben, „sich an die gedeckten Tische zu setzen und mitzugenießen.“253 Keineswegs sollen die Privilegierten zu den „verkümmerte[n] Wesen“ herabgezogen, vielmehr diese zu jenen erhoben werden. Genuss und Selbsterhebung sind das Telos solcher Volkskunst, die nur als autonome populär sein kann. Der Gedanke, „dass man Gott werden, dass man, anstatt die Welt zu erkennen, die Welt selbst werden“ könne, den Landauer in Anlehnung an Meister Eckhart und in deutlicher Analogie zur Feuerbach’schen Religionskritik als „die tiefste Bedeutung dessen“ bezeichnet, „was Jesus selbst gelehrt hat“,254 steht auch im Mittelpunkt seiner Rede „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“, die er 1901 vor den Mitgliedern der Neuen Gemeinschaft gehalten hat und die Lasker-Schüler mit Sicherheit bekannt war.255 Im Modus der Gottwerdung, durch welche der Mensch seine Subjektivität realisiert, voll-

253 254

255

schaft’ betreiben. Zum Fortleben dieses Modells gerade auch in linksanarchistischen Gruppen siehe W. POHRT, Brothers in Crime. Die Menschen im Zeitalter ihrer Überflüssigkeit. Über die Herkunft von Gruppen, Cliquen, Banden, Rackets und Gangs. Berlin 1997. G. LANDAUER, Der Anarchismus und die Gebildeten, S. 54. G. LANDAUER, Durch Absonderung zur Gemeinschaft. In: ders., Zeit und Geist, S. 80-99, hier S. 88 f. Lasker-Schüler hat sich etwa zur gleichen Zeit wie Landauer um 1902 von der Neuen Gemeinschaft distanziert. Unmittelbarer Anlass für ihre Abwendung war wohl eine Beleidigung durch die Künstlerin Anna Costenoble während einer Lesung im Mai 1901. Vgl. S. BAUSCHINGER, Else Lasker-Schüler. Biographie, S. 82 f. Zu den Zwistigkeiten in der Neuen Gemeinschaft siehe G. CEPL-KAUFMANN / R. KAUFFELDT, Berlin-Friedrichshagen, S. 304 ff. – Über Landauers Sozialphilosophie vgl. N. ALTENHOFER, Die zerstörte Überlieferung. Geschichtsphilosophie der Diskontinuität und Traditionsbewusstsein zwischen Anarchismus und konservativer Avantgarde. In: T. KOEBNER (Hg.), Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen Publizistik 1930-1933. Frankfurt/M. 1982, S. 330-347; M. LÖWY, Der romantische Messianismus Gustav Landauers. In: H. DELF / G. MATTENKLOTT (Hgg.), Gustav Landauer im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag. Tübingen 1997, S. 91-104; P. DESPOIX, Ethiken der Entzauberung. Zum Verhältnis von ästhetischer, ethischer und politischer Sphäre am Anfang des 20. Jahrhunderts. Bodenheim 1998, besonders S. 67 ff. Lasker-Schülers Beziehung zu Landauer ist, gerade auch in ihren poetologischen Konsequenzen, bislang nicht untersucht worden.

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zieht sich zugleich seine Weltwerdung, in der er sich seines Solipsismus entäußert als lebendiges Glied einer Gemeinschaft freier Menschen. Nicht der Druck sozialer Marginalität, der den Dichter im Sinne Mühsams zum ‚Lumpen’ macht, soll ihn mit dem Volk verbinden; vielmehr kann „ein einigendes Band zwischen den Menschen“ allein „im Innern der einzeln[en] geboren“ werden.256 Gerade die von Mühsam denunzierte ‚Absonderung’ wird daher für Landauer zur Form freier Gemeinschaftsbildung – einer Gemeinschaftsbildung, deren Telos die Verwirklichung des Ältesten, der in der Menschheitsgeschichte verschütteten Glücksversprechen wäre: [W]enn wir uns ganz gründlich absondern, wenn wir uns als Einzelne in uns selber tiefst hinein versenken, dann finden wir schließlich, im innersten Kern unseres verborgensten Wesens, die urälteste und allgemeinste Gemeinschaft: mit dem Menschengeschlecht und mit dem Weltall. Wer diese beglückende Gemeinschaft in sich selber entdeckt hat, der ist für alle Zeit bereichert und beseligt und endgültig abgerückt von den gemeinen Zufallsgemeinschaften der Mitwelt.257

Mit der durch radikale Individuation verwirklichten „beglückende[n] Gemeinschaft“ löst sich nicht nur der Zwang der „Zufallsgemeinschaften“, die den Einzelnen heteronom halten, sondern auch „die Nichtigkeit des Konkretums, des isolierten Individuums“ auf: „Individuum ist ein Starres und Absolutes als Ausdruck für ein sehr Bewegliches und Verbundenes.“258 Während in der heteronomen Gesellschaft die ‚Starrheit’ der Individuen die Starrheit des durch Zwang zusammengehaltenen Gemeinschaftslebens spiegelt, sind dem individuierten Menschen ‚Beweglichkeit’ und ‚Verbindung’ keine Quelle von Angst, sondern von Glück und Bereicherung. Die „Macht“, die den Einzelnen in der freien Gemeinschaft trägt und das Gegenteil solcher Herrschaft ist, nennt Landauer „Vererbung“: Bei der Vererbung handelt es sich um eine sehr reale und stets gegenwärtige Macht, die ausgeübt wird, um das Weiterleben der Vorfahrenwelt in neuen Formen und Gestalten. [...] Treten wir von außen an die Welt heran, dann sehen und tasten, riechen, hören und beschmecken wir Individuen. Kehren wir aber bei uns selber ein, dann kann es uns schließlich gelingen, über das autonome Individualgefühl hinauszukommen: was wir sind, das sind unsere Vorfahren in uns, die in uns wirksam, tätig, lebendig sind, die mit uns sich an der Außenwelt 256

257 258

G. LANDAUER, Individualismus. In: ders., Auch die Vergangenheit ist Zukunft. Essays zum Anarchismus, hg. von Siegbert Wolf. Frankfurt/M. 1989, S. 138-144, hier S. 144. G. LANDAUER, Durch Absonderung zur Gemeinschaft, S. 82. Ebd., S. 90.

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reiben [...]. Das Wort „Alles, was lebt, stirbt“, ist eine relative, aber triviale und nichtssagende Wahrheit; ihm stellen wir den Satz entgegen: Alles, was lebt, lebt ein für alle Mal.259

Während Mühsam in Anlehnung an Kropotkin das darwinistische Theorem vom Gattungszwang im Sinne umfassender Solidarität der Gattungswesen zu wenden versucht, gibt Landauer, der Kropotkin übersetzt hat und ihn durchaus verehrte, dem Begriff der „Vererbung“ zurück, was ihm durch den Determinismus der Gattung genommen wird: den Gedanken einer sich in der Menschheitsgeschichte realisierenden Individuation, die die Einzelsubjekte nicht als Gattungswesen stempelt und damit als Subjekte annulliert, sondern die Geschichte des Einzelnen und die der Menschheit als ineinander enthalten denkt. Die ‚Erbschaft’ des Individuums – auch im Sinne kultureller Tradition – erfüllt sich demnach weder in einem naturwüchsigen Erbfolgezusammenhang, noch steht sie den Einzelnen als fetischisiertes Material fremd und übermächtig gegenüber. Vielmehr ist sie als Vergangenes in jedem Einzelnen gegenwärtig und lebt in der affektiven Phantasie der Subjekte fort, wie in LaskerSchülers Erinnerungsphantasien verschüttete und verdrängte Elemente des kulturellen Gedächtnisses imaginär revitalisiert werden. Nur indem sie sich nicht in ihrem „Individualgefühl“ einkerkern, sondern das je eigene Dasein als „Weiterleben der Vorfahrenwelt in neuen Formen“ erfahren, realisieren die Individuen sich selbst als Menschen; nur indem sie sich nicht als bloße Kette auftauchender und wieder verschwindender Einzelwesen, sondern als Ergebnis der ‚Tätigkeit’ aller „Vorfahren“ reflektiert, wird die Menschheit ihrer selbst als „Organismus“ gewahr: Die individuellen Leiber, die von Anbeginn an auf der Erde gelebt haben, sind nicht bloß eine Summe von abgesonderten Individuen, sie alle zusammen bilden eine große, durchaus wirkliche Körpergemeinschaft, einen Organismus. [...] Nicht ein abstrakter, toter Begriff ist uns daher die Menschheit; die Menschheit ist das Wirkliche und Lebende, die einzelnen Menschen sind mitsamt ihrer Bewusstheit die auftauchenden, wandelbaren und wieder untergehenden, das heißt von neuem verwandelten Schattenbilder, durch welche die Menschheit sichtbar wird.260

Während Mühsam den Begriff des ‚Organismus’ als Bezeichnung für die Einheit der Menschheit als Gattungsgemeinschaft verwendet, ist der Terminus bei Landauer anti-organizistisch und antikollektivistisch grundiert. Er meint weder die „Summe“ der atomisierten Individuen noch das sie organisch einende ‚Volk’, sondern ihre alles durchtränkende Subjektivität: Weil jeder von ihnen 259 260

Ebd., S. 90 f. Ebd., S. 93.

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auf singuläre Weise die „Menschheit“ inkarniert, sind die Einzelwesen als Individuen nichts als deren „Schattenbilder“; weil die Menschheit aber nicht anders denn durch Einzelwesen „sichtbar“ wird, konkretisiert sie sich nur im Individuum, nicht in der Gattung. Als Metapher für diese alles durchdringende Subjektivität fungiert das „Blut“: Was der Mensch von Hause aus ist, was sein […] Eigengut ist, das ist die große Gemeinschaft der Lebendigen in ihm, das ist sein Geblüt und seine Blutgemeinde. Blut ist dicker als Wasser; die Gemeinschaft, als die das Individuum sich findet, ist mächtiger und edler und urälter als die dünnen Einflüsse von Staat und Gesellschaft her. Unser Allerindividuellstes ist unser Allerallgemeinstes.261

Dies ist die wohl radikalste Absage an Blutmystik und Volkstumskult. Indem er der Ideologie des Blutes als Gattungs- oder Rassemerkmal nicht durch abstrakten Rekurs auf das Individuum als gesellschaftliche Person begegnet, sondern die „Blutgemeinde“ der Menschen in deren „Eigengut“ fundiert sieht, das als „Allerindividuellstes“ der ganzen Menschheit zufallen soll, gewinnt Landauer dem ‚Blut’ als sozialer Metapher die einzig positive Bedeutung ab, die sich denken lässt. In der Rede vom „Geblüt“ ist dieses Ideal eines in jedem Einzelnen auf singuläre Weise zum Ausdruck kommenden menschlichen Adels, auf den Lasker-Schülers ironische Rede von der ‚Blutuntersuchung’ zielt, zusammengefasst. Wenn bei Lasker-Schüler das Blut Teil von Initiations- und Krönungsriten wird, ist dies nicht als Reminiszenz an archaische Blutsbrüderschaften, sondern als Signum der alles durchwirkenden Subjektivität zu verstehen, die den Dichter ebenso als Einzelnen auszeichnet, wie sie ihn mit der Gemeinschaft freier Menschen verbindet. Dass diese Affinität zwischen Landauer und Lasker-Schüler bisher nicht gesehen wurde, verwundert umso mehr, als auch bei Landauer – seinen Agrarkommunismus-Projekten zum Trotz – nicht die Ökonomie, sondern die Poesie privilegierter Modus menschlicher Selbstentäußerung ist. Authentische Kunst ist Landauer zufolge weder ‚autonom’ als lediglich temporäre Suspension praktischer Zwecke noch ‚populär’ im Sinne unmittelbarer Einbettung in praktische Lebenszusammenhänge. Vielmehr stellt sie eine primäre Praxis dar, deren Zwecksetzung darin besteht, als Ausdrucksform enthusiastischer Subjektivität die Sphäre praktischer Zwecke zu überschreiten und eben dadurch zum Modus der Selbstentäußerung und Selbstreflexion der Menschengemeinschaft zu werden. Dieser Anspruch, und nicht ein abstrakt antibürgerlicher Hass auf die sich im autonomen Kunstwerk kristallisierende ästhetische Subjektivität, motiviert Landauers Kritik an der Trennung von Künstler, Werk und Publikum in der bürgerlichen Gesellschaft. Mit Bezug auf 261

Ebd., S. 94 f.

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frühsozialistische Vorstellungen vom Urchristentum und das romantische Konzept einer ‚Neuen Mythologie’262 glaubt er in der Kultur des Mittelalters jenes kollektive Potential auszumachen, das in der bürgerlichen Epoche verschüttet worden sei: In einer Kulturblüte sind die Künste sozial und nicht individuell, sind sie wie um einen Mittelpunkt herum gruppiert und vereint, aber nicht isoliert, sie sind vor allem Repräsentanten der Zeit und des Volkes, während sie in Zeiten der Auflösung und des Übergangs Produkte einzelner, vereinsamter genialer Naturen sind und nach der Zukunft oder wie nach einem geheimen, nicht vorhandenen Volke gravitieren263.

Anders als die meisten zeitgenössischen Propagandisten einer neuen Massenoder Volkskunst unterscheidet Landauer nicht zwischen ‚kollektiver’ und ‚autonomer’ Kunst, sondern zwischen Kunst als ‚sozialem’ und ‚isoliertem’ Phänomen. Autonome Kunst kann demnach durchaus auch ‚sozial’, Massenkunst dagegen verdinglicht und ‚isoliert’ sein. Die „einzelne[n], vereinsamte[n] geniale[n] Naturen“ der bürgerlichen Autonomieästhetik erscheinen so als Exponenten sozialer „Auflösung“, weil sich in ihnen der Anspruch nach Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem gerade nicht verwirklicht. Vielmehr wird das Versprechen ästhetischer Versöhnung in ihnen gleichsam nach innen gestaut, ‚isoliert’ und bleibt ohne Aussicht, als lebendiger Teil der Gesellschaft um einen „Mittelpunkt“ organisiert zu sein, der sie der privativen Innerlichkeit entrückte und ihre ‚Stellvertreterschaft’, wie Lenk sie beschreibt, aufheben würde. Deshalb „gravitieren“ ihre Werke im besten Falle „nach einem geheimen, nicht vorhandenen Volke“, das sie weder vorfinden noch schaffen können; gerade ihrer Abgeschlossenheit ist eine kollektive Adresse eingeschrieben, die zu verwirklichen wäre. Wenn Landauer den Begriff „individuell“ polemisch verwendet, geschieht dies im Namen der Individuen selbst, deren bloße Individualität, wie sie im Genieideal verklärt wird, im gleichen Moment verrät, was sie verspricht:

262

263

Über die frühsozialistischen Impulse des romantischen Konzepts der Neuen Mythologie siehe M. FRANK, Die Dichtung als „Neue Mythologie“. In: K. H. BOHRER (Hg.), Mythos und Moderne. Bild und Begriff einer Rekonstruktion. Frankfurt/M. 1983, S. 15-40; ders., Der kommende Gott, besonders 217 ff. Franks Romantik-Studien lassen sich insgesamt als ein Versuch lesen, die staatskritisch-materialistische Dimension romantischer Philosophie gegen völkische Vereinnahmungen geltend zu machen. – Zu Landauers Rezeption frühromantischer und mystischer Denkfiguren vgl. R. KAUFFELDT, Die Idee eines ‚Neuen Bundes’, sowie ders., Zur jüdischen Tradition. G. LANDAUER, Die Kultur des Mittelalters. In: ders., Zeit und Geist, S. 143-159, hier S. 154 f.

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Den Zeiten der Auflösung […] blieb es vorbehalten, so etwas wie isolierte und atomisierte Menscheneinzelne zu schaffen: Ausgestoßene, die nicht wissen, wohin sie gehören. Wer in der christlichen Zeit zum Leben erwachte, tat es nicht nur inmitten der vagen Allgemeinheit oder der kleinlichen Gemeinschaft der Familie; er war Mitglied der vielen Gruppierungen und Korporationen [...]. Das Christentum hörte auf, Beziehungen zum Mitleben der Menschen zu haben; es wurde Lehre, Glaube, weil es unglaublich geworden war, und man klammerte sich an den Buchstaben, weil die Tradition nur gelten kann, wo das Geistige Gemeingeist und Lebensenergie ist. Es kamen die genialen Einzelnen, die fremd und starr, mit zusammengerafftem Mantel, durch ihr Jahrhundert gingen; die aber trotzdem keine harmonischen, selbstsicheren, allseitigen Personen waren [...]. Es kamen die Zeiten des Individualismus in dem zweierlei Sinn: der großen Individuen und der atomisierten und preisgegebenen Massen.264

Nicht als Symbol glaubensgestützter Autorität verklärt Landauer das mittelalterliche Christentum, sondern als Gesellschaftsform, welche den Einzelnen als lebendiges Glied einer Vielzahl von „Korporationen“ gekannt habe, die weder durch staatliche Zentralgewalt noch durch die Zwangsgemeinschaft der Familie zusammengehalten worden seien, sondern durch „Gemeingeist“ und „Lebensenergie“. Entscheidend ist weniger Landauers Idealisierung des Mittelalters als sein Versuch, die neuzeitliche Geburt des „genialen Einzelnen“ – des Genies im Sinne bürgerlicher Ästhetik – als Kehrseite eines sozialen Zerfallsprozesses zu verstehen. Weil die Einzelnen, vom dogmatisch erstarrten ‚Gemeingeist’ losgerissen und isoliert, „keine harmonischen, selbstsicheren, allseitigen Personen“ sein können, werden sie „fremd und starr“, versteinern gleichsam in der Pose des Genies, das den „preisgegebenen Massen“ in ohnmächtiger Überlegenheit gegenübersteht. Ihre Werke erscheinen „in sich abgeschlossen als ein Produkt des Urhebers ohne Beziehung auf Empfangende“.265 Damit formuliert Landauer beinahe wortgenau jene Gerinnung des poetischen Werks zum ‚geistigen Eigentum’, gegen die sich Lasker-Schülers Poetik wendet. Wie Landauer geht es ihr, im Widerspruch zum abstrakt antibürgerlichen Kunstbegriff weiter Teile der Bohème, um die Wiedergewinnung einer populären Kunst, die den Bezug zum Subjekt nicht zugunsten des ‚Volkes’ durchschneidet, sondern ihn gerade in der Intention auf Popularität zu verwirklichen sucht. Wenn Landauer in seinem Mittelalter-Essay von einem „einheitlichen Geist“ spricht, der alle sozialen Gebilde durchwirkt, jedoch „nicht in diesen Gebilden wohnt“ und sie auch nicht wie „ein äußeres Band der Gewalt“ zu-

264 265

Ebd., S. 158 f. Ebd., S. 156.

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sammenhält,266 zielt dies nicht auf einen die Individuen umschwebenden Volksgeist, sondern auf jene sie als Einzelne verbindende, affektive Subjektivität, die mit der Metapher des Blutes angespielt ist und die er in den 1907 publizierten ‚sozialistischen Thesen’ mit der Bezeichnung „Wahn“ versieht: Wahn oder Illusion ist nur ein anderer Name für Geist [...]. Es gibt lebendigen und notwendigen Wahn, und es gibt hergestellten und auferlegten Wahn. [...] Der echte Wahn trägt den Geist in alles hinein, was er berührt; er hat den alten Städten, den Häusern, den toten Dingen des Gebrauches Form und Schönheit und Leben gegeben; der Staat aber hat keinen Geist, hat nie einem Dinge Schönheit geschenkt, hat alles kalt und tot gelassen oder gemacht.267

Der ‚auferlegte Wahn’ der Staatsgläubigkeit, der alle menschlichen Zwecke „an die Örtlichkeit, das Territorium, das Raumgebiet anklebt“,268 wird weder im Namen naturwüchsiger Volksverbände bekämpft, noch soll er durch sozialistische Rationalisierung einfach abgeschafft werden. Vielmehr können die „Zwecke“, die „in den Staat eingesperrt sind“, erst dann „frei“ werden, „wenn sie vom Wahn echt und ganz durchtränkt, durchgeistigt und durchblutet sind. [...] Selbstzweck sein sollte nur der echte und edle Wahn.“269 Im Gegensatz zum Gros anarchistischer Theorien von Bakunin bis Debray ist dies keine Verherrlichung kollektiven Amoklaufs, sondern der Versuch, die freie Gesellschaft als Realisierung der im „Wahn“ und der „Illusion“ – also der Sphäre von Utopie und ästhetischem Schein – artikulierten, aber auch darin eingeschlossenen Sehnsucht nach zweckfreier Selbstentäußerung und Affektivität zu denken, die noch den „Dingen des Gebrauches“ ganz unsozialistisch „Schönheit“ und „Leben“ verliehe. Weil er einen Begriff von Sozialismus hat, der nicht auf die Totalisierung des Zwecks, sondern auf die Verwandlung noch der Sphäre menschlicher Zwecke in Zweckfreiheit und Glück zielt, sind bei Landauer nicht die Helden der Arbeit (oder, wie bei Mühsam, der Arbeitslosigkeit) Exponenten der zu verwirklichenden Freiheit, sondern der Dichter, der „Luxus schafft, weil sein Leben luxuriert.“270 Gerade in diesem Versuch, für die Sache der Deklassierten nicht durch unmittelbare Solidarisierung, sondern durch Beharren auf der inkommensurablen Subjektivität der Einzelnen einzustehen, die jede soziale Rolle überschreitet, konvergiert Landauers Dichtungsverständnis mit Lasker-Schülers Poetik. Für beide gleichermaßen ent266 267

268 269 270

Ebd., S. 151. G. LANDAUER, Volk und Land. Dreißig sozialistische Thesen. In: ders., Beginnen. Aufsätze über Sozialismus. Wetzlar 1977 [Nachdruck der Ausgabe Köln 1924], S. 320, hier S. 16 f. Ebd., S. 18. Ebd., S. 18 f. Ebd., S. 6.

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scheidend ist, dass der Dichter, der im „Wahn“ das „Leben“ erfährt, nicht in diesem aufgeht, sondern sich wiederum von ihm absondert. Indem er den im Enthusiasmus zum Ausdruck kommenden Wunsch nach universaler Versöhnung nicht nur leibhaft erfährt, sondern ihm Form verleiht, negiert er die sozialen Kommunikationsformen: Eine Gesellschaft ist beisammen [...]. Man redet, man berät sich, man spricht sich aus: über einen kommt Begeisterung, er redet feurig, innig, es kommen die Bilder, er ringt, er gestaltet, er ballt Formen zusammen, wie in Zuckungen oder Krämpfen kommen die Rhythmen. [...] Das ist nicht Dichten, es ist anderes, es ist jedenfalls Leben. Oder einer erlebt den Traum, die Verzücktheit, das stark Wilde oder zart und sanft Liebliche seiner Seele und der Welt für sich allein, und ruft oder tanzt oder singt oder schaut Gesichte und bildet sie in der Sprache: auch das ist nicht Dichten, es ist anderes, – ist jedenfalls Leben. Was ich hier zu beschreiben versuchte, ist dicere, sagen, im Leben sprechen, im Sprechen weiterleben, ohne Unterbrechung des Flusses [...]. Dichten ist – dictare, das Gelebte, wie es gerade zum Gesagten geriet, festhalten und diktieren, mit dem Sagen aus dem Fortgang des Lebens ausscheiden, die Kristallisation, die Erhebung zum Werk.271

Durch seine enthusiastische „Begeisterung“ wird der Dichter der nur räsonierenden „Gesellschaft“ fremd, die sein Sprechen, nach Maßgabe des Ideals kommunikativer Rationalität, als Unterbrechung, wenn nicht als Zeichen von Irrsinn deuten muss. Die Versöhnungserfahrung, die er im Enthusiasmus macht, ist also paradoxerweise zugleich eine Erfahrung radikaler Einsamkeit. Ganz in diesem Sinn hat Landauers und Lasker-Schülers Freund Martin Buber in seiner 1909 publizierten Sammlung mystischer Bekenntnisliteratur, die von dem sozialen Versöhnungspathos seiner späteren Schriften noch frei ist, die Ekstase bestimmt als „Enthusiasmos: Erfülltsein vom Gotte. Essen des Gottes, Einatmen des göttlichen Feuerhauchs“,272 zugleich aber als Erfahrung „jenseits des gemeinsamen Erlebnisses“: Der Ekstatiker hat „die Anderen mit in sich, in seiner Einheit [...]. Die Sprache aber ist eine Funktion der Gemeinschaft und sie kann nichts als Gemeinsamkeit sagen.“273 Das Privileg des enthusiastisch Ergriffenen, seine Beseelung vom „göttlichen Feuerhauch“, ist somit auch seine größte Schwäche, weil sie ihn in Augen der Gesellschaft, die 271 272

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G. LANDAUER, Eine Ansprache an die Dichter, S. 156 f.; Hervorhebung M.K. M. BUBER, Ekstase und Bekenntnis. In: Ekstatische Konfessionen. Gesammelt von Martin Buber. Jena 1909, S. XI-XXVI, hier S. XV. Ebd., S. XIX. – H. SCHLAFFER, Poesie und Wissen, der die Dialektik von ‚enthusiastischer’ und diskursiver Kommunikation ausführlich entfaltet, unterschlägt merkwürdigerweise gänzlich den enthusiastischen Erfahrungsgehalt der Tradition jüdischer Mystik, an deren säkularisierte Formen Buber und Landauer ebenso wie Lasker-Schüler anknüpfen.

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ohne ein gewisses Quantum Mittelmäßigkeit nicht fortbestehen könnte, zum ‚Besessenen’ macht. Das sich in enthusiastischer Erfahrung entäußernde Subjekt ist aus Sicht der anderen, die es doch „in sich“ trägt, nichts als ein von Zuckungen geschütteltes Nervenbündel. Deshalb muss es, wie Landauer sagt, die „Unterbrechung des Flusses“ vollziehen und das „Gelebte“ im Akt poetischer Produktion „aus dem Fortgang des Lebens ausscheiden“, um es als „Werk“ von der nur inneren Erfahrung abzulösen und zur Objektiviation des enthusiastischen Freiheitsimpulses zu machen. Erst in dieser „Kristallisation“ enthusiastischer Erfahrung zum „Werk“ wird das Subjekt seiner selbst als Teil des Lebendigen inne. Nichts anderes ist mit Lasker-Schülers Allegorie von der aufblühenden Schrift gemeint, die vom Subjekt erzeugt wird, ihm aber zugleich buchstäblich entwächst. Auf nichts anderes auch zielt Elisabeth Lenks Beschreibung poetischer Schöpfung als Produkt nicht etwa von Irrationalität, sondern von Mimesis im nicht-aristotelischen Sinn: „Die radikale Moderne […] hat mit der repräsentativen Funktion, dem Abbilden der Sozialfassade, gebrochen, mit dem Abbilden desjenigen, was ohnehin wahrgenommen wird, was ohnehin von den Menschen füreinander inszeniert wird. Was sie mitteilt, ist etwas Anderes, Paradoxes. Sie ist Mitteilung dessen, was die Menschen, um ihr Gesicht zu wahren, voreinander verbergen. Sie ist Mitteilung des Nichtmitteilbaren, des von aller Mitteilung Abgeschnittenen. [...]. Und so ist auch heute noch der Adressat von Literatur kein ‚Partner’ im Sinne der definierbaren zwischenmenschlichen Kommunikation. Literatur ist Mitteilung ohne einen bestimmten Adressaten, denn das bestimmte, auf Reizworte und Befehle dressierte Individuum löst sich in ihr gerade auf.“274 Dies ist die bündige Widerlegung jeden Versuchs, Literatur im Sinne von Habermas als integrales Element zwischenmenschlicher Kommunikation im Rahmen eines bloß flexibilisierten Sender-Empfänger-Modells aufzufassen, das die Subjekte auf Punkte herunterbringt; aber auch der strikte Einspruch gegen die postmoderne Suggestion, wonach das „dressierte Individuum“ sich nur auflösen könne, indem das Subjekt überhaupt sich auflöst. Im Gegenteil findet emphatische Subjektivität zu sich selbst, wenn die Sphäre des ‚Mitteilbaren’, der kommunikativen Dressur, transzendiert wird im poetischen Wort. Ein Publikum, das das verstanden hätte, wäre eine Gemeinschaft im Geiste Lasker-Schülers. Dem literatursoziologischen Blick, der die meisten Untersuchungen über literarische Gruppenbildungsprozesse dominiert, muss ein solcher Begriff von Gemeinschaft, der institutionalisierte Prozeduren ‚literarischer Kommunikation’ im Raptus des poetischen Worts transzendiert, freilich entgehen.275 Der 274 275

E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 26 f. Vgl. z. B. K. GÜNTHER, Literarische Gruppenbildung im Berliner Naturalismus. Bonn 1972; J. HERMAND, Die deutschen Dichterbünde. Von den Meistersingern bis zum PEN-Club. Köln, Weimar, Wien 1998, S. 144 ff.; unter dem Aspekt der ‚Städtekonkurrenz’ P. SPRENGEL / G. STREIM, Berliner und Wiener Moderne, S. 301 ff.; C.

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abstrakt soziologische Zugriff, der allen Akteuren der kulturellen Sphäre noch in ihren Versuchen der Abweichung und des Widerspruchs ihren Platz in der sich durch sie hindurch reproduzierenden Sozialstruktur zuweist, bleibt bei aller Präzision seiner Kategorien begriffslos und kunstfremd. Noch LaskerSchülers Anstrengung, sich in Ich räume auf! ebenso unerbittlich wie sarkastisch gegen die Vereinnahmung durch das universale Prinzip ästhetischer Stellvertretung zu wehren und den Bann des ‚Feldes’, in dem man sie schon damals positionieren wollte, zu brechen, muss dem Feldsoziologen als pure Distinktionsgeste erscheinen.276 Auf diese Weise perpetuiert der Blick auf die Kunst als Institution den Identitätszwang, gegen den jene aufbegehrt: „Bleibt man bei der Kunst als gesellschaftlicher Institution stehen, so ist die Definition einfach: Kunst ist dasjenige, was in die Institution aufgenommen, was auf dem entsprechenden Markt als solche verkauft, angepriesen und gekauft wird. [...] Die Kunst als gesellschaftliche Institution setzt den Menschen mit etwas in Kontakt, was er verloren hat, sie ist aber zugleich auch die institutionalisierte Trennung des Menschen von seiner eigenen Subjektivität.“277 LaskerSchüler und Landauer waren sich einig darin, die Neue Gemeinschaft nicht einfach als Institution im kulturellen Feld zu betrachten, sondern als Versuch ernstzunehmen, die „institutionalisierte Trennung des Menschen von seiner eigenen Subjektivität“ aufzuheben. Wie isoliert sie damals schon damit waren, zeigt eine unpolemische, aber korrekte Beschreibung der kulturellen Aktivitä-

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MAGERSKI, Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie. Tübingen 2004. – Als Versuche, Lasker-Schüler im ‚Feld’ der Moderne zu verorten, lassen sich die Arbeiten von M. HALLENSLEBEN, Else Lasker-Schüler, und S. KIRSCHNICK, Tausend und ein Zeichen, lesen, die viel zeitgeschichtliches Material versammeln, Lasker-Schülers Werk jedoch vornehmlich als Derivat seiner Entstehungsbedingungen in den Blick bekommen. Eher als Peter Bürgers Studien zur Institutionalisierung der ästhetischen Moderne trifft dieser Einwand feld- und systemtheoretische Ansätze, die sich in jüngster Zeit auch der ‚Selbstvermarktung’ von Autoren wie Kraus oder George widmen, indem sie den leerlaufenden Kategorienapparat eines kulturindustriell präformierten Literaturmarktes, gegen dessen Übermacht sich diese Autoren gerade wehrten, blind auf sie zurückprojizieren. Entsprechend verkehrt Markus Hallensleben in seiner von positionslosem Methodenpluralismus geprägten Dissertation Lasker-Schülers Ästhetik der Selbstherrlichkeit zur kalkulierten PR-Strategie, mit der sich die Dichterin als geschickte Kulturarbeiterin ihren eigenen Markt geschaffen habe: „Jeder Text soll für sich schon ein Ereignis darstellen, soll Event sein. Die Kunst selbst soll sich die Realität schaffen, innerhalb der sich ihre Rezeption dann bewegen kann“ (M. HALLENSLEBEN, Else LaskerSchüler, S. 305). – Kritik an solchen Vereinnahmungen übt P. V. ZIMA, Kritik der Literatursoziologie, S. 47 ff. Inwieweit Zimas Kritik auch auf Bourdieu zutrifft, ist noch nicht ausgemacht. Vgl. J. JURZ, Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995. E- LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 322.

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ten der Hart-Brüder, die als Gründungsfiguren der Neuen Gemeinschaft gelten können: „Die Harts übertrugen ihr Harmoniestreben [...] auf ihre menschlichen Kontakte. Sie hatten kaum individualistische Neigungen, sondern waren auch in den späteren Jahren immer zu Gruppierungen, gleich unter welchem Motto, bereit. [...] [Sie sahen] ihre Aufgabe in der Förderung der Pläne von Gesinnungsgenossen, im Knüpfen von Beziehungen [...]. Daher umgab sie so ein wenig die Atmosphäre von Mäzenen. [...] Sie haben ihre Beziehungen jederzeit für jeden halbwegs begabten jungen Dichter spielen lassen und immer mit Geld und Unterkunft ausgeholfen.“278 Was hier präzise skizziert wird, ist die Geburt des Kulturmanagements aus dem Geist der Subkultur. Kunst verwandelt sich, wenn jeder seine ‚individualistischen Neigungen’ angesichts des prekären Status quo hintan gestellt hat, in den identitären Kitt einer Clique von „Gesinnungsgenossen“, deren Gunstbeweise nach dem Prinzip des Mäzenatentums funktionieren, das mit dem bürgerlichen Literaturmarkt doch überholt zu sein schien.279 Unter dem Druck der Lebensnot, den der Markt, der sein Versprechen der Emanzipation des Künstlers als originärer Schöpfer nicht eingelöst hat, auf die ins Abseits Gedrängten ausübt, regredieren diese auf den Stand einer Klientelwirtschaft, die nicht die Aufhebung, sondern den Ausverkauf bürgerlicher Subjektivität betreibt. Der Kreis um die Harts ist organisiert als „lockerer privater Freundeskreis“, nicht als „Verein mit Statuten“.280 Gerade weil es keine kodifizierten Regeln gibt, auf die der Einzelne sich berufen kann, und die Gemeinschaft der Freunde an die Stelle der auf dem Markt agierenden, auf sich zurückgeworfenen Individuen tritt, schlägt „das Gefühl des Bedrohtseins von außen“, die Furcht vor Deklassierung, in ein „echte[s] Zusammengehörigkeitsgefühl“ um, das oft „lange erhalten“ bleibt.281 Der Zwang der Lebensnot mutiert, ganz wie Mühsam es in seinem Ideal des Dichters als ‚Kamerad’ einfordert, zum wärmenden Einheitsgefühl der Marginalisierten, die ihr privatives Außenseitertum gegenüber der Kälte bürgerlicher Realität trotzig als authentische Lebensform behaupten. Der kulturpolitische Erfolg der Hart-Brüder, in deren Kreis zunehmend gigantomanische Genie- und Volkstumsideologien grassierten, mit Sympathiebekundungen für Bismarck gewetteifert und der Dichter als eine Art Reichsschriftumsleiter für Volksliteratur imaginiert wurde,282 widerspricht dem nicht. Im Ge278 279

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K. GÜNTHER, Literarische Gruppenbildung, S. 49; Hervorhebung M.K. Als „Kulturmanager und Schwärmer“ werden die Harts treffend charakterisiert bei G. CEPL-KAUFMANN / R. KAUFFELDT, Berlin-Friedrichshagen, S. 109. Eine Analyse der Verflechtung von Ökonomie und Poetologie im deutschen Naturalismus findet sich bei J. KOLKENBROCK-NETZ, Fabrikation – Experiment – Schöpfung. Strategien ästhetischer Legitimation im Naturalismus. Heidelberg 1981. K. GÜNTHER, Literarische Gruppenbildung, S. 28. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33 ff.

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genteil ist er Hinweis darauf, dass nicht Landauers und Lasker-Schülers Ideal einer Gemeinschaft individuierter, frei sich entäußernder Subjekte, sondern das aus der subkulturellen Notgemeinschaft entstandene Modell der Freundschaftsbande – die Verfallsform dessen, was Mühsam Kameradschaft nennt – auf dem ‚literarischen Feld’ reüssieren konnte. Gerade in ihrer Ablehnung des bürgerlichen Literaturmarkts perpetuieren die als Freundschaftsbande organisierten kulturellen Bohème-Zirkel den Zwang, in dessen Bann der Markt selbst steht. Die Subkultur erweist sich somit als Avantgarde kommender Herrschaft: „Richtig ist zwar, dass die Gruppen, Cliquen und Banden, revolutionär oder nicht, kontrastreicher abbilden, was das Wesen des Zusammenhalts in der bürgerlichen Gesellschaft ist. Aber das spricht nicht für jene Gruppen, sondern es spricht gegen die bestehende Gesellschaft. In ihr ist das Regime der Zwangsverbände nur verschleiert [...], abgeschafft ist es nicht. Die alten Kasten und Stammesgebilde leben hinter der Fassade fort“.283 „Freundschaft“ verliert dabei den Charakter freier Assoziation und tendiert dazu, asozial zu werden, die „Ordnung des Gemeinwesens“ zu zerstören, ohne dessen Heteronomie aufzuheben.284 Die Gefühls- und Innigkeitsrhetorik, mit der sich die Neue Gemeinschaft als egalitärer Bund von Freunden präsentierte – Julius Hart, erinnert sich Mühsam, schwelgte „ewig in seligster Seid-umschlungenStimmung, [...] küsste Männer und Frauen, duzte jeden, der sich mit ihm freute und verbat sich das Sie“285 – erweist sich so als Kehrseite des emotionalen Zwangs, der den Verband im Namen ökonomischer und künstlerischer Selbsterhaltung temporär zusammenhielt, bevor er schon 1904 wieder in jene Elemente auseinanderbrach, die durch die monistische Erlösungsformel der Harts angeblich versöhnt werden sollten. Gegen diese Depravation von Freundschaft zur gewinnorientierten Notgemeinschaft wendet sich Lasker-Schülers Ideal einer nicht-hierarchischen Gemeinschaft, in der sich die Selbstherrlichkeit der Individuen realisiert. Vor diesem Hintergrund sind das omnipräsente Motiv des Gabentauschs, die Krönungs- und Auszeichnungsriten sowie die Namengebungen zu verstehen, die den Ausgezeichneten nicht nur poetisieren, indem sie ihn zum Träger einer 283

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W. POHRT, Brothers in Crime, S. 29 f. – Als Beispiel für solche „Banden“, die entstehen, „wenn den Menschen die Gesellschaft, der sie zugerechnet werden, fremd geworden oder fremd geblieben ist“ (S. 70), bezieht sich Pohrt mehrfach auf die linken Subkulturen der sechziger Jahre, aber auch auf die Jugend- und Lebensreformbewegung mit ihrem Hang zu „Verzicht“ und „Isolation in der Natur“ (S. 155). Ebd., S. 64. E. MÜHSAM, Unpolitische Erinnerungen. Mit einem Nachwort von Hugo van den Berg. Berlin 2003, S. 32. – Für dieses Leben im Geiste der „Selbstversorgung“ – erst sollten sich die Frauen beim Küchendienst abwechseln, später stellte man Dienstboten ein – wurde ganz professionell mit Reklamebroschüren geworben. Vgl. G. CEPLKAUFMANN / R. KAUFFELDT, Berlin-Friedrichshagen, S. 318f., und S. BAUSCHINGER, Else Lasker-Schüler. Biographie, S. 74 ff.

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seine biographische Identität überschreitenden Rolle machen, sondern ihm eben dadurch emphatische Subjektivität zuerkennen. Insofern fallen poetischer Name und Krönungstitel in eins. Beide unterminieren nicht einfach die Identitätslogik des bürgerlichen Namens, sondern stiften jene ‚Herrlichkeit’ des Subjekts, von der Landauer spricht und deren Karikatur die bürgerliche Identität ist. Deshalb markieren sie stets affektive Nähe und Distanz zugleich: Wenn Kraus als ‚Herzog’, Benn als ‚Barbar’ und Hille als ‚Petrus’ tituliert wird, ist die Namengebung als Freundschaftsbeweis immer auch eine Geste radikaler Entrückung – mit einem Herzog ist man nicht per Du, ein Barbar ist ein Fremder, Petrus ein Heiliger. Freundschaft in diesem Sinn beruht auf Anerkennung der Inkommensurabilität des anderen, durch die allein Gemeinschaft entstehen kann. Ihre Voraussetzung ist die Selbsterhebung des poetischen Subjekts zum König, durch die die Gründung des poetischen Reiches als eines Volks von Ebenbürtigen möglich wird. Der Widerspruch zwischen den genieästhetischen und antibürgerlichen Theoremen der Kritik am Literaturmarkt in Ich räume auf! erweist sich somit als notwendige Konsequenz von Lasker-Schülers Begriffs ästhetischer Subjektivität. Gerade indem sie auf die Transformation von Autorschaft zum Eigentumsverhältnis nicht mit dem Aufruf zur Zerschlagung des Originalitätsbegriffs im Namen einer bloß noch ‚sozialen’ Massen- oder Volkskunst reagiert, sondern dessen Verwirklichung im Modus poetischer Phantasie einfordert, trifft sie den Kern der Aporie bürgerlicher Autorschaft. Wie die Verwandlung von Kunst zur Ware die Entstehung des Begriffs ästhetischer Subjektivität erst möglich gemacht hat, indem sie Kunst nicht mehr als Dienst, sondern als autonome Schöpfung zu bestimmen erlaubte,286 kann ihre warenförmige Erstarrung nur im Beharren auf dem Begriff ihrer Autonomie, nicht durch dessen Liquidation aufgebrochen werden. Deshalb führt jede Interpretation, die Lasker-Schülers Poetik als Versuch der bloßen Unterminierung bürgerlicher Werk- und Subjektkonzeptionen auffasst, auf einen Irrweg:287 Nicht um die dekonstruktivistische Verabschiedung des Subjekts geht es, sondern um die Befreiung ästhetischer Subjektivität von ihrem bürgerlichen Zerrbild. Wie fremd ein solch heterodoxes Konzept von ‚Volkskunst’ gerade jenen ist, die sich den Bohème-Zirkeln politisch nahe glauben, zeigt die Ablehnung, mit der eine sich ‚links’ dünkende Forschung 286

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Damit korrespondiert die Ausdifferenzierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die auf einem demokratischen ‚Markt der Meinungen’ durch Institutionalisierung des ästhetischen Geschmackurteils erst ein adäquates Publikum für die solcherart autonom gewordene Kunst etabliert. Vgl. J. HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 90 ff. Während M. FESSMANN, Spielfiguren, die in Rekurs auf Foucault und Philippe Lejeune die „Verweigerung von Identität“ als Kern von Lasker-Schülers Poetik ausmacht (S. 31), die Intention auf poetische Subjektivität zumindest avisiert, wird das Moment der Identitätskritik in jüngeren poststrukturalistischen Lektüren abstrakt negativ gefasst und kaum noch auf konkrete Erscheinungsformen bürgerlicher Subjektivität bezogen.

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noch immer auf Landauers Kunstideal reagiert, dem man „Bildungsfetischismus“ und „Kultivierung des Individuums“ vorwirft;288 Landauer, so heißt es, habe die „Dissoziation zwischen Arbeiteranarchismus und intellektuellbohèmehaftem Anarchismus“ betrieben.289 Die Wirkungsgeschichte seines Gemeinschaftsbegriffs, der in der Tat „Dissoziation“ als Bedingung kollektiver Emanzipation auffasst, wäre erst zu schreiben. Gespeist aus Elementen der jüdischen Mystik und des Messianismus, hat sein Ideal einer vom Vereinzelten, Partikularen antizipierten kommenden Gemeinschaft – vermittelt über Blochs 1918 erschienenen Geist der Utopie, der durch Landauers Revolutionsbegriff geprägt ist290 – wohl nicht zuletzt den Expressionismus beeinflusst, den Bloch als authentische ‚Volkskunst’ begriffen wissen wollte, wobei er sich kaum zufällig nicht nur auf Franz Marc bezog, der zum ständigen Bewohner von Lasker-Schülers poetischem Reich werden konnte, sondern auch auf Kandinsky, dessen 1911/12 in Deutsch publizierte Schrift Über das Geistige in der Kunst mit ihren Vergleichen von Sprache, Farbe und Klang sich fast als Prätext der Farb- und Klangmetaphorik von Lasker-Schülers Dichtung lesen ließe.291 Die Kluft, die in der Neuen Gemeinschaft zwischen den Expo288

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So W. FÄHNDERS, Anarchismus und Literatur, S. 31 f. Scherer wirft Landauer vor, er depraviere „die gesamtgesellschaftliche Perspektive zu einer Angelegenheit des Gefühls“ (H. SCHERER, Bürgerlich-oppositionelle Literaten, S. 73). W. FÄHNDERS, Anarchismus und Literatur, S. 22. – Zur Kritik an Landauers „Literatenegoismus“ durch den ‚Arbeiterflügel’ der Bohème siehe G. CEPL-KAUFMANN / R. KAUFFELDT, Berlin-Friedrichshagen, S. 224 ff., hier S. 225. Zur Rezeption von Blochs Geist der Utopie durch die Expressionisten vgl. H. O. HORCH, Expressionismus und Judentum. Zu einer Debatte in Martin Bubers Zeitschrift „Der Jude“. In: T. ANZ / M. STARK (Hgg.), Die Modernität des Expressionismus. Stuttgart, Weimar 1994, S. 120-141; außerdem M. LANDMANN, Jüdische Miniaturen. Bd. 1: Messianische Metaphysik. Bonn 1982, S. 161 ff., sowie W. VOSSKAMP, „Grundrisse einer besseren Welt“. Messianismus und Geschichte der Utopie bei Ernst Bloch. In: S. MOSÈS / A. SCHÖNE (Hgg.), Juden in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 1986, S. 316-329. – Die Bedeutung des Messianismus für den Geist der Utopie ist früh erkannt worden von der mit Bloch wie Landauer befreundeten M. SUSMAN, Ernst Bloch: Geist der Utopie. Rezension. In: dies., „Das Nah- und Fernsein des Fremden“. Essays und Briefe. Frankfurt/M. 1992, 22-30. Über Landauers Wirkung auf Bloch siehe A. MÜNSTER, Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst Bloch. Frankfurt/M. 1982, S. 122 ff. So heißt es bei Kandinsky über die Logik der Farbkomposition wörtlich: „Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten.“ (W. KANDINSKY, Über das Geistige in der Kunst. Bern 1973, S. 64; Hervorhebung M.K.). In seiner Farbenlehre bezeichnet Kandinsky überdies das „Blau“ als „die typisch himmlische Farbe“, die einen Beiklang von „Trauer“ habe (S. 93). – Marc wie Kandinsky werden im Geist der Utopie und in Blochs Essays zum Expressionismus mehrfach erwähnt. Die Affinitäten der Bildlichkeit im Geist der Utopie zu Lasker-Schülers Œuvre – die Musik- und Klangmotivik, das ‚Blau’ als utopische Farbe, das Orientmotiv –, auf die ich hier nicht näher eingehen kann, dürften sich aus dieser gemeinsamen Nä-

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nenten dieses messianisch geprägten Gemeinschaftsideals und dem völkisch grundierten Ideal der ‚Kameradschaftler’ bestand,292 muss im Auge behalten werden, um Lasker-Schülers Konzept populärer Kunst gegen vorgebliche Bündnisgenossen abzugrenzen. Erst so lässt sich die Bedeutung ihrer Künstlerfreundschaft mit Peter Hille ermessen, deren zweifellose Innigkeit nicht dazu legitimiert, auch eine poetologische Nähe zu unterstellen. Vielmehr gehört Hilles Werk seinem immanenten Formgehalt nach ganz in das Umfeld der ‚Kameradschaftler’ mit ihrem völkischen Begriff von Volkspoesie, ihrem virilen Heroismus und ihrem Ideal ästhetischer Selbstimmunisierung. Anhand der Kindheitsmotivik, die zu Recht immer wieder als größte Gemeinsamkeit im Werk beider Autoren benannt worden ist, lässt sich zeigen, dass LaskerSchüler die Ästhetik des Schenkens und der Selbstentäußerung, die im Bohème-Roman Mein Herz ihren prägnantesten Ausdruck finden sollte, gerade im Widerspruch zu Hilles Poetik ‚heroischer’ Kindheit entwickelt, deren Leitmetapher nicht das Blut, sondern der Stein ist.

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he von Lasker-Schüler und Bloch zur Malerei Marcs und Kandinskys erklären. Dass Bloch sich je intensiv mit Lasker-Schüler befasst hätte, ist nicht nachweisbar. Wie an Mühsam deutlich wird, ist diese Unterscheidung nicht identisch mit der zwischen ‚jüdischen’ und ‚nicht-jüdischen’ Künstlern. Anders als für Landauer oder Buber war für Mühsam sein Judentum sekundär gegenüber seiner Identifikation mit dem sozialistischen Anarchismus.

II. Der ‚Fels’ als ‚Spielbibel’. Die Topographie der Kindheit bei Peter Hille und Else Lasker-Schüler

Dass Else Lasker-Schülers Mentor, der Bohemien und Vagabund Peter Hille, nicht nur ein Freund der Kinder, sondern selbst sein Leben lang ‚Kind’ gewesen sei, gehört zu den Stereotypen der Forschung. Nach dem Charakter dieser Kindheits-Idolatrie wird meist ebenso wenig gefragt wie nach ihrem sozialgeschichtlichen und poetologischen Gehalt.1 Betrachtet man die Ausprägungen des Motivs genauer, gelangt man zu der Vermutung, dass diese Ignoranz auf ein Tabu der Hille-Forschung verweist. Das von Erich Mühsam gerühmte „Kindergemüt“2 des Dichters, das mit Mühsams Verständnis von ‚Kameradschaftlichkeit’ nicht zufällig in vielen Aspekten vereinbar ist, erweist sich ent1

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Die Forschung ist über Julius Harts Hille-Charakteristik „Wie er als Mann war, so haben wir ihn auch schon als Knaben gesehen“ kaum hinausgelangt und reproduziert bis heute das Klischee vom ‚kindlichen Dichter’, das zeitgenössische Hille-Porträts durchzieht (J. HART, Einleitung. In: P. HILLE, Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. von seinen Freunden. Bd. I. Berlin, Leipzig 1904, S. XIII). Exemplarisch ist das Urteil von Julius Bab: „Peter Hille ist ein Kind; mit der ganzen lebensfremden Unbekümmertheit [...] eines Kindes ging er durch die Welt, um nur auf sein Inneres lauschend die Gesichter und Zeichen, Bilder und Gedanken wahl- und ziellos heraufzuholen, die der Genius in ihm erzeugte. So machte ihn die Vernachlässigung alles Äußeren, die Beziehungslosigkeit zu allem sozialen Leben [...] zum Bohémien.“ (J. BAB, Die Berliner Bohème, hg. von Michael M. Schardt. Berlin 1994 [Nachdruck der Erstausgabe von 1904], S. 80). – Das Motiv des ‚Lauschens’ und der ‚Verinnerlichung’ verbindet als Kürzel für dessen vermeintliche Gesellschaftsferne viele Beiträge zu Hille. Vgl. R. BERNHARDT, Vorwort. In: ders. (Hg.), Peter Hille: Ich bin, also ist Schönheit. Prosa, Aphorismen, Essays. Leipzig 1975, S. 195-235; ders., „Ich bestimme mich selbst“. Das traurige Leben des glücklichen Peter Hille (1854-1904). In: M. M. LANGNER (Hg.), Peter Hille (1854-1904). Berlin 2004, S. 7-97; F. KIENECKER, Auf der Suche nach einem verschollenen Dichter. In: ders. (Hg.), Peter Hille – Ein Leben unterwegs. Dichtungen und Dokumente. Paderborn 1979, S. 9-32; P. G. POUTHIER, Der Begriff des Spiels und Elemente des Spielerischen in der Dichtung Peter Hilles und Else Lasker-Schülers. In: Hille-Blätter 1988, S. 41-56. Besonders Bernhardts früher Essay, der repräsentativ für das Hille-Interesse der DDR-Philologie ist, zeugt von den Schwierigkeiten, die teils reaktionären Ansichten Hilles und seinen ästhetischen Spontaneismus mit einer sozial engagierten Literatur in Einklang zu bringen. – Auch der jüngste Sammelband von Mitarbeitern der Hille-Forschungsstelle in Paderborn, die sich um eine Werkchronologie und eine verlässlichere Textedition bemüht, demonstriert erstaunliche Blindheit gegenüber den politischen Implikationen von Hilles Œuvre: W. GÖDDEN / M. KIENECKER (Hgg.), Prophet und Prinzessin – Peter Hille und Else Lasker-Schüler. Mit Berichten aus der Werkstatt der Peter-Hille-Forschungsstelle. Bielefeld 2006. E. MÜHSAM, Peter Hille. In: ders., Ich bin verdammt. Bd. 2, hier S. 23.

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gegen forschungsüblichen Klischees nämlich als ganz und gar nicht harmlos. Der Weg zur Kindheit, den Hille als Königsweg der Poesie begreift, zielt nicht auf „lauteres, unverdorbenes Leben“,3 sondern impliziert Selbstverhärtung, Erstarrung und Gewalt. Kindheit erweist sich, entgegen Hilles Intention, als eine Sphäre, deren ‚Unschuld’ sich nur mehr gewaltsam konservieren lässt und die in ihrer Verklärung zum Gegenprinzip bürgerlicher Formen des Erwachsenseins jene ‚Lauterkeit’ verfehlt, die der Bohemien als Bewahrer der Kindheit für sich reklamiert. Auch Hilles Entwurf einer Poetik der ‚Petrifizierung’, die im Modus solipsistischer Selbstimmunisierung der Verwandlung originärer Schöpfung in Ware zu entkommen sucht, vor der sich der notorisch publikationsscheue Hille offenbar sein Leben lang gefürchtet hat, muss vor diesem Hintergrund als gescheitert bewertet werden: Im Gegenteil reproduziert Hilles Poetik der ‚Petrifizierung’ in verschärfter Form die Aporien des Eigentumsbegriffs, gegen den er sich – der Intention nach zunächst durchaus ähnlich wie Lasker-Schüler – mit genieästhetischem Pathos zur Wehr setzt. Schon eine oberflächliche Lektüre von Hilles Œuvre zeigt, dass der Konnex von ‚Kindheit’ und ‚Genie’, der seine Schriften durchzieht, mit den Ideologemen der Jugendbewegung in Verbindung steht, in deren Umfeld die Übergangsphase der Adoleszenz, wie Philippe Ariès dargestellt hat, zum Ausdruck von „physischer Kraft, Natürlichkeit, Spontaneität und Lebensfreude“ hypostasiert und sowohl gegen die Nüchternheit des Erwachsenendaseins wie auch gegen die biedere Harmlosigkeit des bürgerlichen Kindheitsideals ausgespielt wurde; der Typus des naiv-kämpferischen „Jünglings“ avancierte zum „Helden [...] des Jahrhunderts“.4 Die Ambivalenz dieses Jünglingsideals, das die Spontaneität des ‚Kindes’ mit der Durchsetzungskraft des ‚Mannes’ versöhnen soll, schlägt sich nieder in der dämonischen Doppelgesichtigkeit von Hilles Kinderfiguren. Wichtigster Bezugsort seiner Kindheitsentwürfe ist die Schule, die keineswegs pauschal als repressive Disziplinarinstitution abgewertet wird. Vielmehr konvergieren Hilles Texte mit dem Selbstverständnis weiter Teile der Jugendbewegung gerade darin, dass sie die Schule als Ort repres3 4

Ebd. P. ARIÈS, Geschichte der Kindheit. München 1975, S. 86 ff., Zitate S. 87. – Über den Zusammenhang von Kindheits-Idolatrie und Jugendbewegung siehe W. WUCHERPFENNIG, Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900. Stuttgart 1980, besonders S. 172 ff.; H. PROSS, Jugend – Eros – Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendverbände. Bern, München, Wien 1964; U. LINSE, Die Jugendkulturbewegung. In: K. VONDUNG (Hg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen 1976, S. 119-137; F. TROMMLER, Mission ohne Ziel. Über den Kult der Jugend im modernen Deutschland. In: T. KOEBNER / R.-P. JANZ (Hgg.), „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend. Frankfurt/M. 1985, S. 1469. – Die Arbeit von B. DAHLKE, Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900. Köln, Weimar, Wien 2006, die sich mit Hille nicht befasst, liefert demgegenüber kaum neue Deutungsansätze.

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siver, normierender Sozialisation zugleich anprangern und fetischisieren. Einerseits erscheint sie als Verhinderung individueller Emanzipation und Zerstörung der geistigen und sinnlichen Potentiale des Kindes. Andererseits sind es die repressiven Rituale des Schulalltags selbst, die jenen ‚lebenstüchtigen’, gegen ungedeckte Schmerz- und Glückserfahrung abgehärteten Charakter formen, den Hille als Bewahrung der Kindheit ideologisiert. Zwei Kindheitsfigurationen durchziehen denn auch Hilles Werk: das erstarrte, mortifizierte und eben dadurch ‚schöne’ Kind und der rabiate Pennäler, der sein verhärtetes Selbst durch Aggression gegen alles ‚Schwächliche’ als Gegenprinzip zur bürgerlichen Gesellschaft behauptet. Den Hintergrund für dieses antibürgerliche Ideal einer ‚widerständigen’ Kindheit, die in refraktärer Abwehr der Erwachsenenwelt ungewollt deren Logik perpetuiert, bildet jene deutsche Spielart des Naturalismus, die sich durch Propagierung eines neuen Sturm und Drang gegen die ‚Elendsliteratur’ des französischen Naturalismus abgrenzt und zu dessen Exponenten wiederum die Hart-Brüder zählen, mit denen Hille seit seiner Schulzeit in regem Austausch stand.5 In Hilles Kindheitspoetik vermischen sich Elemente einer ‚sanften’ Pädagogik, wie sie von anarchistischen und sozialistischen Strömungen der Jugendbewegung gegen den wilhelminischen Obrigkeitsstaat aufgeboten wurde,6 mit den genieästhetischen Größenphantasien des völkischen Naturalismus. Nicht interesseloses Spiel, 5

6

Die Berufung auf den Sturm und Drang ist ein Leitmotiv im deutschen Naturalismus, der historische Personen wie Napoleon und Goethe zu Statthaltern eines nationalistischen Heroismus stilisiert. Carl Bleibtreu fordert 1886, die neuen „Stürmer und Dränger“ dürften nicht durch „Gamaschenknopf und Zopfperrücke“ erstickt werden (C. BLEIBTREU, Revolution der Literatur, hg. von Johannes J. Braakenburg. Tübingen 1973, Zitate S. 1 und S. 80). Heinrich Hart preist einen Naturalismus, der „an den jungen Goethe der Sturm- und Drangzeit“ anknüpft und sich gegen „die graue Nüchternheit der Elendsliteratur“ abhebt (H. HART, Literarische Erinnerungen. In: ders., Gesammelte Werke III, hg. von Julius Hart. Berlin 1907, S. 3 ff., hier S. 31 und S. 92). Laut Hart verkörpert Hille den „Gegensatz stürmender, drängender Jugend zur konventionell gewordenen Klassik“ (ders., Peter Hille. Berlin, Leipzig o. J., S. 25). Lublinski bewertet den Naturalismus 1904 rückblickend als „Sturm- und Drang-Periode“ der Moderne (S. LUBLINSKI, Die Bilanz der Moderne. Mit einem Nachwort hg. von Gotthart Wunberg. Tübingen 1974, S. 57). Über den naturalistischen Geniekult siehe G. WUNBERG, Utopie und fin de siècle. Zur deutschen Literaturkritik vor der Jahrhundertwende. In: G. UEDING (Hg.), Literatur ist Utopie. Frankfurt/M. 1978, S. 266290; J. SCHMIDT, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd. 2. Darmstadt 1985, S. 167 ff.; A. MARTIN, Die kranke Jugend. J. M. R. Lenz und Goethes Werther in der Rezeption des Sturm und Drang bis zum Naturalismus. Würzburg 2002, S. 277 ff. Zu den völkischnationalistischen Tendenzen im deutschen Naturalismus P. SPRENGEL, Literatur im Kaiserreich. Studien zur Moderne. Berlin 1993, S. 79 ff. Über die libertären Impulse der Jugendbewegung, besonders im Blick auf den Schulreformer Gustav Wyneken, vgl. U. LINSE, Die Jugendbewegung, S. 124 ff.

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sondern Zwangsharmonisierung, pädagogische Abhärtung und Entfeminisierung stehen im Zentrum seiner Kindheits-Texte. Die in Hilles Werk immer wieder durchbrechende Neigung zu Nonsensekomik und Infantilismus wird vor diesem Horizont lesbar als Versuch einer Immunisierung gegen die mit dem heroisch-virilen Kindheitsideal unvereinbaren Erfahrungen von Identitätszerfall und unreglementierter Sinnlichkeit. Die ‚schönen’ Kinderfiguren, die bei Hille durchweg weiblich konnotiert sind, stehen den Exerzitien des Pennälers denn auch nicht als Verkörperung einer ‚sanften’ Kindheit gegenüber, sondern sind als Imagines ästhetischer Mortifikation geprägt von jener Gewaltsamkeit, als deren Gegenbild sie zu dienen scheinen. Lasker-Schülers meist als distanzlose Huldigungen missverstandenen Hille-Porträts konfrontieren demgegenüber Hilles ‚mannhaftes’ Kindheitsideal mit dem Bild einer ‚blassen’, unheroischen Kindheit, in der jene Erfahrungen von Ohnmacht und Marginalität zum Ausdruck kommen, die bei Hille verleugnet werden. Schon Lasker-Schülers frühe Ich-Figuration Tino von Bagdad, die zuerst im Kontext ihrer Hille-Skizzen begegnet, ist situiert auf der Grenze zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, Kindheit und Erwachsensein und verkörpert ein Gegenbild zu Hilles Idealisierung heroischgenialischer Kindheit. An den um die Metapher des Felsens kreisenden Namengebungsszenen bei beiden Autoren kann gezeigt werden, dass mit Hilles Poetik individualistischer Selbsterschaffung bei Lasker-Schüler eine Poetik enthusiastischer Selbstentäußerung korrespondiert, die sich nicht in den Widersprüchen von Hilles ästhetischem Solipsismus verfängt und die Kodifizierung von Kunst als ‚Eigentum’, gegen die Hille und Lasker-Schüler gleichermaßen protestierten, an der Wurzel packt. Das Peter-Hille-Buch lässt sich vor diesem Hintergrund als Gegen-Legende deuten, die das Schema der hagiographischen Legende in einen Modus poetischer Kolportage transponiert, um das populäre, auf nicht-hierarchische Kollektivität zielende Telos der Legendenform zu revitalisieren. Bei der Rekonstruktion dieser Legendarisierung Hilles durch Lasker-Schüler geht es indes weder primär um einen Beitrag zur Debatte um die biographische Beziehung beider Autoren noch um die Behauptung einer intentionalen Kritik, sondern um den Aufweis immanenter ästhetischer Differenzen. Deren Tragweite dürfte freilich es schwierig machen, LaskerSchülers ‚Petrus’-Verehrung weiterhin als Ausdruck einer biographischen Idolatrie misszuverstehen.

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1. Erpresste Unschuld: Zur Poetik der Kindheit im Werk von Peter Hille a) Poetik und Pädagogik Nicht nur Hilles eigenes Werk, auch Heinrich Harts posthumes Hille-Porträt kreist um den Gegensatz zwischen der Schule als bürgerlicher Disziplinaranstalt und der puerilen Dichtung als Sphäre vermeintlich authentischer Individuation, in dessen Rahmen die Kindheitsmotivik bei Hille insgesamt situiert ist. Wie bei Hille lässt sich bei Hart eine heimliche Komplizenschaft mit der verbal attackierten pädagogischen Institution erkennen. Da Hille für Hart beispielhaft den zeittypischen Konflikt zwischen jugendlichem Individualismus und pädagogischem Drill verkörpert, ist ein Blick auf seine Hommage nützlich. Schon seine erste Begegnung mit Hille ist im Umfeld von Schule und Leibesertüchtigung angesiedelt: Es war 1872, als ich Peter Hille kennenlernte. Wir waren beide Sekundaner des Paulinischen Gymnasiums [...]. O pii patres, euer heiliger Ignaz hat es euch nicht verraten, welche Kuckuckseier nochmal in eurem Nest ausgebrütet werden sollten. [...] Eines Abends auf dem Turnplatz, als ich eben am Barren schwebte, trat er an mich heran. Ein schmächtiges, zierliches Kerlchen [...]. Gymnasiastisches hatte er nichts an sich. Er sah mehr wie ein junger Künstler aus. Seine Art sich zu geben zeigte eine angenehme Mischung von Keckheit und Scheu. Er kam auf mich zu und sprudelte ohne weiteres hervor: „Du! Ich heiße Hille. [...] Kannst Du mir mal Deine Bibel leihen? Ich habe auch eine, aber die katholische, und ich möchte gern die Luthersche Übersetzung kennen 7 lernen. Die soll viel kerniger sein!“

Das Bild der „Kuckuckseier“ im „Nest“ der konfessionellen Schule deutet bereits an, dass die künftigen Bohème-Poeten keineswegs als Gegeninstanz zur bürgerlichen Disziplinaranstalt, sondern eher als deren illegitime Söhne betrachtet werden. Obwohl Hille als Inbegriff des fragilen Künstlers der Sphäre des Gymnasiums entrückt ist, artikuliert sich in seiner „Mischung von Keckheit und Scheu“ und in seiner kommunikativen Spontaneität ein lebenstüchtiger Charakter, der dem schulischen Drill nicht ohnmächtig, sondern mit pubertärer Pseudoautonomie entgegentritt. Trotz körperlicher Schwächlichkeit bleibt er durch seine ‚Keckheit’ einem Ideal vitalen Kraftmenschentums verhaftet. Sein Wunsch nach der ‚kernigeren’, dem deutschen Volksgut zugehörenden Luther-Bibel reflektiert nicht die qualitativen Unterschiede zwischen 7

H. HART, Peter Hille, S. 13 f.

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katholischem und protestantischem Dogma, sondern hat symbolischen Wert, indem er Lektüre als Mittel zur Identifikation mit einem bodenständigen Heroismus exponiert. Der ‚kecke’ Impetus, mit dem die Sekundaner ihre von pädagogischer Austrocknung bedrohte Vitalität bewahren wollen, folgt selbst jener Logik sportiver Lebensertüchtigung, in deren Dunstkreis sie erzogen werden. Sie verbleiben gleichsam immer „auf dem Turnplatz“, auch dann, wenn sie eigenständig die Bibel lesen wollen. Auch im Folgenden schildert Hart die Lektüre der Knaben nicht als substantiellen Gegenentwurf zur entfremdeten Schullektüre, sondern als wahllosen Konsum des Nicht-Kanonischen: „Täglich tauschten wir gegeneinander aus, was ein jeder an Werken aufgetrieben hatte [...]. Jeder Schmöker, der billig zu haben war, war uns recht.“8 Man liest „heute Gutzkow und morgen Achim von Arnim“ und schreibt „Huldigungsgrüsse“ an Haeckel und Liebknecht.9 In Harts Erinnerungen an die spätere Bohème-Zeit heißt es, „Schwärme von Stürmern und Drängern“ hätten die „à la bohémienne“ eingerichtete Wohnung der Brüder bevölkert: „Trumpf war es, wenn einer nachweisen konnte, dass er bereits einmal, vielleicht mehrmals einige Zeit in einer Nervenheilanstalt [...] zugebracht hatte.“10 Die Bohème wird als Verlängerung eines pubertären, antibürgerlich motivierten Kulturkonsums karikiert, der sich sogar Irrsinn und Krankheit als Sinnbild sozialer Abweichung einverleibt. Subkultur verkommt dabei, in Antizipation des späteren Literaturmarketings der Hart-Brüder, zum Modestil („à la bohémienne“), Originalität zum Massenprodukt. Die Mischung aus Ironie und Kumpanei, mit der Hart diese Entwicklung schildert, prägt auch sein Hille-Buch. Der erste literarische Kreis, dem Hille und die Harts angehörten, war, wie es dort heißt, der Schülerbund „Satrebil“: „Das Wort hat nichts Mystisches [...]; wenn man es anagrammatisch liest, kommt das schlichte, brave ‚Libertas’ heraus.“11 Das Nonsensewort erweist sich als schlichte Verkehrung einer im Grunde ‚braven’ Freiheitsidee. Hille wird in konformistischer Kameraderie als „fröhlicher Geselle“ tituliert, der „alle unsere Streiche“ mitgemacht habe.12 Seine pubertären Gelegenheitsdichtungen erscheinen nicht als ‚Frühwerk’, sondern nehmen bereits den Spontaneismus seiner Bohème-Poesie vorweg, die den ‚jugendlichen’ Impuls im Widerstand gegen die korrumpierende Außenwelt starr zu konservieren sucht: Was Peter gelernt hat, hat er nicht durch, sondern gegen die Schule gelernt. [...] Daher war er ein beständig Lauschender, der immerzu sein Ohr an die Dinge 8 9 10 11 12

Ebd., S. 16. Ebd. H. HART, Literarische Erinnerungen, S. 51. H. HART, Peter Hille, S. 17. H. HART, Literarische Erinnerungen, S. 24.

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gelegt hielt [...]. Das Notizbuch kam eigentlich nie aus seiner Hand, oder vielmehr das Notizpapier, denn wenn er kein Schreibheft auftreiben konnte, genügte ihm jeder Fetzen Zeitung [...]. Selbst beim Schmausen, selbst beim Zechen [...] fiel ihm alle Minuten etwas ein, was er aufzeichnen musste.13

Wie in der Programmatik der mit Recht als ‚Gebildeten-Revolte’ bezeichneten Jugendbewegung wird Erziehung hier emphatisch als Selbsterziehung, als Lernen „nicht durch, sondern gegen die Schule“ aufgefasst.14 Gerade in der Verweigerung gegenüber bürgerlich institutionalisierten Formen des Erwachsenwerdens sollen neue Spielarten von Autonomie erprobt werden, die das utopische Versprechen der ‚Kindheit’ einlösen, statt es zu verraten. Ihren eigentümlichen Akzent erhält Harts Darstellung dieses Anspruchs jedoch durch den Konnex von Dichten und „Zechen“, der dem Spontaneismus des improvisierenden Dichters erneut einen konformistischen Unterton verleiht. Die poetische Produktion wird zwar als freier Schaffensprozess beschrieben, bei dem das Subjekt das Innere der Dinge ‚erlauscht’ und sich von der Oberfläche der sozialen Realität und ihren Zwängen abzuwenden meint. Zugleich jedoch ist Dichtung geradezu identisch mit unreflektiertem Konsum. In ihrer scheinbar unreglementierten Spontaneität – dem Notieren auf „Fetzen“ – folgt sie keiner ästhetischen Notwendigkeit, sondern ist Nebenprodukt des Kneipenbesuchs, dessen akzidentiellen Rahmen sie nicht zu überschreiten vermag. Im Unterschied zum kritischen Teil der Jugendbewegung gewinnen dabei chauvinistische Trink- und Balzrituale Relevanz als Ausdruck einer Vitalität, in der kindliche Impulsivität und brachiale Durchsetzungskraft zusammenfinden sollen: In die Kneipen aber lockte uns nicht nur der Männertrunk, nicht nur die Lust, bei Schlägerklang und Kommersgesang vorzeitig den Studenten zu spielen. Auch der Minne zehrendes Sehnen und gärender Drang trieb uns zur verbotenen Heimlichkeit [...]. Peter war genauso leicht entzündlich, wie wir alle. Und leichter noch als wir übersprang er [...] die Schranken konventioneller Zurückhaltung. Eines Tages [...] sahen wir eine Gruppe junger Damen [...], immer wieder strichen wir katerhaft vorbei und äugelten. Plötzlich riss Peter sich von uns los, stürmte mitten in die Gruppe hinein, umschlang eine der Grazien, küsste sie, und wie ein Wirbel war er wieder auf und davon.15

13 14

15

H. HART, Peter Hille, S. 26 f. Zur ‚Gebildeten-Revolte’ vgl. U. LINSE, Die Jugendbewegung, S. 119 ff. Linse hebt hervor, dass es bürgerliche Werte waren, die von den Jugendbünden gegen das wilhelminische Bürgertum im Namen eines „dritten Wegs“ eingefordert wurden (S. 121). Siehe auch W. WUCHERPFENNIG, Kindheitskult, S. 139 ff. H. HART, Peter Hille, S. 19.

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Der für die gesamte zeitgenössische Jugendbewegung konstitutive Konflikt zwischen ‚erwachsener’ Autonomie und pädagogischer Gängelung, der durch die allmähliche „Ausgliederung der bürgerlichen Jugend als eines spezifischen Lebensbereiches aus der Arbeitswelt“ bei gleichzeitiger Distanzierung von der familiären Binnensphäre erst möglich wurde und Produkt bürgerlicher „Modernisierung“ ist,16 wird nicht ausgetragen, sondern durch Regression auf sanktionierte infantile Verhaltensmuster ‚übersprungen’. Das von Ariès konstatierte „selbstbewusste Auftreten der Jugend“ um 1900, durch das die als autonome Entwicklungsphase begriffene Adoleszenz gegen „eine gealterte und verknöcherte Gesellschaft“ ausgespielt werden soll,17 reproduziert in seinem antibürgerlichen Habitus regressive, männerbündische Verhaltensweisen. Wie „Männertrunk“ und „Schlägerklang“ verstößt die sexuelle Annäherung gegen die „Schranken konventioneller Zurückhaltung“, dient aber der pubertären Einübung virilen Sozialverhaltens; der Normverstoß ist eine Normbestätigung. Die Kritik der Sekundaner am „leeren Formalismus“ der Homer-Lektüre, „die es in der Stunde zu drei Versen bringt, weil jedes Wort zur Erläuterung einer grammatikalischen Regel dienen muss“,18 dient nicht der Kritik des bürgerlichen Bildungsfetischismus, sondern betreibt die Fetischisierung von Formlosigkeit; dem „Formmenschen“ wird der unverbildete „Wesensmensch“ abstrakt kontrastiert.19 Hille, resümiert Hart, sei kein „zahmes Gartengewächs“, sondern ein „wilder Schößling“,20 ‚Zahmheit’ disponiere zum Konformismus, ‚Wildheit’ zur Widerstandskraft: „Gott“, wird Hille zitiert, „ist elementar, nicht sentimental. Keine Suse.“21 Die mit dem Phantasma naturwüchsiger Autonomie unvereinbaren Aspekte kindlicher Erfahrung – Schwäche, Ohnmacht, Angst – werden als ‚susenhaft’ verfemt zugunsten eines Kindheitsideals, das vom kleinbürgerlichen Traum rücksichtsloser Durchsetzungskraft kaum zu unterscheiden ist. Gerade weil Harts Blick durch die Genie-Idolatrie des Naturalismus geprägt ist, enthüllt er Facetten von Hilles Werk, die stets übersehen werden. So verschmelzen in Hilles Figurationen des Bohemien und Vagabunden Züge des Kindlichen mit Phantasien von Stärke und Gesundheit, wie sie im Gedicht „Knabe“ anklingen:22 „Hält die Augen in die Welt / Wie zwei Renner. / Zü16 17 18 19 20 21 22

F. TROMMLER, Mission ohne Ziel, S. 15. P. ARIÈS, Geschichte der Kindheit, S. 88. H. HART, Peter Hille, S. 25. Ebd. Ebd., S. 75. Ebd., S. 76. Alle Texte werden mit nachgestellten Band- und Seitenzahlen zitiert nach: P. HILLE Gesammelte Werke in sechs Bänden (GW), hg. von Friedrich Kienecker. Bd. 1: Gedichte und Schriften, Bd. 4: Kurzprosa und Prosafragmente II, Bd. 5: Essays und Aphorismen, Essen 1984ff., sowie P. HILLE, Werke zu Lebzeiten (WL). Nach den Erstdrucken und in chronologischer Reihenfolge hg. von Walter Gödden. Bd. I: 1876-1889,

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gelt sie kaum, / Aller Helden Held: / Weit dein Traum, / Reich noch Raum“ (II, 751). Mit der ungeschützten Neugier des Kinderblicks hat diese Darstellung wenig gemein. Vielmehr mutiert der Knabenblick zum Modus ‚zügelloser’ Weltaneignung. Der Knabe wird zum Reiter, der seine Augen wie zwei Pferde in die „Welt“ hält, um dem plastischen „Reich“ seiner Phantasie „Raum“ zu erobern. Alles Prekäre, Verletzliche des Kinderblicks wird getilgt zugunsten einer Vision viriler Omnipotenz. Im Gedicht „Knabe“ ist somit der naturwüchsig-abgehärtete „Höhenstrolch“ präfiguriert: Ein großer Lump schreitet durch die Himmel. Seine gewaltigen Knie verlieren sich im strahlenden Glanz. Aus allen Taschen muss es fallen, aus allen zerrissen hängenden Taschen. Und der lallende Schritt in schreienden Schuhen, stark und fröhlich singt er weiter. Und alle Gassenjungen der weiten Welt – in grinsend kichernder Freude, - lautlos schlau, sammeln die goldene Ernte hinter diesem verwahrlosten Schreiten! Was für ein Lump: der Weltbeglücker. (4, 7)

In einer für die Bohème-Dichtung typischen Doppelbewegung verbinden sich hier soziale Deklassierung und prophetischer Führungsanspruch.23 Der Strolch „schreitet“ königsgleich „durch die Himmel“, ‚Verwahrlosung’ und ‚Gewaltigkeit’ konvergieren in einer imaginären Einheit von Armut und Widerstandskraft. Gleich dem Blick des ‚Knaben’ umfasst auch das Schreiten des ‚Lumpen’ in einer positiv gewendeten Omnipotenzphantasie die gesamte „Welt“. Die „Gassenjungen der weiten Welt“ sind freilich selbst mit eher unkindlichen Attributen wie Zähigkeit und Häme („grinsend“, „schlau“) ausgestattet. Wie der Schritt des Strolchs ‚lallt’ und ‚schreit’, aber eben deshalb „stark und fröhlich“ ist, scheint die ‚gesunde’ Kindheit paradoxerweise nur als fratzenhaft grinsende konkretisierbar zu sein. Im Gedicht „Meine Erde“ wird

23

Bd. II: 1890-1904, Bielefeld 2007. – Leider liegt bis heute keine kritische HilleAusgabe vor, so dass es über die Entstehungszeit und die Varianten der Texte selten verlässliche Informationen gibt. Die meisten hier zu Rate gezogenen Texte sind zum ersten Mal publiziert worden in der posthumen Ausgabe von Julius und Heinrich Hart: P. HILLE, Gesammelte Werke in vier Bänden. Kienecker rekurriert auf diese Edition und ergänzt sie um weitere Erstdrucke. Da die Ausgabe von Gödden erstmals alle zu Hilles Lebzeiten erschienenen Schriften erfasst, wird nach der Kienecker-Edition nur zitiert, wenn auf posthume Drucke und Fragmente zurückgegriffen wird. – Zur Editionsproblematik vgl. M. M. LANGNER, Zu den Textausgaben von Peter Hille. In: editio 16 (2002), S. 156-168. Zur Reproduktion bürgerlicher Topoi von Charisma und Persönlichkeit in der Bohème siehe H. KREUZER, Die Boheme, S. 180 ff. Viele Belege für die Verschränkung von ‚Lump’ und ‚Genie’ im Selbstbild der Bohème-Autoren bietet G. STEIN, Bohemien – Tramp – Sponti. Boheme und Alternativkultur (=Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 1). Frankfurt/M. 1981.

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die „Erde“ denn auch als Kind mit „schämig [...] erglühenden Bäcklein“ vorgestellt, zugleich jedoch burschikos als „Goldkerl“ und „Prachtlump“ angesprochen (1, 28). Die Schamröte und der männerbündische Jargon dementieren die prätendierte Unschuld. Das kumpelhafte Duzen („Racker, du“; 1, 28) sowie die brachialen Tiermetaphern („Renner“) sind charakteristisch für den Jargon der Jugendbewegung, deren Protagonisten sich als „Horde“ zu bezeichnen pflegten, „vulgäres Deutsch“ und „das direkte Du“ gegenüber „höflichen Anreden“ favorisierten und die Identifikation mit dem Plebejischen als Plädoyer für eine naturwüchsige Volksgemeinschaft begriffen.24 Das Antibürgerliche fungiert, in Zuspitzung von Mühsams Ideal naturwüchsiger Solidarität, als ‚gesund’ gegenüber dem ‚kranken’ Philistertum. Spuren dieser Auffassung, die Teile der Jugendbewegung mit dem Geniekult des Naturalismus verbindet und die, meist noch ohne chauvinistische Implikationen, im Sturm und Drang angelegt ist,25 finden sich überall in Hilles Werk: „Nur Starke“, heißt es in den Aphorismen, „dürfen sich dem Innenleben zuwenden, Seelenkrüppel bilden müde Kirchen.“ (II, 574) Allein der ‚Starke’, sich selbst Verpflichtete sei zum Künstlertum legitimiert: „Krank oder stark? Was willst du sein, Mensch? Entscheide dich!“ (5, 386). Die Bestimmungen von ‚Krankheit’ und ‚Gesundheit’ bei Hille sind repräsentativ für eine Reihe von Texten, die zwischen Naturalismus und Jugendstil oszillieren. Die Hart-Brüder, die sich früh von den sozialrevolutionären Zielen des Naturalismus distanzierten und dessen naturwissenschaftliche Prämissen mit einem monistischen Naturbegriff amalgamierten, operieren in ihren literaturkritischen Arbeiten mit ganz ähnlichen Schemata.26 Die Diffamierung des sozialkritischen Naturalismus und seiner Sujets als ‚krank’ hat lange darüber 24

25

26

H. PROSS, Jugend – Eros – Politik, Zitate S. 29 und S. 297. Über die an Tönnies geschulte Polemik gegen ‚Gesellschaft’ ebd., S. 56 ff. Zur vulgären Diktion der Jugendbewegung, insbesondere auch zur Tiermetaphorik, siehe H. HENNE, Zur Sprache der Jugend im Wandervogel. Ein unbekanntes Kapitel deutscher Sprachgeschichte. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 9 (1981), S. 20-33. Zu Recht urteilt Schmidt, das „Genie“ sei im Naturalismus nur noch „der Kleinbürgertraum von Größe“. J. SCHMIDT, Geschichte des Genie-Gedankens, S. 190. – Die Genese des Ideals vom ‚Jüngling’ skizziert R. STEINLEIN, Vom weltbürgerlich aufgeklärten Kind zum vaterländisch begeisterten Jüngling. Bilder eines psychohistorischen Typus in der deutschen (Kinder- und Jugend-)Literatur (1750-1850). In: G. Oesterle (Hg.), Jugend – ein romantisches Konzept? Würzburg 1997, S. 297-332. Vgl. die Kritik an Zola, den die Harts dafür loben, dass er „den Menschen als solchen“ anspreche, dem sie aber vorwerfen, die Romanform zum „pathologischen Lehrbuche“ degradiert zu haben (H. HART / J. HART: Für und gegen Zola. In: dies., Kritische Waffengänge. 1. Heft. Leipzig 1882, S. 44-55, hier S. 46. und S. 53). Die Abgrenzung des deutschen zum französischen Naturalismus und die Instrumentalisierung naturwissenschaftlicher Denkmuster zwecks kultureller Selbstlegitimation im Epochenzusammenhang analysiert J. KOLKENBROCK-NETZ, Fabrikation – Experiment – Schöpfung, S. 286 ff.

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hinweggetäuscht, dass eine breite Strömung des deutschen Naturalismus selbst ein völkisches Ideal von ‚Gesundheit’ im Kampf gegen das ‚kranke’ Bürgertum propagierte.27 Die Überformung des Kindheitssujets mit vitalistischen, genieästhetischen Ideologemen bei Hille, in der sich das Kindliche seiner Knabenfiguren mit Zügen des männlichen ‚Kraftkerls’ überlagert, muss vor diesem Horizont gesehen werden. Sie kulminiert in der Ineinssetzung von Kind und Soldat, die im Motiv der ‚Raumeroberung’ in „Knabe“ präludiert ist. Als Inkarnation dieses gegen den Drill bürgerlicher Pädagogik gerichteten Ideals naturwüchsiger Naivität und Widerstandskraft figuriert der ebenfalls „Goldkerl“ (5, 49) genannte Hille-Freund Detlev von Liliencron. Zwei Aspekte gewinnen in Hilles Liliencron-Essays Gewicht: dessen abgebrochene Offizierslaufbahn und seine Verwurzlung in der norddeutschen Regionalliteratur.28 Dass sich Liliencron so verschuldete, dass er aus dem Militär ausscheiden musste, erscheint Hille als Symptom eines Charakters, in dem sich soldatische Disziplin und antibürgerlicher Hedonismus verbinden. In Liliencrons holsteinischem Ideolekt glaubt er einen autochthonen Konservatismus zu erkennen, der seine ‚Gesundheit’ beweist, indem er dem abstrakt gewordenen bürgerlichen Kulturideal opponiert. So erklären sich die paradoxen Attribute, die Liliencron bei Hille zugeschrieben werden: Er sei „ein rechtes Weltkind“ (5, 48) und von „kindliche[r] Genussfreude“ (5, 48), aber auch von „helden27

28

Vgl. T. ANZ, „Gesund“ und „krank“. Kriterien der Kritik im Kampf gegen die literarische Moderne um 1900. In: W. HAUG / W. BARNER (Hgg.), Kontroversen, alte und neue (=Akten des VII. Internationalen Germanistik-Kongresses, Göttingen 1985, Bd. 8). Tübingen 1986, S. 240-250. Die völkischen Momente im Werk der Harts untersucht E. RIBBAT, Propheten der Unmittelbarkeit. Bemerkungen zu Heinrich und Julius Hart. In: R. VON HEYDEBRAND / K. G. JUST (Hgg.), Wissenschaft als Dialog. Studien zur Literatur und Kunst seit der Jahrhundertwende. Stuttgart 1969, S. 59-82; ders., Genie und Gemeinschaft, Boheme und Utopie. Hinweise auf Heinrich und Julius Hart. In: W. GÖDDEN / W. WAESLER (Hgg.), Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung. Paderborn 1992, S. 59-67. A. MARTIN, Die kranke Jugend, fokussiert das Stereotyp vom ‚kranken’ Naturalismus und blendet die Pathologisierungsstrategien innerhalb naturalistischer Poetiken aus. Liliencron musste sich nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst 1875 als Lehrer und Zureiter durchschlagen, hatte Kontakt mit der Schwabinger Bohème und trat in Wolzogens ‚Überbrettl’ auf, war als Repräsentant der Verbindung von Subkultur und ‚Bodenständigkeit’ also prädestiniert. Den noch immer besten Überblick bietet U. JASPERSEN: Detlev von Liliencron. In: E. VON WIESE (Hg.), Deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts. Ihr Leben und ihr Werk. Berlin 1969, S. 507-527. Zur poetologischen Relevanz des Jagd- und Kampfmotivs bei Liliencron siehe H. SCHLAFFER, Lyrik im Realismus. Studien über Raum und Zeit in den Gedichten Mörikes, der Droste und Liliencrons. Bonn 1973, S. 96 ff. Welche Bedeutung die Vorstellung einer ‚kämpferischen’ Männerfreundschaft für das Selbstverständnis von Liliencron und Hille in ihren Briefen hat, erhellt aus den Beispielen bei J. ROYER, Zur Freundschaft zwischen Detlev von Liliencron und Peter Hille. In: Hille-Blätter 1996, S. 89-142.

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hafte[r] Männlichkeit“ (5, 47). Durch Verschränkung von Kindlichkeit und Virilität wird das Bild eines lebenstüchtigen Bohemien entworfen, der in seiner brachialen Volksverbundenheit eine ‚Gemeinschaft’ antizipiert, die durch die kalte Anonymität der bürgerlichen Gesellschaft erstickt werde. Er steht mit „seinen Stubennachbarn, dem praktischen Leben in Bank und Bureau zugewendeten Leuten [...] in traulichem Verhältnis“ (5, 46 f.), ist von „konservativer Artung“ (5, 45) und „Manneszucht“ (5, 53), aber eben deshalb den „kraftlosen Philistern“ (5, 52) überlegen. Der Bohemien mutiert zum Leitbild des sozialen Darwinismus: „O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!“ Wer das singt, ist ein Waschlappen. Denn ein Kind kann man nur sein. Durch Mannestum sich das Recht dazu verdienen. Ja noch mehr als in der Kindheit selbst. Mit Bewusstsein und Besonnenheit es auskostend. Darin eben beruht die Lebenskunst. Und er hat auch dieselben Feinde wie die Kindheit: die Schulmeister. (5, 52)

Die sentimentalische Kindheitsreminiszenz, die mit der Erinnerung an die ‚Seligkeit’ der Kindheit auch deren irrevokablen Verlust präsent hält, wird als ‚Waschlappen-Mentalität’ abgetan. Dagegen wird eine Kindheit propagiert, die man sich durch „Mannestum“ allererst „verdienen“ und mit „Bewusstsein“ auskosten muss: Kindheit gerät zum Gegenteil von Zweckfreiheit. Entsprechend wird Liliencron gepriesen als „Kind, das Anspruch darauf hat, sich ausleben zu können, weil er sich männlich sein Leben [...] bestimmt“ (5, 49), und das „mit dem Recht des Mannes [...] Gerechtigkeit fordert für seine Leistung“ (5, 52). Die Imago des Kindes verschmilzt mit den Machtphantasien des Subalternen, der auf seine „Leistung“ pocht und sich von den „Schulmeister[n]“ nichts vorschreiben lassen will. Trotz der abstrakten Abneigung gegen Autoritäten bleibt das gesamte Vokabular von Recht, Leistung und Verdienst einer konformistischen Logik verhaftet. Die intentionslose ‚Genussfreude’ wird depraviert zum positiven „Anspruch“ auf Lebensfreude, dem die Aggression gegen jede Behinderung der eigenen Selbstbehauptung schon immanent ist. Liliencrons ‚Kindlichkeit’ erweist sich so als antibürgerliche Maske des autoritären Charakters. Deshalb kann Hille ihn dafür loben, dass er „das Derbe der Soldateska“ schätze (5, 45): Drill und Naturwüchsigkeit scheinen im ‚männlichen’ Kind versöhnt zu sein.29 Als Ausdruck dieser Einheit von Kindlichkeit 29

Damit knüpft Hille an die populistische Bürgertumskritik an, wie sie bei Bleibtreu präfiguriert ist und bis in die NS-Ideologie fortgewirkt hat. Bleibtreu behauptet, jede „Tyrannei“ liebe das „Abgestandene, Konservative“, und appelliert gegenüber dem „Philisterium“ an die „Heroen der That“, zu denen er Herrscherfiguren von Cäsar bis Karl dem Großen rechnet. C. BLEIBTREU, Revolution der Literatur, S. 9 und S. 77 f. Noch 1936 versucht Georg Fuchs, die „Abnormen und Enormen“ der Schwabinger Bohème als ‚völkische’ Subkultur zu vereinnahmen, die gegen „die unschöpferische Mittelmäßigkeit“ des „heuchlerischen Liberalismus“ gekämpft habe (G. FUCHS, Sturm und

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und Mannhaftigkeit wird Liliencrons Impressionismus charakterisiert: „Am weitesten aber liegt ab von ihm, – das wurde die Kinderabneigung gegen die Schulmeister – was Aufgaben stellt wie ein Schulmeister [...]. Der Roman. Das Konstruktive.“ (5, 54) Die Abneigung gegen alles „Konstruktive“ reproduziert den regressiven Widerstand des Kindes gegen die Welt der Erwachsenen. Alle Arbeit an der ästhetischen Form erscheint aus der Perspektive eines infantilen Hasses auf „Aufgaben“ als heteronomer Zwang. Die Kritik am akademischen Formalismus und an der Mechanisierung des literarischen Formenrepertoires schlägt um in pauschale Verachtung ästhetischer Formgebung, die nicht mehr in ihrer autonomen Logik, sondern nur noch im Bild des repetierenden Primaners gedacht werden kann: „Reime und Maße, / [...] / Gezählt am peinlich / Gekrümmten Finger – / Das ist vorüber“, heißt es erleichtert in „Vorfrühling“, wo die „fröhliche Dummheit“ gegen die „[h]eisere Gescheitheit“ ausgespielt wird (1, 39). Die „ehrliche Prosa“ und der „mühelose Vers“, in denen sich „Schönheit“ artikuliere (5, 392 f.), werden nicht als Ergebnis emphatischer Arbeit am ästhetischen Material, sondern als bloßer Gegensatz zum tradierten Formenkatalog von „Trochäen“, „Jamben“ und „Hexameter[n]“ gedacht, die als „Präsentierteller“ firmieren, zu deren Verkauf gegen „bare Zahlung“ satirisch aufgerufen wird (5, 328). Nicht von immanenter Kritik, sondern nur noch von prompter Verscherbelung des bürgerlichen Kulturbestandes scheint Hille sich revolutionäre ästhetische und soziale Impulse zu erhoffen. Im erstmals 1904 publizierten Essay „Kinder und Erwachsene“ wird entsprechend eine Pädagogik der Bücherverbrennung empfohlen: „Gebt den Kindern keine Vorschriften und reicht ihnen dafür alles in ihr Wachstum hinein, was sie bedürfen, und ihr könnt alle pädagogischen Bibliotheken des Erdballs ruhig in den Ofen stecken“ (II, 702). Bürgerliche Bildung und Literatur sollen nicht kritisch revidiert, sondern verheizt werden im Namen einer Kindheit, die aus sich heraus jene Stärke erlangen soll, welche die pädagogische Disziplin zerstört. Solch refraktärer Individualismus ist denn auch vereinbar mit dem Schönheitsdienst am Volk; Liliencrons „Dingehrlichkeit“, heißt es, ziele auf „Bodenempfinden, Vaterlandsliebe, Kaisertreue.“ (II, 758) Der Bohemien repräsentiert in seiner Ortlosigkeit und seinem Dissens mit den Normen der bürgerlichen Gesellschaft die authentische, vom Philistertum erstickte Volks-

Drang in München um die Jahrhundertwende. München 1936, hier S. 79 und S. 82). – Affinitäten des antibürgerlichen Geniekults zur faschistoiden Gesundheitsideologie diagnostiziert schon H. KREUZER, Die Boheme, S. 326 ff. Zur Verherrlichung des Vagabunden im NS siehe C. VON ZIMMERMANN, Ulrich von Hutten. Der Vagant als Identifikationstypus in nationalerzieherischen Entwürfen. In: H. R. BRITTNACHER / M. KLAUE (Hgg.), Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 177-194.

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gemeinschaft. Das ist der Kern von Hilles ‚westfälischem Impressionismus’,30 dessen oft bemerkten naturalistischen Implikationen aus der Engführung avancierter poetischer Techniken mit völkischen, auf naturwüchsige Gemeinschaft zielenden Intentionen resultieren. Die Demontage des ‚Konstruktiven’ wird durch Rekurs auf völkisch-regionale ‚Bodenständigkeit’ naturalistisch geerdet. Poesie und sinnliche Anschauung werden nicht um ihrer selbst willen vom Korsett tradierter Formen befreit, sondern nur, um zum Medium unverbildeter Stärke zu gerinnen. In seinem Essay „Eichendorff’s Lyrik“ grenzt Hille Eichendorffs Volkspoesie gegen eine dekadente Romantik ab, die durch „weibische Schwäche“ und „Nervenkitzel“ geprägt sei, wo „psychisches Turnen [...] und Thatkraft Tugend gewesen wäre“ (I, 95). Hille schwebt dagegen eine Dichtung vor, die sich von Formstrenge und pädagogischer Instrumentalisierung befreit hat, aber eben deshalb gegen „weibische Schwäche“ und unkontrollierbare Sinnlichkeit gefeit wäre. Das dieser Konzeption zugrundeliegende Ich-Ideal ist dem Bild des kulturstiftenden „Herrenmenschen“ verwandt, wie es Arthur Moeller-Bruck in seinem Doppelporträt von Liliencron und Nietzsche entworfen hat.31 Für Moeller-Bruck treten Nietzsche und Liliencron als Inkarnationen des „Gehirnwillens“ und des „Gefühlswillens“ gleichermaßen einer „Zeit der Schwäche“ entgegen.32 Beide seien „Herrennaturen“,33 doch anders als Nietzsche lebe Liliencron diesen Anspruch aus, weil er „nicht nur männlich, sondern auch gesund, wie ein Kind unverbraucht“ sei: „Bei ihm sind Leben und Lebensanschauung durchaus in eins verwachsen“.34 Das „Kindliche“, das für Nietzsche lediglich „Ziel der intellektuellen Sehnsucht“ sei, verkörpere Liliencron „in seiner physischen und psychischen Ge-

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Vgl. C. HESELHAUS, Peter Hille und der westfälische Impressionismus. In: F. KIENECKER (Hg.), Peter Hille. Dokumente und Zeugnisse zu Leben, Werk und Wirkung des Dichters. Paderborn u. a. 1986, S. 65-67. Seither ist Hilles Positionierung zwischen Impressionismus und Naturalismus topisch geworden. Vgl. etwa W. FREUND, Evokation gegen Reproduktion. Peter Hille und die neue Wirklichkeitsdeutung um 1890. In: R. LEROY / E. PASTOR (Hgg.), Deutsche Dichtung um 1890. Bern u. a. 1991, S. 1530; W. BUNZEL, „Echte Lyrik nährt sich von der feinsten Epik.“ Peter Hilles Kurzprosa im ästhetischen Kontext ihrer Zeit. In: Prophet und Prinzessin, S. 69-84. – Siehe auch das Kapitel „Wir Westfalen“ in Harts Erinnerungen, wo ein Naturalismus propagiert wird, der die Tradition von „Proudhon, Bebel, Liebknecht“ mit „nationaler Begeisterung“ versöhnt (H. HART, Literarische Erinnerungen, S. 21). A. MOELLER-BRUCK, Die moderne Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellungen. Bd. III: Die Auferstehung des Lebens. Berlin, Leipzig 1899, Zitat S. 22. – Hille selbst wiederum ist von Moeller-Bruck in der 1904 publizierten Studie Verirrte Deutsche ähnlich wie Lenz und Grabbe als gescheiterte Existenz diffamiert worden. A. MOELLER-BRUCK, Die moderne Literatur, S. 9. Ebd., S. 27. Ebd., S. 18.

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sundheit“ ganz unmittelbar.35 Im Gegensatz zu Nietzsches destruktiver Ästhetik der „Nerven“ wird Liliencron eine Ästhetik der „Muskeln“ zugeschrieben: Er vergrübelt sich in keine Raffinements der Gedanken- und Gefühlswelt [...]: Liliencron wendet sich dem Leben ganz naiv wieder zu. Deshalb bedeutet es für ihn auch keinen geistigen Sport, sondern [...] Kampf.36

Die Ästhetik der ‚Muskeln’ transformiert die Formsprache des Impressionismus im Sinne einer vitalistischen Volkspoesie, die sich von den Dogmen des bürgerlichen Kulturkanons befreit und dadurch ihre ‚Bodenständigkeit’ bewahrt zu haben glaubt. Der Rekurs auf die Kindheitssphäre dient in MoellerBrucks wie in Hilles Liliencron-Porträts nicht der Sprengung des bürgerlichen Charakterpanzers im Namen verdrängter mimetischer Erfahrungsgehalte, sondern der Panzerung gegen die von den inkommensurablen Aspekten kindlicher Erfahrung ausgehende Gefahr des Identitätszerfalls.

b) Das ‚lebenstüchtige’ Kind Das skizzierte Ideal einer Ästhetik der ‚Muskeln’ hat Hille im autobiographischen Fragment „Der alte Knabe“, das schon in seinem Titel Jugend und Reife, Kindheit und Männlichkeit zusammenführt, humoristisch verdichtet: Ich gehe möglichst viel barfuß im dichtgewaschenen Sande des Strandes [...]. Mit freudigem Mitleid sehe ich, wie meine Zehen aus langer Haft in entstellendem Schuhwerk regsamer werden, wie die große Zehe Haltung annimmt und ordentlich, wie’s sich für einen gerechten, geradezu gerichteten Fuß ziemt, nach außen ruckt. So und so viele Jahre Kultur, da gehen einem die Augen auf. Und seien’s auch nur die Hühneraugen ... O, es sind Kulturträger die Schuster. (1, 231)

Ganz im Geiste der Lebensreform und des ‚Wandervogels’ erscheint das einengende Schuhwerk als Symbol bürgerlicher Kultur, der „Schuster“ als „Kulturträger“.37 Was die Schuster dem Fuß antun, verüben die Schulen am Geist: „Auch mich hat man über den Leisten gezogen und da, alles in allem, vierzehn Jahre gezerrt.“ (1, 231). Bezeichnend ist jedoch, dass der Fuß sich nach Befreiung von seiner „Haft“ erst recht als gehorsamer Soldat gebärdet: Die 35 36 37

Ebd., S. 23. Ebd., S. 30f. Zu den diesbezüglichen Reformprojekten siehe J. FRECOT / J. F. GEIST / D. KREBS, Fidus. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. Neuauflage mit einem Vorwort von Gert Mattenklott. Hamburg 1997.

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Zehe nimmt „Haltung“ an und ruckt „ordentlich [...] nach außen“; aus dem ‚entstellten’ wird ein „gerichtete[r] Fuß“. Der gegen den Drill bürgerlicher Pädagogik ausgespielte ‚natürliche’ Körper erweist sich nolens volens als Reinkarnation der korrumpierten Ideologeme von Haltung und Disziplin, die „vom Kopf auf den Leib“ transponiert worden sind.38 In diesem Sinn wird auch die Schule bei Hille im Namen eines heroischen Individualismus kritisiert, der jede Auseinandersetzung mit dem Fremden ablehnt. „Bin ich noch unverhunzt?“ fragt sich Hille: „Mit kühnem Stolze eines Selbstwanderers [...] sag ich: ‚Ja’.“ (1, 231) Der Satz „Ich bestimme mich selbst“ (1, 231) meint in diesem Zusammenhang keine der sozialen Realität abgewonnene Autonomie, sondern das bornierte Beharren auf einem erstarrten Selbst, das gegen als korrumpierend wahrgenommene Außeneinflüsse um jeden Preis in Schutz genommen werden muss. „Wildfrisch“ und „ganz ohne Historie“ glaubt das Hille’sche Subjekt zu sich zu finden und reproduziert ungewollt die Logik kleinbürgerlichen Ressentiments – den abstrakten Stolz auf die eigene Leistung; die autoritätssüchtige Bewunderung für den „Sammetkragen eines Leutnants“ (1, 233); die strikte Trennung zwischen dem ‚Eigenen’ und den „Fälschungen“ des Charakters (1, 231). Gerade weil Individualität als abstrakter Gegensatz zum gesellschaftlich Allgemeinen gefasst wird, muss das „Gesetz“, das „das Leben in all seinen Gebilden beglücken möchte“, wie es paradoxerweise heißt, „Missbildungen […] vernichten“ (II, 758). Der „alte Knabe“ bewahrt sein vermeintlich freies, von den Perversionen der bürgerlichen Gesellschaft unberührtes Kinder-Ich, indem er sich gegen die Integration fremder, allererst in Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit gewonnener Erfahrungen sperrt, deren Wirkung auf das ‚Kind’ im eigenen Selbst mit der Missbildung ‚gerichteter’ Glieder durch „entstellende[s] Schuhwerk“ verglichen wird. In einer 1893 in der theosophischen Zeitschrift „Sphinx“ publizierten Rezension zu einem Buch des Pädagogen Friedrich Lange referiert Hille zustimmend: Das Schulwesen [...] trägt viele Fremdkörper in die jungen Wesenheiten, leistet unfruchtbarem Gelehrtendünkel Vorschub. Während echte Bildung das Vaterländische bevorzugen und auch durch die übrigen Bildungsmittel den Zögling nur deutscher, echter, forscher und lebensstarker machen sollte, tritt Verzopfung und Übersättigung mit Ungeeignetem ein [...]. 38

T. REUTER, Kraft und Schönheit. Körperkultur als Kulturkritik. In: G. BOLLENBECK / W. KÖSTER (Hgg.), Kulturelle Enteignung – Die Moderne als Bedrohung. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik I. Wiesbaden 2003, S. 150-160, hier S. 157. Reuter vertritt die plausible These, dass es den Lebensreformern nicht um eine ‚Befreiung’ des Körpers, sondern um dessen Aufrüstung „zur letzten und einzigen Bastion der bildungsbürgerlichen Idee von Kultur“ gehe: „Werte, die ein steril gewordener Geist vertrocknen ließ, sollen durch ihre Bindung an den Körper aufgefrischt und ins Leben zurückgerufen werden“ (ebd.).

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[D]ie deutschen Gymnasien [...] sind Folterkammern, wo neun lange Jahre hindurch gerade Glieder verbogen werden. (II, 421)

Die spätestens seit den zwanziger Jahren virulenten Affinitäten der Jugendbewegung zum Faschismus sind hier zumindest teilweise antizipiert.39 Der Jugend wird eine naturhafte Nähe zum „Vaterländische[n]“, ihren „Glieder[n]“ eine naturwüchsige ‚Geradheit’ attestiert, die durch unassimilierbare „Fremdkörper“ verdorben würde. Das Leben deutscher Studenten gerät in Analogie zur völkischen Verherrlichung des Scholarentums zum Sinnbild heroischer Vitalität: Während der „College fellow“ „Aristoteles oder Plato“ – Repräsentanten toter Sprachen – pauken müsse, sei der soldatisch sozialisierte deutsche Student dem Leben verbunden und habe nichts „Philisterhaftes“: „[S]o eine deutsche Verbindung, wer sähe sie nicht gerne, die wackeren flotten Burschen mit Band und Mütze“ (5, 399). In Reminiszenz an die Härte mittelalterlichen Schul- und Studentenlebens, da Knaben noch als ‚kleine Männer’ und ebenbürtige Kämpfer galten,40 wird der von männerbündischer Geselligkeit geprägte Kollegalltag als Gegenbild zur bürgerlichen Disziplinaranstalt beschworen. Hilles Loblied auf „das junge Herz“, das in „Begeisterung für einen jungen Hochschullehrer entbrennt“ (5, 399), ist zwar gegen den pädagogischen Autoritarismus der wilhelminischen Gesellschaft gerichtet, preist stattdessen jedoch eine ‚erfüllte’ Autoritätshörigkeit. Den blutleeren Normen und abstrakten Hierarchien des bürgerlichen Bildungssystems wird die Sehnsucht nach sinnlich bejahter Devotion entgegengesetzt. Die Figur des Pennälers, ein Leitmotiv in Hilles Texten, fungiert als Repräsentant der Einheit von antibürgerlichem Protest und kindlich-regressiver Autoritätssehnsucht. In ihr konvergiert die Kritik an der bürgerlichen Pädagogik mit lustvoller Entwürdigung alles ‚Minderwertigen’. Hilles poetischautobiographische Skizzen zu Vorschule und Gymnasium entwerfen affirmative Szenarien von Demütigung und Häme, in denen autoritäre Lehrer, sofern sie sich gegen Streber und Außenseiter richten, als Ich-Ideal des lebenstüchtigen Pennälers erscheinen. Da gibt es beispielsweise „Gockel“, einen „fröhliche[n] Gesellschafter“, der gern „Predigttravestien“ vorträgt: 39

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Zur Relation zwischen libertären und völkischen Ideen in der Jugendbewegung vgl. H. PROSS, Jugend – Eros – Politik, besonders S. 345 ff., sowie W. MOGGE, „Lebenserneuerung durch den Geist der Jugend“. Die Jugendbewegung zwischen Avantgarde und Reaktion. In: H. L. ARNOLD (Hg), Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden (=text + kritik Sonderband IX). München 2001, S. 92-104. – Die Ineinssetzung von Jugend und Nation sowie die Figur des „heroischen Lausbubs“ im italienischen Faschismus untersucht L. MALVANO, Jugendmythos im Bild. Der italienische Faschismus. In: G. LEVI / J.-C. SCHMITT (Hgg.), Geschichte der Jugend. Bd. II: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart.. Frankfurt/M. 1997, S. 309-342, hier S. 333. Die Realität des mittelalterlichen Schullebens, das zahlreiche Schüleraufstände kannte, beschreibt P. ARIÈS, Geschichte der Kindheit, S. 440 ff.

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Man nannte ihn „Pinscher“. Aber als Paul Hense, ein runder Feinschmecker, genannt Weinsuppe, weil er einmal selbstgefällig bemerkt hatte: „Heute haben wir Weinsuppe gehabt, das schmeckte fein!“, einmal, zur Rede gestellt, etwas über halblaut gemeint hatte: „Verdammter Pinscher!“, da hatte er ein Lineal genommen, sich das wohlgerundete Gesäß des ahnungslosen Paul zurechtgelegt und es fröhlich bearbeitet, dass Paul [...] zurückhinkte und sich so vorsichtig auf die Bank niederließ, wie er’s nun hoffentlich bei seiner Richterbank macht. (1, 233 f.)

Eine andere Episode erzählt von „Rave“, der „Feuer und Flamme“ für „Heimatkunde und Naturwissenschaft“ ist: [E]inmal hatten sich die Jungen bei ihrem Sinn für gefahrlose Allotria, mit ihrer infamen, recht für künftige Philister sprechenden Verhöhnung argloser Begeisterung verrechnet – einmal sah Rave auf, sein lebhaftes Auge fiel auf einen albernen Lacher – eins, zwei, drei über die Bänke und dem im besten Treiben überrumpelten einen Streich mit dem derben Gehstock, [...] lang wie ein Kris, über den Rücken, dass der Getroffene sich wand und nach hinten bog, als sei sein Rücken entzwei. Das war unpädagogisch, aber half (1, 236).

Mit „Weinsuppe“ und dem „albernen Lacher“ wird ein Schülertypus denunziert, gegen den sich der aufmüpfige Pubertierende mit dem „fröhlich“ drauflosprügelnden Lehrer verbünden kann. In beiden Szenen treten „unpädagogisch[e]“ Autoritäten, die sich durch Humor, Heimatliebe und ‚arglose’ Begeisterung auszeichnen, Zöglingen gegenüber, in denen sich mangelhafte Eingliederung in die pädagogische Institution mit Außenseitertum innerhalb der Schülergemeinschaft paart – „Weinsuppe“ verkörpert bourgeoise Selbstgefälligkeit und Sattheit, der „Lacher“ die kindlich-unheroische Vorliebe für „gefahrlose Allotria“. Beide werden als „Philister“ karikiert, die schon im Knabenalter als Spießbürger in spe (auf der „Richterbank“) erscheinen. In beiden Episoden verschmilzt der Hass auf den Spießer mit der Idolatrie für den ‚guten’ Lehrer, der seine Schülernähe durch Misshandlung von Clowns und Außenseitern beweist. Die Attribute des Rechts auf Prügel – Lineal und Stock – werden eingesetzt, um jenen, die durch Albernheit und Wohlgenährtheit an das Glücksversprechen kindlicher Regression und ökonomischer Sorglosigkeit erinnern, das Rückgrat zu brechen. Im Hass gegen sie konvergieren Autoritätssucht des Lehrers und Ranküne des Pennälers. Seiner antiphiliströsen, gegen die Enge pädagogischer Normen gerichteten Intention zum Trotz solidarisiert sich der Pennäler nicht mit dem ‚gefahrlosen’ Gelächter des Spitzbuben, dessen ‚Allotria’ von der disziplinarischen Strenge entlasten sollen, sondern mit dem schadenfrohen Gelächter über den Normverletzer und perpetu-

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iert so die auf Ausgrenzung zielende ‚Lachpolitik’ der bürgerlichen Pädagogik.41 Die Kritik an den rigiden Hierarchien und am abstrakten Bildungsbegriff der bürgerlichen Schule bleibt – in einer für die zeitgenössische Pädagogikkritik durchaus typischen Weise42 – verfilzt mit heimlicher Sympathie für Misshandlung und Dressur. Ausdrücklich dankt Hille den „tüchtigen, männlichen“ Lehrern, „die unsere Jugend förderten“, welche als harmonische Einheit von Kindheit und Soldatentum gedacht ist: „Scharf und spähend, unnachsichtig für das Lächerliche ist der Jägergeist der unterwiesenen Jugend.“ (1, 244) Die Jugend figuriert in Perversion von Mühsams immerhin noch libertär gemeintem Kameradschaftsideal als autoritäre Jagdgemeinschaft, die die mimetischen Impulse des Lachens und Weinens „unnachsichtig“ aus dem Selbst ihrer Mitglieder zu tilgen und ihr Terrain gegen „Schädlinge“ zu verteidigen sucht, „denen die begriffsdurchrasselte Klasse alles“ ist: „Sie hätten an solcher Stelle, wo Jugend vorbeikam, überhaupt nicht stehn sollen.“ (1, 243). In der Idealisierung puerilen Jagdeifers und der Verachtung bourgeoisen Parasitentums übt die Jugend jenen autoritären Charakter ein, als dessen Gegenbild sie eingesetzt ist. Nolens volens kommt in ihr der von Ariès beschriebene Sozialtypus des jugendbündischen „Rekruten“ zu sich selbst, der sich als lebensreformerisches Leitbild „prachtvolle[r] Jugend“ etabliert, während die „Ambiguität der Pubertät“, die keine bruchlose Identifikation mit dem ‚männlichen’ Jünglingsideal erlaubt, aus der Alltagserfahrung, aber auch aus der ästhetischen Bilderwelt verdrängt wird.43 Diese Komplizenschaft des Jugendkults mit Autoritarismus und Geistesfeindlichkeit wurde von einigen Exponenten der Jugendbewegung schon früh benannt. Nicht zufällig verwahrt sich gerade Landauer, der noch 1911 in Hille’schem Ton die „Genialität der Jugend“ gegen das „Spülwasser des schalen Philistersinns“ ausspielt und die Notwendigkeit von „Knabenhaftigkeit und Büberei“ für eine lebendige Öffentlichkeit 41

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Die Dichotomie von ‚nichtpädagogischem’ und ‚pädagogischem’ Lachen in der bürgerlichen Kinderliteratur analysiert R. STEINLEIN, Kinderliteratur und Lachkultur. Literarhistorische und theoretische Anmerkungen zu Komik und Lachen im Kinderbuch. In: H.-H. EWERS (Hg.), Komik im Kinderbuch. Erscheinungsformen des Komischen in der Kinder- und Jugendliteratur. Weinheim, München 1992, S. 11-32. Gerade Ellen Keys Schrift Das Jahrhundert des Kindes von 1902, die scharfe Kritik an körperlicher Züchtigung übt, ist durchzogen von manipulativen Empfehlungen, die darauf abzielen, den „absoluten Gehorsam“ des Kindes nicht durch Prügel, sondern durch effizientere Strategien pädagogischer Dressur zu erreichen: „[W]enn die Mutter z. B. das Kind schlägt, weil es das Licht anrührt, so rührt es das Licht eben an, wenn die Mutter draußen ist; aber man lasse es sich am Licht verbrennen – dann lässt es dasselbe gewiss in Ruhe.“ (E. KEY, Das Jahrhundert des Kindes. Studien, hg. von Ulrich Herrmann. Weinheim, Basel 1992, S. 87 f.). Kinder sollen lernen, „freiwillig zu gehorchen“, weil „auch wir Erwachsenen [...] uns dem Unausweichlichen beugen müssen“ (S. 107 f.). P. ARIÈS, Geschichte der Kindheit, hier S. 87.

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betont,44 gegen deren Heroisierung, indem er darauf beharrt, dass es für „Gesundheit und Krankheit [...] Verantwortliche“ gebe, diese also nicht zu verabsolutieren seien.45 Seine Warnung vor „Scheinreife“ und „jugendlose[r] Jugend“46 ähnelt Benjamins Kritik an der „Burschenherrlichkeit“ der Jugendbewegung, in der die Besessenheit von der Idee, seine Jugend zu „genießen“, zum „Paktieren mit dem unvermeidlichen Philistertum“ führe.47 Ganz im Geiste solcher Heteronomisierung steht indes Hilles nur scheinbar emanzipatorische Forderung, das Kind möge zum „Kundschafter“ der „ratlose[n] Menschheit“ gemacht werden: „Wie die Brieftauben müssen wir die Kinder auffliegen lassen.“ (1, 273) Fungieren hier die Kinder als Boten im Dienst einer ‚ratlosen’ Menschheit, wird diese Konstellation in dem kleinen Poem „Kind“ mit den Worten begründet: „Süßer Schwindel schlägt hinüber, / Heiße Blicke gehen über,/ [...] / Unserer Liebe starke Wonnen / Sammelt ein als frohe Sonnen / In die Himmel seiner Augen / Unser Kind“ (1, 57). Die Erfahrungen von Rausch und Dissoziation (‚süßer’ Schwindel, ‚starke’ Wonnen), die das Wir zu überfluten drohen, sollen in den „Augen“ des Kindes wie „frohe Sonnen“ eingesammelt, mithin in eine neue, quasi-göttliche Ordnung gebannt werden, in der sich das vom Zerfall bedrohte Wir reflektieren und zu sich selbst kommen kann. Die Kinderaugen, die als Brennpunkt von Lust und Wonne imaginiert werden, erweisen sich als Spiegel, der die Zerfallserfahrungen des Wir symbolisch aufheben soll. Diese von Hille wohl kaum beabsichtigte, aber doch von den Texten vollzogene Heteronomisierung der Kindheit zur symbolischen Versöhnung ‚erwachsener’ Konflikte wird vollends evident, wenn Hille das Desiderat kindlicher Autonomie mit der Forderung konkretisiert, Pädagogik müsse dafür Sorge tragen, „dass der Mensch später der Natur nicht so ungeschickt [...] gegenüberstehe, dass schon im Kinde die junge Hausfrau, der junge Gewerbetreibende sich rege“ (5, 229). Wie die Jugend laut Benjamin von der Jugendbewegung zum Komplement des bürgerlichen Erwachsenendaseins degradiert wird, erscheinen Kinder bei Hille als Mittel zur seelischen Aufrüstung einer ‚ratlosen’ Menschheit. Das Kind ist, als Hausfrau oder Kaufmann en miniature, virtuell identisch mit dem auf patriarchale Geschlechterteilung, Triebkontrolle und Naturbeherrschung eingeschworenen bürgerlichen Individuum. Benjamins Interesse für Kindheit und kindliche Ästhetik verdankte sich der Erkenntnis, dass die subversiven Potentiale kindlicher Produktivität von der Jugendbewegung durch eine Mischung aus Infanti-

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G. LANDAUER, Selbstmord der Jugend. In: ders., Der werdende Mensch, S. 68-72, hier S. 69 und S. 72. Ebd., S. 68. Ebd., S. 71. W. BENJAMIN, Das Leben der Studenten. In: ders., GS II.1, S. 75-87, hier S. 85.

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lität und Scheinautonomie verraten worden seien.48 Hilles KindheitsImaginationen bleiben indes einem Ideal kindlicher Unschuld verhaftet, das mit den bürgerlichen Forderungen von Lebenstüchtigkeit und Zähigkeit vereinbar sein soll. Das ‚Kind’ verkörpert ebenjenes bürgerliche Selbst, gegen dessen Realität es als utopisches Bild beschworen wird. Dieser unaufgelöste Widerspruch schlägt sich nieder in zwei geschlechterspezifisch komplementären Kindheitsbildern: Dem Pennäler, dessen ‚Lebenstüchtigkeit’ mit Autoritätssucht und Aggressivität erkauft ist, steht die als tot und weiblich imaginierte ‚schöne’ Unschuld gegenüber.

c) Das ‚schöne’ Kind Eine Vielzahl ‚schöner’ Kinderimagines begegnet in Hilles wohl meist um 1900 entstandenen ‚Kinderskizzen’.49 Als Bild der Dialektik von Entlebendigung und Erotisierung, die bei Hille Voraussetzung für den Genuss kindlicher Schönheit ist, fungiert der Schlaf. Exemplarisch lässt sich der Konnex von Erotisierungs- und Todesphantasien an der Skizze „Schlummernde Schwestern“ aufzeigen. Nach einer Exposition, die den Alltag von „Schularbeiten“, „Greinen und Anklagen“ beschreibt (4, 25), erzählt das Ich von einer eigentümlichen Erfahrung bei der Betrachtung zweier schlafender Kinder: Da liegen sie auf dem Sopha. Aber nun – nichts – kein Athemzug und kein Schnarchen trotz des offenen Mäulchens des Pussels Mathilde. Und doch atmen die zarten, lebensheftigen Leiber in leisen, Rührung weckenden Rhythmen. Das schlafende Leben ist ein Geheimniß, das man nicht stören mag. Ich wenigstens habe eine solche Ehrfurcht vor Schlummer, ich vermags nicht über mich, daraus zu wecken. Und so setze ich mich denn QUA Schutzengel auf die Sophalehne, sah mit Beobachtungsfreude die heftigrothen Wangen und scheuchte die Fliegen, die sich angelockt von der mit feinsten Schweißtropfen feuchten Duftregung der Haut, auf Arm und Nacken hartnäckig, fast klebsam niederließen. [...] Ein Regen, ein Stammeln geisterhafter Worte, [...] ein Hineinruf in diese vermeintliche Ritze des Schlummers fand indes keine Öffnungen. 48

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Über Benjamins Abkehr von der ‚Jugend’ hin zur ‚Kindheit’ vgl. den Beitrag von G. SCHIAVONI, Von der Jugend zur Kindheit. Zu Benjamins Fragmenten einer proletarischen Pädagogik. In: B. LINDNER (Hg.), Walter Benjamin im Kontext. Frankfurt/M. 1978, S. 30-64. Dieser Titel wird vom Herausgeber der Werkausgabe für eine Reihe motivähnlicher Prosaminiaturen verwendet, bezeichnet also keinen homogenen Textkorpus.

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Einzig schön die Gruppe, wie sie dalagen auf dem Sopha. Man hätte sich eine Kunst gewünscht, die Alles das fassen konnte! So eine lange, bläulich grün gestreifte Gewandung [...] hüllte wie ein Geniengewand ein die kniend gegen die Sofalehne angezogenen Füße der [...] Ruhenden. Hier das blonde, weiche Haar, dort das Bronzelockengestrudel, hier die schüchterne Seelengestalt der Kindheit, dort die geschlechtslos abgeschlossene Weibesgestalt des Kindes vor Durchbruch der Reife. Durch die herabgelassenen Vorhänge fiel ein reichgelber, treibhausüppiger Schein. Ein Glas mit welkendem Blumestrauß! (II, 407 f.)

Die enigmatische Szene, die eine Untersuchung von Hilles Affinitäten zu ‚schwarzen’ Romantikern wie Byron oder Swinburne nahelegt,50 oszilliert zwischen zwei Ebenen der Wahrnehmung von Kindheit, welche im Bild des ‚Schlummers’ versöhnt werden sollen: Dem „schlafende[n] Leben“, vor dem „Ehrfurcht“ geboten scheint und dessen Schönheit eine der Kindheit innewohnende, unveräußerliche Autonomie spiegeln soll, steht die Faszination durch die „lebensheftigen Leiber“ gegenüber, die offensichtlich mehr und anderes als nur „Rührung“ wecken. Die erotische und die bewusstlosverletzliche Dimension der Imago des schlafenden Kindes werden jedoch nicht als zwei Facetten derselben ‚erwachsenen’ Perspektive reflektiert. Vielmehr ist die Abspaltung und Perhorreszierung der sich an den Kinderleib heftenden erotischen Phantasien Voraussetzung für den Genuss von dessen Schönheit. Zweimal muss sich das Ich, das sich nicht als begehrendes Subjekt, sondern als „Schutzengel“ inszeniert, zur Ordnung rufen, um mit der Idealisierung des „schlafende[n] Leben[s]“, das man „nicht stören“ soll, und mit der Betonung seiner „Ehrfurcht vor Schlummer“ die Distanz aufrechtzuerhalten, die die genussvolle Betrachtung des kindlichen Körpers sanktioniert. Sein Voyeurismus richtet sich dabei auf „die heftigroten Wangen“, die „angezogenen Füße“ und das „weiche Haar“, verdrängt also die transgressive Erotik der „Schweißtropfen“ und „Duftregung[en]“ durch fetischistische Ästhetisierung einzelner Körperteile. Um das Ideal einer sich im Schlaf offenbarenden ‚Unschuld’ zu wahren, muss das Kind zum ästhetischen Bild transformiert werden, von dem „kein Atemzug“ ans Ohr dringt und auf dessen „geisterhafte Worte“ keine Antworten durch die „Öffnungen“ des Leibes finden: Kommunikationslosigkeit und Opazität des kindlichen Körpers ermöglichen allererst den Genuss von dessen Schönheit. Die Verschleierungs- und Kleidungsmoti50

Hille hat zahlreiche Essays und Gedichte zu Exponenten einer ‚satanischen’ Romantik wie Byron, Swinburne und Przybyszewski geschrieben, deren poetologischer Stellenwert bisher nicht ausgelotet ist. Vgl. R. BERNHARDT, Im Banne von Sexualität und Satanismus. Peter Hilles Freundschaft mit Stanislaw Przybyszewski. In: Studia niemcoznawcze 27 (2004), S. 313-357.

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vik – das „Geniengewand“, die „herabgelassenen Vorhänge“ – betont den distanzierten Blick, der Erotik nur sublimiert durchscheinen lässt. Wie die für den Betrachter undurchdringlichen ‚Öffnungen’ des kindlichen Körpers repräsentiert die Schleiermetaphorik die von sexueller „Reife“ bedrohte ‚Unberührtheit’, die im ästhetischen Bild sistiert werden soll. Die Figur des schlafenden Kindes wird so zum Kunstwerk, seine von somatischen Begehrlichkeiten scheinbar gereinigte Betrachtung zur ästhetischen Anschauung geläutert. Dadurch rückt es in die Nähe zur Figuration der ‚schönen’ Frauenleiche, wie sie für Romantik und Ästhetizismus als Konstitutionsmedium des Ästhetischen qua Mortifikation ‚weiblichen’ Lebens besonders charakteristisch ist.51 Die Transformation kindlicher Körperlichkeit in eine sublimierte Schönheitserfahrung wird als Konstitutionsakt des Ästhetischen begriffen, wenn das Ich sich angesichts der „schöne[n][...] Gruppe“ – die Kinder figurieren gleichsam als tableau vivant – eine „Kunst“ wünscht, die „alles das fassen konnte“: Der im vergänglichen Zustand der Unschuld erstarrte, virtuell tote und eben deshalb ‚reine’ kindliche Leib ist privilegierter Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung. Die Bilder von Tod und Verfall, die den gesamten Text durchziehen, reflektieren demgegenüber die Kehrseite dieses Schönheitsideals, das die Bewahrung kindlicher Unschuld nur als Abtötung ‚erwachenden’ Lebens zu denken vermag. Nicht nur reinszeniert Hilles Text die Ikonographie literarischer Totenbett-Szenen, die sich um das Sterben tugendhafter Frauen ranken, welche durch einen ‚guten Tod’ „in den Himmel versetzt“ werden, um „ihre sexuelle Reinheit zu gewährleisten“;52 auch die Pflanzenmotivik (das Treibhausmotiv, der „welkende“ Blumenstrauß) exponiert Natur als zum Dekor erstarrte nature morte. Die erotisch-triebhafte Komponente der „Beobachtungsfreude“ kehrt dagegen als ekelbehaftetes Todesbild wieder: Die „Fliegen“, die der Betrachter von den Wangen des Kindes verjagt, repräsentieren das ‚klebrige’, auf Überwindung ästhetischer Distanz zielende Begehren, das nur als Bild körperlichen Verfalls zugelassen werden kann. Wie in der erwachenden Sexualität artikuliert sich im körperlichen Verfall die Unverfügbarkeit des Kreatürlichen, die durch das ästhetische Bild des ‚schlafenden Lebens’ vor „Durchbruch der Reife“ neutralisiert werden soll. Um die geschlechtertypologischen Implikationen dieser ‚schönen’ Kinderbilder zu erschließen, ist es nützlich, sie in Beziehung zur Ikonographie der 51

52

Siehe hierzu, ausgehend von Poe und mit Bezug auf Rousseau, Richardson, Hawthorne u. a., E. BRONFEN, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München 1996, S. 89 ff. Zu diesem Begriff des ‚guten Todes’ vgl. E. BRONFEN, Nur über ihre Leiche, S. 114 ff., hier S. 137. Bronfen benennt den Zusammenhang zwischen den Imagines der ‚schönen Toten’ und des ‚schönen Kindes’ zumindest indirekt, indem sie bemerkt: „Der Tod ist kodiert [...] als Verwandlung des Körpers in eine entmaterialisierte Form, die das jungfräuliche Mädchen auf ewig konserviert.“ (ebd.; Hervorhebung M. K.)

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Femme Enfant zu setzen, die durch die Ambivalenz von sexueller Unschuld und Gerissenheit geprägt ist.53 Während die Kindfrau die erotischen Phantasien, die ihre Kindlichkeit auslöst, gegen die Männer instrumentalisiert und nur so lange „handlungsgelähmt“ erscheint, „bis der Appell, ‚ihn’ zu verführen“ in ihr keimt,54 also in ihrer Passivität doch auf dämonische Weise aktiv ist, bleibt das dämonisch-erotische Moment des Kindlichen bei Hille ganz im Bewusstsein des Betrachters verkapselt; die Kindfiguren selbst sind passiv und opak. Die von der Femme Enfant repräsentierte Gefahr einer aktiven Transgression der Grenze zwischen kindlicher und erwachsener Weiblichkeit55 soll in Hilles Bildern des ‚reinen’ Kindes mithin gerade abgewehrt werden. Evident wird dies am prominenten Topos des „Odor feminae“, dem verführerischen Geruch der Femme Enfant, in dem sich die Diffusion zwischen „subjektiver Wahrnehmung“ und „objektiver Bestimmung“ der Gestalt artikuliert.56 Die „Duftregung“ des Kindes zieht bei Hille nur die Fliegen an, die als Inkarnation der verpönten erotischen Impulse vom Ich verscheucht werden. Hilles Inszenierungen des ‚reinen’ Kindes sollen also die Gefahr eines Hinübergleitens in die Ikonographie der Kindfrau gerade unterbinden, schlagen aber eben deshalb aus eigener Dynamik heraus immer wieder in dämonischsexualisierte Bilder um. In der Skizze „Verschlummert“, in der ein schlafender Wanderer von einer jungen Prinzessin entdeckt wird, steht der Schlaf des Mannes in Verbindung mit der Purifikation der weiblichen Figur, deren Unschuld im Übergang zwischen ‚Kind’ und ‚Mädchen’ vom Anblick des männlichen Körpers bedroht zu sein scheint: Da – das war nicht mehr die kindliche Allfreude, das war das Mädchenstaunen, verwirrte Röte war darin. [...] Diese warme Brust, die unter dem offenen weissen Hemde in arglosem Leben sich hob und senkte, diese blitzenden Zähne, diese Augen, die nun unter warmen Lidern sich neue Klarheit aus tiefem Schlummer sogen. Wie sie stutzte! Dann eilte sie zur Wiese, pflückte einen Strauss und legte ihn auf seine steigende Brust. [...] Und als der Bursche erwachte: konnte er nicht wachgeblieben sein, dass er zum mindesten das Glück gewahrt hätte, das ihn im Vorübergehen gegrüsst! 53

54

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Vgl. A. BRAMBERGER, Die Kindfrau. Lust – Provokation – Spiel. München 2000. Bramberger beschränkt sich auf einen groben typologischen Abriss und bietet kaum Anknüpfungspunkte für eine poetologische und sozialgeschichtliche Situierung der Figur. Ebd., S. 33. – Über die Kindfrau als Mischfigur von Femme Fragile und Femme Fatale ebd., S. 101 ff. Ebd., S. 133 ff. Zu diesem Topos ebd., S. 156 ff., hier S. 156.

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Dann hätt’ auch er es gegrüsst und geworben. Doch nun – verschlummert! Prinzess aber ging nie mehr Blumen pflücken. (II, 593)

Obgleich sich das Mädchen in der Position des aktiven Betrachters befindet, dient das Schlafmotiv ihrer eigenen ‚Reinhaltung’. Die „warme Brust“, die „blitzenden Zähne“ und „warmen Lider“ des Wanderers, der im Gegensatz zum Tramp – der männlichen Komplementärfigur zur Femme Enfant57 – von der erotischen Attraktion des Kindes überhaupt nichts mitbekommt, verwandeln die intentionslose „kindliche Allfreude“ einen Augenblick lang in ein erotisch interessiertes „Mädchenstaunen“; die daraus resultierende Korruption kindlicher Unschuld artikuliert sich in der „verwirrte[n] Röte“ ihrer Wangen. Indem sie auf seine „steigende Brust“ einen Blumenstrauß legt, transformiert das Mädchen den Schlafenden jedoch wiederum sogleich in einen toten Körper – Toten legt man Blumen auf die Brust – und neutralisiert seine sexuelle Attraktion. Die Blumen als symbolische Gabe verleugnen und ersetzen gleichsam den eigenen ‚aufblühenden’ Mädchenleib, dessen sinnliche Präsenz nicht einmal „im Vorübergehen“ realisiert werden darf. In beiden Skizzen fungiert der Schlaf mithin nicht als Übergangsraum in eine Sphäre erotischer Wunscherfüllung, sondern dient deren Durchkreuzung. Die der Kindheits-Idolatrie inkommensurablen kindlichen Erfahrungen von Ohnmacht, Ich-Schwäche und kreatürlicher Sinnlichkeit, die der Pennäler durch Rituale soldatischer Selbstimmunisierung abzuwehren sucht, werden in der Figuration des ‚schönen’ Kindes durch Mortifikation in einem Bild kindlicher Reinheit sistiert. Während der Pennäler seine ‚Kindheit’ durch Virilitätsgesten konservieren möchte, die das Leben, das sie schützen sollen, durch Selbstabhärtung des Subjekts gleichsam erpressen und eben dadurch zerstören, setzt die Bewahrung kindlicher Schönheit deren Erstarrung zum Todesbild voraus. Beide KindheitsFigurationen zielen implizit auf die Abtötung von Leben und die Stillstellung von Entwicklung: Der Pennäler ist charakterisiert durch undialektische Verweigerung gegenüber ‚erwachsener’ Initiation und verwechselt Selbstbestimmung mit Selbstimmunisierung; das ‚schöne’ Kind erweist sich als Allegorie ruhiggestellten Lebens, die kindliche Unschuld nur als Neutralisierung und Verhinderung sexueller Reife fassen zu können scheint. Wie die ‚gelungene’ bürgerliche Sozialisation nicht mehr anders denn als Verrat am utopischen Potential der Kindheit gedacht werden kann, erscheinen die sanktionierten Formen sexueller Reife als unvereinbar mit der Imago kindlicher Schönheit und müssen verdrängt werden. Dadurch verkehren sich die Figurationen des ‚lebenstüchtigen’ Kindes und der ‚schönen’ Unschuld zu Bildern von Selbst-

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Siehe A. BRAMBERGER, Die Kindfrau, S. 33 ff., sowie die Beispiele bei G. STEIN, Bohemien – Tramp – Sponti.

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abhärtung und Mortifikation. Sie geraten zur Wiederholung des Zustandes, den sie kritisieren, und bezeugen so dessen Verhärtung. In einem einzigen Text hat Hille die Abgründigkeit seiner KindheitsIdolatrie, wie sie hier in ihren pädagogischen und ästhetischen Implikationen skizziert wurde, explizit thematisiert: Die Prosaskizze „Die Stadt von Glas“ entwirft, durch märchenhaft-werbenden Tonfall eher schwach kaschiert, ein panoptisches Szenario pädagogischer Disziplinierung: Ich kam mal in eine blinkende Stadt. Die war ganz von Glas. Und diese blinkende Stadt hatte lauter artige Kinder. Das kam so: Wenn ein Kind schrie [...], dann sah das Glas gleich ganz böse aus, das in der Stube war. So braun wie ein Bär. Und zankten sich die Kinder, so lief das ganze Haus von oben bis unten sofort an [...], halb blau und halb rot. [...] Nun wars ja in der ersten Zeit auch in dieser schönen, blinkenden Stadt wohl vorgekommen, dass Mutter die Zuckerdose nicht gleich weggestellt hatte. Und dann wusste kein Mensch, wo die Zuckerstücke geblieben waren [...]: die Frieda nicht und der kleine Erich erst recht nicht. Als dann aber das ganze Haus von oben bis unten hin schwarz wurde wie die Nacht und diese Nacht sich über die ganze Stadt ausbreitete, [...] da wusste gleich die ganze Stadt: hier war schrecklich gelogen. Da nun die Kinder es bald heraus hatten, dass nichts Böses hier verborgen bleiben konnte, wurden sie bald alle gut [...]. Und mitten in der Stadt, da war ein hoher Turm und ganz von Glas. Da waren alle schönen Farben in den Wänden, [...] durch die besah man erst die Gegend, und dann zuletzt ging die Sonne unter. Das sah man dann wieder durch das klare Glas. Ich meine gehört zu haben, dass in dieser Stadt von Glas noch einige Häuser zu haben sind. Hättet ihr wohl Lust, mit euern Eltern dort hinzuziehen? (4, 29 f.)

In frappierender Vorwegnahme architektonischer Überwachungsphantasien, wie sie, ebenfalls mit utopischen Vorzeichen, Paul Scheerbart in seiner 1914 publizierten Schrift Glasarchitektur entwerfen sollte, aber auch in Anknüpfung an den seit Platon tradierten Topos der ‚transparenten Stadt’ als Inkarnation Gerechtigkeit, wird hier eine Pädagogik permanenter unpersönlicher Observation propagiert.58 Im Gegensatz zum „Panopticon“, das Michel Foucault 58

Vgl. P. SCHEERBART, Glasarchitektur. Mit einem Nachwort von Wolfgang Pehnt. München 1971, sowie den hellsichtigen Aufsatz von E. OSTERKAMP, Die Gegenwärtigkeit von Paul Scheerbarts Gegenwelten. In: Sprache im technischen Zeitalter 62 (1977), S. 110-126. – Zum Motiv der ‚transparenten Stadt’ siehe J. MANTHEY, Wenn

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anhand des Gefängnissystems im 18. und 19. Jahrhundert als typisch für die Disziplinarstrategien der bürgerlichen Gesellschaft analysiert hat,59 ist in Hilles Szenario für die Internalisierung der ‚erwachsenen’ Logik von Schuld und Scham nicht einmal mehr die Vorstellung eines personalen Betrachters nötig. Während die Verinnerlichung des bürgerlichen Pflichten- und Wertekanons im Modell des Panopticons Resultat der beharrlichen Angst vor einer möglichen, aber unerkennbaren Überwachung ist – die Macht muss, wie Foucault es formuliert, in Gestalt des zentralen Überwachungsturms „sichtbar, aber uneinsehbar sein“60 –, übernimmt bei Hille das Glas als Medium allumfassender Transparenz die Funktion des verborgenen Beobachters. Indem es die gesellschaftlich erwarteten Reaktionen der Kinder auf ‚moralische’ Fehler ausagiert, also „rot“ vor Scham oder „schwarz“ vor Lüge wird, macht es sich zum Spiegel ihrer inneren Verfehlungen, die für „die ganze Stadt“ sichtbar werden. Die „blinkende Stadt“ mit ihren „artige[n] Kindern“, die der Intention nach auf eine von personalen Herrschaftsverhältnissen gereinigte, ‚sanfte’ Alternative zur bürgerlichen Erziehung zielt und zu dem auch von Ellen Key genutzten Genre der pädagogischen Utopie gerechnet werden kann,61 erweist sich nolens volens als Sinnbild omnipräsenter Denunziation. Zugleich ist sie als Medium reflektierten Scheins Allegorie des Ästhetischen: Der „Turm“ in ihrer Mitte mit seinen „schönen Farben“ und seinem „klare[n] Glas“ ist Signum einer pädagogisch und ästhetisch ruhiggestellten Welt, in der „nichts Böses [...] verborgen bleiben“ kann, weil jede moralische Verfehlung sofort auch als sinnliche Dissonanz wahrnehmbar wird. Der Überwachungsturm in der Mitte des Panopticons, der als demokratische „Sehmaschine“ potentiell jeden als Wächter einsetzen könnte und das Prinzip der Überwachung „im Gesellschaftskörper zu einer verallgemeinerten Funktion“ werden lässt,62 wird

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Blicke zeugen könnten. Eine psychohistorische Studie über das Sehen in Literatur und Philosophie. München, Wien 1983, S. 287 ff. M. FOUCAULT, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M. 1976; zu Benthams „Panopticon“ S. 251 ff. Ebd., S. 258. – Foucault bezeichnet die panoptische Konstruktion als „eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen / Gesehenwerden: im Außenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen; im Zentralturm sieht man alles, ohne je gesehen zu werden“ (S. 259). Die „Träume von einer Zukunftsschule“, die Key in ihrer Studie skizziert, zielen erklärtermaßen auf kein konkretes „Reformprogramm für die Gegenwart“, sondern auf die Utopie einer von äußerlichem Gewaltverzicht geprägten, jedoch vollständig durchpädagogisierten Gesellschaft. Vgl. E. KEY, Das Jahrhundert des Kindes, S. 163 ff., Zitat S. 164. Vgl. M. FOUCAULT, Überwachen und Strafen, Zitat S. 266 f. – Foucault nennt das Panopticon in diesem Zusammenhang einen „Glaspalast, in dem die Ausübung der Macht von der gesamten Gesellschaft durchschaut und kontrolliert werden kann“ (S. 267; Hervorhebung M. K.).

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gleichsam ästhetisch verniedlicht und in eine Inkarnation trügerischen Friedens transformiert. Das Farbenspiel der Wände, mit dem die Stadt prompt auf kindliche ‚Unartigkeiten’ antwortet, repräsentiert demgegenüber eine Ästhetik des Grellen, Bizarren, die als Mittel der Disziplinierung im Namen des Ideals stillgestellter Schönheit funktionalisiert wird. Insofern sind in Hilles Modell der gläsernen Stadt die brutalen und ‚besänftigten’ Aspekte seines Kindheitsideals zusammengedacht, die in den Figuren des Pennälers und der zum Bild erstarrten kindlichen Schönheit scheinbar einander entgegengesetzt werden. Die Abgründigkeit seiner Utopie artikuliert sich dennoch im Widerspruch zwischen Diktion und Gehalt: Der Text beginnt wie ein Märchen, bedient sich polarer Strukturen (‚artig’ – ‚böse’), läuft auf einen stereotypharmonisierenden Schluss zu („Da [...] wurden sie bald alle gut“) und endet mit der ostentativ didaktischen Frage, ob das kindliche Publikum denn „Lust“ habe, „dort hinzuziehen“. Gerade diese Frage gewinnt angesichts des offen repressiven Charakters der Utopie jedoch eine zynische Dimension, so dass sich die Skizze, wohl entgegen Hilles Absicht, auch als Parodie auf die verleugnete Brutalität der zeitgenössischen ‚sanften’ Pädagogik deuten lässt, in der sich die bürgerliche Allianz von Unschulds-Idolatrie und pädagogischer Züchtigung unter der Hand fortschreibt.63 Der Hilles Werk prägende Konflikt zwischen emanzipatorischem Anspruch und verdrängter Autoritätssehnsucht schlägt so wider Willen besonders in diesem Text durch, der wegen seiner unausgetragenen Aporien als einer seiner interessantesten gelten kann.

d) Strategien der Petrifizierung: Nonsense, Dinglyrik, Felsmetaphorik Die Ästhetik des Bizarren, wie sie in „Die Stadt von Glas“ durch das gerade nicht freie, sondern der pädagogischen Abrichtung dienende Farbenspiel der Wände repräsentiert wird, korrespondiert von ihrer Funktion her mit der in Hilles Œuvre immer wieder hervorbrechenden Neigung zu infantiler Komik. Diese Tendenz zum Infantilen, von der Forschung bislang nicht bemerkt, gewinnt – anders als etwa in Mauthners Komikverständnis – keine Autonomie im Sinne einer Freisetzung nicht-signifikativer Impulse, sondern dient der 63

Gerade die Fetischisierung kindlicher ‚Unschuld’ befördert laut Ariès eine Pädagogik, die das Kind mit repressiven Mitteln „vor den schmutzigen Erscheinungen des Lebens zu bewahren“ sucht. P. ARIÈS, Geschichte der Kindheit, S. 175 ff., hier S. 198. – Katharina Rutschkys Kompendium zur „Schwarzen Pädagogik“, die noch immer reichhaltigste und instruktivste Sammlung der Gewaltphantasien und –praktiken bürgerlicher Erziehungstechnologen, endet um 1900 und umgeht so die Frage, inwieweit die lebensreformerische Pädagogikkritik eher auf eine Verfeinerung erprobter Machtstrategien als auf deren Infragestellung zielt. K. RUTSCHKY (Hg.), Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Frankfurt/M., Berlin 1988.

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Immunisierung gegen die kreatürlichen, ‚unmännlichen’ Aspekte kindlicher Erfahrung.64 Insofern handelt es sich im Wortsinn um Pennäler-Humor: Durch die Neigung zum „regressiven Kommunikationsspiel“ der Blödelei, das „‚erwachsene’ Erwartungen“ an den Kodex komischer Gegenstände, Situationen und Verhaltensweisen suspendiert,65 panzert sich das Subjekt gegen die Zwänge der bürgerlichen Sozialisation, wie die diskursive Sprache sie repräsentiert, immunisiert sich aber auch im Beharren auf das eigene, regredierte Selbst gegen jede Auseinandersetzung mit diesen Zwängen. Bevorzugtes Umfeld für die Entfaltung dieser Infantilität ist das Bohème-Milieu, ihr Leitbild ist der Trinker, in dessen Lallen sich die Worte im Namen einer von bürgerlichen Zwängen befreiten ‚Dummheit’ verselbständigen. In Hilles 1876 veröffentlichtem „Hymnus der Dummen“, wo die ‚Königlichkeit’ der Dummheit explizit thematisch ist, heißt es: Dummheit, erhabene Göttin, Unsre Patronin, Die auf goldenem Throne, Blöden, herrlichen Auges, Niedrig erhabener Stirne, Ein stumpfsinnig-hehres Lächeln Auf breitem, nichtssagendem Antlitz, Königlich sitzet: Sieh’ herab mit dem dümmsten Lächeln Auf deine treuen, Dir nach– Dummenden Kinder, Verjag aus dem Land, Die Dichter und Künstler und Denker, Unsre Verächter; 64

65

Theoretisch entfaltet hat Hille seine Konzeption des Komischen in den Essays „Die Literatur der Erkenntnis und der Humor“, „Amerikanischer Humor“ und „Aufgaben des Überbrettls“ (WL I, 32-50; WL II, 707-710; GW 5, 192-197), wo er einen besänftigenden Humor, der keine unlösbaren Widersprüche kennt, von der destruktiven ‚amerikanischen’ Nonsensekomik unterscheidet, die er lediglich als Mittel zur Austreibung von ‚Fehlern’ befürwortet. Siehe meinen Aufsatz: „Artikuliertes Lachen“, S. 83 ff. Am Rande erwähnt wird Hille bei A. LIEDE, Dichtung als Spiel. Bd. I, S. 326. – Übergangen wird diese Differenzierung in der insgesamt zu unkritischen Lesart von M. KIENECKER, „Der Humor ist der Modelleur der Welt“. „Humor“ als poetologische Kategorie bei Peter Hille. In: A. BARTL / A. MAGEN (Hgg.), Auf den Schultern des Anderen. Paderborn 2008, S. 113-132. D. WELLERSHOFF, Infantilismus als Revolte oder das ausgeschlagene Erbe – Zur Theorie des Blödelns. In: Das Komische, S. 335-357, hier S. 341. Zu Recht konstatiert Wellershoff eine Nähe infantiler Komik zu „den Subkulturen der Jugend“, konzediert aber, dass regressive Verhaltensweisen als „Durchgangsphasen der Sozialisation“ zunehmend integriert und ihres kritischen Potentials beraubt würden (S. 354 f.).

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Vernichte die Bücher, Gesangbuch und Messbuch verschonend: Und wir bringen ein Eselchen dir, [...] Und ein purpurnes Laken voll Disteln (I, 11)

Die zunächst naheliegende Deutung des Gedichts als (freilich ihrerseits recht flache) rollensprachliche Satire auf die „stumpfsinnig[e]“ und „nichtssagende“ Dummheit der Philister, die das freie Künstlertum verachten und sich an die Gemeinplätze von „Gesangbuch und Messbuch“ halten, wird nicht nur dadurch konterkariert, dass die Konstellation von Dummheit, Kindheit und Kritik am ‚Bücherwissen’ in Hilles übrigem Œuvre durchweg affirmativ verwendet wird. Auch die Ineinssetzung von ‚Blödigkeit’ und ‚Herrlichkeit’, ‚Niedrigkeit’ und ‚Erhabenheit’, die nicht nur als Kennzeichnung eines ‚engstirnigen’ Philistertums verstanden werden muss, sondern an die bohèmetypische Emphase des ‚Niedrigen’ erinnert, sowie die Evokation eines ‚königlichen’ Märtyrertums der Dummheit („ein purpurnes Laken voll Disteln“) legen nahe, dass das Gedicht die Tradition des Lobes der Dummheit als Gegeninstanz zum Rationalismus der Aufklärung aufgreift, indem es dem Kulturfetischismus der ‚Dichter und Denker’ die ‚dumme’ Sprache einer naiven, verachteten Frömmigkeit gegenüberstellt. Der Widerspruch zwischen den satirischen Implikationen des Gedichts und seiner Tendenz zur Gelehrten- und Kulturfeindschaft in der Tradition Rousseaus bleibt indes unaufgelöst und zeugt dadurch von der Hilles Werk prägenden Aporie zwischen antibürgerlicher Verve und kleinbürgerlicher Regressivität.66 Die Kritik an der philiströsen Kunst- und Geistesfeindschaft ist durchzogen von jenen ‚engstirnigen’ Affekten, die sie satirisch aufzuspießen scheint, und lässt sich im Sinne jener Dummheit interpretieren, die sie vermeintlich anprangert. Die regressiven Momente dieser Dummheit kommen ganz zu sich selbst in Hilles Trinkerpoemen. Exemplarisch heißt es in den „Liedern des betrunkenen Schuhus“: Was die Gelehrten reden, ist nur Kohl, denn eine taube Nuss ist ihr Symbol, wie diese ist ihr Schädel hohl, der Schweine Leder ihr Idol – der Weise weihet sich dem Alkohol. 66

Vgl. das Lob der „[w]eltanfassende[n] Dummheit“ in Hilles Gedicht „Vorfrühling“ (GW 1, 39 f.). Die Hinweise zur Entstehung des „Hymnus“, die Walter Gödden und Cornelia Ilbrig zusammentragen, legen nahe, dass Hille bis zum Schluss schwankte zwischen Identifikation und Abgrenzung gegenüber der gepriesenen Dummheit (W. GÖDDEN / C. ILBRIG, „Hymnus des Dummen“ / „Hymnus an die Dummheit“ – Zum Verhältnis von Formenstrenge und inhaltlicher Konkretion. In: Prophet und Prinzessin, S. 361-377, besonders S. 374).

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Bim, bim, bim, bim, bin bös, bin schlimm, kommen gelaufen und ärgern einen. Immer sind sie auf den Beinen, mag’s nun regnen, mag die Sonne scheinen, und das ist ein Gegröhle, ein Weihrauchgestänker, hol’ sie der Henker! [...] Nachts lassen sie mich hier in Ruh’, und wenn sie dann die Klöppel schwingen, die dröhnenden Dinger wie Donner singen, da seh’ ich zu und schlürf’ in langen Zügen aus allen meinen Krügen Kognak, Korn und Aquavit und habe mein Vergnügen. [...] Grgrgi, Der Teufel hole sie! (II, 738 f.)

„Schuhu“ ist nicht nur der Name einer zwielichtigen Eule, sondern auch ein häufiger Spitzname von Pennbrüdern und Vagabunden. Die negativen Konnotationen des Eulenbildes, das vor allem im Christentum eher Trägheit und Unglaube als Weisheit symbolisiert,67 werden durch die Selbstbezeichnung „Schuhu“ schlitzohrig als Gegenentwurf zur erbaulichen Frömmelei in Anspruch genommen. Bei Hille fungiert der Vogel denn auch als Allegorie des Bohemien, der unter dem Dach des pfäffischen Spießers dessen „Weihrauchgestänker“ zum Trotz seinem „Vergnügen“ nachgehen möchte. Das Gedicht ist somit zunächst eine Travestie auf spießbürgerliche Frömmigkeit: Aus der ‚ungläubigen’, atheistischen Perspektive des Schuhus erscheint der Kirchgang als sinnlose Hektik („Immer auf den Beinen“), der fromme Gesang als störendes „Gegröhle“, die Glocke als ‚dröhnendes Ding’ und das christliche Ritual als ‚Ärgernis’, dem er mit dem kecken Selbstbewusstsein des Deklassierten standhält. Insofern korrespondiert die parasitäre, aber optimistische Haltung des Schuhus mit der subalternen, aber spöttischen Attitüde des Bohemien gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft: Die Litanei christlicher Frömmigkeit wird mit dem Reim „Bim, bim, bim, bim, / Bin bös, bin schlimm“ als Wortge67

DEUTSCHES WÖRTERBUCH. Von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 9. Leipzig 1899, S. 1866; M. LURKER (Hg.), Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart 1991, S. 185 f. Einer der Galgenbrüder in Christian Morgensterns Galgenliedern wird ebenfalls „Schuhu“ genannt.

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klingel bloßgestellt. Zugleich spricht der Schuhu jedoch selbst aus der angemaßten Position desjenigen, dem die anonymen Anderen, die er mit kleinbürgerlicher Ranküne zum „Henker“ und „Teufel“ wünscht, durch ihre bloße Anwesenheit ‚Ärger’ bereiten. Die legitime Kritik an habitualisierter Frömmigkeit schlägt um in den seinerseits spießbürgerlich-autoritären Wunsch nach ‚Ruhe’ und unbehelligtem ‚Vergnügen’. Die onomatopoetischen Phrasen „Bim, bim“ und „Grgrgi“ sowie das Lob der Trunkenheit dienen nicht der Befreiung des Sprachmaterials vom Zwang diskursiver Logik und der Transzendierung des Subjekts im Modus des Rauschs, sondern der Selbstimmunisierung. Damit vollstrecken Hilles Trinkerpoeme ungewollt jene prekäre Dialektik des ‚Vergnügens’, die Adorno und Horkheimer mit Blick auf die Kommerzialisierung von Komik und Gelächter in der Kulturindustrie als Umschlag subversiv-hedonistischer ‚Lust’ in kleinbürgerlich-affirmative ‚Lustigkeit’ beschrieben haben: Das an die Zweckfreiheit von Nonsense und Spiel gemahnende „Vergnügen“ erstarrt zur „Langeweile“, und der „Hohn auf den Sinn“ verliert jene destruktive Verve, die ihm einst als bestimmte Negation scheinhaften Sinns zugekommen sein mag, um zum „Amusement“ zu werden, das sich durch „Feindschaft gegen das, was mehr wäre als es selbst“, auszeichnet.68 Insofern zementieren die Nonsense-Elemente bei Hille genau jene Pose aggressiver Selbstverhärtung, die bei Lasker-Schüler durch Nonsense Ulk aufgehoben werden soll: Die Blödeleien des Schuhus verhöhnen die Frömmigkeitsrituale des Bürgers nur, damit der Bohemien seine Fassade unbedingter Autonomie konservieren kann, die von derlei „Kohl“ untergraben zu werden droht. Sie dienen nicht der Sprengung, sondern der ‚antibürgerlichen’ Restitution des bürgerlichen Charakterpanzers. Dass diese Immunisierung trotz ihres infantilen Gestus ‚männlich’ konnotiert ist, erhellt nicht nur aus der Idealisierung viriler, abstumpfender Trunkenheit – Kognak, Korn und Aquavit sind ‚Männergetränke’69 –, sondern auch aus einem weiteren Gedicht des Schuhu-Zyklus, in dem es mit Rekurs auf die antike Eulensymbolik heißt: „Das waren noch Kerls, die alten Griechen, / Davor müssen die deutschen Jungen kriechen. / [...] / Die alten Griechen, die konnten noch was, / Ihre Weisen wohnten in einem Fass. / Ein Schuhu war ihnen der Weisheit Symbol.“ (II, 601). Der Bücherweisheit bürgerlicher Gelehrter wird eine ‚starke’, brachiale Weisheit entgegengesetzt, die in parodistischer Verkehrung der Symbolgeschichte nicht durch die ‚edle’ Eule, sondern durch das positiv aufgewertete Bild des ungläubigen Schuhus repräsentiert wird. Die Lobpreisung des ‚Griechischen’ bezieht sich denn auch weder auf das griechische Weisheitsideal noch auf den dionysischen Rausch, 68 69

T. W. ADORNO, GS 3: Dialektik der Aufklärung, hier S. 158 ff. Damit partizipiert Hille an der Tradition des Bier- und Studentenulks, dessen pragmatische Funktion schon immer zwischen spöttischer Kritik und Selbstimmunisierung schwankte. Vgl. A. LIEDE, Dichtung als Spiel. Bd. II, S. 44 ff., besonders S. 47 f.

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sondern auf den antiken Männlichkeitskult, der „Kerls“ hervorgebracht habe, angesichts deren Widerstandsfähigkeit deutsche Jungen als ‚Kriecher’ erscheinen. Das Wohnen im „Fass“ symbolisiert nicht die Suprematie des Geistigen über die Alltagsrealität, sondern Zähigkeit und Heroismus. In der Figur des Platonikers hat Hille die nach innen gewendete Misogynie dieses IchIdeals explizit in Szene gesetzt. Das Gedicht „Der platonische Erotiker“ beginnt: Was bedarf ich noch fürder des Weibes? Und so sittengefährlichen Zeugs? – Jo triumphe, und doch Zwing ich die Reize ins Joch. Denn ich suche die Spuren des Leibes, Das Nachtzeug, ich bieg es und beuge’s, Das Mieder, ich fühle mir’s an, So bin ich ein glücklicher Mann Jo triumphe, und keiner Wandelt unsträflich und reiner (1, 121)

Auch die folgenden Strophen feiern den Genuss der Spuren des weiblichen Körpers als gelungene Verdrängung realer Weiblichkeit, die als „sittengefährlich“ von der eigenen Person abgespalten wird. Während die Erfahrung des selbstbestimmten Kontakts mit dem weiblichen Körper – wohl nicht nur im bürgerlichen Verstande ein wichtiges Moment in der Entwicklung vom Kind zum Mann – buchstäblich als Straftat perhorresziert wird, verwandeln den platonischen Erotiker seine misogynen Exorzismen in ein ‚unsträfliches’ Subjekt. Das ‚Griechische’ als Signum antiker Weisheit und dionysischen Rauschs wird marginalisiert zugunsten eines Ideals des Griechischen, dem ein im Grunde eher ‚spartanisches’ Verständnis heroischer Virilität zugrunde liegt.70 Der brutale Charakter dieser Disziplinierungsleistung bleibt im masochistischen Stolz auf die ins „Joch“ gezwungenen „Triebe“ dennoch präsent. Die Widerständigkeit des Platonikers ist selbst Resultat von Triebverdrän70

Vor diesem Horizont wäre Hilles Drama Des Platonikers Sohn, das stets als pädagogische Programmschrift gelesen wird, neu zu interpretieren. – Interessant im Kontext des Virilitätskults ist Hilles zeitweiliges Engagement für Adolf Brands Zeitschrift „Der Eigene“, die den Kampf für die Tolerierung der Homosexualität mit misogynen und, in ihrer Spätphase, präfaschistischen Positionen verbunden hat. Vgl. D. JUNGOSTERMANN, Peter Hille und „Der Eigene“. Zum (literarischen) Diskurs der Homosexuellen bei Peter Hille in „Der Eigene“ und der Gemeinschaft der Eigenen. In: M. M. LANGNER (Hg.), Peter Hille, S. 99-124, sowie M. KEILSON-LAURITZ, Adolf Brand und „Der Eigene“. Zur Geschichte einer ‚bewegten’ Zeitschrift. In: M. LEHMSTEDT / A. HERZOG (Hgg.), Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900. Wiesbaden 1999, S. 327-348.

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gung, deren Gewaltcharakter sich in einer Sprache kundtut, die auf Laute regredieren muss, um sich als ‚stark’ zu behaupten. In vielen seiner ‚Dinggedichte’, die meist kein lyrisches Ich kennen,71 entwirft Hille scheinbar naturmystische Gegenbilder zum Ideal solipsistischer Virilität, die sich bei detaillierter Betrachtung jedoch als vitalistische Spielart seines Männlichkeitskults erweisen und zugleich als Allegorie seines Ideals solipsistischer ‚Selbsterschaffung’ verstehen lassen, das besonders scharf mit Lasker-Schülers Poetik enthusiastischer Selbstentäußerung kontrastiert. Im Mittelpunkt der ‚Dinggedichte’ stehen zumeist Imaginationen einer nach innen gestauten, gegen die Außenwelt verhärteten Potenz, wie sie sich auf verschiedene Weise in den Bildern des Blitzes und des Diamanten verdichten. Eines der bekanntesten ist „Der schlafende Blitz“: Ganz durchzottet Die heiße lungernde Luft: Brünstiges Moos, Und in ihrem Schoß Da schläft ein bleicher Blitz: Das kühlende Schwert In der Scheide des Rächers. O wärest du nieder. Du bleicher, rächender Blitz – Dann wär’s vorbei! Der Odem der Natur Ginge wieder frei. (1, 45 f.)

Der schlafende Blitz fungiert als Chiffre einer unerlösten, in sich verschlossenen Natur, deren zwar verdrängte, aber unbezwungene Kraft ständig ausbrechen könnte. Deshalb wird er als „Schwert“ in der „Scheide des Rächers“ vorgestellt: Der im Schlaf gefangene „Odem“ trägt in sich selbst das Versprechen, sich freizusetzen und die Zeit der Starre gewissermaßen mit einem Handstreich zu beenden. Diese Befreiung wird fast aufdringlich sexuell konnotiert und damit als Freisetzung einer ‚schlafenden’ Triebnatur bestimmt, deren Agens die ‚männliche’ Kraft des Blitzes sein soll. Der „kühlende“ Blitz soll die „lungernde Luft“ und das „brünstige“ Moos, in deren „Schoß“ er schläft, gleichsam begatten, damit der Lebensstrom der Natur entbunden werden kann. Der Schlaf hat hier also scheinbar die entgegengesetzte Funktion wie in den ‚Kinderskizzen’. War er dort Bild einer wie immer auch repressiven ‚Beruhigung’ erotischer Triebe, erscheint er nun als Totenstarre, die von 71

Siehe C. HESELHAUS, Peter Hilles Dinggedichte. In: ders., Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache. Bonn 1961, S. 161 ff.

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der virilen Triebkraft des Blitzes gesprengt werden muss, damit der „Odem der Natur“ zu sich selbst kommt. Bezieht man die Metaphorik des Blitzes, der immanenten Logik des Dinggedichts entsprechend, überdies auf die poetische Form, so erscheint die poetische Sprache selbst als ‚schlafender’ Blitz, der sein befreiendes Potential aus eigener Kraft entbinden soll. Die auf der Gegenstandsebene visierte Selbstbefreiung einer virilen (Trieb-) Natur korrespondiert poetologisch mit dem Ideal einer sich aus sich selbst erschaffenden, ‚befruchtenden’ Poesie. Das Gedicht „Diamantene Hochzeit“ überführt die im Bild des Blitzes angelegte Kristallmotivik in eine komplementäre Konstellation. Im Gegensatz zum Blitz, der Allegorie einer erstarrten und utopisches Bild einer sich aus der Erstarrung befreienden Natur ist, fungiert der Diamant als Ergebnis einer Veredlung eines ‚inbrünstigen’ Lebens: Ich weiß mir einen Bronnen, So quellend und so klar, Du brauchst zu seinem Grunde Wohl an die sechzig Jahr. Da wohnt eine Rose Und ist mit Schaum besprüht, Und tief aus vollem Herzen Die junge Inbrunst glüht. Ist da ein köstlich Kleinod, Der Tiefe reiner Schein, Ein Demant, drin ein Leben Der Liebe zog hinein. (1, 69)

Anders als der schlafende Blitz schöpft der quellende „Bronnen“ seine Kraft nicht aus der Möglichkeit plötzlicher Entladung, sondern aus seinem mythischen Alter und seiner unergründlichen „Tiefe“. Wie der Brunnen „[s]o quellend und so klar“ ist, dass man „zu seinem Grunde / [...] an die sechzig Jahr“ braucht, also altern muss, um ihn zu erreichen, so verkörpert die „Rose“, die am entlegenen Grund der Quelle „wohnt“, scheinbar paradox die „junge Inbrunst“. Indem die vitalistische Jugendstilmetaphorik von Brunnen, Quelle, Rose und „Kleinod“ mit der ‚diamantenen’ Motivik von Alterung und ‚Schliff’ verknüpft wird, erscheint der ‚Schatz’ der Jugend als Ergebnis eines Versteinerungsprozesses: Gerade in die kristalline Undurchdringlichkeit und Härte des Diamanten ist „ein Leben / Der Liebe“ eingewandert. Da der Brunnen von Beginn an als selbstreflexive Imagination des lyrischen Ich vorgestellt wird („Ich weiß mir einen Bronnen“), exponiert der Text die Dialektik von ‚Veredlung’ und Jugendlichkeit zugleich als Subjektkonzept, nach dessen

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Logik jugendliche ‚Reinheit’ erst am Ende eines Alterungs- und Petrifizierungsprozesses erreichbar scheint. Wohl gerade wegen der Komplementarität der Blitz- und Diamantmetapher – der Blitz als Bild einer nach innen gestauten, der Diamant als Bild einer durch ‚Schliff’ veredelte Natur – kehren indes auch in dieser Konzeption ‚diamantener’ Subjektivität die Bilder viriler Gewalt wieder, die schon die Blitzmetaphorik prägten. Wie der Blitz im ‚Schoß’ der Natur schläft, auf die er ‚niedergehen’ soll, wohnt im Brunnen eine „mit Schaum besprüht[e]“ Rose, die paradoxerweise offenbar erst aufgrund dieser aufdringlichen ‚Entjungferung’ zum Sinnbild verborgener jugendlicher Unschuld werden kann. Die fast pornographische Bildlichkeit beider Gedichte (Scheide, Moos, Brunst, Schaum) macht es letztlich unentscheidbar, ob es sich um sexuell konnotierte Naturbilder oder metaphorisch verbrämte sexuelle Phantasien handelt.72 Stets jedoch wird die ‚inbrünstige’ Kraft der Natur an Bilder von Begattung und Befruchtung gebunden. Sowohl die im Modus der Potentialität gefangene Natur wie die durch Alterung und ‚Schliff’ zum ‚Kleinod’, also zum Kunstgegenstand, veredelte Natur erweisen sich als Imaginationen schöpferischer, aber auch sich selbst genügender Potenz. Das Bild des Diamanten und ‚Kleinods’ als Symbol für eine durch Petrifizierung bewahrte Naturkraft durchzieht leitmotivisch Hilles Selbstbeschreibungen und kann schon wegen seiner ästhetischen Konnotation als Emblem seines Verständnisses von Autorschaft begriffen werden, die zugleich als Verwirklichung einer prophetischen Berufung begriffen wird. In seinem autobiographisch-poetologischen Fragment „Religion“ stilisiert Hille die als Veredlung aufgefasste Selbstversteinerung mit Bezug auf die Etymologie seines Vornamens (Peter – Petrus – Fels) zum Sinnbild religiöser Verinnerlichung: Ich heiße Peter. Das heißt Fels. Und so ein Felsen, ein fester, fühlender, das Wirkliche, Gott fühlender Fels will ich sein; zusammengehen, dass nicht ein Bläschen in mir bleibt. Gott will ich haben, wie ich ihn nur haben kann [...]. [...] Die Religion ist der Anker des Lebens. (1, 267)

Der weitere Kontext der Passage zeigt, dass es in ihr nicht um ein unreflektiertes Lob positiver Religiosität geht, sondern – durchaus im Sinne der Fröm72

Die pornographische Aufladung von Naturmetaphern begegnet häufig bei Hille. In „Tastende Tage“ etwa heißt es: „Ein streckendes Zittern, ein schwellendes Glühen, / Des scheinenden Baumes Adern erblühen. // In gereiztem Scheine, feierweh / Flammt Ziegelglut aus Erdenschnee. // Die versteinerte Glut, ein Liebesgedicht, / Fällt rosig warm auf der Kälte Gesicht“ (GW 1, 32 f.). – Schon Heselhaus weist auf den sexuellen „Bildgrund“ solcher Metaphern hin, spricht aber eher pikiert von einer „peinlichen Vergegenständlichung“ (C. HESELHAUS, Peter Hilles Dinggedichte, S. 162).

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migkeitskritik in den Schuhu-Gedichten – um die Apologie des ‚Freidenkertums’ gegen das verflachte bürgerliche Religionsverständnis, das erneut im Umfeld von Schule und Pädagogik verortet wird: Ich werde aufgerufen. Ich soll die Beweise für das Dasein Gottes angeben. Das konnte ich. [...] Halbeisen weilte lang bei mir. Die erloschenen Kohlen, die drohenden, misstrauisch bohrenden Inquisitorenaugen lasteten auf mir. Entzündeten sich nicht. Mit notgedrungener Gerechtigkeit stellte sich eine langsame Drei in sein schwarzes Notizbuch. Es hätte auch eine Zwei sein können. Bei Dannemann mit dem bedächtigen Entenschnabel und der [...] Musterschülerstirn sicher eine Eins. [...] Er verabscheute mich aus vollem theologischen Herzen als Freidenker, und der Lateinlehrer in ihm noch besonders als Freund deutscher und anderer Dichter. (1, 267)

Der Religionsunterricht wird hier als Vermittlung eines verdinglichten, von keiner lebendigen Erfahrung gesättigten Wissens karikiert, die auf den Habitus von Musterschülern zugeschnitten ist und nach Art der Mathematikstunde „Beweise“ für die Gültigkeit der christlichen Lehre abfragt. Wie Latein als tote Sprache repetiert wird, soll das christliche Dogma ohne Rekurs auf die Lebenswelt der Schüler blind reproduziert werden. Den „erloschenen Kohlen“, als welche die begeisterungslosen Augen des Theologen dem Kind erscheinen und die im Kontext von Hilles Imagerie das Negativ zur emphatisch besetzten Diamantenmetaphorik bilden, wird Hilles Selbstbild des ‚fühlenden Felsens’ kontrastiert, das mystische Versenkung und Abkehr von der sanktionierten christlichen Religion symbolisiert. Während in den ‚Kohlen’ jeder Funke lebendiger Erfahrung erloschen ist, formiert sich der ‚Fels’ im Modus der Abhärtung gegen korrumpierende Außeneinflüsse, die das „Wirkliche“ allererst erfahrbar machen soll. Nur in Abwendung von den bürgerlichchristlichen Institutionen und durch Abkapselung gegen alles Äußerliche, bloß Empirische scheint dem Ich die Kommunikation mit Gott und die Teilhabe an authentischer religiöser Erfahrung vollziehbar zu sein. Insofern steht das Paradoxon vom ‚fühlenden Fels’ im Kontext der freireligiösen Erweckungsbewegungen, wie Hille sie über Martin Buber, Rudolf Steiner und andere ‚gottlose Mystiker’ kenngelernt hat.73 Andererseits ist dieses Ideal bei 73

Steiner und Buber hatten sowohl Kontakt mit dem Kreis der ‚Kommenden’ um Ludwig Jakobowski wie mit dem Friedrichshagener Dichterkreis und der Neuen Gemeinschaft. Zum Begriff der ‚gottlosen Mystik’ und zum Topos der ‚Verinnerlichung’ in Steiners Schriften vgl. U. SPÖRL, Gottlose Mystik, besonders S. 116 ff. Eine naiv identifikatorische Darstellung von Hilles ‚Mystik’ bietet P. G. POUTHIER, „Wie würde ich mehr Hille!“ Gedanken zur poetischen Mystik und zum Mythos des schöpferischen Aktes bei Peter Hille. In: Hille-Blätter 1995, S. 55-82.

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Hille überlagert durch Momente der Willkür und Gewaltsamkeit: Wenn die dem eigenen Begriff nach ‚haltlose’ mystische Religiosität erneut zum Halt stiftenden „Anker des Lebens“ hypostasiert wird, tritt sie unter der Hand eben doch an die Stelle jener frömmelnden Erbaulichkeit, zu deren Kritik sie aufgeboten wird. Der wiederholt formulierte Wunsch, Gott zu „haben“, bleibt ebenso wie der latente Neid auf die „Eins“ des Musterschülers einer bürgerlichen Logik von Aneignung und Konkurrenz verhaftet, die den Anspruch mystischer Verinnerlichung konterkariert. Freidenkertum erscheint auf diese Weise als privilegierte Form des Gottesbesitzes, auf deren mangelnde Anerkennung durch die pädagogische Institution der Schüler mit der Eifersucht eines verkannten Genies reagiert. Da mystische Versenkung angesichts der Profanität der Wirklichkeit nur als undialektische Abwendung von allem ‚Äußeren’ gedacht werden kann, erfährt sich das Ich als ‚Fels’, der sich so versteinern muss, dass „nicht ein Bläschen“ in ihm ist. In seinen Aphorismen fasst Hille diesen Gedanken erneut im Bild von Kohle und Diamant: „Alles lastete auf mir. Schon war mir, als müsste ich zusammenbrechen. Da zog ich mich ganz in mich zusammen, und da war ich, was ich nun bin: Ich, nur Ich.“ Je stärker der Druck, den eine Kohle aushält, um so kostbarer ist der Diamant. (II, 588)

Der romantische Topos vom Diamanten als Brennspiegel der Welt, der im Kleinsten alle Facetten der Wirklichkeit verdichtet, wird hier auf eigentümliche Weise ins Brutale, Selbstquälerische gewendet. Maßstab für die ‚Kostbarkeit’ des Diamanten ist nicht mehr seine Kristallisationskraft, sondern seine Härte und Opazität. Zugleich wird die im Alten Testament begegnende Symbolik des Diamanten als Sinnbild einer gegen Sünde gefeiten ‚Lauterkeit’ überformt durch die ebenfalls alttestamentarische Konnotation des Diamanten mit Verstocktheit und Härte, so dass die gegenläufigen Bedeutungsimplikationen, die in der biblischen Bilderwelt nebeneinander bestehen, paradox ineins gesetzt werden:74 Der unvergängliche Wert des ‚diamantenen’ Subjekts entsteht gerade durch verstockte Selbstabhärtung, durch Verweigerung gegenüber allem, das mehr als „nur Ich“ wäre. Weder die Auseinandersetzung mit dem Fremden, Widerständigen, noch die Fähigkeit zur Kondensierung heterogener Erfahrungen, sondern der Rückzug auf eine abstrakte Selbstgleichheit („Ich, nur Ich“) fungiert als Ausweg angesichts des drohenden Ich-Zerfalls 74

Hesekiel 3, 9: „Ja, ich habe deine Stirn so hart wie einen Demant, der härter ist denn ein Fels, gemacht. Darum fürchte dich nicht, entsetze dich auch nicht vor ihnen, dass sie so ein ungehorsames Haus sind.“ Sacharja 7, 12: „Und machten ihre Herzen wie einen Demant, dass sie nicht hörten das Gesetz und die Worte, welche der Herr Zebaoth sandte in seinem Geiste durch die vorigen Propheten.“

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und der übermächtigen ‚Last’ der Welt. Den „Druck“ der Außenwelt, die dem Ich nur als diffuse Totalität („Alles“) fassbar scheint, ‚auszuhalten’ oder aber unter ihm ‚zusammenzubrechen’, erscheint als einzige Alternative angesichts eines Subjektverständnisses, das die ‚Kostbarkeit’ des Ich daran bemisst, in welchem Grade jedes ‚Bläschen’ – und das heißt auch: jedes Zeichen von Verwundbarkeit – im eigenen Selbst getilgt werden konnte. In diesem Ideal einer der Außenwelt durch Selbstabhärtung des Subjekts gleichsam abgedungenen Unschuld, das den Kern dessen bezeichnet, was Hille als Bewahrung der Kindheit versteht, kommt die Bildlichkeit seiner ‚Dinggedichte’ in einer von Hille zweifellos nicht intendierten Weise zu sich selbst: Das solipsistische Ich, das sich in Abwehr alles Äußerlichen, Empirischen zum ‚fühlenden Fels’ läutern und eine privilegierte mystische Erfahrung machen will, wird unter der Hand zum petrifizierten ‚Ding’, aus dem alles Fremde, Nicht-Identische – jedes ‚Bläschen’ – ausgetrieben wurde. Im scheinbar konzessionslosen Anspruch, sich nicht zum Ding, zum bloßen Objekt für andere machen zu lassen, perpetuiert sich bewusstlos die Logik des ‚Eigentums’, gegen die Hille sich als ‚Fels’ aufzurichten gedenkt. Gerade weil es sich weigert, auf welche Weise auch immer für andere sein zu wollen, macht das petrifizierte Subjekt sich zum erstarrten Eigentum seiner selbst und reklamiert für sich in blinder Abwehr alles Fremden das Exklusivrecht an der eigenen Subjektivität. Dies ist der desperate Gehalt von Hilles Poetik der Petrifizierung: Der ‚fühlende Fels’ trägt nichts mehr in sich, das nicht mit seiner eigenen Versteinerung identisch wäre.

2. Die Belebung des Felsens: Else Lasker-Schülers Peter-HilleTexte a) Die Poetik der ‚blassen’ Kindheit Angesichts der Beharrlichkeit, mit der die Hille- wie die Lasker-SchülerForschung bis heute eine tiefe Geistesverwandtschaft beider Autoren behaupten und deren Grund in einer gemeinsamen Neigung zum ‚Kindlichen’ ausmachen, wobei Lasker-Schüler (mit unterschiedlichen Bewertungen) als Hilles ‚Jüngerin’ begriffen wird, mag es überraschen, dass sie selbst die erste und schärfste Kritikerin der Stilisierung des Dichters zum ‚Kind’ gewesen ist.75 75

Dieter Bänsch, der als erster Lasker-Schülers Stilisierung zum ‚Gotteskind’ kritisiert hat und auch Hilles Werk kritisch einschätzt, wertet die ‚kindlichen’ Neigungen der Autorin als Zeichen von Naivität, spricht von ihrer „Erlebnisfrömmigkeit“ und zweifelt, ob Lasker-Schüler „psychisch gesund war“ (D. BÄNSCH, Else Lasker-Schüler, S.

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Alle fünf Texte Lasker-Schülers, die sich mit Hille auseinandersetzen – neben dem 1903, ein Jahr vor Hilles Tod, publizierten Essay „Peter Hille“ das PeterHille-Buch von 1906 sowie drei Skizzen aus den Jahren 1924 und 1929 – fokussieren ihn nicht als biographische, sondern als poetische Gestalt. Beginnt das Porträt von 1903 mit der Schilderung einer von der Autorin angefertigten Hille-Zeichnung und das Peter-Hille-Buch mit der Erschaffung der PetrusFigur aus dem Material des Felsens, tritt Hille in den späteren Essays als „St. Martin“, als „Mann aus dem Testamente“ und „Hauptperson“ seiner eigenen Werke (4.1, 32 f.), mithin als poetische, gleichwohl lebendige Figur in Erscheinung, deren Identität immer wieder problematisiert wird. Die uneingestandene Allianz zwischen bürgerlicher und antibürgerlicher Kindheits-

154 f. und S. 162). Bauschinger meint, Lasker-Schüler habe Hille als „seelenverwandten großen Führer anerkannt“ (S. BAUSCHINGER, Else Lasker-Schüler. Ihr Werk und ihre Zeit, S. 55), und spricht ihr auch in ihrer differenzierteren zweiten Biographie einen Glauben ans „Kindsein“ als „Quelle aller künstlerischen Kraft“ zu (dies., Else Lasker-Schüler. Biographie, S. 59). Christine Reiß-Suckow behauptet, die Autorin sei wie Hille bemüht gewesen, „kindliche[s] Erleben“ ästhetisch „umzusetzen“ (C. REISSSUCKOW, „Wer wird mir Schöpfer sein!!“, S. 45). Pouthier erklärt das Ideal vom Kind als „Inkarnation des eigentlich Menschlichen“ zur Grundlage von Hilles und Lasker-Schülers Poetik (P. G. POUTHIER, Der Begriff des Spiels, S. 41). Dass LaskerSchüler die Phrase vom ‚kindlichen Dichter’ kritisiert hat, wird bei alldem ebenso wenig reflektiert wie die poetologische Bedeutung des Kindheitsmotivs. Die Arbeit von M. FESSMANN, Spielfiguren, deutet das Peter-Hille-Buch als Dokument einer misslungenen Befreiung aus dem „Bann Hilles“, von dem die Autorin ihre poetische Legitimation bezogen habe (S. 158). Bischoff wendet dagegen ein, Lasker-Schüler lasse sich schon in ihrem ersten Prosaband nicht auf den Status einer „Novizin“ reduzieren, liest das Peter-Hille-Buch aber doch als ‚phallogozentrismuskritische’ Reflexion zum „Verhältnis von Vatername und Schriftkörper“ (D. BISCHOFF, Ausgesetzte Schöpfung, S. 99 f.). Ob die Petrus-Figur überhaupt als wie immer auch kritisch gefasste Vaterinstanz verstanden werden kann, bleibt dabei undiskutiert. Noch der Sammelband der Hille-Forschungsstelle, der voller fehlerhafter Angaben ist – Lasker-Schülers bekanntestes Gedicht firmiert unter dem Titel „Ein Tibetteppich“ (Prophet und Prinzessin, S. 37) –, reproduziert das Schema von ‚Meister’ und ‚Jüngerin’. So glaubt Dorothee Ostmeier ihre These, „dass sich Lasker-Schüler durch den poetischen Kontakt mit Hille eine neue lyrisch utopische Dimension erarbeitet“ [kann man sich eine Utopie ‚erarbeiten’?; M. K.], belegen zu können, indem sie Gedichte aus Styx und Der siebente Tag, von denen nur ein einziges, „Der gefallene Engel“, nicht etwa Peter Hille, sondern „St. Petrus Hille“ zugeeignet ist, als Dokumente eines „intensiven Dialoges“ liest (D. OSTMEIER, Identitätsspiele: Peter Hille / Else Lasker-Schüler. In: Prophet und Prinzessin, S. 227-253, Zitate S. 231 und S. 239 f.). Auch die jüngste Studie von M. LINDINGER, Glitzernder Kies, S. 24 ff., blendet Lasker-Schülers zwiespältiges Verhältnis zu Hille durchweg aus und liest das Peter-Hille-Buch ungebrochen als Gedächtnisbuch.

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Idolatrie, die sich als unbewältigte Aporie durch Hilles Texte zieht,76 wird bei Lasker-Schüler aufgekündigt, ohne dass die utopischen Momente der Affinität von Bohemien und Kind aufgegeben würden. Sie wandern ein in die Ikonographie einer ‚blassen’ Kindheit, die sich als Antwort auf Hilles Idealisierung ‚lebenstüchtiger’ Kindheit verstehen lässt. Im Kontext dieser ‚blassen’, so ärmlichen wie sehnsuchtsvollen Kindheit kristallisiert sich zum ersten Mal bei Lasker-Schüler der Gedanke einer Poetik enthusiastischer Selbstentäußerung heraus, wie sie am Motiv des Kosenamens, der sich Hilles Poetik des Eigennamens kontrastieren lässt, nachvollzogen werden kann. Die Tendenz zur Trivialisierung und Profanierung, die konstitutiv für das im Peter-HilleBuch entwickelte Verständnis poetischer ‚Prophetie’ ist, lässt sich schließlich als Kontrafaktur von Hilles Poetik der Selbstverhärtung lesen, in der das für Lasker-Schüler charakteristische, von Hille sehr verschiedene Verständnis poetischen ‚Eigentums’ präfiguriert ist. Das in der Hille-Forschung bis heute tradierte Bild von Hille als unschuldigem ‚Kind’ wird in Lasker-Schülers posthumen Hille-Porträts, ähnlich wie die bürgerliche Genie-Ideologie in Ich räume auf!, als euphemistische Verschleierung realer Deklassierung entlarvt: Er war kein Kind, wie ihn kurz und bündig der Bürger überhaupt den Dichter zu nennen beliebt. [...] Er war furchtbar in seiner rührenden Gebärde, tausendundzwei Jahre alt, selbst das Märchen überschritten, Jahrhunderten gewachsen, und nicht die Menschen hielten ihn. Er aber den Gernegroßmensch am Gängelband seiner Zeit. (4.1, 35) Mitmenschen pflegen bequem und gerne den größeren Mitmenschen verblüfft, einfach „ein Kind“ zu nennen! Verwechseln sich selbst mit Vorliebe mit dem Weiseren. (4.1, 174) Klug war Peter Hille, der Gedanke macht mich stolz. Der Bürger rechtfertigte seine äußere Armut (denn Klugsein heißt ja noch nicht Praktischsein), indem er ihn ein Kind nannte. Diese Kindermacherei dünkt mich ebenso mysteriös wie die Engelmacherei; – da wird’s gegeben und dort genommen. [...] Ich spreche dreist im Namen Peter Hilles, da ich verkünde, dass er den Kinderjahren vollständig entwachsen war, körperlich, aber auch geistig und seelisch. Die Welt hat sich noch nicht abgewöhnt, Kind mit Lauterkeit zu verwechseln. [...] Allerdings das Verständnis zum kindlichen Spiel hatte er sich wie keines je bewahrt. (4.1, 181 f.)

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Nicht nur in seinem Verständnis von ‚Lebenstüchtigkeit’, sondern auch in dieser Verherrlichung von Kindheit steht Hille Erich Mühsam und dessen Kameradschaftsideal nahe. Zur Kindheitsbegeisterung bei Mühsam siehe R. KAUFFELDT, Erich Mühsam, besonders S. 77 ff.

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Lasker-Schülers Eloge auf Hilles „Lauterkeit“ prangert die Entmündigung an, die in der euphemistischen Bezeichnung eines Autors als ‚Kind’ beschlossen liegt, richtet sich aber, ob bewusst oder nicht, auch gegen Hilles eigenes Verständnis vom Dichter als privilegiertem Bewahrer der Kindheit. Indem der Philister den Bohème-Poeten „ein Kind“ nennt, deklariert er sich selbst zum „Weiseren“ und rechtfertigt die „äußere Armut“, die den Künstler von sozialem Einfluss fernhält, als Konsequenz seiner Weltabgewandtheit. Die sarkastische Analogisierung von „Kindermacherei“ und „Engelmacherei“ denunziert nicht nur die verleugnete Lebensfeindlichkeit dieser Kindheits-Idolatrie, sondern entlarvt sie in Analogie zum Euphemismus ‚Engel’ als Verschleierung eines Tötungsakts, der von der bürgerlichen Gesellschaft einerseits sanktioniert, andererseits verdrängt und durch menschelnde Spruchweisheiten (‚Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen’) verharmlost wird. Dennoch wird Hilles Hypostasierung des Kindes zum Repräsentanten von Lebenstüchtigkeit und Durchsetzungskraft im Gegensatz zum ‚kranken’ Bürgertum bei Lasker-Schüler nicht einfach fortgeschrieben. ‚Größer’ und ‚weiser’ als die Philister ist der Bohemien hier vielmehr durch sein mythisches Alter, das ihn sowohl als altes Kind wie als kindlichen Greis erscheinen lässt, ohne dass er, wie Hilles ‚alter Knabe’, zur Inkarnation naturwüchsiger Vitalität stilisiert würde.77 Ein Prophet, der sich „das Verständnis zum kindlichen Spiel [...] wie keines je bewahrt“, der „das Märchen überschritten“ hat und „tausendundzwei Jahre alt“ ist, lässt sich weder als ‚reifer’ Mann noch als ‚lebenstüchtiger’ Knabe angemessen fassen, sondern verkörpert eine paradoxe Einheit von mythischer Erfahrung und kindlicher Unerfahrenheit, die dem bürgerlichen Entwicklungsbegriff fremd ist. Gerade in dieser Inkommensurabilität, die „den Jahrhunderten gewachsen“ ist, ohne Zeichen positiver ‚Erwachsenheit’ zu sein, artikulieren sich Würde und Autonomie des Propheten, der anders als der kleinbürgerliche „Gernegroßmensch“ nicht „am Gängelband seiner Zeit“ zappelt und nicht von den Menschen ‚gehalten’ wird. In der Metapher der ‚Haltlosigkeit’ steckt indes auch ein Moment von Verlassenheit und Isolation, das die Figur des Propheten untauglich macht für völkisch-bodenständige Phantasien von Gemeinschaft im Sinne Hilles oder Liliencrons. Anders als in Hilles Selbstverständnis ist bei Lasker-Schüler mit der „rührenden Gebärde“ und der ‚Furchtbarkeit’ des Propheten eine Dimension des Prekären, Desperaten angedeutet, die konstitutiv für ihre Kindheitsimaginationen bleibt. Der Lasker77

Neben der Arbeit von W. WUCHERPFENNING, Kindheitskult, gibt es bislang kaum Versuche, die Formen der Ästhetisierung von Kindheit im Kontext der Bohème zu erschließen. H. KREUZER, Die Boheme, schenkt dem zeitgenössischen Kinderkult keine Beachtung, diagnostiziert jedoch bei vielen Bohemiens eine Neigung zu „regressistischem Zerstörungswillen und progressistischem Vitalismus“ (S. 339), Tendenzen, die in Hilles Werk konvergieren. Als „sentimentale[r] Romantizismus“ abgewertet wird die Neigung zum Kindlichen bei R. KAUFFELDT, Erich Mühsam, S. 88.

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Schüler’sche Prophet kennt nicht jene ‚Lebenstüchtigkeit’, die ihm bei Hille zukommt, und stellt so – ob mit oder ohne Lasker-Schülers Absicht – ein Gegenbild zum Hille’schen ‚Petrus’ dar. Implizit ist mit der skizzierten Kritik an der Idealisierung des ‚kindlichen’ Dichters bereits gesagt, dass der Versuch einer undialektischen Bewahrung von Kindheit im Modus ästhetischer ‚Petrifizierung’, wie sie Hilles Werk und Autorschaftsverständnis bestimmt, sich der Gefahr einer Komplizenschaft mit dem bürgerlichen Kindheitskult aussetzt. Wohl deshalb hebt Lasker-Schüler in ihren posthumen Porträts hervor, Hille sei kein „Spießbürger“ gewesen und habe „die Lauen“ und „Totgeborenen“ nicht gemocht (4.1, 181). Die Entgegensetzung von Spießer und Prophet schlägt jedoch, anders als bei Hille selbst, nicht erneut in die Hypostasierung eines antibürgerlichen BohèmeProphetentums um. Im Essay „St. Peter Hille“ wird die Frage, „was mich zu glauben berechtigt, Peter Hille für einen Propheten zu halten“ (4.1, 31), vielmehr dezidiert anti-hagiographisch beantwortet: [E]r war ohne Hochmut oder falsches Priestertum, Schwulst und gesalbten Tönen. Er verabscheute jede Pose; er besaß keine Lücke, die er mit Kitt – Kitsch gestopft hätte; und die gefälschten erhabenen Goetheaner im Dichtertum widerten ihn an. (4.1, 32)

Die angesichts von Lasker-Schülers Ästhetik der Selbstfiguralisierung und der Kolportage befremdlich klingende Ablehnung von „Pose“ und „Kitsch“ richtet sich nicht gegen Stilisation oder ‚Verkunstung’ überhaupt, sondern gegen die gefälschte, zur Hohlform erstarrte Erhabenheit des bürgerlichen Dichterkults, der Authentizität nur mehr fingiert und dadurch das Herabsinken der Hochkultur zum „Schwulst“ befördert. Kitsch meint also gerade nicht den Massenschund, der seine Inferiorität einbekennt und wegen dieser eingestandenen Niedrigkeit in Lasker-Schülers Hille-Porträts zum Paradigma ihres ‚blassen’ Kindheitsideals avancieren kann – im selben Essay erzählt sie von einem „Straßenjungen“, der Hille als „lieben Gott“ anspricht und ihm seine „Glasmurmel“ darbietet (4.1, 32) –, sondern bezeichnet ‚priesterliche’ Prätentionen, die sich nicht auf die großbürgerliche Sphäre der „Goetheaner“ beschränken.78 In Polemik gegen die genieästhetischen Ideologeme der Bohème und gegen die Fetischisierung eines freireligiösen „Priestertum[s]“ im Umfeld

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Zu dieser Bestimmung von Kitsch vgl. U. ECO Die Struktur des schlechten Geschmacks. Ecos Analyse des Kitsches als Symptom einer falschen Versöhnung von Hoch- und Massenkultur korrespondiert in erstaunlicher Weise mit Lasker-Schülers Polemik gegen Kitsch und Pose.

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der Neuen Gemeinschaft bezieht Lasker-Schüler ihre Kritik an Kitsch und Pose vielmehr explizit auf Formen subkulturellen Prophetengehabes:79 Er [Hille; M. K.] gab ja Licht immerzu, verschwenderisch, ein ganzes Sonnensystem. Er vermutete ja gar nicht, das jemand von ihm ein trauliches Lämpchen verlangte. So verhält sich das mit unserem großen Propheten. Vergleiche man ihn nicht mit jenen barfußlaufenden Zwiebelasketen, die zur Erbauung ihr Bändchen Lyrik: Goldene Leyer, dem begegnenden deklamieren. (4.1, 33) Ein Papst wäre Peter Hille gewesen – der Allwelt. [...] Indes man leichter geneigt ist, verwässerten Messiassen oder geknickten Flügelasketen als Weise zu betrachten. Sie sehen, ich bin ganz im himmlischen Bilde und imstande, funkelnde Gebärde von krampfartigen Posen zu unterscheiden. (4.1, 181 f.)

Der Topos vom Dichterpropheten als ‚Lichtbringer’, der in der Neuen Gemeinschaft besonders durch die hypertrophe Jugendstilästhetik des ‚Tempelkünstlers’ Fidus alias Hugo Höppener populär geworden war,80 wird bei Lasker-Schüler, die Fidus schätzte und ihren Lyrikband Styx von ihm illustrieren ließ, gegen die Indienstnahme für eine bürgerliche Ideologie herzerwärmender ‚Erbaulichkeit’ in Anschlag gebracht. Die Lichtmetaphorik – LaskerSchüler bezeichnet Hille als „Gestirn“, das „Meteor“ von sich stoße (4.1, 181; 4.1, 173) –, betont die „verschwenderisch[e]“ Selbstentäußerung des Propheten, dessen an die „Allwelt“ gerichtete, das partikulare Selbst sprengende Mission mit individualistischer „Erbauung“ unvereinbar ist. Sie zielt bereits hier nicht auf „trauliche“ Tröstung des Einzelnen, sondern auf unverkürzte, freie Kollektivität und lässt sich so wenig in einem „Lämpchen“ einhegen wie authentische Poesie in einem „Bändchen Lyrik“. Nimmt man Gert Mattenklotts Hinweis ernst, wonach die Lichtmetaphorik in der Ästhetik des Jugendstils als „theosophisch auratisierte[s] Naturlicht“ einen zivilisationskritischen Gegenentwurf zur „künstlichen Beleuchtung der Großstädte“ darstelle,81 so reagieren Lasker-Schülers spöttische Diminutive auf die ‚Verniedlichung’ des theo79

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Die Stilisierung des Dichters zum freireligiösen Propheten vollzog sich in der Neuen Gemeinschaft als allmählicher Prozess, der mit der Abwendung von Stirners libertärem Modell des ‚Vereins’ einherging. Vgl. K. BRUNS, „Wir haben mit den Gesetzen der Masse nichts zu thun“. Organisationsstrukturen und –konzepte in der Neuen Gemeinschaft. In: R. FABER / C. HOLSTE (Hgg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen. Würzburg 2000, S. 353-371. Zum MeisterJünger-Verhältnis in der Bohème siehe H. KREUZER, Die Boheme, S. 180 ff. Über die Ästhetik des Lichts im Milieu der deutschen Jugendbewegung siehe G. MATTENKLOTT, Körperkult, Ökosophie und Religion. In: J. FRECOT / J. F. GEIST / D. KREBS, Fidus, S. VII-XIX; R.-P. JANZ, Die Faszination der Jugend durch Rituale und sakrale Symbole. Mit Anmerkungen zu Fidus, Hesse, Hofmannsthal und George. In: „Mit uns zieht die neue Zeit“, S. 310-337. G. MATTENKLOTT, Körperkult, Ökosophie und Religion, S. XVI.

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sophischen Lichts zum ‚Lämpchen’, wie sie sich an der literarischen Produktion eines Wille oder Bölsche illustrieren ließe.82 Das ‚Licht’ der Jugendstilpropheten ist, folgt man dieser Deutung, selbst zum Philister-Inventar verkommen, das gleich dem ‚Geleier’ weihevoller Poesie nur mehr der Bestätigung, nicht der Transzendierung des in sich verkapselten bürgerlichen Selbst dient. Analog werden Körperkultur und Gesundheitsideologie der Lebensreformer entlarvt als Verschleierung des „geknickten“ Bewusstseins „barfußlaufende[r] Zwiebelasketen“, deren Stilisierung des schlanken Körpers zum Quell jugendlicher Vitalität, für die Fidus’ Œuvre beispielhaft ist,83 lediglich die eigene ‚Flügellosigkeit’, die Unfähigkeit zu Selbstgenuss und Selbsttranszendenz rationalisiert. Bis in die konkrete Bildlichkeit hinein (das Motiv des barfüßigen Gehens) lässt Lasker-Schüler lebensreformerische Topoi, die bei Hille ungebrochen als Attribute des Bohemien erscheinen, parodistisch leerlaufen und entlarvt sie als Elemente einer selbst verbürgerlichten antibürgerlichen Attitüde. Lasker-Schülers poetischer Hille wird auf diese Weise als Zeuge gegen die Gesundheitsideologie von Hilles eigenem Werk in Anspruch genommen. Das Bild des Felsens, der jedes ‚Bläschen’ in sich getilgt hat, erfährt in der Formulierung, Hille habe „keine Lücke“ besessen, „die er mit Kitt – Kitsch gestopft hätte“ (4.1, 32), denn auch eine bemerkenswerte Umdeutung. Sie exponiert allein den Nonkonformismus, der sich im Ideal der ‚Selbstversteinerung’ artikuliert, welches sich bei Hille durchaus brutal gegen alle Spuren des Nicht-Identischen im eigenen Selbst richtet. Die desperaten Implikationen dieses Ideals der Petrifizierung gehen bei Lasker-Schüler ein in den Begriff der „Gebärde“, die als „funkelnd“ (4.1, 182) und „furchtbar“ (4.1, 35) der „krampfartigen Pose“ (4.1, 182) kontrastiert wird. Während die „Pose“, darin dem Kitsch verwandt, die zu ihrer Aufrechterhaltung nötige Gewalt in einem starren Bild vermeintlicher Unberührbarkeit und Perfektion neutralisiert, sind in der „Gebärde“ die Erfahrungen kindlicher Verwundbarkeit und Kreatürlichkeit aufgehoben, weshalb sie „furchtbar“ und „rührend“ (4.1, 35) zugleich ist. Gerade in ihrer Affinität zur Kindheitssphäre 82

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Neben Willes Prosa Offenbarungen des Wacholderbaums von 1901 sind hier Bölsches Skizzen zur Neuen Gemeinschaft zu nennen, in denen der Umzug aufs Land mit der Sehnsucht nach dem „Kiefernduft der endlosen einsamen Wälder“ begründet und die „Einkehr [...] am Schilfufer eines glänzenden Sees“ dem „roten Schein“ der Großstadt entgegengesetzt wird. Vgl. W. BÖLSCHE, Hinter der Weltstadt. Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur. Jena, Leipzig 1904, S. VIII f. und S. XI; Hervorhebung M. K. Die Fetischisierung asketisch-jugendlicher Körperlichkeit erläutert mit Blick auf das massenhaft verbreitete Fidus-Bild „Lichtgebet“ R.-P. JANZ, Faszination der Jugend, S. 323 f. – Zur Licht- und Körper-Ikonographie des Jugendstils und der Lebensreformbewegung siehe auch: K. BUCHHOLZ / R. LAROCHA / HILKE PECKMANN u. a. (Hgg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bd. Darmstadt 2001.

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ähnelt die ‚Gebärde’ dem Begriff des Gestus, wie ihn Walter Benjamin in seinem Kafka-Essay ausgehend von einer Kinderphotographie Kafkas und in Rückgriff auf eine Formulierung aus Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse als Artikulationsmodus der „arme[n] kurze[n] Kindheit“ bestimmt hat.84 Die von Benjamin bei Kafka ausgemachte „Auflösung des Geschehens ins Gestische“ führt, wie es heißt, dazu, dass die „Gebärde“ in ihrer „Schlichtheit“ und „Rätselhaftigkeit“ in die „Mitte des Geschehens“ rücke, wobei sich ihr „Gestus“, der „keineswegs von Hause aus [...] eine gesicherte symbolische Bedeutung“ habe, in seiner opaken Mehrdeutigkeit als „tierischer“ offenbare.85 In der von pragmatischen Handlungszusammenhängen und posenhafter Starre losgelösten Geste sprechen sich die kreatürlichen Erfahrungsgehalte einer armen Kindheit aus, die im Gegensatz zu Hilles heroischem Kindheitsverständnis um ihre ‚Kürze’ und Verletzlichkeit weiß. Während Hilles Kindheits-Figurationen diese Erfahrungsgehalte zugunsten der ‚krampfartigen Pose’ – der ‚Selbstversteinerung’ – verdrängen, lässt sich Lasker-Schülers HillePorträt von 1903 als Versuch begreifen, die von dieser Pose verdeckte Gebärde zu erfassen: Es war ein kalter Nachmittag; der Mond blähte sich auf zwischen seinen Sternen wie ein goldener Bauch, wie ein wohlbeleibter Dukatenmillionär. Peter und ich wanderten, wanderten wohl schon stundenlang durch die Straßen Berlins, durch die Bleiluftgegenden mit den kahlen, grauen Häusern, in denen der Hunger mit seinen Tausend Kindern wohnt. Und über dieser Gegend spazierte behaglich durch das weite Land der Wolken der fette Mond, der satt an Gold getrunkene Mond. „Aber Tino, ich wusste ja garnicht, dass Du ein kleiner Bebel bist.“ „Ja, ich denke an die armen, blassen Kinder, die nie in die Sonne sehen, und an Dich, Peter, dem die Welt ihr jubelndstes, tiefstes Spiel schenkte und das Leben eine Stiefmutter ist.“ „O Du Mutter!“ sagte Peter leise zu mir. [...]

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W. BENJAMIN, Franz Kafka. In: ders., GS II.2: Aufsätze, Essays, Vorträge. Frankfurt/M. 1977, S. 409-438, hier S. 416. – Bei Kafka bezieht sich die Rede von der „armen kurzen Kindheit“ auf das durch den Druck der Lebensnot um sein Kinderglück betrogene ‚Mäuseleben’. Die gemeinschaftsstiftende Funktion von Josefines Gesang wird mit den Worten begründet: „Etwas von der armen kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom tätigen heutigen Leben ist darin, von seiner [...] nicht zu ertötenden Munterkeit.“ Vgl. F. KAFKA, Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse. In: ders., Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der Kritischen Ausgabe hg. von Hans-Gerd Koch. Bd. 1: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt/M. 1994, S. 274-294, hier S. 286. W. BENJAMIN, Franz Kafka, S. 418 f.

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Wir kamen über einen großen Platz. Vielleicht gaben die schlossartigen Bauten [...] Peter den Anlass, mir zu erzählen, dass sein Vater der Fürst S. aus Westfalen sei und seine Mutter eine Leibeigene. Ich war garnicht verwundert darüber, als ich seine schlanken Hände betrachtete. „Meine Mutter“, erzählte er weiter, „war eine stille, blasse Frau. Ich kann mich kaum an den Ton ihrer Stimme erinnern; aber als ich meine ‚Brautseele’ dichtete, hörte ich ihr Blut aus meinem Herzen singen, sanft und dann sehnsuchtswild, wie eine einsame Spätherbstblume.“ (3.1, 12)

Der von Benjamin hergestellte Konnex zwischen der ‚armen kurzen Kindheit’ und einem Modus gestischer Anschauung und Sprache wird zunächst dadurch evident, dass die Szene, einer kindlichen Optik gemäß, eine anthropomorphe Physiognomie gewinnt und sich zu einem Gesicht sozialer Marginalität und Einsamkeit verdichtet, in dem ganz buchstäblich gelesen werden kann. Der „fette“ Mond, der mit seinem „goldene[n] Bauch“ wie ein „Dukatenmillionär“ aussieht und im Gegensatz zu den durch die Großstadt wandernden Bohemiens „behaglich“ spazieren geht, erscheint als Inkarnation ökonomischer Herrschaft und bürgerlicher Saturiertheit, welcher „der Hunger mit seinen Tausend Kindern“ und die „armen, blassen Kinder“ in den „grauen Häusern“ kontrastiert werden, deren Perspektive das Ich adaptiert. Das ‚winterliche’ Naturbild (der kalte Nachmittag) wird, mit dem Mond als Millionär und den Sternen als Dukaten, zur Allegorie sozialer Kälte und falschen gesellschaftlichen Reichtums. Das Licht der Gestirne und die „Bleiluft“ der armen Stadtviertel erweisen sich als Bilder einer zur Verkörperung von Herrschaft verkehrten, abgestorbenen Natur. Indem sie im Gedenken an „die armen, blassen Kinder, die nie in die Sonne sehen“, diese Verkehrung buchstäblich erblickt und die ‚blasse Kindheit’ nicht nur beschreibt, sondern ihre eigene Sichtweise an die kindlich-anthropomorphisierende Perspektive anschmiegt, identifiziert sich Tino mit Kindheit als Stigma, dessen Erfahrungsgehalte die Poesie in ihre Sprachgestalt aufnehmen muss. Hille, dessen Idealisierung von Kindheit als ‚Lebenstüchtigkeit’ dadurch implizit negiert wird, nennt Tino denn auch freundlich-abschätzig einen „kleine[n] Bebel“. Ihren mimetischen Blick, dem sich der Sternenhimmel als Sinnbild von Herrschaft und Ohnmacht erschließt und der die sozialen Wunden präsent macht, indem er sie gleichsam in die Natur einzeichnet, vermag er, darin ganz und gar erwachsen im bürgerlichen Sinn, nur als Residualform sozialen Engagements wahrzunehmen. Tatsächlich liegt das Potential von Tinos Wahrnehmung im Gegenteil darin, dass sie die Erfahrung der ‚armen’ Kindheit nicht unter vorgefertigte Begriffe subsumiert, sondern den eigenen Blick durch sie verändern lässt. Diese Fähigkeit der dialektischen Annäherung von Subjekt und Objekt, die die Gegenstände der Wahrnehmung nicht zum Anschauungsmaterial depotenziert, sondern ihnen einen autonomen Status zubilligt, hat Benjamin als Konstituens mimetischen

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Vermögens bestimmt und nicht zufällig auf „das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen“ bezogen.86 In Tinos ‚Lesen’ des Himmels artikuliert sich eine ästhetische und soziale Sensibilität, die jede programmatisch-politische Perspektive überschreitet. Dass die Transformation des Sternenhimmels zum Ausdruck von Heteronomie und Armut nichts mit einem Plädoyer für ‚die Armen’ im Stil der naturalistischen „Elendsliteratur“87 zu tun hat, übersieht indes die Hille-Figur. Indem sie Tinos Wahrnehmung, die keinerlei Unterschied zwischen ästhetischer Imagination und sozialer Erkenntnis kennt, als ‚unreifen’ Sozialismus belächelt und an ihrer ‚Realitätstauglichkeit’ misst, adaptiert sie die „Maske des Erwachsenen“, wie sie Benjamin als Prätention von „Erfahrung“ kritisiert hat: „[D]eine Jugend ist eine kurze Nacht nur [...]; dann kommt die große ‚Erfahrung’, Jahre der Kompromisse, Ideenarmut und Schwunglosigkeit. So ist das Leben. Das sagen uns die Erwachsenen, das erfuhren sie.“88 Dieser ‚Erfahrung’ des Philisters stellt Benjamin die Erfahrung des „Unerfahrbaren“ und der untilgbaren Traurigkeit gegenüber, die sich intentionslos auch in den „müden Gesten“ und der „überlegenen Hoffnungslosigkeit“ der Erwachsenen sedimentiere.89 Wenn Tino den Spitznamen „kleiner Bebel“ mit der Antwort kontert, sie denke tatsächlich „an die armen, blassen Kinder [...] und an Dich, Peter, dem die Welt ihr jubelndstes, tiefstes Spiel schenkte und das Leben eine Stiefmutter ist“, stellt sie Hille in eine Reihe mit den ‚blassen Kindern’, deren Stigma er teilt, und fügt ihn ein in die Physiognomie universaler Trauer, als die ihr die Stadtlandschaft erscheint. Dass ihm „das Leben eine Stiefmutter“ sei, kann dabei auf doppelte Weise verstanden werden: in dem Sinn, dass Hille sich, wenn er Tinos Sicht als unreif abtut, seiner Verantwortung gegenüber dem „Leben“ entziehe; aber auch so, dass Hilles Ideal der ‚Petrifizierung’ sich dem Austausch mit dem „Leben“ in all seinen widersprüchlichen Facetten verschließt. Die Pose der Hille-Figur wird somit selbst als Zeichen einer Wunde gedeutet, in der sich die stiefmütterliche, prekäre Kindheit artikuliert. Wenn Hille Tino daraufhin unvermittelt mit „O Du Mutter“ anspricht und ihr erzählt, dass sein Vater ein westfälischer „Fürst“ und seine Mutter eine „Leibeigene“ gewesen sei, bekennt er sich dazu, dem Geschlecht der ‚blassen Kinder’ anzugehören, was Tino mit Blick auf seine „schlanken Hände“, in denen Adel und Armut koexistieren, nicht verwundert. Die emphatisch besetzte Mutter-Imago, in der die „stille, blasse“ Mutter bezogen wird auf Tino, aber 86

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W. BENJAMIN, Über das mimetische Vermögen. In: ders., GS II.1, S. 210-213, hier S. 213; Hervorhebung M.K. – Siehe auch B. LINDNER, Das Interesse an der Kindheit. Über die mimetischen Potentiale kindlicher Phantasie bei Benjamin vgl. H. BRÜGGEMANN, Walter Benjamin, S. 47 ff. H. HART, Literarische Erinnerungen, S. 92. W. BENJAMIN, „Erfahrung“. In: ders., GS II.1, S. 54-56, hier S. 54. Ebd., S. 55.

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auch auf die stiefmütterliche Kindheitserfahrung des Bohemien, erscheint in Vorwegnahme von Lasker-Schülers Fundierung ihrer eigenen Dichtung in der ‚mütterlichen’ Sphäre als Movens von Hilles Poesie: „[A]ls ich meine ‚Brautseele’ dichtete, hörte ich ihr Blut aus meinem Herzen singen“.90 Das Blut der „einsam[en]“ Mutter bewahrt die ‚wilde’ Sehnsucht der Marginalisierten und stiftet ein poetisch-genealogisches Band, das das Geschlecht der ‚blassen’ Kinder zu einer affektiven Gemeinschaft verknüpft. Hilles Verse werden so als ein Modus poetischen Sprechens charakterisiert, in dem das Subjekt nicht bloß es selbst ist, sondern in seiner Sprache die ‚blasse Mutter’ mitsprechen lässt. Sein poetisches Sprechen erscheint nicht als Bewahrung des Kinder-Ichs qua ‚Petrifizierung’, sondern als Selbstüberschreitung zugunsten des traurigen, aber auch rauschhaften Gesangs der Mutter. Das Blut der Mutter nimmt die Stelle ihrer „Stimme“ ein, an deren „Ton“ sich Hille „kaum [...] erinnern“ kann, während er selbst wiederum mit „leise[r]“ Stimme spricht, wenn er Tino „Mutter“ nennt. Wird Hilles Stummheit so als Ausdruck einer Sprachlosigkeit aufgefasst, die durch ihr Schweigen hindurch der ‚blassen’ Kindheit zur Sprache verhilft, erscheint seine ‚Unkörperlichkeit’ nicht als Zeichen von Selbsttranszendenz, sondern als poetisch produktives Stigma: Und zwischen uns gehend, wanderte er oft wie auf ferner verklärter Landschaft, wohl unseren Pfad beleuchtend, jedoch mondfern. Sein Mantel staubfällig, und er trug ihn wie einen Hermlin, der Schuh um seinen Fuß zerrissen. Pracht in Asche gehüllt. (4.1, 31 f.) Hervorstechende m e n s c h l i c h e Eigenschaften wüsste ich kaum zu beleuchten, [...] kein Star glänzte aus seinen Tugenden wie aus einem Bukett besonders hervor. (4.1, 33) Bei seiner immerfort ausstrahlenden Güte kannte ich dennoch Menschen die menschlich viel gütiger wie er waren. Er war eben ein Geist, schon vom Körper fast befreit. Der abstrakteste Mensch, der zurzeit auf Erden wandelte. (4.1, 34)

Metaphern ätherischer Vergeistigung werden hier amalgamiert mit jugendstilhafter Lichtsymbolik.91 Trotz der Nähe zum Jugendstil sperrt sich die Inszenierung der Hille-Figur jedoch gegen die von Benjamin als jugendstiltypisch diagnostizierte „Regression aus der sozialen in die natürliche und biologische Realität“.92 Im Widerspruch zur biologistischen Fetischisierung des ‚Lebens’ als regressive Utopie durchsetzt Lasker-Schüler ihre poetische Verklärung 90

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Hilles Gedicht „Brautseele“ (GW 1, 64-67) besingt die das Ich im Schlaf überflutenden Frühlingswonnen. R.-P. JANZ, Faszination der Jugend, zeigt an Fidus’ „Lichtgebet“, wie das Ideal „jugendlicher Vitalität“ scheinbar paradox auf einen „schlanken“, „mageren Körper“ projiziert wird (S. 326). W. BENJAMIN, Rückblick auf Stefan George. In: ders., GS III: Kritiken und Rezensionen. Frankfurt/M. 1972, S. 392-399, hier S. 394.

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Hilles mit Elementen jener Wirklichkeit, die von der Imago des Dichterpropheten verdrängt werden, und macht den „Rückbildungsversuch“,93 den Benjamin im Jugendstil erkennt, durchsichtig als Reflex einer sozialen Regression. Wenn Hille „zwischen uns“, im direkten Austausch mit seinen Freunden, „wie auf ferner verklärter Landschaft“ wandelt und ihm „[h]ervorstechende menschliche Eigenschaften“ gerade abgehen, charakterisieren diese Attribute nicht einfach den die Alltagwirklichkeit überschreitenden Propheten, sondern ein a-soziales, lebensfernes Individuum, das, weil es „schon vom Körper fast befreit“ ist, von den empirischen Mitmenschen an „Güte“ übertroffen wird. Der lebensreformerische Topos des barfüßigen Gehens, der bei Hille als Selbstbefreiung des ‚soldatischen’ Körpers vom zivilisatorischen Zwang in Szene gesetzt wird, kehrt bei Lasker-Schüler („der Schuh um seinen Fuß zerrissen“) konsequent als Bild von Armut und Depravation wieder, das in paradoxer Ambivalenz als Adelsattribut begriffen wird: Eben weil er seinen „staubfällig[en]“ Mantel „wie einen Hermlin“ trägt und seine „Pracht“ in „Asche“ hüllt, ist der Bohemien ein Prophet. Obwohl ihn die Kinder als „St. Martin“ (4.1, 32) bestaunen, ist er kein Schutzpatron der Armen, der seine Habe teilt, um fremdes Leid zu lindern. Vielmehr ist der Prophet selbst ein Bettler in zerrissener Kleidung, dessen ‚Pracht’ seine Armut nicht kompensiert, sondern sich in ihr verwirklicht; es geht um Teilhabe, nicht um Repräsentation. Durchweg wird die Hille-Figur denn auch nicht als kindlich beseelter Genius, sondern als ‚kindlicher Mann’ inszeniert, dessen Unreife, im Gegensatz zu den Figurationen des Tramp und des Vagabunden,94 als Symptom sozialer Hilflosigkeit gewertet wird. Unmittelbar nachdem Hille Tino „Mutter“ genannt hat, heißt es: Nach einer Weile blieb er unter einer Laterne stehen, nahm ein kleines schwarzes Heftchen aus der großen Manteltasche und schrieb. Das tat er oft, und ich ging gemächlich des Weges weiter. (3.1, 12)

Auf diese Schreibszene folgt eine Erinnerung an Hilles ‚trunkene’ Verirrungen: Wir fragten einen Mann, der an uns vorübereilte: „Wie kommen wir auf den Tiergarten wieder auf die Straße?“ Und wir bogen und wendeten uns, bis wir glücklich den Weg wiederfanden.

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Ebd. Zur Aufwertung von Unreife und Naivität in der Ikonographie des Tramp vgl. A. BRAMBERGER, Die Kindfrau, besonders S. 49 ff.

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„Sieh’, Tino, hier tief im Dickicht habe ich Wochen zugebracht und Dunkelheiten getrunken! O, das waren einzige Gottnächte!“ Aber ich sah schmerzlich auf seine eingefallenen Wangen. (3.1, 13)

Beide Szenen greifen Hille-typische Motive auf, um sie auf neue, gegenläufige Weise zu interpretieren. Hilles notorische Spontaneität, sein Schreiben auf ‚Fetzen’ in jeder Lebenslage, wird reinszeniert im Bild des „unter einer Laterne“ innehaltenden Poeten, der in ein „kleines schwarzes Heftchen“ schreibt; Hilles Emphase der Trunkenheit kehrt wieder als Erinnerung an die „Dunkelheiten“, die er „tief im Dickicht“, abseits sozial akzeptierter Wege, „getrunken“ habe. Wiederum ist es der anschauliche Gestus der Figur, der diesen Topoi eine Dimension von Versehrtheit verleiht, die ihnen in Hilles Œuvre abgeht. Der unter dem Licht einer Laterne in ein schwarzes Heft schreibende Dichter figuriert als traumverlorenes Kind, seine poetische Produktion als unreife, beiläufige Tätigkeit. Auch das Trinkermotiv wird transformiert, indem es direkt mit den Erfahrungen körperlichen Verfalls – den „eingefallenen Wangen“ – konfrontiert wird. Dem heroisierenden Blick der Hille-Figur, die ihre Trunkenheit zu einer Zeit der „Gottesnächte“ stilisiert, wird Tinos gestischer Blick entgegengehalten, der die Spuren der Trunkenheit als Verwundungen entziffert. Trunkenheit erscheint nicht als Attribut gesunder Männlichkeit, sondern als Regressionsversuch, der das Leben im ‚Dickicht’ dennoch nicht vergessen machen kann. Auch in der folgenden Schilderung des Besuchs bei Gerhart Hauptmann figuriert Hille als Verkörperung sozialer Unreife: „Herr Hauptmann! Ich bringe Ihnen den Peter Hille lebendig hier, er hätte sicherlich wieder die verabredete Stunde versäumt.“ „Ja, ich sah ihn von meinem Fenster aus“, antwortete Gerhart Hauptmann, „und ich möchte ihn selbst heraufholen.“ [...] Und es kamen die Beiden nach einigen Minuten, und Peter sagte zu Hauptmann, mir schelmisch zunickend: „Das ist mein Kamerad, Tino nenne ich sie.“ Wir setzten uns, nachdem Hauptmann zärtlich den Mantel von Peters Schultern genommen. (3.1, 13)

Hauptmann tritt hier – ironisch verstärkt durch die Doppeldeutigkeit seines Namens – wie ein Vater oder Lehrer auf, dem Hille heimgebracht werden muss, damit er nicht „die verabredete Stunde versäumt“. Tino wird von Hille wie von einem Buben „Kamerad“ genannt, bevor Hauptmann ihm „zärtlich“ den Mantel von den Schultern nimmt. Die Szene präsentiert mithin Hille als Kind und die Freundschaft zwischen ihm, Tino und Hauptmann als unheroische Miniaturvariante einer ‚Kameradschaft’, die nichts gemein hat mit jugendbündischer Kameraderie. Indem ‚kindliche’ Umgangsformen wie Zu-

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Spät-Kommen und Trödeln exponiert werden, wertet der Text die von Hilles Kindheitsideal verdrängten ‚ungeschickten’ Facetten kindlichen Verhaltens auf, die in Benjamins Konzeptualisierung von Kindheit als Keimzelle mimetischen Vermögens gegenüber der in instrumentellen Beziehungen erstarrten Erwachsenenexistenz rehabilitiert werden.95 Hilles von Bab diagnostizierte „Beziehungslosigkeit zu allem sozialen Leben“96 wird als Zeichen sozialer Unreife des Bohemien wahrgenommen, der von ‚Kameraden’ betreut werden muss – was Hauptmanns Rolle als zeitweiligem Mentor des Friedrichshagener Kreises einen recht koketten Akzent verleiht.97 Hille selbst hat sich diese Unmöglichkeit autonomen Erwachsenwerdens, wie Lasker-Schüler sie als Stigma und Auszeichnung des Bohemien inszeniert, offenbar nur intermittierend bewusst gemacht. In einem Fragment, das zur Verherrlichung von Kindheit in seinem Werk in frappierendem Widerspruch steht, finden sich die Worte: Unsere Kinder sind uns unheimlich geworden. [...] Wir sind die Babies, wir tragen den knabenhaften, treuherzigen, hochgeschürzten Ton, den starren Puppenblick (5, 229; Hervorhebung M.K.)

Bezeichnenderweise im Rekurs auf gestische Ausdrucksqualitäten, wird hier eine Verkehrung von Kindheit und Erwachsensein konstatiert, die das ‚reine’ Antlitz beider Sphären zerstört zu haben scheint. Indem die ‚unheimlichen Kinder’ dem Wir dessen Schattenseite zukehren, erkennt es sich darin als Gemeinschaft monströser „Babies“, die den „knabenhaften“, „hochgeschürzten Ton“ der ins Erwachsenenalter hinaufgeläuterten Kindheit wie ein Kleid „tragen“ und damit zur Pose entstellen. Der „knabenhafte“ Blick wird sich seiner selbst bewusst als „starre[r] Puppenblick“. Weder die ‚unheimlichen Kinder’ noch das Wir verkörpern eine erlöste Kindheit; in beiden spiegelt sich Kindheit nur als entstellte wider. Allein in diesem Fragment leuchtet bei Hille jene kreatürliche Dimension kindlicher Erfahrung auf die, wie Benjamin es für die ‚arme kurze Kindheit’ konstatiert, „nur im Gestus [...] fassbar“ werden kann.98 Kafkas Josefine-Erzählung wiederum, auf die Benjamin rekurriert, spricht vom Mäusevolk als einer Gemeinschaft, in der man „nicht einmal eine 95

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An der Berliner Kindheit macht Lindner die positive Bedeutung des „Wartens, Trödelns, Zu-Spät-Kommens“ und der „Ungeschicklichkeit“ für Benjamins Konzept von Kindheit evident. B. LINDNER, Das Interesse an der Kindheit, S. 130. J. BAB, Die Berliner Bohème, S. 80. Im Zuge seiner Distanzierung vom Naturalismus wandte sich Hauptmann früh vom Kreis der Friedrichshagener ab, den er durch Vermittlung von Wille und Bölsche anfangs unterstützt hatte. Vgl. G. CEPL-KAUFMANN / R. KAUFFELDT, BerlinFriedrichshagen, S. 116 ff. – In seinem 1910 erschienenen Roman Der Narr in Christo Emanuel Quint hat Hauptmann Hille und Lasker-Schüler in den Figuren Peter Hullenkamp und Annette von Rhyn karikiert. W. BENJAMIN, Franz Kafka, S. 427.

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winzige Kinderzeit“ kenne und deren Angehörige „nicht nur kindlich“, sondern „vorzeitig alt“ seien: „Kindheit und Alter machen sich bei uns anders als bei anderen“.99 Diese doppelte Unmöglichkeit einer erfüllten Kindheit und eines reifen Erwachsenseins wird bei Lasker-Schüler in Verbindung gebracht mit der Unfähigkeit des Bohemien, sich durch Bewahrung seiner ‚Kindheit’ als Gegeninstanz zur bürgerlichen Gesellschaft zu entwerfen.100 Wie Kafkas Mäusevolk seine ‚arme Kindheit’ in der Ärmlichkeit von Josefines Gesang erkennt, der als „flüsternd“ und „heiser“ beschrieben und gerade deshalb als „Sprache unseres Volkes“ angesehen wird,101 bezieht Lasker-Schülers Prophet aus seiner Blässe und Stummheit seine Kraft: Und sie [Hille und Hauptmann; M.K.] sprachen miteinander; ich hörte kaum ihre Worte, doch ich fühlte ihre Stimmungen sich mächtig gestalten. Hauptmanns stolzes Gesicht mit den Reiheraugen neigte sich forschend Peter zu [...]. Und wie aus Stein gehauen saß dieser Mann da [...]. Und es breitete sich ein Gedenken von ihm aus, ein Gedenken an ein wachendes, ewiges Glühen, an eine Welt, die im Zauber lag hinter dunklen Wolken, in deren Paradies das Rautendelein, Hauptmanns erlöste Sehnsucht blühte. (3.1, 13 f.)

Der ‚versteinerte’ Hille verkörpert eine verstummte Kindheit, in der das „Gedenken“ an eine Welt beschlossen ist, „die im Zauber lag hinter dunkeln Wolken“ und die sich nur mehr paradox, in der Märchensprache des „Rautendelein[s]“, artikulieren ließe.102 Kindheit ist zum Rätsel geworden – ein verschlossenes „Paradies“, dessen „Glühen“ sich nicht unmittelbar, sondern nur als stummes ‚Gedenken’ entfalten kann. Indem sie das Stereotyp vom Dichter als Bewahrer der Kindheit explizit an Imagines von Erstarrung und Mortifikation bindet, gibt Lasker-Schüler der Hille-Figur jene Erfahrung von Deprimation und Gewalt zurück, die in Hilles Kindheitskult verdrängt werden. In ihren 99 100

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F. KAFKA, Josefine, die Sängerin, S. 284 f. Ohne die Analogie überzustrapazieren, bleibt bemerkenswert, dass Josefines Körperlichkeit mit Metaphern beschrieben wird, die Lasker-Schülers Ikonographie der ‚blassen’ Kindheit evozieren: Wenn „das zarte Wesen“ singt, ist es, als sei ihr „jede Kraft, fast jede Lebensmöglichkeit entzogen, [...] als könne sie, während sie so, sich völlig entzogen, im Gesange wohnt, ein kalter Hauch im Vorüberwehn töten“ (F. KAFKA, Josefine, die Sängerin, S. 278). – Die These, Lasker-Schüler sei das Vorbild für Josefine gewesen, könnte jenseits biographistischer Verkürzungen insofern an Stringenz gewinnen. Siehe H. BINDER, Else Lasker-Schüler in Prag. Zur Vorgeschichte von Kafkas Josefine-Erzählung. In: Wirkendes Wort 44 (1994), S. 405-438. F. KAFKA, Josefine, die Sängerin, S. 286 f. Es handelt sich um ein Nixenwesen aus Hauptmanns 1896 uraufgeführtem Drama Die versunkene Glocke. Rautendelein lebt aus Liebe zu einem Mann unter den Menschen und verkörpert eine prekäre Schwellenposition zwischen ‚menschlicher’ und ‚märchenhafter’ Sprache.

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posthumen Hille-Essays führt sie eben diese Erfahrung als den Grund für die Faszination an, die Hille auf Kinder ausgeübt habe: Aber die Kinder, noch dumpf und verborgen in sich, ließen ihre kleinen Schaufeln und Eimerchen in den Sand auf den Spielplätzen fallen, wenn sie den großen Wolkenmann nahen sahen. (4.1, 174)

Nicht die ‚gesunden’, sondern die „dumpf[en]“, in sich „verborgen[en] Kinder, die mit „Schaufeln“ und „Eimerchen“ ein kärgliches Spiel treiben, scheinen berufen, sich dem Propheten anzuschließen. Sie repräsentieren die vom bürgerlichen Kinderkult verdrängte Kreatürlichkeit und Ohnmacht, die keine eigene Stimme hat. Tino situiert sich im Umfeld dieser Kinder, wenn sie betont, sie sei „noch ganz klein“ gewesen, als Hille sie kennengelernt und „das kleine Mädchen mit den Knabenaugen“ genannt habe: „Dass ich schon mal verheiratet gewesen war, ja, wer dachte daran, sich auch nur danach umzusehen“ (4.1, 31). Sie trägt einen „Kittel“ wie Straßenkinder (4.1, 31) und ist auf der Grenze zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit, Kinder- und Erwachsenenalter angesiedelt, verkörpert mithin jene unaufhebbare Ambivalenz, die laut Ariès bis zum Beginn des bürgerlichen Zeitalters, vor allem in der Literatur des Barock, in der Gestalt des Cherubin präsent gewesen sei. „Beim Cherubin“, schreibt Ariès, „dominiert die Ambiguität der Pubertät, und die Betonung liegt auf den weiblichen Zügen eines Knaben, der der Kindheit gerade entwächst.“103 Anders als beim ‚Lumpen’ Hille’scher Provenienz wird die Übergangsphase der Adoleszenz in der Gestalt des Cherubin nicht zur privilegierten Sphäre von Gesundheit und Stärke ideologisiert, sondern als Raum unaufgehobener Ambiguität ernstgenommen. Daraus resultiert laut Ariès die spielerisch-ästhetische Produktivität des Cherubin, der seit dem 18. Jahrhundert marginalisiert und eine Figur ohne repräsentative Nachfolger geworden sei. Diese Produktivität, an die die Tino-Gestalt anknüpft, resultiert gerade aus der Uneindeutigkeit der Figur, deren ambivalenter Geschlechtscharakter nicht mit harmonisierenden Phantasien von Androgynität verwechselt werden sollte. Während Androgynitätskonzepte auf eine Versöhnung der Geschlechterpolarität, eine utopische Aufhebung aller Widersprüche zielen, bleiben die widersprüchlichen Charakteristika des Cherubin als Widersprüche bestehen. Als Schwellenfigur zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit verkörpert der Cherubin nicht die versöhnende Aufhebung, sondern die prekäre, aber freie Koexistenz des Widersprüchlichen, das in keinem Bild der ‚Reife’ harmonisiert werden muss. Ariès schreibt mit Blick auf die barocke Tradition der Figur: „[D]a man sehr früh in das soziale Leben eintrat, verliehen die vollen und runden Formen der frühen Adoleszenz, die in etwa mit der Pubertät zusammenfiel, den Knaben zu diesem Zeitpunkt ein 103

P. ARIÈS, Geschichte der Kindheit, S. 87.

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feminines Aussehen. Daraus erklärt sich auch die Leichtigkeit, mit der sich Männer als Frauen verkleideten und umgekehrt – ein Motiv, das in den Barockromanen des frühen 17. Jahrhunderts überaus häufig vorkommt: zwei junge Burschen oder zwei Mädchen freunden sich miteinander an, doch ist einer von beiden in Wirklichkeit ein verkleidetes Mädchen“.104 In ihrer irreduziblen Ambivalenz ist die Figur der Tino angelehnt an die CherubinGestalt, die wie ein als Mädchen verkleideter Junge oder ein als Junge verkleidetes Mädchen aussieht, ohne eines von beiden zu sein. Tino ist darum „himmelblau“ bzw. „rot und grün“ wie die Gestalt eines Bilderbuchs (4.1, 31) – die Verwendung ‚unrealistischer’ Farben für den Körper von Personen markiert bei Lasker-Schüler deren Konnex mit einer sprachlosen, fremd gewordenen Natur.105 Diese Ambivalenz der ‚blassen’ Kinderfiguren korrespondiert mit dem bereits im Peter-Hille-Buch zum Leitmotiv avancierenden Akt des Gabentauschs, der Tand in Kostbarkeiten verwandelt und die bürgerliche Eigentumslogik ebenso suspendiert wie Hilles eigenes Verständnis solipsistischer Selbstbewahrung: Die „Glasmurmel“, die der „Straßenjunge“ seinem „St. Martin“ schenkt (4.1, 32), stiftet eine Gemeinsamkeit zwischen dem Propheten und den ‚blassen’ Kindern und ist Verkörperung des Überflüssigen im doppelten Sinn; als Nippes, der keinen kulturellen Distinktionswert besitzt, und als Spielzeug, das wegen seiner Ärmlichkeit in keiner instrumentellen Zwecksetzung aufgeht. Sie gehört jenem „Traumkitsch“ an, den Benjamin als „graue Staubschicht auf den Dingen“ bestimmt und der er eine Affinität zum Traum als Sphäre mimetischer Erfahrungsgehalte konzediert.106 Welche Form ästhetischer Produktion mit dieser Bestimmung von Kitsch visiert ist und welche ‚Gemeinschaft’ dadurch gestiftet werden soll, lässt sich am Peter-HilleBuch erläutern, worin Petrus’ ‚Steinwerdung’ nicht Telos, sondern Ausgangspunkt der Fiktion ist.

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Ebd. – Die Konzeption des ‚schelmischen Erhabenen’, die Liska anhand der Nächte Tino von Bagdads als grundlegend für Lasker-Schülers Ästhetik aufzuweisen sucht, zielt dagegen auf ein ‚weibliches’ Schreiben bzw. eine „weibliche Autobiographik“. V. LISKA, Die Dichterin und das schelmische Erhabene, besonders S. 53 ff. Zu LaskerSchülers Vorliebe für das ‚Knabenhafte’ vgl. M. SCHULLER, „Ich bin Wasser darum bin ich keine Frau“. Zu Else Lasker-Schülers melancholischer Prosa. In: Fragmente 44/45 (1994) S. 11-24, besonders S. 18 f. Über Androgynie als ästhetische Versöhnungsphantasie A. AURNHAMMER, Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln, Wien 1986. Zur mimetischen und kreatürlichen Ausdruckskraft von Farben vgl. H. BRÜGGEMANN, Walter Benjamin, besonders S.176 ff. W. BENJAMIN, Traumkitsch. In: ders., GW II.2, S. 620-622, hier S. 620 f.; Hervorhebung M. K.

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b) Das Peter-Hille-Buch I: Felsmetaphorik und Namengebung Wenn Lasker-Schüler ihr zwei Jahre nach Hilles Tod publiziertes Peter-HilleBuch aller Kritik am Kindheitskult zum Trotz der Sphäre kindlichen Spiels zuordnet, indem sie es als „Buch für große und kleine Kinder“ (6, 72), als „Spielbibel“ (6, 346) bzw. als „Bibel“ bezeichnet, „die nicht bekehren will“, sondern „ganz klein und heiter, ein Tanzpsalm“ sei (7, 77),107 unterläuft sie durch verniedlichende Metaphern das hagiographische Pathos, das dem Lob von Hilles ‚Kindlichkeit’ gewöhnlich eignet. Zweierlei wird an den improvisierten Gattungsbezeichnungen evident: Einerseits kontaminiert LaskerSchüler heilige und profane Sphäre, ‚Psalm’ und ‚Tanz’, ohne die „Spielbibel“ zu einer im schlechten Sinn verkitschten, um ihren Wahrheitsgehalt gebrachten Version der Heiligenlegende zu machen. Umgekehrt handelt es sich aber auch nicht um eine polemische Profanierung des Hille-Kults. Vielmehr scheint die Profanierung des ‚Heiligen’ Voraussetzung des Erlösungsanspruchs zu sein, den das Buch formuliert und als dessen Movens die Sphäre des Trivialen affirmiert wird: Nicht „bekehren“ zu wollen, das eigene Werk „ganz klein“ zu machen – damit rekurriert Lasker-Schüler auf jenes antihagiographische, ‚blasse’ Prophetentum, als dessen Inkarnation Hille in ihren Essays erscheint. Überdies konstituiert sich ihre poetische Sprache durch den Austausch der „große[n] und kleine[n] Kinder“, deren „Spiel“ ihr Buch erst zur „Bibel“ macht, und verweist damit immer schon auf eine Sphäre freier Kollektivität. Kindheit ist bei Lasker-Schüler nie etwas, das Künstler von sich aus ‚haben’ oder heroisch erringen; vielmehr wird sie ihnen wie eine Auszeichnung verliehen und ist auf ‚Spielgefährten’ angewiesen, die sie beglaubigen. Entscheidend dabei ist der Akt der Namengebung, der nicht die Funktion hat, Identität zu stiften, sondern vom Identitätszwang befreien soll. Ein Vergleich der Namengebungsszenen bei Hille und Lasker-Schüler macht diesen Unterschied evident. Hilles programmatische Sentenz „Ich heiße Peter. Das heißt Fels. Und so ein Felsen [...] will ich sein“ (1, 267) fasst den Eigennamen als unhintergehbare Berufung auf, die das Ich realisieren muss. Das eigene Sein wird als Vollzug und Einlösung des Namens verstanden, der dem Ich vorausgeht und doch unablösbar mit ihm verwachsen ist. In diesem Sinne wird der Ehrenname „Petrus“ in der Bibel begriffen, wenn Christus zu seinem Jünger sagt: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.“ (Matthäus 16, 18) Ganz im biblischen Sinn ist auch bei Hille der Name die Person und muss doch von dieser selbst erst verwirklicht werden. Während 107

Zwischen der ersten Äußerung aus einem Brief an Dehmel nach Veröffentlichung des Bandes und den beiden letzten in Briefen an Richard M. Meyer und Hanns Hirt liegen fast zehn Jahre. Lasker-Schülers Einschätzung des Peter-Hille-Buchs erweist sich damit als erstaunlich konstant.

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aber der biblische „Fels“ Grundlage der „Gemeinde“ sein soll, bürgt seine Festigkeit bei Hille nur mehr für sich selbst. Keine positive Religion soll sich auf ihm gründen, sondern er verkörpert gemäß Hilles mystischem ‚Freidenkertum’ gänzlich autochthon seine eigene Religion und sperrt sich dagegen, Fundament für etwas anderes zu sein. Das Subjekt wird nicht als Realisierung einer übergeordneten göttlichen Berufung aufgefasst, sondern trägt seine Berufung qua Name immer schon in sich: Ebendies ist der Kern von Hilles anarchischem Freiheitsanspruch.108 Dennoch bleiben Name und Person identitätslogisch aufeinander bezogen, denn der Name verpflichtet das Subjekt auf einen Lebensentwurf, durch dessen Verwirklichung es erst Autonomie gewinnen kann. Gegen dieses Konzept des Eigennamens grenzt Hille den Namen Tino ab, wenn er in seinem Lasker-Schüler-Essay behauptet, „Tino“ sei „der unpersönliche Name, den ich für die Freundin und den Menschen fand“ (5, 82; Hervorhebung M.K.). Der Name Tino hat hier nicht den gleichen Rang wie der Name Peter, ist nicht mit der Person verwachsen, sondern „unpersönlich“, entstammt nicht ihr selbst, sondern wurde für sie ‚gefunden’. Dem identitätslogischen Konzept des Namens, das Hille für seine Autorschaft reserviert, steht der Name Tino als ‚unpersönliche’ Bezeichnung gegenüber, aus der sich keine ‚Identität’ abzuleiten vermag. Während Hille seinen Namen durch ‚Verinnerlichung’ der biblischen Namenskonzeption als „Eigennamen“ konstruiert, der – im Sinne von Cassirers Bestimmung des Begriffs – „nicht äußerlich dem Menschen angeheftet ist, sondern irgendwie zu ihm ‚gehört’“,109 wird der Name Tino als ‚angehefteter’ Name begriffen. Lässt sich Hilles Ideal der ‚Petrifizierung’ als Radikalisierung des mythischen Phantasmas vom Eigennamen deuten, bleibt die Rede vom ‚gefundenen’ Namen im Blick auf Tino rein negativ. Der ‚Anheftung’ des Namens wird keine poetisch-schöpferische Dimension zugestanden; sie ist inferior gegenüber dem von Hille für sich selbst beanspruchten mythischen Namenskonzept. LaskerSchüler, die Hilles Essay, aus dem das Zitat stammt, 1917 als Selbstporträt in ihre Gesammelten Gedichte eingefügt und sich so seine Rede vom ‚unpersönlichen Namen’ zueigen gemacht hat, scheint die Formulierung indes nicht pejorativ empfunden zu haben. Ihre eigene Poetik der Namengebung, wie sie im Peter-Hille-Buch entworfen wird, kann adäquat nur begriffen werden als Ge108

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Hierin unterscheidet sich Hilles Inanspruchnahme der Felsmetapher zur Legitimation seiner Autorschaft von der Darstellung in Das Mysterium Jesu, die sich strenger an die biblische Vorlage hält. Dort sagt Christus zum Jünger Simon Bar Jona: „Dein erdhaftes Vertrauen fasst den Himmel. Und ich sage dir, du bist der Felsen, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.“ (GW 1, 188) – Einen Vergleich des Mysteriums Jesu mit dem Peter-Hille-Buch unternimmt C. REISS-SUCKOW, „Wer wird mir Schöpfer sein!!“, S. 57 ff. E. CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen. 2. Teil: Das mythische Denken. Oxford 1954, S. 54.

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genentwurf zu Hilles identitätslogischem Konzept des Eigennamens.110 In der Eingangssequenz des Peter-Hille-Buchs greift sie Hilles Felsmetaphorik und seine Vorstellung vom ‚gefundenen’ Namen auf, um beidem eine neue Qualität zu verleihen: Ich war aus der Stadt geflohen und sank erschöpft vor einem Felsen nieder und rastete einen Tropfen Leben lang, der war tiefer als tausend Jahre. Und eine Stimme riss sich vom Gipfel des Felsens los und rief: „Was geizst du mit Dir!“ Und ich schlug mein Auge empor und blühte auf und mich herzte ein Glück, das mich auserlas. Und vom Gestein zur Erde stieg ein Mann mit hartem Bartund Haupthaar, aber seine Augen waren samtne Hügel. Und kleine Kobolde kletterten über seinen Rücken und beklopften ihn mit ihren Hämmerchen und nannten ihn Petrus. Und wir stiegen ins Tal herab und der Mann mit dem harten Bart- und Haupthaar fragte mich, von wo ich käme – aber ich schwieg; die Nacht hatte meine Wege ausgelöscht, auch konnte ich mich nicht auf meinen Namen besinnen, heulende hungrige Norde hatten ihn zerrissen. Und der mit dem Felsennamen nannte mich Tino. Und ich küsste den Glanz seiner gemeisselten Hand und ging ihm zur Seite. (3.1, 29)

Die in der Forschung durchweg unterstellte Annahme, diese Szene inszeniere Petrus als vorgängige Autorität und poetische Legitimationsinstanz, von der das Ich seinen Namen empfange und seine Autorschaft herleite,111 ist mit dem Wortlaut unvereinbar. Tatsächlich erzählt der Text zunächst von der Erschaffung der Petrus-Figur selbst, die sich nicht, wie bei Hille, im Modus der ‚Selbstversteinerung’, sondern durch Ablösung vom Felsen konstituiert: Ihre „Stimme“ reißt sich „vom Gipfel des Felsens los“, woraufhin Petrus „vom Gestein zur Erde [...] ins Tal herab“ steigt. Nicht indem er versteinert, sondern indem er als steinerne Figur, zu der er geworden ist, lebendig wird, eine Kameradin findet und die Gipfelposition verlässt, um sich ins Tal – unter die Leute, ins ‚Volk’ – zu begeben, gewinnt Petrus Kontur. Eine Kontur, die er, 110

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Die differenzierteste Auseinandersetzung mit Lasker-Schülers Poetik der Namengebung findet sich bei M. FESSMANN, Spielfiguren, besonders S. 16 ff. Einen Bezug zu Hilles Poetik des Eigennamens stellt Feßmann allerdings nicht her. Laut Feßmann soll das Peter-Hille-Buch „ein Denkmal für den verstorbenen Freund und die Darstellung der Legitimität des von ihm initiierten Dichtertums“ sein, stürze Lasker-Schüler aber in einen Konflikt, weil sie Hilles Namen, um ihre Autorschaft zu legitimieren, ebenso bekräftigen wie „auslöschen“ müsse (M. FESSMANN, Spielfiguren, S. 155). Für Schuller ist der Name Tino eine „Gabe aus der Hand des zum Apostel verklärten Vaters“ (M. SCHULLER, „Ich bin Wasser“, S 12). Nach Bischoff „verkörpert Petrus für die [...] in fremder Umgebung sich befindende und orientierungslose Ich-Figur den [...] Orientierung stiftenden Felsen“ (D. BISCHOFF, Ausgesetzte Schöpfung, S. 106). Di Rosa bezeichnet die Namengebung durch Petrus als „Legitimation der mythisch-poetischen Mission Tinos“ (V. DI ROSA, Literarisches Duett. Zu Else Lasker-Schülers Peter-Hille-Buch. In: Prophet und Prinzessin, S. 185-206, hier S. 196).

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im Unterschied zu Hille, nicht einfach sich selbst verdankt, sondern ebenso den „kleine[n] Kobolde[n]“, die als Bildhauer in Erscheinung treten: Sie „beklopften ihn mit ihren Hämmerchen und nannten ihn Petrus“, ganz wie ein Bildhauer seinem Werk, das mit Vollendung zum Leben erwacht, einen Namen gibt. Während die solipsistische ‚Felswerdung’ Telos und Vollendung von Hilles Poetik ist, erscheint der Fels bei Lasker-Schüler als Material, aus dem die Kobolde Petrus wie eine Kunstfigur herauslösen. Zur Figur, zum ästhetischen Objekt zu werden, geht nicht mit Mortifikation einher, sondern ermöglicht erst Leben im emphatischen Sinn. Dieses Leben stiften die Kobolde, die Petrus als anonyme Handwerker in die Welt setzen, denen er aber zugleich, einmal lebendig geworden, gleichsam unter den Händen wegläuft, so dass sie noch „über seinen Rücken“ klettern, während er schon zur Erde hinabsteigt. Wer in dieser Urszene ästhetischer Produktion, deren Komik erstaunlicherweise noch nie bemerkt worden ist, als Schöpfer und als Geschöpf agiert, kann nicht eindeutig bestimmt werden. Einerseits haben offensichtlich die Kobolde Petrus erschaffen, und seine „Hand“ – selbst archetypisches Symbol von Schöpferkraft – wurde durch ihre Hämmerchen erst „gemeisselt“. Andererseits reißt sich seine „Stimme“ vom Felsen „los“, und er verselbständigt sich als autonome Figur, als ‚Landschaft’, deren „Hügel“ von den Kobolden ‚belebt’ werden. Damit entwirft Lasker-Schüler ein Szenario, das nicht nur als Kontrafaktur von Hilles Ästhetik der Petrifizierung, sondern auch als Parodie auf den traditionsreichen Topos der Selbsterschaffung verstanden werden muss, wie er in Nietzsches Also sprach Zarathustra, einem wichtigen Prätext des Prosabandes,112 mit den Motiven des Steins, des Gipfels und der Kobolde verknüpft wird. Unmittelbar nach Proklamierung seiner heroischen Poetik des ‚eigenen Blutes’ verkündet Zarathustra: Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu Gipfel: aber dazu musst du lange Beine haben. [...]

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Bischoff, die den Bezügen zur Zarathustra-Figur breiten Raum gewährt, versteht das Peter-Hille-Buch als Bekräftigung von Nietzsches Perspektive und übersieht dessen parodistische Momente. D. BISCHOFF, Ausgesetzte Schöpfung, S. 105 ff. Unbemerkt bleiben die Divergenzen zwischen Lasker-Schüler und Nietzsche auch bei ReißSuckow, die die Nietzsche-Referenzen allzu konkretistisch erklärt, indem sie etwa Tinos Besuch am Grab des namenlosen Propheten in der Episode „Petrus erprobt meine Leidenschaft“ als Beschreibung von Lasker-Schülers Besuch an Nietzsches Grab „in Röcken bei Lützen“ deutet. C. REISS-SUCKOW, „Wer wird mir Schöpfer sein!!“, S. 70 f. – Eine differenzierte Einschätzung von Lasker-Schülers Nietzsche-Kenntnis zur Entstehungszeit des Peter-Hille-Buchs gibt L. BLUHM, Nietzsche – Steiner – LaskerSchüler. Wege der Nietzsche-Rezeption bei Else Lasker-Schüler. In: ELSJB 1 (2000), S. 89-120, besonders S. 105 ff.

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Die Luft dünn und rein, die Gefahr nahe, und der Geist voll einer fröhlichen Bosheit: so passt es gut zu einander. Ich will Kobolde um mich haben, denn ich bin muthig. Muth, der die Gespenster verscheucht, schafft sich selber Kobolde, – der Muth will lachen. [...] Ihr seht nach Oben, weil ihr nach Erhebung verlangt. Und ich sehe hinab, weil ich erhoben bin.113

Die erhabene, den übermächtigen Gewalten trotzende Situierung des Propheten auf dem „Gipfel“, sein ‚Erhobensein’ in die „dünn[e] und rein[e]“ Luft, dem bei Lasker-Schüler das Hinabgehen von Petrus ins Tal gegenübersteht, ist Voraussetzung für Zarathustras „Muth“, der „sich selber Kobolde“ schafft. Jenseits des Gegensatzes zwischen der ‚erhobenen’ Selbstherrlichkeit des Propheten, die Zeugnis seiner unbedingten Autonomie ist, und der sklavischdevoten Sehnsucht der Menge nach „Erhebung“, die nicht vom Subjekt geleistet werden, sondern ihm geschehen soll, scheint es kein Drittes zu geben. Das Lachen des Propheten ist Ausdruck seiner Souveränität, durch die er sich von der in passiver Sehnsucht verharrenden Menge unterscheidet. Dieser Gedanke einer heroischen, solipsistischen Einsamkeit, die kein reales Gegenüber benötigt, weil sie sich ihre eigenen Dialogpartner schafft, und die die „Gespenster“ – Repräsentanten des Verdrängten und Vergangenen im eigenen Selbst – mit „fröhliche[r] Bosheit“ besiegen zu können glaubt, wird später gesteigert zum Phantasma des aus dem Stein gemeißelten ‚neuen Menschen’: Aber zum Menschen treibt er mich stets von neuem, mein inbrünstiger Schaffens-Wille; so treibt’s den Hammer hin zum Steine. Ach, ihr Menschen, im Steine schläft mir ein Bild, das Bild meiner Bilder! Ach, dass es im härtesten, hässlichsten Steine schlafen muss! Nun wüthet mein Hammer grausam gegen sein Gefängniss. Vom Steine stäuben Stücke: was schiert mich das?114

Wie das Bild der Kobolde ist bei Nietzsche auch die Bildhauermetapher eingebunden in eine Logik der Selbstschöpfung, die sich von Hilles Ideal der Petrifizierung nur durch die Richtung unterscheidet, ihm aber an Gewaltsamkeit kaum nachsteht. Bilden sich bei Hille die Konturen des Felsens, der die Selbsterschaffung des Subjekts gegen den Druck der Außenwelt verkörpert, durch inwendig ausgeübte Gewalt, die alles Inkommensurable, jedes ‚Bläschen’ tilgt, transzendiert sich das Ich bei Nietzsche durch ‚Meißelung’ des Menschen, dessen empirische Präsenz sich das im „Gebirge“ situierte Subjekt vom Leibe hält, dessen „Bild“ jedoch aus seinem „Gefängniss“ im „hässlichs113 114

F. NIETZSCHE, KA 4: Also sprach Zarathustra, S. 48 f. Ebd., S. 111.

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ten Steine“ befreit werden soll. Obwohl Telos der Hille’schen Poetik die ‚Selbstversteinerung’ ist, während bei Nietzsche umgekehrt dem toten Material des Steins ein neues, lebendiges Bild abgerungen werden soll, korrespondiert Hilles solipsistische Parole „Ich, nur Ich“ (1, 316) mit dem „inbrünstige[n] Schaffens-Wille[n]“ Zarathustras. Beiden geht es um Aufhebung des principium individuationis, um Transzendierung des empirischen Subjekts, und doch können beide diese wieder nur als einsame Tat des genialischen Einzelnen denken, der paradoxerweise als Geschöpf dieser Tat erst entstehen soll. Obwohl es in Nietzsches Szenario der Selbsterschaffung um kein ästhetisches Abhärtungsritual, sondern um die Sprengung des ‚Gefängnisses’ der Individuation geht, fehlt seiner Phantasie des gemeißelten Steins, dem Zarathustra bezeichnenderweise „das Bild meiner Bilder“ – und nicht etwa ein radikal fremdes Bild – abtrotzen möchte, jener Rekurs auf das Andere, Subjektfremde, das Lasker-Schüler mit dem Austausch zwischen Petrus und den Kobolden ins Spiel bringt, deren „Hämmerchen“ sich als Travestie auf Zarathustras „Hammer“ verstehen lassen.115 Lasker-Schülers Felsen-Szenario liest sich vor diesem Hintergrund als Kontrafaktur sowohl von Hilles wie von Nietzsches poetischen Selbstschöpfungsphantasien. Anders als bei Hille kommt im Peter-Hille-Buch der Akt der Namengebung keiner Berufung gleich, die vom Subjekt eingelöst werden muss, sondern er besiegelt die Erschaffung der Figur wie ein Titel die Vollendung eines Kunstwerks und setzt sie gleichsam frei. Im Gegensatz zu Nietzsche sind die Kobolde keine selbstherrlichen Schöpfungen des Ich, sondern namenlose, fremde Wesen, die Petrus vom Felsen losgelöst haben und nach seiner Vollendung doch Teil seiner ‚Landschaft’ bleiben. Auch die ‚Ernennung’ der Erzählerin zu Tino setzt eine Kette von Namengebungen fort, die mit der ‚Ernennung’ der Felsfigur initiiert wird und deren letztbegründender Ursprung im Dunkeln bleibt.116 Wie Petrus seinen Namen nach Trennung vom Felsen bekommt, erhält Tino ihren Namen nach Loslösung von ihrer Vergangenheit. Dass sie „aus der Stadt geflohen“ ist, die „Nacht“ ihre „Wege ausgelöscht“ hat und „heulende hungrige Norde“ ihren Namen „zerrissen“ haben, ist nicht als bloße Negativerfahrung misszuverstehen. Vielmehr sind die ‚Zerreißung’ des ursprünglichen Namens und die ‚Auslöschung’ des früheren Lebenswegs Teil 115

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Bischoff behauptet in offensichtlichem Widerspruch zum Wortlaut, die Kobolde im Peter-Hille-Buch könnten „allenfalls als Ausführungsgehilfen einer ansonsten verborgenen schöpferischen Macht gelten“, und schenkt der Dimension des KomischBurlesken, die mit dieser Figurengruppe eingeführt wird, keine Beachtung. Vgl. D. BISCHOFF, Ausgesetzte Schöpfung, S. 135. Das heißt nicht, dass die „Rolle des schöpferischen Bildhauers“ schlicht „unbesetzt“ bleibt, wie Bischoff aus Perspektive ihrer poststrukturalistischen Interpretation behauptet. Vielmehr ist mit den Kobolden eine Sphäre schöpferischer Kollektivität angesprochen, die sich keineswegs als ‚Leerstelle’ wegdekonstruieren lässt. Siehe D. BISCHOFF, Ausgesetzte Schöpfung, S. 135.

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ihrer Freisetzung, die durch poetische Namengebung besiegelt wird. Das zeittypische Motiv der ‚Stadtflucht’, das hier angespielt ist und unter den Mitgliedern des Friedrichshagener Dichterkreises und der Neuen Gemeinschaft geradezu topisch war, wird als Flucht ernstgenommen, die das Ich „erschöpft“ und doch dessen ‚Freisetzung’ allererst ermöglicht. Mit dem Bild der „Rast“, die „einen Tropfen Leben lang“ dauert, aber „tiefer als Tausend Jahre“ ist, in der sich das Ich also wie ein „Tropfen“ aus seiner Verkapselung befreit und in eine neue Zeitdimension fallen lässt, ist das erlösende Moment dieser Losreißung eindrucksvoll beschrieben. Die Zerreißung des „Namens“ durch „hungrige Norde“ – Sinnbild für Entbehrung und Identitätsverlust – ist Voraussetzung für die Rast, die zwar innerhalb der linearen Zeit stattfindet, mit der jedoch eine qualitativ neue Zeitdimension und ein neues, qua Namengebung initiiertes ‚Leben’ der Figur beginnt. Insofern liest sich die gesamte Eingangssequenz wie eine Reinszenierung von Nietzsches in Menschliches, Allzumenschliches entwickeltem Theorem der „grossen Loslösung“: Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus „freier Geist“ einmal bis zur Vollkommenheit reif und süss werden soll, sein entscheidendes Ereignis in einer grossen Loslösung gehabt hat [...]. Die grosse Loslösung kommt für solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, – sie selbst versteht nicht, was sich begibt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehn, irgendwohin, um jeden Preis [...] – derlei Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der grossen Loslösung.117

Die Affinität zwischen Nietzsches Konzept der Loslösung und der ‚Losreißung’ von Petrus bzw. Tino besteht im Gedanken einer paradoxen Einheit von Autonomie und Destination. Die Loslösung, in der sich der „Wille zum freien Willen“ bahnbricht,118 impliziert ein Moment radikaler Kontingenz: Sie kommt „plötzlich“ und wird „wie ein Erdstoss“ erlitten, der „Antrieb“ des Subjekts schlägt dabei um in einen „Befehl“. Der autonome Wille wächst gleichsam über das Ich hinaus und erscheint als dessen „Herr“. In ähnlicher Weise unterminieren die Bilder der ‚Losreißung’ im Peter-Hille-Buch die Dichotomie von Selbstschöpfung und Fremdbestimmung: Wie Petrus sich vom Felsen losreißt und doch von den Kobolden ‚herausgemeißelt’ wird, „blüht“ Tino „auf“ und wird zugleich ‚auserlesen’. Aktivität und Passivität, ‚Auserwählung’ und ‚Aufblühen’ werden ineins gesetzt. Konsequent zielt die Namengebung weder auf das Phantasma solipsistischer Selbsterschaffung noch auf identifizierende ‚Entselbstung’ des Subjekts, etabliert aber auch keine 117 118

F. NIETZSCHE, KA 2: Menschliches, Allzumenschliches I und II, S. 15 f. Ebd., S. 17.

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starre Hierarchie zwischen Benennendem und Benanntem. Sowohl Petrus wie Tino empfangen ihren Namen als Geschenk, das die Erfahrung der ‚Losreißung’ in „Glück“ verwandelt. Der Akt der Namengebung ist keine patriarchale Geste, die Tinos Identität an die Hille-Figur als Vaterinstanz binden würde, sondern im Gegenteil Modus der Dehierarchisierung. Deshalb wird er mit dem Gang „ins Tal herab“ verknüpft, der mit Petrus’ Abstieg vom „Gipfel“ als traditionellem Ort des Propheten beginnt und dem Tino sich „ihm zur Seite“, mithin gleichgeordnet, anschließt.119 In diesem dehierarchisierenden Impetus unterscheidet sich das Konzept der ‚Losreißung’ im Peter-Hille-Buch von Nietzsches Schmerzensheroismus. Sie ist kein einsamer Akt, sondern bleibt bezogen auf das ‚Finden’ einer neuen Person bzw. eines neuen Namens. Entsprechend erklärt Petrus, er wisse nicht, wer Tino sei, denn er habe sie „gefunden“ – „irgend ein fremder, gebräunter Stern hat sie wol aus der Hand fallen lassen“ (3.1, 31). Tino ihrerseits bezeichnet Petrus als „den Gefundenen“ (3.1, 29). In der Metapher des Findens einer Person bleibt deren Fremdheit und Unverfügbarkeit ebenso präsent wie die Kontingenz der Begegnung, die den Austausch stiftete. Sie bewahrt die Erinnerung daran, dass es kein Selbst ohne Andere, keine Autonomie ohne kollektiven Austausch geben kann.120 Als Geschenk bzw. Gabe konstituiert der Name bei Lasker-Schüler keine Hierarchie zwischen Schenkendem und Beschenktem, sondern verleiht der Person eine ebenso reale wie poetische ‚zweite Identität’. Die von Cassirer konstatierte Dichotomie zwischen den auf ihre „Darstellungsfunktion“ reduzierten, ‚angehefteten’ Worten und dem mythischen „Eigennamen“, in dem „der Gegenstand selbst und seine realen Kräfte enthalten sind“,121 wird dabei aufgehoben. Der ‚angeheftete’ Name bei Lasker-Schüler bewahrt die Initiationsfunktion des Eigennamens zwar insofern, als er „ein neues Selbst“ stiftet,122 bricht jedoch mit dessen Identitätslogik, indem er die ‚ernannte’ Person in eine poetische Figur verwandelt und die Identität, die der Eigenname garantiert, durch spielerische Verdoppelung unterläuft. Der Selbstverlust, der am Beginn des Peter-Hille-Buchs thematisch ist, wird denn auch nicht durch ‚Selbstversteinerung’ aufgefangen, sondern transformiert in eine emphatische Selbstentäußerung. Deshalb lauten Petrus’ erste Worte gegenüber der Erzählerin: „Was geizst du mit Dir“. Die Aufforderung, nicht mit sich zu geizen, stellt 119

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Diese Implikationen des Szenarios von ‚Tal’ und ‚Gipfel’ bleiben unbemerkt bei I. HERMANN, Wege zur ästhetischen Literalität – Topographie des Schreibens in Else Lasker-Schülers Peter-Hille-Buch. In: Prophet und Prinzessin, S. 207-225. Feßmann versteht die mit der „Verleihung eines neuen Namens“ verbundene „Abtrennung vom Eigennamen“ als Akt der „Gewalt“ und übersieht, dass die Namengebung bereits hier bezogen wird auf eine die Logik der ‚Selbstschöpfung’ unterlaufende poetische Spielgemeinschaft. Vgl. M. FESSMANN, Spielfiguren, S. 153. E. CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil, S. 53. Ebd., S. 54.

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Hilles Solipsismus (‚Ich, nur Ich’) ein Subjektkonzept entgegen, das sich nicht mit dem partikularen Ich begnügt, sondern dessen Grenzen im Modus eines poetischen Austauschs sprengt, der durch Weitergabe ‚gefundener’ Namen initiiert wird. Diese Aufwertung des ‚gefundenen’ Namens lässt sich weder mit den namenstheologischen Ansätzen etwa Benjamins oder Scholems noch mit den Namensklassifikationen der Sprachwissenschaft, die zur Deutung poetischer Namen wenig beizutragen haben,123 vereinbaren. Er schreibt zwar das namenstheologische Theorem von der ‚Belebung’ des Namens und von dessen initiativer Kraft fort, knüpft diese aber scheinbar paradox an ‚gefundene’, eben nicht mit der Person verwachsene Namen. Bei Lasker-Schüler ist der Name kein Analogon zur Haut, die zum Menschen gehört und für die Konturen seiner Identität bürgt, sondern funktioniert wie ein Kostüm, das abgelegt und ausgetauscht werden kann, aber eben deshalb grundlegend für das poetische Spiel bleibt.124 Er stiftet eine poetische Gemeinschaft und ist doch fast intim an die Person gebunden – Eigenschaften, die sich zusammenfassen lassen im Begriff des Kosenamens, der als Gegenentwurf zum Eigennamen verstanden werden muss und konstitutiv für das Konzept von Kindheit ist, das Lasker-Schüler Hilles heroischem Kindheitsideal gegenüberstellt. Während der Eigenname die Person an eine von ihr zu realisierende Identität bindet, schafft der Kosename einen ‚Übergangsraum’ im Sinne Winnicotts – eine Sphäre spielerischer Verdoppelung von Ich und Welt, in der das Kind lernt, ‚echte’, nicht auf die Symbiose mit der Mutter fixierte Objektbeziehungen zu entwickeln und Formen symbolischen Austauschs zu erproben.125 So inadäquat Winnicotts Begriff des Übergangsraums als psychoanalytische Kategorie im Blick auf Lasker-Schüler wäre, so instruktiv ist er zur Erläuterung der formalen Struktur des Kosenamens als Modus poetischen Tauschs. Übergangsobjekte (Bettzipfel, Kuscheltiere, Murmeln usw.) befähigen das Kind, „Unterschied und Ähnlichkeit zu akzeptieren“ und regressive Verschmel123

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Die Klassifikationen der Onomastik bleiben meist rein formal und lassen allenfalls sehr abstrakte Aussagen über die poetologische Dimension literarischer Namenskonzepte zu. Vgl. etwa D. LAMPING, Der Name in der Erzählung. Zur Poetik des Personennamens. Bonn 1983; F. DEBUS, Namen in literarischen Werken. (Er)Findung – Form – Funktion. Stuttgart 2002. Zur Namenstheorie Benjamins und Scholems siehe W. MENNINGHAUS, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frankfurt/M. 1980, besonders S. 188 ff. Insofern scheinen mir weit größere Affinitäten zur Namenspoetik des Barock zu bestehen. Vgl. U. ERNST, Der Name als Kostüm. Spielarten literarischer Onomastik im Werk Grimmelshausens. In: W. HAUBRICHS / W. KLEIBE / R. VOSS (Hgg.), Vox Sermo Res. Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Festschrift für Uwe Ruberg. Stuttgart, Leipzig 2001, S. 75-96. Über den durch Goethe etablierten Vergleich zwischen Eigenname und Haut siehe E. CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil, S. 54 f. D. W. WINNICOTT, Vom Spiel zur Kreativität, S. 10 ff.

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zungssehnsüchte zu überwinden,126 zugleich aber ein durchlässiges, nicht auf pure Selbstidentität reduziertes Ich zu entwickeln. In seiner Konzeptualisierung kindlichen Spiels als „intermediäre[m] Bereich“127 und seiner Aufwertung ephemerer Gegenstände wie Murmeln koinzidiert Winnicotts Theorem des Übergangsraums nicht nur mit Lasker-Schülers Metaphorisierung des Buchs als ‚Laden’, sondern auch mit ihrem spezifischen Konzept spielerischer Namengebung. Im gesamten Peter-Hille-Buch werden nicht nur Figuren wie Onit von Wetterwehe, Klein-Pull, Hellmüte usw. durch Namengebung weniger bloß bezeichnet denn konstituiert,128 sondern auch als Metamorphosen bekannter Namen in Szene gesetzt – „Onit“ ist eine Inversion von „Tino“ –, so dass ihre Identität ebenso aufgeweicht wird wie ihre feste Positionierung innerhalb des Figurengeflechts. Der Name „Petrus“ verwandelt sich je nachdem, in welchem Rahmen er erscheint, in „Petrus-Poseidon“, „Petrus-Noah“ usw. (3.1, 32; 42 f.), vermittelt also spielerisch zwischen heterogenen Bedeutungsfeldern. Auch die Ambivalenz von Überhöhung und Verniedlichung, die alle ‚verliehenen’ Namen bei Lasker-Schüler kennzeichnet,129 lässt sich mit dem Theorem des Übergangsraums fassen: Kosenamen formen aus der biographischen Person eine poetische Figur, die nicht einfach an deren Stelle tritt, sondern sie zugleich ‚enthält’. Anders als der bei Hille so häufig begegnende Spitzname haben sie nicht die Tendenz, die Person, der sie ‚angeheftet’ werden, zu erniedrigen, sondern dienen in ihrem verniedlichenden Gestus deren Lobpreisung. Im Wechselspiel zwischen Erhöhung und Verniedlichung koinzidiert der Kosename mit der Funktion von Tand und Nippes, die als ‚gefundene’ Objekte ebenfalls einen ‚intermediären’ Raum stiften. In der Episode „Petrus und der Smaragd“ wird die Bedeutung solcher gefundenen Gegenstände wiederum im Rekurs auf die Sphäre des Ladens als Ort poetischen Austauschs exponiert: Vor uns schimmerte der See in grünen Strahlensplittern. Wir sitzen auf einem niederen Hügel aus Kies und lassen die kleinen Dinger durch unsere Finger gleiten. „Sieh, was ich hier gefunden habe!“ rief Petrus und in der Hand hielt er einen durchsichtigen Stein und prüfte seine Reine. „Einen Smaragd habe ich gefunden! Du glücklicher kleiner Schelm, ich lasse ihn Dir in Strahlen fassen.“ 126 127 128

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Ebd., S. 15 f., Zitat S. 15. Ebd., S. 24. Die Grenze zwischen Nennen und Benennen wird den Namengebungsszenen des Peter-Hille-Buchs aufgelöst. So heißt es über „drei Gestalten“, die sich Onit von Wetterwehes Garten nähern: „Petrus nannte den schönsten der beiden Jünglinge Antinous und den andern Grimmer von Geyerbogen“ (KA 3.1, 31). Ob er die Namen kennt oder ‚findet’, bleibt in der Schwebe. Meike Feßmann betont die Affinität der Namengebung zu Formen ritueller Initiation und spricht von Lasker-Schülers Versuch der Konstitution „einer Welt unverbrüchlicher Zeichen“. Vgl. M. FESSMANN, Spielfiguren, S. 116.

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Aber ich machte Petrus den Vorschlag, lieber für seinen Ertrag den Sonnenwendtag eichenmethgolden zu feiern. Und wir eilten in die Stadt. Petrus hatte vorher den Edelstein zwischen meine beiden Hände gelegt, sorglich, wie in ein Schmuckkästchen. [...] [U]nd ich schritt zagend hinter ihm in den Juwelenladen und wurde befangen, als die Verkäufer uns neugierig nach unseren Wünschen fragten. Triumphierend aber legte Petrus den kostbaren Fund auf die Oberfläche seiner Hand. „Zwischen Kiesel habe ich ihn gefunden, wie ich ihn nicht strahlender dichten könnte in der Krone einer Königin. Aber Euren Herrn will ich selbst fragen, ob er ihn erstehen will.“ Der hatte ihn schon von ferne leuchten sehen und stellte mit ihm eine regelrechte Prüfung an. [...] „Ihr bringt mir da einen kostbaren Juwel, Meister, wenn ihr mit zehn Goldstücken zufrieden seid, so wären wir einig?“ Hinter den Glasschränken [...] gebückt, versuchten die Verkäufer ihr Lachen zu verbergen, indessen ihr Herr sich immer von neuem freute über das Feuer des Smaragds. Und als wir wieder vor dem Schaufenster standen, legte Petrus die zehn Goldstücke lächelnd in meine Hände [...]. Aber als ich mich noch einmal [...] umwandte, sah ich den galanten Goldschmidt umringt von heiteren Gesichtern vor der Türe seines Goldladens stehen. (3.1, 53 f.)

Das Lob des ‚Ladens’ gerade als Ort der Aufhebung des Warentauschs im Modus zweckfreien poetischen Tauschs, wie Lasker-Schüler es in „Stadt, Buch und Läden“ programmatisch formuliert hat, ist in dieser Szene bereits angelegt. Trotz seiner vorgeblichen Reinheit korrespondiert Hilles Smaragd mit der „Glasmurmel“, die „St. Martin“ von einem „Straßenjungen“ geschenkt bekommt (4.1, 32). Beide erhalten ihren Wert gerade nicht durch ‚Kostbarkeit’, sondern durch ihre affektive Bedeutung als poetische Tauschobjekte. Wird in der St.-Martin-Szene der Tand zur heiligen Gabe, ist die Echtheit des Smaragds, zieht man Tinos ‚Befangenheit’ beim Betreten des Juwelierladens und das „Lachen“ der Verkäufer in Betracht, zumindest äußerst zweifelhaft. „Zwischen Kiesel“ auf einem „niederen“ (nicht etwa niedrigen) Hügel gefunden, erscheint er wie eines jener „kleinen Dinger“, die man durch die „Finger gleiten“ lässt, als Sinnbild des Ephemeren, das Petrus lediglich zum „Smaragd“ erklärt. Seine „Reine“ und sein auch von den Verkäufern wahrgenommenes „Feuer“ werfen indes tatsächlich einen quantifizierbaren „Ertrag“ ab, verwandeln ihn also wiederum in einen ‚echten’ Smaragd. Dennoch wird der Stein dadurch nicht zum Handelsgegenstand, sondern zum Objekt zweckfreier ‚Freude’ und ‚Neugierde’. Wie Petrus und Tino, die ihre „zehn Goldstücke“ nicht etwa auf ihren Tauschwert hin betrachten, sondern sie für den „eichenmethgolden[en]“ Sonnenwendtag verwenden wollen – das Gold des Geldes soll im ‚Gold’ des Feiertags realisiert und nicht dafür eingetauscht werden –, ist das „Juwel“, das Petrus „nicht strahlender dichten könnte“, für die Verkäufer kein Spekulationsobjekt. Ihr Lachen wäre ebenso missverstanden, wollte man es als Belustigung über Petrus’ Phantasie begreifen, die einen wertlosen

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Stein zur Kostbarkeit erklärt.130 Vielmehr handelt es sich um eine interesselose Heiterkeit, die sich an einem Stein erfreut, der zwar erworben wurde, dessen Wert aber für die affektive Freude an seinem ‚Feuer’ nicht von Belang ist. Insofern lässt sich die Ikonographie von Handel und Tausch – „Juwelenladen“, „Schaufenster“, „regelrechte Prüfung“ – bereits ganz im Sinne der Ausführungen in „Stadt, Buch und Läden“ als Übergangsraum verstehen, der ‚Ökonomie’ in ‚Poesie’ verwandelt, ohne jene durch diese schlicht zu ersetzen.131 In diesem Kontext sind die Profanierungen und Trivialisierungen etwa des Juweliergeschäfts zum „Goldladen“, der „Strahlen“ zur Schmuckfassung, des Goldschmieds zum „galanten Goldschmidt“ und der „Glasschränke“ zum Versteck für die kindlich-neckischen Verkäufer zu verorten: Das Juweliergeschäft verwandelt sich in einen poetischen Spielplatz, in dem ‚Ökonomie’ zwar vorkommt, jedoch keinen wirklichen Einsatz mehr bedeutet. Die Handsymbolik, die traditionell sowohl für die schöpferische Produktivität des Einzelnen wie für ökonomischen Handel einsteht, wird denn auch gegen sich selbst gekehrt: Wenn Petrus den Smaragd „in der Hand“ hält, ihn Tino in die Hände legt, als wären sie „ein Schmuckkästchen“, und ihn auf der „Oberfläche seiner Hand“ zum Verkauf darbietet, präsentiert er nichts originär von ihm Geschaffenes, sondern einen „Fund“, der durch Weitergabe an andere nicht diesen übereignet, sondern wie von einem ‚Kästchen’ in ein anderes gebettet wird, trotz seiner affektiven Bedeutung für die Subjekte mithin den Charakter des Subjektfremden nie verliert. Er gehört den Tauschenden an und ist doch nicht ihr Eigentum, ganz wie der Kosename ein affektives Band zwischen ihnen stiftet, ohne je zum Eigennamen zu werden.

c) Komik, Trivialisierung, Kollektivität Wie der Kosename keine Verspottung oder Erniedrigung, sondern eine Auszeichnung der Person impliziert, lassen sich die komisierenden und trivialisierenden Kontexte, in denen die Hille-Figur bei Lasker-Schüler begegnet, als affirmative Profanierungen, als positive Travestien deuten, wenn man die Travestie mit Gérard Genette als hypertextuelle Transformation fasst, bei der „der parodierte Inhalt durch ein System stilistischer Transpositionen und herabset-

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In diesem Sinne interpretiert die Szene C. REISS-SUCKOW, „Wer wird mir Schöpfer sein!!“, S. 40 f. Diese komplexen Implikationen der Bilder vom ‚Finden’ und ‚Tauschen’ werden übersehen von I. HERMANN, Ästhetische Literalität, S. 222 ff. – Hermanns Behauptung einer Analogie zwischen Lasker-Schülers Poetik und Stifters Ästhetik des Sammelns in den Bunten Steinen scheint mir abwegig.

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zender Themen abgewertet wird“.132 Von positiven Travestien lässt sich insofern sprechen, als die Profanierung ‚hoher’ Inhalte bei Lasker-Schüler nicht der blasphemischen Bloßstellung, sondern der paradoxen Aufwertung des travestierten Gegenstands dient. Komik in diesem Verstande hat nichts Destruktives, sondern ist geradezu eine Form der Feier und Festes. Schon in Lasker-Schülers frühestem Hille-Essay von 1903 wird die Gattung des literarischen Porträts als Form der Dichter-Hagiographie in diesem Sinn travestiert: „Es dauert höchstens zwanzig Minuten, Peter!“ Er nickte lächelnd – aber er vergaß auch sofort wieder, dass er den Kopf nicht hin- und zurückbiegen durfte, von der Zeitung auf und nieder, und so kam’s, dass ich entweder das rechte oder das linke Auge nicht an seinem Platz oder die Nase zu lang im Verhältnis zur Stirn zeichnete. Und manchmal nahm er noch seinen Bleistift und beschrieb andächtig den weißen Rand des Zeitungsblattes. „Du kannst gleich weiterzeichnen, schrecklicher Tyrann Du!“ sagte er und las mühsam entziffernd sein eigenes Schreiben. Es waren einige steinige Einfälle, die er seinem Myrdin und der Viviane ferner vermachen wollte. Und er zog die große vergilbte Papierrolle aus seiner Manteltasche und las von den beiden Menschen, die älter waren als Adam und Eva [...]. Die sprachen eine Sprache, mit der am ersten Schöpfungstage sich Himmel und Erde erzählten (3.1, 9).

Gegenstand dieser Travestie ist nicht nur das bürgerliche Klischeebild vom Dichter, der kontemplativ in sein eigenes Werk versunken ist und dessen „andächtig[e]“ Pose als repräsentatives Bild festgehalten werden soll. Vielmehr wird der bürgerliche Topos vom ‚selbstvergessen’ Genie kontaminiert mit dem Hille-typischen Stereotyp vom ‚selbstvergessenen’ Bohemien, der auf den „Rand“ eines „Zeitungsblattes“ kritzelt und „sein eigenes Schreiben“ nur „mühsam“ zu entziffern vermag. Indem sich Elemente bürgerlicher und antibürgerlicher Dichter-Hagiographie verschränken, wird jene Allianz von Bürgertum und Bohème ins Visier genommen, die in Hilles Werk verdrängt bleibt. Die Komisierung dieser Topoi geschieht auf mehreren Ebenen. Zum einen stellt der Text als Beschreibung der Entstehung eines Bildes die Bedingungen der eigenen Gattung aus, indem er die zum Bestandteil bürgerlicher Alltagskultur gewordene Form des hagiographischen Dichterporträts auf der Gegenstandsebene verdoppelt.133 Zum anderen verschränken sich in der be132

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G. GENETTE, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/M. 1993, S. 39 ff., hier S. 40. Die Unterwanderung der Konventionen des literarischen Porträts, die für LaskerSchülers spätere Porträttexte mehrfach geltend gemacht wurde, ist damit schon in dieser frühen Skizze angelegt. Siehe H. KORTE, „Mitten in mein Herz“. Else LaskerSchülers Widmungsgedichte. In: H. L. ARNOLD (Hg.), Else Lasker-Schüler. München

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schriebenen Zeichnung auf eigentümliche Weise Misslingen und Gelingen. Gemessen an den Normen des hagiographischen Porträts, destruieren Hilles Bewegungen und seine ‚Vergesslichkeit’ die ‚andächtige’ Pose, die vom Genre verlangt wird, so dass statt eines idealisierten Abbilds eine Karikatur mit grotesk verschobenen Gesichtszügen entsteht. Mit Rekurs auf die Gegenüberstellung von Gebärde und Pose ließe sich sagen: Die von den Normen der Porträtgattung erforderte Pose, die der bürgerlichen wie antibürgerlichen Dichter-Idolatrie entgegenkommt, wird durch die Gebärden des Porträtierten zerstört. Die reale ‚Selbstvergessenheit’ des Dichters macht ihre bildnerische Idealisierung unmöglich, so dass ein verzeichnetes Porträt entsteht, in dem sich die vom hagiographischen Stil neutralisierte Lebendigkeit und Spontaneität des Porträtierten gerade adäquat artikulieren. Diese Verzeichnung erscheint umso angemessener, als Hille eine Dichtung über Menschen vor sich hat, die in der Sprache vom „ersten Schöpfungstage“ reden, „älter [...] als Adam und Eva“ sind und denen er seine „Einfälle“ wie einen Nachlass „vermachen“ will.134 Hilles Œuvre erscheint nicht als originäre Schöpfung, sondern als fremde, mythische Welt, die für ihn selbst nur bruchstückhaft lesbar ist. Das verzeichnete Porträt reflektiert die Inkommensurabilität einer poetischen Sprache, die ihrem Autor so fremd ist wie das verzerrte Porträt dem Betrachter. Obwohl die Szene das Genre des Dichter-Porträts travestiert, geht dieses Verfahren also nicht – wie Genette es für die gewöhnliche Travestie konstatiert – „auf Kosten des ‚parodierten’ Textes oder Stils“,135 sondern es vollzieht im Modus der ‚herabsetzenden’ Profanierung eine durchaus ernst gemeinte Huldigung. Die Travestie der Porträtgattung hat bei Lasker-Schüler nur sekundär eine negative, polemisch gegen den hagiographischen Dichterkult gerichtete Funktion. Zuvorderst erweist sie sich gerade in ihrer Verfehlung der Gattungsnorm als Lobpreisung des Porträtierten. An dieser für Lasker-Schülers gesamtes Werk charakteristischen affektiven Dimension travestierender Verfahrensweisen liegt es, dass ‚erniedrigende’ und ‚erhöhende’, trivialisierende und mythisierende Zuschreibungen sich in ihren Hille-Porträts überlagern. Verzerrt sich Hilles ‚andächtige’ Pose zur Karikatur, wird umgekehrt seine „Zeitung“ zu einer „vergilbte[n] Papierrolle“, einer Art Tora, ent-profaniert. In einer der Folgeszenen, die einen Krankenbesuch bei Hille schildert, bringt ihm seine Hauswirtin „dampfende Hafergrütze und zwei Schmalzstullen“ mit den Worten: „Er is so reene wie eene Jungfer, ick seh schon, wie se ihm später in de Kirche uffbahren als Heiligen.“ (3.1, 12). Dieses scheinbare Schulbeispiel einer burlesken Travestie, die den getragenen Duktus der Dichter-

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1994, S. 18-33; P. VON MATT, ... fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts. München, Wien 1983, S. 162 ff. Angespielt ist hier auf Hilles Schauspiel Myrddhin und Vivyan. G. GENETTE, Palimpseste, S. 40.

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Sakralisierung durch plebejischen Jargon „ins Familiäre, ja Vulgäre“ herabzieht136 und die ‚Weihegabe’ zur Hausmannskost profaniert, richtet sich weder gegen die Wirtin noch gegen den „Heiligen“, sondern wringt das falsche Pathos des bürgerlichen wie antibürgerlichen Dichterkults aus der Sprache heraus und erweist sich dadurch als authentische Huldigung von Hilles ‚Reinheit’: Profanierung und Sakralisierung werden in eins gesetzt. Analog hat der Rekurs auf klischierte Bilder bei Hilles Charakterisierung eine authentifizierende Funktion. Tinos Hauswirtin nennt ihn den „Mann aus dem Testamente“ (4.1, 32), Sage und Haidekraut im Peter-Hille-Buch kündigen ihn mit den Worten „Mutti, der liebe Gott ist draussen im Garten“ an (3.1, 30), LaskerSchüler indessen erklärt, es gebe „keine Photographie, die St. Peter Hille so [...] erfasste, wie das Bild des alten Meisters Dürer“, der ihn gemalt habe, bevor er „das Licht der Welt erblickte“ (4.1, 36). Während Dürer in parodistischem Anachronismus zum Hofmaler der Bohème profaniert wird, erscheinen die Personifikationen Hilles als ‚lieber Gott’ als authentische Sakralisierung. Authentizität und ‚Heiligkeit’ werden zum Ausdruck gebracht durch Rekurs auf kindlich-naive Konkretisierungen und vorgefertigte Bilder, die nicht als Hohlformeln verwendet werden, sondern trivial und gemein im Wortsinn sind: Gerade ihrer Trivialität – und das heißt: Vertrautheit – ist ein kollektiver Bezug eingeschrieben, der aus dem Repertoire bürgerlicher Huldigungsrhetorik längst getilgt wurde. Damit wertet Lasker-Schüler ein Moment der Travestie auf, das Genette als ‚Aktualisierung’ bezeichnet und eher nebenher in den Blick nimmt: Indem die Travestie ihren Gegenstand profaniert, überträgt sie ihn „in eine zugänglichere und vertrautere Umgangssprache [...]. Sie holt den parodierten Text heim, naturalisiert ihn im (metaphorisch) juristischen Sinn dieses Wortes, gleicht ihn an. Sie aktualisiert ihn“.137 Eine ‚Heimholung’, die freilich nichts Homogenisierendes hat, weil sie Verzeichnung und Verfremdung voraussetzt: Der Gegenstand der Travestie muss im Modus der Karikatur, des plebejischen Jargons und der Kindersprache erst entstellt werden, um zu neuem Leben zu erwachen. Es ist kein Zufall, dass dieses Verfahren der positiven Travestie vor allem mit ‚plebejischen’ Figuren und Kindern in Verbindung gebracht wird. Kinder figurieren bei Lasker-Schüler als Repräsentanten einer anonymen, dispersen Kollektivität, von der die poetische Schöpfung abhängig bleibt und an die sie adressiert ist. Während Hilles Kinderkult durch seinen abstrakt antibürgerlichen Individualismus ungewollt in die Nähe zur Verherrlichung des Völkischen, Soldatisch-Heroischen rückt, rekurriert Lasker-Schülers Kindheitspoetik auf Elemente einer anti-hierarchischen Volkskultur, die in der „nichtutilitären Lachkultur“ volkstümlicher Kinderbücher vorgeprägt ist.138 Die Kobolde, 136 137 138

G. GENETTE, Palimpseste, S. 82. G. GENETTE, Palimpseste, S. 85. Vgl. R. STEINLEIN, Kinderliteratur und Lachkultur, S. 18.

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die im Peter-Hille-Buch als Schöpfer und ‚Bewohner’ der Petrus-Figur in Erscheinung treten, repräsentieren ein auf keine Territorialität fixierbares ‚Volk’, dessen Produktivität ein virtuell endloses Spiel der Namengebung und des Schenkens initiiert, durch das alle Episoden des Textes verkettet werden. Präfiguriert sind diese Kobolde in Lasker-Schülers erstem Hille-Essay, wo mythisch-märchenhafte Wesen Hilles Körper ‚beleben’: Am Morgen in meinem Halbschlaf sah ich Peter; durch seinen langen Bart guckten blaue und gelbe Weinaugen mutwilliger kleiner Dionysinnen mit roten Pausbäckchen und kecker Faunbuben mit frechen Schwänzchen. Und die neckten ihn und zupften ihn an seinen langen Kraushaaren, jauchzten und sprangen um den großen Bacchus, und ein ganz kleines, ängstliches Bacchüschen kroch in seine weite, weite Ohrmuschel. (3.1, 10)

Wie die Kobolde im Peter-Hille-Buch als Gegenfiguren zu den ‚selbsterschaffenen’ Kobolden Zarathustras konzipiert sind, lassen sich die „Dionysinnen“, „Faunbuben“ und „Bacchüschen“ als Travestien dionysischen Rauschs und Kontrastgestalten zu Hilles Idealisierung ‚abhärtender’ Trunkenheit verstehen. Mutwille und Keckheit, die bei Hille dem selbstherrlich-naturwüchsigen Bohemien zugeschrieben werden, der sich vom bürgerlichen Charakterpanzer befreit zu haben glaubt, eignen bei Lasker-Schüler den Kobolden, die im Gegenteil Hilles Körpergrenzen durchlässig halten. Sie ‚beleben’ seinen Körper, wie der Künstler Lasker-Schülers Poetik gemäß sein Werk ‚belebt’, das nie als von ihm abgetrennte Entität gedacht werden kann, aber auch nie ganz ihm gehört. Hilles Selbstbild als Fels, der sich gegen alles ‚Äußere’ abgedichtet hat, wird von den in Hilles Körperöffnungen kriechenden und an ihm ‚zupfenden’ Kobolden kokett-ironisch dementiert. Lasker-Schülers im „Halbschlaf“ erblickter Petrus bestimmt sich nicht durch solipsistisches Pochen auf dem ‚Ich’, sondern macht sich zum Spielplatz fremder Wesen, denen er sich überlässt. Seine Physiognomie wird durch Überformung mit Elementen barock-manieristischer Ästhetik grotesk verzerrt: Aus seinem „Bart“ blicken „Weinaugen“, seine „Ohrmuschel“ dient als Versteck. Sein Gesicht transformiert sich in eine arabeske Landschaft und öffnet sich für die ‚Neckereien’ sagenhafter Gestalten. Die „Dionysinnen“ mit „Pausbäckchen“ und das ängstliche „Bacchüschen“ nehmen der Ikonographie von Trunkenheit und Rausch, die hier rokokohaft-verniedlichend reinszeniert wird, zugleich alles Abgründig-Destruktive. Damit knüpft die Szene an das manieristische Prinzip des „concordia discors“, der „Einigkeit im Uneinigen“139 an: Einerseits werden 139

Zu diesem Terminus vgl. R. ZYMNER, Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt. Paderborn u. a. 1995, S. 353. Zymner gibt auch mehrere Beispiele für die Bedeutung der verzerrten Physiognomie und deformierten Körperlichkeit in der manieristischen Malerei (S. 17 ff.).

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die klaren Konturen von Hilles Physiognomie aufgelöst, die Grenzen zwischen ‚Selbst’ und ‚Fremdem’ durchlässig. Andererseits vollzieht sich diese Auflösung nicht als bloße Destruktion des Phantasmas vom ‚ganzen Körper’, sondern als ‚jauchzende’ Neuschöpfung, in der sich Einheit und ‚Uneinigkeit’ fröhlich verbinden. Die auf Petrus herumtollenden Kobolde zerstören nicht seine Physiognomie, sondern machen gewissermaßen erst sein wahres Gesicht aus. Das Figurenrepertoire der „Dionysinnen“ und „Faunbuben“ , das für die ‚heiligende’ Wendung travestierender und komisierender Verfahrensweisen einsteht, wird im Peter-Hille-Buch durch eine Vielzahl weiterer Wesen ergänzt: „Elfen“, die an Petrus’ „Strahlenbart“ zupfen, während ein „Waldschrätchen“ sich in „Petrus-Wotans grosser Ohrmuschel“ versteckt (3.1, 56); Sage und Haidekraut, die von der Erzählerin als „meiner Schwester Kinder“ vorgestellt werden und Tinos „Bübchen“ an den Händen halten (3.1, 30); „Vogelmasken“ und „Spassmacher“ bei Onits „Prunkmahl“ (3.1, 32); „KleinPull“, der auf Tinos „Schulter“ hockt (3.1, 36) und dem sie „Geschichtchen von allen Tieren“ erzählt, „namentlich [...] die drollige eine von der Pavianmutter mit ihrem Kind“ (3.1, 38); ein „Indianerknabe“, der als „rothäutige[r] Vogel“ bei Tino und Petrus landet und sie mit den Worten „Kulaia, wiwua, malibam“ begrüßt (3.1, 47), und andere Gestalten, in denen sich märchenhafte und karnevaleske Züge verbinden. Sage, Haidekraut und das „Bübchen“ destabilisieren in ihrer diffusen Verwandtschaft mit Tino die familiale Ordnung; die Spaßmacher verkörpern ein Prinzip karnevalesker Maskerade; „KleinPull“ verwandelt sich beim Klettern auf Tino gewissermaßen in das Äffchen, von dem sie ihm erzählen soll; die Sprache des Indianers spottet der diskursiven Vernunft. Damit schöpft das Figurenensemble aus der frühmodernen Tradition ‚unpädagogischer’ Kinderliteratur, die als Vorform der Persiflage, der Karikatur und des Comic gelten kann und seit dem 18. Jahrhundert durch ‚pädagogische’ Texte verdrängt wurde, in denen Fabelwesen und Kobolde zwar noch vorkommen, aber didaktisch instrumentalisiert werden oder reine Schmuckfunktion haben.140 Im Blick auf diese ‚unpädagogische’ Tradition des Genres im 16. und 17. Jahrhundert konstatiert Maria Lypp, „dass mit dem Auftreten des Tieres auch das Lachen in die Kinderliteratur gekommen“ sei,141 und stellt die Heteronomisierung von Tieren und Zauberwesen und die Pädagogisierung des Lachens in der aufklärerischen Fabel der poetischen Autonomie von Tier-, Clowns- und Kindsgestalten in der Kinderliteratur der frühen Neuzeit gegenüber. Insofern bilden auch die Koboldfiguren eine Brücke zwischen Lasker-Schülers Hille-Skizzen und dem frühmodernen Gestaltungs-

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Siehe M. LYPP, Tiere und Narren. Komische Masken der Kinderliteratur. In: Komik im Kinderbuch, S. 45-57. Ebd., S. 45.

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prinzip der ‚Einigkeit im Uneinigen’,142 das sie als Repräsentanten einer dispersen Kollektivität verkörpern. Entscheidend im Blick auf Lasker-Schüler ist Lypps Betonung des mimetischen Vernunftpotentials, das Tier, Kind und Narr in der ‚unpädagogischen’ Kinderliteratur zukommt. Eben dadurch – und nicht durch ‚aufklärerische’ Instrumentalisierung – werden sie zu potentiell subversiven Figuren. Sie verkörpern die provisorische Listigkeit der Armen und Marginalisierten, die sich in keiner Klasse oder Altersstufe zusammenfassen lassen: „In dieser vor der Absonderung der Kinderliteratur von der Allgemeinliteratur gelegenen Zeit wendet sich die pädagogische Rede an Kinder und bildungslose Schichten gleichermaßen“.143 In der mimetischen Fähigkeit zur Verwandlung und zum Spiel artikuliert sich eine gleichsam präpolitische Widerständigkeit, mit der sich die von der herrschenden Sprache Ausgeschlossenen (‚infans’ meint etymologisch ‚ohne Sprache’144) diesseits programmatischer politischer Strategien zu behaupten suchen. Charakteristika der mimetischen Verhaltensweise sind Metamorphose und Ambivalenz: „Nicht nur Tier und Mensch bilden eine kontrastive Einheit, auch Maske und Wirklichkeit, Narr und Weiser; im Narren wiederum sind Mächtiger und Opponent, Dummheit und Weisheit [...] verknüpft.“145 Insofern Lasker-Schüler das Figurenrepertoire des Peter-Hille-Buchs dem Ensemble der ‚unpädagogischen’ Kinderliteratur entlehnt, partizipiert sie an jener von Adorno exponierten subkutanen Tradition der Avantgarde, die auf „Albernheit“ als „mimetische[s] Residuum in der Kunst“ rekurriert, ohne doch die eigene Formsprache im schlechten Sinne zu popularisieren.146 Indem das disperse ‚Volk’ bei LaskerSchüler von Kobolds- und Narrenfiguren verkörpert wird, erscheint die Sphäre des ‚Gemeinen’, Kollektiven vielmehr paradoxerweise ihrerseits als das gänzlich Fremde, Phantastische.147 Die Fremdheit des ‚Gemeinen’ entspricht komplementär der Profanierung des ‚Heiligen’. Dem unversöhnten Widerspruch zwischen dem Desiderat der ‚Selbsterschaffung’ und der kollektiven, 142

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Differenzierter und weniger tendenziös als etwa in Bachtins Rabelais-Studie wird der Konnex von Narrentum, Maskerade und Volkskultur in der frühen Neuzeit untersucht von P. BURKE, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit. Stuttgart 1981. M. LYPP, Tiere und Narren, S. 47. Vgl. J.-F. LYOTARD, Kindheitslektüren, Wien 1995. – Durch seine psychoanalytischlinguistische Perspektive lässt sich Lyotard jedoch dazu verführen, ‚Kindheit’ zu einer vom Lebensalter unabhängigen, weitgehend ahistorischen Realität im Subjekt zu hypostasieren. Die soziale Adresse des Rekurses auf ‚Kindheit’, um die es mir geht, wird dabei eskamotiert. M. LYPP, Tiere und Narren, S. 48. T. W. ADORNO, GS 7: Ästhetische Theorie, S. 182. Die paradoxe Ambivalenz von Clowns- und Narrenfiguren als Charakteristikum der Moderne analysiert J. STAROBINSKI, Porträt des Künstlers als Gaukler. Drei Essays. Frankfurt/M. 1985. Vgl. auch T. W. ADORNO, GS 7: Ästhetische Theorie, S. 181 f.

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auf soziale Veränderung zielenden Adresse von Kunst wird weder mit einer Poetik solipsistischer ‚Petrifizierung’ noch durch Rekurs auf vermeintlich unmittelbar gegenwärtige Formen von Volkskunst begegnet,148 sondern durch Bezug auf eine ebenso real wie poetisch gedachte Kollektivität, die einstweilen nur als ‚koboldhafter’ Spuk konkretisierbar scheint. Dieser ‚koboldhafte’ Charakter kennzeichnet auch die Kinder- und Nonsense-Verse, die das Peter-Hille-Buch als exponierte Form der Kommunikation mit Kindern bzw. Tieren durchziehen. Der Gestus antibürgerlicher Provokation, der sich in Hilles Neigung zum Nonsense artikuliert, wird bei LaskerSchüler zurückgenommen in ein kapriziöses, hypertroph ‚niedliches’ Sprachspiel: Schlafe, schlafe, Mein Rosenpöpöchen, Mein Zuckerläuschen, Mein Goldflöhchen, Morgen wird die Kaiserin aus Asien kommen, Mit Zucker, Chokoladen und Bombommen Schnell, schnell, Hase Hase machen. Sonst kriegt Blaumäulchen nichts von den Sachen. (3.1, 38) Lampe Pampe Rampe Kämmchen Flämmchen Lämmchen Du Döschen Klöschen Röschen Kleinchen Meinchen Du (3.1, 48)

Während Hilles Unsinnspoeme als Komplement zu seiner Idealisierung ‚abhärtender’ Trunkenheit der Panzerung des Subjekts gegen alles Inkommensurable dienen, sind Lasker-Schülers Unsinnsverse grundiert von einer Trunkenheit, die sich dem Fluss der Laute und der liebevollen Hinwendung zu einem Gegenüber verdankt, das von den Lautfolgen – nicht zufällig werden sie von Tino für Klein-Pull zur „Abendzeit“ als „Wurzel-Purzellieder“ vorgetragen (3.1, 36) – buchstäblich eingelullt werden soll. Die zahlreichen Diminutive dienen nicht der Infantilisierung des Angesprochenen, sondern wollen dessen Ich entsprechend der Formel „Schlafe“ gleichsam zum Einschlummern bringen und es vom Zwang, ‚groß’ zu sein, zumindest temporär erlösen. Aus dieser Entlastungsfunktion, die nicht mit Kompensation verwechselt werden sollte, erklärt sich auch die dominante Metaphorik des Essens und Fütterns 148

Die Idealisierung einer nicht-hierarchischen Volkskultur, von der auch Bachtins Konzept des Karnevalesken nicht frei ist, wird kritisiert bei P. BURKE, Helden, Schurken und Narren, besonders S. 17 ff.

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(„Zucker“, „Chokoladen“, „Bombommen“). Indem sie mit dem Glücksversprechen des Schlaraffenlands, der luxuriös-betörenden Fremdheit („Kaiserin aus Asien“) und mit Bildern des Behütens, Wärmens und Pflegens („Rosenpöpöchen“, „Kämmchen“, „Flämmchen“) ‚versüßt’ wird, erscheint die poetische Sprache selbst als Nahrung, die dem „Blaumäulchen“ eingeflößt wird und somatisches Wohlbehagen erzeugen soll. In der unmittelbar auf das zweite ‚Wurzel-Purzellied’ folgenden Episode besuchen Tino und Klein-Pull denn auch einen „Zuckerladen“, in dessen Schaufenster „Pferde, Hunde aus Chokolade“ und „Bonbons“ liegen. Petrus erscheint den beiden daraufhin als „Wolkenmann“ und holt „aus einer großen Wolkendüte den Mond, der war rot und rund, wie ein dickes Himbeerbonbon“ (3.1, 48). Der Sternenhimmel, der in der früheren Hille-Episode zur Allegorie sozialer Ohnmacht erstarrt war, wird in einer Art poetischer Transfusion zu einer Süßigkeit, die dem Kind geschenkt werden kann. Eben deshalb ist die Funktion solcher Poesie alles andere als kompensatorisch: Ihre Sprache soll nicht etwa das von ihr versprochene Glück vertreten, sondern es selbst sein und realisieren. Sie dient nicht als Medium der Kommunikation, sondern ist Kommunikation, teilt sich selbst mit, ist lebendig und lebensnotwendig; sie holt den „Mond“ vom Himmel herunter und macht ihn sinnlich genießbar. Gerade die Suspendierung der Repräsentationsfunktion von Sprache soll aus ihr Kommunikation im erfüllten Sinne machen und eine affektive Gemeinschaft zwischen Sprecher und Adressat stiften. Der Rekurs auf Kinder- und Nonsenselyrik wird so im Peter-Hille-Buch bezogen auf eine gemeinschaftsstiftende Poesie, die kommunikativ und widerständig, trivial und poetisch zugleich ist und dadurch Elemente jenes kreativen ‚Volksvermögens’ bewahrt, das Peter Rühmkorf an Formen der Gebrauchsliteratur, unter anderem auch am Kinderreim, aufzuspüren versucht hat.149 Während Rühmkorf die durch Kinderreime konstituierte Gemeinschaft jedoch in Beeinflussung durch Brecht als eine Art anarchosozialistisches Kollektiv imaginiert und die aggressiv-polemische, derbe Dimension der Reime – das „Vergnügen an der Entlarvung“, den „Streitgeist“150 – hypostasiert, sind Lasker-Schülers Verse bainahe provozierend ‚lieb’. Begreift Rühmkorf ähnlich wie Hille, der „Sozialistenkinder“ in seinem Roman Die Sozialisten emphatisch als „unartig“ und „struppig“ preist (I, 171 f.), den regressiven Duktus vieler Kinderreime als Abgrenzung gegen eine bürgerliche Erwachsenenwelt, wird die Opposition von Kindheit und Erwachsensein bei Lasker-Schüler unterminiert. Durch rückhaltlose Mimesis an den kindlichen Sprachduktus bringt der Sprechende auch das eigene Ich zum Einschlummern, macht auch sich selbst ‚klein’. Der für Kinderlyrik insgesamt charakteristische ‚leiernde’ Ton149

150

P. RÜHMKORF, Kinder unter sich. In: ders., Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund. Reinbek 1967, S. 78-103. Ebd., S. 93.

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fall, die Binnenreime und Assonanzen verlieren alles Auswendiggelernte, Mechanische und sollen im Gegenteil – darin liegen die Affinität zur Adaption von Kindersprache in Lasker-Schülers früher Lyrik – die somatischaffektive Dimension von Sprache durch rhythmische und lautsprachliche Ritualisierung wiederzugewinnen helfen. Gerade im Stereotypen, Formelhaften wird der affektive Impuls von Sprache ausgemacht.151 Diese Entlastung vom ‚erwachsenen’ Identitätszwang wird im ersten ‚Wurzel-Purzellied’ noch dadurch verstärkt, dass es als Schlaflied der „Pavianmutter“ für ihr „Paviänchen“ (3.1, 38) eingeführt wird: Das Ich verwandelt sich nicht nur sprechend in ein ‚Kind’, sondern überdies sich selbst und sein Kind in ‚Tiere’. Telos der im Kinderreim erprobten Poesie ist nicht die refraktäre Abgrenzung gegen die Erwachsenen, sondern die Mimesis ans Kreatürliche, die als Kern einer ‚liebevollen’, kommunikativen Sprache begriffen wird. Ex negativo jedoch verweist dieses Konzept kommunikativer Poesie ebenso auf das erstarrte Kommunikationspotential einer Wirklichkeit, die ‚echtes’ Sprechen nur mehr im Modus des Trivialen, vermeintlich Infantilen zuzulassen scheint. Wie alle Schlaflieder enthalten Lasker-Schülers Nonsense-Reime in ihrem liebevollen Gestus ein Moment der Narkotisierung, das auf einen realen, nicht anders denn durch ‚Einlullen’ zu behebenden Schmerz verweist. Indem ‚echtes’, lebensspendendes Sprechen in die kulturell marginalisierte Sphäre der Nonsense- und Kindersprache abwandert,152 bewahrt es die Erinnerung an diesen Schmerz. Um die Form kollektiver Adresse zu präzisieren, die in diesen Rekursen auf ein ‚kindliches’ Sprechen impliziert ist, empfiehlt sich ein Blick auf die Episode „Petrus unter den Arbeitern“, in der die Petrus-Figur mit Formen organisierten politischen Widerstands konfrontiert wird: Wir gingen durch den Nordosten der Stadt, wo der Lenz nicht blühen kann und erstickt wird zwischen Häuserengen. Und auf den Höfen spielen die Kinder, die armen mit Greisengesichtern und krummen Gelenken, aber ihre kleinen Herzchen sind rot und wollen spielen und jauchzen. Balken haben sie quer übereinander gelegt, es macht ihnen großes Quietschvergnügen so hoppsasa in den Himmel zu fliegen. Aber als sie Petrus gewahrten, plumpsten sie unsanft auf den harten Asphalt zurück und Lottchen und Lieschen heulten – für den schwarzen Mann hielten sie Petrus. Ich glaube, er war stolz darauf. Und vor dem Eingang des schmucklosen, grauen Hauses erwartete uns Sennulf, der 151

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Über den Unterschied zwischen mechanischem „Leierritual“ und produktiver Wiederholbarkeit im Kinderreim siehe den Beitrag von F. VAHLE, Das Komische in Kinderlied und Kindergedicht. In: H.-H. EWERS / M. LYPP / U. NASSEN (Hgg.), Kinderliteratur und Moderne. Weinheim, München 1990, S. 75-85, Zitat S. 77. Sogar in der Arbeit Liedes, die sich um gängige Kanonisierungen dankenswert wenig kümmert, firmieren Kinderreime als ‚unliterarische Spiele’. Vgl. A. LIEDE, Dichtung als Spiel. Bd. II, S. 34 ff.

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Kämpfer, er stürmte Petrus entgegen, wie ein Sehnender seinem Gott. Aber die versammelten Arbeiter murrten, als sie ihn gewahrten mit den segnenden Augen und dem leuchtenden Barte. „Wir wollen uns nicht vertrösten auf den Himmel der Toten, wir wollen ihn wie die Reichen schon auf Erden haben!“ Und ich fürchtete um Petrus, denn manche von ihnen hatten die derben Hände geballt und drohten. Aber er sagte: „Ans Kreuz schlagen nur die Heimlichen und die erreichen mich nicht.“ Und unter Sennulfs Schritt verdampften die letzten Flüche. Eine gebietende Keuschheit ging von seiner heissen Knabengestalt aus. „Er ist eine dunkle Birke“, – und seine Worte wirbelten über das freiheitshungrige Volk, wie Frühfrühlingslaub vor dem Gewitter. (3.1, 49)

Die Kinder der armen Stadtviertel, die mit ihren „Greisengesichtern und krummen Gelenken“ ambivalente, ‚verbogene’ Gestalten sind und den Kobolden und Narren ähneln, „jauchzen“ ihrer Armut und Schwäche zum Trotz und transformieren die naturfeindliche, erstickende Lebenswelt nach Maßgabe ihrer Phantasie, um „hoppsasa in den Himmel zu fliegen“. Das ‚himmlische’ Glücksversprechen eines sorgenfreien Lebens erscheint aus ihrer Perspektive nicht als weltentrückte Utopie, sondern buchstäblich als Kinderspiel. Die „versammelten Arbeiter“ mit ihren „geballt[en]“ Fäusten, die im Gegensatz zu den Kindern eine ideologisch geeinte, kampfbereite Gruppe bilden, misstrauen dem Realitätsgehalt solcher Phantasie, wollen sich nicht auf den „Himmel“ vertrösten lassen und halten das Glücksversprechen des Propheten mit den „sengenden Augen“ und dem „leuchtenden Barte“ für Verblendung und Augenwischerei. Der Text indes solidarisiert sich mit der dispersen Gemeinschaft der Kinder statt mit dem „derben“ Heroismus der Arbeiter. Für diese ist Petrus nichts als ein Guru, während er im Gegenteil „stolz“ ist, dass die Kinder ihn als „schwarzen Mann“ phantasieren. Kurz zuvor schon hat Petrus die rückhaltlose Affirmation der produktiven Einbildungskraft mit dem Diktum „die Illusion ist der getreueste Lehrer“ (3.1, 48) auf den Punkt gebracht. Realitätsuntaugliche und insofern ‚illusorische’ Phantasien erscheinen nicht als Hindernis auf dem Weg ‚erwachsener’ Autonomie, sondern als wahre „Lehrer“ einer unverkürzten Freiheitserfahrung. Die Sphäre der Imagination wird, gerade auch dort, wo sie ins Monströse driftet und ‚kindische’ Hoffnungen oder Ängste gebiert, als schöpferische Kraft gegenüber dem partikularen Eigeninteresse der Arbeiter aufgewertet, die ihre ganze Tatkraft mit kleinbürgerlicher Ranküne darauf konzentrieren, „wie die Reichen“ zu werden. Die mit sozialistischer Verve vorgebrachte Forderung, „den Himmel [...] schon auf Erden“ haben zu wollen, zielt, folgt man dieser Passage, nicht auf Realisierung eines die Klassengrenzen sprengenden Glücksversprechens, sondern auf Anpassung an den Lebensstandard der Herrschenden; ihre Triebkraft ist nicht die revolutionäre Phantasie, sondern der Neid. Erst als „Sennulf, der Kämpfer“ Petrus als „dunkle Birke“ bezeichnet, sich also von der präfabrizierten Rhetorik löst und ihm einen poetischen Namen verleiht, wirbeln „seine Worte [...] über das

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freiheitshungrige Volk, wie Frühfrühlingslaub vor dem Gewitter“ (3.1, 49). Das Wort „Birke“ verwandelt sich buchstäblich in das, was es bezeichnet, und kündigt in seiner vergänglichen Materialität, als „Frühlingslaub“, den ‚Wirbel’ der Freiheit an, der die „Flüche“ der Arbeiter ‚verdampfen’ lässt. Sennulf, der diese poetische Transfusion vollzieht, ist durch sein ‚Kämpfertum’ und die ‚Schmucklosigkeit’ seines Hauses den Arbeitern, durch seinen Phantasienamen, seine „Knabengestalt“ und seine „Keuschheit“ aber zugleich den Kindern zugeordnet, repräsentiert also die Realisierung poetischer Imagination innerhalb der Gruppe der Arbeiter, die deren ‚Freiheitshunger’ erst produktiv werden lässt. Trotz der christologischen Attribute – Sennulf als „Sehender“, Petrus als „Gott“ bzw. Christus – ist es nicht Petrus, der die Arbeiter ‚befreit’, sondern das an Petrus adressierte poetische Wort. Es vollzieht jene Transfusion darstellender in kommunikative Sprache, die Telos der impliziten Poetik des Peter-Hille-Buchs ist. Das revolutionäre Potential des Volkes kann, so legt die Episode nahe, nicht durch politische Propaganda, sondern nur durch Entfachung der kollektiven Lust am Spiel und an der Metamorphose entfesselt werden. Während die politische Rhetorik in ihrer Fixierung auf Parole und Appell diejenigen, die sie zu einigen vorgibt, um ihr Glück betrügt, kommt dem fremdartigen, ‚metaphorischen’ Wort die Kraft zu, das erlösende ‚Gewitter’ hervorzurufen. Mit diesem Konzept einer ‚erfüllten’ kommunikativen Sprache, die sich gerade in Abgrenzung zur politischen Rhetorik der Arbeiter mit diesen solidarisch erweist,153 hat sich Lasker-Schüler schon im Peter-Hille-Buch vom Welterlösungspathos der Neuen Gemeinschaft ebenso weit entfernt wie vom sozialen Pathos ‚engagierter’ Literatur. Zugleich bleibt im Anspruch einer Poesie, die sich an andere verschenken und verschwenden möchte, ohne doch ‚wie die Reichen’ sein zu wollen, der antibürgerliche Impuls der Bohème in singulärer Radikalität bewahrt.

d) Das Peter-Hille-Buch II: Legende – Kolportage – Prophetie Das im Peter-Hille-Buch entworfene Konzept einer kommunikativen Sprache, die nichts mehr bezeichnet, aber eben deshalb sich selbst mitteilt und realisiert, weist evidente Ähnlichkeiten zu antiken und jüdisch-christlichen Vorstellungen von Odem und Pneuma als jener verlebendigenden Kraft auf, die dem ‚prophetischen Wort’ des poeta vates bzw. des alttestamentarischen 153

Eine Studie zu den Arbeiterfiguren in Lasker-Schülers Werk steht bislang aus. Leider unergiebig bleibt der eher kompilatorische Beitrag von A. MEIER, „am liebsten unter Arbeitern“. Inszenierungen einer kulturellen Schlüsselfigur bei Else Lasker-Schüler. In: S. NEUHAUS (Hg.), Engagierte Literatur zwischen den Weltkriegen. Würzburg 2002, S. 298-311.

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prophetēs innewohnt.154 Auch die in der Arbeiter-Episode angespielte Kreuzigung Christi rückt die Petrus-Gestalt in die Nähe biblischer Propheten und damit zum mythischen Ursprung jenes Enthusiasmus, der bei Lasker-Schüler im Modus von Travestie und Kolportage aktualisiert wird. In der Forschung ist dem Peter-Hille-Buch indes immer wieder ein religiös-bekenntnishafter Subtext untergeschoben worden. Obwohl dabei nicht unbemerkt geblieben ist, dass Lasker-Schüler die Petrus-Figur darüber hinaus mit vielfältigen Referenzen zur antiken und heidnischen Mythologie sowie zur zeitgenössischen Alltagskultur ausgestattet hat, wurde diese Heterogenität nie zum Ausgangspunkt der Interpretation gemacht, sondern der christlichen bzw. ‚freireligiösen’ Deutung der Petrus-Figur subsumiert155 oder zum Anlass genommen, die theologischen Bedeutungsvalenzen insgesamt herunterzuspielen.156 Dagegen soll der Widerspruch zwischen ‚ernsthaften’ biblischen Referenzen und der Neigung zu Travestie und Synkretismus hier in den Mittelpunkt der Deutung gerückt werden. Lasker-Schüler hat diese Ambiguität durch Bezeichnung des Bandes als „Spielbibel“ (6, 346) selbst hervorgehoben. Ihre übrigen Äußerungen sind widersprüchlich. Während der Arbeit am Peter-Hille-Buch schreibt sie an Salomo Friedlaender: [I]ch sammle jede freie Minute mir und schenke sie dem Peter-Hillebuch, es wird die Grundlage meines Lebens sein, die Centrale, die ich mir selbst aufbaue, der Glaube, dass ich nötig dem Leben war. (6, 67)

Rückblickend hat sie die Episoden des Buches als „Mythen“ bezeichnet (4.1, 31 und 34). In Ich räume auf! heißt es: 154

155

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Zur Renaissance dieser Topoi in der Ästhetik der Moderne vgl. B. MALINOWSKI, „Das Heilige sei mein Wort“. Paradigmen prophetischer Dichtung von Klopstock bis Whitman. Würzburg 2002; W. FRICK, Poeta vates. Versionen eines mythischen Modells in der Lyrik der Moderne. In: M. MARTINEZ (Hg.), Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Paderborn u. a. 1996, S. 125-162. So spricht etwa Reiß-Suckow dem Buch eine Nähe „zum Leben und Wirken Jesu, wie es in den Evangelien überliefert wird“, zu (C. REISS-SUCKOW, „Wer wird mir Schöpfer sein!!“, S. 65). Auch Hermann behauptet eine Affinität zu den „Evangelien“ (I. HERMANN, Ästhetische Literalität, S. 210). Heck interpretiert den mythologischen Synkretismus des Buches als Plädoyer für „religiöse Liberalität“ (S. B. HECK, Und weckte doch in deinem ewigen Hauche nicht den Tag. Prophetie im Werk Else LaskerSchülers. Frankfurt/M. 1996, S. 27). Henneke-Weischer, die sich am ausführlichsten mit den biblischen Referenzen beschäftigt, vereinnahmt Lasker-Schüler im Sinne christlicher Versöhnungsvorstellungen und identifiziert die Petrus-Figur mit Jeremia (A. HENNEKE-WEISCHER, Poetisches Judentum, S. 172 ff.). Doerte Bischoff weist im Peter-Hille-Buch Anklänge an die Topik und Rhetorik des „Hohenlieds“ nach, übersetzt diese aber bruchlos in ihre psychoanalytischpoststrukturalistische Diktion, ohne überhaupt noch nach dem Status theologischer Gehalte zu fragen. D. BISCHOFF, Ausgesetzte Schöpfung, S. 151 ff.

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Mein zweites Buch war mein Peter-Hille-Buch. Vor seinem Tode wünschte der Prophet: „Tino“, so nannte er mich, sollte es dichten. Diesen, für mich ehrenvollen Wunsch erfüllte ich in lauterem Stolz [...]. Wandelte mit dem heiligen Manuskript, mit meiner blauen Bibel zwischen meinen Händen – wohin auch – immer zum Altar. (4.1, 61)

Die erste Stellungnahme hebt die Bedeutung des Bandes für die literarische Existenz der Autorin hervor; das zweite Urteil scheint dem zu widersprechen, indem es das Buch als „heiligen“ Weihedienst darstellt. Nicht mehr um ‚Selbsterschaffung’ und Legitimation der eigenen Tätigkeit im Blick auf das „Leben“ scheint zu gehen, sondern um Erfüllung eines „ehrenvollen Wunsch[es]“. Paradoxerweise richtet sich dieser Wunsch jedoch nicht an die Autorin unmittelbar, sondern an „Tino“, während der Aufbau der „Centrale“ mit der Metaphorik des Sammelns und Schenkens umgekehrt nicht als einsamer Schöpfungsakt, sondern als Austausch beschrieben wird. Dem korrespondiert der Doppelcharakter des Peter-Hille-Buchs, das zwar in der Tradition der Legende die Vita eines ‚Heiligen’ nachzeichnet, andererseits aber auch als Bildungsgeschichte der Ich-Erzählerin gelesen werden kann, die sich im Laufe des Buches als Tino allererst erschafft. Die Bezeichnung der Episoden als „Mythen“ ist ebenfalls ambivalent. Sie kann auf die Bezeugung von Petrus’ wundersamen Taten, aber auch auf das ‚Erfundene’, Fiktive des Textes zielen. Freilich bekräftigen die „fiktiven Elemente“ schon in der mittelalterlichen Legende eher deren theologische Bezeugungsfunktion, als sie zu unterlaufen, weil sie „keinen beliebigen Charakter haben, sondern von einer vorgegebenen Wahrheit gesteuert werden“ – Walter Haug nennt dies „Wahrheit des Fiktiven“.157 Lasker-Schüler knüpft mit der Verschmelzung von Sakralem und Profanem, historisch-biographischen Realien und Fiktion somit an Elemente der Legendenform selbst an. Die bloße Feststellung legendenhafter Züge im Peter-Hille-Buch bleibt unergiebig, solange nicht reflektiert wird, dass der darin inszenierte ‚Heiligenkult’ zugleich als Auseinandersetzung mit einem konkreten zeitgenössischen Kult verstanden werden muss – mit der um 1900 äußerst populären Christus-Idolatrie, an der unter anderem Bölsche, Hille und Arno Holz partizipierten. Hille formuliert 1886 in den Sozialisten das Desiderat, „der Sozialismus“ müsse „die in Religion [...] festliegenden Kräfte“ entbinden (I, 165), Holz wählt im gleichen Jahr den Spruch „Für mich ist jener Rabbi Jesus 157

W. HAUG, Geschichte, Fiktion und Wahrheit. Zu den literarischen Spielformen zwischen Faktizität und Phantasie. In: F. P. KNAPP / M. NIESNER (Hgg.), Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter. Berlin 2002, S. 115-131, hier S. 122. – Zur älteren Legendenforschung vgl. A. JOLLES, Einfache Formen. Studienausgabe. Tübingen 1974, S. 23 ff.

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Christ / nichts weiter als – der erste Sozialist“ als Widmungsepistel seines Buches der Zeit, und der Held von Bölsches Roman Die Mittagsgöttin (1891) predigt die „Erlösung der Welt durch eine riesenhafte, aber rein soziale Tat“.158 Auch in den zeitgenössischen anarchistischen und freisozialistischen Bewegungen spielt das Ideal vom ‚neuen Christentum’, das sich nicht als göttliche Transzendenz, sondern in der sozialen, innerweltlichen Tat zu verwirklichen habe, eine eminente Rolle. Wohl am reflektiertesten vollzieht sich die sozialistische Aneignung ‚urchristlicher’ Ideen bei Landauer, der das romantische Mythologem vom ‚kommenden Gott’ zur Grundlage einer radikal zukünftigen, sozialistisch-libertären Gemeinschaftsidee gemacht hat.159 Als Kern dieses gegen die Schultheologie, aber auch gegen die institutionelle Erstarrung der sozialistischen Bewegungen gerichteten ‚neuen Christentums’ hat Helmut Scheuer die durch Feuerbach angeregte, bei Tolstoi, Dostojewski und Bloy vorgeprägte Umdeutung der Christusgestalt zum ‚Sozialisten’ bzw. ‚Volksmann’ benannt.160 Anders als neuere Studien, in denen die freireligiösen Bewegungen um 1900 als Symptom einer rein negativ verstandenen „Verdiesseitigung“ denunziert werden,161 arbeitet Scheuer deren Dialektik heraus: Einerseits machen sie mit der Erkenntnis materialistischer Religionskritik ernst, indem sie die auf die transzendente Sphäre projizierte ‚Erlösungs158

159 160

161

A. HOLZ, Werke, hg. von Wilhelm Emrich und Anita Holz. Bd. 5. Berlin, Neuwied 1962, S. 14. Bölsches Formel wird erwähnt bei H. SCHEUER, Zur Christus-Figur in der Literatur um 1900. In: R. BAUER u. a. (Hgg.), Fin de Siècle. Zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Frankfurt/M. 1977, S. 378-402, hier S. 386. Den Topos der ‚sozialen Tat’ entdeckt Scheuer in zahlreichen populären Romanen der Zeit, etwa in Felix Hollaenders Jesus und Judas (1891) und Johannes Schlafs Das dritte Reich (1900). Über Paul Leppins Roman Daniel Jesus (1905) hat Lasker-Schüler sich in einem 1908 in „Das Magazin“ publizierten Essay begeistert geäußert (3.1, 106 f.). Leppin, der der Prager Bohème um Gustav Meyrinck angehörte, hat mehrere Werke Lasker-Schülers, darunter das Peter-Hille-Buch, lobend rezensiert. – Über die Renaissance der Christus-Figur um 1900 siehe H. HINTERHÄUSER, Fin de Siècle. Gestalten und Mythen. München 1977, S. 13 ff. Zu Lasker-Schülers Adaption dieses Topos N. OELLERS, Die Gestalt Jesu im Werk der jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler. In: M. BRAUN u. a. (Hgg.), „Hinauf und Zurück in die herzhelle Zukunft“. Deutschjüdische Literatur im 20. Jahrhundert. Bonn 2000, S. 253-265. R. KAUFFELDT, Die Idee eines ‚Neuen Bundes’. H. SCHEUER, Zur Christus-Figur, besonders S. 381. – 1894 erschien eine Abhandlung Friedrich Naumanns mit dem Titel Jesus als Volksmann. Siehe etwa E. HURTH, „Der neue Heiland“. Aspekte der Jesusroman-Literatur um 1900. In: Wirkendes Wort 43 (1993), S. 575-592, hier S. 576. – Hurth versteht den urchristlichen Diskurs im Umfeld des Sozialismus und Anarchismus als hybriden Versuch, „die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen aufzuheben“, der in „Selbstvergottung“ und „Selbstvernichtung“ enden müsse (S. 590). Die sich aus chiliastischen Motiven speisende sozialistische ‚Heilserwartung’ erscheint aus dieser Perspektive als bloßer „Ersatz“ der Hoffnung auf religiöse Transzendenz (dies., Der literarische Jesus. Studien zum Jesusroman. Hildesheim 1993, hier S. 71).

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bedürftigkeit’ der Welt als Sublimierung profaner Erlösungsbedürfnisse und den „Heiland“ als „Menschen“ begreifen.162 Andererseits droht das ‚neue Christentum’ gerade wegen seiner Hinwendung zum Innerweltlich-Sozialen in Propaganda für eine „paternalistische Sozialordnung“ umzuschlagen, wie sie „von den Kathedersozialisten, der Christlich-sozialen Partei [...] und den sogenannten Sozialaristokraten wie Julius Langbehn“ propagiert wurde.163 Der sich aus dem romantischen Konzept der ‚Neuen Mythologie’ speisende Impuls, die zur Herrschaftslegitimation depravierte „partielle Mythologie“ des alten Christentums zugunsten einer „neue[n] Religion“ aufzuheben, welche sich in der „allgemeine[n] Symbolik“ einer vom Repräsentationszwang befreiten, genuin kommunikativen poetischen Sprache verwirklichen soll,164 wird dabei neutralisiert. Im Dunstkreis der ‚Erweckungsbewegungen’ um 1900 schlägt – wie Lukács an der Entwicklung Gerhart Hauptmanns dargestellt hat – die ‚Neue Mythologie’ um in eine „Religiosität ohne Dogmen, ja ohne Gott, die aber inhaltlich alle ‚Gefühlswerte’, alle weltanschaulichen Folgen des Christentums aufbewahrt“.165 Die ‚neue Religion’ hebt die ‚alte’ nicht auf, sondern ersetzt sie als ideologische Verströstung angesichts der ausbleibenden realen Versöhnung des Menschengeschlechts. Diese Perversion der ‚neuen Religion’ zum Erbaulichkeitsbetrieb ist nicht nur von marxistischen Denkern früh bemerkt worden. So spricht der Publizist Carl Christian Bry 1924 in seiner Philippika Verkappte Religionen bereits vom Spiritualismus als „Ware“ und Ergebnis einer „Mechanik des geistigen Lebens“.166 Auch Nietzsches böses Wort vom „Arme-Leute-Gott“, der zum „Symbol eines Stabs für Müde, eines Rettungsankers für alle Ertrinkenden“ geworden sei,167 zielt auf die Reduktion des ‚starken’ innerweltlichen Erlösungsanspruchs zu einem mitleidigautoritären Paternalismus, der das Leiden der Marginalisierten nur verwaltet und die Schwachen in ihrer Schwäche bestätigt. Der ‚Arme-Leute-Gott’ verkörpert den kümmerlichen Rest, der von der Gottesidee nach Austrocknung ihres sinnlich-innerweltlichen Potentials übrig geblieben ist. Dass der Topos von Christus als ‚erstem Sozialisten’ im Peter-Hille-Buch explizit Gegenstand der Auseinandersetzung ist, wird an der hier vorgenommenen Deutung der Arbeiter-Episode unmittelbar evident. Indessen betont die Episode in Eintracht mit Landauers Beharren auf der zweckfreien Autonomie poetischer Schöpfung gerade die Inkommensurabilität des ‚prophetischen 162 163 164 165

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H. SCHEUER, Zur Christus-Figur, S. 379. Ebd., S. 387. M. FRANK, Der kommende Gott, S. 223. G. LUKÁCS, Gerhart Hauptmann. In: ders., Werke. Bd. 4: Essays über Realismus. Berlin, Neuwied 1971, S. 69-80, hier S. 76. C. C. BRY, Verkappte Religionen. Gotha 1925, S. 24; Hervorhebung M.K. F. NIETZSCHE, Der Antichrist. In: ders., KA 6: Der Fall Wagner u. a., S. 165-254, hier S. 184.

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Wortes’ mit kurrenten Formen politisch-appellativer Propaganda. Religiöse und soziale Erlösungsansprüche verschmelzen im ‚prophetischen Wort’ nicht zu einer eklektischen, auf ihren politischen Marktwert hin ausgerichteten Pseudo-Spiritualität, sondern es entfaltet sein revolutionäres Potential als metaphorisches, ‚zweckfreies’ Wort, das nichts zu bezeichnen und zu nichts aufzurufen scheint – in gewissem Sinne das genaue Gegenteil einer ‚sozialen Tat’. In dieser Verweigerung gegenüber propagandistischer Anbiederung an ‚die Schwachen’ und Affirmation der sinnlich-kreatürlichen Dimension von Sprache trifft sich Lasker-Schüler mit Nietzsches Polemik gegen den ‚ArmeLeute-Gott’. Das Ende der Episode macht freilich auch die Unterschiede deutlich: [A]m Schluss des Abends traten einzelne an Petrus heran, unter ihnen ein dichtender Handwerker, er hiess Damm. Und viele Jünglinge waren des hohen Gastes wegen gekommen: Ludwill, der Misstrauische mit den mürrischen Veilchenaugen und sein Freund, der dürr aufgeschossne Heiligenmaler mit dem Glockenherzen und Gorgonos der Starre. Der hatte schillerndes Haar und einen toten Vipermund, und zögerte, sich dem Herrlichen zu nähern, und neben ihm stand sein Tänzer und spielte mit dem Armband. (3.1, 49)

Die verstreuten, „einzelne[n]“ Arbeiter sind keine Jünger, sondern „Jünglinge“, keine Gefolgschaft, sondern Gäste eines Propheten, der selbst als „Gast“ bezeichnet wird. Als Protagonisten einer Art germanisch-antiker Maskerade spotten Sennulf, Ludwill und Gorgonos dem naturalistischen Desiderat der Milieugenauigkeit, widersprechen in ihrer knabenhaften Scheu aber auch Nietzsches Übermenschen-Pathos. Ihr „mürrische[r]“ Blick ist weniger Ausdruck ihres ‚misstrauischen’ Klassenbewusstseins als Signum eines mythischen Grobianismus und lässt sie eher wie Sagengestalten denn wie Helden der Arbeit erscheinen. Die koketten Archaisierungen, die Anspielungen auf mittelalterliche Handwerkskunst („dichtender Handwerker“, „Heiligenmaler“) und der Rekurs eben nicht auf die Arbeiterbewegung, sondern auf den Anarchismus – Sennulf ist ein mehrfach im Werk vorkommender Name für den mit Lasker-Schüler befreundeten anarchistischen Dichter Senna Hoy alias Johannes Holzmann, dem Lasker-Schüler auch einen Gedichtzyklus gewidmet hat168 – evozieren dagegen bereits unmittelbar Landauers Konzeption ‚prophetischer’ Dichtung, die ebenso politisch wie autonom, ebenso kollektiv wie individuell gedacht ist und deren Spuren Landauer an der Kultur des Mittelalters ebenso wie an den Dichtungen Whitmans oder Hölderlins aufzuweisen 168

Johannes Holzmann war bis 1905 Herausgeber der Zeitschrift „Kampf“ und wurde mehrfach wegen anarchistischer Umtriebe inhaftiert. Noch 1913 reiste Lasker-Schüler nach Russland, um ihn aus einer Anstalt für Geisteskranke in Moskau zu befreien, in die er abgeschoben worden war.

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suchte. Nicht das bürgerliche Zeitalter, sondern das Mittelalter ist für Landauer eine Zeit der „Kulturblüte“,169 deren Anspruch auf Versöhnung von ästhetischer Autonomie und sozialer Adresse ihm in der ‚esoterischen’ Dichtung der Moderne weit eher aufgehoben schien als in Formen unmittelbaren ästhetischen Engagements. Eine Hochkultur in Landauers Sinne zeichnet sich gerade nicht durch das Vorhandensein einer exklusiven, von der Alltagskultur separierten Sphäre reiner ästhetischer Kontemplation aus, sondern durch lebendige Präsenz des Ästhetischen in allen Bereichen sozialen Daseins. Poetische Subjektivität wird in ihr nicht an einen Ort fixiert, wo sie stellvertretend für die poetisch entmündigten Massen produziert, ausgestellt und angeschaut wird, sondern durchwirkt als autonome Kraft das gesamte menschliche Leben: [W]ährend eben in den Zeiten der Kulturhöhe Geber und Nehmer, Künstler und Publikum zusammengehörig, kaum getrennt waren, [...] sind sie jetzt soweit voneinander, dass die Kunst nicht einmal äußerlich mehr einen Raum in der Gesellschaft hat, so dass ein eigener Kunstort geschaffen werden musste: das Museum.170

Im bürgerlichen Zeitalter von Museum und Persönlichkeitskult droht aber auch jeder Versuch der Restituierung „anonyme[r] Gesamtheitskunst“171 umzuschlagen in Ideologie und Repression. An die Stelle der freien Assoziation, als die sich Landauer das mittelalterliche Alltagsleben denkt, träte dann ein „äußeres Band der Gewalt“,172 dessen ästhetisches Korrelat eher Wagners Phantasie des gänzlich durchorganisierten Gesamtkunstwerks als Landauers Vorstellung nicht-hierarchischer Volkskunst wäre. Aus dieser Erkenntnis leitet sich Landauers Interesse für Dichter wie Hölderlin oder Whitman, aber auch seine Faszination durch Mauthners gegen das bürgerliche Bildungspathos gerichtete Sprachkritik ab. Der von der bürgerlichen Kultur erstickte kollektive poetische Gehalt vermag sich demnach vorerst nur absurd, im vereinzelten, isolierten Wort Ausdruck zu verschaffen. Der Dichter darf eben kein ‚Volksmann’ sein, sondern ist nur als versprengter Einzelner, dessen enthusiastische Erfahrung in von den Massen isoliert, Stellvertreter des Allgemeinen. In „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“ bezieht Landauer diese paradoxe Ineinssetzung von Prophetie und Profanie auf sein Verständnis der Christus-Gestalt: Es ist die tiefste Umdeutung vielleicht der Christuslegende, vielleicht auch die tiefste Bedeutung dessen, was Jesus selbst gelehrt hat, wenn Meister Eckhart 169 170 171 172

G. LANDAUER, Die Kultur des Mittelalters, S. 154. Ebd., S. 156. Ebd., S. 155. Ebd., S. 151.

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den Gott, der zugleich Menschenkind ist, zu uns sprechen lässt: ‚Ich bin euch Mensch gewesen, wenn ihr mir nicht Götter seid, so tut ihr mir Unrecht.’ Sehen wir zu, wie wir Götter werden, wie wir die Welt in uns finden können.173

Das Ende der Arbeiter-Episode im Peter-Hille-Buch liest sich geradezu als Antwort auf diesen Anspruch einer ‚Gottwerdung’ der Menschen, die eine poetische Verfremdung der ‚realen’ Individuen voraussetzt. Nicht als Träger ihrer sozialen Rolle, sondern als poetische Figuren werden die Arbeiter bei Lasker-Schüler ‚befreit’, und nicht als Petrus’ Gefolge, sondern als Gäste eines Festes beginnen sie sich aus ihrer „Starre“ zu lösen. Die mythisierenden Namen – Sennulf, Gorgonos, Ludwill – verspotten nicht das ‚kriegerische’ Bewusstsein der Arbeiter, sondern adeln es und befreien es aus dem Panzer sozialer Habitualisierung. Misstrauen und Verhärtung – der mürrische Blick, der „Vipermund“ – verbinden sich mit den „Veilchenaugen“ und „Glockenherzen“ zu poetischen Epitheta, die mehr als bloßer Reflex eines gesellschaftlichen Standes sind. Konsequent verwandeln sich die Arbeiter in ‚dichtende Handwerker’ und „Heiligenmaler“. Ihre Arbeit ist kollektiv und individuell, ‚handwerklich’ und schöpferisch zugleich und eben deshalb autonom – eine Befreiung, die indessen als Verzauberung dargestellt und nicht als unmittelbar realisierbare Praxis behauptet wird. Die Befreiung der Arbeiter aus ihrer sozialen Rolle durch das ‚prophetische Wort’ korrespondiert mit der vom Text vollzogenen Poetisierung der Petrus-Figur selbst. Der anarchistisch-urchristliche Impuls, der – vermittelt über Landauers Konzeption sozialistischer Volkskunst – in diese Figur eingeht, schließt an die Polemik gegen die dogmatische Erstarrung der Schultheologie an, in deren Rahmen Hille sein Ideal der ‚Petrifizierung’ entwickelt hat. Dieser Hille’sche Impuls wird jedoch verknüpft mit einer Poetik der Selbstentäußerung, die Hilles Ästhetik widerspricht. Sie zielt auf eine Ästhetik, die keinen Widerspruch zwischen Hagiographie und Parodie mehr kennt. Die besondere Nähe zu Landauer, der sich von einer sozialistischen Volkskunst die Revitalisierung nicht etwa der Ideologie, sondern der poetischen „Bildkraft“174 des Urchristentums versprochen hat, ist dabei evident: Gerade weil sie „totes Material“ sind, gelten die versprengten Elemente christlicher Ikonographie Landauer als geeignet zur „Umbildung, Neuschaffung und Neubelebung“.175 Ihre ‚Gemeinheit’ steht der Aktualisierung ihres utopischen Potentials nicht im Wege, im Gegenteil: Als verschlissenes, trivialisiertes Volksgut warten sie gleichsam darauf, aus ihrer Starre erlöst zu werden und ihre ‚Bildkraft’, die sich in keinem Dogma einhegen lässt, aufs Neue freizusetzen. 173 174

175

G. LANDAUER, Durch Absonderung zur Gemeinschaft, S. 89. G. LANDAUER, Gott und der Sozialismus. In: ders., Der werdende Mensch, S. 14-39, hier S. 18. Ebd.

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Die Gattung der Heiligenlegende wird bei Lasker-Schüler denn auch weder einfach fortgeschrieben noch parodiert, sondern als Formzitat176 poetisch produktiv gemacht. Dass auch die mittelalterliche Heiligenlegende sich nicht im hagiographischen Weihedienst erschöpft, sondern autonome Spielarten poetischer Fiktionalität ausbildet, ist in der jüngeren Forschung mehrfach konstatiert worden; die „kolportierte Geschichte“ widerspricht nicht der legendarischen Bezeugungsfunktion, sondern bekräftigt sie.177 Insofern sich in der Legendengattung Formen epischen ‚Erfindens’ sedimentiert haben, lässt sich von einem „unterirdischen Strom weltlichen Erzählens“ in der Legendentradition selbst sprechen.178 Die derbe Komik, die sich in frühmittelalterlichen Legenden findet, bindet deren Erlösungsanspruch an „sinnliches Wohlbehagen“ und exponiert die Einheit von geistigem und somatischem Glück, die von der „Diesseitsverachtung“ christlicher Dogmatik unterdrückt wird.179 Wie immer man die historische Triftigkeit solcher Diagnosen einschätzen mag – poetologisch repräsentiert die Legende ein Sprechen, in dem sich ‚prophetische’ und volkstümliche Gehalte verschränken und das sowohl „von höchster Autorität“ wie von „kollektiver Verbindlichkeit“ ist.180 Verbürgt bleibt diese Einheit freilich nur, solange sakrale und profane Sphäre noch als miteinander verwachsen gedacht werden können. Mit dem Auseinandertreten von religiöser und poetischer Autorität seit der frühen Neuzeit wird, wie Schlaffer in seiner Interpretation des Enthusiasmus-Begriffs gezeigt hat, eine Dichtung, die poetische, religiöse und soziale Wahrheitsansprüche wieder zu vereinen und ihren Gegensatz aufzuheben verspricht, sowohl herbeigesehnt wie der Scharlatanerie verdächtigt. Die Dichotomisierung von Enthusiasmus 176

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Diesen Begriff entfaltet A. BÖHN, Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie. Berlin 2001. B. K. VOLLMANN, Erlaubte Fiktionalität: die Heiligenlegende. In: Historisches und fiktionales Erzählen, S. 63-72, hier S. 69. B. K. VOLLMANN, Die geheime Weltlichkeit der Legende. Fortleben und Verwandlung antik-weltlicher Erzählstoffe in der Legende. In: C. HUBER u. a. (Hgg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Tübingen 2000, S. 17-25, hier S. 23. U. M. SCHWOB, Über das Lachen mittelalterlicher Legendenerzähler. In: A. BADER u. a. (Hgg.), Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Stuttgart 1994, S. 43-68, hier S. 44. Zur ambivalenten Bewertung des Lachens im Mittelalter siehe J. LE GOFF, Das Lachen im Mittelalter. Stuttgart 2004; W. HAUG, Das Komische und das Heilige. Zur Komik in der religiösen Literatur des Mittelalters. In: ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleinere Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 257-274. Über das Verhältnis von ‚profaner’ und ‚heiliger’ Komik vgl. A. GREBE / N. STAUBACH (Hgg.), Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit. Frankfurt/M. u. a. 2005, darin T. A. KEMPER, Iesus Christus risus noster. Bemerkungen zur Bewertung des Lachens im Mittelalter, S. 16-31. W. FRICK, Poeta vates, S. 158.

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und Wissen beschreibt Schlaffer als Gründungsakt der Hermeneutik, der aus den Deutern von Dichtung einen „Berufsstand“ und die poetischen Gebilde „wie auf einem Markt“ für „die Prüfung der Argumente“ frei mache; erst durch diesen Akt der Trennung werde „Poesie“ zur „Literatur“, zu einem Erkenntnisgegenstand, der verstanden oder genossen, aber nicht mehr enthusiastisch erfahren werden kann.181 Dieser Verfall des Enthusiasmus bedeutet Fortschritt und Regression zugleich: Fortschritt, weil er die Genese ästhetischer Reflexion als autonomer Erkenntnisform ermöglicht; Regression, weil er die „Personalunion“ von poetischer und diskursiver Erkenntnis, für deren Aktualisierung bei Lasker-Schüler die Figur des Propheten und später des Königs einsteht, in „Berufszweige“ aufspaltet.182 Die Kategorie der ‚ästhetischen Erfahrung’ deutet insofern auf eine von der Departementalisierung des Geistes geschlagene Wunde: „Das ästhetische Spiel erinnert an die Lücke, die der Verzicht auf den enthusiastischen Ernst jener Offenbarung hinterlassen hat.“183 Lasker-Schüler und Landauer sind sich einig darin, diese ‚Lücke’ nicht durch implementierte religiöse oder soziale Relevanzbehauptungen zu stopfen, sondern mit dem enthusiastischen Wahrheitsgehalt ästhetischen Spiels Ernst zu machen und ‚Literatur’, im Sinne Schlaffers, in ‚Poesie’ zu verwandeln. In der zweiten Episode des Peter-Hille-Buchs werden ‚Literatur’ und ‚Poesie’ fast programmatisch in diesem Sinne kontrastiert: Als wir auf die Landstrasse kamen, begegnete uns ein Mann mit kurzem schwarzen Bart, der trug ein grosses Buch auf dem Rücken und er sagte, seine Seele trüge er also bei sich. Und als er das grosse Buch aufschlug, war es voll von eitlen Buchstaben, die sich reimten. Und da Petrus wieder stehen blieb und mit den jungen Bäumen sprach, die an beiden Seiten der Chaussee standen, geschah es, dass der Mann [...] mich verleiten wollte, Petrus nicht zu folgen. „Er kennt die Wege dieser Erde nicht und haltloser ist er noch tausendmal mehr, wie Du es bist, und zwei Herumtreiber wird man Euch aufhalten an der nächsten Ecke.“ Aber ich hielt meine Blicke fest auf den Gefundenen gerichtet, [...] wie auf ein Himmelreich mit blauen Gärten. Und als der Mann sah, dass er nichts ausrichten konnte, begann er mich zu schmähen, bis er von einem Graben verschlungen wurde. (3.1, 29)

Die Referenzen zur zeitgenössischen Alltagsrealität („Landstrasse“ und „Chaussee“) verweisen darauf, dass es sich hierbei nicht einfach um eine Parodie auf das Ideal von der Tora als ‚portablem Vaterland’ handelt. Vielmehr werden kreatürlich-sinnliche Sprache und ‚eitle Buchstaben’ als Ausdrucks181 182 183

H. SCHLAFFER, Poesie und Wissen, S. 14 f. Ebd., S. 18. Ebd., S. 44; Hervorhebung M.K.

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formen eines ‚poetischen’ und eines nur ‚literarischen’ Prophetentums gegenübergestellt. Der „Mann mit kurzem schwarzen Bart“, der sein „grosses Buch“ auf dem Rücken trägt wie eine Schnecke ihr Haus, betrachtet die Schrift gleichsam als Behälter seiner „Seele“, die er wie einen Besitz „bei sich“ hat. Karikiert wird eine missionarische, dogmatische ‚Buchreligion’, die um „haltlose“ Vagabunden als neue Kunden wirbt und zugleich damit droht, sie im Fall der Weigerung als geistig Obdachlose arretieren zu lassen. In Wahrheit erschöpft sich dieses Prophetentum, das vorgibt, „die Wege dieser Erde“ zu kennen, in bloßer ‚Literatur’ – in „Buchstaben“, deren Harmonie nur äußerlich, durch den Reim, gestiftet wird. Das Versprechen, die „Herumtreiber“ durch geistige ‚Sesshaftigkeit’ zu erlösen, wird entlarvt als Angebot, sich in einem spirituellen Schneckenhaus zu verkriechen. Der legendarische Topos von der Prüfung des Heiligen durch weltliche Versuchungen184 wird dabei konterkariert: Gerade der Prediger, der Tino „verleiten“ will, ihm auf seinem rechten Weg zu folgen, und wie ein Ordnungshüter droht, man werde sie „an der nächsten Ecke“ aufhalten, erscheint als Verführer, der selbst in die ‚Grube’ fällt. Petrus, der „mit den jungen Bäumen“ spricht, verkörpert dagegen „ein Himmelreich mit blauen Gärten“, eine Poesie, in der das sinnliche Glücksversprechen des Paradieses fortlebt. Während die ‚Buchstaben’ jenes Glück nur vertreten, erwacht es in Petrus’ kreatürlicher Sprache zum Leben. Das Motiv vom Lebensweg des Jüngers als imitatio185 wird in der Relation zwischen Tino und Petrus denn auch in einer Weise transformiert, die den profanen Elementen der Legende neue Geltung verschafft. Während die weltliche ‚Versuchung’ in der Legende auch topographisch als Abweg vom rechten Pfad dargestellt wird – Jolles spricht von einer „Umkehrung der Pilgerfahrt“186 –, wird bei Lasker-Schüler der riskante Abweg, die Negation des ‚rechten Pfads’, heiliggesprochen. An die Stelle der imitatio tritt das Abenteuer, an die Stelle der Integration in eine festgefügte Ordnung die emphatische Desintegration: Vor einem Häuschen bei der Stadt wollte ich mich von Petrus eine Weile trennen – dort wohnte meine Schwester. Aber er trat durch das kleine Zauntor in den Garten. Und es kamen uns zwei liebliche Mädchen entgegen – das Bübchen in ihrer Mitte hatte sich von ihren Händen losgerissen, kletterte wie ein Wiesel auf einen Birnbaum, munteren Spatzen nach, von einem Ast zum andern. Es war mein Bübchen. Und Petrus fragte die beiden Mädchen, wie sie hiessen. „Sage und Haidekraut“. Es sind meiner Schwester Kinder. Und zu Sage sagte Petrus: „Dein Gesichtchen ist ein schöner Blumenstrauss“. [...] Und 184

185 186

Zum Verführungsmotiv als Bestandteil der Legende vgl. A. JOLLES, Einfache Formen, S. 51 ff. Siehe hierzu wiederum A. JOLLES, Einfache Formen, S. 36 f. A. JOLLES, Einfache Formen, S. 54.

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Haidekraut hob fragend ihr Gesichtchen: „Und Du, erzähle Deiner Mutter, bist ein sonnenfarbenes Prinzesschen.“ [...] Aber meine Schwester hatte uns kommen sehn und war sehr nachdenklich. Ich wusste, dass die Majestät Petrus sie beängstigen würde – und sie erfasste sorgenvoll meine Hände: „Willst Du nicht bei uns bleiben?“ [...] [I]ch riss mich los, streichelte Sage und Haidekraut, küsste meinen kleinen Wildfang und ging dem Herrlichen nach. Als ich mich umwandte, sah ich meine Schwester am Fenster stehen, ihre Augen waren verwundert aufgetan, sie blickte noch lange, lange hinter unsern Flug. (3.1, 30)

Das mit Rekurs auf Nietzsche exponierte Theorem der Loslösung wird hier bezogen auf eine Ästhetik ständigen Neubeginns. Tinos Schwester in ihrem „Häuschen“ mit „Zauntor“ und „Garten“ repräsentiert die Sicherheit des bürgerlichen Familienlebens, Petrus dagegen die „Majestät“ der Vagabondage. Strukturiert wird die Episode durch zwei gegenläufige Bewegungen: Tinos Versuch, sich von Petrus zu „trennen“, um zu Hause einzukehren, wird durch die Bewegung ihres „Bübchen[s]“ konterkariert, das sich von den Händen der Mädchen ‚losreißt’, um zu ihr zu gelangen. Am Ende widersteht Tino der Bitte ihrer Schwester, „bei uns zu bleiben“, indem sie sich ihrerseits von ihr ‚losreißt’. Die ‚Losreißung’ ist nicht einfach Metapher jugendlicher Emanzipation, sondern wird als poetische Metamorphose inszeniert. Sie verwandelt das „Bübchen“ in einen „Wiesel“ und die „Mädchen“ in sagenhafte Gestalten. Petrus’ Spruchformeln („Dein Gesichtchen ist ein schöner Blumenstrauss“187) entrücken die Mädchen ihrer Rolle als ‚Töchter’. Ihre Mutter nimmt diese Metamorphose als Entfremdung wahr und reagiert „beängstig[t]“ und „sorgenvoll“. Wenn sie schließlich mit „verwundert aufgetan[en]“ Augen vom „Fenster“ aus Tinos „Flug“ beobachtet, liest diese Geste sich wie eine Verkörperung der von Schlaffer als Verfallsform des Enthusiasmus beschriebenen ‚Ergriffenheit’. Tino und Petrus figurieren als ‚haltlose’ Akteure, Tinos Schwester als ‚Ergriffene’, der zwar die Augen „aufgetan“ wurden, die aber doch als Zuschauerin ans Fenster gebannt bleibt. Mit dem Bücherprediger und der Schwester werden also zwei Fehldeutungen jener ‚Haltlosigkeit’ vorgeführt, für die Petrus einsteht. Während der Prediger darin nichts als die Abkehr vom Pfad der Tugend erblickt, reflektiert die Schwester den Schein des Enthusiasmus, ohne ihn selbst zu erfahren. Weder dogmatische Buchreligion noch ästhetische Kontemplation werden der Erfahrung gerecht, die Tinos ‚Flug’ ermöglicht. Die Aufwertung einer enthusiastischen ‚Haltlosigkeit’ realisiert sich im Peter-Hille-Buch formal als Transposition des ‚Wunders’ zum ‚Abenteuer’. 187

Solche Epitheta durchziehen das Peter-Hille-Buch. Zu König Otteweihe sagt Petrus: „Dein Herz ist ein Wald von blühendem Geschweige“ (KA 3.1, 35), zu Tino: „Deines Kindes Auge ist ein klarer Stern“ (KA 3.1, 36) usw.

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So reinszeniert der Band mit seiner Reihung knapper Episoden die als Stationenabfolge begriffene Heiligenvita, stellt sie aber nicht als Realisierung eines impliziten Heilsplans, sondern als immer wieder aufs Neue anhebende Folge diskontinuierlicher Aufbrüche dar. Vor allem die einleitenden Episoden lassen sich verstehen als Reihung von Standbildern, die durch kein episches Kontinuum verbunden sind. Die teils nummerierten Titel („Petrus und ich auf der Wanderung I – III“) sowie die leitmotivische Satzreihung in der Form „Und ... und“, in der Elemente biblischer Rhetorik nachklingen, verstärken diesen Eindruck. Zu Beginn von jeder Episode wird ein Ort exponiert, der durch ‚erstarrte’ Bewegungen buchstäblich als Standbild figuriert: „Ich war aus der Stadt geflohen [...] und rastete einen Tropfen Leben lang“ (3.1, 29); „Dann standen wir vor einem Herrenhaus“ (3.1, 30); „Wir standen auf einem kleinen Hügel“ (3.1, 31) usw. Die als „Tropfen“ beschriebene Rast bezeichnet auch die parataktische Struktur der Szenen, in der das Nietzsche’sche Motiv der Loslösung zum Konstruktionsprinzip wird: Wie das Wasser zum Tropfen gerinnt, bevor es sich löst, ist das ‚Stehen’ Voraussetzung einer neuen Bewegung und trennt sie zugleich vom narrativen Fluss. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer Kontinuität des Diskontinuierlichen, einer Abfolge unverbundener Neuanfänge, die dennoch als ‚Weg’ erscheint. Damit knüpft der Band an die temporale Struktur der Legende an, um sie zu transformieren. Insofern es, wie Jolles schreibt, lediglich „Augenblicke“ sein können, „in denen das Gute sich vergegenständlicht“,188 ist auch die Erzählform der Legende episodisch und parataktisch. Sie „zerbricht das ‚Historische’ in seine Bestandteile, sie erfüllt diese Bestandteile von sich aus mit dem Werte der Imitabilität und baut sie in einer von dieser bedingten Reihenfolge wieder auf.“189 Während aber die ‚Imitabilität’ der Episoden – ihre Beispielhaftigkeit im Sinne sich weltlich realisierender göttlicher Macht – sie als Stationen der Erfüllung eines vorgängigen Heilsplans wiederum zusammenfügt, wird die Episodenform bei LaskerSchüler von allen transzendenten Verankerungen gelöst und überführt in die Zeitfolge des Abenteuers, wie Georg Simmel es beschreibt: Charakteristisch für das Abenteuer ist seine temporale und kausale „Gelöstheit“, es fällt „aus dem Zusammenhange des Lebens heraus“,190 folgt aber doch nicht den Gesetzen bloßer Kontingenz: „Es ist wie eine Insel im Leben, die sich ihren Anfang und ihr Ende nach ihren eigenen Bildungskräften [...] bestimmt.“191 Die Episoden des Bandes lassen sich in diesem Sinn als ‚Inseln’ verstehen, deren nebenordnende Struktur den dehierarchisierenden Erfahrungsmodus des Abenteuers nachbildet. Das Abenteuer geht zwar im Genuss des Weltlichen, je Ge-

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A. JOLLES, Einfache Formen, S. 40. Ebd. G. SIMMEL, Philosophische Kultur, hier S. 169. Ebd., S. 170.

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genwärtigen auf – Simmel spricht vom „Rausch des Augenblicks“192 –, zielt jedoch nicht auf Nivellierung, sondern auf rückhaltlose Erfahrung des Inkommensurablen, indem es jeden Augenblick als „eine Fremdheit, Unberührsamkeit, ein Außer-der-Reihe-Sein“ wahrnimmt.193 Insofern das Abenteuer das Profane, Vergängliche als ‚unberührsam’ heiligspricht – Simmel konzediert ihm eine Nähe zu „religiöse[n] Stimmungen“194 –, wird durch Transformation der Heiligenvita zum Abenteuer das „Gefälle“ zwischen „dem einen göttlich berufenen Spezialisten und Interpreten des heiligen Wortes und der Gemeinde, dem profanum vulgus der Vielen“,195 aufgehoben. Das Wunder, das in der Legende durch weltliche Verwirklichung des Göttlichen für dessen Autorität zeugen soll, wird profaniert zur „Gewagtheit“, der noch im Prekärsten „ein Gefühl von [...] Gelingenmüssen“ eignet.196 Eben darin, dass es keine Hierarchie zwischen Wunderbarem und Profanem kennt, besteht die Nähe des Abenteuers zur Kolportage im Verständnis Blochs, der die Popularität der Kolportage als Hinweis darauf deutet, dass „an der Lüge etwas dran sein [müsse], nämlich der echte Wunsch nach Ferne, den sie erfüllt“.197 Kolportage in diesem Sinn will nicht kontemplativ genossen, sondern enthusiastisch bejaht werden. „[S]ie setzt den Glanz dieser Wunschphantasie nicht nur zur Ablenkung oder Berauschung, sondern zur Aufreizung und zum Einbruch.“198 In dieser Affirmation des Scheins nicht als Substitut, sondern als Realisationsmedium weltlichen Glücks liegt ihre Nähe zum Abenteuer. Der Enthusiasmus, den sie entfesselt, hat nichts mit blinder Identifikation zu tun, sondern soll die Phantasie als autonome Instanz vom Gängelband der Kompensation befreien: „Dabei kann dem Leser der Kolportage sogar das Bewusstsein fehlen, dass er liest, genau wie dem Träumenden, dass er träumt.“199 Anders als die ideologisch normierte Massenliteratur, die Bloch als „Gegenkolportage“ bezeichnet,200 ersetzt authentische Kolportage die Sehnsucht nach weltlicher Glückserfahrung nicht durch deren tröstendes Scheinbild, sondern drängt auf Verwirklichung des Versprochenen. Auf solche Verwirklichung zielt LaskerSchülers Adaption der legendarischen Topik des Wunderbaren, die bei ihr in eine Strategie poetischer ‚Verwunderung’ transformiert wird.

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Ebd., S. 171. Ebd., S. 170. Ebd., S. 173. W. FRICK, Poeta vates, S. 125. G. SIMMEL, Philosophische Kultur, S. 175 f. E. BLOCH, Über Märchen, Kolportage und Sage, S. 169. – Zur Affinität von Abenteuer und Kolportage vgl. G. UEDING, Glanzvolles Elend, S. 68 ff. E. BLOCH, Über Märchen, Kolportage und Sage, S. 178. Ebd., S. 173. Ebd., S. 181.

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Exponiert wird das Motiv der Verwunderung im letzten Stück der Episodenfolge „Petrus und ich auf der Wanderung“, wo Tino und Petrus nach ihrer Begegnung mit Tinos Schwester in einen Lustgarten gelangen: Dann standen wir vor einem Herrenhaus. „Hier wohnt Onit von Wetterwehe“, sagte Petrus, und ich ging ihm nach durch das knarrende Tor. Ausgestreckt in der heissesten Sonne fanden wir den jungen Fürsten mitten im hohen Grase liegen, und vor ihm kauerte sich ein runder, zusammengeballte, rotköpfiger Schläfer; der hielt im Traume Possengespräche und dem jungen Fürsten rannen die Tränen über die Wangen. „Nun, was meinst Du zu solch einem Tyrannen, dessen Narr sich am hellichten Tage schlafen legen muss, um ihm die Langeweile mit blödsinnigem Kauderwelsch zu vertreiben.“ Und Onit von Wetterwehe sprang auf, als er Petrus’ Stimme hörte, umarmte ihn und betrachtete mich neugierig. „Wer ist sie?“ „Ja, das möchtest Du gerne wissen – gefunden habe ich sie – irgend ein fremder, gebräunter Stern hat sie wol aus der Hand fallen lassen.“ Und von der andern Seite des Gartens näherten sich drei Gestalten, [...] und Petrus nannte den schönsten der beiden Jünglinge Antinous und den andern Grimmer von Geyerbogen [...]. Und wir verwunderten uns und waren uns gut. (3.1, 30 f.)

Gemäß dem Prinzip der ‚Loslösung’ werden Tino und Petrus gleich mit Beginn der Episode ohne narrative Vermittlung vor ein „Herrenhaus“ versetzt, womit sich innerhalb der legendarischen Stationenabfolge eine dezidiert weltliche, aristokratische Topographie eröffnet, die ein Gegenbild zum bürgerlichen Garten der Schwester darstellt. Mit dem Gang „durch das knarrende Tor“ überschreitet Tino die Schwelle zu einem ‚geadelten’ Ort, der jene fabulösen Konnotationen aufweist, die für Bloch die Kolportage kennzeichnen, welche die Stereotypen luxurierenden Lebens (das ‚fürstliche’ Herrenhaus, den aristokratischen Müßiggang) in ein „buntes Glück“ verwandeln,201 das die Wirklichkeit nicht übertüncht, sondern den „Jugendtraum von Ferne“202 in seiner Inkommensurabilität bewahrt. Wie Kolportage den „Wunsch nach Ferne“ – nach Flucht aus der unbefriedigenden Enge des bloß Gegebenen – und „Wunschphantasien der Erfüllung“ – der Realisierung sinnlichen Glücks im Hier und Jetzt – zugleich artikuliert,203 also eskapistische und revolutionäre Phantasie zusammenführt, so werden Fremdheit und Vertrautheit in der ‚aristokratischen’ Topographie ineins gesetzt. Dies geschieht durch das Verfahren der Inversion, das Onits Lustgarten zur ‚verkehrten Welt’ macht. Onit, dessen Name selbst eine Inversion von „Tino“ ist, wird als „Tyrann“ vorgestellt, der seinen Tyrannenstatus aufhebt, indem er seinem Narren befiehlt, „sich am 201 202 203

E. BLOCH, Über Märchen, Kolportage und Sage, S. 177. Ebd., S. 173. Ebd., S. 169 und 178.

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hellichten Tage schlafen [zu] legen“. Der „im hohen Grase“ liegende Herr befiehlt seinem Knecht den Müßiggang, den er selbst betreibt, und hebt so die Hierarchie zwischen beiden auf. König und Narr erscheinen als Spielgefährten, Müßiggang wird in Tätigkeit, Unsinn („Kauderwelsch“) in Sinn verwandelt. Diese Verwandlung verharrt indes nicht im Modus einer ‚Verkehrungssymmetrie’, die Hierarchien nur umkehrt und dadurch perpetuiert,204 sondern entfesselt eine produktive Phantasie, die der aristokratischen Ikonographie einen utopischen Gehalt abgewinnt. Durch Ineinssetzung von König und Narr wird Onits ‚Adel’ vom Makel des Privilegs befreit und zur Signatur einer an keine Hierarchie gebundenen somatischen Glückserfahrung gemacht: Sinnbild eines ‚schläfrigen’ und ‚träumerischen’ Lebens, das kein bloßes Komplement der Sphäre bürgerlicher Arbeit mehr ist. Analog artikuliert sich in den „Possengespräche[n]“, die der Narr „im Traume“ führt und die dem Fürsten „Tränen über die Wangen“ rinnen lassen, eine sinnlich-kreatürliche Glückseligkeit, wie sie in der mittelalterlichen Heiligenlegende, die die spirituelle Heiterkeit dem körperlichen Lachen vorzieht,205 marginalisiert wird. Gerade die Verfremdung der legendarischen Topoi gibt ihnen ihren weltlichen Gehalt zurück: In diesem Umschlag von ‚Ferne’ und ‚Nähe’ liegt die wohl größte Affinität zu Blochs Verständnis der Kolportage. Lasker-Schülers Poetik des ‚Findens’, die die Unverfügbarkeit des ‚Gefundenen’ bewahrt, schlägt sich denn auch in Figurennamen wieder, die durch ihre fabulöse Fremdheit einen affektiven Bezug zwischen ihren Trägern stiften. Pointiert wird diese gemeinschaftsstiftende Funktion mit dem Satz „Und wir verwunderten uns und waren uns gut“. Der fabulöse Kosename (Tino, Petrus, Grimmer von Geyerbogen) ist Ausdruck eines poetischen Verfahrens, das darauf zielt, aktiv einander zu verwundern, einander den Schein der Vertrautheit zu nehmen, der in Wahrheit von Entfremdung zeugt, um gerade dadurch einander näher zu kommen. Diese ‚Verwunderung’ ist die Voraussetzung dafür, sich „gut“ sein zu können – eine Gemeinschaft zu bilden, die nicht auf Hierarchie und Identität, sondern auf Heterogenität und Ebenbürtigkeit beruht. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich die ‚Wunder’ verstehen, die Petrus ganz im Stil eines Heiligen vollbringt und die stets als Überbrückung einer scheinbar unüberbrückbaren Ferne beschrieben werden. Unmittelbar auf die Onit-Episode folgt die Szene „Petrus und der Mond“:

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In diesem Sinne ist Bachtins Konzept des Karnevalesken kritisiert worden. Vgl. H. BOEHNCKE, Apokalypse und Karneval. Metamorphosen der Verkehrten Welt. In: Literaturmagazin 29 (1992), S. 70-82; zum Begriff der „Verkehrungssymmetrie“ S. 77. Die Dichotomie von laetitia saecularis und gaudium spirituale ist dargestellt bei J. SUCHOMSKI, ‚Delectatio’ und ‚utilitas’. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur. Bern 1975, S. 9 ff.

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Wir standen auf einem kleinen Hügel in der Nähe der Stadt und blickten in unsere Fernen. Auf die silberdunkle Linie zeigte Petrus, die Himmel und Erde vereinte. Er sagte: „Von dort bin ich gekommen.“ Und es war mir offenbar: eine wandernde Landschaft ist er, die ersehnte Heimat der Jubelnden. Und als ich zu ihm reden wollte, erreichten meine Augen ihn nicht, höher war er gewachsen wie der Mond – und er hielt ihn in der Hand, den grössten goldenen Reichsapfel. Ich rief. Da kamen alle die Knaben, die Petrus liebten, und die Mädchen, die um ihn wie um eine steinerne Urgestalt Tänze tanzten und blickten zu ihm auf. Aber er hatte den glänzendsten Stern zurück in die Wolken geworfen, und ein heftiger Regen ergoss sich. Wir stiegen den Hügel herab und traten unter breitlaubige Baumriesen. Die anderen sahen wir fliehen zurück in die Stadt. (3.1, 31)

Schon die Formulierung „unsere Fernen“ spricht aus, worum es in dieser Episode geht: Die ‚Ferne’ als Sinnbild des den Menschen schlechthin Unerreichbaren soll in „unsere Fernen“, in eine Vielzahl utopischer Horizonte verwandelt werden, die den Menschen, denen sie sich eröffnen, zugleich angehören und daher nicht mehr für die Unvermittelbarkeit zwischen „Himmel und Erde“, sondern für die Fähigkeit bürgen, den ‚Himmel’ zu profanieren, ihn gleichsam auf die Erde zurückzuholen. Während die Vorstellung der unerreichbaren Ferne des Himmels die Menschen an die profane Sphäre fesselt und das Glücksversprechen der Erlösung auf den Horizont des Spirituellen projiziert, geht es hier im Gegenteil darum, die ‚Ferne’ als Möglichkeit innerhalb des je eigenen Horizonts zu begreifen. Die gesamte Topographie der Szene – die „silberdunkle Line“, von der Petrus „gekommen“ ist, die Imagination von Petrus als „wandernde Landschaft“, sein ‚Hinaufwachsen’ bis zum Mond – lässt sich als konkrete Ausgestaltung dieser Vermittlungslogik verstehen. Die Horizontlinie, die „Himmel und Erde vereint“, in der also profane und göttliche Sphäre konvergieren, ist Petrus’ Heimat, während er als „wandernde Landschaft“, als beweglicher Horizont erscheint, der „die ersehnte Heimat der Jubelnden“ ist.206 Die ‚wandernde Landschaft’ symbolisiert weder die unüberwindliche Distanz zwischen profaner Nähe und utopischer Ferne 206

Dieses Bild eines beweglichen Horizonts weist Ähnlichkeiten mit dem Modell der „wandernden Grenze“ auf, das Albrecht Koschorke als paradigmatisch für die neuzeitliche Transformation des Horizontbildes im Zuge der Säkularisierung theologischer Unendlichkeitsmetaphern erläutert hat. Vgl. A. KOSCHORKE, Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt/M. 1990, besonders S. 76 ff. – Koschorke konzentriert sich auf das 18. und 19. Jahrhundert und diagnostiziert für die Moderne eine erneute „Schließung des Horizont“ (S. 218). Wie sich Lasker-Schülers ‚offene’ Horizontmetaphorik in diesem Kontext verorten lässt, wäre zu prüfen. Zur Bedeutung ‚flexibler Räume’ bei Lasker-Schüler siehe I. HERMANN, Raum – Körper – Schrift. Mythopoetische Verfahrensweisen in der Prosa Else Lasker-Schülers, Bielefeld 1997, S. 62 ff.

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noch deren unproblematische Kommensurabilität, sondern die reale Präsenz der Ferne innerhalb der Nähe, des himmlischen Glücksversprechens gerade im Profansten. Dass es bei dieser Idee eines ‚Heimholens’ des Himmels nicht um Vorstellungen von Aneignung geht, wie sie an den Arbeiterfiguren in „Petrus und die Arbeiter“ kritisiert werden, zeigt sich, wenn Petrus den Mond, den er „wie den grössten goldenen Reichsapfel“ in seiner Hand hält, „zurück in die Wolken“ wirft, ihn an die Ferne zurückgibt, und dadurch den Regen auslöst. Petrus’ sprichwörtliche Fähigkeit, die Beeinflussung des Wetters, wird eben nicht an die Beherrschung des Himmels, sondern an einen Austausch zwischen Himmel und Erde gebunden. Dieser Austausch transformiert den Mond in einen „Reichsapfel“, in dem der paradiesische Genuss ebenso präsent bleibt wie das Königsattribut und dessen Rückgabe an den Himmel mit „heftige[m] Regen“ beantwortet wird. Profane und göttliche Sphäre beschenken einander gegenseitig und initiieren einen animistischen Taumel, dessen ‚Heftigkeit’ die tanzenden Mädchen und die Knaben „zurück in die Stadt“ fliehen lässt. Die sich in Petrus vollziehende Verwirklichung des ‚Wunders’ scheint ihnen Angst zu machen, eben weil es dabei nicht mehr um spirituelle Vertröstung, sondern um Selbstentäußerung geht. Auch die anderen ‚Wunder-Episoden’, die Petrus meist als Doppelfigur („Petrus-Poseidon“, „Petrus-Noah“) entwerfen, binden das Wunder an Formen des Austauschs zwischen Himmel und Erde, Mensch und Natur – ein Austausch, der von Petrus nicht nur vollzogen wird, sondern sich buchstäblich in ihm ereignet. In „Petrus-Poseidon“ wird Petrus’ „Bart“ als „Schaum“ beschrieben, wenn er „stürmisch“ Tinos Hand ergreift und zu ihr sagt, sie sei „zu jung, um ins Meer zu fließen“ (3.1, 32): Petrus’ Bart ist der Schaum des Meeres, seine Gebärde ist nicht nur stürmisch, sondern entfacht einen Sturm. Der Wunsch, „ins Meer zu fließen“, zielt auf Teilhabe an jenem Austausch, der sich durch Petrus vollzieht. In „Petrus-Noah“ wird dieser Austausch als Arbeit beschrieben und gegen genieästhetische Selbstschöpfungsphantasien abgegrenzt: Fleissige Engeljungfrauen spinnen feinen Seidenregen und sie gönnen sich keine Feierstunde. [...] Zwei schwarze Märzwolken hebt die nächtliche Frau des Westens aus ihrem schwärzesten Keller, die sehen aus wie grosse Wasserkessel und ein Heulen beginnt [...]. „Das sind die Teufelchen“, erklärt Petrus, „und es wird nicht mehr zu lange dauern und wir haben, plumps, die Bescherung hier unten.“ Und wirklich, die kleinen Teufelchen gossen die grossen Wolkenkessel rücksichtslos auf die Erde [...] und der Fluss unter uns erwachte [...]. Und dann kam ein Morgen, der war sonnig und selig [...], und die Wälder dufteten, trugen neue, grüne Kleider und Petrus-Noah erzählte: dass der Frühling der Glaube Gottes sei, der immer wieder zurückkehre in die Welt! (3.1, 42 f.)

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Ähnlich den Kobolden in der Eingangsepisode verkörpern die „Engeljungfern“ und „kleinen Teufelchen“ eine disperse Gemeinschaft, deren anarchische Produktivität das ‚Wunder’ der Naturgewalten ermöglicht. Die für die konkrete Phantasie von Kindern typischen Anthropomorphisierungen, koketten Vergegenständlichungen und Verniedlichungen – der Nieselregen als fein gesponnene „Seide“, die Wolken als „Wasserkessel“, das Unwetter als herunterplumpsende „Bescherung“ – dienen nicht der Ironisierung eines ‚verkehrten’ Naturverständnisses, sondern verweisen auf eine Dimension von Natur, die durch ‚realistische’ Deutungen der Naturgewalten verdeckt wird. Die Wunder der Natur stellen sich aus ihrer Optik nicht als creatio ex nihilo, sondern als Ergebnis einer vielfältig organisierten Produktivität dar – einer Arbeit, die zugleich als Spiel erscheint, weil sie ebenso das ‚fleißige’ Werken ohne „Feierstunde“ wie ‚teuflische’ Neckereien umfasst. Dieses Szenario, das deutlich die Imagination der Schöpfung als Großfamilie aus „Im Anfang“ evoziert, stellt Petrus eine Schar märchenhafter Helfer zur Seite, die auf ‚rücksichtslose’ Weise autonom sind und das ‚Wunder’ als Ergebnis eines kollektiven Austauschs erscheinen lassen, an dessen Ende der „Fluss“ in neuen „Kleider[n]“ erwacht. Petrus’ Sentenz, „der Frühling“ kehre „immer wieder zurück in die Welt“, erschöpft sich mithin nicht in einer Binsenweisheit. Vielmehr formuliert sie das dem Peter-Hille-Buch insgesamt zugrunde liegende Telos einer kollektiven poetischen Produktivität, die, weil sie nicht in der Dichotomie von Schöpfer und Werk erstarrt und nicht als ‚Kunst’ der ‚Natur’ einfach gegenübersteht, dem Leben dient. Was im Peter-Hille-Buch als ‚Leben’ begriffen wird, soll abschließend anhand der Motivik des Todes konkretisiert werden, die der Band immer wieder in Verbindung mit den Metaphern der ‚Welt’ und der ‚Erde’ aufgreift. Die einzige Episode, in der die Grenzen von Petrus’ Fähigkeit zur ‚Verwunderung’ thematisch werden, trägt den Titel „Petrus legt einen Bauernsohn in die Erde zurück“: Der Himmel glitzert, wie ein reifes Aehrenfeld. Petrus und ich liegen im Schatten eines Ahornbaumes. Frühherbst ist es, und die Lüfte versieden noch auf dem Sommerherd. Wir denken beide an das Erntefest [...]. Und den Gevattern Bauern muss ich nachahmen, wie sie sich die Kartoffelnasen schnäuzen. „Aber kernig sind diese fluchenden Pflügetiere, die haben keine Seele, die ihnen zu schaffen macht.“ Männer kamen den schmalen Feldweg geschritten, sie trugen Heugabeln, Sensen und andere Gerätschaften [...]. Der Derbste hatte schon wieder zum Vermaledeien seinen grossen Heuschober aufgesperrt, aber der olle verrunzelte Bauer drohte. „Mang de Rippen komm ick Dir“, und dann geheimnisvoll: „Det is eener von de Apostels.“. Und weiter meinte er, „der mit’m jrossen Bart könne ihm wol seggen,“ er zeigte auf seine sechs Söhne, „wo der siebente von de sechse herumflaniere. [...] Vorichte Nacht is [Mutter] vor men Bette jeschlichen, so janz dichte ran mit det Sargjesichte, wie ne Heilje hat se

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jegickt und jeseggt hett se: Justav is dot. Drimol hett set jeseggt und das muss’ s doch wahr sint.“ „Allerdings muss das wahr sein!“ betonte Petrus [...]. Und Petrus beugte sich über den goldblassen Körper. „Bauer, hier ist Dein siebenter Sohn. Gold zwischen dem Golde des Herbstes.“ Und ich bat Petrus ihn zu erwecken. Aber er schüttelte ernsthaft den Kopf. „Bauer, Dein Sohn ist tot,“ – und zu den Sechsen sich wendend: „Euer Bruder war ein Dichter.“ [...] „Sag uns doch, wie heisst der Mann mit dem harten Bart?“ Petrus nickte mir abwehrend zu, aber ich sagte den Brüdern: „D e r h e i s s t w i e d i e W e l t h e i s s t.“ Und der olle Bauer mit dem Wackelkopp meinte: „Ick hews Euch anfänglich geseggt, det is keener von de unsrige.“ Petrus erbat sich den toten Knaben, er liess ihn noch unter dem scheidenden Tage liegen. [...] Nach drei Tagen legte ihn Petrus selbst in die Erde zurück. (3.1, 52 f.)

Die durch dialektale Einfärbung burlesk überformte Episode greift den für die Bezeugungsfunktion mittelalterlicher Legenden zentralen Topos der Totenerweckung auf.207 Dass die Szene mit ihrer Ikonographie von „Aehrenfeld“, „Erntefest“ und bäuerlicher Arbeit in einem eher heidnischen Kontext angesiedelt ist, widerspricht nicht der mittelalterlichen Legendentradition, die das legendarische Wunder häufig in einer volkstümlich-diesseitigen Sphäre sich ereignen lässt.208 Für die vom Peter-Hille-Buch entworfene Vorstellung von Leben ist indessen entscheidend, dass das ‚Wunder’ ausgerechnet diesmal auszubleiben scheint. Auf Tinos Bitte, den Bauernsohn „zu erwecken“, schüttelt Petrus „ernsthaft den Kopf“ mit der Begründung: „Bauer, Dein Sohn ist tot“. Ob Petrus unfähig oder unwillig ist, das Wunder zu vollbringen, bleibt offen. In jedem Fall scheint der leibliche Tod nicht durch ‚Erweckung’ revidierbar zu sein. Während die Sehnsucht nach ‚Erweckung’ die Unsterblichkeit der Seele gegen die Vergänglichkeit des Leibes ausspielt und die Sterblichkeit als Konstituens alles Lebendigen verdrängt, wird das Bewusstsein um die leibliche Vergänglichkeit als Grundbedingung des Lebens in Petrus’ Weigerung, den Toten zu ‚erwecken’, präsent gehalten. Damit knüpft die Episode emphatisch an heidnische Vorstellungen vom Tod als Heimzahlung an die ‚Erde’ an, die den Tod als Bestandteil eines universalen Lebensprozesses begreifen, der sich im ständigen Austausch zwischen Lebenden und Toten allererst realisiert. Mit dem Erntefest wird explizit auf eine jener Riten zur „Neuschöpfung der Welt“ rekurriert, die sich, wie Roger Caillois in seiner Analyse naturreligiöser Fruchtbarkeitsriten und Festtagsgebräuche zeigt, „in einer kritischen Phase des jahreszeitlichen Rhythmus“ vollziehen und die Funktion 207

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Jolles nimmt in seiner Darstellung hauptsächlich die Bezeugungsfunktion der ‚tätigen Tugend’ in den Blick und gibt nur wenige Beispiele für das im engeren Sinn ‚wunderbare’ Wirken von Heiligen. Vgl. A. JOLLES, Einfache Formen, S. 29 ff. Über das Verhältnis von ‚realistischen’ und ‚wunderbaren’ Elementen in der Heiligenlegende vgl. B. K. VOLLMANN, Erlaubte Fiktionalität, besonders S. 66 ff. Siehe hierzu B. K. VOLLMANN, Weltlichkeit der Legende.

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haben, durch einen zyklischen Austausch zwischen Toten und Lebenden „die wirkliche Welt zu regenerieren“.209 Wenn Petrus den Bauernsohn „in die Erde zurück“ legt, ist damit ausgesprochen, dass die Bestattung den Leib nicht gegen die unsterbliche Seele ‚tauscht’, sondern Teil eines lebendigen Kreislaufs bleibt, in dessen Zuge der Tote, statt in den ‚Himmel’ hinaufzufahren, in die ‚Erde’ heimkehrt – mithin dem Leben, das aus ihm gewichen ist, zurückgegeben wird. Die Geste, den Toten in die Erde zu legen, knüpft an tellurische Vorstellungen von der Terra Mater und an heidnische Riten wie etwa die Niederkunft auf dem Erdboden an,210 die ganz im Sinne der neomystischen Tendenzen der Jahrhundertwende gegen die Leib-Seele-Dichotomie der christlichen Dogmatik in Anschlag gebracht werden. Nach Petrus’ Tod legen Tino und ihre Freunde daher auch, wie es heißt, ihre „Feierkleider“ an, weil Petrus „nur vom heiteren Tod zu erzählen [wusste], der Hand in Hand mit dem Leben geht“ (3.1, 65). Angemessen zu verstehen ist diese Idealisierung einer ‚heiteren’ Koexistenz zwischen Lebenden und Toten indes wohl nur als Antwort auf die reale „Ausweisung der Toten“ aus der „symbolischen Zirkulation“, wie sie Jean Baudrillard als typisch für moderne Gesellschaften bestimmt hat: „[N]ach und nach hören die Toten auf zu existieren. [...] Sie sind nicht mehr besondere Wesen oder zum Austausch geeignete Partner, und das macht man ihnen deutlich, indem man sie [...] aus der Gruppe der Lebenden verbannt“.211 Dieser genuin modernen Erfahrung wird im Peter-Hille-Buch mit Rekurs auf ein ländlich-archaisches Szenario ein Verständnis des Todes entgegengestellt, der vom Leben produziert wird und wiederum Leben schafft. In der Episode tritt das ‚naturhafte’ Leben mit dem Gesicht des Todes auf und umgekehrt: Die Bauern figurieren als „Gevattern“ mit Sensen, die Mutter hat ein „Sargjesichte“, der Tote ist „Gold zwischen dem Golde des Herbstes“. Wie beim Erntefest der Herbst mit Gesten der Lebensfreude begrüßt wird, soll der Tod als Geschenk an das Leben wahrgenommen und mit Geschenken beantwortet werden. Dieses Konzept eines in den Lebensprozess zurückgeholten Todes wird erneut mit der Horizontmetaphorik verknüpft: Der „Himmel“ ist ein „Aehrenfeld“, wird profaniert zum Bild eines Glücks, dessen ‚Ernte’ sich im Hier und Jetzt einfahren lässt. Auch Arbeit und Sprache der Bauern werden als unmittelbarer Austausch mit der Natur idealisiert. Mit ihren „Kartof209 210

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R. CAILLOIS, Der Mensch und das Heilige. München, Wien 1988, S. 141 f. Zum Mythos der Terra Mater siehe M. ELIADE, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt/M. 1984, S. 122 ff. J. BAUDRILLARD, Der symbolische Tausch und der Tod. München 1991, hier S. 197. – Die gesamte Konzeption des ‚symbolischen Tauschs’, die Baudrillard in Anlehnung an Tauschprozesse in archaischen Gesellschaften dem kapitalistischen Äquivalenztausch entgegenzusetzen versucht, scheint mir trotz ihrer poststrukturalistischen Diktion stark an neuromantische Naturphilosophien anzuknüpfen, wie sie, vermittelt über Wille, Bölsche und andere, zweifellos auch Lasker-Schüler rezipiert hat.

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felnasen“ und ihrem „zum Vermaledeien“ aufgesperrten „Heuschober“ sind sie Teil der Natur, die sie bearbeiten, und ihre Arbeit bleibt Teil ihrer selbst. Sie werden situiert in einer ‚diesseitigen’ Lebenswelt, in der „die Seele“ niemandem „zu schaffen macht“. Ihr derber Dialekt verwandelt Petrus in „eene[n] von de Apostels“, kappt die Differenz zwischen Heiligem und Profanem und fungiert als ‚arbeitende’ Sprache, die ihren Gegenstand verändert und lebendig hält. Dennoch ist Petrus für sie „keener von de unsrige“: Die dialektale Anverwandlung nivelliert seine Fremdheit nicht, sondern nimmt sie in sich auf. Dass die in der Bauern-Episode vorgenommene Bestimmung von ‚Leben’, der eine durchaus problematische Tendenz zur Idealisierung archaischer Opferriten eigen ist, sich nicht auf die Begeisterung für Sonnenwend- und Erntefeiern reduzieren lässt,212 sondern eine poetologische Dimension besitzt, wird deutlich, wenn Petrus den Bauernsohn als „Dichter“ tituliert. Es ist denn auch kein Zufall, dass der Satz „Der heisst wie die Welt heisst“ – schon auf Petrus’ Bitte, ihm „meinen Namen“ zu nennen, hatte Tino geantwortet: „D u h e i s s t, w i e d i e W e l t h e i s s t !“ (3.1, 51) – nach Petrus’ Tod als Epitaph fungiert. Nachdem Tino „drei Tage und drei Nächte“ vor Petrus’ Grab gewacht hat, schreibt sie dort den Satz „E r h e i s s t w i e d i e W e l t h e i s s t“ in die „Erde“ (3.1, 66). Zuvor hat sie Petrus’ „grossen Bleistift“ und seine „Papierrolle“ an „rotbäckige Kinder“ verschenkt – die Insignien seiner Autorschaft werden nicht ‚bewahrt’, sondern den „Kleinen“ überlassen, die Petrus „liebte“ (3.1, 64). Die legendarischen Topoi der Inschrift und der Reliquien werden dabei im Sinne des hier umrissenen Todesverständnisses transformiert. Die Reliquien dienen nicht als Kultobjekte, die den Körper des Verstorbenen symbolisch ersetzen,213 sondern werden als Geschenke an die disperse Gemeinschaft der Kinder zurückgegeben, der Petrus seine ‚Heiligkeit’ verdankt. Mit den Kindern und mit der „Schar tanzender Teufel“, die sich an seinem Grab zur „Totenfeier“ versammeln (3.1, 66), wird am Ende jenes Figurenensemble wieder aufgegriffen, von dem Petrus zu Beginn in Gestalt der Kobolde aus dem Felsgestein gemeißelt wurde. Der zyklische Austausch zwischen Leben und Tod bildet so auch formal den Rahmen des Bandes. Im memento mori, das Tino in die Erde schreibt, wird die Funktion eines Epitaphs dementsprechend zugleich bestätigt und negiert. Während das Epitaph den Sinnkern des Lebens einer Person zusammenfasst und analog zum 212

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Zur Popularität solcher ‚Dionysien’ um 1900 siehe R.-P. JANZ, Faszination der Jugend. Inwiefern sich das Interesse an Opferriten um 1900 als Reaktion gerade auf eine Krise von ‚Leben’ und Produktivität verstehen lässt, erläutert H. R. BRITTNACHER, Erschöpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de Siècle. Köln, Weimar, Wien 2001, besonders S. 9 ff. Die Reliquie soll den Heiligen „in seiner Abwesenheit vertreten“ und kann „selbst in gewissem Sinne heilig sein“. Vgl. A. JOLLES, Einfache Formen, S. 33.

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Namenszug auf dem Grabstein deren Leib symbolisch vertritt,214 verweist der Satz „Er heißt wie die Welt heißt“ auf keine distinkte Identität: Die ‚Welt’ hat keinen bestimmten Namen und ist doch Inbegriff der Gesamtheit aller Namen, einer Vielfalt des Heterogenen, die unter keinem Gesamtbegriff subsumiert werden kann. Die für Hilles Selbstverständnis als ‚fühlender Fels’ zentralen Motive der Selbstabhärtung und Erstarrung werden durch diese Gleichsetzung Petrus’ mit der ‚Welt’ freilich nicht ignoriert. Vielmehr sollen sie in einem Begriff von Leben aufgehoben werden, der die Erfahrungen von Abtötung und Erstarrung in sich aufnimmt und transzendiert. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die Dominanz von Zerstörungs- und Tötungsmotiven in den späten Episoden des Bandes verstehen, die bislang durchweg als Hinweis auf biographische Erfahrungen Lasker-Schülers mit Hille gedeutet worden sind.215 In der letzten Szene der Episodenfolge „Petrus und ich auf den Bergen“ werden die Motive der Flucht und des Selbstverlusts, durch die sich Tino in der Eingangsepisode erst als Figur konstituierte, in der Relation zwischen Tino und Petrus wiederholt: Harte Falten umhüllten [Petrus’] Leib und er war nur Gestalt und kein Körper mehr. [...] Und ich fürchtete mich, er war ein Zauberer und ich stürzte die Berge herab, [...] ich konnte mich nicht wiederfinden. -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Es war im Spätfrühmonat 1903, als mich die Furcht vom Erdältesten vertrieb. (3.1, 60 f.)

Am Beginn der folgenden Szene (3.1, 61) liegt Tino „[v]or einer Hecke“, das „Kleid zerrissen“ und die „Haare zerzaust“. Die Jünglinge, die sie finden, sagen von ihr: „In Schwermut ist sie gefallen, fest geschlossen sind ihre Lippen, die am Sonnenwendtag geöffnet standen.“ Trotz Zuwendung ihrer Freunde bleibt Tinos „Blut [...] taub“ und ihr „Herz blind“. Ihre ‚Vertreibung’ scheint der Dialektik von Flucht und Neubeginn, wie sie in Analogie zur Zeitstruktur des Abenteuers als charakteristisch für den Band aufgewiesen werden konnte, somit ein Ende zu bereiten: Von seiner Bezugsfigur vertrieben, ‚fällt’ das Ich in die Melancholie, weil es ihm nicht mehr möglich ist, sich im Modus des Selbstverlusts ‚wiederzufinden’. Für die „Furcht“, die Tino von Petrus vertreibt, wird dessen ‚Petrifizierung’ namhaft gemacht, die dazu führe, dass er 214 215

Zu dieser Funktion des ‚Spruchs’ siehe A. JOLLES, Einfache Formen, S. 150 ff. M. FESSMANN, Spielfiguren, S. 158, deutet das Peter-Hille-Buch als „Darstellung des Konflikts, in den Else Lasker-Schüler durch die Hillesche Namensverleihung geriet“. J. HESSING, Else Lasker-Schüler, S. 78 ff., versteht die Episode „Petrus und die Jerusalemiter“ als Reflexion der Unvereinbarkeit zwischen Lasker-Schülers und Hilles Verständnis des Judentums.

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nur „Gestalt“ und keinen „Körper“ mehr habe, die Dimension des Somatischen also aus seinem Wesen getilgt sei. Diese Abtötung des Somatischen scheint sich auf Tino zu übertragen, die „taub“ und „blind“ wird und deren Lippen „geschlossen“ bleiben, die mithin jene mimetischen Fähigkeiten verliert, die konstitutiv für das im Peter-Hille-Buch entworfene Ideal poetischer Sprache sind. Der Neologismus „Spätfrühmonat“ für das Datum dieser Erfahrung deutet jedoch bereits an, dass selbst dieses ‚Stürzen’ zu einem Neubeginn führt. Das Motiv der zerrissenen Kleider wird in den folgenden Episoden konsequent umgewertet zum Bild eines schöpferischen (Selbst-)Opfers. Nachdem Tino beobachtet hat, wie der tote Petrus auf einer „Bahre“ ins Tal getragen wird, heißt es: „[D]er See stand still, die Frühlingswinde erstarrten [...]. Und ich zerriss mein Gewand und verbarg mein banges Gesicht in der Erde.“ (3.1, 63; Hervorhebung M.K.) In der folgenden Episode wird erzählt, wie ein „Sturm“ das „junge Laub der Wälder [zerreißt]“, während durch die gemeinsame Erfahrung des Schmerzes erneut ein affektives Band zwischen Tino und ihren Freunden gestiftet wird: „Und wir küssten uns Alle auf den Mund und weinten.“ (3.1, 64) Indem Tino ihr Gewand zerreißt, vollzieht sie jene Destruktion, die ihr zuvor widerfuhr, aktiv an sich selbst und sprengt die ‚erstarrte’ Natur. Deshalb wird das Bild des zerrissenen Gewandes bezogen auf das ‚Verbergen’ des Gesichts „in der Erde“: Die Geste des Schmerzes ist zugleich eine Geste der Heimkehr in eine Geborgenheit, in der die Destruktionserfahrung ebenso bewahrt wie überschritten wird. Erst daraufhin können die mimetischen Fähigkeiten aufs Neue in ihrer Ambivalenz, als Küssen und Weinen, freigesetzt werden. Auf Petrus’ ‚Erstarrung’ und schließlich auf seinen Tod wird mit Riten der Zerstörung und Selbstverwundung geantwortet, die die Schmerzerfahrung über sich hinaustreiben und dadurch aufheben sollen.216 Die bei Hille verdrängten Momente von Gewaltsamkeit und Schmerz werden mit der im Peter-Hille-Buch entwickelten Poetik insofern buchstäblich beantwortet. Dass der Satz „Er heißt wie die Welt heißt“, in dem Petrus’ profanes Prophetentum und das nicht-hierarchische Gemeinschaftsideal des Bandes zusammengefasst sind, von Tino nicht etwa wie ein Epitaph in Stein geprägt, sondern wie von einem Kind in die Erde geschrieben wird, bringt dies prägnant zum Ausdruck. Während die als Telos poetischer Autorschaft begriffene Verwirklichung der ‚Kindheit’ bei Hille im Modus der Selbstbewahrung qua Immunisierung gedacht ist, realisiert sich der gleiche Anspruch bei Lasker-Schüler in einer Poetik spielerischen Austauschs, die das ‚Leben’, für

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In diesem Kontext muss wohl auch die Tötung des Narren Tabak verstanden werden, den Tino nach Petrus’ Tod erschlägt (KA 3.1, 64). Für diese rätselhafte Szene hat die Forschung bislang keine plausiblen Deutungsvorschläge gemacht. – Über die rituelle Funktion solcher Gesten der (Selbst-)Zerstörung vgl. R. CAILLOIS, Der Mensch und das Heilige, S. 150 ff.

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das die poetische Kindheit einsteht, nicht durch Selbstabhärtung bewahren, sondern durch Selbstüberschreitung verwirklichen will.

e) Zweierlei Eigentum: Autograph und Widmung Betrachtet man Hilles Poetik der Petrifizierung und Lasker-Schülers Inszenierung Hilles als profanen Propheten abschließend vor dem Hintergrund der Kritik am Begriff künstlerischen ‚Eigentums’, lassen sich beide präziser im Rahmen der antibürgerlichen Programmatik der Bohème verorten. Hilles und Lasker-Schülers Rekurse auf ‚Kindheit’ erweisen sich als gegenläufige, in ihrer Gegenläufigkeit aber auch vergleichbare Versuche, einen Modus poetischer Rede zu verwirklichen, der sich der bürgerlichen Kodifizierung als ‚Werk’ entzieht und die anarchistische Programmatik der Bohème ästhetisch einzulösen vermag. ‚Kindheit’ erscheint in diesem Sinne als privilegierter Bezugspunkt eines bürgerlich nicht sanktionierten poetischen Sprechens. Dieses zunächst sehr allgemeine Ideal einer zu keinem ‚Werk’ gerinnenden Autorschaft ist der Ausgangspunkt, von dem aus sich Hilles und Lasker-Schülers poetische Verfahrensweisen entwickeln.217 Hilles von der Genie-Ideologie und dem Volkstumsbegriff des deutschen Naturalismus geprägte Idealisierung einer ‚starken’ Kindheit zielt indessen nicht auf Entfesselung der verdrängten mimetischen Gehalte kindlicher Erfahrung, sondern auf Bewahrung einer als soldatisch-heroisch gedachten Kindheit, deren kämpferische ‚Lebenstüchtigkeit’ dem ‚schwächlichen’ Philistertum kontrastiert wird. Ihr korrespondiert eine Ästhetik, die jede emphatische Arbeit am ästhetischen Material, alles ‚Konstruktive’, zugunsten eines refraktären Spontaneismus ablehnt, der dem als leblos und schal empfundenen Formenrepertoire des bürgerlichen Literaturkanons undialektisch gegenübersteht. Dass sich in der Abwehr des ‚Konstruktiven’ die bürgerliche Logik des ‚Eigentums’ unter der Hand reproduziert, lässt sich an Hilles Texten bis in die Sprachgestalt hinein zeigen. Wenn er in „Kinder und Erwachsene“ von „den verschlossenen kleinen Geistern“ spricht, „die ihre eigene Welt haben und sie 217

Die Tradition ‚werkloser’ Autorschaft seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters wird skizziert in der Arbeit von A. PONTZEN, Künstler ohne Werk. Modelle negativer Produktionsästhetik in der Künstlerliteratur von Wackenroder bis Heiner Müller. Berlin 2000. Die Autorin glaubt in der „Weigerung, die eigene Legitimation als Künstler qua Produktion unter Beweis zu stellen“ (S. 21), eine generelle Affinität zu antibürgerlichen ästhetischen Entwürfen zu erkennen, beschränkt ihre Untersuchung aber auf ‚werklose’ Künstler als literarische Figuren. – Reiches Anschauungsmaterial für Hilles spezifische ‚Werklosigkeit’ bietet neuerdings die Gesamtausgabe seiner Briefe, in denen insgesamt mehr nicht nachzuweisende als publizierte Werke Hilles Erwähnung finden: P. HILLE, Sämtliche Briefe. Kommentierte Ausgabe, hg. von Walter Gödden und Nils Rottschäfer. Bielefeld 2010.

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sorglich hüten, auf dass Ihr sie nicht zertretet mit plumpem Fuß“ (1, 278), wird Kindheit buchstäblich als Eigentum bestimmt, das vor dem Übergriff der Erwachsenen „verschlossen“ werden muss. In einer berühmten Selbstbeschreibung transponiert Hille die Metaphorik des Eigentums unmittelbar auf seine Ästhetik der ‚Selbsterschaffung’: Das bin ich: Ausschaltung des Zwischenhandels der Sitte moderner Verkleidungen der Gesellschaft. Große Züge. Weite. […] Ich bin, also ist Schönheit. […] Hat man mir aber einmal alles genommen, was mein Eigentum war, dafür Fremdes eingesetzt, was andern beliebte, was nie in mir anwachsen wird, was soll ich damit, wo soll ich das in Bewegung setzen? Mögen die es tun, die es in mich hineingestopft haben, als seien sie der Jäger und ich der Wolf, der die Großmutter gefressen hat. Und nun – was rumpumpelt in meinem Bauch? (5, 367; Hervorhebung M.K.)

Der zentrale Gedanke von Hilles Konzept der Petrifizierung – dass das Ich sich nicht durch Entäußerung, sondern durch „Ausschaltung“ alles ‚Fremden’ konstituiert, sich also durch ‚Bewahrung’ erst ‚erschafft’ – wird hier so deutlich wie nirgends sonst auf die ihm zugrundeliegende Eigentumslogik hin durchsichtig. Die „[g]roßen Züge“ und die „Weite“ lebendiger Erfahrung erschließen sich demnach erst durch Verweigerung gegenüber jeder Form des Austauschs; „Schönheit“ wird in Parodie des cogito ergo sum aus der Existenz des solipstischen Ich hergeleitet, das sich gegen jede Interaktion mit der empirischen Wirklichkeit abgedichtet hat. Wenn die Sphäre des Austauschs pauschal als „Zwischenhandel“ denunziert und dem als „Eigentum“ begriffenen Ich kontrastiert wird, so werden Austausch und Intersubjektivität der Zirkulationssphäre zugerechnet, der das autochthone, naturwüchsige ‚Eigentum’ positiv entgegenstehe. Der ‚Zwischenhandel’ nimmt dem Ich das ‚Eigentum’, als das es sich selbst begreift, und setzt an dessen Stelle „Fremdes“ ein, das nie „anwachsen“ und immer im Bauch ‚rumpumpeln’ wird. Sowohl die sozialen Normen, die in das Ich „hineingestopft“ werden, wie auch das ‚konstruktive’ Element ästhetischen Schaffens werden in diesem Bild nicht nur mit unverdaulicher Nahrung gleichgesetzt, sondern erscheinen als unnatürliche Schwangerschaft: Hilles gesamte Produktion ließe sich lesen als Symptom der Furcht, etwas ‚zur Welt zu bringen’, das nicht gänzlich Ausdruck des Subjekts, sondern im Gegenteil mehr als ‚nur Ich’ wäre. Gerade dadurch aber schlägt das individualistische Desiderat der Selbsterschaffung in sein Gegenteil um: Die vollendete Selbstidentität, aus der alles Subjektfremde getilgt wurde, ist als Korrelat des Eigentums Spiegelbild der Entfremdung. Die hypertrophen Begattungsphantasien in Hilles Lyrik transzendieren diese Logik des Eigentums nur scheinbar. In Wahrheit handelt es sich um Phantasien der Selbstzeugung, wie sie charakteristisch für die poetologischen Entwürfe des

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deutschen Naturalismus sind.218 In Reaktualisierung genieästhetischer Topoi zielen sie auf ein „Übertreffen der Natur“ im schöpferischen Akt,219 der auf nichts als sich selbst angewiesen sein soll. Damit radikalisieren sich bei Hille gewisse problematische Züge bürgerlicher Genieästhetik, die das „Opus“ hinter dem „Actus“, das geronnene Werk hinter dem zum Substrat hypostasierten Schöpfungsprozess zurücktreten lassen will:220 Obwohl das Werk gegenüber dem Akt der Produktion abgewertet wird, bleiben die Charakteristika des Werkbegriffs im qua ‚Selbstzeugung’ konstituierten Ich allesamt erhalten. Daher haben Hilles heroische Selbstbeschreibungen stets etwas Hilfloses, Deprimierendes: „P e t e r H i l l e: Feuer hinter Schloss und Riegel. Inneres Schicksal verdunkelt, Äußeres sperrt’s ein.“ (II, 634) – Zerrieben zwischen Außen- und Innenwelt, kann der prometheische Funke gleichsam nur im Kerker überleben, zu dem das Ich sich selbst gemacht hat. Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich der Gehalt der naturreligiösheidnischen Topoi im Peter-Hille-Buch, die in Lasker-Schülers späteren Arbeiten keine Rolle spielen und sich wohl vor allem als Gegenentwurf zu Hilles eigenen naturmystischen Selbstzeugungsphantasien verstehen lassen. Den virilen Bildern der Selbstzeugung steht bei Lasker-Schüler gerade keine ‚weibliche’ Schöpfungsästhetik gegenüber,221 sondern die Utopie eines lebendigen Austauschs mit der Natur, der die Dichotomie zwischen Kultur und Natur, Werk und Schaffensprozess unterläuft. Auch bei den rituellen Motiven, die den Band durchziehen, geht es nicht um das Ausspielen ‚weiblicher’ gegenüber ‚männlichen’ Naturkonzeptionen, sondern um den Entwurf einer Sprache, die nicht als Eigentum, sondern als Kommunikation, als poetischer Austausch begriffen wird und sich auch in Lasker-Schülers neuer Namenskonzeption niederschlägt: Während Hilles Poetik des Eigennamens von ihrer 218

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Vgl. U. HELDUSER, Geschlechterprogramme, S. 205 ff. Siehe auch D. E. WELLBERY, Kunst – Zeugung – Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur. In: ders. / C. BEGEMANN (Hgg.), Kunst – Zeugung – Geburt. Theorie und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg 2002, S. 9-36. U. HELDUSER, Geschlechterprogramme, S. 207. Die Genese dieses Konzepts von Goethe über Humboldt bis Nietzsche umreißt D. E. WELLBERY, Kunst – Zeugung – Geburt, S. 22 ff. A. PONTZEN, Künstler ohne Werk, S. 39. Entsprechend der Ansicht, wonach Autorinnen ihre männlichen Kollegen stets nur als ‚Männer’ kritisieren, hat die Forschung Lasker-Schüler bislang allenfalls eine kritische Sicht auf Hilles patriarchales Selbstverständnis zugebilligt. So leitet sich Doerte Bischoffs gesamte Interpretation des Peter-Hille-Buchs aus der impliziten Annahme her, es handle sich bei dem Band um eine Kritik des abendländischen ‚Phallogozentrismus’. Vgl. die mehr als phantasievolle Deutung der Episode „Petrus erprobt meine Leidenschaft“, die den „Dolch“, den Petrus in Tinos „Gürtel“ steckt, zum ‚abnehmbaren Phallus’ macht und die ganze Szene, die vor allem ein parodistischer Gegenentwurf zu bürgerlichen Initiationsriten ist, zum „angedeutete[n] rituelle[n] Mord“ erklärt. D. BISCHOFF, Ausgesetzte Schöpfung, S. 117 ff.

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immanenten Form her mit dem Begriff des Eigentums korreliert, schenkt der Kosename der ‚benannten’ Figur eine zweite Existenz, statt sie auf eine von ihr zu verwirklichende Identität festzulegen. Insofern stehen sich mit LaskerSchülers und Hilles Poetik im Kontext der Bohème-Literatur auch zwei Spielarten der anarchistischen Tradition gegenüber. Während Hilles individualanarchistische Emphase des Eigentums bis in den Wortlaut an Stirners Der Einzige und sein Eigentum erinnert,222 ist Lasker-Schülers Poetik der Selbstentäußerung schon hier deutlich an Landauers Kunst- und Gemeinschaftsbegriff orientiert, der für ihre weitere Arbeit prägend werden sollte. Will man die Relation zwischen Lasker-Schülers und Hilles poetischem Verfahren in ihrer Gegenläufigkeit und Ähnlichkeit auf den Punkt bringen, bietet sich als Folie das Motiv der Handschrift an, das im Selbstverständnis beider Autoren eine wichtige Rolle spielt. Sowohl bei Hille wie bei LaskerSchüler verdichtet sich die Kritik an der Eigentumslogik des bürgerlichen Werkbegriffs in der Aufwertung des vermeintlich unveräußerlichen Moments literarischen Schaffens, wie es in der unverwechselbaren Handschrift zum Ausdruck kommt. Hilles notorisches Kritzeln auf Blätter akzentuiert nicht allein den spontaneistische Impetus seiner Produktion, sondern inszeniert diese als Akt der Selbstschreibung: Die eigene Kunst wird als Autograph aufgefasst, in dessen Zügen sich das Subjekt nicht darstellt oder entäußert, sondern erschafft, und das nicht von ihm getrennt werden kann, um als ‚Werk’ zu zirkulieren.223 Lasker-Schüler dagegen wertet, wenn sie die Titel ihrer Bücher als Widmungsadressen formuliert (Das Peter-Hille-Buch, Mein Herz) und sich der Gattungen des Porträts, des Briefromans usw. bedient, zwar auch eine als ‚vorkünstlerisch’ geltende Form handschriftlicher Produktion auf. Anders als das Autograph ist die Widmung jedoch immer auf einen Adressaten bezogen 222

223

Zum Eigentumsbegriffs Stirners, dessen Buch sich heute wie eine Bibel des Neoliberalismus liest, vgl. A. MEYER, Nachwort. In: M. STRINER: Der Einzige und sein Eigentum, hg. von Ahlrich Meyer. Stuttgart 1981, S. 423-462. Verblüffend genau trifft Rilke diesen Punkt, wenn er Hille 1898 in einem Brief an Wilhelm von Scholz karikiert: „Bezeichnet wird dieser Mann durch eine unendliche Haarund Bartflut; von allem anderen Körperlichen ist just nur soviel da, als unumgänglich notwendig ist, um die Existenz dieses Haarreichtums zu motivieren […]. Dieses […] geringe Soviel steckt in unglaublich schmutzigen Kaiserrockfragmenten, ist aber wahrscheinlich zunächst von vielen gelben Manuskriptbögen umschlossen. Jeden Augenblick holt Herr Peter einen aus irgendwelchen […] Lokalitäten heraus, und […] man [hat] die Empfindung, er schenke wirklich ein Stück seiner selbst her – nämlich ein Schienbein oder ein überflüssiges Teil seiner Wirbelsäule oder noch Ärgeres“ (zitiert nach: Peter Hille – Dichtungen und Dokumente, S. 136). Fast alle Aspekte von Hilles Selbstverständnis werden hier treffsicher aufs Korn genommen: die Reduktion des „Körperlichen“, die Verbindung des Antibürgerlichen und ‚Kaiserlich’-Nationalen, vor allem aber die Weigerung, zwischen Werk und eigener Person zu trennen. Dass Rilke diesen individualistischen Anspruch Hilles im Sinne einer ‚Entselbstung’ deutet, erscheint angesichts der hier vorgenommenen Lektüre völlig berechtigt.

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und gerade in diesem Bezug von Subjektivität durchtränkt. Die Emphase der Widmung und der ‚dialogische’ Charakter von Lasker-Schülers Dichtungen ketten diese nicht an die Sphäre des Vorliterarisch-Intimen, sondern weisen darauf hin, dass sie sich allererst im affektiven Bezug auf eine Gemeinschaft Ebenbürtiger konstituieren: Die Trennung zwischen Subjekt und Gesellschaft, Intimität und Öffentlichkeit, die Hilles Solipsismus sogar verschärft, wird aufgehoben durch einen Begriff poetischer Subjektivität, die erst als Gemeingut, als sich in allen Individuen je singulär verwirklichende Kraft, glücklich zu sich selbst kommt. Die soziale Adresse dieses Konzepts, wie sie sich im Peter-Hille-Buch in der Arbeiterepisode erst nur angedeutet findet, steht im Mittelpunkt von Lasker-Schülers großem Bohème-Roman Mein Herz.

III.

Ästhetische Entnüchterung. Kitsch und poetische Subjektivität in den Werken der Bohème-Zeit

Stärker noch als das Peter-Hille-Buch bezieht sich der 1912 erschienene Briefroman Mein Herz explizit auf Personen, Realien und biographische Erfahrungen aus Lasker-Schülers Bohème-Leben, vor allem im Umfeld von Herwarth Waldens „Sturm“ und den im Berliner Café des Westens versammelten Künstlerzirkeln. Bekräftigt wird diese Referenz auf die gesellschaftliche und biographische Realität dadurch, dass weite Teile des Romans zuerst 1911/12 als Artikelfolge im „Sturm“ unter dem Titel Briefe nach Norwegen publiziert worden sind, so dass der Text selbst die Rezipienten dazu animiert, ihn als Kolportage über die zeitgenössischen Künstlercliquen zu lesen.1 So gewiss dieses rezeptionsästhetische Angebot als Konstituens der Poetik von Mein Herz ernstgenommen werden muss, so müßig wäre es, den Versuchen der ‚Entschlüsselung’ poetischer Pseudonyme und der empirischen Erdung im Roman behaupteter biographischer Erfahrungen nur einen weiteren hinzuzufügen. Dass Lasker-Schülers Werk ohne Reflexion auf die leitmotivischen biographischen Referenzen zwar nicht angemessen verstanden werden kann, diese aber als fingierte Biographismen, als Spiel mit tradierten Authentizitätserwartungen zu begreifen sind, ist längst gezeigt worden.2 Wenn in jüngerer Zeit die Neigung vorherrscht, sich bei der Beschäftigung mit Lasker-Schüler sowohl ständig auf den ‚performativen’ Charakter ihrer Selbstentwürfe zu berufen wie auch im selben Atemzug von ‚Schlüsselromanen’ zu sprechen

1

2

Mein Herz wird immer wieder als Quelle für die sozialhistorische Dokumentation des Berliner Bohème-Daseins im frühen 20. Jahrhundert herangezogen. Vgl. die Darstellung als Beispiel für eine ‚durative’ Bohème-Existenz bei H. KREUZER, Die Boheme, S. 128 ff. Außerdem E. KLEEMANN, Zwischen symbolischer Rebellion und politischer Revolution. Studien zur deutschen Bohème zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Else Lasker-Schüler, Franziska Gräfin Reventlow, Frank Wedekind u. a. Frankfurt/M. u. a. 1985, S. 27 ff.; G. STEIN Bohemien – Tramp – Sponti, S. 157 ff.; H.-J. FOHSEL, Im Wartesaal der Poesie. Else Lasker-Schüler, Benn und andere. Zeitund Sittenbilder aus dem Café des Westens und dem Romanischen Café. Berlin 1996. Auch C. REISS-SUCKOW, „Wer wird mir Schöpfer sein!!“, liest den Roman, der während der Trennung von Herwarth Walden entstanden ist, als „Dokument“ für LaskerSchülers private und künstlerische „Emanzipation“ (S. 250 ff.). Grundlegend auch hierfür ist M. FESSMANN, Spielfiguren, besonders S. 16 ff. Vgl. außerdem meinen Aufsatz: Liebesspiele. Zur Liebesmotivik in Else Lasker-Schülers „Mein Herz“. In: ZfdPh 118 (1999). Sonderheft, S. 80-109.

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und den poetischen Figuren empirische Personen zuzuordnen,3 liegt dies wohl nicht zuletzt an dem Vorurteil, die Komplexität hermeneutischer Bemühungen bemesse sich daran, wie viele theoretische Konzepte jede Deutung, unbeschadet ihrer Unvereinbarkeit, zu ‚integrieren’ vermag. Der folgende Versuch, den beharrlichen Rekurs auf subjektive Erfahrung, Biographie, Authentizität und ‚Unmittelbarkeit’ in Mein Herz weder als ‚Realitätseffekt’ abzutun, den der Roman dekonstruiere,4 noch ihn im Sinne einer Darstellung empirischer Erlebnisse aufzufassen, hat mit solchen Integrationsübungen nichts zu tun. Vielmehr geht es darum, der unabweisbaren – und keineswegs ‚vorwissenschaftlichen’ – Erfahrung gerecht zu werden, dass Lasker-Schülers Texten eine gerade nicht dilettantische oder peinliche, sondern radikale ‚Unmittelbarkeit’ und Naivität eigen ist, die durch das Moment der Stilisierung und Figuralisierung nicht gebrochen, sondern erst geschaffen wird. Affektivität, Euphorie und Affirmation, sämtliche bis heute (meist mit guten Gründen) als vorkünstlerisch und trivial denunzierte produktions- und rezeptionsästhetische Affekte,5 werden bei Lasker-Schüler als Residuen eines universalen Glücksversprechens geltend gemacht, das aus dem Gedächtnis der Menschheit ausge3

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Drastische Beispiele für diese Tendenz finden sich bei M. HALLENSLEBEN, Zwischen Tradition und Moderne. Else Lasker-Schülers avantgardistischer Briefroman „Mein Herz“. In: E. SCHÜRER / S. HEDGEPETH (Hgg.), Else Lasker-Schüler. Ansichten und Perspektiven. Tübingen, Basel 1999, S. 87-117; ders., Else Lasker-Schülers „Der Malik“ als Schlüsselroman. In: ELSJB 1 (2000), S.121-143. Auch Hallenslebens Dissertation schwankt zwischen der Behauptung einer in den Werken angeblich zum Ausdruck kommenden ‚multiplen Subjektivität’, der ‚Dekonstruktion’ des Subjekts usw. (S. 101 ff., S. 187 ff. und passim) sowie Versuchen der ‚Entschlüsselung’ der konkreten Textgenese, der ‚Rekonstruktion’ historischer Realien (z. B. S. 41 ff.). Nicht grundlos beschränkt er sich denn auch auf die vage Diagnose, man müsse Mein Herz als „ästhetisch funktionelle[s] Gebilde“ lesen, das zwar fiktional sei, da es Berlin durch die „Kunststadt Theben“ ersetze, sich aber auch als „avantgardistische Poetik“ und als Einblick in die „Produktionsverhältnisse der künstlerischen Avantgarde“ verstehen lasse (155 f.). Ähnlich meint S. KIRSCHNICK, Tausend und ein Zeichen, Lasker-Schüler inszeniere Berlin als eine „Künstlerwerkstätte zur Erzeugung kultureller Signifikanz“, führt den Leser aber dennoch von Kapitel zu Kapitel nach Art eines Reiseführers an die vermeintlich ‚echten’ Schauplätze, etwa auf die „Terrassen am Halensee in den Lunapark“ (S. 166). In diesem Sinne etwa D. BISCHOFF, Herzensbühne und Schriftkörper. Transformationen des Briefromans in der Moderne am Beispiel von Else Lasker-Schülers „Mein Herz“. In: D. JÜRGENS (Hg.), Mutual Exchanges. Sheffield-Münster Colloquium II. Frankfurt/M. u. a. 1999, S. 41-58. Zur Bedeutung der Briefform für Lasker-Schüler siehe neuerdings auch K. R: HASLINGER, Der Briefwechsel von Else Lasker-Schüler und Franz Marc. Würzburg 2009. Den bislang interessantesten Versuch der Rehabilitierung solch ‚niederer’ Affektpoetiken unternimmt W. BRAUNGART, Kleine Apologie des Kitsches. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 28 (1997), S. 3-17; siehe auch Braungarts Einleitung für den von ihm herausgegebenen Sammelband: Kitsch, S. 1-24.

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löscht zu werden droht und von Kunst bewahrt werden muss, sofern sie nicht zum massenkulturellen oder akademischen Schund regredieren will. Insofern ist der Untertitel „Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen“, den Lasker-Schüler Mein Herz in der Romanform verliehen hat, in doppelter Weise beim Wort zu nehmen: als Hinweis auf den Fiktionalitätscharakter der Figuren, die als „Bilder“ eben nicht identisch mit realen biographischen Personen sind, und als Hinweis auf deren ‚Leben’, das durch das Bild nicht stillgestellt, sondern allererst gestiftet wird. Wenn LaskerSchüler Mein Herz als „Liebesroman“ bezeichnet, ist dies kein dekonstruktivistischer Kalauer über die Literarisierung von Subjektivität im Modus der ‚Herzensschrift’,6 sondern weit eher ein antizipatorischer Angriff auf die postmoderne Verhöhnung von Subjektivität als Diskurseffekt. Negiert und parodistisch unterlaufen wird nicht ‚das Subjekt’, sondern dessen bürgerliche Verfallsform, das Subjekt als ökonomische, geschlechterspezifische, aber auch ästhetische Rolle, die im Modus des Rollenspiels, das eben deshalb nicht mehr so genannt werden kann, aufgebrochen wird zugunsten authentischer Subjektivität. Das ‚Herz’ ist nicht nur ein ‚Roman’, sondern der ‚Roman’ ist auch ganz buchstäblich und unironisch das ‚Herz’ des poetischen Subjekts, das es den Lesern schenken möchte wie geliebten Freunden. Mit der Phrase vom verschenkten Herzen geht Lasker-Schüler um wie mit den meisten Phrasen: Sie wird nicht satirisch bloßgestellt oder sprachkritisch unterminiert, sondern in ihrem depravierten Anspruch ernstgenommen und dadurch buchstäblich wahr gemacht. Dies ist der Kern von Lasker-Schülers Ideal ästhetischer Versöhnung. Im Vergleich zum Peter-Hille-Buch, wo die Elemente dieser Poetik in Auseinandersetzung mit Hilles Ideal ästhetischer ‚Petrifizierung’ bereits entwickelt sind, werden sie in Mein Herz in direktem Bezug auf den zeitgenössischen künstlerischen Markt mit seinen sozialen, ökonomischen und ästhetischen Zwängen neu konfiguriert. Die Poetik des Populären, wie LaskerSchüler sie in allen Werken der Bohème-Zeit nach dem Peter-Hille-Buch mit unterschiedlichen Facetten entwirft, kristallisiert sich heraus in Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Zerfalls bürgerlicher Subjektivität und der Erosion des bürgerlichen Kunstbegriffs: durch den Siegeszug moderner Reproduktionsverfahren, das Aufkommen eines dispersen Massenpublikums in den Großstädten, durch das Überangebot an Zerstreuungsmöglichkeiten sowie die 6

Bei einem frühen Versuch, die in Mein Herz entwickelte Poetik des ‚Liebesspiels’ als spezifische Form von Identitätskritik gegen biographistische Deutungen und vorschnelle Authentizitätszuschreibungen abzugrenzen, habe ich mich vor solchen Verwechslungen selbst womöglich nicht ausreichend geschützt. Siehe meinen Aufsatz: Liebesspiele, besonders S. 82 ff. – Den Begriff der ‚Herzensschrift’ als Terminus für die diskursive Generierung poetischer Subjektivität prägt mit Blick auf moderne Autobiographien M. SCHNEIDER, Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München, Wien 1986.

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zunehmende Neutralisierung öffentlichen Lebens in Folge der Dichotomisierung der kulturellen Sphäre in eine zum Fetisch erstarrte, sozial immer wirkungsärmere bürgerliche Hochkultur einerseits und eine normierte Massenkultur andererseits, die den Individuen die Beglückung mit dem Luxus ästhetischer Erfahrung, die sie ihnen verspricht, immer zugleich versagt. Diese Fokussierung ästhetischer Popularität als unabgegoltenem Desiderat urbaner Massenkultur ist der Grund dafür, dass Lasker-Schülers Werke nach dem Peter-Hille-Buch, das noch weitgehend der archaischen Topographie ländlichen Lebens verhaftet ist, nicht nur ihrem Sujet, sondern ihrer immanenten Poetik nach urban zu nennen sind. Es ist überdies der Grund dafür, dass die Sphäre kindlicher Erfahrung, wie sie im Peter-Hille-Buch als konstitutiv für LaskerSchülers Poetik der Selbstentäußerung erscheint, in Mein Herz überführt wird in die Topographie der königlichen Stadt. Der König, der nun die Stelle des Lasker-Schüler’schen Kindes einnimmt, bewahrt zwar dessen Charakteristika, konstituiert sich aber als poetischer Souverän, als Herrscher über ein Reich selbstherrlicher Subjekte. Bevor die einzelnen Elemente dieses Reichs im Kontext der vom Roman entworfenen ‚liebenden’ Poetik zu entfalten sind, soll daher im Folgenden die Konzeption einer affektiven Sprache, wie sie für die Sprach- und Liebesvorstellung von Mein Herz konstitutiv ist, in ihrem Bezug zur Sphäre kindlicher Erfahrung umrissen werden.

1. Poetische Kinderszenen: Ansichten aus der „Paradiesinnerlichkeit“ a) Affektive Bilder: Paradiesische Familie Um den keineswegs satirischen oder ‚diskurskritischen’ Rückgriff auf klischierte Bilder, Trivialästhetik und poetische Gemeinplätze im Kontext von Lasker-Schülers Ästhetik der Kindheit genauer zu situieren, bietet es sich an, einige paradigmatische Kindheitsszenen ihres Œuvres auf ihre poetologischen Implikationen hin zu befragen. Dabei wird sich herausstellen, dass die in der früheren Forschung verbreitete, lobende oder polemische Unterstellung, Lasker-Schüler sei eine naive, literarisch ungebildete ‚heilige Einfalt’ gewesen, wider Willen einen Aspekt ihrer Poetik festhält, der durch ihre Stilisierung zur Gender- und Performance-Künstlerin eskamotiert wird: ihr Beharren auf der Autonomie poetischer Einbildungskraft, die als wahr einklagt, was von der erwachsenen bürgerlichen Gesellschaft als Träumerei abgetan wird,

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und als Trug verwirft, was diese als Realität setzt.7 Dieses Vermögen wird der Sphäre kindlicher Erfahrung zugeordnet, für deren ‚Naivität’ sich LaskerSchüler interessiert, weil sie ein der ‚erwachsenen’ Wahrnehmung inkompatibles Verhältnis zum ästhetischen Schein unterhält. Kinder nämlich kennen keine Klischees: Der poetische Gemeinplatz, den die erwachsene Anschauung entweder (wie beim Volkslied) zum Residuum verlorener Ursprünge verklärt oder (wie beim Heftchenroman) als Kitsch verwirft, wird der kindlichen Einbildungskraft gerade wegen seiner wörtlichen Trivialität, seiner ‚Gemeinheit’, zum Kristallisationspunkt freier Phantasietätigkeit. Auf diese produktive Unfähigkeit des Kindes, das Triviale in seiner verdinglichten Form wahrzunehmen, zielt Benjamins Formulierung: Als wir klein waren, gab es noch den beklemmenden Protest gegen die Welt unserer Eltern nicht. Als Kinder mitten in ihr zeigten wir uns überlegen. Mit dem Banalen, wenn wir es ergreifen, ergreifen wir das Gute, das, sieh, so nah liegt.8

Der „Protest gegen die Welt unserer Eltern“, mit dem der Jugendliche sich von seiner Kindheit meint emanzipieren zu können, ist selbst „beklemmend“, weil er von der Autorität gebannt bleibt, auf die er sich aggressiv fixiert. Dieser Pose revoltierender Pubertät, wie sie sich in Hilles Ideal des lebenstüchtigen Pennälers verkörpert, stellt Benjamin die ‚Überlegenheit’ des Kindes gegenüber, das die Fähigkeit besitzt, das „Banale“, ‚Naheliegende’, das vom emanzipierten Blick als Kitsch verfemt wird, als das „Gute“ ernstzunehmen, als das es vom Sprichwort nicht nur vorgespiegelt, sondern eben auch versprochen wird. Auf diese Emphase des Trivialen, die in Erinnerung behält, 7

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Die Insinuation, Lasker-Schülers Dichten beziehe seine Kraft allein aus ‚einfältiger’ Inspiration, ist bis in die siebziger Jahre hinein vielfach wiederholt worden. Vgl. bereits W. MUSCHG, Von Trakl bis Brecht. Dichter des Expressionismus. München 1961, S. 115-148, hier S. 122: „Else Lasker-Schüler ist unfähig zum folgerichtigen Denken, sie hat sich selbst wiederholt dumm genannt. [...] So ist auch ihre Liebeslehre kein Produkt des Scharfsinns, sondern eines einfältigen Herzens“. – Die Studie von D. BÄNSCH, Else Lasker-Schüler, die wohl vor allem in Reaktion auf solche gut gemeinten Diffamierungen ins entgegengesetzte Extrem verfällt und scharfe Kritik an Lasker-Schülers ‚Privatmythologie’ (S. 11 ff.), an ihrer Stilisierung zum ‚Kind’ (S. 102 ff.), an ihrem ‚prophetischen’ Selbstverständnis (S. 136 ff.) und an ihrer biographisch-genealogischen Selbstmythisierung übt (S. 154 ff.), trifft trotz ihrer weitgehend leerlaufenden Polemik in ihrer Idiosynkrasie gegenüber dem enthusiastischen Impuls von Lasker-Schülers Schreiben viele der hier fokussierten Aspekte mit erstaunlicher Prägnanz. Leider fragt Bänsch in seinem Ansinnen, die Dichterin nicht einfach zu kritisieren, sondern geradezu zu stürzen, nirgends nach den kritischen und utopischen Gehalten von LaskerSchülers Poetik, die er stattdessen mit adornitischen Floskeln in toto als ideologisch und reaktionär verwirft. W. BENJAMIN, Traumkitsch, S. 621.

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was das erwachsene Bewusstsein längst als Lüge verworfen hat, zielt Karl Kraus’ Diktum, Lasker-Schülers „ganzes Dichten“ habe in dem „Reim“ bestanden, „den ein Herz aus Schmerz gesogen hatte“, und beziehe sein Material aus „einer Stofflichkeit unter Sonne, Mond und Sternen“.9 Wie die „Stofflichkeit“, das Bild- und Klangmaterial von Lasker-Schülers Œuvre, Trivialstes zum Höchsten zusammenfügt, so wird die Einheit des Kosmos, die Kraus nicht zufällig in diesem Zusammenhang zum Maßstab erklärt,10 bei ihr als „Sonne, Mond und Sterne“ mit der Beiläufigkeit eines Kinderliedes erschlossen, das den Reim von „Herz“ und „Schmerz“ auf seinen Wahrheitsgehalt zurückführt, indem es den „Schmerz“ über die unabgegoltenen Glücksversprechen bewahrt, denen das „Herz“ des Subjekts die Kraft des Reims erst abgewonnen hat: Der affektive Urgrund poetischer Sprache, die in ihrem Enthusiasmus stets auch Ausdruck von Leiden ist, kommt in dieser Transfusion zu sich selbst. Eben wegen dieses Zusammenhangs von kindlicher Erfahrung, Affektivität und Trivialität ist es sinnlos, Szenen wie die folgende aus „Kindheit im Wuppertal“ auf ihre biographischen, psychoanalytischen oder patriarchatskritischen Implikationen zu befragen: Ich liebte meine Mama inbrünstig, sie war meine Freundin, mein Heiligenbild, meine Stärkung, meine Absolution, mein Kaiser. Wie sie – sah sicherlich Napoleon Bonaparte aus, – darum hatte sie auch eine Napoelonsammlung. [...] Für sein Fluchen hatte [mein Papa] schon zuhause von den Eltern Haue bekommen. Wenn auch die Bauern in Westfalen ihn dafür liebten, wo er geboren wurde als vierter Sohn der 23 Kinder. Mit drei Jahren sprang er schon über die Tierhecken und machte alle Streiche, die man zu machen hat als Junge. Für das Theater in Elberfeld hatte mein Vater besonderes Faible. Brachte er zu Tische auch nicht immer Schauspieler nach Haus, so waren es mindestens Kunstreiter. Es musste dann gehext werden, eins, zwei, drei Gänge mehr und dem August von Renz legte er stets einen Knallbonbon in die Serviette. (4.1, 97)

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K. KRAUS, Der Reim. In: ders., Schriften, hg. von Christian Wagenknecht. Bd. 7: Die Sprache. Frankfurt/M. 1987, S. 323-358, hier S. 356. Vgl. ebd.: „Während bei ihr [Else Lasker-Schüler; M.K.] – in den männlichsten Augenblicken des Gelingens – zwischen Wesen und Sprache nichts unerfüllt und nichts einem irdischen Maß zugänglich bleibt, so dürfte die zeitliche Unnahbarkeit und Unantastbarkeit von Erscheinungen wie Rilke und dem größeren George – mit Niveaukünstlern und Zeitgängern wie Hofmannsthal und gar Werfel nicht zu verwechseln – doch keinem kosmischen Maß erreichbar sein.“ – Durch Abgrenzung Lasker-Schülers zu den sich ‚unantastbar’ gebenden Dichterpriestern wie George und zu paternalistischvolksfreundlichen ‚Zeitgängern’ à la Hofmannsthal misst Kraus gleichsam nebenher den Gehalt von Lasker-Schülers ‚Popularität’ aus, wie sie hier konturiert werden soll.

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Der radikale Impuls von Lasker-Schülers phantasiegesättigten Kindheitserinnerungen besteht – insofern wohl nur vergleichbar mit Benjamins Berliner Kindheit – gerade in der rückhaltlosen Idolatrie, mit der die Orte der Kindheit in ‚heilige’ Räume und Mutter und Vater in „Mama“ und „Papa“ verwandelt werden, die einander lieben, von allen geliebt werden und nichts als Freundschaft, Spiel und neckische Streiche im Sinn haben. Den von Benjamin diagnostizierten „beklemmenden Protest“ gegen die Eltern wird man bei LaskerSchüler ebenso vergeblich suchen wie die Leitmotive einer anarchosozialistischen Kinderliteratur, die die Spielgruppe zum revolutionären Kollektiv verschandelt. Kindlichen Protest gegen elterliche Autorität gibt es in ihren Kindheitsszenen schon deshalb nicht, weil diese überhaupt keine elterliche Autorität kennen. Nirgends folgen sie der vertikalen Topographie sozialer Hierarchien: Die Mama wird durch ihre ‚Kaiserlichkeit’ nicht der kindlichen Reichweite entzogen, sondern auf Augenhöhe mit den Exponaten ihrer Napoelonsammlung gerückt; der Papa ist als eines von „23 Kinder[n]“, das „schon zuhause [...] Haue bekommen“ und keinen Streich je ausgelassen hat, ein patriarchatsuntauglicher Lausbube. Während das aufgeklärte Bewusstsein die Wunschphantasien glücklicher Kindheit immer schon als ideologische Bilder versteht, vor deren Affirmation man sich zu hüten habe,11 gewinnen LaskerSchülers Kindheitsszenen ihre Radikalität aus einer intentionslosen Bejahung, die das ideologische Bild der paradiesischen Familie in ein affektives Bild verwandelt und so den Wahrheitsgehalt des ideologischen Scheins befreit. Während ideologische Bilder gerade deshalb approbierbar sind, weil subjektive und historische Erfahrung aus ihnen getilgt wurden, kristallisieren sich in der Einfachheit des affektiven Bildes Phantasie und poetische Subjektivität. Gaston Bachelard hat in seinen Skizzen zur Phänomenologie der poetischen Einbildungskraft, die sich ausdrücklich Bildern des „glücklichen Raumes“ widmen,12 die Relation zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu beschreiben versucht, die durch solch phantasierende Erinnerung entsteht: „Haben die Fakten den Wert gehabt, den ihnen das Gedächtnis verleiht? Das ferne Gedächtnis erinnert sich an sie nur, indem es ihnen einen Wert verleiht, eine Aureole von Glück. Wenn der Wert gelöscht ist, fallen die Fakten zusammen. Sind sie je gewesen? Eine Unwirklichkeit sickert in die Wirklichkeit der Erin11

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Prototypisch für diese Haltung ist D. BÄNSCH, Else Lasker-Schüler, der schon zu Beginn mahnend auf die „ideologische Nutzbarkeit“ von „Sentimentalität“ verweist, vor der Stilisierung der Dichterin zur „Erbauungsfigur“ und „Demutspflegerin“ warnt (S. IX) und später „die Vorstellung einer unbeschwert spielenden, schuldlosen Kindlichkeit“ als „Denkfigur irrationaler Totalität“ verwirft (S. 102). Solch ideologiekritischem Eifer, der sich leider durch Bänschs gesamtes Buch zieht, geht es evidentermaßen nicht um Kritik an literarischen Kindheitsstereotypen, sondern um Tilgung noch des Scheins von Glückseligkeit, der selbst in diesen aufbewahrt ist. G. BACHELARD, Poetik des Raumes. Frankfurt/M. 1987, S. 25; Hervorhebung M.K.

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nerungen ein, die an der Grenze unserer persönlichen Geschichte [...] liegen, genau an dem Punkt, wo das Elternhaus, nach unserem Erscheinen, in uns zu entstehen begann.“13 Dieser „Wert“, der zwar ‚unwirklich’ ist, aber dennoch zu den „Fakten“ nicht einfach hinzutritt, sondern ihnen notwendig zugehört, damit sie Teil subjektiver Erfahrung werden können, zielt exakt auf jenen Impuls, der das affektive Bild vom ideologischen Bild und vom schlichten Abbild unterscheidet.14 Er verleiht dem bloß Faktischen eine „Aureole“, einen illusionären Schein, der das empirische „Elternhaus“ zwar verklären mag, es aber so, wie es „in uns zu entstehen begann“, erst zur „Wirklichkeit“ erhebt. Eine solche affektive Wirklichkeit, keine empirieferne Phantasiewelt, entsteht in den Kindheitsszenen Lasker-Schülers. Deshalb heißen der Vater „Papa“ und die Mutter „Mama“ bzw. „mein lieber Vater“ und „meine teure Mutter“ (4.1, 58, 97); deshalb häufen sich Diminutive und Possessivpronomina: „Unser Gärtchen“, „unser Wald“, „unser Turm“, eine Kohlmeise mit „gefiedertem Bäuchlein“; „ein Tellerchen, ein Löffelchen, ein Kännchen, ein Zuckerschälchen“, ein „klimperkleines Klavierchen aus Porzellan“ usw. (4.1, 89f., 95-98 und 147). Das kapriziöse Sprachspiel mit seinen Verniedlichungen und einlullenden Assonanzen, wie es im Peter-Hille-Buch noch auf die eingestreuten Wiegen- und Kinderlieder beschränkt blieb, wird in Lasker-Schülers Kinderszenen Bestandteil der poetischen Sprachform, die die affektive Erinnerung an eine Kindheit nachzukonstruieren sucht, welche es nie gegeben hat, die für das Subjekt aber doch reale Erfahrung ist. Die Diminutive sind weder Nachahmung einer ‚kindlichen’ Sprache, noch dienen sie – wie etwa in Stifters Kindererzählungen – der Einebnung des ‚Besonderen’. Vielmehr verleihen sie, vergleichbar den Kosenamen, den Figuren und Objekten Autonomie, indem sie sie mit subjektiven Affekten belehnen.15 Während Mutter und Vater soziale und biographische Rollen sind, die zwar einen empirischen, aber kei13 14

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Ebd., S. 76. Auf etwas Ähnliches scheint der Terminus ‚seelische Geographie’ zu zielen, den Iris Hermann bei ihrer Analyse der Raumkonfigurationen im Werk Lasker-Schülers in Anlehnung an Merleau-Ponty und Bachelard für Raumbilder prägt, die mit „starken unbewussten Phantasien“ aufgeladen sind. Vgl. I. HERMANN, Raum – Körper – Schrift, S. 38 f. Um das sinnlich-mimetische Moment von Bildlichkeit und Sprache bei LaskerSchüler zu betonen, scheint mir der Begriff des affektiven Bildes allerdings besser geeignet. – Nicht zu verwechseln ist die Affektivität von Sprache und Bildlichkeit mit dem letztlich theologischen Verständnis ‚mystischer Formgebung’ bei K. WEISSENBERGER, Zwischen Stein und Stern. Mystische Formgebung in der Dichtung von Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs und Paul Celan. Bern, München 1976. Interessante Einzelbeobachtungen über Kitschbilder als Form der „Glättung“ des Schroffen finden sich bei S. GRAF, Poetik des Transfers. Das Hebräerland von Else Lasker-Schüler. Köln, Weimar, Wien 2009, S. 59 ff. Vgl. demgegenüber die an Deleuze und Guattari anknüpfenden Ausführungen über ‚das Kleine’ in der Sprache als Ausdrucksform von ‚Singularität’ in Lasker-Schülers Werk bei S. HENKE, Fehl am Platz, S. 86 ff.

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nen affektiven Bezug zum Subjekt haben, sind „Mama“ und „Papa“ affektive Figuren, die durch den Anteil an Phantasie, der in sie eingegangen ist, wirklicher sind als die biographischen Personen. Analog sind Gärtchen, Turm und Wald affektive Orte, die als „unser Gärtchen“, „unser Turm“ usw. Kristallisationspunkt poetischer Subjektivität werden. Das Klavier ist kein Gebrauchsgegenstand, sondern ein geliebtes Objekt, das als „Klavierchen aus Porzellan“ auch sprachlich liebkost wird, wegen seines prekären Doppelstatus als realer und imaginärer Gegenstand aber auch zerbrechlich ist. Diese Fragilität des affektiven Bildes macht seinen Unterschied zum entsubjektivierten und erstarrten ideologischen Bild aus. Dass die ostentativ beschworene paradiesische Konfliktlosigkeit, die Lasker-Schülers Kindheitsszenen grundiert, nicht mit Harmlosigkeit verwechselt werden darf, sondern einer Schmerz- und Leiderfahrung entspringt, zeigt sich an der Figur der Mama, die stets mit einer ‚liebenden’, affektiven Sprache in Verbindung gebracht wird, in der Schönheit und Schmerz konvergieren: Die französische Sprache lernte ich, so gut ich konnte, von meiner von mir sehr verehrten Mama, die schon im Andenken an den großen Franzosenkaiser diese Sprache liebte. Ich erbte ihre Begeisterung für den genialen und gerechten Basileus, noch heute ist er mein Typ. Ich bin nicht indiskret, wenn ich behaupte, er war meiner Mutter große Liebe gewesen; im Rahmen unter Glas an der Wand hingen Andenken an „Ihn“. Unter anderem ein kleiner Fetzen vom Kanapee, darauf Napoleon geboren wurde. Meine geliebte Mama las sehr viel; Bücher tapezierten die vier Wände ihres Wohnzimmers. Manchmal dachte sie noch beim Mittagessen, schien mir, an irgendeine Frau oder irgendeinen Ritter aus dem Roman. […] Es tat mir dann immer so leid im Herzen, ich hätte es ihr damals schon opfern mögen, sie mit dem kleinen blutroten Fetzen erfreuen, neben der ausgefaserten Reliquie, aufbewahrt unter Glas. […] Eines Tages ging meine liebe Mama in den Wald hinauf. Unser Haus lag ja am Hügel, der in die grüne Andacht führte. Sie kam zum Abendbrot nicht heim […]. Mein Papa und alle meine Geschwister gingen Mama suchen. O, es war so wehmütig – wenn doch schon ein Kind verloren geht – und erst wie hier – eine Mama … Mein Papa weinte bitterlich mit offenen Augen wie noch kleine Tragkinder zu jammern pflegen. Ich bemühte mich, ihn nicht anzusehen, um nicht lachen zu brauchen. […] Ich stieg auf unseren Turm, von ihm aus konnte ich nach allen Seiten gucken. Auf einmal sah ich meine liebe, liebe Mama so traurig den kleinen Berg herabkommen, so traurig, das vermag meine Hand nicht zu schildern, da müsste ich schon mein Herz aus der Brust nehmen und ihm schreiben lehren. Aber es schnürte sich zusammen zu einem einzigen Blutstropfen, der keine Gefahr kannte, und ich sprang über die Holzzinnen unseres Turms, um meine traurige Mutter schneller zu erreichen; verfing mich aber in die aufgespannte Jalousie des unteren Turmfensters [...].

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[…] Ich wurde von der herbeigeeilten freiwilligen Feuerwehr […] gerettet. – Ich hatte den Veitstanz bekommen. Onkel Doktor meinte: die Folge des Schrecks! Er nannte mich seitdem „Springinsfeld!“ Aber ich wusste, ich hatte den Veitstanz bekommen von etwas ganz anderem – vom ersten Schmerz meines Lebens, den auch das schönste Elternhaus nicht hat verhindern können. Aber – dafür brauchte ich nicht mehr – in die Schule gehen. („Nur für Kinder über fünf Jahre“; 4.1, 147 f.)

Diese enigmatische Szene, die den Verlust des Kindheitsparadieses durch den „ersten Schmerz meines Lebens“ mit der Erfahrung des Verlusts der Mama analogisiert, durch den „Veitstanz“ aber auch als Urszene des poetischen Enthusiasmus verstanden werden kann, der dem rationalistischen ‚ärztlichen’ Blick nur als Krankheit erklärbar ist, in welcher „die sichtbare Person“ durch eine „unsichtbare Person“ ergriffen und besessen zu sein scheint,16 hat biographische und psychoanalytische Deutungen aller Art provoziert.17 Bei der mit Recht immer wieder gestellten Frage nach dem Grund für die Traurigkeit der Mutter wird indessen stets übersehen, dass die Szene die Traurigkeit in Zusammenhang bringt mit den klischierten Wunschbildern der Kolportageromane und der Idolatrie für Napoleon, welche die Mutter in genuin Kempner’scher Indifferenz gegenüber kulturellen Kanonisierungen als Teil ihres Alltags ansieht. Wie Kempner im selben Atemzug über Goethe und ihren Papagei dichten konnte, sammelt die Mama, die ihr „Wohnzimmer“ mit Büchern „tapeziert“ und beim „Mittagessen“ an die Helden ihrer Romane denkt, die „Andenken“ an den „Franzosenkaiser“ hinter Glas: Kolportage und Hochkultur, geschichtliche Größe und banaler Alltag werden, verknüpft durch den affektiven Impuls der Schwärmerei, gleichermaßen als lebendiges Moment des profanen Daseins angesehen. In dieser „Begeisterung“ besteht das ‚Erbe’ der Mama, das die Dichterin wachhält, wenn sie im Backfischgestus bekennt, Napoleon sei „noch heute“ ihr „Typ“, und für die „französische Sprache“ mit jener Bewunderung schwärmt, wie sie die ‚einfachen Leute’ gegenüber den ‚feinen’ empfinden. Anders als bei Kempner bleibt in der Figur der Mama jedoch gerade auch die Uneinholbarkeit und Gebrochenheit dieser Glücksphantasien präsent, wie sie sich im Motiv des Fragments manifestiert. Wie die 16 17

H. SCHLAFFER, Poesie und Wissen, S. 32. Zu den verschiedenen Deutungsversuchen dieser Szene sowie zur Mutterfigur im Allgemeinen bei Lasker-Schüler siehe M. SCHULLER, Literatur im Übergang; U. FRANK, Selbst ein Gedicht. Die Dichtungsauffassung Else Lasker-Schülers in ihrer Affinität zur Poetik des Clemens Brentano. In: A. LINSEL / P. VON MATT (Hgg.), Deine Sehnsucht war die Schlange. Ein Else Lasker-Schüler-Almanach. Wuppertal 1997, S. 87-121, besonders S. 105 ff.; M. BRANDT, Chaos, Kosmos und Konzert. Zum Erlösungsmotiv im Werk Else Lasker-Schülers. In: H. SIEBENPFEIFFER / U. WÖLFEL (Hgg.), Krieg und Nachkrieg. Konfigurationen der deutschsprachigen Literatur. Berlin 2004, S. 183-197, besonders S. 184 ff.

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Erzählerin die französische Sprache nur „so gut ich konnte“ gelernt haben will, sind der Mama ihre Backfisch- und Kolportagephantasien allein in Form von Nippes, als „Fetzen vom Kanapee“ und bruchstückhafte Erinnerungen an „irgendeinen Ritter“ gegenwärtig, die gerade durch diese Fragmentarität zu affektiven Bildern werden, in denen sich ein Glücksversprechen sedimentiert, das in der Lebenswirklichkeit, in der es aufscheint, unabgegolten bleibt: die Sehnsucht nach Adel, ‚Gerechtigkeit’, vor allem aber auch konkret nach der Emanzipation der deutschen Juden, für die Napoleon selbst eine Art affektive Identifikationsfigur war.18 Das Bewusstsein um diesen Doppelcharakter des affektiven Bildes, Glücksversprechen zu sein und von realer Versagung zu zeugen, ist Grund für die ‚Traurigkeit’ der Mutter, die sich andeutet, wenn die Erzählerin zugibt, ihre in Kolportagephantasien versunkene Mama habe ihr „so leid im Herzen“ getan, dass sie dieses als „blutroten Fetzen [...] neben der ausgefaserten Reliquie“ habe „opfern“ wollen. Das gleiche Bild vom aus dem Leib gerissenen Herzen wird aufgenommen in dem Wunsch, sich das „Herz aus der Brust“ zu nehmen und es schreiben zu lehren, um schildern zu können, wie „traurig“ die Mama vom „Hügel, der in die grüne Andacht führt“, zurückgekehrt sei. Auf das Wissen um die Unerreichbarkeit der „grünen Andacht“ und um den illusionären Charakter der utopischen Wunschphantasien wird geantwortet mit der Sehnsucht, das zerfetzte „Herz“ schreiben zu lehren, eine Sprache zu schaffen, die nicht Darstellung, sondern affektiver Ausdruck jenes gebrochenen Glücksversprechens wäre. Auf eine solche Sprache zielt auch das Bild vom „Papa“, der „mit offenen Augen“ weint: Der mimetische Impuls des Weinens soll den Blick nicht trüben, sondern öffnen für eine Erkenntnis, die nur durch ihn hindurch zu gewinnen ist. Aus diesem Impuls heraus erlangt die Erzählerin den Mut, den Sturz vom Turm zu wagen, wofür sie mit dem „Veitstanz“ bezahlen muss. Die Erfahrung des Enthusiasmus, von der Außenwelt als „Folge des Schrecks“ missdeutet, entspringt dem Mut, sich und die eigene Sprache zum Ausdruck jenes ‚ersten Schmerzes’ zu machen, mit dem die Kolportageleserin dafür büßt, dass sie ernsthaft glaubt, was ihr versprochen wird. Die Figur der Mama bei Lasker-Schüler steht weniger für eine ‚mütterliche’ Sprache ein als für die Treue zum Wahrheitsgehalt solcher Illusionen, die

18

Trotz der realen gesellschaftlichen und rechtlichen Emanzipation, die durch die Napoleonische Besatzung den deutschen Juden ermöglicht wurde, war Napoleons Verhältnis zu den Juden in sich problematisch. Anders als im politischen Napoleon-Kult werden solche Ambivalenzen bei Lasker-Schüler durch Verwandlung Napoleons in eine affektiv besetzte Nippesfigur nicht einfach ausgeblendet, sondern gleichsam utopisch übersprungen. – Zum historischen Kontext siehe S. ETTINGER, Geschichte des jüdischen Volkes. Bd. 3: Vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Die Neuzeit. München 1980, S. 45 ff.

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ihrer Korruption zum Trotz nicht zerstört, sondern immer aufs Neue belebt werden sollen.19 Noch im Hebräerland heißt es: Meine Mama war nicht nur meine beste Freundin, sie war auch mein Kaiser. Ich stand vor ihrem Zimmer Wache. Eroberte warme Länder für sie, damit sie n i c h t f r i e r e in den Wintertagen. Sie saß an Nachmittagen so gern für sich allein in ihrem Wohnstübchen und las in ihren Büchern. [...] Oft blickten beim Abendbrot meiner Mama prachtvolle spanische Augen ganz weit in die Ferne ... ich glaube nach Toledo. (5, 80 f.)

Die mitten im Alltag, beim „Abendbrot“, vollzogene Selbstentrückung der Mutter „nach Toledo“, in die so mythische wie leidgeprägte Vergangenheit des Judentums,20 wird unmittelbar bezogen auf die Selbstentrückung im Modus einsamer Lektüre, die den mimetischen Impuls kindlichen Lesens bewahrt, indem sie die „Augen“ selber „spanisch“ werden lässt, sie zum Kristallisationspunkt der enthusiastischen Sehnsucht macht. Um dieser aus Verlorenheit und Selbstentrückung entspringenden ekstatischen Erfahrung die Treue zu halten, macht sich das Ich gleichsam selbst zur Karl-May-Figur, die im Namen des in die Sphäre des Trivialen abgedrängten Wahrheitsgehalts enthusiastischer Lektüre „warme Länder“ erobern und das rotwangige Lesen vor der ‚Kälte’ der Desillusion retten will. Die Kraft zu solchen Eroberungen wiederum verkörpert der Papa, der die Kinder vom Schulbesuch abhält, als Architekt den Turmbau zu Babel patentiert zu haben scheint und mit der Gewitztheit des Schelms das Unmögliche Wirklichkeit werden lässt: Mein Papa war es, der mich und meine achtjährigen Freundinnen schon damals gegen die strenge Schulschaft aufzustacheln versuchte: Wir könnten v i e l mehr wie die Lehrerinnen und Lehrer! – Er erreichte, dass ich und die Martha Schmidt und die Emmy Bachmann uns sträubten, weiter in die Schule zu gehen. (4.1, 142) 19

20

Inwiefern Lasker-Schüler ihre poetische Sprache als von der ‚Mutter’ herkommend begreift, ist bisher nicht geklärt, obwohl die These von der ‚mütterlichen’ Dichtung sich in verschiedener Weise durch die Forschung zieht. Vgl. bereits S. BAUSCHINGER, Die Symbolik des Mütterlichen im Werk Else Lasker-Schülers. Frankfurt/M. 1960. Aus psychoanalytischer Sicht variiert wird die Behauptung auch von S. LÆGREID, Nach dem Tode – oder vor dem Leben. Das poetische Projekt Else LaskerSchülers. Frankfurt/M. 1997. Am interessantesten sind die Überlegungen von M. SCHULLER, Literatur im Übergang, die die Mutterfigur im Sinne einer Revokation verdrängter Elemente „weiblicher jüdischer Geschichte“ versteht (S. 135). Die volkstümliche Geschichte der ‚Jüdin von Toledo’, die um das Motiv der im Namen christlicher Ordnung geopferten jüdischen Frau kreist, ist unter anderem von Grillparzer und Feuchtwanger bearbeitet worden. Vgl. den Hinweis bei M. SCHULLER, Literatur im Übergang, S. 235.

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Mit welcher Begeisterung mein Vater seine Türme erbaute, sie mitten in der Stadt hinsetzte [...], zählt zu meiner Kindheit liebsten Erinnerung. Mit dem Bauplan in der Manteltasche eilte er durch die Straßen der Wupperstadt [...]. Das Herz meines Papas war ein Baukasten, ein bunter Kinderbaukasten, ja ein ganz primitiver noch. Ein genialer Bauorganisator sei unser Vater, sagte einmal zu Papas Geburtstag meine Mama zu uns sechs Kindern. Und änderte auch selbst ihre Ansicht nicht, wenn die Leute der Stadt Elberfeld die ewigen Mängel der Bauten ihres Mannes bekrittelten. Am kundigsten war mein Vater im Aufrichten von Aussichtstürmen namentlich. Ein richtiger Lausbub, was soll der auch von regelrechten Wohnhäusern verstehen. Aussichtstürme, die nach allen Richtungen guckten und sozusagen auf die Stürme aufpassten (5, 76-78).

Während die Mama bei Lasker-Schüler für die wachgehaltene Erinnerung an die verratenen Glücksversprechen der Backfischjahre einsteht und die melancholische Dimension enthusiastischer Erfahrung verkörpert, knüpft sich an den Papa deren euphorisches Moment, die „Begeisterung“ des Lausbuben, dessen „primitiver“, zweckfreier Schaffensdrang vom festen Glauben befeuert wird, dass Kinder mehr als Erwachsene können. Indem er die Kinder animiert, nicht erwachsen zu werden, und seine eigenen Gebäude nach dem „Bauplan“ des „Kinderbaukasten[s]“ entwirft, ist Lasker-Schülers Papa eine neuzeitliche Erscheinungsform des Schelms, wie ihn Elisabeth Lenk beschreibt: „Der Schelm arbeitet nicht, er macht Erfindungen. [...] Der Schelm ist der Trickser, der Listenreiche, wie später Odysseus, aber seine Doppelheit ist noch nicht auf Einseitigkeit, seine Vieldeutigkeit noch nicht auf Eindeutigkeit reduziert. [...] Seine göttliche Überlegenheit liegt in der spielerischen Intelligenz, mit der er alle Lebewesen nachahmt. Seine Unterlegenheit liegt in der instinktlosen Ungeschicklichkeit [...]. Er ist charmant und total unzuverlässig, mehr Gott als Mensch, aber ein unverantwortlicher Gott.“21 Ebendiese „Doppelheit“ des Schelms lebt im Papa wieder auf: Gerade indem er ein unverantwortlicher Vater ist, der die Kinder gegen die „strenge Schulschaft“ aufstachelt, ist er ein guter Papa, weil er den unreglementierten Impuls kindlicher Erfahrung bewahrt, deren Wiederkehr die Mama durch ihre Kolportagephantasien lesend ersehnt. Gerade indem er ein unzuverlässiger Architekt ist, dessen Bauten für ihre „ewigen Mängel“ bekannt sind, ist er ein „genialer Bauorganisator“, der seine Türme nicht Stein auf Stein erbaut, sondern sie „hinsetzt“ wie spontane Erfindungen, die gleichsam lebendig mit den Naturgewalten kommunizie-

21

E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 51 f. – Nicht auf den Papa, sondern auf die Tino-Figur wird die als ‚feministisch’ missverstandene Gestalt des Schelms bezogen von V. LISKA, Die Dichterin und das schelmische Erhabene, S. 46 ff. Zum Motiv des babylonischen Turmbaus als „Kinderspiel“ vgl. M. SCHULLER, Literatur im Übergang, S. 235 f.

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ren.22 Die „Aussicht“ vom väterlichen „Turm“ ist es denn auch, die dem Ich es überhaupt erst möglich macht, die ‚Traurigkeit’ der heimkehrenden Mama zu gewahren, und der schelmische Impetus des Papas, über dessen haltloses Weinen die Erzählerin sogar „lachen“ muss, ist es, der am Ende der Geschichte triumphiert, wenn sie wie in einem Kinderbuch von der „freiwilligen Feuerwehr“ gerettet und für die Erfahrung ihres ‚ersten Schmerzes’ mit dem Erfolg belohnt wird, nicht mehr „in die Schule gehen“ zu müssen. Die Gefahr enthusiastischen Selbstverlusts, wie sie im „Veitstanz“ aufleuchtet, wird aufgefangen durch den unverwüstlichen Kinderglauben, am Ende werde doch alles gut: Im Bild des „Springinsfeld“ scheint die Erfahrung des Enthusiasmus von ihrer autodestruktiven Last befreit und doch als schöpferischer Impuls bewahrt zu sein. Papa und Mama erweisen sich vor diesem Hintergrund als komplementäre Figuren, welche in ihrer Entgegensetzung und Zusammengehörigkeit auf jene Entzweiung verweisen, die Lenk anhand neuzeitlicher Schelmenfiguren nicht zufällig mit der Metaphorik des verlorenen Paradieses umschreibt: „Wie in der biblischen Geschichte, nach der Vertreibung aus dem Paradies, Adam und Eva beginnen, auf dem Feld des Fluchs zu arbeiten, so trifft auch der Schelm [...] Anstalten zur Gründung einer nützlichen Existenz. Er versucht, sesshaft zu werden. Er besinnt sich darauf, dass er eine Familie hat. Aber es gelingt ihm nicht, oder gelingt nur halb.“23 Wie der Vater als „Lausbub“ im Grunde unfähig ist, „Wohnhäuser“ zu errichten, weil er seinen Beruf allein als Alibi seiner schelmischen Berufung praktiziert, ist die Mama unfähig, sich wie ein Hausmütterchen mit den bloßen Phantasien der Romane abspeisen zu lassen, deren Idole gemeinsam mit Goethe und Napoleon doch Teil ihres Lebens sind und sie an einen anderen Ort entrücken, der realer als der Alltag ist, in dem sie als Mutter ihr Dasein fristet. Diese Sehnsucht nach einem anderen Ort, die im alltäglichen Leben nur fragmentarisch aufscheint und als sentimentaler Affekt diffamiert wird, kristallisiert sich im affektiven Bild, das daran erinnert, dass keine Kindheit sich in einer Reihung empirischer Erlebnisse erschöpft und kein Subjekt je identisch ist mit der biographischen Person, zu der die Welt es macht.

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Unangemessen pathetisch wird diese Ambivalenz der Vaterfigur gedeutet von D. BISCHOFF, Ausgesetzte Schöpfung, die darin den „turmbauenden, sich versteigenden Menschen“ und den „auf die Erde hinabfahrenden, das hybride Werk zerstörenden Gott“ verkörpert sieht (S. 405). Dass der Turmbau bei Lasker-Schüler als Kinderspiel und der Vater als Papa erscheint, von Abstraktionen wie ‚dem Menschen’ oder ‚dem Gott’ also überhaupt nirgends die Rede ist, muss einer Deutung, deren entlehntes dekonstruktivistisches Vokabular letztlich bewusstlos die Phrasen der Existentialontologie restituiert, zwangsläufig entgehen. – Als Bau schützender „Innenräume“, die eine „Begegnung mit dem Heiligen“ ermöglichen, wird der Turmbau verstanden bei M. BRANDT, Chaos, Kosmos und Konzert, S. 184. E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 55.

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b) Affektive Sprache: Intersubjektivität und Intimität Wenn Lasker-Schüler in Ich räume auf! an das Publikum ihrer Rede appelliert, „näher zueinander“ zu rücken, „damit ich mein Herz auf Ihren Schoß legen kann, Sie mir ins Gesicht blicken und mein Mund warm zu Ihnen spricht“, um unmittelbar danach daran zu erinnern, dass authentische Dichter ihre Leser „entrücken in eine Paradiesinnerlichkeit“, und ihre eigenen Dichtungen als „die bunten Gärten meines Herzens“ bezeichnet, auf denen „manch schönes Wort“ zertreten zu werden drohe (4.1, 56; Hervorhebung M.K.), entwirft sie in Rekurs auf die bereits vertrauten Bilder des verschenkten Herzens, des Paradieses und der ‚warmen’, ‚blühenden’ Sprache ein Konzept affektiver Poesie, welche die verlorene „Paradiesinnerlichkeit“ gerade im Modus der Entrückung, der enthusiastischen Selbstentäußerung, wiederzugewinnen verspricht und eine intime Gemeinschaft stiften soll, die mit gängigen Vorstellungen literarischer Öffentlichkeit nichts zu tun hat. Dass gerade LaskerSchülers Lyrik sich adäquat nur verstehen lässt als Versuch der Realisierung einer solchen affektiven Sprache, die in ihrer poetischen Autonomie doch immer schon bezogen ist auf ein Gegenüber, hat am schärfsten wiederum Karl Kraus erkannt. In seinen Überlegungen zum Gedicht „Ein alter Tibetteppich“, das er 1910 in der „Fackel“ abgedruckt und mit einer Anmerkung versehen sowie 1927 in „Der Reim“ erneut mit einer Deutung gewürdigt hat, die zu den triftigsten dieses Textes überhaupt gehört,24 macht er diese Intention auf ‚liebenden’ Ausdruck poetischer Subjektivität, die sich ganz und gar an die Sprachgestalt entäußert und doch intim und in sich zurückgenommen bleibt, als Charakteristikum von Lasker-Schülers heterodoxem ‚Expressionismus’ aus, wie er sich im „Tibetteppich“ exemplarisch realisiere:

24

Immer noch am instruktivsten sind die genauen Beobachtungen von C. HESELHAUS, Else Lasker-Schülers literarisches Traumspiel. In: ders., Deutsche Lyrik der Moderne, S. 213-228. Vgl. ferner z.B. K. J. HÖLTGEN, Untersuchungen zur Lyrik Else LaskerSchülers. Bonn 1958; G. GUDER, Else Lasker-Schüler. Deutung ihrer Lyrik. Siegen 1966, S. 53 ff.; S. EHLERS, Ein Spiel von Form und Inhalt. Zu Else Lasker-Schülers „Ein alter Tibetteppich“. In: H. HARTUNG (Hg.), Gedichte und Interpretationen. Bd. 5: Vom Naturalismus bis zur Jahrhundertmitte. Stuttgart 1983, S. 108-117; G. KAISER, Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. Bd. 1. Frankfurt/M. 1991, S. 379 ff.; M. HALLENSLEBEN, Else Lasker-Schüler, S. 131 ff. Einen Überblick über die zeitgenössische Rezeption sowie über die wichtigsten Deutungsversuche gibt C. RADDE, „Strahl in Strahl“. Else Lasker-Schülers Gedicht „Ein alter Tibetteppich“. In: ELSJB 1 (2000), S. 55-78. – Obwohl stets erwähnt, werden Kraus’ Überlegungen zu dem Gedicht von keiner dieser Deutungen zum Ausgangspunkt der Interpretation gemacht.

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Deine Seele, die die meine liebet Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet Strahl in Strahl, verliebte Farben, Sterne, die sich himmellang umwarben. Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit Maschentausendabertausendweit. Süsser Lamasohn auf Moschuspflanzentron Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon. (1.1, 130)

Die letzte Strophe, von der Kraus meint, sie sei von „allen Wundern, die zu dem Wunder vom ‚Tibetteppich’ verwoben sind“, das „schönste“, veranlasst ihn zu dem folgenden Diktum: Else Lasker-Schüler […] ist aber auch der wahre Expressionist aller in der Natur vorhandenen Formen, welche durch andere zu ersetzen jene falsche Expressionisten am Werk sind, die zum Misslingen des Ausdrucks leider die Korrumpierung des Sprachmittels für unerlässlich halten. […] Selbst ein Publikum, das meine kunstrichterliche Weisung achtet und lyrischer Darbietung etwas abgewinnen kann, sitzt noch heute ratlos vor dieser Herrlichkeit wie eben vor dem Rätsel, das die Kunst aus der Lösung macht.25

Um zu präzisieren, welcher Begriff von „Ausdruck“ dieser Bestimmung des ‚wahren Expressionismus’ zugrundeliegt und gegen welchen Expressionismusbegriff er abgegrenzt wird,26 muss zunächst realisiert werden, dass Kraus, indem er den „Tibetteppich“ als „Wunder“ bezeichnet, Lasker-Schülers Poetik des affektiven Bildes direkt aufgreift: Das 1910 entstandene Gedicht ist nämlich 1911 in dem Band Meine Wunder abgedruckt worden, dessen Titel Kraus ganz im Sinne Lasker-Schülers nicht als Metapher, sondern als ein affektives 25 26

K. KRAUS, Der Reim, S.356. Bislang ist noch kein Versuch unternommen worden, ausgehend von Kraus’ Ausführungen den heterodoxen ‚Expressionismus’ von Lasker-Schülers Lyrik genauer zu bestimmen. Stattdessen wurde ihr Œuvre, nicht zuletzt weil die Autorin lange Zeit primär als Repräsentantin ‚jüdischer’ Dichtung angesehen wurde, meist als Spielart des ‚messianischen’ Expressionismus verstanden. Vgl. F. MARTINI, Else Lasker-Schüler. Dichtung und Glaube. In: H. STEFFEN (Hg.), Der deutsche Expressionismus. Formen und Gestalten. Göttingen 1965, S. 5-24, sowie H. POLITZER, Else Lasker-Schüler. In: W. ROTHE (Hg.), Expressionismus als Literatur. Bern u. a. 1969, S. 215-231. – Seit den achtziger Jahren spielt die Frage nach dem ‚expressionistischen’ Charakter von Lasker-Schülers Lyrik in der Forschung kaum eine Rolle mehr.

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Sprachbild begreift, als Materialisierung des utopischen Wahrheitsgehalts dessen, was die feuilletonistische Phrase vom poetischen ‚Wunder’ zugleich verspricht und verrät. Der im gleichen Kontext skizzierten Poetik von ‚Sonne, Mond und Sternen’ folgend und von seinem Verfahren der Sprachkritik als Deformation der Phrase im Modus des Zitats scheinbar abweichend, betreibt Kraus keine Desillusionierung, keine Ent-wunderung des vertrauten Sprachbildes, sondern betrachtet im Gegenteil das Gedicht, zu dem die Wunder „verwoben“ seien, als materielle Verwirklichung dessen, was die Phrase vom ‚Wunder’ der Poesie lediglich bezeichnet und dadurch preisgibt. Die Sprache des „Tibetteppich“ ist für Kraus weder metaphorisch noch selbstreferentiell, sondern Artikulationsform kreatürlicher Affektivität, die sich im Bild- und Klangmaterial sedimentiert und den Rezipienten buchstäblich anspricht. Über die letzte Strophe heißt es: Der vorletzte Vers, dazwischentretend, hat nirgendwo in dem Gedicht, das sonst aus zweizeilig gereimten Strophen besteht, seine Entsprechung. Wie durch und durch voll Reim ist aber auch dieses ‚wohl’, angeschmiegt an das ‚schon’, süßes Küssen von Mund zu bunt, von lange zu Wange vermittelnd.27

Im ‚dazwischentretenden’ Vers, der aus dem Reimschema herausfällt und es trotzdem nicht stört, sondern allererst erfüllt, indem er sich mimetisch an den Endreim ‚anschmiegt’, ohne mit dessen Schema identisch zu sein, wird die Sprache selbst ein „süßes Küssen“, das zwischen den in ihrer klanglichen Valenz aufeinander bezogenen Worten vermittelt, statt sie im Taumel der Konsonanzen zu verschmelzen. Der Grundimpuls solcher Sprache ist mimetisch, nicht symbiotisch. Deshalb ist das „wohl“, obzwar kein Reim auf ein anderes Wort, für sich genommen „voll Reim“: Es hat den affektiven Gestus der ‚Anschmiegsamkeit’, der im Gedicht thematisch ist, buchstäblich in sich aufgenommen, ist in seiner klanglichen Valenz zugleich autonom und kommunikativ, verkörpert in sich selbst die ‚liebende’ poetische Rede, statt sie dadurch, dass es sich auf etwas anderes reimt, bloß sprachlich nachzubilden. Auf die Notwendigkeit der Einsicht in solche sprach- und klangimmanenten Konstellationen zielt Kraus’ Forderung, eine adäquate Deutung des Gedichts habe „in jedem Teile den lebenden Organismus darzustellen“.28 Während der ‚falsche Expressionismus’ mit seinem schreienden Pathos, welches dem ‚Leben’ in seiner Kreatürlichkeit scheinbar unmittelbaren Ausdruck verschafft, in Wahrheit in seinem Anspruch scheitert, weil er die „Sprachmittel“ korrumpiert, kommt bei Lasker-Schüler gerade in der immanenten Sprachgestalt, die selbst als „Organismus“ aufgefasst wird, die „Natur“ in allen ihren „Formen“ zu sich selbst. Dem ‚falschen’ Expressionismus ist die Sprache etwas Feindliches, 27 28

K. KRAUS, Der Reim, S. 355. Ebd.; Hervorhebung M.K.

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Uneigentliches, das vom unmittelbaren Selbstausdruck der Kreatur im Schrei und in der Exaltation zerschlagen werden soll; dem Expressionismus LaskerSchülers ist sie in ihrer Affektivität, als „süßes Küssen“, Ausdruck kreatürlichen Lebens, steht als „Organismus“ dem Leben nicht in feindlicher Starre entgegen, sondern ist lebendig und lebensspendend. Genau auf diese sinnliche Dimension poetischer Sprache zielt die Anmerkung, die Kraus 1910 seinem Abdruck des Gedichts in der „Fackel“ beigefügt hat und die Lasker-Schülers Poetik mit bewundernswerter Präzision in ihrer paradoxen Einheit von Autonomie und Kommunikativität bestimmt: Nicht oft genug kann diese taubstumme Zeit […] durch einen Hinweis auf Else Lasker-Schüler gereizt werden, die stärkste und unwegsamste Erscheinung des modernen Deutschland. Wenn ich sage, dass manches ihrer Gedichte ‚wunderschön’ ist, so besinne ich mich, dass man vor zweihundert Jahren über diese Wortbildung ebenso gelacht haben mag, wie heute über Kühnheiten, welche dereinst in dem Munde aller sein werden, denen die Sprache etwas ist, was man ‚gebraucht’, um sich den Mund auszuspülen. (1.2, 170)

Indem die „taubstumme Zeit“, die konstitutionell unfähig ist, lebendige poetische Sprache wahrzunehmen oder hervorzubringen, durch Lasker-Schülers Poesie „gereizt“ wird, erweist sich diese als kommunikativ, insofern sie die entfremdeten Schemata der Kommunikation zerbricht, in denen Sprache nur „gebraucht“ wird, um die eigene Rede am Laufen zu halten. Indem sie aber „unwegsam“ bleibt und, wie es im späteren „Fackel“-Essay heißt, das Publikum „ratlos vor dieser Herrlichkeit“ zurücklässt wie „vor dem Rätsel, das die Kunst aus der Lösung macht“, verschließt sie sich zugleich, beharrt auf ihrer „Herrlichkeit“, in der sich ihr affektiver Impuls erst realisiert. Die „Lösung“, das Glücksversprechen der Versöhnung kreatürlichen Lebens im Modus poetischer Sprache, ist in dem „Rätsel“, das die Kunst aus ihr macht, nicht verloren, sondern aufgehoben in der einzigen Form, die ihr in einer unversöhnten Wirklichkeit zukommen kann. Diese Einheit von Kommunikativität und Autonomie wird übersehen, wenn das Gedicht als moderne Variante religiös grundierter Liebeslyrik gedeutet oder zur Selbstreflexion der Textualität lyrischer Rede reduziert wird. Die erste Interpretation, die in der älteren Forschung nahezu Konsens war, eskamotiert die Autonomie poetischer Sprache, indem sie die Ich-Du-Form als Nachbildung eines persönlichen Dialogs versteht und die Poetik ‚liebender’ Rede, die das Gedicht entwirft, ebenso privatisiert wie metaphysisch universalisiert.29 Die zweite Deutung verfehlt die 29

Vgl. K. J. HÖLTGEN, Untersuchungen, der im Gedicht „die Verwandtschaft zweier Seelen“ ausgedrückt sieht, „die einander durch unstillbare metaphysische Schwermut [...] nahestanden“ (S. 146). G. GUDER, Else Lasker-Schüler, spricht von der „Offenbarung der Liebe als einer ewigen Macht [...], die sich im Gefühl der Einzelwesen offen-

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Intention des Gedichts auf affektiven Ausdruck, seinen Status als ‚Organismus’, indem sie es, der germanistischen Phrase vom ‚Textgewebe’ folgend, lediglich als selbstreflexives Motivgeflecht liest.30 Gegen beide Deutungstraditionen lässt sich das Gedicht selbst geltend machen, das Organizität und Künstlichkeit im Bild vom „Tibetteppich“, der ein „Teppichtibet“, also Kunstgegenstand und Landschaft ist, verschränkt. Die für das Gedicht charakteristischen Spiegelungen, das gleitende Ineinander von ‚mein’ und ‚dein’, die Bilder einer lebendigen, fruchtbaren Künstlichkeit („Moschuspflanzentron“) sowie die ‚wortverknüpfenden’ Neologismen („Maschentausendabertausendweit“) sind weder nur Metaphorisierungen von ‚Liebe’ noch poetologische Selbstreflexion eines sich als ‚Geflecht’ exponierenden Textes.31 Tatsächlich entwirft das Gedicht mit dem Bild des Teppichs als „Kostbarkeit“ ein Konzept lebendiger, kreatürlicher Sprache, das dem globalen Textualitätsbegriff der Postmoderne ebenso fremd bleiben muss wie dem sentimentalen Verständnis von Lyrik als unmittelbarer Ich-Aussprache. Schon die vielfach bemerkte Anspielung auf das Hohelied Salomos, wo von der Suche nach dem gesprochen wird, „den meine Seele liebt“, ist weder einfach ein Hinweis auf die Liebesthematik noch ein bloßes Zitat, mit dem sich das Gedicht als intertextuell re-

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bart“ (S. 55). Siehe ferner M. KUPPER, Die Weltanschauung Else Lasker-Schülers in ihren poetischen Selbstzeugnissen. Würzburg 1963, S. 97 f.: „Ewigkeit und Paradies sind ‚Zeit’ und ‚Ort’ der Liebe. [...] Auch von dieser Auffassung Else Lasker-Schülers her erklärt sich die Liebe als religiöses Erlebnis. [...] Der homo ludens ist der homo religiosus“. – Eine Ausnahme in der frühen Forschung bildet Clemens Heselhaus: Else Lasker-Schülers Traumspiel, der Lasker-Schülers Lyrik als Entwurf einer „Zwischenwelt“ versteht, „die wirklich und unwirklich zugleich ist“ (S. 213). Siehe etwa S. EHLERS, Ein Spiel von Form und Inhalt, S. 116: „Das Gedicht [...] hebt die Gegenüberstellung von Bild und Gegenstand auf, um im Wechsel der verschiedenen Bildbereiche das Teppich-Gewebe selbst zur Form des Gedichts zu machen.“ S. LÆGREID, Nach dem Tode, beschreibt das Gedicht als „Projektion der Wunschvorstellung in den vergegenwärtigten Bildraum“ (S. 143). A. HENNEKE-WEISCHER, Poetisches Judentum, spricht von einem „Arrangement“ verschiedener „Bildfelder“ (S. 38). Weitaus absurder M. HALLENSLEBEN, Else Lasker-Schüler, S. 136: „Die Materialien des Teppichmotivs, seine Farben, werden personifiziert, wodurch die Protagonisten [!] der dargestellten Liebesgeschichte [!], die Liebenden, umgekehrt als Farben und abstrakte Formen (‚Sterne’) erscheinen. [...] Der Teppich dient bei Lasker-Schüler also keineswegs der Beschreibung des Liebesmotivs, sondern ist nur noch die autoreflexive Rede von einem Motiv.“ Hier überschlägt die autoreflexive Rede sich selbst: Werden nun die „Materialien“ des Teppichs „personifiziert“ oder umgekehrt die „Protagonisten“ (die es im Gedicht ebenso wenig gibt wie eine „Liebesgeschichte“) zu „Formen“ abstrahiert? Und wenn die „Liebenden“ als „abstrakte Formen“ im Gedicht „erscheinen“, inwiefern ist dies „autoreflexiv“? Zu dieser Gedankenfigur M. VON ALBRECHT, Der Teppich als literarisches Motiv. In: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung VII (1972), S. 11-89.

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flektiert.32 Vielmehr kennzeichnet es die lyrische Rede als eine Sprache, die keineswegs nur von Liebe spricht, sondern selbst zum affektiven Ausdruck, zur liebenden Sprache werden will, indem sie das Du, das nicht mit einer empirischen Person verwechselt werden darf, wie im Hohelied nicht einfach anspricht, sondern sucht und ‚umwirbt’. Die Sprache selbst soll, ganz im Sinne von Kraus’ Deutung des „wohl“ als ‚vollem Reim’, zur liebkosenden Rede werden, die verwirklicht, wovon sie spricht. In diesem Sinne – und nicht als Dekonstruktion von ‚Liebe’ als Diskurseffekt – sind auch die selbstreflexiven Elemente des Gedichts zu verstehen: Wenn die ‚Seelen’ der Liebenden im „Tibetteppich“, als der das Gedicht selbst erscheint und der ein „Teppichtibet“, ein aus dem Teppich sich entfaltendes Land ist, miteinander „verwirkt“ sind, wird das Gedicht als autonome „Sprachfigur“ bestimmt,33 in der die ‚liebenden’ Affekte sich nicht nur begegnen, sondern verwirken, an die Sprachgestalt des Gedichts entäußern, das eben deshalb nicht als Modus bloßer Ich-Aussprache verstanden werden darf. Umgekehrt aber bleibt auch die Sprachfigur durchwirkt von den „verliebte[n] Farben“, die die Sprache ‚erstrahlen’ lassen und das Gedicht im Sinne von Kraus zum ‚lebendigen Organismus’ machen, der seine geronnene Textualität transzendiert. Darum figuriert der Kunstgegenstand, die „Kostbarkeit“, als lebendige Landschaft, die die Subjekte, die sich in der lyrischen Rede ‚verwirken’, paradoxerweise im Modus der Annäherung voneinander entfernt: Die Bilder vom ‚himmellangen’ Umwerben, der ‚maschentausendabertausendweiten’ Kostbarkeit, dem ‚langen’ Kuss und den ‚buntgeknüpften Zeiten’ beschreiben alle eine ebenso räumlich wie zeitlich gedachte unendliche Distanz, die ‚bunt’ und ‚himmlisch’ ist und die „Füße ruhen“ lässt, mithin Intimität allererst stiftet. Dieses Konzept einer intimen kommunikativen Sprache wird verkannt, wenn die lyrische Bildlichkeit aufgelöst wird in intertextuelle, kultur- und sozialgeschichtliche Referenzen, die das Gedicht vermeintlich nur zitiere. So interessant es sein mag, das Gedicht auf die Tradition des Bildteppichs, auf Motive der Heine’schen Lyrik, auf die Mode des Orientalismus oder gar auf das künstliche Himmelszelt des Berliner ‚Wintergartens’ und die

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Hohelied 3, 1-4: „Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Ich will aufstehen und in der Stadt umgehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umgehen: Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt? Da ich ein wenig an ihnen vorüber war, da fand ich, den meine Seele liebt. Ich halte ihn und will ihn nicht lassen, bis ich ihn bringe in meiner Mutter Haus, in die Kammer der, die mich geboren hat.“ – Nicht nachvollziehbar ist mir die These von J. HESSING, Else Lasker-Schüler, der Hohelied-Bezug führe in diesem Gedicht „mitten in die Welt des Judentums hinein“ (S. 88). Diesen Terminus übernehme ich von C. HESELHAUS, Else Lasker-Schülers Traumspiel, S. 214 f.

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Lesungen des „Sturm“-Kreises in Berliner Teppichhäusern zu beziehen,34 so dreist verkehrt eine solche Deutung die Intention des Gedichts ins Gegenteil, wenn sie aus der Aufzählung vermuteter Referenzen den Schluss zieht, die Sprache des Gedichts verweise „nur noch auf das Wortgeflecht selbst“, es handle sich um nichts als die „Suggestion eines Liebesgedichts“, in der „sämtliche Traditionen des Teppichmotivs“ verknüpft seien.35 Solche Interpretationen missverstehen die Vertrautheit des lyrischen Bildes, auf die mit der Rede vom alten Tibetteppich bereits der Titel selbst verweist, als Aufforderung, die Fremdheit, die das Bild durch Verwandlung zur affektiven Landschaft, zum „Teppichtibet“ gewinnt, im Prozess der Deutung zu tilgen, indem das Bild in ein Konglomerat verdinglichter intertextueller Bezüge zurückverwandelt wird, die es bloß neu zusammensetze. Das eigentümliche Phänomen, das Bachelard zum Ausgangspunkt seiner Phänomenologie der Phantasie macht, dass nämlich gerade einfachste, abgenutzte Bilder durch die Konstellation, in welche die poetische Einbildungskraft sie rückt, zu neuen Bildern werden, die „keine Vergangenheit“ haben und mehr sind als die Summe ihrer Konnotationen,36 wird von einem derart automatisierten Blick, der Literatur nur als originelle Montage verdinglichter Intertexte, also immer schon als warenförmig ansieht, nicht einmal als Problem wahrgenommen. Die von Kraus skizzierte Poetik von ‚Sonne, Mond und Sternen’ sowie sein Diktum, Lasker-Schülers Gedicht sei ‚wunderschön’, zielen dagegen auf jene affektive Belebung des Einfachsten, Abgenutzten, wie sie sich im ‚alten’ Tibetteppich, der zur „Kostbarkeit“ ver-wundert wird, materialisiert. Darum ist das Wort ‚wunderschön’ – als ‚gebrauchtes’ längst zur Phrase geworden – mit Blick auf Lasker-Schülers Lyrik adäquat. Eher als an eine spezifische Person appelliert das ‚Du’ des Gedichts an einen solchen Blick, der die lyrische Rede als ‚liebende’ Sprache, als Lobpreisung37 des in der Sprachgestalt zu sich selbst kommenden kreatürlichen Lebens wahrnimmt und die geronnene Textur, die vom postmodernen Textualitätsbegriff fetischisiert wird, ‚erstrahlen’ lassen will.38 Wenn Lasker-Schüler 34 35

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Siehe M. HALLENSLEBEN, Else Lasker-Schüler, S. 135 ff. Ebd., S. 138 f. – Hallensleben bezieht die emphatische Metapher des ‚Umwerbens’ überdies in unfreiwilliger Komik auf den Warencharakter von Kunst: „Im Zeitalter der Werbung bleibt den Kunstliebhabern wie Künstlern nichts anderes übrig, als sich selbst ‚himmellang’ zu umwerben.“ (S. 139 f.) – Dass der Kalauer Lasker-Schülers Dichtung nicht fremd ist, heißt noch lange nicht, dass jedes Bild sich als Kalauer verstehen lässt. G. BACHELARD, Poetik des Raumes, S. 7 f. Lasker-Schüler selbst nannte das Gedicht in einigen Handschriften explizit „Preisgedicht“. Vgl. den Kommentar der Kritischen Ausgabe, dem dazu leider nur der zeitgemäße Hinweis einfällt, „einen ‚Preis’“ habe die Autorin „für ihr Gedicht nicht erhalten“ (KA 1.2, 171). Nicht zufällig kreisen auch die Überlegungen von Richard Weiß über den Band Meine Wunder in der „Fackel“, in denen „Ein alter Tibetteppich“ ausführlich behandelt wird, um die sprachlichen Prozesse, durch die ‚alte’ Bilder und Worte entweder zu einer

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Kraus unter anderem ‚Dalai Lama’ nannte, so nicht, weil er der empirische Adressat des „Tibetteppich“-Gedichts gewesen wäre, sondern weil gerade Kraus’ gegen jede erschlichene Schönheit spröder Blick, der ihm erlaubt hat, für die Analyse der Sprachform zu leisten, was Marx für die Analyse der Warenform leistete,39 den ‚schönen’ Ausdruck in Lasker-Schülers Dichtung vom phrasenhaften Ausdruckskult des Expressionismus zu scheiden vermochte: Erst der intellektuell geschärfte Ekel vor falscher Naivität ist empfänglich für die wahre. Wollte man den Versuch unternehmen, Lasker-Schülers Lyrik in ihrem immanenten werkgenetischen Zusammenhang darzustellen, wäre sie zu deuten als allmähliche Überwindung jenes unmittelbaren Ausdruckskults, den ihre frühesten Gedichte in stereotyper Entlehnung expressionistischer und jugendstilhafter Metaphorik selbst betreiben, zugunsten einer affektiven Sprache, wie sie sich im „Tibetteppich“-Gedicht beispielhaft realisiert. Dabei wird die symbiotische, mit Bildern von Rausch, Blut und Entgrenzung umschriebene Sprachkonzeption der frühen Gedichte transformiert in ein Konzept mimetischen Sprechens, wie es sich in der Gewebemetaphorik äußert und mit Phantasien kindlichen Spiels einhergeht. Die Gewebemetaphern, die bei LaskerSchüler immer wieder begegnen, richten sich zwar gegen die organizistischen Verschmelzungsphantasien der frühen Lyrik, hypostasieren aber nicht die

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‚neuen Welt’ zusammengefügt oder aber als „starres Ganzes“, als verdinglichtes Kulturgut, tradiert werden. Vgl. R. WEISS, Else Lasker-Schüler. In: Die Fackel 321/22. 1911, S.42-50, hier S. 44 f.: „Jeden Wortkern umhüllt ein sich immer weiter ausdehnender Assoziationsball, der von der nächsten Generation schon als starres Ganzes erlernt und darum nicht mehr als bildlich empfunden wird. […] Schlechte Kunst – Sprache, die ihre Sätze nicht aus Worten erbaut, sondern aus Sprichwörtern zusammenklebt – umkreist in übernommenen Bildern nur ein altes Ich“. Demgegenüber, so Weiß, schaffe Lasker-Schüler „aus den Bausteinen dieser Welt eine neue“ (S. 43). – Dass Lasker-Schüler selbst ihr Gedicht als reale ‚Sprachfigur’ begriffen hat, in der das ‚Alte’ sich zum ‚Erlesenen’ verwirkt, bezeugt ihre Reaktion auf die abwertenden Äußerungen Peter Altenbergs, der sie gegenüber Kraus als „Hochstaplerin“ bezeichnet hatte (vgl. den Hinweis in KA 3.2, 230). In diesem Kontext heißt es in Mein Herz: „Ich hörte, er spucke auf mein erlesenes Gedicht, auf meinen alten Tibetteppich, er kann nur dadurch antiker und wertvoller werden“ (KA 3.1, 244). Die Schmähung wird hier konkret als Beschmutzung des ‚Teppichs’ aufgefasst, die dessen Wert allerdings nur steigert. Siehe die hervorragende Darstellung von G. SCHEIT, Jargon der Demokratie. Über den neuen Behemoth. Freiburg 2006, S. 218 ff. – Die Freundschaft zwischen Kraus und Lasker-Schüler wäre, sofern sie für das Verständnis der Poetik beider Autoren geltend gemacht werden soll, wohl hauptsächlich mit Blick auf diese Utopie einer die Warenform transzendierenden, als ‚Organismus’ aufgefassten poetischen Sprache zu untersuchen. Einen Überblick vor allem über die biographischen Hintergründe gibt L. BLUHM, „Karl Kraus, der Dalai-Lama von Wien“. Genese und Poetologie eines Kunstnamens bei Else Lasker-Schüler. In: ELSJB 2 (2003), S. 86-101; vgl. auch C. DAVID, Karl Kraus – Else Lasker-Schüler. In: Études Germaniques 15 (1960), S. 364368.

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Textualität der lyrischen Sprache, sondern stehen ein für eine Dichtung, die sich im Sinne von Kraus als ‚Organismus’ konstituiert und die Utopie kreatürlicher Versöhnung, die in den frühen Gedichten eher beschworen wird, in die eigene Sprachgestalt aufnimmt.40 Dass der kommunikative, affektive Impuls, wie er im „Tibetteppich“-Gedicht als Konstituens der Sprachform aufgewiesen werden konnte, in den frühesten Gedichten zwar evoziert, aber noch kaum sprachlich realisiert wird, zeigt sich an den Titeln der Gedichte des ersten Lyrikbandes Styx (1902), die sich wie ein Katalog prototypischer Momente von Entrückung und Ekstase lesen lassen: „Eifersucht“, „Frühling“, „Trieb“, „Urfrühling“, „Orgie“, „Fieber“, „Eros“, „Chaos“ usw. Obzwar die Gedichte sich in Rückgriff auf jugendstilhafte und expressionistische Sprachformen um die sprachliche Konkretisierung der titelgebenden Entgrenzungserfahrungen bemühen, bleiben die Titel selbst eine Ansammlung von Abstraktionen, die in ihrer Redundanz die beschworene Erfahrung der Ekstasis gleichsam im voraus neutralisieren:41 Die enthusiastische Selbstentäußerung, die gerade als Erfahrung von Entgrenzung und Dissoziation doch auch radikal privat und unkommunizierbar ist, erscheint nolens volens als austauschbarer, mit austauschbaren Worten belegbarer Affekt. Obwohl, wie sich an der Blut-Metaphorik zeigen ließe,42 diese Tendenz zur Stereotypie sich teilweise auch in der Sprachgestalt der Gedichte durchsetzt, ist in einigen die Abkehr von symbiotischen 40

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Den Hinweis auf die Dominanz der Gewebemetaphern in Lasker-Schülers Lyrik verdanke ich Marlies Janz (Berlin). – Die Differenz zwischen ‚symbiotischer’ und ‚mimetischer’ Sprachmetaphorik wird übergangen bei U. FRANK, Selbst ein Gedicht, und S. LÆGREID, Nach dem Tode, die Lasker-Schülers lyrische Produktion „der Jahre 19021943“ als einen einzigen „Prozess“ begreift, „der sich im Umschlag der Gegensätze Melancholie und Manie vollzieht“ (S. 55). Von einer „toposartigen Verformelung in der Metaphorik“ spricht mit Blick auf die frühen Gedichte F. MARTINI, Else Lasker-Schüler, der ebenfalls eine Nähe zum Jugendstil diagnostiziert (S. 11 ff., hier S. 15). Zur frühen Lyrik siehe auch bereits H. DOMDEY, Frühe und späte Lyrik Else Lasker-Schülers. Vergleichende Untersuchungen zu Gehalt und Rhythmus. Berlin 1964. Als vitalistische Metapher ungebändigter (Trieb-)Natur begegnet das Blut u. a. in „Die schwarze Bhowanéh“ („Meine Ader schmerzt / Von der Wildheit meiner Säfte“; KA 1.1, 36); „Viva!“ („Mein Wünschen sprudelt in der Sehnsucht meines Blutes / Wie wilder Wein“; KA 1.1, 45); „Eros“ („Nie schürte sich so mein Blut zu Bränden“; KA 1.1, 46); und „Meine Blutangst“ („Es war eine Ebbe in meinem Blut, / Es schrie wie brüllende Ozeane“; KA 1.1, 70). – Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet das Gedicht „Sein Blut“, worin die strophisch wiederholte Zeile „….Sein Blut plagt ihn“ auf die destruktiven Triebe eines Subjekts verweist, das „meines Glückes / Letzte Rose“ in den „Rinnstein“ werfen und „mein spielendes Herz“ an einen „Dornstrauch“ hängen möchte (KA 1.1, 44): Hier wird die symbiotische Rauscherfahrung, wie sie in den übrigen Gedichten mit dem Bild des Blutes affirmativ beschworen wird, bereits als Bedrohung jenes ‚spielerischen’, mimetischen Rauschs wahrgenommen, zu dessen ‚malerischem’ Bestandteil das Blut in den späteren Gedichten selbst wird.

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Phantasien hin zu einer mimetischen Sprachkonzeption, die eine ‚anschmiegsame’, auf ‚Verflechtung’ und Intersubjektivität zielende Sprache avisiert, bereits vorgebildet. Exemplarisch dafür ist „Weltflucht“, das Lasker-Schüler in Ich räume auf! als Beleg für die Legende anführt, sie habe die Gedichte von Styx „zwischen 15 und 17 Jahren“ in ihrer „Ursprache“, einem „mystischen Asiatisch“, gedichtet (4.1, 58): Ich will in das Grenzenlose Zu mir zurück, Schon blüht die Herbstzeitlose Meiner Seele, Vielleicht – ist’s schon zu spät zurück! O, ich sterbe unter Euch! Da Ihr mich erstickt mit Euch. Fäden möchte ich um mich ziehn – Wirrwarr endend! Beirrend, Euch verwirrend, Um zu entfliehn Meinwärts! (1.1, 34)

Obwohl das Gedicht die für Meine Wunder charakteristische Verflechtung von ‚Ich’ und ‚Du’, ‚mein’ und ‚dein’ noch nicht kennt und an deren Stelle die für die frühe Lyrik typische Emphase ekstatischer Selbstentgrenzung setzt, die sich gegen das „Ihr“ durchsetzen will, von dem sich das Ich „erstickt“ wähnt, ist mit der Rede von den „Fäden“, die das Ich um sich ziehen will, um das „Wirrwarr“ durch ‚Beirrung’ und ‚Verwirrung’ enden zu lassen, die Gewebemetaphorik der späteren Gedichte präludiert. Auch der Titel „Weltflucht“ wird in den Taumel von Selbstentgrenzung und Selbstwerdung, den das Gedicht durch unregelmäßige Reimfolgen und Zeilensprünge sprachlich nachzukonstruieren sucht, hineingezogen: Die Flucht aus der Welt, vor der erstickenden Präsenz des „Ihr“, wird in eins gesetzt mit der Flucht in die Welt, „in das Grenzenlose“, in der das Ich „Meinwärts“, zu sich „zurück“ findet. Damit lässt sich „Weltflucht“ geradezu als lyrische In-Szene-Setzung jener Dialektik von Individuation und Selbstentäußerung lesen, wie Landauer sie – kaum ein Jahr vor Entstehung des Gedichts – in „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“ als grundlegend für seinen Gemeinschaftsbegriff exponiert hat. Die Korrespondenzen reichen bis in die konkrete Metaphorik hinein.43 So be43

J. HESSING, Else Lasker-Schüler, liefert eine aufschlussreiche Deutung des Gedichts „Mein Volk“, in der er das darin zum Ausdruck kommende Verständnis von Judentum auf Landauers Traditionsbegriff bezieht. Auch „Weltflucht“ wird darin erwähnt, ohne dass Hessing auf die konkreten Analogien zu Landauers Rede eingeht (S. 91 ff., beson-

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schreibt Landauer das Selbstverständnis der versprengten Einzelnen, an die sein Begriff von Gemeinschaft appelliert, mit den Worten: Wir fassen das Leben zu einfach auf, als dass die Menschen aus ihren verworrenen Irrgängen den Weg zu uns […] finden könnten. Und wieder sind unsere Seelen zu fein und kompliziert, als dass wir es da unten auf die Länge aushalten könnten. […] [W]enn wir uns ganz gründlich absondern, wenn wir uns als Einzelne in uns selber tiefst hinein versenken, dann finden wir schließlich […] die urälteste und allgemeinste Gemeinschaft: mit dem Menschengeschlecht und mit dem Weltall.44

Wenig später wird dieser Prozess mit den Worten umschrieben: Wie ein Selbstmörder sich ins Wasser stürzt, so stürze ich mich senkrecht in die Welt hinab, aber ich finde in ihr nicht den Tod, sondern das Leben. […] An die Stelle der Abstraktion, der tötenden […] Abziehung, setzen wir die Kontraktion, die Zusammenziehung all unserer inneren Kräfte, und die Attraktion, die Hineinziehung des Weltalls in unseren Machtbereich.45

Eben als ein solcher Sturz in die Welt, der dennoch „Meinwärts“ führt, weil er die ‚erstickende’ empirische Realität in einer dialektischen Bewegung überschreitet, in der das Ich, gerade indem es sich dem ‚Grenzenlosen’ öffnet, zu sich „zurück“ findet, wird die „Weltflucht“ in Lasker-Schülers Gedicht mit seiner sich zunehmend verkürzenden Zeilenfolge auch typographisch inszeniert.46 Zudem greift es mit der Gewebemetaphorik, die sich als Gegenbild zur Ideologie des Individuums als Monade in mehreren Abwandlungen auch durch Landauers Rede zieht,47 Landauers Gedanken auf, wonach der falschen ‚Verwirrung’, wie die empirische Wirklichkeit sie vorstellt, nicht durch Rückkehr auf den Grund und Boden des eigenen Ich zu begegnen sei, sondern durch Beharren auf der ‚Feinheit’ und ‚Kompliziertheit’ der „Seelen“, die nicht preisgegeben, sondern als Vorschein der „allgemeinste[n] Gemein-

44 45 46

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ders S. 99 f.). Unerwähnt bleibt Landauer auch in der eher deskriptiven Analyse von B. LERMEN, Auf der Suche nach einer neuen Sprache. Else Lasker-Schülers Gedicht Weltflucht. In: ELSJB 4 (2009), S. 9-17. G. LANDAUER, Durch Absonderung zur Gemeinschaft, S. 82; Hervorhebung M.K. Ebd., S. 84; Hervorhebung M.K. Dieses Motiv des Stürzens als Modus der Selbstkonstitution begegnet ebenfalls in „Mein Volk“. Vgl. J. HESSING, Else Lasker-Schüler, S. 97 f. Zur Veranschaulichung seiner Annahme, dass es „keine isolierten Körper“ gebe, greift Landauer mehrfach auf die „Äthertheorie“ mit ihren Bildern des „Fließens“ und der „Wellenbewegung“ zurück. G. LANDAUER, Durch Absonderung zur Gemeinschaft, S. 87. Später wird das Bild des Äthers mit der „Stimme“ der „Musik“ und der „Liebe“ als affektivem „Band“ der Menschen zusammengebracht (S. 97).

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schaft“ erkannt werden müssten. In diesem Sinne will das Ich dem „Wirrwarr“ begegnen, indem es „Fäden“ um sich zieht und die Welt ‚beirrt’. Als eine solche ‚Beirrung’ konstituiert sich das Gedicht selbst, das mit der „Meinwärts“ gerichteten Bewegung endet, die es sprachlich nachkonstruiert. Wo dieses im Modus der Selbstentgrenzung zu verwirklichende ‚Mein’ jedoch aufzusuchen wäre, bleibt offen. Unmittelbar adressiert wird nur das „Ihr“, vor dessen Umklammerung das Ich „ins Grenzenlose“ flüchtet. Konsequent bleibt der Sinngehalt der Gewebemetaphorik vorwiegend negativ: Weniger eine ‚umgarnende’ Sprache ist in ihr avisiert als ein Modus des Sprechens, der das „Wirrwarr“ empirischer Kommunikation suspendiert, indem er „Fäden“ um das Ich zieht, es durch Ziehen einer durchlässigen Grenze „ins Grenzenlose“ – und damit „Meinwärts“ – entrückt. Kristallisationsbild dieser Metaphorik ist der Kokon, in dem sich das Subjekt von der Wirklichkeit zugleich abgrenzt und zu ihr in Beziehung setzt.48 Obwohl dem Gedicht die dialogische Struktur der späteren Lyrik noch fremd ist, ist die Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe, wie sie im Bild des Teppichs als Charakteristikum einer intimen, kommunikativen Sprache bestimmt wird, in diesem Bild zumindest angelegt. Wendet sich „Weltflucht“ mit seinem Rekurs auf Landauers Individuationsbegriff deutlich gegen jenes Verständnis von lyrischer Dichtung als Eskapismus, das im Titel mitzuschwingen scheint, ohne selbst zur dialogischen, affektiven Rede zu werden, transformieren Lasker-Schülers Gedichte ab etwa 1906 das Bild des Gewebes als durchlässiger Grenze in einer Weise, die sich wiederum mit dem Begriff des intermediären Raumes konkretisieren lässt, den Winnicott als Erprobungsort freier Kommunikation gegen symbiotische Phantasien ins Feld führt. Während Phantasien der „Verschmelzung“ laut Winnicott auf einen Prozess zielen, in dem es „nach einem Stadium der Trennung von Subjekt und Objekt wieder zu einer Einheit von Objekt und Subjekt kommt“,49 die Grenze, die freie Intersubjektivität im Sinne Winnicotts erst ermöglicht, durch Hypostasierung von Totalitätserfahrungen also gerade getilgt wird, kennt der intermediäre Raum weder distinkte Trennungen von Subjekt und Objekt noch deren symbiotische Einheit. Vielmehr konstituiert der Übergangsraum, den Winnicott als Element frühkindlicher Erfahrungen versteht, die im Spiel und in der ästhetischen Wahrnehmung revoziert werden können, Subjekt wie Objekt nur als „subjektives Objekt“,50 das sich in seiner Autonomie doch erst im Bezug auf je andere verwirklicht. Ohne sich psychoanalytisch nach diesem Modell ‚entschlüsseln’ zu lassen, folgt Lasker48

49 50

Insofern verkürzt Hessings Bemerkung, die in „Weltflucht“ artikulierte Bewegung ziele „auf ein völlig isoliertes Ich“, das Gedicht um seinen zentralen Aspekt (J. HESSING, Else Lasker-Schüler, S. 100). Ebenso wenig geht es um ein „Ich ohne Grenzen“ (M. HALLENSLEBEN, Else Lasker-Schüler, S. 73) – was immer das sein soll. D.W. WINNICOTT, Vom Spiel zur Kreativität, S. 147. Ebd.

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Schülers reife Lyrik mit ihrem Wechsel von ‚mein’ und ‚dein’ bis in die Bildlichkeit der Spiel-, Kindheits- und Gewebemetaphorik hinein in ihrer immanenten Formgestalt dieser Logik des Übergangsraums als Sphäre affektiver Kommunikation. Lyrische Sprache erscheint ganz in diesem Sinne weder als unmittelbarer Selbstausdruck des Subjekts noch als ‚Textgeflecht’, sondern als ‚Organismus’, der Subjekt und Objekt ebenso voneinander entfernt wie aufeinander bezieht. So lässt sich das Bild des Saums und Gewebes verstehen, wie es seit Meine Wunder bei Lasker-Schüler begegnet: Eine schwarze Taube ist die Nacht. ...Du denkst so sanft an mich. Ich weiß, dein Herz ist still. Mein Name steht auf seinem Saum. („Ein Trauerlied“; 1.1, 118)

Verstecke mich in deinem Süßblut. Nähe mich in den Saum deiner Haut ein. Immer tragen wir Herz vom Herzen uns zu. Pochende Naht Hält unsere Schwellen vereint. („Die Liebe“; 1.1, 122)

Mein Herz geht langsam unter Ich weiß nicht wo – Vielleicht in deiner Hand. Ueberall greift sie an mein Gewebe. („Leise sagen – “; 1.1, 128)

Die dich umarmt, Stiehlt mir von meinen Schauern, Die ich um deine Glieder malte. Ich bin dein Wegrand. Die dicht streift, Stürzt ab. Fühlst du mein Lebtum Überall Wie ferner Saum? („Höre!“; 1.1, 172 f.)

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Der „Saum“, der in früheren Gedichten in recht traditionellen Wortverbindungen wie „Gottes Saum“ erscheint („Mein stilles Lied“; 1.1, 95),51 wird hier zum paradoxen Bild einer intimen Distanz: Wenn das „Herz“ des Du „auf seinem Saum“ den Namen des Ich trägt bzw. das Ich im „Saum“ seiner „Haut“ eingenäht und in seinem „Süßblut“ versteckt hat, handelt es sich nicht mehr um Metaphern symbiotischer Verschmelzung, sondern um Bilder einer intersubjektiven Verflechtung, in der Ich und Du ganz im Sinne des „Tibetteppich“-Gedichts miteinander verwirkt, also verknüpft, aber zugleich in ihrer Unterschiedenheit enthalten und aufgehoben sind. Eben darauf zielt auch die Rede von den „Schauern, / Die ich um deine Glieder malte“, vom „Wegrand“, vom „Lebtum“ sowie vom „ferne[n] Saum“, als welcher – den Regeln der Grammatik folgend – das angesprochene Du für das Ich erscheint. An die Stelle der Vereinigung zweier ‚Herzen’ tritt die ‚pochende Naht’, die „unsere Schwellen vereint“ hält: Die „Naht“ und die „Schwelle“ als verbindende Grenzen stiften jenen Austausch, der durch die ‚Umarmung’ und den als Angriff empfundenen ‚Griff’ ans „Gewebe“ bedroht ist. ‚Greifen’, ‚Umarmen’ und ‚Streifen’ figurieren als stumpfe, unmimetische Gesten, die die Subjekte aneinander abprallen lassen, intersubjektiven Austausch also gerade unmöglich machen, während der Gestus mimetischer Anschmiegsamkeit, der die Distanz, die er überbrückt, zugleich auch wahrt, als friedensstiftend beschrieben wird: Die „Nacht“ ist eine „schwarze Taube“, ‚Blut’ und „Herz“ des Du sind nicht wild, sondern ‚süß’ und „still“, die ‚Liebe’ ist nicht nur rauschhaft, sondern von ‚Trauer’ grundiert, und die ‚pochende Naht’ verweist auf eine im Modus liebender Verknüpfung ‚genähte’ Wunde. Die affektive Sprache, die sich in solcher Lyrik realisiert, wird bestimmt als ein „Leise sagen“, als in sich zurückgenommene, ‚stille’ Kommunikation, die eine Relation zwischen poetischem Subjekt und Adressat herzustellen sucht, welche nicht selbstgenügsam bleibt, sondern sich durchaus aggressiv gegen ‚Umarmungen’, gegen Vereinnahmungen im Sinne falsch verstandener Unmittelbarkeit, verwahrt. Auf diese Einheit von ‚Stille’ und Ausdruck zielt Kraus’ Diktum über Lasker-Schülers Expressionismus. Weit präziser als andere Zeitgenossen – genauer auch als Kafka, der Lasker-Schüler für eine exaltierte Lebefrau hielt52 – hat Kraus erkannt, was 51

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Natürlich geht es hier nicht darum, die Bedeutung dieses Metaphernkomplexes für Lasker-Schülers Lyrik in toto herzuleiten, sondern nur um Konturierung einer, freilich entscheidenden, Tendenz. Zur Problematik unzulässiger Verallgemeinerungen, wie sie auch aus den für Lasker-Schüler vorliegenden Wortkonkordanzen oft leichtfertig deduziert werden, vgl. P. SZONDI, Über philologische Erkenntnis. In: ders., HölderlinStudien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/M. 1967, S. 9-30. Kafka schrieb 1913 an Felice Bauer, er empfinde Lasker-Schülers Dichtungen als „lästig“ und sehe darin das „wahllos zuckende Gehirn einer sich überspannenden Großstädterin“ am Werk. F. KAFKA, Briefe an Felice, hg. von Erich Heller und Jürgen Born. Frankfurt/M. 1967, S. 296. – Eine Rezeptionsforschung, die sich nicht im Sammeln

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für ein adäquates Verständnis der Liebes- und Sprachkonzeption von Mein Herz im Blick behalten werden muss: dass die Emphase affektiven Ausdrucks, in der sich der kommunikative, populäre Aspekt ihrer Dichtung artikuliert, nicht abgelöst werden kann von der Intention auf Selbstzurücknahme und Intimität, die sich an das je Besondere, Inkommensurable heftet und damit von vornherein den Mechanismen literarischer Öffentlichkeit widersteht. Diese Dialektik von Intersubjektivität und Intimität lässt sich besonders anschaulich studieren an einer Reihe von Gedichten, die Lasker-Schüler 1917 im Rahmen der Gesammelten Gedichte in den Zyklus „Gottfried Benn“ aufgenommen hat und deren gemeinsames Thema die archaische Gewalt und ihre Aufhebung im Modus poetischer Sprache ist: O, deine Hände O, deine Hände – Sind meine Kinder. Alle meine Spielsachen Liegen in ihren Gruben.

Immer spiel ich Soldaten Mit deinen Fingern, kleine Reiter, Bis sie umfallen. Wie ich sie liebe, Deine Bubenhände, die zwei. (1.1, 143)

Giselheer dem Tiger Über dein Gesicht schleichen die Dschungeln. O, wie du bist! Deine Tigeraugen sind süß geworden In der Sonne. Ich trage dich immer herum Zwischen meinen Zähnen.

einzelner Informationen erschöpfen will, müsste bei der Untersuchung von LaskerSchülers Wirkung auf Zeitgenossen derlei Aversionen wohl auch als Hinweis auf eine verleugnete Nähe zu deuten versuchen.

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Du mein Indianerbuch, Wildwest, Siouxhäuptling! Im Zwielicht schmachte ich Gebunden am Buchsbaumstamm – Ich kann nicht mehr sein Ohne das Scalpspiel. Rote Küsse malen deine Messer Auf meine Brust – Bis mein Haar an deinem Gürtel flattert! (1.1, 145 f.)

So absurd es wäre, die erstmals 1912 und 1913 publizierten Gedichte, etwa unter Verweis auf die apokalyptische Kriegseuphorie in Teilen expressionistischer Lyrik,53 unmittelbar historisch auf das Heraufdämmern des Ersten Weltkrieges zu beziehen, so offensichtlich ist doch die Relevanz der Gewaltmotivik, die im ersten Gedicht in Form eines kindlichen Kriegsspiels, im zweiten im Modus eines abenteuerlichen Indianerspiels buchstäblich aufgehoben zu sein scheint. Indem die „Hände“ des Du als „Gruben“ figurieren, in denen die „Spielsachen“ des lyrischen Ich liegen, und die „Finger“ als „Soldaten“ und „kleine Reiter“ phantasiert werden, die am Ende des Spiels „umfallen“, entwirft „O, deine Hände“ ein Kriegsszenario, das zugleich ein Szenario kindlicher Geborgenheit ist, weil das lyrische Ich die „Bubenhände“ als „meine Kinder“ ansieht, die „Spielsachen“ in den „Gruben“ nicht begraben, sondern geborgen werden, und das ‚Umfallen’ nicht den gewaltsamen Tod, sondern die erschöpfte Zufriedenheit am Ende des Spiels konnotiert. Analog werden die Gesten animalischer Gewalt in „Giselheer dem Tiger“ zu Gesten des Bergens, Behütens und Liebkosens: Wenn das Ich das Du zwischen den „Zähnen“ trägt, wird es nicht – wie in Kleists Penthesilea54 – als Raubtier mit einer ‚Liebesbeute’ im Maul imaginiert, sondern als Tigermutter, die ihre Kinder bekanntlich zwischen den Zähnen zu halten pflegt. Wenn das Ich am „Buchsbaumstamm“ gefesselt „schmachte[t]“ und nicht mehr ohne das „Scalpspiel“ sein kann, wird das Stereotyp des „Indianerbuch[s]“ von einer Gewaltphanta53

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Vgl. hierzu etwa H. KORTE, Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus. Studien zur Evolution eines literarischen Motivs. Bonn 1981. – Dass die Kriegs- und Gewaltmotivik, die in Der Malik explizit auf den Ersten Weltkrieg und den Präfaschismus bezogen wird, bei Lasker-Schüler werkgenetisch keineswegs primär in einem sozialhistorischen oder politischen Zusammenhang steht, ist bislang kaum bemerkt worden. Zum Penthesilea-Motiv an anderen Stellen in Lasker-Schülers Werk siehe I. HERMANN, Raum – Körper – Schrift, S. 135.

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sie zu einem Bild freiwilliger, als abenteuerlich genossener Ohnmacht verwandelt. Die „Küsse“, die die „Messer“ des Du auf die „Brust“ des lyrischen Ich „malen“ und die das Motiv der Tätowierung und des Körperschmucks variieren, das bei Lasker-Schüler häufig begegnet,55 werden ebenso wie das „Haar“, das in der letzten Zeile geradezu in Art eines happy end am „Gürtel“ des Du „flattert“, zur Auszeichnung, die die ‚liebende’ Verbindung von Ich und Du besiegelt und bekräftigt. Als eine solche Auszeichnung – und nicht als Metapher symbiotischer Verschmelzung – erscheint auch das Blut, das als mit dem „Messer“ gemalte „Küsse“ die Transfusion von Schmerz in Liebe im Modus poetischer Sprache, die Telos dieser Lyrik ist, veranschaulicht. Die archaische Gewalt, die in der Kriegs- und Indianermetaphorik aufscheint, wird mithin nicht ästhetisch ideologisiert oder verniedlicht. Im Gegenteil ist es der utopische Kern der Poetologie dieser Gedichte, eine Sprache zu schaffen, die auch die destruktiven kreatürlichen Triebe, wie sie in die Bilder des Kriegsspiels, des Indianerbuchs und in die Imago des Raubtiers gebannt sind, zu ihrem Recht kommen lässt, indem sie sie umwandelt in den affektiven Ausdruck von Liebe und Glück. Die liebkosende Sprache, wie sie in Lasker-Schülers früher Lyrik nur intermittierend und in unmittelbarem Rekurs auf den Sprachgestus von Kinder- und Wiegenliedern aufleuchtet,56 wird dabei im Sinne des „Tibetteppich“-Gedichts zur autonomen Sprachfigur, die ein Abenteuerspiel nicht nur darstellt, sondern durch ‚Umgarnung’ des Adressaten selbst betreibt. In diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache zu sehen, dass die Ikonographie der Gedichte sich aus Kinderbuch und Kolportage speist, die wie in Blochs Kolportage-Begriff nicht als Ansammlung verdinglichter Wunschphantasien, sondern als mit subjektiven Affekten aufgeladenes Repertoire unabgegoltener Glücksversprechen betrachtet werden. Die Aufhebung archai55

56

Siehe vor allem I. HERMANN, Raum – Körper – Schrift, S. 83 ff. – Die „Messer“ dürften an dieser Stelle überdies eine Anspielung auf die Dominanz des ‚Chirurgischen’ in Benns Morgue-Lyrik sein, deren kalter, ‚sezierender’ Blick bezeichnenderweise keinen Eingang in Lasker-Schülers Gedichte findet, die die Benn-Figur vielmehr als ‚Heide’ oder ‚Barbar’ ins Archaisch-Abenteuerliche wenden und selbst zum Gegenstand ‚erhitzter’ Phantasie machen. Die prinzipiell ‚besänftigende’ Wendung der Gewaltmetaphorik in Lasker-Schülers Lyrik ist übersehen in der lacanianischen Deutung von M. LEIPELT-TSAI, Aggression in lyrischer Dichtung. Georg Heym - Gottfried Benn – Else Lasker-Schüler. Bielefeld 2008, S. 245 ff. Interessanterweise finden sich gerade in jenen Gedichten aus Styx, die den verniedlichenden Sprachgestus von Kinderliedern adaptieren, bereits ansatzweise die Metaphern des Geflechts und des Gewebes, ohne freilich wie in der späteren Lyrik formkonstitutiv zu werden. Vgl. „Syrinxliedchen“ (KA 1.1, 38): „Jüx! Wollen uns im Schilfrohr / Mit Binsen aneinander binden“; „Meinlingchen“ (KA 1.1, 59): „Meinlingchen sieh mich an – / Dann schmeicheln tausend Lächeln mein Gesicht / Und tausend Sonnenwinde streicheln meine Seele“; „Im Anfang“ (KA 1.1, 71): „Hing an einer goldenen Lenzwolke, Als die Welt noch Kind war, / [...]/ Schaukelte, hei! / Auf dem Aetherei, / Und meine Wollhärchen flitterten ringelrei“ (Hervorhebung M.K.).

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scher Gewalt im Modus poetischer Sprache wird denn auch in Szene gesetzt als Belebung der Kolportagephantasien, als Sprengung ihrer fetischistischen Starre: Wenn das Du als „Indianerbuch“ und „Siouxhäuptling“ adressiert wird, über dessen „Gesicht“ die „Dschungeln“ schleichen und dessen „Tigeraugen“ in der Sonne „süß“ geworden, also zu Früchten gereift sind, werden die ikonographischen Clichés der Indianerkolportage zu affektiven Bildern einer süßen Gefahr, die nicht als blinde Bestätigung der eigenen Heteronomie, sondern als Intensivierung jenes spielerischen Widerstreits genossen wird, der freie Intersubjektivität erst ermöglicht und von symbiotischen Vereinigungsphantasien neutralisiert wird.57 Dies macht die Erotik aus, durch die sich diese Verse von konventioneller Liebeslyrik unterscheiden und die weit über die biographische Adressierung einzelner Personen hinaus Lasker-Schülers Widmungsgedichte auch in ihrer formalen Struktur prägt.58 Die Poetik ‚liebender’ Sprache, die Lasker-Schüler in Mein Herz zu realisieren sucht, ist nicht zuletzt zu verstehen als ‚prosaische’ Transformation dieses Liebeskonzepts, das mit gängigen Vorstellungen von Liebe als universaler Menschenverkleisterung umso weniger zu tun hat, als es nicht die Subsumption des Besonderen unters Allgemeine, sondern die Rettung des Besonderen angesichts einer Welt betreibt, die die Worte der Liebe zum Wortschaum der Innerlichkeit gerinnen lässt oder in Münzen des kommunikativen Handelns umprägt.

c) Die paradiesischen Gemeinplätze: Kitsch und Fragment Mit ihrer Poetik einer sich aus vertrautem, abgenutztem Sprach- und Bildmaterial speisenden affektiven Sprache, ohne deren Reflexion jede Rede von ihren Gedichten als ‚Liebeslyrik’ begriffslos werden muss, rückt LaskerSchüler in frappierende Nähe zu Benjamins Ästhetik des Kitsches, die im Unterschied zu allen bis heute üblichen Bestimmungen dieses Begriffs ‚Kitsch’ gerade nicht als kunstgewerblich erschlichene Originalität und Suggestion von 57

58

Vgl. die aufschlussreichen Beobachtungen von Jessica Benjamin, die in Rückgriff auf Winnicotts Theorem des Übergangsraums die „Spannung“ zwischen „Selbstbehauptung und Anerkennung“ als notwendig für die Genese gelungener Objektbeziehungen hervorhebt (J. BENJAMIN, Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt/M. 1993, S. 15 ff., hier S. 27). Im Folgenden interpretiert Benjamin Masochismus und Sadismus als Formen gewaltsamer Neutralisierung jener Spannung (S. 53 ff.). Insofern ließen sich die entsprechend konnotierten Bilder bei Lasker-Schüler als Versuch der Aufhebung destruktiver Triebbedürfnisse lesen, deren fetischistische Einseitigkeit spielerisch suspendiert werden soll. Dass das Widmungsgedicht bei Lasker-Schüler, darin eine Tendenz expressionistischer Porträtlyrik insgesamt weiterführend, vom Gebrauchsgenre zur autonomen Form wird, zeigt mit Blick auf die Benn-Gedichte H. KORTE, „Mitten in mein Herz“, besonders S. 20 ff.

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Besonderheit begreift, sondern als fragmentarisches Residuum eines richtigen Allgemeinen, das von der kanonisierten Hochkultur ebenso wie von der etablierten Massenkultur allenfalls fingiert wird. Ganz im Geiste Lasker-Schülers bestimmt Benjamin den „Traumkitsch“ als Sammelort aller zum Abhub der Erscheinungswelt degradierten romantischen Glücksversprechen: Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muss verschlafen haben. [...] Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale. Auf Nimmerwiedersehen kassiert die Technik das Aussehen der Dinge wie Banknoten, die ihre Gültigkeit verlieren sollen. Jetzt greift die Hand es noch einmal im Traum und tastet vertraute Konturen zum Abschied ab. Sie fasst die Dinge an der abgegriffensten Stelle. Das ist nicht immer die schicklichste: Kinder umfassen ein Glas nicht, sie greifen hinein. Und welche Seite kehrt das Ding den Träumen zu? Welches ist die abgegriffenste Stelle? Es ist die Seite, welche von Gewöhnung abgescheuert und mit billigen Sinnsprüchen garniert ist. Die Seite, die das Ding dem Traume zukehrt, ist der Kitsch.59

Weit eher als auf den Surrealismus, von dem Benjamin eine eigenwillige Vorstellung besaß und auf den er seine Theorie des Kitsches vor allem bezieht,60 trifft diese Ästhetik, die in ihrer Intention auf Bewahrung der „vertraute[n] Konturen“ einer dem Zerfall preisgegebenen Realität Kritik an jedem undialektischen Avantgardebegriff übt, auf Lasker-Schüler zu. Ohne diesen Prozess in gleicher Schärfe analysiert zu haben, teilt Lasker-Schüler mit Kraus und Benjamin das Bewusstsein um die täglich statthabende Depravierung poetischer Sprachfiguren zu „Banknoten“, die so lange „abgescheuert“ werden, bis eine zur Karikatur gewordene literarische Öffentlichkeit sie als ungültig „kassiert“. Wenn Lasker-Schülers Werk sich in weiten Teilen wie ein „Reservoir des von den Moderne verdrängten Wortbestandes“ ausnimmt,61 lässt sich dies weder durch die romantische Vorstellung einer ursprünglichen ‚Sprachmagie’ 59 60

61

W. BENJAMIN, Traumkitsch, S. 620. Benjamins Kitschtheorie wird denn auch gerade von der an Benjamin orientierten Surrealismus-Forschung meist übergangen. Vgl. P. BÜRGER, Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Frankfurt/M. 1996, besonders S. 107 ff. – Die materialreichste Darstellung von Benjamins Kitschbegriff, die diesen mit Recht in den Zusammenhang von Benjamins geplantem Dokumentarwerk zur Phantasie rückt, bietet H. BRÜGGEMANN, Walter Benjamin, besonders S. 24 ff. M. NINGEL (=FESSMANN), Die Unzulänglichkeit des Eigenen. Zur Logik von Else Lasker-Schülers Umgang mit Sprache. In: J. C. SCHÜTZE / H.-U. TREICHEL / D. VOSS (Hgg.), Die Fremdheit der Sprache. Studien zur Literatur der Moderne. Hamburg 1988, S. 103-116, hier S. 105. – Leider hat Feßmann diesen Aspekt, den ihr früher Aufsatz nur streift, in ihrer Dissertation nicht weiterverfolgt.

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noch durch poststrukturalistische Konzepte einer sich totalisierendem Zugriff entziehenden ‚minoritären’ Sprache erklären,62 sondern nur aus dem Impuls, den ‚vertrauten Konturen’ des poetischen Sprachbestands „zum Abschied“, also im Bewusstsein ihrer Zerrüttung, noch einmal jenen subjektiven, inkommensurablen Affekt abzugewinnen, den Benjamin mit den Bildern der ‚träumerischen’ Hand und des ‚kindlichen’ Griffs umschreibt. Zwischen dem von Benjamin verabschiedeten Traum von der „blauen Blume“ als Versprechen einer ungetrübten „blaue[n] Ferne“, den Bloch im Geist der Utopie weiterzuträumen scheint,63 und Lasker-Schülers an Franz Marc angelehnter Erhöhung des Blaus zur poetischen Farbe liegt jene Erfahrung des Grauwerdens aller Träume, deren Wahrheitsgehalt nunmehr dem Kitsch als der „Staubschicht auf den Dingen“ abzuringen ist. Insofern ist Lasker-Schülers Poetik von ‚Sonne, Mond und Sternen’ die vielleicht radikalste Antwort auf die Frage, was es bedeutet, wenn Dichtung den Träumen als „Richtweg ins Banale“ zu folgen hat. Wie Kitsch und Tand in ihrem Werk nie als Suggestion unmittelbarer Präsenz von Versöhnung, sondern als Fragmente und Fundstücke figurieren – als „Dinge“ eben, in denen das ‚Paradies’ als zerstörtes aufscheint –, so werden doch auch umgekehrt die ‚abgegriffenen’ Dinge zum Kristallisationspunkt jenes Versöhnungsversprechens, das in der Hoch- und Massenkultur nur noch als Lüge überlebt. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb der Essay „Unser Gärtchen“ den Garten, an den sich Lasker-Schülers Familienphantasien heften, sowohl als Garten Eden beschreibt, in dem sie mit ihrem siebenjährigen „Kavalier“ wie Eva mit Adam „verbotene Früchte“ pflückt, ohne freilich

62

63

Als Versuch der Realisierung ‚minoritärer‘ Dimensionen der Sprache wird LaskerSchülers Dramatik gedeutet bei S. HENKE, Fehl am Platz, die daraus teilweise sehr plausible gattungsästhetische Schlussfolgerungen zieht (besonders S. 11 ff.), ohne dass der Begriff des ‚Kleinen’, den Deleuze / Guattari an Kafkas Prosa entwickeln, den Status der Rekurse auf Kindheit und Kolportage bei Lasker-Schüler genauer bestimmen würde. – Beispielhaft für die ‚mythische’ Deutung von Lasker-Schülers Lyrik, die die Einfachheit des Wortbestandes als Rückgriff auf sprachliche Ursprünge und die zweizeiligen Strophen als Nachkonstruktion von ‚Atemeinheiten’ begreift, ist K. WEISSENBERGER, Zwischen Stein und Stern. Vgl. besonders den Schluss der Einleitung: „In uns allein brennt noch dieses Licht, und der phantastische Zug zu ihm beginnt, der Zug zur Deutung des Wachtraums, zur Handhabung des utopisch prinzipiellen Begriffs. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die metaphysisch konstitutiven Wege, rufen was nicht ist, bauen ins Blaue hinein, bauen uns ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche, wo das bloß Tatsächliche verschwindet“ (E. BLOCH, WA 3: Geist der Utopie. Zweite Fassung, S. 13; Hervorhebung M.K.). – Blochs spätere Hypostasierung des „Wachtraums“ und seine realsozialistische Spielart des romantischen Antikapitalismus sind in diesem Marschbefehl schon präludiert.

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durch einen Sündenfall bestraft zu werden (4.1, 90), wie auch als Nippesinventar imaginiert: Als mein Vater noch die Wege mit glitzerndem Kies schmücken ließ, dessen Kristall wir beide von der Laube aus bewunderten, da wurde ich mir des kleinen Gartens noch gar nicht recht bewusst. Eigentlich war es ja ein lebendiger Spielladen mit grünerlei Bäumen und blühendbehangenen Sträuchern, die die vielen bunten Blumen, die Primeln, die Vergissmeinnicht, samtenen Stiefmütterchen und Astern und Georginen beschatteten. Heute möchte ich nur den ganzen kleinen Garten in ein Glas auf meinen Tisch stellen. (4.1, 89)

Der Garten, der durch sein „Vergissmeinnicht“, seine „Stiefmütterchen“ und „Astern“ selbst bereits von der melancholischen Signatur verlorenen Glücks „beschattet“ wird, war der kindlichen Wahrnehmung „gar nicht recht bewusst“ und vermag es erst zu werden, wenn er „in ein Glas auf meinen Tisch“ passt, sich zum Tand verwandelt, der fragmentarisch bewahrt, was in seiner Totalität nie erfahren werden konnte. Als utopische Miniatur wird das Gärtchen gleichsam selbst zum „Vergissmeinnicht“, zum Andenken, das wie die Napoleonsammlung oder das Rosenholzkästchen der Mama an ein Glück erinnert, das nie Realität war und dennoch affektiven Wirklichkeitswert besitzt. Im Sinne einer solchen affektiven Wirklichkeit, die stets nur fragmentarisch aufleuchtet und an den unvergleichbaren Blick des je Einzelnen gebunden bleibt, wird die Paradiesmetapher noch in dem Text „Paradiese“ von 1928 verwendet, wenn es heißt: Ueberall hängt noch ein Fetzen Paradies. Gehst du auch daran vorüber – nur einige erkennen wieder das schimmernd erhaltene Beet erster Heimat. [...] Früher zogen wir manchmal zusammen durch den Wald. Einmal brach einer von uns jäh zusammen mit dem Ausruf: „Hier war ich ja schon einmal vor dem Leben!!“ (4.1, 158)

Wie im déjà vu konvergieren im „Fetzen Paradies“, der an eine Zeit „vor dem Leben“ erinnert, subjektive Einbildungskraft und lebendige Erfahrung in einem Bild, das real und imaginär zugleich ist. Das Motiv des Fragments und der Miniatur, wie es auch im ‚Fetzen’ von Napoleons Kanapee begegnet, verweist wie das an edle Smaragde gemahnende „Kristall“ des Kieses auf jene Dimension abgenutzter Gegenstände und Worte, die Bloch etwas kryptisch „utopischer Bildrest“ nennt:64 Gemeint sind alle affektiven Qualitäten, die nicht im Akt der „Erzeugung“ und „Konstruktion“ aufgehen, deshalb aber nicht etwa unwirklich sind, sondern Wirklichkeitserfahrung erst ermöglichen, weil die empirische Realität sich ohne sie im „Stückwerk“, in einem Neben64

E. BLOCH, WA 5: Das Prinzip Hoffnung I, S. 204 ff.

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einander bloßer „Zweckursachen“ erschöpfte.65 Die Ästhetik des Kitsches bei Lasker-Schüler, die in der Nippesglaskugel den Garten Eden und im Tand ein ‚Fetzen Paradies’ erkennt, folgt keiner Privatmystik, sondern ist ein Versuch der affektiven Wiederaneignung von Wirklichkeit, die die abgegriffenen Bilder und Worte vom Zwang befreien will, als Bezeichnung bloßer ‚Tatsachen’ zum Agens universalen Tauschs erniedrigt zu sein. Nicht zufällig sagt Bachelard in seiner Phänomenologie der Phantasie, die eine differenzierte Taxonomie des Tands (Nest, Muschel, Miniatur usw.) entwirft, in Polemik gegen Empirismus und Positivismus, dass die „Werte“ die „Tatsachen“ verändern: „Sobald man ein Bild liebt, kann es nicht mehr die Abschrift einer Tatsache sein.“66 Auf eine solche Rückverwandlung der ‚Tatsachen’ in ‚Werte’ zielt auch Lasker-Schülers Begriff von Liebe, der mit einem Sprachverständnis korrespondiert, das die alten Worte und Bilder (‚Sonne’, ‚Mond’ und ‚Stern’) letztlich selbst als Dinge ansieht, die die unverwechselbare Signatur poetischer Subjektivität tragen, eben deshalb aber nicht als ‚Eigentum’ bloßes Korrelat der Warenform sind, sondern ein eigenes Leben zwischen den Subjekten führen, die sie immer aufs Neue verwandeln. Diese Analogie von poetischen Worten und Kitschobjekten verbietet jede Reduktion von Lasker-Schülers Poetik auf ein ‚sprachmagisches’ Konzept. Nicht einfach um Magie geht es, sondern um Mimesis,67 welche die magischen Residuen menschlicher Sprache im Toten, Versehrten und Abgespaltenen als bewahrt erkennt. Darin konvergiert Lasker-Schülers Emphase von Trivialität und Affektivität mit der scheinbar so konträren Ästhetik Adornos, deren ‚Negativität’ den bis heute einzigen integren Versuch darstellt, im Stande vollendeter Unwahrheit, wie die historische Erfahrung von Auschwitz sie markiert, zu bewahren, was bei Lasker-Schüler vielleicht zum letzten Mal als positive Möglichkeit von Kunst avisiert wird: In den Kunstwerken ist der Geist nicht länger der alte Feind der Natur. Er sänftigt sich zum Versöhnenden. Nicht bedeutet sie nach klassizistischem Konzept Versöhnung: diese ist ihre eigene Verhaltensweise, die des Nichtidentischen innewird. Der Geist identifiziert es nicht: er identifiziert sich damit.68

Als eine in diesem Sinne versöhnende (nicht versöhnliche) Sprache, die Natur weder unmittelbar ist noch sein will, ihr sich aber im Modus lyrischer Rede 65 66 67

68

Ebd., S. 218. G. BACHELARD, Poetik des Raumes, S. 113. In dieser Reinterpretation ‚sprachmagischer’ Konzepte im Sinne einer mimetischen, kreatürlichen Sprache trifft sich Lasker-Schüler mit den Überlegungen von W. BENJAMIN, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: ders., GS II.1, S. 140-157. T. W. ADORNO, GS 7: Ästhetische Theorie, S. 202.

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anzuverwandeln sucht, indem sie die ‚alten’ Worte dem universalen Tausch entzieht, um sie subjektiver Erfahrung zugänglich zu machen, hat Kraus Lasker-Schülers ‚Expressionismus’ bestimmt.69 Der ‚sänftigende’ Gestus, den Adorno ästhetischer Mimesis zuschreibt, hat seine Entsprechung in jenen Bildern von Lasker-Schülers Lyrik, die Dichtung als Verwandlung destruktiver Triebimpulse in eine Sprache der Gewaltlosigkeit vorstellen. Zugleich steht Lasker-Schülers Poetik mit ihrer Emphase von Kitsch und Tand jenseits jener „Schwelle zur Moderne“, die Adorno durch die Erfahrung gekennzeichnet sieht, dass Kunstwerke „töten, was sie objektivieren, indem sie es der Unmittelbarkeit seines Lebens entreißen“: „Ihre Gebilde überlassen sich mimetisch der Verdinglichung, ihrem Todesprinzip. Ihm zu entfliehen, ist das illusorische Moment an der Kunst, das sie, seit Baudelaire, abzuwerfen trachtet, ohne doch resignativ Dinge unter Dingen zu werden.“70 Als „Dinge unter Dingen“ sind Kitsch und Nippes die ‚Fetzen’ eines gebrochenen Glücksversprechens, die das „illusorische Moment an der Kunst“ als illusorisches bewahren. Während Adornos Ästhetik, historisch konsequent, auf eine Kunst zielt, die dem Wahrheitsgehalt ästhetischen Scheins nur noch durch bestimmte Negation gerecht werden kann, versucht Lasker-Schülers Werk, das „illusorische Moment“ nicht in dessen eigenem Namen „abzuwerfen“, sondern es ins Recht zu setzen, indem der Tand in jene Fülle des Lebendigen verwandelt wird, die er verspricht. Dass dieser idolatorische Impuls Adorno nicht fremd war, zeigt sich, wenn es in den „Meditationen zur Metaphysik“ unter dem fast schon Bloch’schen Titel „Glück und vergebliches Warten“ heißt: Was metaphysische Erfahrung sei, wird, wer es verschmäht, diese auf angebliche religiöse Urerlebnisse abzuziehen, am ehesten wie Proust sich vergegenwärtigen, an dem Glück etwa, das Namen von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reuenthal, Monbrunn. Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als ob es wäre. Ist man wirklich dort, so weicht das Versprochene zurück wie der Regenbogen. Dennoch ist man nicht enttäuscht; eher fühlt man, nun wäre man zu nahe, und darum sähe man es nicht. Dabei ist der Unterschied zwischen Landschaften und Gegenden, welche über die Bilderwelt einer Kindheit entscheiden, vermutlich gar nicht so groß. Was Proust 69

70

Der intime, aufs je Besondere zielende Impetus trennt Lasker-Schülers Lyrik vom Gros expressionistischer Dichtung, die eher in Abstrakta statt in affektiven, mit subjektiver Phantasie aufgeladenen Bildern spricht. In der Menschheitsdämmerung heißt es bezeichnenderweise über Lasker-Schüler: „Else Lasker-Schüler lässt als erste den Menschen ganz Herz sein – und dehnt dennoch dies Herz bis zu den Sternen und allen Buntheiten des Ostens“. K. PINTHUS (Hg.), Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Hamburg 1955, S. 25. – Kraus’ Lob von Lasker-Schülers ‚Expressionismus’ richtet sich wohl auch gegen solche Vereinnahmungen. T. W. ADORNO, GS 7: Ästhetische Theorie, S. 201.

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an Illiers aufging, wird ähnlich vielen Kindern [...] an anderen Orten zuteil. Aber damit dies Allgemeine, das Authentische an Prousts Darstellung, sich bildet, muss man hingerissen sein an dem einen Ort, ohne aufs Allgemeine zu schielen. [...] Einzig angesichts des absolut, unauflöslich Individuierten ist darauf zu hoffen, dass es genau dies schon gegeben habe und geben werde71.

Eben weil sie nicht ‚aufs Allgemeine schielt’, kann Lasker-Schülers Dichtung ohne mythenkritische Vorbehalte die Gemeinplätze aufsuchen, die als affektive Orte dem falschen Allgemeinen inkommensurabel sind. Solche Orte sind das paradiesische Gärtchen, das Kinder- und Indianerbuch, aber auch die „Arbeiterstadt mit den tausenden Schornsteinen über dem Wuppertal und den Rheinlanden“: Einsam wandle ich nun durch die engen berückenden Straßen, [...] plötzlich steht eine hohe Treppe vor einem, angelangt steht man in einem Garten voller Veilchen und die wunderbaren lilanen Schaumkrautwiesen! In meinem Heimathause wohnen nun viele Parteien, doch wenn sich das Abendrot, Rubinen des Himmels, in seine Fenster spiegelt, ist es mir, der Engel Gabriel bewache es ganz allein. Ja, das tröstet mich! Ich lege auf das Grab meiner Mutter ihre Lieblingsblume, das waren Reseden, bringe meinem Vater Veilchen und unter der gebrochenen Säule schläft der jüngste meiner Brüder, ein Heiliger, schön wie Apollon – er starb reinen Herzens. In der Nähe meiner Eltern liegt meine Freundin Hanni begraben. Ich erbte ihre Puppe: Ingeborg. Die hatte blaue Augen wie sie und ein Kettchen um den Hals wie sie. Wenn das große Tor des alten Judenfriedhofs sich hinter mir schließt, ist wieder ein Tag vergangen. Späte Sonne geleitet mich sorgsam die vielen Stufen herab bis an das Innere der lebhaften Stadt Elberfeld. („Kindheit im Wuppertal“; 4.1, 97 f.)

Hier, acht Jahre vor ihrer Emigration, gibt Lasker-Schüler mit Hinweis auf den „alten Judenfriedhof“ bereits unmissverständlich an, in welchem Kontext ihre Emphase von Kitsch und Trivialität zu sehen ist. Angesichts einer Welt, in der es erwähnenswert, also nicht selbstverständlich ist, wenn jemand „reinen Herzens“ stirbt, muss Dichtung das illusionäre Moment aller Einbildungskraft gegen eine Wirklichkeit verteidigen, die es als illusorisch denunziert. Gegen diese Beerdingung der Phantasie protestiert Lasker-Schülers Sentimentalität, die ohne Unbedarftheit oder Ironie behaupten kann, der „Engel Gabriel“ bewache ihr „Heimathaus“ und ihr Bruder sei „ein Heiliger“ gewesen. Die Sentimentalität, die den „Garten“ der Kindheit „plötzlich“ inmitten einer Realität wiedererkennt, aus der seine empirischen Spuren getilgt wurden, pflegt ein im Wortsinn beschönigendes Eingedenken, das in der „Puppe“ 71

T. W. ADORNO, GS 6: Negative Dialektik, S. 366.

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die Freundin und im toten Bruder „Apollon“ erblickt. Diese Intention auf Schönheit, die mehr wäre als Verschönerung der Fassade, wäre missverstanden, würde sie als Rückkehr zu den archaischen Wurzeln der Poesie gedeutet. Dass die scheinbar verniedlichenden oder sentimentalen Züge ihres Werks nicht als ästhetische Regressionen zu verstehen sind, sondern sich gerade auch aus spezifisch urbanen Erfahrungen von Dispersion und ‚Zerstreuung’ speisen, lässt sich an Mein Herz studieren, worin Lasker-Schüler den alten Gassenhauer von der Frage, wie man in der Großstadt seine Liebe finden könne, in singulärer Weise umzudichten sucht.

2. Kunst als Geschenk: Fragmente einer Sprache der Liebe a) Mein Herz I: Urbanität – Maskerade – Koketterie (Serner, Simmel) Während die Naturalisten die Großstadt bevorzugt als Moloch des Milieuzwangs und die Expressionisten sie als Hort destruktiver Triebe in Szene setzten, wurde sie unter dem abgebrühten Blick der Neuen Sachlichkeit zum Modell von ernüchternder Selbstdisziplinierung und adjustment. Ihre erotische Dämonie und moralische Bodenlosigkeit, in denen sich wie immer auch verzerrt noch das Glücksversprechen vom Selbstverlust im Großstadtdschungel spiegelte, wurden gründlich entzaubert, und der Großstadtdichter wurde vom Abenteurer oder Flaneur zum professionellen Asphaltliteraten.72 Auch die urbane Liebe entriet ihren abgründigen Konnotationen und erschien zunehmend als bloßes Medium für die experimentellen Selbstentwürfe von role mo72

Aus der längst unüberschaubaren Literatur zur Großstadt seien einige Arbeiten genannt, die sich ausführlicher mit Berlin sowie mit den epochenspezifischen Besonderheiten des Sujets auseinandersetzen: S. VIETTA, Großstadtwahrnehmung und ihre literarische Darstellung. In: DVjS 48 (1974), S. 354-373; C. MECKSEPER / E. SCHRAUT (Hgg.), Die Stadt in der Literatur. Göttingen 1983; E. GILLEN (Hg.), Die Metropole. Industriekultur im 20. Jahrhundert. München 1986; H. KÄHLER, Berlin – Asphalt und Licht. Die große Stadt in der Literatur der Weimarer Republik. Berlin 1986; V. KLOTZ, Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin. Reinbek 1987; K. R. SCHERPE (Hg.), Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Reinbek 1988; H. BRÜGGEMANN, Das andere Fenster. Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform. Frankfurt/M. 1989; C. FORDERER, Die Großstadt im Roman. Berliner Großstadtdarstellungen zwischen Naturalismus und Moderne. Wiesbaden 1992; P. SPRENGEL / G. STREIM, Berliner und Wiener Moderne, besonders S. 215 ff. – Lasker-Schülers Werk, insbesondere Mein Herz, ist im Zusammenhang der Thematik bisher nicht untersucht worden.

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dels, denen die Identitätskrise zum zweiten Ich und der zuvor noch angeprangerte Konformitätsdruck zur Selbstverständlichkeit geworden war. Dass auch diese ‚kalte’ Liebesvorstellung, die intime Gefühle nur noch als Effekt kalkulierter Strategien kennt und sich eben deshalb im Netz der Rollenzwänge mitunter recht kuschelig einzunisten weiß,73 ihre Abgründe hat, bringt vielleicht am deutlichsten Walter Serner in seiner 1921 geschriebenen Erzählung Die Tigerin zum Ausdruck, die im Untertitel „Eine absonderliche Liebesgeschichte“ heißt.74 Anders als Mein Herz spielt sie nicht in der Berliner Künstler-, sondern in der Pariser Gaunerbohème, ähnlich wie in Mein Herz aber wird ‚Liebe’ auch hier als etwas begriffen, das sich nicht ereignet, sondern ‚gemacht’ werden muss.75 Die Protagonisten, die Prostituierte Bichette und der Ganove Fec, verkörpern eine soziale Randexistenz, in der Sein und Schein, Gesicht und Maske konvergieren, entziehen sich aber den bürgerlichen Maximen von Konkurrenz und Profitmaximierung: Bichette lässt sich für ihre Dienste beschenken, jedoch nicht bezahlen; Fec ist kein Dieb, sondern Hochstapler. Beider Strategie besteht weniger in Hinterlist als in Verführung, in einer Verabsolutierung des Scheins, mit der die Sozialfassade ihres Daseins überboten, verdoppelt und vermeintlich suspendiert wird. Konsequent verstehen beide ihren Liebespakt als Aufforderung zum Duell in Scheinproduktion: „[...] Hör, Bichette, ich liebe auch dich nicht. Ich habe nie, nie, nie in meinem ganzen Leben jemanden wirklich geliebt. Warum? [...] [W]eil ich sonst ein entsetzliches Rhinozeros gewesen wäre... Aber du hast recht, Bichette, auch ich halte es einfach nicht mehr so aus. Es muss etwas geschehen. Es muss etwas gemacht werden... Eh ben, Bichette, ich weiß, was zuerst geschehen muss [...]. Errätst du es? Ja, wir werden uns machen. [...] Hör, Bichette, wir müssen uns – 73

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75

Das Biedere der Neuen Sachlichkeit, das aus der Schnodderigkeit resultiert, mit der die neusachliche Literatur und ihre fiktiven Protagonisten sich den Zwang zu Selbstpanzerung und Maskerade zu eigen machen, wird explizit zum Thema gemacht in den Romanen Irmgard Keuns, deren mädchenhafte Heldinnen durch eine Art abgefeimte Naivität charakterisiert sind, mit deren Hilfe sie die desperaten Situationen, in die ihre ‚Unschuld’ sie geraten lässt, professionell bewältigen. Naivität und Konformismus werden so ununterscheidbar. Siehe hierzu U. HELDUSER, Sachlich, seicht, sentimental. Gefühlsdiskurs und Populärkultur in Irmgard Keuns Romanen Gilgi, eine von uns und Das kunstseidene Mädchen. In: S. AREND / A. MARTIN (Hgg.), Irmgard Keun 1905 / 2005. Bielefeld 2005, S. 13-27. Im Folgenden wird mit bloßen Seitenzahlen in Klammern zitiert aus W. SERNER, Das Gesamte Werk, hg. von Thomas Milch. Bd. 3: Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte. München 1980. Wichtige Anregungen, auch abweichender Art, verdanke ich H. R. BRITTNACHER, Betrug auf hohen Touren. Walter Serners Poetik sozialer Mobilität. In: Unterwegs, S. 71-88, besonders S. 81 ff. Siehe außerdem S. KYORA, Liebe machen oder Der Autor als Liebhaber. In: A. PUFF-TROJAN / W. SCHMIDT-DENGLER (Hgg.), Der Pfiff aufs Ganze. Studien zu Walter Serner. Wien 1998, S. 64-74.

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lieben! Das muss – gemacht werden. Das ist ganz außerordentlich einfach, wenn man so genau und sicher weiß wie wir, dass es durchaus unmöglich ist, einander zu lieben...“ (23)

Gerade weil man „sicher weiß“, dass es „unmöglich ist, einander zu lieben“, und weil man sich zum „Rhinozeros“ machen würde, sobald man diesem Gefühl erläge, ist es Fecs Worten zufolge ganz „einfach“, ‚Liebe’ zu „machen“ und dadurch sich selbst zu „machen“. Die im Text vielfach begegnende Rede vom Zwang, ‚sich’ zu ‚machen’, in der die Floskel vom ‚gemachten Mann’ entstellt weiterlebt, reflektiert einen Zustand, der Subjekte nur noch als leere Hüllen kennt, die ihr von multiplen Rollenzwängen zerriebenes Kernselbst durch Maskeraden zu substituieren suchen, die bei aller Variation doch keine emphatische Ich-Bildung ermöglichen – diesen Zustand, der verlangt, dass dauernd „etwas gemacht“ wird, ohne dass etwas geschieht, nennt die Erzählung „leer laufen“.76 Wenn die Protagonisten von der Angst sprechen, ‚leer zu laufen’, ist damit zweierlei gesagt: Einerseits wird das Bild eines Subjekts gezeichnet, dessen ‚Innerstes’ nach außen fließt, bis die Person ‚entleert’, zur Persona geworden ist; andererseits wird die Vorstellung einer rasanten, aber auf der Stelle tretenden Bewegung suggeriert. Die Sehnsucht, das ‚LiebeMachen’ möge verhindern, dass die Personen ‚leer laufen’, zitiert zwar das Stereotyp von der romantischen Liebe als ‚Erfüllung’, versetzt es aber in den anti-romantischen Kontext einer Kalkulierbarkeit der Affekte, in dem Liebe ganz im Sinne von Niklas Luhmann nicht als „Gefühl“, sondern als „Kommunikationscode“ aufgefasst wird, „nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird“.77 Als Code mit eigenen „Regeln“ besitzt Liebe eine Syntax und Grammatik, die man nur souverän beherrschen muss, um das Spiel der Simulationen mitzuspielen und gegen die Abgründe romantischer Leidenschaft gefeit zu sein. Das ‚Liebe-Machen’ verliert dadurch auch seine schlüpfrige Konnotation als Übersetzung des französischen faire l’ amour und erscheint als bloße Aufgabe des Selbstmanagements. Mit der Angst, ‚leer zu laufen’, wird bei Serner freilich auch die Hohlheit und Selbstentfremdung der Subjekte ausgesprochen, deren Habitus bei Luhmann zum Paradigma moderner Sozialisation überhaupt mutiert. Die romantische Sehnsucht wird bei Serner ersetzt durch Torschlusspanik: Nicht weil sie sich ins Unendliche sehnen, sondern weil sie es „einfach nicht mehr so aus[halten]“, schließen Bichette und Fec ihren Pakt. Dieser begründet kein 76

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Vgl. etwa Äußerungen wie diese: „’Ich liebe dich nicht.’ Bichettes Lippen höhnten. ‚Ich dich auch nicht… Aber ich kann nicht mehr – leer laufen.’“ (17) N. LUHMANN, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M. 1982, S. 23.

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erotisches Ritual, sondern stellt sich dar als Wettkampf in Selbstabhärtung, bei dem der verliert, dessen Affekthaushalt zuerst der Authentizität erliegt. Im Folgenden spinnt der Text ein ganzes Knäuel ‚echter’ und ‚inszenierter’ Absichten und Gefühle, das in einem Finale, welches das dénouement klassischer Kriminalstories parodiert, durch nachträgliche „Beweise“ und „HinterherMotivationen“, die „Zufall“ und „Absicht“ ununterscheidbar vermischen (112 f.), heillos verknotet wird. Damit nimmt die Erzählung das Diktum des Halbweltmodels Gaby beim Wort, die Fec vorwirft: „Du machst nichts aus dir. Man wird doch nicht für das gehalten, was man ist. Sondern nur für das, was man den Leuten vormacht. Und auch das, was man wirklich ist, muss man den Leuten vormachen. Wie sollen sie denn sonst wissen, wofür sie einen zu halten haben, hé?“ (14) Was unter dem Label ‚Performanz’ inzwischen als ernsthafte anthropologische Diagnose daherkommt, wird bei Serner als Symptom universaler Selbstverdinglichung zum Gegenstand einer Farce. Wenn „Liebe“ als „Interpenetration“, wie Luhmann das nennt, „zu beachten [hat], dass sie als Handlung des einen Systems zugleich Erleben des anderen ist“ und „in die Erlebniswelt eines anderen eingefügt und aus ihr heraus reproduziert“ wird,78 muss jede ‚liebende’ Handlung mit buchhalterischer Akkuratesse der verschiedenen Deutungsmöglichkeiten gewärtig sein, die im Affekthaushalt des geliebten „Systems“ ausgelöst werden könnten. Solch handlungstheoretische Selbstentmenschung wird bei Serner ad absurdum geführt, wenn Fec triumphiert: „[M]eine süßen schönen Worte waren gespielt. So dass ich mir den überaus vergnüglichen Schluss gestatten darf, du bist in deinen jüngsten Liebesexzess hineingeraten, weil ich die Stimmung dazu machte. Machte. Wenn aber die Voraussetzungen gemacht sind, ist auch der Exzess gemacht. Wir haben einander wirklich alles gemacht. Einer die Stimmungen und Exzesse des andern. Wir haben uns gemacht.“ (129)

Dieser Versuch, das Wirrwarr der „Exzesse“, in das sich die Figuren gerade deshalb verstrickt haben, weil sie Liebe nur als ‚Code’ gelten lassen wollen, in einem Akt hypertropher Selbstermächtigung doch noch als ‚Gemachtes’ und nicht als unverfügbares Geschehen zu deuten, bleibt abgründig, weil es keine Instanz gibt, die entscheiden lässt, ob es sich nicht nur um eine weitere ‚Hinterher-Motivation’, einen weiteren Schachzug im Spiel von Verführung und Selbstimmunisierung handelt. Während die Feststellung, es gebe „keinen Grund für Liebe“, weil diese auf der „Einheit des Codes“ beruhe, der sich als „Einheit der Differenz“ darstelle,79 bei Luhmann als beruhigender Hinweis auf die ‚Machbarkeit’ und Handhabbarkeit von Liebe gemeint ist, erweist sich das 78 79

N. LUHMANN, Liebe als Passion, S. 219. N. LUHMANN, Liebe als Passion, S. 222.

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Bewusstsein um die ‚Gemachtheit’ der Affekte, um ihren Codecharakter, bei Serner als bedrohlich für die Subjekte, die sich nun nicht mehr im Exzess der Affekte, sondern im Exzess der Codes verlieren. Lasker-Schülers „Liebesroman“ Mein Herz, zehn Jahre vor Serners Text entstanden, der durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs von ihm getrennt ist, teilt mit Serners Erzählung das urbane Halbweltmilieu, das Motiv des Liebespakts sowie das Beharren auf der Unhintergehbarkeit von Maskerade, Spiel und Verführung, schlägt jedoch aus dem Konzept des ‚Liebe-Machens’ einen utopischen Funken, der in der zynischen Sachlichkeit Serners wie in der biederen Sachlichkeit Luhmanns erloschen ist. Das urbane Milieu, das bei Serner in parodistischer Überdrehung neusachlicher Theoreme zur Folie eines Experiments in konzessionsloser ‚Außensteuerung’ und emotionaler Selbstpanzerung wird,80 gibt bei Lasker-Schüler umgekehrt die Voraussetzung ab für die Wiedergewinnung poetischer Subjektivität aus dem Geist urbaner Zerstreuung. Während der Liebespakt bei Serner in all seinem Raffinement immer im Bann der Furcht steht, zu viel von sich preiszugeben, sich an den anderen auszuliefern und manipulierbar zu werden, zielt der Liebespakt bei Lasker-Schüler auf einen Zustand, in dem niemand mehr den anderen betrügen muss und Selbstpreisgabe nicht bestraft wird. Während Maskerade und Verführung bei Serner im Dienst einer universal gewordenen (Selbst)Täuschung stehen, mit der die Figuren einander überbieten, um zu überleben, soll die soziale Rollenkonkurrenz bei Lasker-Schüler suspendiert werden, um hinter der zum Gesicht gewordenen Charaktermaske das authentische Antlitz des Subjekts hervortreten zu lassen. Lasker-Schülers Spielart des ‚LiebeMachens’ ist denn auch die Verliebtheit, die gegenüber der Liebe aufgewertet wird. Diese Emphase der Verliebtheit ist keineswegs einseitig zu verstehen als Einspruch gegen das Exklusivitäts- und Authentizitätspathos des bürgerlichen Liebesbegriffs,81 sondern der Versuch einer Ver-liebung der Wirklichkeit, die die entfremdeten und ‚kalten’ Aspekte urbaner Realität zum Gegenstand affektiver Phantasie werden lässt. Die Großstadt ist bei Lasker-Schüler weder dämonischer Abgrund noch Medium für behavioristisches Verhaltenstraining, sondern Spielladen im skizzierten Sinne: Ihr Überangebot an Waren und Zer80

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Zur „Psychologie des Außen“ als anthropologische Grundlage der Neuen Sachlichkeit siehe H. LETHEN, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/M. 1994, besonders S. 50 ff. Der Begriff des ‚außengelenkten’ Charakters stammt bekanntlich von D. RIESMAN, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Darmstadt, Neuwied 1956, besonders S. 48 ff. – Riesman betrachtet den US-Amerikaner unter Berufung auf die Diagnosen Tocquevilles als Prototyp der ‚Außenlenkung’ und analysiert bereits die stärkere ‚Codebezogenheit’ des ‚außengelenken’ Liebesverhaltens (S. 232 ff.). Siehe hierzu meinen Aufsatz: Liebesspiele, S. 82 ff. – Die folgenden Überlegungen sind ein Versuch, die damalige Lektüre, die Lasker-Schülers Ästhetik wohl zu eng an traditionelle Formen von Travestie und Diskurskritik bindet, zu überdenken.

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streuungsmöglichkeiten, das die zeitgenössische Kulturkritik als faulen Zauber zu diffamieren pflegte und dessen utopische Potentiale seit der Jahrhundertwende erst allmählich von der noch jungen Kultursoziologie erschlossen wurden,82 figuriert bei ihr als Vorschein einer Welt, in der jeder sein Glück machen kann, sofern die Herausforderung, die das urbane Leben darstellt, wie der Einsatz in einem Spiel angenommen wird. Dass die Subjekte auch das, was sie ‚wirklich’ sind, den anderen ‚vormachen’ müssen und die ‚süßen schönen Worte’ der Liebe allesamt gespielt sind, ist bei Lasker-Schüler, anders als bei Serner, nicht bloßer Reflex des urbanen Imperativs zur Selbsternüchterung, sondern positives Konstituens einer Erfahrung von Liebe, die das Selbstgefühl der Subjekte und ihre affektiven Fähigkeiten steigern soll. Damit ist Mein Herz der womöglich letzte Versuch, den urbanen Erfahrungsverlust und die als Entfremdung wahrgenommene Ich-Dissoziation des großstädtischen Subjekts, die von den „Verhaltenslehren“ der Neuen Sachlichkeit durch ein „Gehäuse externer Direktiven“ kontrollierbar gemacht und neutralisiert werden,83 als Möglichkeit freier Subjektwerdung und Intensivierung menschlicher Glückserfahrung zu bejahen. Diese Implikationen des Liebeskonzepts lassen sich am Motiv des Rollenspiels und der Maskerade verfolgen, wie sie sich im urbanen Gestus der Koketterie verbinden, die sich als ‚erfüllte’ Verführung von den Exklusivitätsansprüchen bürgerlicher Liebesvorstellungen ebenso emanzipiert hat wie vom manipulativen Element des Rollenbegriffs, auf das die Verführung von einer Ästhetik der Oberfläche und des verantwortungslosen Donjuanismus gewöhnlich reduziert wird. Dass die Erfahrung urbaner ‚Sachlichkeit’ für das Liebeskonzept von Mein Herz jenseits epochengeschichtlicher Klassifizierungen Bedeutung hat, wird schon daran evident, dass ausgerechnet der „Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen“ in seiner ersten Ausgabe von 1912 die Wid-

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Wie in den USA, steht auch in Deutschland die Entwicklung der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin in direktem Zusammenhang mit der Reflexion urbaner Lebensformen und Erfahrungen. Vgl. hierzu K. LICHTBLAU, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt/M. 1996; siehe außerdem den interessanten Vergleich zwischen der Geburt der deutschen und US-amerikanischen Soziologie aus dem Geist der Großstadt bei W. POHRT, Brothers in Crime, S. 173 ff. – Der früheste und wohl noch immer wichtigste Versuch, den Begriff urbaner ‚Zerstreuung’ nicht mehr nur pejorativ, sondern als Index sozialer Emanzipation zu verstehen und mit den Ansätzen Kritischer Theorie zu vermitteln, wurde unternommen durch S. KRACAUER, Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/M. 1963; darin besonders die 1926 und 1927 publizierten Texte „Kult der Zerstreuung“ und „Das Ornament der Masse“ (S. 50-63 und S. 311-316). H. LETHEN, Verhaltenslehren der Kälte, S. 36.

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mung „ADOLF LOOS / in Verehrung“ trägt (5).84 Loos, der über Kraus mit Lasker-Schüler bekannt war und dessen 1908 publizierte Schrift Ornament und Verbrechen bekanntlich in Polemik gegen den Jugendstil nicht nur die Destruktion des Ornaments und den Siegeszug von Sachlichkeit und ästhetischer Funktionalität als Zeichen höherer Kulturentwicklung bejaht, sondern auch die Trennung von Kunst und handwerklichem Kunstgewerbe für irreversibel erklärt,85 scheint der denkbar schlechteste Adressat eines Romans zu sein, in dem Arabeske, Schmuck, exotistische Kolportage und kunstgewerblicher Tinnef zum poetologischen Konstruktionsprinzip avancieren. In der zweiten Ausgabe von 1920 ist die Widmung denn auch getilgt und ersetzt durch die Formel „Mein Herz – Niemandem“,86 die freilich ihrerseits den Gestus emotionaler Sachlichkeit aufnimmt, insofern sie sich als Weigerung des poetischen Subjekts lesen lässt, sein „Herz“ zu verschenken. Als sich selbst dementierende Widmung zeichnet die Formel den „Liebesroman“ dennoch als Geschenk aus, als eines jedoch, das an keine bestimmte Person mehr gerichtet ist. Die Widmung dementiert mithin den Exklusivitätsanspruch der Rede vom ‚verschenkten Herzen’, um deren Wahrheitsgehalt einzulösen: Gerade weil es sich weigert, sein Herz ‚jemandem’ zu verschenken, vermag das Subjekt es wahrhaftig zu verschenken, statt es als Garant exklusiver Innerlichkeit zum unveräußerlichen Eigentum zu erklären, in das nur ausgezeichnete Personen einen Blick werfen dürfen.87 Der Konnex zwischen dem Liebeskonzept von Mein Herz, der immanenten Poetik des Romans und Lasker-Schülers Verständnis von literarischer Autorschaft ist damit bereits angedeutet. Indem Titel und Widmung „Herz“ und „Liebesroman“ in eins setzen, das ‚Herz’ als ‚Roman’, als Sammlung kolportierter Liebesgeschichten, aber umgekehrt auch der ‚Roman’, das poetische Werk, als ‚Herz’ des Subjekts erscheint, wird der

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Da die Kritische Ausgabe ausschließlich die Briefe nach Norwegen, also die im „Sturm“ erschienene Folge einzelner Briefe abdruckt, zitiere ich im Folgenden mit Seitenzahlen in Klammern nach der Erstausgabe der Romanfassung (E. LASKERSCHÜLER, Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen, hg. von Ricarda Dick, Frankfurt/M. 2003). – Zum Topos der Sachlichkeit im Umkreis des „Sturm“ siehe P. SPRENGEL, Von der Baukunst zur Wortkunst. Sachlichkeit und Expressionismus im „Sturm“. In: DVjS 64 (1990), S. 680-706. A. LOOS, Ornament und Verbrechen. In: U. CONRADS (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Braunschweig, Wiesbaden 1981, S. 15-21. Vgl. die im Übrigen textidentische zweite Fassung (E. LASKER-SCHÜLER, Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen. Frankfurt/M. 1995), die auch von der Werkausgabe im Kösel-Verlag zugrunde gelegt worden ist. Zu dieser Kritik an der Eigentumslogik des bürgerlichen Liebesbegriffs siehe vor allem meinen Aufsatz: Liebesspiele. M. HALLENSLEBEN, Zwischen Tradition und Moderne, deutet die veränderte Widmung dagegen als „resignativ“ (S. 187).

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Diskurs des Herzens nicht einfach als narrative Schablone entlarvt,88 die Authentizität lediglich vortäusche, sondern die Kolportage des Herzens zugleich auch als Modus authentischer ‚liebender’ Rede exponiert. Vor diesem Hintergrund erhält die Widmung an Loos poetologische Evidenz: Wie Loos’ Kritik des Ornaments reagiert die Poetik von Tand und Tinnef in Mein Herz auf die urbane Erfahrung emotionaler Ernüchterung und die Funktionalisierung des Schönen zum verkaufsfördernden Schmuck, allerdings auf gänzlich andere Weise: Während Loos das Ornament als Symptom des Midcult, des schlechten Geschmacks im Sinne Ecos, in welchem sich Kunst und Kunstgewerbe zum kalkulierten Imitat zweckfreier Schönheit verschränken, aus der ästhetischen Sphäre verbannt wissen möchte, weil sich der moderne Mensch „zur ornamentlosigkeit durchgerungen“ habe,89 wird bei Lasker-Schüler der zum kulturellen Treibgut herabgesunkene Zierat als Kitsch im Sinne Benjamins, als fragmentarisches Residuum eines von der urbanen Wirklichkeit allererst produzierten, zugleich aber preisgegebenen Glücksversprechens aufgewertet. Während Loos bereits ganz im Sinne der von Serner avisierten Tendenz mit allem ‚Schmuck’, der nur das „tempo der kulturellen Entwicklung“ verzögere,90 kurzen Prozess machen will und im Namen eines ‚mündigen’ Subjekts spricht, das sich seiner „individualität“ und „geistige[n] Kraft“ sicher wähnt,91 zielt die Poetik von Mein Herz darauf, in den urbanen Formen der Illusionsund Scheinproduktion gerade das unabgegoltene Glücks- und Freiheitspotential der Moderne ausfindig zu machen. Wird das Ornament bei Loos zum Anachronismus, der „nicht mehr organisch mit unserer kultur zusammenhängt“ und im Namen sozialen Fortschritts wegrationalisiert werden müsse,92 geht es bei Lasker-Schüler darum, den zur bloßen Zierde entstellten Zauber des Or-

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Siehe hierzu meinen Aufsatz, S. 82 ff. – Als „Ausdruck des neuzeitlichen Diskurssystems zur [...] Homogenisierung psychologischer Innerlichkeiten“ wird der Topos der ‚Herzensschrift’ von diskursanalytischen und dekonstruktivistischen Ansätzen verstanden. Vgl. M. SCHNEIDER, Die erkaltete Herzensschrift, S. 26. – Gegenüber dem Konzept Luhmanns haben solche Lektüren den Vorteil, den Codecharakter nicht als Stabilisierungsfaktor zu verharmlosen, sondern als Ausdruck von Herrschaftsmechanismen zu begreifen. Dennoch gehen auch sie aus von der Prädominanz des Codes, der dekonstruktiv bearbeitet, aber nicht transzendiert werden könne. Lasker-Schülers ‚liebende’ Poetik, die Sprache nicht als diskursives Zwangssystem, sondern als lebendigen Organismus begreift, sperrt sich von vornherein gegen derlei Zugriffe, die Sprache primär als Modus universaler Repression verstehen. A. LOOS, Ornament und Verbrechen, S. 16. – Zum kleinbürgerlichen Midcult im Unterschied zum Masscult vgl. U. ECO, Die Struktur des schlechten Geschmacks, S. 67 ff. A. LOOS, Ornament und Verbrechen, S. 17. Ebd., S. 21. Ebd., S. 19.

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namentalen ernstzunehmen und autonom zu setzen.93 Wo Loos in teils beklemmender Nähe zum Präfaschismus eine Kunst postuliert, die den Bedürfnissen des zur Lebenstüchtigkeit ernüchterten Subjekts entsprechen müsse, das „vergeudetes material“ ebenso verachte wie „nachzügler“ und „degenerierte“ aller Art,94 betreibt Lasker-Schüler die dem urbanen Leben abzuringende Rettung von Verschwendung, Euphorie und Zerstreuung als letzte Residuen menschlicher Freiheit. Mein Herz setzt konsequent mit einer Situation ein, die der im Peter-HilleBuch exakt komplementär ist. Steht dort die Flucht des Subjekts aus der Stadt am Anfang, beginnt Mein Herz damit, dass die Freunde der Erzählerin nach Schweden reisen und sie in der Großstadt sich selbst überlassen – ein Alleinsein, das „Abenteuer“ nicht ausschließt, sondern hervorbringt: LIEBE JUNGENS Dass Kurtchen Dich mitgenommen hat nach Schweden, Herwarth, ist direkt eine Freundestat. Kurtchen wird Erster Staatsanwalt werden und Euch kann nichts passieren. Aber mir kann was passieren, ich hab Niemand, dem ich meine Abenteuer erzählen kann außer Peter Baum, der aber aus der alten Wohnung in die neue Wohnung zieht. Im Wirrwarr hat er statt seines Schreibtischsessels seine Matja in den Möbelwagen getragen und sie den Umzugsleuten besonders ans Herz gelegt, dass die Quasten nicht abreißen. Am Abend erzählte ich ihm erst meine neue Liebesgeschichte. Ich habe nämlich noch nie so geliebt wie diesmal. (9)

Bereits hier wird angedeutet, worin das Spezifische von Lasker-Schülers Variante des ‚Liebe-Machens’ besteht: Gerade weil das Ich nach Abreise der „Jungens“, die wie Spielgefährten angeredet werden, „Niemand“ mehr hat, „dem ich meine Abenteuer erzählen kann“, kann ihm im Gegensatz zu den Abgereisten „was passieren“. Die Formulierung „Aber mir kann was passieren“ verweist somit nicht einfach auf die Gefahr, der die in der Großstadt zurückgelassene Erzählerin ausgesetzt ist, während „Herwarth“ und „Kurtchen“, die den Roman hindurch nicht denunziatorisch, sondern freundlich als Repräsentanten bürgerlicher Sekurität verhohnepipelt werden, sich als Honoratioren 93

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In dieser Bejahung ästhetischen Scheins unterscheidet sich Lasker-Schüler auch von Kracauers Position in „Das Ornament der Masse“. Dort analysiert Kracauer das ‚Massenornament’, das er als Organisationsprinzip populärer Revuen und Großveranstaltungen ausmacht, als „Ausdruck einer Rationalität, die sich verstockt“, mithin als falsche Versöhnung von instrumenteller Rationalität und ästhetischem Schein, die ganz im marxistischen Sinne durch ein Mehr an Rationalisierung aufgehoben werden müsse. Vgl. S. KRACAUER, Das Ornament der Masse, hier S. 58. – Inwieweit Kracauer Loos’ Anti-Ornamentalismus letztlich nur dialektisch verfeinert fortschreibt, bliebe zu prüfen. A. LOOS, Ornament und Verbrechen, S. 19 sowie S. 15 f.

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in spe einen harmlosen Abenteuerurlaub gönnen. Sie besagt vielmehr zugleich, dass der Erzählerin erst jetzt, da sie sich als urbane Vagabundin in einer Topographie improvisierter Obdachlosigkeit wiederfindet („Wirrwarr“, „Umzug“), in der bürgerliche Rollenmuster (Matja war Peter Baums Ehefrau!) als verschiebbare Möbelstücke erscheinen, tatsächlich „was passieren“ kann. Die Reise ist insofern nicht allein eine „Freundestat“ gegenüber Herwarth Walden, sondern auch gegenüber der Erzählerin, weil sie die Kette von ‚Abenteuern’ und ‚Liebesgeschichten’, die der Roman entfaltet, allererst initiiert. Das großgeschriebene „Niemand“ meint also schon hier, wie in der späteren Widmung, nicht die bloße Abwesenheit eines persönlichen Adressaten, sondern die Befreiung der ‚liebenden’ Rede von ihrem privativen, nur ‚persönlichen’ Bezug, in der sich ihre kollektive Adresse realisiert. Entsprechend endet die Passage nicht im Verstummen des Ich, sondern leitet eine Reihe von ‚Abenteuern’ ein, die das Bekenntnis, „noch nie so geliebt“ zu haben, keineswegs Lügen strafen, sondern es dadurch einlösen, dass keine einzigartige Person, sondern einander abwechselnde, je besondere Bilder und Figuren Gegenstand affektiver Zuwendung werden: Vorgestern war ich mit Gertrude Barrison in den Lunapark gegangen, leise in die egyptische Ausstellung, als ob wir so etwas süßes vorausahneten. Gertrude erweckte dort in einem Caféhaus die Aufmerksamkeit eines Vollbartarabers; mit ihm zu kokettieren, auf meinen Wunsch, schlug sie mir entsetzt ab, ein für alle mal. Ich hätte nämlich gerne den Lauf seiner sich kräuselnden Lippen beobachtet, die nun durch die Reserviertheit meiner Begleiterin gedämmt wurden. Ich nahm es ihr sehr übel. Aber bei den Bauchtänzerinnen ereignete sich eines der Wunder meines arabischen Buches; ich tanzte mit MINN, dem Sohn des Sultans von Marokko. Wir tanzten, tanzten wie zwei Tanzschlangen, oben auf der Islambühne, wir krochen ganz aus uns heraus [...]. [E]r und ich verirrten uns nach Tanger, stießen kriegerische Schreie aus, bis mich sein Mund küsste so sanft, so inbrünstig, ich hätte mich geniert, mich zu sträuben. Seitdem liebe ich alle Menschen, die eine Nuance seiner Hautfarbe an sich tragen, an sein Goldbrokat erinnern. Ich liebe den Slawen, weil er ähnliche braune Haare hat, wie Minn; ich liebe den Bischof, weil der Blutstein in seiner Krawatte von der Röte des Farbstoffs ist, mit der sich mein königlicher Muselmann die Nägel färbt. [...] Die Verwaltung des Lunaparks hat mir verboten, wahrscheinlich hat sie Verdacht bekommen, den Park zu betreten. Ich brachte nämlich gestern morgen meinem herrlichen Freund einen großen Diamant – Deinen, Herwarth; bist Du böse? – und eine Düte Kokosnussbonbons mit. [...] Und ich habe an den Lunapark einen energischen Brief geschrieben, [...] dass ich Else LaskerSchüler heiße und Gelegenheitsgedichte dem Khediven lieferte beim Empfang europäischer Kronprinzen. Was nützt mirs, dass sie mich wieder einlassen – immer geht ein Detektiv hinter mir, aber Minn und ich treffen uns bei den Zulus, die leben schwarz und wild am Kehrricht der egyptischen Ausstellung, wo

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kein Weißer hinkommt. Die ganze Geschichte hat mir der Impresario eingebrockt, der behandelt die Muselleute wie Sklaven, und ich werde ihn ermorden mit meinem Dolch, den ich mir erschwang im Lande Minns. [...] Er ist kein Sklave, Minn ist ein Königssohn, Minn ist ein Krieger, Minn ist mein biblischer Spielgefährte. (9-11)

Diese Passage, in der die Tier-, Urwalds- und Kriegsmotivik der Gedichte erneut begegnet, entwirft Lasker-Schülers Variante des Großstadtdschungels. Die arabische bzw. „egyptische“ Szenerie lässt sich weder als Symptom eines zeitgenössischen Exotismus abtun noch als parodistische Demaskierung des „Echtsheitsanspruch[s] der ethnographischen Veranstaltungen“ postkolonial entzaubern.95 Für eine solche Kritik an den kolonialistischen Implikationen ethnographischer Schaustellungen scheint Lasker-Schüler, so ungern eine politisch korrekte Kulturwissenschaft dies auch zur Kenntnis nimmt, schon deshalb nichts übrig gehabt zu haben, weil sie die Bilder und Figurationen des Fremden, die der „Lunapark“ dem Publikum offeriert, ganz nach Art einer zerstreuungssüchtigen Großstädterin als „Wunder“ wahrnimmt, statt sie mit multikultureller Beflissenheit als „Arrangement“ zu durchschauen, das den „Anschein des Natürlichen“ performativ hervorbringe.96 Das längst habitualisierte Spiel von der Demontage des ‚westlichen Blick’ auf das ‚Fremde’ wird ersetzt durch ein Spiel emphatischer Fremdwerdung und Selbstexotisierung, das für den Konnex von Liebe und Urbanität in Mein Herz konstitutiv ist.97 Dass es dabei nicht um regressive Sehnsucht nach archaischer Fremdheit geht, 95 96 97

S. KIRSCHNICK, Tausend und ein Zeichen, S. 174. Ebd., S. 175. Gerade dieser Aspekt wird in den Studien über Lasker-Schüler ‚Exotismus’ bzw. ‚Orientalismus’ regelmäßig übersehen, die das Sujet entweder als Reflex einer zeitgenössischen Mode oder als kolonialismuskritische Dekonstruktion von ‚Alterität’ missverstehen. Vgl. neben der Arbeit von Sylke Kirschnick vor allem D. K. HEIZER, JewishGerman Identity in the Orientalist Literature of Else Lasker-Schüler, Friedrich Wolf and Franz Werfel. Columbia 1996; N. BERMAN, Orientalismus, Kolonialismus und Moderne, besonders S. 291 ff.; S. HEDGEPETH, Die Flucht ins Morgenland. Zum Orientalismus im Werk Else Lasker-Schülers. In: H. F. PFANNER (Hg.), Kulturelle Wechselwirkungen im Exil. Bonn 1986, S. 190-199; P. SPRENGEL, Exotismus bei Paul Scheerbart und Else Lasker-Schüler. Zur Literatur der Bohème. In: E. IWASAKI (Hg.), Begegnungen mit dem ‚Fremden’. Grenzen – Traditionen – Vergleiche (=Akten des VIII. Internationalen Germanistik-Kongresses, Tokyo 1990, Bd. 7). Tübingen 1991, S. 465-475; H. UERLINGS, Ethnizität und Geschlecht in Else Lasker-Schülers ‚orientalischen’ Erzählungen. Zu „Der Amokläufer“ („Tschandraguptra“) und „Ached Bey“. In: ELSJB 2 (2003), S. 6-26. Ähnlich neuerdings S. BAUSCHINGER, Der Künstlerprinz im Kaiserreich. Die Hofkultur Wilhelms II. und Else Lasker-Schülers Jussuf von Theben. In: M. H: GELBER (Hg.), Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zum Kaiserreich. Tübingen 2009, S. 207-220.

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sondern um die von der Anonymität und Zerstreuung urbanen Lebens eröffnete Möglichkeit, die zur Identität erstarrten sozialen Rollenmuster abzuwerfen und ein ‚Fremder’ inmitten eines Publikums von ‚Fremden’ werden zu können,98 wird evident an der Überformung des exotischen Panoramas mit urbanen Verkehrsformen: „Lunapark“, „Caféhaus“ und Tanzbühne bieten den ihren alltäglichen Bindungen ledigen Großstädterinnen die Möglichkeit, „etwas süßes“ zu erleben, „zu kokettieren“, sich in lockend unbekannte Regionen zu ‚verirren’ und „aus [sich] heraus“ zu kriechen, das Schneckenhaus ihrer sozialen Identität abzustreifen. Was dem gegenwärtigen Blick als allzu selbstverständlich erscheint, um erwähnt zu werden, wird hier noch als „leise“, ‚ahnungsvolle’ Heimlichkeit beschworen: dass nämlich das großstädtische Dasein es den Individuen, insbesondere den Frauen, zum ersten Mal massenhaft erlaubt, der Idiotie des Privatlebens zu entkommen und durch flüchtigen, wechselhaften Kontakt mit gesellschaftlich Fremden ihrer selbst inne zu werden, wobei die wechselnden ‚Rollen’, die das Subjekt einnimmt, unter dem Paradigma von Schmuck, Schminke und Mode nicht mehr allein als Zwang, sondern zunehmend als authentische Formen der Selbstkonstitution begriffen werden.99 Ausgerechnet die Variététänzerin Gertrude Barrison100 „dämmt“ jedoch durch ihre „Reserviertheit“ den „Lauf“ der „kräuselnden Lippen“ ihres Verehrers und weigert sich, „mit ihm zu kokettieren“, während die Erzählerin mit Minn „wie zwei Tanzschlangen“ auf der „Islambühne“ tanzt, sich „nach Tanger“ verirrt und von ihm küssen lässt, weil sie sich „geniert“, sich zu „sträuben“. Während die professionelle Unterhaltungskünstlerin sich dem Changieren von Hingabe und Distanz, wie es im Motiv der Koketterie und des Tanzes anklingt, mit der abgeklärten Geste derjenigen verweigert, die sich auf nichts mehr einlassen will („ein für alle mal“), gibt sich die Erzählerin, der die ‚Rolle’ nicht Beruf ist, dem „Wunder meines arabischen Buches“ hin, wagt 98

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Diese befreiende Erfahrung von Fremdheit, die sich von ethnischen, klassen- oder geschlechterspezifischen Fixierungen tendenziell löst und soziale Individuation im emphatischen Sinn erst ermöglicht, wird als grundlegend für das Aufblühen urbaner Öffentlichkeit benannt in der beeindruckenden Studie von R. SENNETT, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt/M. 1986, besonders S. 71 ff. Zu dieser Veränderung des Rollenbegriffs und zur Bedeutung der Mode vgl. R. SENNETT, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 47 ff. sowie S. 237 ff. Sennett tendiert allerdings dazu, das frühe großstädtische Bürgertum gegenüber seinen modernen ‚Verfallsformen’ zu idealisieren. – Zum emanzipatorischen Gehalt der Mode seit der Jahrhundertwende siehe U. FREVERT, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit. Frankfurt/M. 1986, S. 146 ff.; J. BERTSCHIK, Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770-1945). Köln 2005, S. 85 ff. Gertrude Barrison war eine bekannte Tänzerin und Rezitatorin, für deren Auftritte – etwa im Rahmen von Peter-Altenberg-Abenden – im „Sturm“ mehrfach geworben wurde.

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den Schritt in den Übergangsraum zwischen Alltag und Kolportage, den der Lunapark eröffnet, und vermag so ‚aus sich heraus zu kriechen’, im Modus der Selbstvergessenheit zu sich selbst zu kommen – zu einem Selbst freilich, das in „Tanger“, in einer exotischen Fremde situiert ist, wo „kriegerische Schreie“ und ‚sanfte Küsse’, wie in den Kolportageszenerien der Lyrik, glücklich vereint sind. Das trivialästhetische Tableau verwandelt sich so buchstäblich in jenen ‚Dschungel’, mit dem es das Massenpublikum nur locken soll. Wenn das geographische Tanger und der empirische Sultan von Marokko zur Entstehungszeit von Mein Herz wegen kolonialer Streitigkeiten zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich in der Tagespresse präsent waren101, heißt dies denn auch nicht, dass ihre Erwähnung einen „Zusammenhang [...] zwischen ethnographischer Schaustellungspraxis und Kolonialpolitik“ herstellen oder die „kriegerischen Schreie“ gar die „militärischen ‚Droh- und Bluff’Gebärden“ des Wilhelminismus karikieren würden,102 als wäre Lasker-Schüler nichts als eine einfallslosere Vorgängerin Elfriede Jelineks. Solche Deutungen, die ihren Mangel an hermeneutischer Phantasie durch Faktenakkumulation und nachgetragenes Lokalkolorit ersetzen, eskamotieren das illusionäre Moment von Lasker-Schülers Kolportagen, ihre kompromisslose Bejahung trivialästhetischen Scheins, und machen den Text nur erneut zu jener Alltagsprosa, die er transzendieren will. Wie Lasker-Schülers ‚liebende’ Sprache darauf abzielt, die zu Clichés und Spielmarken abgenutzten Worte und Bilder dem Äquivalenztausch zu entziehen und jene kollektiven Wunschphantasien freizusetzen, die von Kolportage entstellt bewahrt werden, sind die Fragmente aus Tagespresse und Alltagskultur, aus deren Imagerie sich Lasker-Schülers exotische Zwischenwelten gewiss speisen, aus Sicht der Texte eben nicht nur „Spektakel“, „Arrangement“ oder „Effekt“,103 sondern reale Fluchtträume, die sich der Rückbindung an empirische Ereignisse und Fakten ebenso entziehen wie der Reduktion auf die kompensatorische Funktion, die ihnen in populärkultureller Praxis zukommen mag. Das ideologische Moment von Kolportage wird nicht durch mythenkritische Entzauberung, sondern durch Verzau101

102 103

Die marokkanische Hafenstadt Tanger wurde seinerzeit von Frankreich dominiert, aber auch von Deutschland beansprucht. Im Herbst 1911 konnte die Krise zwischen beiden Nationen mit dem Marokko-Kongo-Abkommen zugunsten Frankreichs beigelegt werden. Vgl. den Kommentar von Ricarda Dick (133). Obzwar der Erstdruck dieser Passage in den Briefen nach Norwegen in jenen Zeitraum fällt, ist das Bezeichnende bei Lasker-Schüler nicht die Erwähnung von Marokko und Tanger, sondern die Tilgung jedes konkreten tagespolitischen Bezugs. – Die Minn-Figur, die bereits in der 1907 in den Nächten Tino von Bagdads publizierten Skizze „Minn der Sohn des Sultans von Marokko“ als ein in „Kamelfell“ gehüllter „Bettler neben seinem königlichen Vater“ auftaucht (KA 3.1, 75) und der mit Tino konnotierten ‚blassen’ Kindheit zugeordnet wird, gehört bei Lasker-Schüler werkgenetisch in einen anderen Zusammenhang. S. KIRSCHNICK, Tausend und ein Zeichen, S. 184. Ebd., S. 175.

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berung, durch Bejahung ihres Scheincharakters destruiert. Nicht weil sie das im Lunapark gebotene Spektakel ironisieren würde, sondern weil sie es zu ernst nimmt, es über seinen Inszenierungscharakter hinaustreibt und den „Sklaven“ tatsächlich zum „Königssohn“ und „Krieger“ adelt, den er eigentlich nur vorstellen soll, wird der Erzählerin von der „Verwaltung“, die für die Stabilität massenkultureller Wunschökonomie zuständig ist, das Betreten des Parks verboten. Auf die ernüchternde Erkenntnis, dass das Prinzip massenkultureller Wunscherfüllung sich darin erschöpft, dem Rezipienten „zwar alle Bedürfnisse als von der Kulturindustrie erfüllbare vorzustellen, auf der anderen Seite aber diese Bedürfnisse vorweg so einzurichten, dass er sich in ihnen selbst nur noch als ewiger Konsument, als Objekt der Kulturindustrie erfährt“, dass die organisierte Populärkultur mithin „als Paradies denselben Alltag wieder an[bietet]“,104 reagieren Lasker-Schülers Kolportageszenarien nicht, indem sie mit ideologiekritischer Routine jedes Paradies als Alltag entlarven, sondern indem sie das Versprechen, den Alltag zum Paradies zu machen, beim Wort nehmen. Das empörte Diktum „Er ist kein Sklave, Minn ist ein Königssohn, Minn ist ein Krieger“ zielt daher nicht zuvorderst auf die faktische Versklavung ethnischer Minderheiten durch die zeitgenössische Populärkultur – derlei multikulturalistisches Gutmenschentum ist mit Lasker-Schülers Verständnis von Kolportage schwerlich vereinbar105 –, sondern protestiert gegen die Versklavung trivialästhetischer Phantasie durch die Massenkultur, der die Erzählerin mit dem „Dolch“ aus dem „Lande Minns“ in kriegerischer Geste die Autonomie trivialästhetischen Scheins gegenüberstellt, um einzufordern, was die Massenkultur nur verspricht. Selbst die Restitution des Realitätsprinzips durch die „Verwaltung“ wird unterlaufen, wenn die Erzählerin den „Detektiv“, den man auf sie angesetzt hat, zur Figur in einem Räuber- und Gendarmspiel werden lässt, das dem Leben „am Kehrricht“ genussvolle Angstlust abgewinnt. Die lustvolle Unsicherheit, die aus dem Wechselspiel von Alltag und Abenteuer, Intimität und Distanz entspringt, ist konstitutiv für jene Variante des ‚Liebesspiels’, die in der zitierten Passage mit der Formulierung „ich hätte mich geniert, mich zu sträuben“ prägnant umschrieben wird und der sich die Freundin der Erzählerin durch „Reserviertheit“ entzieht. Während die „Reser104 105

T. W. ADORNO, GS 3: Dialektik der Aufklärung, S. 164. Vgl. S. KIRSCHNICK, Tausend und ein Zeichen, die dem Vorbehalt, die Nobilitierung Minns zum ‚Krieger’ könne als „Glorifizierung“ verstanden werden, mit dem Argument begegnet, die „ethnische Markierung“ werde bei Lasker-Schüler zum „willkürlich verschiebbaren Requisit“ (S. 178). – Lasker-Schülers Verfahren einer verzaubernden Mythenkritik, die die Insignien des ‚Fremden’ weder substantialisiert noch zum „verschiebbaren Requisit“, mithin zum bloßen Warenzeichen degradiert, sondern die im Cliché verkapselten Sehnsüchte von ihrer ideologischen Entstellung befreien will, wird damit in sein Gegenteil verkehrt.

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viertheit“ das Spiel von Annäherung und Distanz „dämmt“, um sich hinter der Rolle wie hinter einer Maske zu verbergen, adaptiert die Koketterie die Maskeraden des Gesellschaftstheaters, um sie hinter sich zu lassen: Wer sich „geniert“, sich zu „sträuben“, verweigert sich ebenso wenig, wie er sich rückhaltlos hingibt. Vielmehr wird die Dichotomie von Selbstpanzerung und Selbstaufgabe suspendiert zugunsten einer Annäherung, die die Spannung zwischen Selbst und Anderem nicht auflöst, sondern als Intensivierung des intersubjektiven Bezugs begreift. Exakt diesen Gestus hat Georg Simmel in seiner 1911, ein Jahr vor Mein Herz, erschienenen Philosophischen Kultur unter dem Titel „Die Koketterie“ als „Spielform der Liebe“ analysiert.106 Darin widerspricht er der abwertenden Identifikation von „Koketterie“ und „Gefallsucht“ mit Hinweis auf die ambivalente Struktur koketten Verhaltens: Charakteristisch für Koketterie sei die „Gleichzeitigkeit von Entgegenkommen und Versagen, durch symbolisches, angedeutetes, ‚wie aus der Ferne’ wirksames Ja- und Neinsagen, durch Geben und Nichtgeben“.107 Als Beispiel für dieses „SichAbwenden, mit dem doch zugleich ein flüchtiges Sich-Geben verbunden ist“, nennt Simmel den „Blick aus dem Augenwinkel heraus, mit halbabgewandtem Kopfe“.108 Obgleich dies nirgends thematisch wird, verweist der Kontext des Essays in der „Philosophie der Mode“ ebenso wie die Struktur koketten Verhaltens darauf, dass Simmel mit der Koketterie einen spezifisch urbanen Gestus beschreibt, der die Unhintergehbarkeit des Fremdseins, die allen großstädtischen Verkehrsformen eingeschrieben ist, im Modus von Maskerade und Rollenspiel aufzuheben sucht, ohne in überkommene Exklusivitäts- und Innerlichkeitsansprüche zu verfallen.109 Das „wie aus der Ferne“ kommende „Jaund Neinsagen“ vermag erst in einer urbanen Öffentlichkeit, welche die Individuen als Massenpublikum ebenso atomisiert, wie sie sie als gegenseitig Fremde aufeinander bezieht, seine ganze Wirkung zu entfalten. Insofern bezeichnet die Koketterie als „Spielform der Liebe“ jenen Punkt in der Entwick106

107 108 109

G. SIMMEL, Philosophische Kultur, S. 256 ff., hier S. 269. Dr Abschnitt „Die Koketterie“ beruht auf einem erstmals 1909 publizierten Essay Simmels zur „Psychologie der Koketterie“. Ebd., S. 257. Ebd., S. 257 f. Über den Konnex von Simmels Begriff der Koketterie mit modernen Formen der Geselligkeit siehe K. LICHTBLAU, Kulturkrise und Soziologie, S. 380 ff. Zur Typologie der Großstadt vgl. außerdem L. MÜLLER, Die Großstadt als Ort der Moderne. Über Georg Simmel. In: Die Unwirklichkeit der Städte, S. 14-36. – Niklas Luhmann thematisiert solche ‚Spielformen der Liebe’, die „nach beiden Seiten, zur Intimität und zur Geselligkeit hin, anschlussfähig“ sind, bezeichnenderweise nicht im Kontext von Großstadt und Moderne, sondern unter dem Schlagwort der „Galanterie“ als ein vor- bzw. frühmodernes Liebesverhalten, das ‚Intimität’ und ‚Innerlichkeit’ im emphatischen Sinn noch gar nicht kennt und daher auch nicht überwinden muss. Vgl. N. LUHMANN, Liebe als Passion, S. 97 ff., hier S. 97.

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lung urbaner Lebenswelt, da die Versachlichung aller Beziehungen die naturwüchsigen Bindungen der Individuen endgültig zerrissen hat, die Nüchternheit aber noch nicht, wie bei Serner, in Ernüchterung, die Fremdheit nicht in universales Misstrauen umgeschlagen ist, sondern als Fremdheit genossen werden darf. Als einen solchen Genuss von Fremdheit, der das Versprechen einer neugewonnenen Autonomie in sich trägt, die als „Nichtgebundenheit des Ich“ nicht zuletzt Index für eine neue „Macht der Frau dem Manne gegenüber“ sei,110 beschreibt Simmel die Koketterie, wenn er sie „ein ganz positives Verfahren“ nennt,111 das sich durch seinen Wirklichkeitsbezug vom ästhetischen Verhalten abhebe: Was das [...] Wesen der Koketterie freilich von dem der Kunst scheidet, ist dies, das die Kunst sich von vornherein jenseits der Wirklichkeit stellt [...], während die Koketterie zwar mit der Wirklichkeit auch nur spielt, aber doch mit der Wirklichkeit spielt.112

Was Simmel, darin noch ganz der idealistischen Ästhetik verhaftet, als bloßes Negativum der Koketterie gegenüber der Kunst vermerkt – dass sie sich nicht „jenseits der Wirklichkeit“ stellt, sondern mit ihr „spielt“ – wird bei LaskerSchüler positives Konstituens des ästhetischen Verfahrens, das die privative Innerlichkeit der bürgerlichen Liebe ebenso überschreitet wie die ‚Reserviertheit’, die die Maske zum Gesicht, das Gesicht zur Maske werden lässt. Während die Maskerade der Koketterie dem Subjekt erlaubt, ‚aus sich heraus zu kriechen’, korrespondiert die ‚Reserviertheit’ mit jenem Verhalten, das Simmel 1903 in seinem Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“ als „Blasiertheit“ bezeichnet: Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit. [...] Wie ein maßloses Genussleben blasiert macht, weil es die Nerven so lange zu ihren stärksten Reaktionen aufregt, bis sie schließlich überhaupt keine Reaktion mehr hergeben – so zwingen ihnen auch harmlosere Eindrücke durch die Raschheit und Gegensätzlichkeit ihres

110

111 112

G. SIMMEL, Philosophische Kultur, S. 265. – Im Folgenden (S. 266 f.) skizziert Simmel freilich eine ganze Typologie der „Kokette“, die seine Entdeckung der Koketterie rückzubinden versucht an konservative Geschlechtertheorien. Wie sich Simmels Theorie der Koketterie zu seiner ‚ergänzungstheoretischen’ Konzeption einer ‚weiblichen Kultur’ verhält, ist bislang nicht geklärt. Siehe S. BOVENSCHEN, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/M. 1979, S. 24 ff. G. SIMMEL, Philosophische Kultur, S. 271. Ebd., S. 269.

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Wechsels so gewaltsame Antworten ab, [...] dass sie ihre letzte Kraftreserve hergeben113.

Das „Wesen der Blasiertheit“ sei „die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge“, die allenfalls noch „in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung“ wahrgenommen würden;114 dieser rezeptiven Stumpfheit entspreche die soziale „Reserviertheit“ des Großstädters.115 „Reserviertheit“ und „Koketterie“ stehen einander nicht als automatisiertes und spontanes Sozialverhalten einfach gegenüber, sondern gehen von der gleichen Grunderfahrung urbaner Entfremdung aus. Während die Reserviertheit jedoch auf die Angebote großstädtischen „Genussleben[s]“ durch Neutralisierung der rezeptiven Fähigkeiten reagiert, fasst die Koketterie die urbane ‚Zerstreuung’ als Herausforderung auf, jene Fähigkeiten zu intensivieren und die Vielfalt der Rollenbilder, welche die Großstadt dem Individuum anträgt, zu nutzen, um allererst zu entdecken, welches dem Ich womöglich gar nicht bekannte Subjekt hinter der starren Fassade der empirischen Person verborgen sein mag. Während die Reserviertheit die „Unterschiede der Dinge“ allenfalls als Sozialkolorit wahrnimmt, „spielt“ die Koketterie, wie Simmel schreibt, „alle Gegensätze, mindestens potentiell, gegeneinander aus“,116 steigert die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Unterschieden, um daraus neue Kommunikativität und Spontaneität zu gewinnen. Daher unterhält sie eine Affinität zum Schmuck, der ebenfalls durch „Verhüllung“ die „Aufmerksamkeit“ verstärkt: „[D]adurch, dass man sich oder einen Teil seiner schmückt, verhüllt man das Geschmückte, dadurch, dass man es verhüllt, macht man darauf und auf seine Reize aufmerksam.“117 Die Koketterie betreibt also keinen Kult der Oberfläche, der ästhetische Differenzen nur blind konsumiert, sondern sie setzt „Andeutung“ und „Nuance“118 autonom, um die Vielfalt der urbanen Erfahrungswelt vor der Gefahr urbanen Erfahrungsverlusts zu retten. Wenn in der zitierten Passage, die mit der Kontrastierung von Koketterie und Reserviertheit, mit dem Werben um erotische „Aufmerksamkeit“ sowie der Schmuckmotivik das ganze Arsenal von Simmels Phänomenologie der Koketterie aufruft, die „Nuance“ als Grund für die von Minn zum „Slawen“ und zum „Bischof“ gleitende Liebe genannt wird („Seither liebe ich alle Menschen, die eine Nuance seiner Hautfarbe an sich tragen“), wird nicht etwa der „Kostümcharakter“ von „Alterität“ entlarvt,119 113

114 115 116 117 118 119

G. SIMMEL, Die Großstädte und das Geistesleben. In: ders.: GA 7, S. 116-131, hier S. 121. Ebd.; Hervorhebung M.K. Ebd., S. 122. G. SIMMEL, Philosophische Kultur, S. 271. Ebd., S. 260. Ebd., S. 271. S. KIRSCHNICK, Tausend und ein Zeichen, S. 177.

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sondern das Spiel der Nuancen als Movens einer Liebe benannt, die durch Wertschätzung des je Besonderen auf „alle Menschen“ zielt: Gerade weil sie dem Geliebten in Nuancen ähneln, also an ihn erinnern, ohne mit seinem Bild zu verschmelzen, können „Slawe“ und „Bischof“ für die Erzählerin zu Geliebten werden. Während der primitive Anti-Essentialismus, der Unterschiede lediglich als performativ hervorgebrachte kennt, Differenzierung ganz im Stile Luhmanns auf ein „Generieren von Information“ reduziert,120 das die Individuen in ihrer abstrakten Buntheit zu Warenzeichen ihrer selbst erniedrigt, steht die Nuance bei Lasker-Schüler für die Ähnlichkeit, mithin für die Nichtidentität aller Menschen ein, die einander nur darin gleichen, dass kein Einziger je dem anderen gleicht. Die Liebe zur Nuance verrät nicht den Affekt der Liebe, der sich am je Besonderen entzündet, sondern wird ihm gerecht, indem sie ihn transzendiert. Statt den Einzelnen auf sein partikulares Anderssein zu reduzieren, erkennt sie darin das Allgemeine und ist Menschenliebe im emphatischen Sinn. Welch immense Bedeutung urbane Geselligkeit, Mode und Zerstreuungskultur für die Genese dieses Verständnisses von Liebe haben, erhellt nicht nur daran, dass sich das Lob der Nuance ans „Goldbrokat“ der Haut, an den „Blutstein“ der Krawatte oder an den „Farbstoff“ der Fingernägel heftet, die eben keine Staffage des Subjekts, sondern lebendiges Moment von dessen Konstitution sind. Bedeutsam und neu gegenüber Lasker-Schülers früherem Œuvre ist überdies die Thematisierung der Berliner Café-Kultur, die sich nicht in der Reminiszenz an die damalige Künstlerbohème erschöpft. Vielmehr figurieren Caféhäuser und Lokale als privilegierte Orte der Selbstaufhebung urbaner ‚Nüchternheit’ und des Umschlags von anonymer Öffentlichkeit in Intimität: Ihr beiden Freunde! Was ist das? Wart Ihr schon dort, Ecke Kurfürstendamm und Wilmersdorferstraße, im Café Kurfürstendamm? Ich bin zum Donnerwetter dem Café des Westens untreu geworden; wie einen Herzallerliebsten hab ich das Caféhaus verlassen, dem ich ewige Treue versprach. Das Café Kurfürstendamm ist eine Frau, eine orientalische Tänzerin. Sie zerstreut mich, sie tröstet mich, sie entzückt mich durch die vielerlei süßen Farben ihres Gewands. Eine Bewegung ist in dem Café, es dreht sich geheimnisvoll wie der schimmernde Leib der Fatme. Verschleierte Herzen sind die sternenumhangenen, kleinen Nischen der Galerien. O, was man da alles sagen und lauschen kann – leise singen Violinen, selige Stimmungen. Das Café ist das lebendig gewordene Plakat Lucian Bernhards. Ich werde ihm einen Mondsichelorden, der ihn zum thebanischen Pascha ernennt, und meine huldvollste Bewunderung übermitteln lassen. (119-121)

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N. LUHMANN, Liebe als Passion, S. 107.

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Gerade als „das lebendig gewordene Plakat“ des Graphikers Emil Kahn, der sich Lucian Bernhard nannte,121 repräsentiert das Café Kurfürstendamm eine Kultur der ‚Zerstreuung’, die über den kulturindustriellen Schematismus hinausweist, der das Versprechen einer Aufhebung des Gegensatzes von Kunst und Alltag kassiert, indem er Kunst auf Reklame, den ästhetischen Schein auf seine pragmatische Funktionalität reduziert. Diese Reduktion beschreiben Adorno und Horkheimer in ihrem „Schema der Massenkultur“ als falsche Versöhnung von Idealismus und Materialismus, als Instrumentalisierung des Scheins zum „Glanz“: Im Reklamecharakter von Kultur geht deren Differenz zum praktischen Leben unter. Der ästhetische Schein wird zum Glanz, den Reklame an die Waren zediert, die ihn absorbieren; jenes Moment der Selbständigkeit jedoch, das Philosophie eben unterm ästhetischen Schein begriff, wird verloren. [...] Seit dem industriellen Zeitalter ist eine gesinnungstüchtige Kunst im Schwange, die mit der Verdinglichung paktiert, indem sie gerade der Entzauberung der Welt [...] eine eigene, durchs Arbeitsethos gespeiste Poesie zuschreibt.122

Die Liquidation der „Selbständigkeit“ ästhetischen Scheins, der nicht mehr Zauber, sondern selbst Teil der „Entzauberung“ ist, weil seine Produktion und Rezeption als Arbeit statt als intentionslose Glückserfahrung und das Vergnügen als Leistung erscheint, wird in diesem Zusammenhang bestimmt als Neutralisierung kindlicher Einbildungskraft: Dem Zögling wird mit jeder Geste zu verstehen gegeben, dass den Anforderungen des „realen Lebens“ [...] der Primat zukomme und dass die Ideale selber entweder als Bestätigung dieses Lebens aufzufassen oder unmittelbar in dessen Dienst zu stellen seien. [...] Unter dem Deckmantel der abenteuerlichen Begebenheit schmuggeln sie [die Produkte der Kulturindustrie; M.K.] die Konterbande der Utilität ein und überreden ihren Leser, dass er eigentlich vom Traum gar nichts zu opfern brauche [...] – vom Traum, der selber schon in der Klassengesellschaft auf die Dingwelt vereidigt ist123.

Der „phantastische Robinson“ sei, so heißt es, vielleicht nie etwas anderes gewesen als „das Modell des homo oeconomicus“,124 und die „Wildwesthelden“ verkündeten „im nächsten Augenblick den Ruhm der Frühstücksflo121

122 123 124

Der Buchillustrator und Plakatkünstler Emil Kahn war in Berlin Herausgeber der Zeitschrift „Plakat“ und Mitglied im Deutschen Werkbund, partizipierte also an den zahlreichen damals gängigen Versuchen, hohe Kunst und Gebrauchskunst unter dem Paradigma des ‚Handwerks’ wieder stärker anzunähern. T. W. ADORNO, GS 3: Dialektik der Aufklärung, S. 299. Ebd., S. 299 f. Ebd., S. 300.

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cken“, deren Verpackung sie schmücken.125 Während die historische Konstellation, auf welche die Dialektik der Aufklärung antwortet, die Aufhebung dieses Zustands konsequenterweise nicht anders denn durch Desillusionierung der im Zirkel lustlosen Vergnügens gefangenen Subjekte zu denken erlaubt, folgt Lasker-Schülers Poetik des ‚lebendigen Plakats’ einer Sichtweise, der die Wildwesthelden wichtiger sind als das Produkt, für das sie werben, und die die „Dingwelt“ als Vorschein jenes Traums ernstnimmt, um den die Realität die Individuen betrügt. Indem das Plakat sich in der Institution, für die es wirbt, buchstäblich verwirklicht, entfesselt es die Autonomie trivialästhetischen Scheins, wie sie im Café, das nicht Medium von Zerstreuung ist, sondern das Subjekt als „orientalische Tänzerin“ aktiv „zerstreut“, zu sich selbst kommt. Wie das Plakat nicht für das Café Reklame macht, sondern zum Café wird, so werden die Cafés als „Herzallerliebste[r]“ und „Frau“ zu Akteuren jener Koketterie, für die sie sonst nur die Kulisse abgeben. Gerade dadurch aber, dass die den Subjekten gegenüber erstarrten, verselbständigten Institutionen urbaner Öffentlichkeit sich in lebendige Akteure verwandeln, setzt der Fetischismus, der sich an die Sphäre von Konsum und Reklame heftet, seinen Wahrheitsgehalt frei. Seiner Fixierung auf heteronome Zwecke ledig, schlägt er um in intentionslose Hingabe, die das triviale Bild nicht als Ersatz, sondern als Vorschein kollektiven Glücks liebt. Das triviale Bild wird solcherart zum affektiven Bild, dessen Schöpfer mit dem „Mondsichelorden“ des Reichs Theben ausgezeichnet werden darf, weil die von ihm geschaffenen Clichés die anarchische Phantasie nicht kolonisieren, sondern anstacheln. Darin konvergiert Lasker-Schülers Emphase des Trivialen mit dem Rigorismus Kritischer Theorie, der dem kollektiven Telos ästhetischen Scheins negativ die Treue hält: Phantasie wird durch die automatisch verbissene Kontrolle darüber substituiert, ob auch die letzte imago, die zur Verteilung gelangt, das [...] Abbild des entsprechenden Stückchens Wirklichkeit sei. Vom ästhetischen Schein ist nur noch der leere, abstrakte Schein einer Differenz von Kultur als solcher und Praxis als solcher übrig, gleichsam die Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Departements der Produktion.126

Indem das Plakat bei Lasker-Schüler eben nicht nur „Abbild des entsprechenden Stücks Wirklichkeit“ ist, sondern die „Wirklichkeit“ – das Café – als Verwirklichung der „imago“ erscheint, die ihrerseits die empirische Realität, für die sie wirbt, verzaubert, weil sie in ihr fortlebt, wird die Erfahrung, dass die Differenz von Kultur und Praxis zum „Schein“ geworden sei, radikal beantwortet: weder durch Rückzug auf eine autochthone Sphäre hoher Kultur 125 126

Ebd., S. 302. T. W. ADORNO, GS 3: Dialektik der Aufklärung, S. 301.

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noch durch blinde Bejahung der Reduktion von Kultur auf „Praxis“, sondern indem der leere, abstrakte Schein zum erfüllten Schein verwandelt wird. Im „schimmernde[n] Leib“ des Cafés, der es buchstäblich als Materialisierung ästhetischen Scheins exponiert, wird diese Verwandlung auf den Punkt gebracht. Möglich wird sie nicht gegen die Institutionen und Imagines der Massenkultur, sondern durch sie hindurch: Wenn sie dem Café des Westens wie einem „Herzallerliebsten“ „untreu“ wird, um es mit dem exotischeren Café Kurfürstendamm zu ‚betrügen’, verweigert sich die Erzählerin der für die Bohème charakteristischen Treue zur Clique, die als Patchworkverband die Ersatzfamilie des dissoziierten antibürgerlichen Subjekts vorstellt und die den Homogenitätszwang, gegen den sie protestiert, immanent wiederholt, weil gerade die Subkultur, um sich als solche zu konstituieren, eilig ihre Reviere abstecken muss.127 Stattdessen wird bei Lasker-Schüler das Versprechen der Massenkultur ernstgenommen, wonach das bunte Überangebot an Zerstreuungen es jedem Einzelnen ermögliche, sein Glück zu finden, das nicht den Bewohnern des Parnass vorbehalten sei, sondern auf der Straße liege. Weil sie die Massenkultur weder dämonisiert128 noch, nach Art heutiger Pop-Literatur, als emotionalen Kleister des entmündigten Kollektivs ansieht, sondern als Befreiung von Nuancen begrüßt, schlagen die Szenarien urbaner Öffentlichkeit bei ihr um in Erfahrungen authentischer Intimität. Als „orientalische Tänzerin“ ist das Café kein „Raum“, der nur „betreten“, sondern ein „Körper, der berührt werden kann“;129 es „zerstreut“ nicht allein, sondern „tröstet“ auch, dient den Subjekten nicht als Bühne performativ-autistischer Selbstentwürfe, sondern bietet mit seinen „kleinen Nischen“, seinem so erregenden wie beschützenden „Gewand“ und seinen „leise singen[den] Violinen“ einen Ort, um zu „sagen“ und zu „lauschen“, was andernorts ungesagt und unerhört bliebe. Gerade die urbane Zerstreuungskultur wird erfahren als Möglichkeit, die Individuen vom Stumpfsinn bürgerlicher Innerlichkeit zu befreien im Modus einer 127

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Letztlich ist es genau dieser Prozess, den die Literatursoziologie als ‚Institutionalisierung’ fasst. Vgl. hierzu die Bemerkung von W. POHRT, Brothers in Crime, S. 46: „Den Ort für ‚Freiheit und Abenteuer’, den die Zigarettenreklame verspricht, gibt es nirgends außer im Urwald. Wie unter den Lebewesen in der Natur gilt in der menschlichen Gesellschaft die Regel ‚Jedes Plätzchen ist vermietet und verpachtet’“. Gerade deshalb aber reproduzierten die vermeintlich abenteuerlichen Gegenkulturen die Ordnung der „verwaltete[n] Welt“. Gegen solch regressive Großstadtdschungel-Szenarien, in denen die Subkultur die Logik des Naturzustands perpetuiert, wendet sich LaskerSchülers Emphase von Massenkultur und Zerstreuung. – Über die Bedeutung von Cafés und Kneipen als subkulturelles Sozialisationsmedium vgl. H. KREUZER, Die Boheme, S. 202 ff. Das bürgerliche Vorurteil gegen die ‚Abgründigkeit’ großstädtischer Unterhaltungskultur wird explizit ironisch aufgegriffen, wenn es heißt: „Heimlich halten wir alle das Café für den Teufel, aber ohne den Teufel ist doch nun einmal nichts.“ (16) I. HERMANN, Raum – Körper – Schrift, S. 64.

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dispersen Öffentlichkeit, die zweckfreie Intimität erst zulässt. Damit lösen Lasker-Schülers Caféhaus-Skizzen Kracauers Diagnose ein, wonach die Großstadtmassen „der Wahrheit nahe sind“, weil die Zerstreuung, der sie sich aussetzen, „den Zerfall entblößt, nicht ihn verhüllt“.130 Die Zerstreuungskultur soll verwirklichen, was sie im Alltag ebenso verspricht wie verhindert: die Erfahrung freier Kollektivität. Dass dieses Freiheitsversprechen nicht an die Institutionen und Reviere des Bohème-Lebens gebunden bleibt, sondern emphatisch als Potential urbanen Lebens überhaupt in Anspruch genommen wird, zeigt sich, wenn ausgerechnet ein Großbürger-Lokal zum Ort eines ‚Liebesspiels’ wird, das es dem Individuum erlaubt, ‚aus sich heraus zu kriechen’, weil es nicht von seinesgleichen umgeben ist. Folgende Passage liest sich wie eine Probe auf Kracauers Hoffnung, das Großstadtpublikum möge nicht länger dulden, dass ihm „Reste hingeworfen werden“, sondern einfordern, dass man ihm „an gedeckten Tischen serviere“:131 Herwarth! Heute gabs wieder Aufschnitt bei mir, dabei esse ich so gern Ente und Mirabellen. Ich hatte geradezu Sehnsucht nach Kempinski, trotz der gierigen Philister an den Nebentischen. Warum sind wir beide dort so unverheiratet? Bin weder in dem Lokal Deine Verehrerin, noch Deine Kameradin, noch Deine Angetraute. Du bist dort mein Liebhaber, erster Liebhaber, und ich fühlte wohl in den beiden Malen, wo wir dort saßen, dass auch in Dir verborgen wie in allen Männern das Talent zum Bonvivant steckt; aber ich auch nicht alleine die Dichterin und die Tino von Bagdad bin, nicht nur der Prinz von Theben, zu guterletzt nicht nur als Jussuf der Egypter existiert habe, sondern ich auch ein ganz kleines Mädchen sein kann, das zum ersten Mal von einem Herrn zu Kempinski zum Abendbrot mitgenommen wird und Geschmack an Kaviar und Ente mit Mirabellen findet, sich aber noch schüttelt entsetzt vor der Schnecke in der geöffneten Muschel. Weißt Du noch unsere Angst, dass Jemand uns von Bekannten sehen würde, – unser Verhältnis. Ich trank aus Deinem Glas Rotwein, und Du machtest mir Komplimente meiner schmalen Fußgelenke wegen. Und versprachst mir seidene Strümpfe zu kaufen und eine weiße Feder für meinen großen Strohhut. Du hast so emsig süß zu mir gesprochen, namentlich wie ich mich genierte, noch etwas von der Auswahl der Konfitüren zu wählen. Und ich vergaß wirklich, dass ich Deine Frau war und machte mich über Deinen Drachen lustig, über ihre finstere Stirn. Aber ich werde nie Dein stutziges Gesicht vergessen; da wusste ich, dass schon öfters mit kleinen Mädchen bei Kempinski soupiert hattest, die Deine Frau ihrer fanatischen Galiläerstirn wegen verspotteten. Das hatte Dich immer wieder von den Leckermäulern abgebracht, 130 131

S. KRACAUER, Das Ornament der Masse, S. 317. Ebd., S. 313.

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denn Du wurdest barsch und unmutig zu mir, weil ich deine „Frau“ beleidigt hatte. Und wie ich erfahren habe, bist Du erst neulich in einer kleinen Gesellschaft dort gewesen, Dein Freund, der Doktor, brachte seine lachende Kleine mit. [...] Er sieht abgearbeitet und verärgert aus. Es gibt keinen Menschen, der aufmerksamere Liebe nötiger hat, als der Doktor, als „unser“ Doktor, sind er und ich auch schuss für ewig. Ich habe jahrelang Jünglingen, die ihm ähnlich sahen, Blumen gesandt. (26 f.)

Wie der Besuch im Lunapark lässt sich dieser Besuch bei Kempinski nur verstehen mit Blick auf eine historische Konstellation, in der die Großstadt den Individuen noch nicht zweite Natur oder feindliche Betonwüste, sondern Ort von Abenteuer und Nervenkitzel ist, also in ihrer Fremdheit angeschaut und genossen werden kann.132 Entspringt der Nervenkitzel dort der exotischen Kulisse, die ‚Tanger’ nach Halensee versetzt, resultiert er hier aus dem kulinarischen Kontrast zwischen „Aufschnitt“ und „Ente mit Mirabellen“, zwischen privativer Privatsphäre und luxurierend-exotischer Öffentlichkeit. Das kokette Spiel mit ‚Entsetzen’ und „Angst“, mit ‚Komplimenten’, Geschenken und lustvollem ‚Sich-Genieren’, das es den Eheleuten ermöglicht, sich nicht nur „unverheiratet“ zu fühlen, sondern es zu sein, kann sich erst entfalten vor dem Hintergrund einer urbanen Öffentlichkeit, die als abenteuerliches Wechselspiel von Anonymität und Intimität einen qualitativ neuen Erfahrungsraum eröffnet. Während dieses Wechselspiel heutzutage vollends neutralisiert worden ist, indem die Öffentlichkeit nur noch als verlängertes Wohnzimmer, das Wohnzimmer dagegen als öffentlicher Ort wahrgenommen und behandelt wird,133 entfaltet die Kempenski-Szene die verschütteten utopischen Qualitäten großstädtischer Öffentlichkeit: Gerade das öffentliche „Lokal“ stiftet eine Sphäre erotischer Intimität, die den Ehemann in jenen „erste[n] Liebhaber“ und intentionslos freigiebigen „Bonvivant“ verwandelt, der er in der überkommenen Privatsphäre nie sein könnte. Die Spannung zwischen ‚Bekannt132

133

Dieses emanzipatorische Potential von ‚Fremdheit’ macht Sennett zum Ausgangspunkt seiner Soziologie urbaner Öffentlichkeit, wenn er „die Stadt“ als Milieu beschreibt, „das die Begegnung einander fremder Menschen wahrscheinlich macht“, wobei „Fremder“ nicht mehr „Eindringling“ oder „Außenseiter“ bedeute, weil „die alten Unterscheidungen, die alten Grenzlinien zwischen den Gruppen nicht mehr gültig sind; doch neue Regeln, um unmittelbare Unterscheidungen zu treffen, sind kaum vorhanden.“ Vgl. R. SENNETT, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 72 f. – Im Grunde zielt Sennetts Verfallsdiagnose auf den Verlust dieser fragilen Schwellenerfahrung durch Habitualisierung urbaner Verhaltensmuster, die nicht mehr als spielerische, formbare Gesten, sondern als leere Konventionen wahrgenommen werden. Zur Vermischung ‚öffentlicher’ und ‚persönlicher’ Angelegenheiten, in deren Zuge die Liebe „asozial“ werde, vgl. R. SENNETT, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, besonders S. 19 ff. – Sennett setzt den Beginn dieses Verfallsprozesses, der in Mein Herz gerade nicht als selbstverständlich vorausgesetzt wird, aus seiner eher nostalgischen Perspektive allerdings schon Mitte des 19. Jahrhunderts an.

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heit’ und ‚Verborgenheit’, Intimität und Publizität grundiert die gesamte Szene:134 Die „Philister an den Nebentischen“ und die „Angst“, von „Bekannten“ gesehen zu werden, sind nicht Hindernis, sondern Bedingung dafür, „unverheiratet“ zu sein, sich nicht in institutionalisierten Formen von Partnerschaft einzusperren, sondern einander wie „zum ersten Mal“ als „Liebhaber“ zu begegnen und erfahren zu können, was sonst hinter der Charaktermaske der Individuen „verborgen“ bleibt. Nicht die brutale Unmittelbarkeit des Privaten, sondern das der Koketterie immanente Moment von Stilisierung, Schmuck und Mode (die seidenen Strümpfe, der große „Strohhut“) und die für den urbanen Raum charakteristischen Verkehrsformen einer distanzierten Nähe (das Trinken vom „Rotwein“ des anderen, die Komplimente, das Auswählen der „Konfitüren“ usw.) stiften eine Intimität in der Anonymität, in der die Routine großstädtischen Alltagslebens ebenso transzendiert wird wie die bornierte Vertrautheit der Privatsphäre. Das „Verhältnis“ als Gegenentwurf zur bürgerlichen Ehe verliert denn auch den Ruch der Immoralität, den es gerade auch in seiner undialektischen Aufwertung als ‚antibürgerliches’ Liebesverhalten konserviert, und bezeichnet jene Erfahrung intimer Kommunikation, die dem Exklusivitätsanspruch des bürgerlichen Liebesideals ebenso inkommensurabel ist wie einschlägigen Formen ‚freier’ Liebe, die den Wahrheitsgehalt von Liebe – die Intention aufs Besondere, sich dem Tausch Entziehende – ans Allgemeine verraten.135 Konsequent steht am Ende der Szene ein Lob der eben nicht flüchtigen oder indifferenten, sondern ‚aufmerksamen’ Liebe, die dem Gegenüber auch dann treu bleibt, wenn die Subjekte im Alltag „schuss für ewig“ sind, ihre Treue aber wiederum nicht durch fetischistisches Festhalten an der Unverwechselbarkeit des Einzelnen beweist, sondern indem sie allen, die dem Geliebten „ähnlich“ sind, „Blumen“ schenkt. ‚Aufmerksamkeit’ meint auch hier die Aufmerksamkeit für Nuancen, für Ähnlichkeiten, nicht für 134

135

Diese Erfahrung einer in ihrer Verborgenheit sichtbar werdenden Privatsphäre, der umgekehrt die Erfahrung der Fremdheit des Bekannten, Öffentlichen korrespondiert, scheint vor allem ein Gegenstand der ‚klassischen’ modernen Großstadtliteratur gewesen zu sein, seit dem späten 20. Jahrhundert aber zunehmend verdrängt zu werden. Vgl. die hochinteressanten Beobachtungen über den großstädtischen Fensterblick als Ausdruck für die „Gleichzeitigkeit von Sichtbarkeit und Isolation, von Kontakt und Distanz“ bei H. BRÜGGEMANN, Das andere Fenster, hier S. 9. Zur undialektischen Kritik am bürgerlichen Treuebegriff, wie sie für intellektuelle Subkulturen typisch ist, vgl. bereits den Aphorismus „Constanze“ in den Minima Moralia: „Jene aber, die, unterm Schein der unreflektierten Spontaneität sich ganz und gar dem überlässt, was sie für die Stimme ihres Herzens hält, und wegläuft, sobald sie jene Stimme nicht mehr zu vernehmen meint, ist in solcher souveränen Unabhängigkeit gerade das Werkzeug der Gesellschaft.“ (T. W. ADORNO, GS 4: Minima Moralia, S. 196). – Über den ‚mechanischen’, seinem eigenen Gegensatz verhafteten Nonkonformismus antibürgerlichen Sozialverhaltens siehe H. KREUZER, Die Boheme, besonders S. 141 ff.

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das zum Stellvertreter seiner eigenen Einzigartigkeit hypostasierte Individuum. Privilegierter Ort ihrer Entfaltung ist die Großstadt. Entscheidend ist freilich die Fragilität dieser Erfahrung, die strikt an die Emphase des „zum ersten Mal“ gebunden bleibt und ständig in Gefahr ist, sich als Illusion zu erweisen. Daher ist die Kempinski-Szene eingerahmt vom dégoût der Wiederholung: Wie die „Sehnsucht nach Kempinski“ erst angesichts der Tatsache entsteht, dass es „wieder Aufschnitt bei mir“ gibt, dass die Schalheit des privativen Alltags über Luxus und Genuss der Großstadt zu triumphieren scheint, steht am Ende die ernüchternde Erkenntnis, „dass Du schon öfters mit kleinen Mädchen bei Kempinski soupiert hattest“ und „erst neulich in einer kleinen Gesellschaft dort gewesen [bist]“, dass also die Erfahrung, „ein ganz kleines Mädchen“ gewesen zu sein, das „zum ersten Mal“ mit „einem Herrn“ bei Kempinski diniert und „Geschmack“ an kulinarischem und erotischem Luxus findet, Resultat eines Gesellschaftsspiels gewesen sein könnte, das der „Bonvivant“ tagtäglich spielt. Aus dieser Perspektive scheint die zur Identität gewordene Rolle des Subjekts, die zuvor abgestreift werden zu können schien – die Erzählerin macht sich „über Deinen Drachen lustig“ wie über eine Fremde –, doch noch den Sieg über das „kleine Mädchen“ davonzutragen, das im Modus koketten Rollenspiels zeitweilig aus der Existenz als „Deine Frau“ ‚herauskriechen’ konnte. Der „Bonvivant“ fällt noch innerhalb des Spiels zurück in seine soziale Identität und wird „barsch und unmutig“, weil seine „Frau“ beleidigt worden sei. Die ‚erwachsene’ Erfahrung von Wiederholung und Routine scheint wirkungsmächtiger zu sein als die ‚mädchenhafte’ und deshalb lebendige Erfahrung des „zum ersten Mal“. Mit welcher Emphase diese Erfahrung dennoch aufgeladen bleibt, erweist sich daran, dass die Möglichkeit, ein „ganz kleines Mädchen“ sein zu können, sogar über die Möglichkeit gestellt wird, als „Tino von Bagdad“, „Prinz von Theben“ oder „Jussuf der Egypter“ existiert zu haben: Nicht nur die sozialen, auch die poetischen Rollen erscheinen – aus einer Perspektive, die teilweise die Kritik an der Degradierung des Dichters zum Stellvertreter in Ich räume auf! antizipiert – als sekundär gegenüber der Existenz als „Mädchen“, die alle anderen Rollen erst denkbar macht und doch durch deren Verfestigung bedroht ist.136 Dass die Aufwertung von Massenkultur und Trivialästhetik in Mein Herz nicht flach affirmativ zu verstehen ist, sondern gleichsam ständig der Gefahr der Ernüchterung abgetrotzt werden muss, zeigt sich besonders prägnant an 136

Lasker-Schülers Titelzeichnung für die Erstausgabe von Mein Herz, die auf dem Umschlag der von Ricarda Dick herausgegebenen Neuauflage reproduziert ist, zeigt das alter ego der Autorin denn auch betont mädchenhaft, mit kurzen Haaren, Pluderhosen und kindlichem Gesicht, während eine orientalische Gestalt im Hintergrund an die weiterhin präsente ‚Jussuf’-Sphäre erinnert. – In meinen früheren Überlegungen zu dieser Szene (Liebesspiele, S. 99 f.), wird die Hierarchisierung zwischen dem ‚kleinen Mädchen’ und den übrigen Ich-Figurationen wohl nicht ausreichend herausgestellt.

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einer Szene, die das Motiv des Plakats, der urbanen ‚Kälte’ und Nüchternheit sowie die Schwärmerei für Kitsch in einer Utopie von der Stadt als Gesicht verknüpft: Ich gehe jetzt so oft allein in die Stadt, fahre mit all den Maulwürfen Untergrundbahn. Ich hab schon eine Erdfarbe bekommen. Ich soll schlecht aussehen. Dass mir das gerade auf Hypochondrisch Jemand gesagt hat! Denn erst jetzt fällt es mir auf, dass einen alle Menschen fragen: „Wie geht’s?“ Ich such nun immer suggestiv nach der hypochondrischen, erdfarbenen Linie in meinem Gesicht – über Knie-Görlitzer Bahnhof. Aber ich bin allen Ernstes krank, es glaubt mir nur dann erst Jemand, wenn ich ihn anstecke mit meiner Schwermut. Aber die Menschen habe ja von Natur alle so verkalkte Gesichter, Eier; wenn es hochkommt, Ostereier; ich freu mich immer, wenn ich ein lachendes Plakat unten im Erdfoyer der Hochbahn entdecke. [...] Schon lange steht nun Natur auf der Asphalttafel der Stadt; das steinerne, harte Herz Berlins rührt sich. Tannendüfte färben das Blut in den Adern und die Gesichter sehen frischer aus. Aber was geht es mich an, ich habe kein Interesse für das Wohlergehen dieser Welt mehr, schwärme nur noch für ihren ärmsten Tand; Schaumglaskugeln in allen sanften Farben, manche sind wie kleine Altäre geformt, in ihrer Nische leuchten verborgene Schimmerblumen der Maria. (80 f.)

Wohl an keiner anderen Passage wird derart evident, dass sich Mein Herz nicht zuletzt lesen lässt als Demontage zeitgenössischer GroßstadtStereotypen, die Berlin als Ort von Kälte und Nüchternheit mit Wien als Sphäre von Spiel und Pose zu kontrastieren pflegten, um daraus einen ‚sachlichen’ und einen ‚nervösen’ Typus der literarischen Moderne abzuleiten.137 Lasker-Schülers Berlin-Ikonographie zitiert diese Stereotypen zwar, wenn von den ‚verkalkten Gesichtern’ und von der „Asphalttafel der Stadt“ die Rede ist oder „das steinerne, harte Herz Berlins“ beschworen wird. Gleichzeit jedoch wird ihr Gegensatz aufgehoben, indem die Sphäre von Kälte und Nüchternheit als jener Ort dargestellt wird, an dem sich die spielerische Phantasie zu neuem Leben entzünden kann. Das Ich, das „allein in die Stadt“ fährt und sich unter „Maulwürfen“ und Hypochondern wiederfindet, die sich von keiner „Schwermut“ mehr ‚anstecken’ lassen und ihre Erfahrungsunfähigkeit – im Sinne von Simmels Analyse urbaner Blasiertheit – hinter teilnehmenden Floskeln („Wie geht’s?“) verbergen, reagiert auf die universale Entfremdung nicht, indem es sich seinerseits ‚blasiert’ verhält, sondern „nach der hypochondrischen, erdfarbenen Linie“ im eigenen „Gesicht“ sucht, die es nicht im Spiegel, sondern auf dem U-Bahn-Fahrplan, „über Knie-Görlitzer Bahnhof“, 137

Zur Funktion solcher Berlin-Wien-Kontrastierungen für die Institutionalisierung der ästhetischen Moderne vgl. die materialreiche und differenzierte Darstellung von P. SPRENGEL / G. STREIM, Berliner und Wiener Moderne, 215 ff.

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entdeckt. Einerseits zeichnen sich die Linien der Stadt in das Gesicht des Subjekts ein, andererseits bekommt die Stadt im Wortsinn einen Körper mit einem „Knie“ sowie ein Gesicht mit ‚Linien’ und einem eigenen ‚Lachen’. Telos dieser Inversionen ist kein selbstreferentielles Spiel mit der Grenze von Fiktion und Realität, sondern die Utopie einer zum lebendigen Gesicht gewordenen Stadt, die den Individuen nicht leblos gegenübersteht, sondern sie gerade in ihrer Fremdheit ihrer selbst gewahr werden lässt. Auf diese Utopie zielt die Bezeichnung der Berliner als „Maulwürfe“, die ihr dumpfes Untergrundleben verlassen sollten, und als „Ostereier“, die allererst bemalt, zu Kunst verwandelt werden müssten, um das Glücksversprechen, das ihnen innewohnt, zum Leben zu erwecken. In diesem Zusammenhang auch ist die Rede von der urbanen ‚Natur’ zu verstehen: Während die empirischen Großstädter „von Natur“ aus „verkalkt“ sind, wird die „Asphalttafel“ umgekehrt zur Einschreibfläche von „Natur“, vermag das „Plakat“ zum Gesicht, der Fahrplan zum Lebewesen zu werden und das „harte Herz“ sich zu ‚rühren’. Residuum von Natur im emphatischen Sinn ist demnach nicht die erstarrte Innerlichkeit des Subjekts, die der anonymen Gesellschaft wie die ‚grüne Lunge’ der Großstadt bloß entgegenstände, sondern die Sphäre von „Asphalt“ und Massenkultur. Weil die Plakate längst menschlicher als die Menschen lachen, können die Subjekte nur mehr durch die Sphäre massenkultureller Clichés hindurch, nicht im sturen Beharren auf ihrem partikularen Selbstsein, ‚aus sich herauskriechen’. Dies ist die frohe Botschaft, die das weihnachtliche Szenario, das die Szene am Ende entfaltet, verspricht: Nicht weil sie sich auf ihr warmes Herz besinnt, sondern weil gerade das „harte Herz Berlins“ das „Blut“ der Menschen färbt und ihre „Gesichter“ erfrischt, während ärmliche „Schaumglaskugeln“ zu ‚Altären’ werden, nennt die Erzählerin das Weihnachtsspektakel eine „Offenbarung“, obwohl sie „keine Christin“ sei: „Diese Erkenntnis sollte des Jehovavolkes hochmütigster Reichtum sein.“ (81) Das Erlösungsversprechen verwirklicht sich nicht in einer verstockten Frömmigkeit, die dem massenkulturellen Spektakel mit Ressentiment begegnet, sondern weit eher im „hochmütige[n] Reichtum“ des selbstherrlichen Subjekts, das, darin der messianischen Erwartung des „Jehovavolkes“ folgend, gerade im profanen Spektakel eine Ahnung davon erhascht, was Erlösung meinen könnte. Darin liegt der Kern von Lasker-Schülers Aufhebung des Gegensatzes zwischen Nüchternheit und Spiel, die bei Serner kaum mehr denkbar ist. Während es bei Serner, wie Theodor Lessing in einer Rezension der Tigerin geurteilt hat, unmöglich ist, „zu unterscheiden, wo die Wahrheit des Affektlebens aufhört und wo seine Gespieltheit beginnt“, weil jedes „Stück Natur“ von den zu ihren eigenen Darstellern gewordenen Subjekten neutralisiert und „ausgebeutet“ werde,138 scheint bei Lasker-Schüler in eben dieser Ununterscheidbarkeit die Möglich138

T. LESSING, Der Maupassant der Kriminalistik. In: T. MILCH (Hg.), Walter Serner. Der Abreiser. Materialien zu Leben und Werk. München 1984, S. 81-84, hier S. 83.

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keit einer Rettung von Natur und Affektivität im Modus ästhetischen Spiels auf. Anders als Landauer, der aller Radikalität seiner anarchistischen Sozialutopie zum Trotz deren Verwirklichung nie anders als in der Agrarkommune zu denken vermochte,139 knüpft sich diese Utopie in Mein Herz an die Vorstellung, dass die ihrer eigenen Möglichkeiten innewerdende Großstadt zur Natur, zum lebendigen Antlitz einer erlösten Menschheit werden könnte.

b) Mein Herz II: Liebesgesichter: Tableau vivant, Marionette, Karikatur Erst vor dem Hintergrund dieses emphatischen Bezugs auf die urbane Massenkultur mit ihren klischierten Glücksversprechen erschließt sich die Bedeutung der Tatsache, dass Mein Herz auf fast jeder Seite die Bild- und Figurwerdung der Subjekte als Modus von Autonomie und Selbstherrlichkeit thematisiert. Während gängige Gender- und Postmoderne-Theorien in der scheinbaren Privilegierung der Maske gegenüber dem Gesicht, der Rolle gegenüber dem Subjekt stets nur die Dekonstruktion jeglicher Subjektdiskurse erkennen wollen,140 zeigt der Textbefund, dass das Zum-Bild-Werden bei Lasker-Schüler im Gegenteil auf die Bekräftigung von poetischer Subjektivität und Autonomie zielt. Nicht nur die Erzählerin, auch ihre verschiedenen ‚Geliebten’ werden den Text hindurch als Bilder, Kunstwerke oder Figuren vorgestellt: Ich habe mich endgültig in den Slawen verliebt – warum – ich frage immer nur die Sterne. Ich liebe ihn ganz anders wie den Muselmann, sein Kuss sitzt noch, ein Goldopas-Schmetterling, auf meiner Wange. Den Slawen aber möchte ich immer nur anschaun, wie ein Gemälde auf Altmeistergrund. Eine Feuerfarbe 139

140

Eine Ausnahme ist die 1912, nahezu zeitgleich mit Mein Herz, erschienene Prosaskizze „Rückkehr in die Großstadt“, die zwar mit der üblichen zivilisationskritischen Diagnose beginnt, in der Großstadt könne man sich nicht „zu Hause“ fühlen, die urbane Existenzweise aber durchaus auch als Möglichkeit eines besseren Lebens in den Blick bekommt, etwa wenn es heißt: „Und wir gehen durch die Straßen der Stadt und sehen durch alle Larven und Gespenstergewandungen der Gesellschaft hindurch das Blut in den Menschen kreisen, das ihnen von der Unendlichkeit vererbt wurde und ins Unendliche weiter [...] pochen soll.“ (G. LANDAUER, Rückkehr in die Großstadt. In: ders., Zeit und Geist, S. 209-225, hier S. 209 und S. 212). Paradigmatisch für diesen Begriff von Maskerade ist der inzwischen kanonische Aufsatz von J. RIVIERE, Weiblichkeit als Maskerade In: L. WEISSBERG (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt/M. 1994, S. 34-47. – Mehr Ähnlichkeiten mit LaskerSchülers Selbstfiguralisierungen hat das Verständnis von Maskerade bei E. LENK, Die sich selbst verdoppelnde Frau. In: dies., Kritische Phantasie. Gesammelte Essays. München 1986, S. 149-160. Maskerade und Rollenspiel werden hier begriffen als „ästhetische[s] Handeln“, das, indem es den „Objektcharakter von Kunst“ transzendiert, auch die Subjektwerdung der Individuen allererst ermöglicht (S. 151).

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hat sein Gesicht, ich verbrenne beim Anschaun und muss immer wieder hin. [...] Ich schrieb ihm: Süßer Slawe, würdest Du in Paris im Louvre gehangen haben, hätte ich Dich statt der Mona Lisa gestohlen. Ich möchte Dich immer anschauen, ich würde gar nicht müde werden; ich würde mir einen Turm bauen lassen, ohne Türe. Ich möchte am liebsten zu Dir kommen, wenn Du schläfst, damit Deine Wimper nicht zuckt im Rahmen. Ich denke gar nicht mehr, als an Dich und nur an Dich und nie anders, als ob Du in einem Rahmen ständest. So schön wie Du gestern abend warst, Du warst so schön, man müsste Dich zweimal stehlen, einmal der Welt und einmal Dir selbst; Du weißt am schlechtesten mit Dir umzugehen, Du hängst Dich immer ins falsche Licht. (11 f.) Ich kenne keine Sünde, mag sein, dass ich sie oft von außen her mit Süßigkeiten mir greife, ich habe noch nie etwas davon gemerkt. Lebe das Leben ja tableaumäßig, ich bin immer im Bilde. Manchmal werde ich unvorteilhaft hingehängt, oder es verschiebt sich etwas in meinem Milieu, auch bin ich nicht mit der Einrahmung zufrieden. Einrahmungen sind Einengungen, Unkunst, Grenzen, die sich kein Gott, aber ein Gottdilettant zieht. Die runden Rahmen haben noch etwas Kreisendes, aber die viereckigen, neumodischen, sind so ganz menschlich aus dem Kosmos getreten. Ich sehe also aus dem Bilde das Leben an; was nehm ich ernster von beiden? Beides. Ich sterbe am Leben und atme im Bilde wieder auf. Hurra! (82 f.) Ich möchte aus Geschmacksgründen in Deinem Interesse, dass Du mir treu warst. Nach mir durftest Du Dich nicht richten, ich habe den Menschen nie anders empfunden wie einen Rahmen, in den ich mich stellte; manchmal, ehrlich gesagt, verlor ich mich in ihm, zwei waren aus Gold, Herwarth, an dem einen blieb mein Herz hangen. Herrlich ist es, verliebt zu sein, so rauschend, so überwältigend, so unzurechnungsfähig, immer taumelt das Herz; gestern noch stand ich vor dem Bilde des stolzen Medici, er ist lebendig geworden und wollte mich in der Nacht entführen. (124)

Die Konnotation von Liebe mit ästhetischen Oberflächenphänomenen wie Schminke, Schmuck, Theatralität und Inszenierung – der „Kuss“ als „Goldopas-Schmetterling“, Liebende und Geliebter als „Gemälde“, Treue als eine Frage des „Geschmacks“ – verwischt nicht im Sinne einer narzisstischen ‚Verliebtheit’ die Differenz zwischen den verschiedenen Gegenständen affektiver Zuwendung, sondern macht es überhaupt erst möglich, sich einerseits „endgültig“ zu verlieben, andererseits aber auch jeden Einzelnen „anders“ zu lieben. Während der diskurs- oder systemtheoretische Blick, der die vom liebenden Affekt avisierte Exklusivität und Besonderheit als Code-Effekt entzaubert, die Logik universalen Tauschs, gegen die der bürgerliche Begriff von Liebe und Treue als kritische Reflexion seines eigenen Prinzips einmal aufge-

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richtet worden ist,141 blind perpetuiert, indem er die „Einzigartigkeit des Individuums“ nur noch als diskursives „Prinzip“ fassen kann, das einen mit dem Aufkommen des Bürgertums sich eröffnenden „semantische[n] Leerraum“ ausfülle,142 entzieht sich Lasker-Schülers Liebesbegriff, der „keine Sünde“ kennt und doch auf ‚Treue’ zielt, bürgerlichen wie antibürgerlichen Liebesvorstellungen gleichermaßen. Das sich durch Rekurs auf Exklusivität und Innerlichkeit konstituierende bürgerliche Liebesideal und die antibürgerliche Feier einer ‚treulos’ vagierenden Liebe treffen sich bei aller Gegensätzlichkeit darin, dass sie den Gegenstand liebender Zuwendung zum toten Ding, sei es nach Maßgabe bürgerlichen Eigentums, sei es als frei flottierendes Objekt universalen Tauschs, degradieren. Demgegenüber zielen die Bilder des Schmucks und des Gemäldes auf eine Liebe, in der das Subjekt in seiner Autonomie umso intensiver seiner selbst gewahr wird, umso intensiver es das geliebte Gegenüber in dessen Fremdheit und Unverfügbarkeit erfährt: Wenn der „Kuss“ des Geliebten auf der „Wange“ „wie ein Goldopas-Schmetterling“ sitzt, wird er als Fremdkörper, als Schmuckstück wahrgenommen, das zugleich aber als Fremdes emphatisch Teil des eigenen Körpers ist, ihn auszeichnet und ziert. Wenn die Erzählerin den Slawen „anschaun“ muss, um angesichts der „Feuerfarbe“ seines Gesichts zu ‚verbrennen’, und ihn ihm Schlaf besuchen möchte, damit seine „Wimper nicht zuckt im Rahmen“, wird nicht die Verschmelzung, sondern die Distanz zwischen Selbst und Anderem als Voraussetzung für die Erfahrung rauschhafter Intimität bestimmt. Deshalb ist die Klage, dass die „Einrahmungen“ immer auch „Einengungen“ seien, im gleichen Moment als Lobpreisung zu verstehen. Indem sie dem Subjekt „Grenzen“ ziehen und das Leben „im Bilde“ unhintergehbar machen, erinnern sie es daran, dass es nicht „Gott“, sondern „Gottdilettant“ ist, seine Liebe nicht in omnipotenter Allmacht auf die Welt projizieren kann, sondern gerade im liebenden Affekt abhängig bleibt von der Inkommensurabilität des Anderen. Die narzisstische Kränkung, die das Subjekt dadurch erfährt, dass ihm 141

142

Über den Konnex von bürgerlicher Aufklärung und Liebesbegriff in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts siehe C. HONEGGER, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfurt/M. 1991, S. 72 ff. – Nicht der auf substantialistischen Konzepten ‚weiblicher Natur’ beruhende romantische, sondern weit eher der rationalistisch-aufklärerische Ehe- und Treuebegriff war zumindest teilweise vereinbar mit der „Idee einer weiblichen Subjektivität“ und mit der Vorstellung, „dass auch die Weiber ichhaft organisiert seien“, mithin als Partner eines Vertrags überhaupt in Betracht kämen (S. 84). N. LUHMANN, Liebe als Passion, S. 167. – Konsequent interpretiert Luhmann das Liebesideal individueller „Einzigartigkeit“ lediglich mit Blick auf dessen „Funktion“, nämlich „als Entropie aufhaltende, dem Zerfall entgegenwirkende Orientierung“ (S. 169), was nicht nur in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Alltagserfahrung steht, sondern das utopische Potential des sich ans Besondere, Untauschbare heftenden Affekts von Liebe von vornherein preisgibt.

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„Grenzen“ gesetzt sind, wird hundertfach gutgemacht durch die beglückende Erfahrung, „im Bilde“ aufatmen zu können, wenn es „am Leben“, an der empirischen Existenz, zunichte zu werden droht. Die Emphase des Bildes zielt weder auf Depotenzierung des Anderen zum Bild noch auf blinde Identifikation des Subjekts mit seiner ‚Rolle’, die es ständig performativ herzustellen und zu verändern gelte.143 Vielmehr ermöglicht das ‚tableaumäßige’ Leben, indem es die privative Innerlichkeit ebenso überschreitet wie die Rollenschemata der sozialen Existenz, emphatische Subjektivität: Erst weil es den Menschen als „Rahmen“ empfindet, in den es sich „stellt“, kann das „Herz“ des Subjekts doch „an dem einen [...] hangen“ bleiben. Die rauschhafte Erfahrung, sein Herz zu ‚verlieren’, wird nur möglich in Form eines Rollenspiels, das alle auferlegten Rollen transzendiert und das Subjekt in seiner ‚Unzurechungsfähigkeit’, in seiner Inkommensurabilität, zum Leben erwachen lässt. Subjektivität ist mithin weder das von den „Einrahmungen“ des „Milieu[s]“ geknebelte Substrat, das allein in der Innerlichkeit des Herzens zu sich selbst finde, noch wird sie von den „Einrahmungen“ als Abgeleitetes, als ästhetischer Effekt, bloß hervorgebracht. Vielmehr konstituiert sie sich, indem das Bild „ernster“ als das Leben und das Leben „ernster“ als das Bild genommen, der Wahrheitsgehalt des einen gegen den Wahrheitsgehalt des anderen geltend gemacht wird im Namen eines Lebens, das nicht nur ist, sondern ‚aufatmet’, und dadurch überhaupt erst lebt. Auf den Punkt gebracht wird diese Poetik des lebenden Bildes in dem Satz: „[M]an müsste Dich zweimal stehlen, einmal der Welt und einmal Dir selbst“: Subjektivität kann demnach allererst möglich werden, indem das Subjekt „der Welt“ gestohlen wird, die es zum identischen Individuum, zur Rolle erniedrigt; aber auch erst, indem es sich selbst gestohlen wird, sich nicht in der Partikularität bloßen Selbstseins verschanzt, sondern an die „Welt“ entäußert, in der allein es als Subjekt zu sich selbst kommen kann. Dieser doppelte Diebstahl, der in Wahrheit ein doppeltes Schenken ist, bezeichnet das Telos von Lasker-Schülers Poesie. Die skizzierte Poetik des tableau vivant wird bei Lasker-Schüler mit einer Erfahrung von Schönheit verknüpft („So schön wie Du gestern abend warst, Du warst so schön“), die sich vom bild- und ikonenverliebten Schönheitsideal des Jugendstils, wie es sich etwa in Hilles ‚schönen’ Kinderszenen sedimentiert, durch die Weigerung unterscheidet, Schönheit auf Mortifikation von

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M. HALLENSLEBEN, Zwischen Tradition und Moderne, liegt daher doppelt falsch, wenn er einerseits unterstellt, die „Mitspieler“ in Mein Herz seien bloße „Schachfiguren“ und hätten „einen passiven Part“ (S. 198), andererseits aber das poetische Rollenspiel als Arbeit der Autorin an ihrem „metaphorischen Ich“ begreift (S. 204). – Die Metaphorik des ‚Rahmens’ deutet Hallensleben übrigens als Hinweis darauf, in Mein Herz würden „die institutionellen Rahmenbedingungen“ von Kunst reflektiert (S. 200; Hervorhebung M.K.).

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Leben zu gründen.144 Stattdessen wird Schönheit bestimmt als Erfahrung des lebendigen Bildes, das sich, indem es das Subjekt ‚aufatmen’ lässt, gegen die mortifizierende Tendenz ästhetischer Stilisation ebenso wehrt, wie es, als lebendiges Bild, Widerstand gegen das bloße ‚Leben’, die Sphäre empirischen Daseins, leistet. Dieses Changieren zwischen Leben und Bild, das im Motiv des Rahmens als Trennung und Vermittlung zwischen Kunst und Wirklichkeit zusammengefasst ist, erinnert nicht zufällig an das Verständnis freier Intersubjektivität, wie es Jessica Benjamin in Anlehnung an Winnicotts Analyse des kindlichen Spiels entfaltet. Ein „Zustand intensiven Selbstbewusstseins“, so Benjamin, stelle sich weder in der Einsamkeit des isolierten Subjekts noch in dessen Aufgehen in kollektiven Zusammenhängen her, sondern „in einer Situation, wo wir auch andere besonders klar wahrnehmen – ihre einzigartige Besonderheit, ihre unabhängige Existenz.“145 Diese so intime wie kommunikative „reziproke Beziehung zwischen dem Selbst und anderen“ illustriert sie anhand von Eschers Vögeln, jener optischen Illusion, „bei der Gestalt und Hintergrund dauernd ihre Beziehung wechseln, während die Begrenzungen deutlich sichtbar bleiben“, und die vom Betrachter verlange, „in zwei Richtungen gleichzeitig zu blicken“, so dass eine „paradoxe Spannung zwischen dem Hierhin und Dorthin“ entstehe, die aber doch „intuitiv als ‚richtig’“ empfunden werde.146 In Anlehnung an Hegels Begriff der Anerkennung und im Widerspruch zur Freud’schen Psychoanalyse, die Objektbeziehungen hauptsächlich im Modus von Verinnerlichung und Externalisierung, also letztlich nur als Bezugnahme des Ich auf sich selbst zu denken vermöge, überführt sie dieses Konzept in ein Modell von Intersubjektivität, das freie Subjektwerdung an die unverkürzte Wahrnehmung des Gegenüber als Anderen bindet: „Das Bedürfnis des Subjekts nach dem Anderen ist insofern paradox, als das Subjekt sich als ein Absolutes, als ein selbständiges Wesen zu setzen versucht, aber um selbst anerkannt zu sein, auch den Anderen als Gleichen anerkennen muss. [...] Das Subjekt ist nur an seinem Tun zu erkennen. Nur wenn dies Tun für den Anderen eine Bedeutung hat, hat es auch für das Selbst eine Bedeutung. Aber jedes Mal, wenn das Selbst etwas tut, negiert es den Anderen, das heißt, wenn der Andere durch dieses Tun beeinflusst wird, ist er nicht mehr identisch mit demjenigen, der er vorher war.“147 So verlockend es wäre, dieses 144

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Zur Verschwisterung von Ästhetik und Mortifikation im Schönheitsbegriff des Jugendstils vgl. T. W. ADORNO, GS 7: Ästhetische Theorie, S. 352 f. Dort heißt es bereits, das Schönheitsideal des Jugendstils sei „leer und stoffbefangen zugleich“, verharre „in unmittelbare[r] Antithese zur als hässlich verstoßenen Gesellschaft“ und bleibe „verstrickt ins Schicksal des erfundenen Ornaments“ (S. 352; Hervorhebung M.K.). Auf diese Erkenntnis nicht zu reagieren, indem das Ornament abgeschafft, sondern indem es zum Sprechen gebracht wird, ist Grundimpuls von Lasker-Schülers Ästhetik. J. BENJAMIN, Die Fesseln der Liebe, S. 28. Ebd. Ebd., S. 34f.; Hervorhebung M.K.

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Modell auf seine Reichweite zur Explikation ästhetischer Kommunikation hin zu befragen, genügt an dieser Stelle der Hinweis, dass es sich bis in die Metaphorik auf Lasker-Schülers Konzept poetischer Subjektivität mit seinem Wechselspiel von Bild und Leben sowie dem Rahmen als ‚Grenze’ beziehen lässt: Den Anderen als „Rahmen“ zu empfinden, in den man sich ‚stellt’, zielt auf ein Verständnis von Subjektivität, das sich durch Anerkennung der Fremdheit des Anderen konstituiert. Es birgt, da es sich in gewisser Weise an den Anderen ausliefert, stets die Gefahr, „ins falsche Licht“ gerückt oder „unvorteilhaft hingehängt“ zu werden,148 aber auch die Hoffnung, durch Entäußerung ans ‚Leben’ allererst zum ‚stolzen’, selbstherrlichen Subjekt zu werden. Während jedoch Benjamin, obgleich sie zur Illustration ihres Modells mehrfach auf Formen von Kunstwahrnehmung zurückgreift, dieses als unmittelbare Möglichkeit empirischen Daseins – etwa in der Mutter-Kind-Dyade – ansetzt, wird die ästhetische Sphäre bei Lasker-Schüler selbst zur unhintergehbaren Voraussetzung ‚aufatmenden’ Lebens. Als Ort jenes Tuns, welches dazu führen kann, dass das Subjekt „nicht mehr identisch mit demjenigen“ ist, das es „vorher“ war, wird nicht unmittelbar der Bereich von Praxis und Lebensalltag, sondern dessen bereits verwandelte poetische Spielform bestimmt. Deshalb kommen allein in Kunstwerke und Figuren verwandelte Gestalten (Mona Lisa, der ‚stolze Medici’), nicht empirische Personen, als Gegenstände von liebender Zuwendung in Betracht. In einem interessanten Passus von Mein Herz wird dieser Begriff von Liebe in scheinbar elitärem Duktus ausdrücklich gegen die triviale Sphäre der ‚Dienstmädchen-Liebe’ abgegrenzt: Mein Dienstmädchen ist mein Galleriesonntagspublikum zu halben Preisen. Ich kann mich nie so recht, neben ihr gehend, meiner Gedanken freuen oder daran zu Grunde gehen, sie bringt mich immer aus meinen Inspirationen. Sie tut nämlich immer nur so, in Wirklichkeit ist ihr alles langweilig, aber sie hat sich schon an den Rhythmus der Bahnlinien meiner Sprache gewöhnt [...]; manchmal entgleist sie, doch immer kommt sie über mich hinweg zu ihrem Schatz; an 148

Diese Gefahr eines Misslingens des poetischen Wechselspiels durch dessen Umschlag in Gewaltsamkeit oder Einseitigkeit wird im Roman mehrfach kalauernd kommentiert, etwa wenn es über den „Bischof“, mit dem sich die Erzählerin „entzweit“ habe, heißt: „Er wollte mich ja auch hauen, ich meine in Stein als Freske.“ (53) An anderer Stelle wird über die Frau des Graphikers und „Simplicissimus“-Mitarbeiters Ludwig Kainer gesagt: „Ich hänge aber eingeschlossen einigemale in ihrer Wohnung. Wie es mir gehen mag, meinen verschieden aufgefassten Ichs?`“ (103) – Im ersten Beispiel wird die‚Entzweiung’ ironisch aufgefangen, indem die Aussage, der Geliebte habe die Erzählerin „hauen“ wollen, von der alltagssprachlichen auf die ästhetische Sphäre („als Freske“) transponiert wird. Im zweiten Beispiel wird die Erfahrung, „eingeschlossen“ in einer Wohnung zu ‚hängen’, nicht als Einengung, sondern als Freisetzung der „verschieden aufgefassten Ichs“ begriffen, die sich vom Subjekt gelöst und verselbständigt haben.

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ihn denkt sie irdisch, unterirdisch, sie wühlt, wenn ich ihr vom Himmlischsten erzähle. Warum habe ich ihr von St. Peter erzählt, vom Angesicht Stephan Georges? Welches Ausnahmeglück es für mich bedeuten würde, in sein Angesicht eine lange Stunde blicken zu dürfen, und noch einige Menschen möchte ich wohl betrachten, wie die Gottwerke alter Dome und Tempel. [...] Ich erzählte sicher ohne Pathetik, ich sprach wie zu einem Kind und dennoch schäme ich mich seitdem vor dem Geschöpf; so habe ich mich in der Schule schon geschämt meiner schönsten Geschenke wegen; die Welt ist angefüllt von Dienstmädchen und Knechten (von armen und reichen, von gebildeten und rohen); der Deutsche verwechselt immer Rohheit mit Urwuchs; und doch würde mich eine Kartoffelknolle eher verstehen wie so ein urwüchsiger Mensch. Ich hasse die Liebe unter den Alltäglichen [...]. Lieben dürfen sich Tristan und Isolde, Carmen und Escamillo, Ratcliff und Marie, Sappho und Aphrodite, der Mohr von Venedig und Desdemona, Wilhelm von Kevlaar, Du, Herwarth, und Gretchen, Romeo und Julia, Faust und Margarete, Mephisto und die Venus von Siam, der weiße Panther und Joseph der Egypter, Sascha der gefangene Prinz und Scheheresade – „er“ nannte mich Scheheresade. Gute Nacht. (66 f.)

An kaum einer anderen Stelle ihres Werks lässt sich die soziale Adresse von Lasker-Schülers Poetik so präzise ablesen wie an dieser mit Berufung auf Stefan George vorgetragenen Schmähung von „Dienstmädchen und Knechten“, die dennoch auf das genaue Gegenteil ästhetizistischen Dünkels zielt. Die Verurteilung der ‚eingleisigen’ Gedanken des Dienstmädchens, das die ‚himmlische’ poetische Rede der Erzählerin als „Bahnlinie“ benutzt, um beim immer gleichen „Schatz“ anzukommen, richtet sich nicht gegen den vermeintlichen Stumpfsinn von Dienstboten,149 sondern gegen eine enthusiasmusferne Welt, die das „Ausnahmeglück“, im menschlichen „Angesicht“ ein „Gottwerk“ erkennen zu dürfen, nicht einmal mehr als Utopie kennt, alles „langweilig“ macht und jeden affektiven Impuls – die ‚Freude’ ebenso wie das ‚ZuGrunde-Gehen’ – den Subjekten auszutreiben sucht. Indem sie die Welt als „angefüllt von Dienstmädchen und Knechten“, und zwar von „armen und reichen, gebildeten und rohen“ beschimpft, wendet sich Lasker-Schüler nicht im Namen eines hybriden Ästhetizismus gegen den Pöbel, sondern, ganz im Sinne Landauers, im Namen der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen gegen 149

Dies ist schon dadurch evident, dass Lasker-Schüler während ihres Bohème-Lebens an der Seite Herwarth Waldens, und erst Recht in der Zeit ihrer Scheidung von ihm, als Mein Herz erschienen ist und sie eine Existenz in Hotelzimmern und Pensionen begann, mit Sicherheit kein Dienstmädchen gehabt haben dürfte. Zu Lasker-Schülers Ehe mit Walden und zu ihren damaligen Lebensumständen siehe S. BAUSCHINGER, Else Lasker-Schüler. Ihr Werk und ihre Zeit, S. 85 ff.

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eine Welt, die Subjektivität nur als Knechtschaft, Leben nur als Dienst zu kennen scheint. Während der „Urwuchs“ der „Kartoffelknolle“ als stummes Residuum kreatürlichen Lebens durchaus als Adressat poetischer Kommunikation in Betracht käme, bezeugt die „Rohheit“ der „Knechte“ jene Befangenheit der Menschen im Naturzustand, zu dem Geschichte geworden ist und den der Deutsche als ‚urwüchsig’ preist. Dass die Erzählerin dennoch gerade gegenüber dem Dienstmädchen von Stefan George schwärmt, bürgt für ein wahrhaft radikales Konzept von poetischer Autonomie, das das „Galleriesonntagspublikum zu halben Preisen“ nicht mit After- und Proletenkunst abspeisen will, sondern ihm geben möchte, was am wenigsten zu ihm passt und ihm deshalb am meisten gebührt: George nicht für Eingeweihte, sondern für alle. Indem sie „ohne Pathetik“ und „wie zu einem Kind“ mit dem Dienstmädchen über ihre Sehnsucht spricht, Georges Antlitz „eine lange Stunde“ betrachten zu dürfen, schreibt sich die Erzählerin keinen Adelsstatus zu, um das Dienstmädchen auf seine Stellung als Mädchen, als Kind, zu reduzieren, sondern verwandelt sich selbst in ein Mädchen, in einen Backfisch, der die Größe des Dichterfürsten wie ein Wunder bestaunt, statt sich mit ihm auf Augenhöhe zu fühlen.150 In diesem Sinne zum Mädchen zu werden, wäre insofern gerade eine Möglichkeit, nicht mehr Diener zu sein, die Sphäre des ‚Irdischen’, die in Wahrheit „unterirdisch“ ist, nicht Leben, sondern nur stumpfes Vegetieren zu 150

Insofern sich die Schwärmerei für das „Angesicht“ Georges zweifellos auf den schon seinerzeit virulenten Kult um Georges Bild bezieht, das in zahlreichen Fotografien verfügbar war, ließe sich die George-Passage auch als Widerspruch gegen die verbreitete These lesen, der von George initiierte Bilderkult sei, in Einklang mit den feudalen Repräsentationsritualen des niedergehenden Bürgertums, nicht anders denn als autoritärer Versuch der Kompensation eigener Statusunsicherheit zu verstehen (G. MATTENKLOTT, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George. München 1970, S. 175 ff.). Georges Ikonologie politisch als autoritär, soziologisch als Reklamestrategie zu entlarven, ist so einfach wie unbefriedigend. Lasker-Schülers backfischhafte Idolatrie für Georges Antlitz macht dagegen deutlich, dass Georges kunstaristokratische Anmaßung, was immer man sonst von ihr halten mag, gerade in ihrer Einseitigkeit einen Autonomieanspruch formuliert, hinter den nicht zurückfallen darf, wer die Rede vom ästhetischen Schein als Antizipation gesellschaftlicher Freiheit ernstnimmt. Vorzuwerfen wäre George aus dieser Perspektive allenfalls, dass er das Versprechen der ‚Besonderheit’, das sich in seinem Bild eben auch als kollektives, an jeden Einzelnen gerichtetes artikuliert, nicht eingelöst habe. In diese Richtung geht die Kritik, die Lasker-Schüler 1909 in einem Brief an Paul Zech formuliert: „Stefan Georges Dichtungen sind aus Kristall und das ist blutleer. Er sieht aus wie ein Erzengel (e r s c h ü t t e r n d.) Wenn ich ihm begegne, schenke ich ihm immer etwas.“ (KA 6, 101) – Ähnlich wie bei Hille, der in der Dienstmädchen-Passage ja auch erwähnt wird, wendet sich Lasker-Schüler mit der Rede vom „Erzengel“ und vom „Kristall“ gegen die Neigung zur stolzen Selbstimmunisierung, in welcher der poetische Autonomieanspruch sich auf sich selbst zurückzieht. Dass Lasker-Schüler George mit Geschenken überhäuft, ihm also gibt, was er am wenigsten zu geben vermochte, ist insofern nur konsequent.

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bieten hat, zu überschreiten und zumindest eine Ahnung davon zu bekommen, was in Georges Unnahbarkeit strikter bewahrt bleibt als in der Jovialität des Zigarre rauchenden Brecht: dass sich nur durch die ‚fürstliche’ Anmaßung des Subjekts hindurch, und nicht gegen sie, menschliche Freiheit verwirklichen könnte. Eben darauf zielt die Polemik gegen die „Liebe unter den Alltäglichen“, die nichts mit der bohème-typischen Idolatrie für gesellschaftliches Exotentum zu tun hat. Im Gegenteil bezeugt schon allein die bloße Anzahl der am Ende im bunten Durcheinander aufgezählten Liebespaare, ebenso wie deren kalauernde Profanierung („Scheheresade“ / „Gute Nacht“), dass es nicht um Fetischisierung von Besonderheit, sondern darum geht, jedem Einzelnen anzusinnen, sich selbst zum ‚Ausgezeichneten’ zu erheben, weil es kein Exklusivrecht, sondern Menschenrecht ist, wie „Romeo und Julia“ oder „Sappho und Aphrodite“ zu lieben. Wegen dieser Zumutung, mit der jedes Dienstmädchen um seines eigenen Glücks willen zu konfrontieren wäre, ‚schämt’ sich die Erzählerin ihrer Worte wie ihrer „schönsten Geschenke“: Schönheit meint bei Lasker-Schüler immer auch eine Gefahr und Zumutung, nie die Selbstgenügsamkeit der vollendeten Form. Dass dieses Ideal einer gefährlichen, provozierenden Schönheit nicht allein für Lasker-Schülers Liebesbegriff in Mein Herz konstitutiv, sondern wiederum nur als Reaktion auf urbane Erfahrungen und Verkehrsformen angemessen zu verstehen ist, zeigt eine Passage, die das Motiv der Koketterie mit dem Kleist’schen Motiv der Marionette als Verkörperung von Anmut und Grazie verknüpft: [D]er Bischof telephoniert eben, ob wir gleich etwas in Sibirien spazieren gehen wollen. Wir nennen nämlich die Gegend am Lützowerplatz in Charlottenburg Sibirien. Wir haben überhaupt viel gleiche Empfindungen beim Anschaun der Welt. Auch sehen wir dieselben Tiere im Menschengesicht. Die Katzen liebt er, ich nicht. Ich werde ihn heute fragen, ob er die Katzen mehr liebe wie mich. Solche Fragen berühren ihn glücklich. Ich frage ihn vieles Verhängnisvolle auf französisch, als wäre er mein Gouverneur. Es ist so aufatmend, wenn einem auf einmal alle die verantwortlichen Gedanken und eingenisteten Gefühle von der Schulter gleiten und man eine Marionette ist, am feinen Seidenfaden geleitet. Aber manchmal bin ich sein goldener Ball, den er liebevoll in Kinderhände wirft. Oder ich schlummere vom Rausch seiner Worte, er hat etwas Rebenartiges. Ich lehne, seitdem ich ihn kenne, oft an schwarzangestrichenen Wänden der Häuser und werde süß. Wenn er nicht mit mir spielen würde! Ich müsste verdorren in der Nüchternheit von Berlin. Unter Asphalt ist sogar hier die Erde begraben; einen großen Baldachin wie des Wintergartens dumpfer

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Sternenhimmel wollen sie jetzt über die Hauptstadt bauen; wo soll man dann hin blau sehn. (24 f.)151

Hier wird unmittelbar deutlich, dass die von Lasker-Schülers Kolportagephantasien intendierte ‚Schönheit’ zwar das Cliché als zum authentischen Wunschbild geronnene Glücksphantasie voraussetzt, aber eben zugleich überschreitet. Der „Baldachin“ des Berliner „Wintergartens“, jene mit Glühlampen bestückte Deckenkonstruktion, die seinerzeit Berühmtheit erlangte, wird nicht als Anregung zur poetischen Produktion wahrgenommen,152 sondern als „dumpf“, als kulturindustrielle Staffage denunziert, die das Publikum nicht etwa zerstreut, sondern „verdorren“ lässt, weil der artifizielle Himmel den wirklichen zu ersetzen droht, statt die ‚himmlische’ Sehnsucht ästhetisch wach zu halten und zu befeuern. Es geht es bei der Kritik am künstlich illuminierten Himmel, am „Asphalt“, der die „Erde“ begräbt, und an der urbanen „Nüchternheit“ also nicht um regressiven Zivilisationspessimismus, sondern – ganz im Sinne der Lunapark-Szene – darum, die großstädtische Massenkultur an dem zu messen, was sie den Individuen verspricht. Die Furcht, man könne bald nirgends mehr hingehen, um „blau“ zu „sehn“, ist nicht Ausdruck der Sehnsucht nach roher Erde und blauem Himmel, sondern bezieht sich auf das Blau als Farbe der Poesie, dem bei Lasker-Schüler, ähnlich wie bei Bloch, der mit ihr die Begeisterung für den ‚Blauen Reiter’ teilte, das Versprechen einer befreiten Natur eingeschrieben ist, das eben nicht mehr der Natur unmittelbar, sondern nur noch der Kunst abgewonnen werden kann.153 Wie Kracauer die urbane Zerstreuungskultur kritisiert, weil sie die Massen in Wahrheit gar nicht zerstreue, sondern „die Mannigfaltigkeit der Effekte“, die es gerade freizusetzen gelte, „in ein gestalthaftes Ganzes pressen möchte“,154 so polemisiert LaskerSchüler gegen den künstlichen Sternenhimmel, weil er den Himmel in Wahr151

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In der von Ricarda Dick herausgegebenen Ausgabe ist von den „verantwortlichen Gedanken und eingenisteten Gedanken“ statt von „eingenisteten Gefühlen“ die Rede, was offensichtlich ein Druckfehler ist, der hier nach der Kritischen Werkausgabe (KA 3.1, 191) korrigiert wurde. M. HALLENSLEBEN, Else Lasker-Schüler, bezieht die Zeile „Maschentausendabertausendweit“ in seiner „Tibetteppich“-Deutung auf die „tausenden in die Decke geschraubten Glühbirnen“ des Wintergartens und illustriert dies durch eine zeitgenössische Fotografie (S. 137), die nur eines beweist: dass die Bilder in Lasker-Schülers Dichtung, so sehr sie auch durch konkrete Erfahrungen angeregt sein mögen, sich nicht auf ‚Empirie’ zurückführen lassen, ohne um ihre Substanz gebracht zu werden. Über das Blau als utopische Farbe vgl. den programmatischen Aphorismus „Täglich ins Blaue hinein“ bei E. BLOCH, WA 5: Das Prinzip Hoffnung I, S. 21 f., wo es übrigens auch um kindliche Murmel- und Knopfspiele geht. Zu Franz Marc und zur expressionistischen Malerei siehe E. BLOCH, Gauklerfest unterm Galgen. In: ders., WA 4: Erbschaft dieser Zeit, S. 80-86. S. KRACAUER, Das Ornament der Masse, S. 315.

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heit nicht näher auf die Erde holt, sondern ihn vollends versiegelt. Die Angst, in der „Nüchternheit Berlins“ zu „verdorren“, beklagt nicht die Trennung des Subjekts von der schönen Natur, sondern die Erstarrung urbaner Wirklichkeit in ihrem Sosein, das immer wieder spielerisch überschritten werden muss. Erst die spielerische Kommunikation lässt die Subjekte „süß“ werden und verwandelt die ‚kalte’ Großstadt in eine lebendige Landschaft, die als „Sibirien“ ihre Nüchternheit verliert und zur abenteuerlichen „Gegend“ werden kann, welche aus der empirischen Wirklichkeit, in der sie situiert ist, zugleich hinausführt. Darauf zielt das Bild vom Marionettendasein, das sich als Lasker-Schülers ‚seidene’ und ‚liebevolle’ Spielart großstädtischer ‚Außenlenkung’ deuten lässt. Nicht die Regression in Formen naturwüchsiger Unmittelbarkeit, sondern die rückhaltlose Bereitschaft, sich „am feinen Seidenfaden“ der Koketterie leiten zu lassen, das urbane Milieu und seine Verkehrsformen nicht zu verwerfen, sondern zu verwandeln, nicht Deutsch, sondern Französisch zu sprechen – die Sprache nicht nur der Liebe und der Aristokratie, sondern auch der republikanischen Zivilisation –, erlaubt es, die „verantwortlichen Gedanken und eingenisteten Gefühle“ abzuwerfen und ‚aufzuatmen’. Erst dadurch wird das Subjekt zum ‚süßen’ Wein, der an den Häuserwänden der Stadt empor rankt. Artifizielles Spiel und Leben, Kunst und Natur werden verschränkt in einer Utopie, die nicht auf die Rückkehr zur Natur, sondern auf ihre Herstellung im Modus von Spiel und ästhetischer Reflexion zielt, die aus dem ‚eingenisteten’ Ich die authentische Subjektivität hervortreten lassen.155 Auf dieses Herauswachsen aus sich selbst, das die nur schöne Form immer auch überschreitet, zielt Lasker-Schülers Begriff von Schönheit. Im Zusammenhang mit dem hier skizzierten Verständnis von Schönheit sind auch die in Mein Herz eingelagerten Karikaturen von Freunden und Bekannten wie Walden, Richard Dehmel, Peter Baum oder Kokoschka zu begreifen, die sich mittels kurrenter Termini wie ‚Intermedialität’ nur unzulänglich analysieren lassen. In ihnen entwirft Lasker-Schüler eine Poetik der Karikatur, die sich radikal von der Funktion der Satire gelöst hat. Die Karikatur wird bei Lasker-Schüler weder, wie paradigmatisch in der Ästhetik von Karl 155

Zumindest in diesem Aspekt konvergiert das Bild der Marionette mit der Kleist’schen Utopie, wie sie im Schluss des „Marionetten“-Aufsatzes festgehalten ist: „[S]o findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, dass sie, zur gleichen Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.“ (H. VON KLEIST, Über das Marionettentheater. In: ders.. Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner. Bd. 2. München 1985, S. 338-345, hier S. 345) – So deutlich sich hier bereits der für LaskerSchüler entscheidende Topos von der Vergöttlichung des Menschen andeutet, bleibt doch bemerkenswert, dass das Moment der Intersubjektivität, des freiwilligen SichEinlassens auf Andere, das für Lasker-Schülers Poetik konstitutiv ist, bei Kleist ausgeblendet wird.

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Rosenkranz,156 als besonders exponierte Erscheinungsform des Hässlichen, noch als Verfahren der ‚Charakterisierung’ im Sinne charakteristischer Zuspitzung eingesetzt.157 Stattdessen dienen die physiognomischen Verfremdungen dazu, hinter der empirischen Erscheinung, die in Wahrheit nur Sozialfassade ist, das Antlitz des Subjekts hervortreten zu lassen. Besonders relevant wird dabei das in der Karikaturgeschichte traditionsreiche Motiv der Verschmelzung von Mensch und Tier,158 das in der Marionetten-Szene mit dem Hinweis, die Erzählerin und der Bischof hätten „viele gleiche Empfindungen beim Anschaun der Welt“ und sähen „dieselben Tiere im Menschengesicht“, präludiert ist. In der satirischen Karikatur dient die Verschmelzung von Tierund Menschengesicht, wie Rosenkranz schreibt, dazu, „das an sich Nichtige durch seine eigene Übertreibung [zu verspotten], mit welcher es seine Ohnmacht enthüllt und damit ins Lächerliche übergeht“.159 Funktion des Synkretismus von Tier- und Menschenphysiognomie sei es dabei entweder, „Eigenheiten und Laster recht entschieden darzustellen“, oder „gute Eigenschaften und Tugenden ins Spiel zu bringen, um ein ziemlich vollständiges Gegenbild

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Vgl. K. ROSENKRANZ, Ästhetik des Hässlichen, hg. von Dieter Kliche. Leipzig 1990, S. 309 ff.. – Unter den Erscheinungsformen des Hässlichen billigt Rosenkranz letztlich allein der Karikatur die Möglichkeit zu, autonome Kunstform werden zu können, weil sie „das von ihr verzerrte positive Gegenbild“ durch reflektierte Negation „ins Komische“ zu transzendieren vermöchte (S. 310). Den Gipfel dieser Gestaltungsfähigkeit macht er in der „phantastische[n] Karikatur“ aus, die „von der Verzerrung alle ethische Gefährlichkeit“ abstreife und „in die Unendlichkeit der Idee selber, in das Schöne und Wahre und Gute an und für sich“ reflektiere (S. 339 f.). Rosenkranz bleibt somit trotz seiner differenzierten phänomenologischen Beobachtungen einem idealistischen Schönheitsideal verhaftet, ohne der Karikatur einen eigenständigen Begriff von Schönheit zuzutrauen. Zur Formbestimmung der Karikatur in Anschluss an Rosenkranz siehe G. OESTERLE, „Mit sich zugleich etwas Anderes darzustellen“. Die Entdeckung der Dialogizität der Karikatur in der spätidealistischen Ästhetik von Karl Rosenkranz und Friedrich Theodor Vischer. In: R. RÜTTEN / G. SCHNEIDER (Hgg.), Die Karikatur zwischen Republik und Zensur. Bildsatire Frankreichs von 1830-1880 – eine Sprache des Widerstands. Frankfurt/M. 1991, S. 153-158; ders., Karikatur als Vorschule von Modernität. Überlegungen zu einer Kulturpoetik der Karikatur mit Rücksicht auf Charles Baudelaire. In: S. VIETTA / D. KEMPER (Hgg.), Ästhetische Moderne in Europa. München 1998, S. 259-286. Außerdem W. KAYSER, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Mit einem Vorwort von Günter Oesterle. Tübingen 2004. Zur Ästhetik der Karikatur in der Moderne vgl. auch G. SIMMEL, Über die Karikatur. In: ders., GA 13, S. 244-251. Siehe hierzu bereits K. ROSENKRANZ, Ästhetik des Hässlichen, S. 317 ff. – Die Verwendung dieses Topos bei Lasker-Schüler untersucht die weitgehend deskriptive Arbeit von I. ZIMMERMANN, Der Mensch im Spiegel des Tierbildes. Untersuchungen zum Werk Else Lasker-Schülers. Ann Arbor 1981. K. ROSENKRANZ, Ästhetik des Hässlichen, S. 317.

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des menschlichen Treibens darbieten zu können.“160 Als Beispiel für die Verschränkung beider Verfahren nennt Rosenkranz die antiken und orientalischen „Tiermasken“, die durch „Parodierung des Weltlaufs“ die empirische Wirklichkeit karikierten, ihr im Tierbild aber auch die Möglichkeit einer besseren Welt entgegenhielten.161 In beiden Fällen bleibt die Tierphysiognomie jedoch funktional gegenüber der Darstellung menschlicher Typen bzw. Sitten: Entweder soll sie das „Nichtige“, Rohe, Unsittliche zur Erscheinung bringen, das vom Menschenantlitz verborgen wird, oder sie soll in parodistischer Inversion das Menschliche vorstellen, welches vom „menschlichen Treiben“, das sich demgegenüber als das eigentlich Tierische, Barbarische erweist, nicht realisiert wird. Nur in polemischer Relation zur Menschengesellschaft wird das Tierbild in der Karikatur relevant; für sich genommen ist es bedeutungsleer:

Von der Natur wird man nur uneigentlich sagen können, dass sie Karikaturen hervorbringe. [...] Wir nennen den Affen ein Zerrbild des Menschen, allein wir wissen sehr wohl, dass dies nur witzigerweise gesagt werden kann [...], und es ist unmöglich, eine Satire auf den Affen zu schreiben, denn er kann einmal nicht anders sein, als er ist [...]. Wohl aber kann die Satire einen depravierten Menschen zum Affen degradieren, weil er, gegen seinen eigenen Begriff, sich selber dazu herabsetzt.162

Die Charakteristika des karikaturistischen Tierbildes, wie sie sich bis hinein in die antisemitische Karikatur verfolgen lassen, sind damit festgelegt: Einen Menschen als Tier zu karikieren, kann demnach nie eine Aufwertung des Menschen in seiner ‚Tierheit’, seiner Kreatürlichkeit bedeuten. Vielmehr wird mit den tierischen Zügen entweder das ‚Depravierte’ des Individuums hervorgehoben oder parodistisch betont, was ihm mangelt. Umgekehrt wird auch dem Tiergesicht keine Würde zugesprochen, weil das Tier nie „anders“ sein kann, als es „ist“, und in Bezug auf den Menschen nur als „Zerrbild“ zu fungieren vermag. In der karikaturistischen Verknüpfung von Tier- und Menschengesicht liegt insofern stets eine reduktionistische Tendenz, die es letztlich als fragwürdig erscheinen lässt, überhaupt von einer Verschmelzung beider Physiognomien zu reden. Tatsächlich wird durch Darstellung des Menschen als Tier das menschliche Antlitz nicht bereichert oder differenziert, sondern entweder auf seine vermeintlich schlechtesten Eigenschaften heruntergebracht oder mit einem Sinnbild dessen konfrontiert, was ihm abgeht. Dieses reduzierende Moment der Karikatur hat besonders deutlich Georg Simmel formuliert. Obgleich er seinen 1917 geschriebenen Essay zur Karikatur mit 160 161 162

Ebd. Ebd., S. 317 f. Ebd., S. 316 f.

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der Feststellung beginnt, „der Mensch“ sei „der geborene Grenzüberschreiter“,163 gerät ihm seine Theorie der Karikatur zu einem Lob der Reduktion des Mannigfaltigen auf distinkte Typen, deren Intention er mit den Worten zusammenfasst: „Eigentlich bist du so in Wirklichkeit, wie du hier in gewollter Unwirklichkeit erscheinst“; die „Unform“ der Karikatur sei „treffend“, weil sie sich dem „Umriss des Karikierten in notwendiger Symbolik anschmiegt“ und bezeuge, dass dessen „Sein“ selbst schon „Karikatur“ sei.164 Indem sie das „Sein“, das sie karikiert, selbst als „Karikatur“ auffasst und beansprucht, den Menschen in jener „Unform“ zu zeigen, die er in Wahrheit sei, hat die Karikatur von vornherein eine diffamierende, erniedrigende Tendenz, und zwar sowohl gegenüber dem Menschen, den sie im Modus der Verwandlung letztlich nur bloßstellt, wie auch gegenüber dem Bild des Tieres, das allein funktional zwecks Denunziation menschlicher Schwächen und Makel eingesetzt wird. Wenn Lasker-Schüler es in der zitierten Passage als Liebesbeweis betrachtet, dass zwei Subjekte dieselben Tiere im Menschengesicht zu erblicken vermögen, deutet sich an, dass die Wiedererkennung des Tiers im Menschen, ganz im Sinne des Lobes der Nuance, bei ihr zum Modus von Liebe und Mimesis geadelt wird. Entsprechend heterodox ist die Verwendung der Karikatur in Mein Herz. Ein charakteristisches Beispiel sei skizziert. Über den Schriftstellerfreund Peter Baum heißt es in absichtvoll falscher Grammatik: Ich habe den Pitter Boom gemalen für den Sturm. Seitdem er sich den ganzen Hiddenseesommer nicht um mich bekümmert hat, sieht er gar nicht mehr aus wie ein Großfürst, sondern wie ich ihn in der Katerstimmung als Langohr gemalen hab. (42)

Peter Baum ist in der Skizze als bebrillter Hase mit einem aufrechten und einem herabhängenden Ohr, mit zugekniffenem Auge sowie mit Bartstoppeln dargestellt. Obwohl die sprachliche Verballhornung („gemalen“) und die karikaturistische Profanierung („Langohr“ statt „Großfürst“) damit begründet werden, dass er sich „den ganzen Hiddenseesommer“ nicht um die Erzählerin „bekümmert“ habe, handelt es sich bei der Zeichnung nicht um eine satirische Herabsetzung seiner Person. Vielmehr wird die Schwäche und Unentschiedenheit des ‚Großfürsten’, der in Wahrheit nur ein „Langohr“ ist, in einem Bild festgehalten, das sie als liebenswerten Bestandteil seines Wesens zeichnet, statt sie als charakterlichen Makel zu anzuprangern. Während die Metapher vom ‚Großfürsten’ jenen Makel zugunsten eines monolithischen Ideals von Souveränität ausblendet, werden sie im „Langohr“ als lebendiger Bestandteil seines Wesens respektiert. Die Verknüpfung von tierischen und 163 164

G. SIMMEL, Über die Karikatur, S. 244. Ebd., S. 249.

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menschlichen Kennzeichen (lange Ohren und Brille, Bartwuchs statt Fell) dient dabei nicht der Denunziation der ‚Hasenfüßigkeit’ des Individuums, sondern verleiht ihm eine kreatürliche Qualität, die seine Menschlichkeit unterstreicht. Damit wird die Karikatur bei Lasker-Schüler zum Ort der Erinnerung an etwas, das von ihrer eigenen Tradition verschüttet worden ist: an die mimetische Verbundenheit von Mensch und Tier im Modus kreatürlicher Erfahrung. Im Aphorismus „Menschen sehen dich an“ in den Minima Moralia heißt es mit Blick auf die antisemitischen Implikationen der Tier-MenschKarikatur: Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tieres den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt – „es ist ja bloß ein Tier“ –, wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das „Nur ein Tier“ immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten.165

Obwohl sich die Karikaturen in Mein Herz nicht als explizite Auseinandersetzung mit den antisemitischen Implikationen karikaturistischer Ästhetik lesen lassen, auf die Adorno hier anspielt, wenden sie sich doch in ihrem objektiven Gehalt gegen die stigmatisierenden Tendenzen des Genres, wie sie sich etwa an den zeitgenössischen Karikaturen und Tier-Satiren eines Franz Blei oder Otto Julius Bierbaum studieren lassen.166 Die „Grausamkeit“, die von der Karikatur an Menschen exekutiert wird, indem diese mit dem Gestus „Nur ein Tier“ im Namen höherer Moral entmenschlicht werden, wird bei LaskerSchüler suspendiert, indem die ‚Tierqualität’ des Menschen – hier seine ‚Hasenfüßigkeit’ – als Kreatürlichkeit positives Konstituens seiner Person wird. Das Hasengesicht von Peter Baum zeigt insofern gerade den wahren Peter Baum, weil es die kreatürliche Dimension, die das Alltagsgesicht im Namen der Selbsterhaltung verbergen muss, in das Antlitz des Subjekts einträgt, statt sie zu verleugnen. Wo die karikaturistische Satire die Menschen zu Tieren 165 166

T. W. ADORNO, GS 4: Minima Moralia, S. 118. Vgl. O. J. BIERBAUM, Steckbriefe. Berlin, Leipzig 1900; F. BLEI, Das große Bestiarium der Modernen Literatur, hg. von Rolf-Peter Baacke. Hamburg 1995 [Nachdruck der Ausgabe Berlin 1924]. – Insbesondere ein Vergleich von Bleis Bestiarium, das nach Art eines Lexikons verschiedenste Autoren der Moderne als imaginäre, nach ihrem Namen benannte Tiere beschreibt, mit Lasker-Schülers 1920 publizierten Essays, worin der in Mein Herz visuell umgesetzte Mensch-Tier-Vergleich anhand unterschiedlicher Kollegen und Freunde sprachlich ausgeführt wird, wäre gewiss aufschlussreich. Über Lasker-Schülers Porträts vgl. P. VON MATT, ... fertig ist das Angesicht, S. 165 ff.

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erniedrigt, bekommt bei Lasker-Schüler der Mensch ein Tier-, das Tier ein Menschenantlitz, um an die Kreatürlichkeit des Menschen und an die Menschlichkeit jeder Kreatur zu erinnern. Ähnlich ist es zu verstehen, wenn Kokoschka als Schmalspurganove mit Schirmmütze und rasiertem Schädel dargestellt wird, worauf die Bemerkung folgt: Hört nur, Kokoschka wird steckbrieflich verfolgt in der neuen, freien Presse; er wirkte doch immer schon rührend, fing er von der Villa an zu simulieren, die er seinen Eltern schenken wollte. [...] Ich schneide Euch hier sein Bild aus, es ist dilettantisch gezeichnet und gerade seine charakteristischen Verbrecherzüge sind gemildert. (47 f.)

Keineswegs um ihn als verschlagenes Subjekt zu diffamieren, sondern um ihn als ‚Verfolgten’, als marginalisierte, aber auch abenteuerliche Figur mit illusorischen Wunschträumen zu zeichnen, werden hier Kokoschkas „Verbrecherzüge“ betont, die vom denunziatorischen ‚Steckbrief’, der ihn tatsächlich als Verbrecher brandmarkt, gerade „gemildert“ werden, weil sie mit dem Stereotyp, auf welches der ‚Steckbrief’ zielt, nicht vereinbar sind.167 Ähnlich wie die kreatürliche Dimension des Porträts von Baum erinnert die ‚verbrecherische’ Dimension des Porträts von Kokoschka an das Beste des Subjekts, an jene Dimension seines Charakters, die in seiner empirischen Identität nicht aufgeht, und ist eben deshalb „rührend“. Indem sie solcherart das über die bloße Person hinausweisende ‚Charakteristische’ exponieren, das nicht auf den menschlichen Typus, sondern auf die Kreatur zielt, verwandeln LaskerSchülers Zeichnungen die Karikatur von einem Medium der Satire in eine authentische Form der Lobpreisung. Die Zerrbilder der traditionellen Karikatur, die tendenziell immer schon Bilder des Hasses waren, werden zu Liebesbildern, die die Schönheit des Antlitzes einfangen, indem sie es verändern.

c) Mein Herz III: Flüstern lernen: Intimität und poetische Kommunikation Dass die zahlreichen Clichés in Mein Herz – verstanden nicht zuletzt ganz wörtlich im Sinne der eingefügten Zeichnungen – sich nicht auf eine parodistische Funktion reduzieren lassen, ist bereits ein Hinweis darauf, wie wenig die Poetik des Romans, obzwar er durchaus einen uneigentlichen Umgang mit 167

Vgl. demgegenüber O. J. BIERBAUM, Steckbriefe, wo die auch bildlich karikierten Literaten, sofern der Autor sie nicht – wie etwa die Harts – kumpelhaft als Stammtischbrüder vereinnahmt, mit einer bereits an die Ikonographie des „Stürmer“ gemahnenden Metaphorik für vogelfrei erklärt werden. Besonders aufschlussreich in diesem Kontext sind die aggressiv homophoben Auslassungen über George, der als „parfümiert“, „narkotisiert“ und als „Mimose“ beschrieben wird (S. 55 f.).

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Ästhetische Entnüchterung

der Gattung des Liebes- und Briefromans pflegt,168 mit traditionellen Verfahren der Parodie oder Travestie zu tun hat. Zweifellos wird der Authentizitätscharakter der Liebesbriefe ebenso wie ihre vermeintliche Intention auf ‚Innerlichkeit’ vom Text selbst permanent unterlaufen: Und jeden Tag bekomme ich vom Bischof einen Brief, es sind die schönsten Briefe, die ich je gelesen habe, ich lese sie laut mit der Stimme des Slawen. (13) Gestern sind meine Rosa und ich fast überfallen worden!! Sie flickte mir gerade meinen Rock. Ihr Fritze war es, der doch so ungefährlich aussieht. Sie hat ihm in der letzten Zeit dieselben Briefe geschrieben, die ich ihr an Dich und Kurtchen vorlas. (22) Ganz recht, ich werde anfangen, meine Briefe an Euch zu sammeln und sie später unter dem Titel „Herzensbriefe, alleinseligmachender Liebesbriefsteller, gesetzlich geschützt“ herausgeben. Vorwort: Alle bis dahin vorhandenen Liebesbriefsteller hinterlassen Übelkeit und Magendruck. Und den Deckel muss mir ein Porzellanfabrikant zeichnen, ein Pärchen zwischen bunten Blumenmustern. (30) Ich zeigte ihm [Peter Baum; M.K.] sein Bild, aber er weigerte sich das Cliché zu bezahlen. Nun wende ich mich mit diesem Brief an seinen Vetter. Bitte, Herwarth, mach Du die Kommas; der ist gebildet, er schrieb ein mathematisches Buch über Geburten und Todesfälle. (42) Sollte ich wirklich die Briefe vorgestern verwechselt – den an Euch Peter Baum, den Brief an Peter Baum Euch etwa geschickt haben? Oder sollte sich die Post den Streich geleistet haben, der Postbeamte mit dem Ziegenbart guckt mich so faunisch immer an. (74)

Infragegestellt wird in diesen Passagen, die sich leicht durch weitere ergänzen ließen, vor allem der Glaube an die unbedingte Exklusivität der brieflichen Kommunikation, deren ‚Herzensschrift’ stets an eine jeweils ausgezeichnete Person gerichtet sei, weil sie das intime Zwiegespräch im Grunde lediglich schriftlich nachbilde.169 Wenn die Erzählerin die Briefe vom Bischof „laut mit der Stimme des Slawen“ liest, scheint sie die beiden Geliebten im Akt des Lesens miteinander zu verschmelzen, statt sich auf die authentische Stimme des ‚Einzigen’ zu konzentrieren. Wenn ihr Dienstmädchen ihrem Freund „dieselben Briefe“ schreibt wie die Erzählerin an ihre Nordpolfahrer, die diese wiederum dem Mädchen vorgelesen hat, scheint der persönliche Kontext der Briefe keine Relevanz mehr zu haben, weil ihr Inhalt sich in beliebigen Situationen je anders verwenden lässt. Eben darauf zielt auch die Ankündigung, die 168

169

Diesen Aspekt der Adaption des Briefromans habe ich seinerzeit ausschließlich fokussiert. Siehe meinen Aufsatz, S. 80 ff. Siehe hierzu ausführlich M. SCHNEIDER, Die erkaltete Herzensschrift.

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Erzählerin wolle ihre „Herzensbriefe“ als „gesetzlich geschützt[e]“ „Liebesbriefsteller“ bunt dekoriert herausgeben wie einen Beitrag zur empfindsamen Diskurspädagogik. Der Diskurs des Herzens erscheint hier plötzlich doch, ganz im Sinne Luhmanns, als reproduzierbarer Code, der Innerlichkeit und Authentizität erst erzeugt und in Wahrheit auf derselben ‚sachlichen’ Ebene wie das korrekte Setzen von Kommas funktioniert, so dass die Sprache der Liebe nichts Unverwechselbares mehr hätte, sondern prinzipiell von jedem erlernt werden könnte. Eben darin aber liegt auch die paradoxe utopische Dimension dieses Liebesverständnisses, das sich als bloße Diskurstravestie nicht hinreichend beschreiben lässt. Gerade die scheinbare Erlernbarkeit und der anti-exklusive Affekt der hier umrissenen ‚Herzensschrift’ stiften nämlich eine neue, spezifische Form von Intimität und Aufmerksamkeit für das Besondere: Eben weil die Briefe des Bischofs „die schönsten“ sind, müssen sie „laut mit der Stimme des Slawen“ gelesen werden, die gerade in ihrer Differenz zur originären Stimme des Schreibers die Besonderheit seiner Zeilen zum Klingen bringt. Bischof und Slawe sind also nicht austauschbar, sondern verhelfen erst in ihrer Nicht-Identität, gleichsam im Zusammenklang ihrer Unterschiedlichkeit der Schönheit der ‚Herzensschrift’ zum Erblühen, wie kein empirisches Subjekt je für sich schon einlöst, was in ihm beschlossen liegt. Eben weil es sich bei den Briefen von Mein Herz in diesem Sinne ganz unironisch und ernsthaft um „Herzensbriefe“ handelt, die keinerlei „Übelkeit“ erzeugen wollen, können sie als „alleinseligmachender Liebesbriefsteller“ wirken und, in „bunten Blumenmustern“ eingebunden, zum Nippesgegenstand werden. Auch das Vertauschungsspiel mit den Briefen zeugt nicht von Indifferenz der Erzählerin gegenüber den Adressaten, sondern verstrickt sie in einen ‚faunischen’, erotisch doppelbödigen „Streich“, bei dem nicht zufällig erneut eine Mensch-Tier-Gestalt („der Postbote mit dem Ziegenbart“) die Hauptrolle zu spielen scheint. Der ständige Rekurs auf den epigonalen Charakter der ‚Herzensschrift’, die „gesetzlich geschützt“ werden möge, auf das „Cliché“ als Tausch- und Schenkungsgegenstand sowie auf die „Post“ als Sphäre des Transports und der Kommunikation destruieren zwar den Glauben an Innigkeit und Exklusivität des Herzensdiskurses, entlarven ihn aber gerade nicht als bloßen Code, sondern legen den Adressaten der ‚Herzensbriefe’, also letztlich allen Lesern nahe, die Sprache des Herzens als jedem Einzelnen zugängliche, potentiell jeden durchdringende, lebendige Kommunikation anzusehen und verstehen zu lernen. Mein Herz ist insofern nicht deshalb ein ‚Liebesroman’, weil er von der Liebe erzählt, sondern weil er seiner immanenten Sprachform nach von Liebe im Sinne Lasker-Schülers zeugt und Liebe artikuliert, indem er sie zur Sprachgestalt werden lässt.

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Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Lasker-Schüler ihren Roman, der doch ein Prosawerk bleibt, als „Massenlustspiel“ bezeichnet: Heute bekam ich mit der ersten Post einen Brief aus dem Mäuseturm bei Bingen. Dort scheint ein Bewunderer Peter Baums zu wohnen. Aber, dass der Mensch keinen Spaß versteht!! Fragt mich dieser Mäusetürmer an, ob Herr Peter Baum wirklich ein Herumtreiber ist, er könne sich das gar nicht zusammenreimen bei der Großzügigkeit und Großfürstlichkeit seiner Romane und Schlossnovellen. Ich habe ihm seiner verständnisvollen Kritik wegen geantwortet: Mein Herr, es ist mir kein Zweifel, Sie befinden sich in der Mause. Haben Sie denn noch nicht bemerkt, dass meine norwegische Briefschaft ein Massenlustspiel ist – allerdings mit ernsten Ergüssen, die bringt so der Sturm mit sich. Peter Baum hat mich besonders gebeten, die Rolle des Herumtreibers in meinem Werk zu spielen, um ganz unerkannt zu bleiben: Ich selbst, mein Herr, knüpfte ihm ein rotgemustertes Taschentuch um den Hals und steckte ihm eine Schnapsbulle in die zerschlissene Manteltasche. Im wirklichen Leben ist er viel langweiliger, es schmerzt mich, Sie etwa zu enttäuschen, er sitzt nämlich den ganzen Tag oben in seinem Zimmer und a r b e i t e t. Ich verachte das an ihm, auch seine Genügsamkeit, aber er ist ein lieber, lieber, lieber, lieber Mensch (55 f.).

Grundmotiv der Passage ist die Opposition von Kleinlichkeit und Großzügigkeit: Die Formel vom „Mäuseturm von Bingen“ bezieht sich auf eine Sage, wonach ein geiziger und hartherziger Mainzer Erzbischof von Mäusen bis in den Binger Turm verfolgt worden sei.170 Der „Bewunderer Peter Baums“, der die „Großzügigkeit“ und „Großfürstlichkeit“ seiner „Schlossnovellen“ anhimmelt, erscheint selbst als Erbe der Hartherzigkeit, weil er die unbefragte Größe Peter Baums durch dessen Zeichnung als „Herumtreiber“ in den Schmutz gezerrt sieht. In seinem Bedürfnis, die Idolatrie der „Großzügigkeit“, die er von Baums Novellen unmittelbar auf den Dichter übertragen will, um nicht nur Texte, sondern Personen zum Fetisch erheben zu können, um jeden Preis aufrecht zu erhalten, wird der „Mäusetürmer“ selbst kleinlich, weil er Baums wahrhafte Großzügigkeit nicht erkennen will. Diese wiederum besteht nicht in dessen ‚Größe’, sondern darin, dass er, obzwar im „wirklichen Leben“ ein langweiliges, genügsames Arbeitstier, im „Massenlustspiel“ genau den Part übernimmt, der seiner empirischen Person am wenigsten ähnelt. Das „Massenlustspiel“ ist somit kein bloßes Theater, auf dessen Bühne empirische Personen temporär poetische Rollen annehmen, die sie stellvertretend für das Publikum ausagieren, das durch sie hindurch eine Erfahrung macht, die ihm im Alltag verwehrt bleibt. Vielmehr erlaubt es potentiell jedem, „unerkannt zu bleiben“, die empirische Alltagsidentität abzustreifen, um wahrhaftig sein zu 170

Siehe hierzu den Kommentar von Ricarda Dick (156).

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dürfen, was man im „wirklichen Leben“ nicht sein kann. Deshalb handelt es sich um ein Lustspiel „mit ernsten Ergüssen“, das nicht nur einen metaphorischen, sondern einen echten „Sturm“ zu entfesseln vermag. Indem es potentiell jedem erlaubt, nicht auf einer imaginären Bühne, sondern in Wirklichkeit zu sein, was er oder sie als empirische Person nie zu sein vermöchte, unterminiert das „Massenlustspiel“ das gesellschaftliche „Prinzip der Stellvertretung“, wie Elisabeth Lenk es als Charakteristikum der spätbürgerlichen Gesellschaft beschreibt: „Der Widerspruch, dass jeder Mensch Teil einer Gesamtheit ist und doch zugleich Vieles, ja die Gesamtheit denken und darstellen kann, darf nicht mehr geduldet werden. Nur wenige haben von nun an das Recht, das Allgemeine zu denken […]. Man kann diesen Prozess auch so schildern, dass an die Stelle der Vielheit im Einzelnen […] das räumliche Nebeneinander, das Prinzip der Stellvertretung tritt. Es gibt eine Gruppe von Menschen, die stellvertretend für alle berufsmäßig liebt. Es gibt eine Gruppe von Menschen, die stellvertretend für alle berufsmäßig denkt, handelt, verwaltet, mordet. Ja es gibt sogar Einzelpersonen, die stellvertretend für alle leben“.171 Gerade weil es das Prinzip der Stellvertretung unterläuft, kann Lasker-Schülers „Massenlustspiel“ nicht auf dem Theater oder im Modus der Theatralität stattfinden, die als Sphäre der „Theaterschauspieler“ letztlich immer nur die Sphäre der „Sozialschauspieler“ zu verdoppeln droht.172 Während der „Mäusetürmer“ sich den von ihm verehrten Peter Baum lediglich als Schauspieler seiner selbst denkt und wünscht, ist der reale Peter Baum trotz seiner Biederkeit ein „lieber, lieber, lieber, lieber Mensch“, weil er sich weigert, nur im Modus der Stellvertretung zu leben, und das Risiko eingeht, seine empirische Existenz durch eine nicht minder reale poetische zu vervielfachen, „Teil einer Gesamtheit“ und doch „Vieles“ zu sein. Sein Bewunderer ersehnt ihn sich buchstäblich als reinen Selbstdarsteller, als entsubstantialisierten Repräsentanten seiner selbst, während Baum als Akteur des ‚Massenlustspiels’ diese Stellvertreterschaft verweigert. Als exemplarische Selbstkarikatur solch ästhetischer Stellvertreterschaft wird in Mein Herz an anderer Stelle dagegen Hugo von Hofmannsthals Festspielästhetik benannt, die als eine Form paternalistischen Volkstheaters ins Visier gerät, das scheinbar für ‚Jedermann’ da sein will, in Wahrheit jedoch starre Repräsentationskunst ist: Ich war nämlich in Jedermann oder heisst es Allerlei? Ich glaube, es heißt Allerlei für Jedermann oder Jedermann für Allerlei: herein meine Herrschaften ins Riesenkasperle, ins Berliner Hännesken! Ein evangelisch Stück wird gespielt für die getauften Juden, namentlich, sehr anschauend und erbaulich. Alle getauften Juden waren in der evangelischen Vorstellung-Schaustellung gewesen 171 172

E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 307. E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 319.

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und waren erbaut n a m e n t l i c h von dem blonden Germaniaengel in Blau und Doppelkinn. Rechts ein Fleckchen, links ein Fleckchen Mensch oder Engel an der Kasperlewand und wie das Gewissen zu heulen anfing: Jedermann hier, dort Jedermann. […]Nein, da wollen wir lieber auf die Kirmes gehen in Cöln am Rhein und ein Cölner Hänneskentheater aufsuchen, von dort sollte Direktor Reinhardt die Naivität herholen, nicht sich welche anfertigen lassen von dem Hofmannsthaler in Wiener Stil […]. Das Leben und der Tod, die Sünde und die Strafe, Himmel und Hölle, alles wird zur Schaustellung herabgewürdigt (104107).

Hofmannsthals Mischung aus Volks- und Repräsentationstheater wird hier furios entlarvt als spiegelfechterische Totalisierung des Stellvertreterprinzips, wie es bei Lenk skizziert wird. Als „Allerlei für Jedermann oder Jedermann für Allerlei“ ist der Jedermann weder authentisches Volks-, noch bürgerliches Repräsentationstheater, sondern ein „Riesenkasperle“ für „Herrschaften“, das „anschauend“ und „erbaulich“ zugleich sein, die sinnlichen Bedürfnisse des einfachen Menschen angeblich ebenso befriedigen will wie das urbürgerliche Bedürfnis nach ästhetischer Läuterung und Erbauung. In Wahrheit handelt es sich aber nicht um vielleicht triviales, jedoch ambitionsloses Volkstheater wie in „Cöln am Rhein“, wo tatsächlich mitunter noch jeder Einzelne Publikum und Akteur zugleich sein kann, sondern um eine im doppelten Sinn hybride „Vorstellung-Schaustellung“, die die Sphäre sinnlicher Triebe ebenso hasst wie den sich über sie erhebenden Geist. Daher wird sie inhuman, erhebt sich als „evangelisch Stück“ für die „getauften Juden“ zum Agens nationalistischer Homogenisierungsansprüche, degradiert mit pseudobarockem Dekor „Engel“ wie „Mensch“ zu bloßen „Fleckchen“ und verdünnt Emotionalität und Affekt zu hohlem Pathos und schaler Abstraktion („Leben“ und „Tod“, „Himmel“ und „Hölle“). Kunst ist dabei buchstäblich zur reinen Repräsentation geworden, indem sie alles, Höchstes wie Profanstes, zur „Schaustellung“ herabwürdigt, die nichts anderes mehr bedeutet als ihre eigene Bedeutsamkeit. Die poetische Kommunikation, die Mein Herz mit den Motiven der Koketterie, der intimen Distanz und mit dem Wechselspiel von Bild und Rahmen diesem Pathos entgegenhält, wird in den Briefen vor allem der Figur des Bischof zugeordnet und in folgender Passage auf den Punkt gebracht: Heute war der Bischof bei mir; wir flüstern bei jedem Zusammensein leiser. Ich bin so empfindlich am Herzen, ich höre mit meinem Herzen und das sanfte Sprechen tut uns wohl. Er saß an meinem Lager […] und spielte mit seinem Muschelbleistift; ich zeichnete mit dem Kohinoor den Mond auf, bis er schwebte – so: Zwischen der weißen Nacht des Papiers ganz alleine ohne Stern und Erde. Wie grausam man zeichnen kann, aber ich bat den Bischof, mit seinem rauschenden Bleistift ein Meer unter den Mond zu setzen. […] Herwarth, Du musst auch flüstern lernen, man hört das Echo der Welt ganz deutlich.

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Wenn der Bischof und ich flüstern, werden die Wände leise und die Möbel erträglich, ihre Farben mild. Und die Spiegel der Schränke sind Bäche, und unsere Liebe ist ein Heimchen oder eine Grille, eine Pusteblume, daraus sich die Kinder Ketten machen. (57-59)

Das „sanfte Sprechen“, das hier als lebensspendend beschrieben wird, weil es die „Möbel“ des empirischen Alltags „erträglich“ macht, die „Spiegel der Schränke“ in „Bäche“ verwandelt und ihr Glas verflüssigt, wird nicht zufällig mit einer „Liebe“ konnotiert, die als „Heimchen“, „Grille“ oder „Pusteblume“ selbst dem Bereich der wertlosen, eben deshalb aber zum Kristallisationspunkt affektiver Werte werdenden namenlosen Dinge angehört, mit denen „sich die Kinder Ketten machen“, die also niemandes Besitz sind, von Subjekt zu Subjekt wandern und eben darum jeden erfreuen. Zugleich aber wird mit dem Rat, „flüstern“ zu „lernen“, weil man dann „das Echo der Welt ganz deutlich“ höre, keine selbstgenügsame Innerlichkeit propagiert, die sich mit dem intimen Bezug zum je Einzelnen begnügt und von der „Welt“ nichts wissen will, sondern durch die Ineinssetzung von Intimität und Kommunikativität, von Selbstzurücknahme (‚Flüstern’) und Selbstentäußerung (‚Welt’) eine implizite Leseanweisung auch für Lasker-Schülers eigene Texte gegeben. Der enthusiastische Impuls, wie er hier herausgearbeitet werden konnte, entfaltet sich weder im Modus von Performanz und greller Selbstüberbietung noch in privativer Selbstbeschränkung, sondern als an jeden, aber eben an jeden Einzelnen gerichtete Kommunikation. In diesem Sinne gehört Lasker-Schülers Werk der authentischen Moderne an, für die Elisabeth Lenk insgesamt eine Tendenz zur Intimisierung in diesem nicht-privativen Sinne diagnostiziert hat: „Je mehr sie das aus der Gesellschaft und auch aus der Mitteilung Ausgeschlossene artikuliert, desto weniger ist die Literatur mit irgendeiner denkbaren direkten Öffentlichkeit noch vereinbar, wie es das bürgerliche Publikum in Theatern, in Vortrags- oder Konzertsälen war. Zumindest aber muss eine solche Öffentlichkeit eine vergröbernde, der eigentlichen Funktion dieser Literatur abträgliche Wirkung haben. Dank der Erfindung der Schrift können wir mit den Augen Stimmen hören, Stimmen der Lebenden und der Toten. Die äußerste Entfremdung ist zugleich eine Chance, die Chance, zu schreiben und in der Intimität des Lesens zu hören, was niemand zu sagen wagte.“173 Indem sie auf ein solches Stimmenhören mit den Augen weit eher zielt als auf eine, sei es auch subkulturelle, Öffentlichkeit, entzieht sich die von Lasker-Schülers Poetik avisierte Kommunikation nicht nur dem Bohème-Milieu, dem sie entstammt, sondern auch ihren heutigen Liebhabern, die vergessen haben, dass ihre Sprache an eine poetische Gemeinschaft, und damit zuvorderst immer an die einsame Subjektivität appelliert. Nur eine Sprache, die im Flüstern zu sich selbst findet und in der Erfahrung der Entfremdung das Glücksversprechen der „In173

E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft, S. 27.

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timität“ entdeckt, vermag in solcher Absage an jede empirische Gemeinschaft für die einzig wirkliche einzustehen, die freie Assoziation der individuellen Menschen.

„Ich bin frei“ ist gleichsam ein Widerspruch, denn das, was nicht frei ist in mir, sagt „ich“. Simone Weil Ich arbeite schon Jahre an mir ohne Erfolg. Lasker-Schülers Antwort auf eine Umfrage des „Neuen Wiener Journals“ zum Thema „Woran arbeiten Sie?“

Schlussbemerkung: Enthusiasmus und Subjektivität

In einer Gesellschaft, die den auf jeden Einzelnen ausgeübten Zwang, sich nicht nur an die Verhältnisse anzupassen, sondern Tag für Tag freiwillig und in sich selbst die falsche Totalität zu reproduzieren, Individualisierung nennt, sind auf die Frage, woran man arbeite, konkrete Projekte zu benennen und Belege beizubringen. Gleichzeitig, und komplementär dazu, ist jeder angehalten, auch an sich selbst zu ‚arbeiten’, seine Bereitschaft zur Schau zu stellen, ständig auf neue Anforderungen zu reagieren und jede empirische Zumutung als kreativen Stimulus zu bejahen. Vom bürgerlichen Identitätsprinzip, das den Einzelnen nicht nur auf Herausbildung eines stabilen Selbst verpflichtete, sondern in dieser Verpflichtung zumindest auch den Anspruch des Subjekts auf emphatische Selbstidentität, auf Autonomie und Eigengesetzlichkeit, festhielt, ist dabei nicht mehr viel geblieben: Ein anderer, als man ist, darf man heutzutage immer werden, solange man nicht werden will, was im Begriff bürgerlicher Subjektivität versprochen war. Die feuilletonistische Routinefrage, woran denn gerade gearbeitet werde, setzt das Prinzip der Pseudoindividualisierung als Apriori voraus. Lasker-Schülers Antwort lässt die Voraussetzungen der Frage erodieren und konfrontiert sie mit dem von ihr selbst verleugneten Wahrheitsgehalt: Die Arbeit des Künstlers ähnelt der sogenannten geistigen Arbeit darin, dass sie sich zwar, wie jede Arbeit, in Objekten vergegenständlichen muss, die sich vom Subjekt ablösen, um in die Sphäre der Zirkulation einzutreten, innerhalb derer ihr ‚Wert’ allein ermessen werden kann, dass aber eben dieser Wert sich wiederum allein durchs Subjekt hindurch zu konstituieren vermag. Subjekt und Gegenstand der Erkenntnis sind aufeinander bezogen und ineinander enthalten: Wie der Gegenstand nur durch die Reflexion des Subjekts zur Erkenntnis gelangt, so realisiert sich das Subjekt als erkennendes erst, indem es sich an den Gegenstand entäußert, statt sich bloß über ihn zu stellen. In diesem untrivialen, ebenso beglückenden wie schmerzhaften Sinn arbeitet, wer geistig arbeitet, an sich selbst.

„Ich bin frei“ ist gleichsam ein Widerspruch, denn das, was nicht frei ist in mir, sagt „ich“. Simone Weil Ich arbeite schon Jahre an mir ohne Erfolg. Lasker-Schülers Antwort auf eine Umfrage des „Neuen Wiener Journals“ zum Thema „Woran arbeiten Sie?“

Schlussbemerkung: Enthusiasmus und Subjektivität

In einer Gesellschaft, die den auf jeden Einzelnen ausgeübten Zwang, sich nicht nur an die Verhältnisse anzupassen, sondern Tag für Tag freiwillig und in sich selbst die falsche Totalität zu reproduzieren, Individualisierung nennt, sind auf die Frage, woran man arbeite, konkrete Projekte zu benennen und Belege beizubringen. Gleichzeitig, und komplementär dazu, ist jeder angehalten, auch an sich selbst zu ‚arbeiten’, seine Bereitschaft zur Schau zu stellen, ständig auf neue Anforderungen zu reagieren und jede empirische Zumutung als kreativen Stimulus zu bejahen. Vom bürgerlichen Identitätsprinzip, das den Einzelnen nicht nur auf Herausbildung eines stabilen Selbst verpflichtete, sondern in dieser Verpflichtung zumindest auch den Anspruch des Subjekts auf emphatische Selbstidentität, auf Autonomie und Eigengesetzlichkeit, festhielt, ist dabei nicht mehr viel geblieben: Ein anderer, als man ist, darf man heutzutage immer werden, solange man nicht werden will, was im Begriff bürgerlicher Subjektivität versprochen war. Die feuilletonistische Routinefrage, woran denn gerade gearbeitet werde, setzt das Prinzip der Pseudoindividualisierung als Apriori voraus. Lasker-Schülers Antwort lässt die Voraussetzungen der Frage erodieren und konfrontiert sie mit dem von ihr selbst verleugneten Wahrheitsgehalt: Die Arbeit des Künstlers ähnelt der sogenannten geistigen Arbeit darin, dass sie sich zwar, wie jede Arbeit, in Objekten vergegenständlichen muss, die sich vom Subjekt ablösen, um in die Sphäre der Zirkulation einzutreten, innerhalb derer ihr ‚Wert’ allein ermessen werden kann, dass aber eben dieser Wert sich wiederum allein durchs Subjekt hindurch zu konstituieren vermag. Subjekt und Gegenstand der Erkenntnis sind aufeinander bezogen und ineinander enthalten: Wie der Gegenstand nur durch die Reflexion des Subjekts zur Erkenntnis gelangt, so realisiert sich das Subjekt als erkennendes erst, indem es sich an den Gegenstand entäußert, statt sich bloß über ihn zu stellen. In diesem untrivialen, ebenso beglückenden wie schmerzhaften Sinn arbeitet, wer geistig arbeitet, an sich selbst.

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Schlussbemerkung

Zugleich – und dies führt in den Kern von Lasker-Schülers Poetik – bezieht sich das „Ich arbeite“ in der zitierten Antwort auf ein anderes Ich als das „an mir“: Die Subjektivität, die im „an mir“ als Telos der eigenen Arbeit benannt wird, existiert noch überhaupt nicht und müsste dem „Ich“, das in der poetischen Rede spricht, erst abgewonnen werden. Insofern hat das Subjekt, das sich in poetischer Sprache artikuliert, mit dem cartesianischen Cogito, gegen das die Ästhetik der Postmoderne einen regressiven Abwehrkampf führt, ebenso wenig zu tun wie mit den Phantasmen subjektivistischer Unmittelbarkeit. Das Subjekt poetischer Kommunikation ist weder identisch mit der partikularen Subjektivität des empirischen Selbst, noch archaische Urkraft, die das Subjekt zu entfesseln hätte, um die Grenzen der Individuation zu sprengen. Vielmehr bezieht der Begriff des Enthusiasmus, wie er hier als Movens von Lasker-Schülers Poetik entfaltet wurde, seine Radikalität gerade daraus, dass er auf eine Subjektivität zielt, die vom rationalistischen Begriff des Cogito ebenso zu unterscheiden ist wie vom Pathos unmittelbaren Ausdrucks, mit dem eine auf ihre eigene Unverbindlichkeit stolze ‚junge Literatur’ mittlerweile wieder für die eigenen Belanglosigkeiten wirbt. Elisabeth Lenk hat diese Subjektivität in ihrer Traumstudie auf eine Weise beschrieben, die bis in die Bildlichkeit hinein mit Lasker-Schülers Œuvre korrespondiert und ganze Bücherschränke adornitischer Seminarliteratur ersetzt: Die Menschen unterscheiden sich von den Tieren dadurch, dass in ihnen die Naturkraft frei wird von den Fesseln der Natur. Charakteristisch für die menschliche Natur ist ihre Unbestimmtheit, Bestimmbarkeit, während die Natur eines jeden Tieres a priori bestimmt ist. Die im Menschen freiwerdende Naturkraft ist die menschliche Subjektivität. Sie heißt im Laufe der Geschichte auch: Mana, das Dämonische, das Orgiastische, das Genie. Verglichen mit der Naturordnung ist die menschliche Subjektivität göttliche Unordnung. Sie ist das Schrankenlose, Unheimliche, Wunderbare. Die Subjektivität ist der Vernunft, das Wunderbare der Regel, das poetische Bewusstsein dem prosaischen Bewusstsein vorhergegangen. Kraft seiner Subjektivität ist der Mensch die Ausnahme, er fühlt sie als sein Göttliches und weiß sich allen anderen Lebewesen überlegen, zugleich ist er ihnen aber auch unterlegen, denn jedes Lebewesen hat seine Stelle, lebt vom ersten Lebensaugenblick an, was als sein Apriori, seine Bestimmung, in es gelegt ist, während der Mensch a priori nicht weiß, was er tun, wie er leben soll. Die Menschen haben mit panischer Angst und panischer Freude auf das Erwachen der Subjektivität reagiert. Als die Menschheit erwachte, wie der träumende Geist mitten im Schlaf erwacht, als sie mit Grausen und Entzücken aus der Gebundenheit des Natürlichen ins Freie trat, da entstanden die ersten Religionen, da entstand das Bedürfnis, das im Augenblick der Verzückung Geschaute anzureden, anzubeten. Aus jenem schwindelerregenden Gefühl, dem Gefühl des Zerrissenwerdens, wurde der Ausdruck geboren. Die Menschen fühlten

Schlussbemerkung

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sich berufen auszudrücken, was in der ganzen schweigenden Natur nach Ausdruck drängte, das in ihnen Lebende in Lauten, in Musik und Tanz zu artikulieren. Die artikulierten Laute bewirkten, dass etwas, was nur als dumpfes Angstgefühl innen war, auf einmal draußen existieren, frei atmen konnte.1

Als „im Menschen freiwerdende Naturkraft“ meint die im poetischen Enthusiasmus sich artikulierende „menschliche Subjektivität“ weder einen Zustand bewusstloser Besessenheit, in der das Subjekt sich nur mehr als Medium einer sich durch es hindurch entäußernden Natur, also letztlich als heteronom und ohnmächtig erfährt, noch stellt das „poetische Bewusstsein“ sich der Natur als überwundener einfach nur gegenüber. Vielmehr erfährt es sich im Enthusiasmus als vom Naturzwang befreite Natur, die sich der „Gebundenheit des Natürlichen“ ebenso entwindet wie dem „prosaischen Bewusstsein“ als Repräsentanz der sozialen Regeln und Normen. Indem sie sich als „Ausnahme“ erkennt, die den Abstraktionen des Sozialen ebenso inkommensurabel ist wie dem stummen Determinismus der bloßen Natur, reflektiert die menschliche Subjektivität sich selbst als freigewordene Natur, als „Göttliches“, dessen „Bestimmung“ gerade darin liegt, nicht „vom ersten Lebensaugenblick an“ auf ein und derselben „Stelle“ zu leben, nicht zu wissen, wie zu leben und was zu tun sein, und eben dadurch „berufen“ zu sein, „auszudrücken, was in der ganzen schweigenden Natur nach Ausdruck drängt“. Als abgespaltene, im mimetischen Austausch sich selbst gegenübertretende Natur bleibt sie zugleich gezeichnet vom „Gefühl des Zerrissenwerdens“, das den „artikulierten“ poetischen „Ausdruck“ erst möglich macht, der dem ‚dumpfen’, bewusstlosen und indifferenten Dasein zur Selbstreflexion verhilft und zur Existenz bringt, was die schweigende Natur nur verspricht. Das „Bedürfnis, das im Augenblick der Verzückung Geschaute anzureden, anzubeten“, das der Entstehung von Religion und Poesie ebenso vorangeht, wie es durch deren soziale Institutionalisierung verschüttet wird, ist demnach das genaue Gegenteil eines Bedürfnisses nach Devotion und Unterwerfung: Angeredet wird im Modus des Gebets keine den Menschen heteronom haltende Kraft, sondern die „freiwerdende Naturkraft“, die in menschlicher Subjektivität sich selbst erkennt. Dass sich die Poesie im Zuge historischer Entwicklung von ihrer Funktionalisierung zum Gottesdienst emanzipiert hat, ist insofern Hinweis darauf, dass auch der Gottesdienst nie nur Dienst gewesen, sondern der Sehnsucht menschlicher Subjektivität entsprungen ist, in „panischer Freude“ sich selbst als göttlich zu feiern. Sprache als „Ausdruck“ ist weder bloßes Sich-Aussprechen partikularer Subjektivität, noch steht sie dem Subjekt als Zwangssystem gegenüber. Im Gegenteil vermag menschliche Subjektivität, ganz wie es bei Lasker-Schüler formuliert ist, erst im Modus sprachlichen Ausdrucks wirklich „frei“ zu „atmen“. Sprachlicher Ausdruck in diesem Sinne ist weder Mittel 1

E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft. S. 87.

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Schlussbemerkung

zum Zweck der Selbsterhaltung, noch ‚konstruiert’ er Natur als Effekt des eigenen Diskurses, sondern er ist selbst reflektierte und daher befreite Natur. Bereits an diesen Bestimmungen wird deutlich, dass die Poetik des Enthusiasmus nichts mit blinder Affirmation zu tun hat, sondern gerade in ihrem euphorischen Impuls eine radikal negative Kraft entfaltet. Lenk beschreibt diese Kraft nicht zufällig im Rückgriff auf frühkindliche Erfahrungen: Das Gefühl, aus der Natur herausgeschleudert zu werden, kennen alle vorrationalen Religionen als das Gefühl des Außersichseins, der Ekstase. Jedes Menschenjunge, sofern es am Prozess der menschlichen Subjektivität partizipiert, macht ihn noch einmal durch. Der Mensch, dieses unnatürlich lange hilflose, äußerlich bewegungslose, also von Anderen getragene, geschaukelte Wesen, entwickelt eine rein innere explosive Bewegung, eine fessellose Energie, die jener Bewegung, die ihn, ohne sein Zutun, in die Welt geschleudert hat, direkt entgegengesetzt ist. Kaum geboren, gebiert dieses Wesen aus sich eine Welt. Das haben die Sozialisationstheoretiker vergessen. Allzugern betrachten sie die archaische Vorform des Menschen als etwas rein Biologisches, als bloßes Material der Vergesellschaftung [...]. Die leidende Substanz in uns, die noch kein Ich ist, vollzieht einen Akt der Umkehrung, der Revolte gegen die Natur, die uns hervorgebracht hat. [...] Statt, wie die Tiere, das Dasein einfach passiv zu erleiden, begehrt der Mensch, jeder Mensch, von Anfang an dagegen auf. Er sucht das, wovon er abhängig ist, von sich abhängig zu machen, indem er zum Schöpfer, zum Urheber wird, oder, was dasselbe ist, indem er sich einen anderen, mythischen Ursprung schafft. Er gebiert aus sich eine Welt vor der Welt, eine Gesellschaft vor der Gesellschaft und eine Sprache, bevor er sie erwirbt.2

In den Selbstfiguralisierungen Lasker-Schülers als Tino von Bagdad und Jussuf, in der Gründung Thebens als realem Reich der Phantasie, in das jeder Einzelne übertreten könne, sofern er bereit wäre, eine zweite, dem empirischen Ich nicht entgegenstehende, sondern es verwirklichende poetische Identität anzunehmen, in Lasker-Schülers Liebesbegriff, in ihren Phantasien einer kindlichen ‚Ursprache’ sowie in ihrer Ästhetik der Kindheit als Organon mimetischen Ausdrucks liegt das vielleicht authentischste Zeugnis solchen Aufbegehrens vor, das Lenk, wie Lasker-Schüler selbst, jedem Menschen als innerstes Bedürfnis ansinnt und den ‚Sozialisationstheoretikern’ entgegenhält, die Subjektivität auch dort, wo sie sich artikulieren darf, allenfalls als appetitanregende Verpackung des immer gleichen Zwangs zur Selbstentmenschung goutieren. Während die blinde Affirmation der sich im Enthusiasmus – im Gegensatz zur diskursiven Sprache – Durchbruch verschaffenden ‚Natur’ sich bewusstlos zum Komplizen derer macht, die Natur auf „bloßes Material der Vergesellschaftung“ reduzieren, wird Natur in ihrer Erscheinungsform als 2

Ebd., S. 88 f.

Schlussbemerkung

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menschliche Subjektivität dem eigenen Begriff gerecht, indem sie sich in einem „Akt der Umkehrung“ gegen die „Natur“ wendet, der sie entspringt, ohne mit ihr eins zu sein. Das Spiel des Kindes, dessen Formen die poetische Sprache adaptiert, ohne sie nur zu wiederholen, ist nicht naive, von keinem kritischen Bewusstsein getrübte Affirmation der Wirklichkeit, sondern negiert die „Welt“ und die „Gesellschaft“, indem es sie im Modus poetischen Phantasierens verdoppelt durch eine „Welt vor der Welt“, die der empirischen zum Verwechseln ähnelt und doch ihr befreites Gegenbild ist. Darum taugt die Poetik des Enthusiasmus nicht als Einspruch gegen die konzessionslose Negativität Kritischer Theorie: Bloße Negativität, die sich in ideologiekritischer Demontage ästhetischen Scheins erschöpfte, würde selbst in der schlechten Verdopplung einer gänzlich verdinglichten Gegenwart enden, deren leblose Fragmente sie nach Belieben collagieren kann, weil keines über sich selbst hinausweist. Lasker-Schülers Poetik des Fragments mit ihrer Emphase von Kitsch und Tand dagegen zielt auf eine ‚erhitzte’, den Desillusionismus automatisierter Negation überschreitende Phantasie, die jedem substantiellen Begriff von Negativität, wie er in der Ästhetik Adornos formuliert ist, immanent bleiben muss. Was in der Ästhetik der Moderne Enthusiasmus genannt zu werden verdient, verdankt sich dem gleichen Impuls wie authentische Negativität, nämlich dem Ekel vor den Vergnügungsangeboten einer Wirklichkeit, die sich der Erfahrung des Enthusiasmus ebenso pathisch versperrt wie der kritischen Vernunft. Wie Lasker-Schülers Poetik von Kitsch und Fragment mit diesem Verständnis von poetischem Enthusiasmus zusammenhängt, wird anhand der destruktiven Aspekte des von Lenk umrissenen Subjektivitätsbegriffs deutlich: Die menschliche Subjektivität hat die souveräne Macht, die Formen, die sie geschaffen hat und die ihr als stabile Dauergebilde entgegentreten, wieder aufzulösen. Sie ist eine kreatürliche, fortzeugende Substanz, die sich an die gesellschaftlichen Einteilungen nicht hält, nicht einmal an die Teilung in Individuen. Sie kann die geronnene Sprache erhitzen, in ein Magma verwandeln, immer wieder. Daher wird sie von der Gesellschaft als Geist der Unordnung, als ständige Bedrohung empfunden. [...] Die Subjektivität ist es, die den Gruppenregeln ihre Kraft, ihre scheinbare Lebendigkeit verleiht, sie allein kann sie daher auch wieder außer Kraft setzen. Wenn sie sich zurückzieht, sich abwendet, sind diese Regeln machtlos. Sie wurde aus der Gesellschaft vertrieben. Aber die Bruchstellen der Geschichte, diese Momente von Labilität, da eine Herrschaftsordnung zusammenbricht und die neue noch nicht etabliert ist, sind immer auch Augenblicke des schrankenlosen Freiwerdens von Subjektivität. Die Subjektivität ist leidend und nicht tätig, und doch geschieht alles durch sie. Sie erkennt sich wieder und ist doch verschieden. Die Gottheit, diese Riesengestalt, groß wie die Welt, hat zerstückt werden müssen, so dass der Eindruck entsteht, sie sei gar nicht mehr da, eine

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Schlussbemerkung

andere, entzauberte Welt existiere an ihrer Stelle. Aber sie ist nicht tot, sie ist nur zerstreut.3

Lasker-Schülers Bejahung von Oberfläche, Tand, Mode und ‚Zerstreuung’ lässt sich vor diesem Hintergrund nicht nur in ihrer polemischen Kraft ermessen, sondern auch historisch präzise situieren. Indem sie die vermeintlich wertlosen Fragmente und den kulturellen Abhub der Erscheinungswelt als Kristallisationsform jener profanen Glücksversprechen ernstnimmt, die der ‚erwachsene’, ernüchterte Blick als Illusion oder Ideologie denunziert, welche über die faktische Übermacht der „Dauergebilde“, der sozialen Ordnungen, lediglich hinwegtäusche; indem sie die „gesellschaftlichen Einteilungen“ in Hoch- und Massenkultur, in Produzenten und Rezipienten ebenso missachtet wie die „Teilung in Individuen“, die im Modus des Kosenamens und des Rollenspiels aufgehoben wird; indem sie sich selbst zum König über das Reich Theben ernennt, dessen „Herrschaftsordnung“ verwirklichen soll, was von allen bestehenden Herrschaftsordnungen geknebelt wird, appelliert LaskerSchüler an jeden Einzelnen, sich nicht den Glauben daran austreiben zu lassen, dass jene „Gottheit“, als welche die zur menschlichen Subjektivität befreite Naturkraft gepriesen wurde, „nur zerstreut“, aber „nicht tot“ sei. Gerade ihre ‚Zerstreutheit’ scheint die Hoffnung, sie ins Leben zurückzurufen, zu befördern, weil Kolportage, Kitsch und Massenkultur die in ihnen sedimentierten Sehnsüchte nicht allein verdinglichen, sondern als Dinge, als abgespaltene, profanierte Fragmente jedem zugänglich machen. Darin liegt gleichsam der Karl-May-Impuls von Lasker-Schülers ‚königlicher’ Subjektivität. Die Anmaßung, sich nicht länger über die Identität der empirischen Person definieren zu wollen, sondern sich im Modus der Poesie zum ‚Ausgezeichneten’ zu erheben, zugleich aber die „Welt vor der Welt“, die solcherart der Empirie entgegengestellt wird, jedem anderen zu erschließen und als verbindlich gültige einzufordern, mag in Mays eigenem Werk zum Reklame-Ornament zusammengeschrumpft sein; von Lasker-Schülers Poetik wird sie beim Wort genommen. Dies erklärt ihre paradoxe Affinität zu so divergenten Gestalten wie George und Kraus auf der einen, May und Kempner auf der anderen Seite, die sich gerade in ihrer Inkommensurabilität auf je eigene Weise an dem Versuch abarbeiten, die „geronnene Sprache“ zu „erhitzen“, ihr aus eigener Dynamik zurückzugeben, was Lenk in Übereinstimmung mit Adornos Mimesisbegriff „Ausdruck“ nennt. Negiert wird dadurch nicht nur jenes solipsistische Selbstverständnis, wie es in Hilles Poetik der Petrifizierung vorliegt, sondern auch jede Rhetorik des Pathos, der Proklamation und des ‚Engagements’, woraus sich wiederum Lasker-Schülers Ferne nicht nur zu Hofmannsthal, sondern auch zu Brecht erklärt. Ihre Sonderstellung in der Berliner Bohème schließlich ergibt sich nicht zuletzt aus ihrer Weigerung, die „Bruchstellen der 3

Ebd., S. 90.

Schlussbemerkung

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Geschichte“, welche die Freisetzung poetischer Subjektivität für Augenblicke ermöglichten und letztlich die Ursache des ‚Stilpluralismus’ von der Jahrhundertwende bis zur Weimarer Republik gewesen sind, durch literarische Institutionalisierung, durch Integration in einen subkulturellen Sozialverband, wieder zu kitten. An derlei Konstellationen, die aus der Rekonstruktion des Sprachverständnisses der jeweiligen Autoren erst zu gewinnen wären, hätte sich eine Literaturgeschichte der Moderne zu orientieren, die sich nicht in Faktenakkumulation erschöpft und Literatur nicht als Derivat historischer Prozesse, sondern als geschichtliche Ausdrucksform von Subjektivität versteht. Eine solche Historiographie hätte die Geschichte der Bohème nicht als bloßen Effekt institutioneller und personeller Verflechtungen zu erzählen und würde Informationen darüber, wen Lasker-Schüler wann getroffen, welches Gedicht sie in welchem Kontext vorgetragen hat und von welchen alltagskulturellen Inszenierungen die Ikonographie ihres Werks angeregt worden sein mag, dankbar als Material entgegennehmen, jedoch als Erklärung dieses Œuvres, das die empirische Wirklichkeit, auf die es sich bezieht, mit jedem Wort zu überschreiten trachtet, zurückweisen. Erst recht würde sie sich weigern, Lasker-Schüler als Vorläuferin einer Epoche in Anspruch zu nehmen, die das zu seiner eigenen Reklamefläche sich degradierende Selbst zum Fetisch erhebt und die Bedingung der Möglichkeit einer ‚flüsternden’ Sprache, wie sie als Sinnbild von LaskerSchülers Ideal poetischer Kommunikation figuriert, endgültig untergraben hat. Insofern hätte jede adäquate Deutung ihres Werks heute weniger dessen Aktualität als seinen im besten Sinne anachronistischen Charakter zu bedenken. Der historische Index poetischer Rede als Ausdruck von Subjektivität ist auch der Grund dafür, weshalb Lasker-Schülers Exilwerk aus der hier umrissenen Perspektive nicht mehr in den Blick kommen kann. Noch die Reflexion der Exilerfahrung unter dem Begriff des Enthusiasmus zu fassen, würde dem Bruch, den diese Erfahrung gerade auch formimmanent für Lasker-Schüler bedeutet hat, nicht gerecht werden. Stattdessen jedoch lässt sich umgekehrt Adornos Entscheidung, die rezeptiven und enthusiastischen Momente ästhetischer Erfahrung, die bei Lasker-Schüler bis an die Schwelle zum Exil im Mittelpunkt ihrer Poetik stehen, nicht zur gesicherten Grundlage seiner eigenen Ästhetik zu machen, sondern gleichsam als deren zerstörte, aber nicht preiszugebende Kehrseite anzusehen, adäquat nur verstehen als Reaktion auf den Verrat an allem, was bei Lasker-Schüler zum vielleicht letzten Mal als positive Möglichkeit von Kunst visiert wird. Schließlich ist das mit Enthusiasmus Gemeinte zu verteidigen gegen den Vorwurf der Irrationalität, die Dichtung als Residuum kreatürlicher Erfahrung gegen die Sphäre des Begriffs, und damit hermeneutischer Reflexion, partout in Schutz nehmen wolle. Gerade indem sie die ‚Erfolglosigkeit’ ihrer ‚Arbeit’ an sich selbst hervorhebt und sich dem Zugriff eines zur kulturellen Grabstätte

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Schlussbemerkung

depravierten akademischen Milieus ebenso verweigert wie der Eingemeindung als Expertin in Sachen Selbstmarketing, stellt Lasker-Schüler unmissverständlich klar, dass die Erkenntnis, auf die ihr Verständnis von Enthusiasmus zielt, zwar der herrschenden Vernunft, aber nicht der Vernunft überhaupt spottet. In ihren Skizzen über den Konnex von Subjektivität und Arbeit verwehrt sich Lenk in ähnlicher Weise gegen die Verwechslung ihres Ansatzes mit einer archaisierenden Vernunftkritik: Die Augenblicke der Ekstase, der momentanen Entfesselung im Rausch, das freie Verströmen von Lebensenergie, galten als göttlich, weil die Seligkeit des Augenblicks alle Erwartung übertrifft. Insofern gehörten Vernunft und Subjektivität zusammen wie zwei Aggregatzustände der einen Energie. Vernunft war gestaute Subjektivität, Subjektivität entstaute Vernunft. Wo das eine fehlte, fehlte auch das andere. Später aber fand dann eine charakteristische Umwertung der Werte statt, wie sie sich in dem Marxschen Satz: „Nur Arbeit schafft Werte“ oder auch in Gehlens Hochschätzung der arbeitenden Tiergesellschaften widerspiegelt. [...] Die Labilität, Störbarkeit menschlicher Ordnungen, vorher Ruhmestitel des Menschen gegenüber der gesamten Natur, war auf einmal zu seiner furchtbarsten Schwäche geworden, deren er sich schämte. [...] Seit die Gesellschaften des Abendlandes sich ausschließlich von der Arbeit her konstituieren und definieren, sind immer neue Strategien entwickelt worden, die autarke Seite des Menschen, die Seite der Subjektivität, zu entwerten und zu unterwerfen. Noch die der Arbeit entzogene Seite der menschlichen Natur sollte auf das jeweilige Regelsystem bezogen werden, sie sollte aufhören, sich als Subjektivität zu Subjektivitäten zu verhalten und ihrerseits zum Ding werden, Objekt der Arbeit und der „Behandlung“.4

Dieser Passus, der sich wie eine aus Landauers Perspektive formulierte Kritik an Mühsams anarchosozialistischer Verherrlichung der Tiergemeinschaften liest und mit seiner Metaphorik der ‚Verströmung’ und ‚Stauung’ von „Lebensenergie“ stark an Landauers Beschreibung enthusiastischer Ekstase erinnert, wirft ein Licht darauf, was es bedeutet, wenn im akademischen Alltagsbetrieb mittlerweile wieder bevorzugt gefragt wird, wovon Texte ‚handeln’ oder wie sie von der jeweiligen Interpretation ‚behandelt’ werden. Die Philologie als „Behandlung“ von Texten gibt den in ihrem Namen formulierten Anspruch, Liebe zum Wort zu sein, also an die von Lenk beschriebene Zusammengehörigkeit von Eros und Logos, Subjektivität und Vernunft zu erinnern, zugunsten akademischer Sachverwaltung preis und vergisst, umso nahtloser sie in einem arbeitsteiligen Betrieb aufgeht, umso gründlicher, dass die Vernunft, auf die sie sich mit Recht zu berufen hätte, mit bloß erlernten Regeln, zum Habitus erstarrten Verhaltenskodizes und implementierter Didaktik 4

E. LENK, Die unbewusste Gesellschaft. S. 92 f.

Schlussbemerkung

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nichts zu tun hat, sondern „gestaute Subjektivität“ ist, während die im poetischen Werk sedimentierte Subjektivität als „entstaute Vernunft“ sie an das zu erinnern hätte, was sie im Namen ihrer Selbsterhaltung verdrängt. Indes appelliert gerade Lasker-Schülers Werk, nimmt man ihren Begriff von Liebe ernst, nicht an besinnungslose Bewunderer, sondern an einen in diesem Sinn philologischen Blick, der sich nur dort artikuliert, wo temporär vergessen wird, zu welchem pragmatischen Zweck man schreibt: DAMIT ICH ALS PERSON FUNKTIONIEREN KANN, HAT MAN MICH ENTLEERT. ICH BIN BEI TAGE NUR NOCH EIN BEHÄLTER, EINE LEERE HÜLSE. ALLE DIFFERENZEN SIND WEGGEWISCHT. ALLE SPUREN VON LEIDEN ODER LEIDENSCHAFT SIND GETILGT. IN DIESE LEERE HÖHLE KANN NUN DER TÄTIGE MENSCH EINZIEHEN. ICH BIN AUS MIR AUSGETRIEBEN WORDEN WIE EIN BÖSER GEIST. DIE VERTRIEBENE NAMENLOSE SUBSTANZ, DIE ICH WAR UND DIE NIRGENDS MEHR WOHNEN DARF, WEDER IN DER WELT NOCH IM KÖRPER, [...] KEHRT NACHTS IN DIE LEERE HÖHLE ZURÜCK ODER UMGEKEHRT: NACHTS BESUCHE ICH SIE, SUCHE SIE ÜBERALL.5

Das Tagwerk jener Philologie, an die Lasker-Schülers Dichtung sich wendet und die es nicht gibt, bestände im reflektierten Umgang mit solchen nächtlichen Geistern, die erst, wenn die Trennung zwischen Tag und Nacht aufgehoben wäre, in der sich die Dichotomie von Arbeit und Freizeit, Beruf und Berufung im Imaginären reproduziert, zu guten Geistern werden und die Scham angesichts der eigenen Subjektivität, von der Lenk spricht, überflüssig machen könnten. Indem sie ihr Werk als Angebot zu einem Spiel versteht, hält Lasker-Schüler die Hoffnung auf Versöhnung mit jenen Geistern fest, die durch erlittene Gewalt zu bösen wurden und in denen doch jeder, der es möchte, sich selbst begegnen kann. In solcher Arbeitsteilung, die keine mehr wäre, könnte eine Ahnung von jenem Adel aufscheinen, den Lasker-Schüler nicht allein im Dichter, sondern in jedem Menschen erkannte.

5

Ebd., S. 348. Kapitälchen im Original.

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 16 f., 34, 45, 62, 80, 110 f., 114 f., 135, 182, 223, 292 ff., 308, 313 f., 318, 326, 336, 349 ff. Ariès, Philippe 152, 158, 167, 169, 178, 204 Bachelard, Gaston 263 f., 277, 292 Bänsch, Dieter 14, 28, 189, 261, 263 Barrison, Gertrude 304, 306 Baum, Peter 303 f., 332, 335 ff., 340 f. Bauschinger, Sigrid 14, 28, 116, 126, 136, 147, 190, 268, 305, 328 Benjamin, Jessica 288, 326 f. Benjamin, Walter 15, 17, 21, 23-31, 38, 47, 49-52, 62, 64, 106, 170 f., 196-200, 202, 205, 214, 261, 263, 288 ff., 292, 302 Benn, Gottfried 148, 257, 285, 287 f. Bergson, Henri 105 f., 110 Bierbaum, Otto Julius 88, 336 f. Blei, Franz 336 Bloch, Ernst 19, 21, 35-38, 65 ff., 71, 73-79, 81 f., 84 f., 91, 108, 149 f., 241 ff., 287, 290 f., 293, 331 Bölsche, Wilhelm 14, 195, 202, 230 f., 248 Bourdieu, Pierre 59 f., 145 Brecht, Bertolt 12, 47, 225, 330, 350 Bry, Carl Christian 232 Buber, Martin 143, 150, 187 Caillois, Roger 247 f., 251 Cassirer, Ernst 207, 313 f.

Cassirer, Paul 121 f., 125 Dehmel, Richard 46, 88, 206, 332 Eco, Umberto 13, 94, 193, 302 Feßmann, Meike 10, 16, 54, 85, 117, 119, 208, 213, 215, 289 Feuerbach, Ludwig 136, 231 Foucault, Michel 148, 176 f. Freud, Sigmund 66, 73, 75-80, 105, 326 Geibel, Emanuel 87 Genette, Gérard 217-220 George, Stefan 12, 120, 145, 328 ff., 337, 350 Goerth, Albrecht 22-25 Goethe, Johann Wolfgang 86 ff., 90-99, 110, 113, 153, 193, 214, 254, 266, 270 Grimm, Jakob und Wilhelm 107 ff. Habermas, Jürgen 11, 95, 144, 148 Hacks, Peter 88 Hallensleben, Markus 16, 18, 145, 258, 271, 275, 277, 282, 301, 325, 331 Hart, Heinrich und Julius 14, 125, 146 f., 151, 153, 155-158, 160 f., 164, 198, 337 Haug, Wolfgang Fritz 58 f. Hauptmann, Gerhart 46, 201 ff., 232 Heine, Heinrich 91 f., 112 f., 276 Henrich, Dieter 109, 113 Heselhaus, Clemens 164, 184, 186, 271, 275 f. Hessing, Jakob 14, 83, 96, 98, 100, 250, 276, 280 ff. Hille, Peter 9, 15, 19, 47, 126, 133, 148, 150, 151-256, 257, 259 ff., 264, 303, 325, 329, 350 Hölderlin, Friedrich 45, 233 f.

382

Personenregister

von Hofmannsthal, Hugo 262, 341 f., 350 Holz, Arno 230 f. Holzmann, Johannes 233 Horkheimer, Max 34, 60, 62, 110, 182, 313 Jesus Christus 136, 206 f., 228, 230-236 Johanna von Orleans 100 Jolles, André 230, 238, 240, 247, 249 f. Kafka, Franz 196, 202 f., 284 Kandinsky, Wassily 149 f. Kempner, Friederike 85, 87-93, 95 ff., 104, 106, 110, 226, 350 Key, Ellen 169, 177 Kirschnick, Sylke 14, 18, 19, 54, 70, 117, 145, 258, 305, 307 f., 311 von Kleist, Heinrich 286, 330, 332 Kokoschka, Oskar 54, 332, 337 von Kotzebue, August 85 ff., 91 Kracauer, Siegfried 300, 303, 316, 331 Kraus, Karl 12, 102, 145, 148, 262, 271-279, 284, 289, 293, 301, 350 Landauer, Gustav 17, 102, 124-127, 131-150, 169 f., 231-237, 255, 280 ff., 322, 328, 380 Lenk, Elisabeth 16, 68, 74, 76, 79 ff., 118-124, 140, 144 f., 269 f., 322, 341 ff., 346-353 Liede, Alfred 88, 91 f., 95, 101 f., 113, 179, 182, 226 von Liliencron, Detlev 46 f., 161-165, 192 Lindau, Paul 88, 94 Loos, Adolf 301 ff. Luhmann, Niklas 297 ff., 302, 309, 312, 324, 339 Lukács, Georg 232

Marc, Franz 9, 30, 149 f., 290, 331 Mauthner, Fritz 12, 85, 102-106, 110, 178, 234 May, Karl 19, 37, 46, 53-56, 70, 84, 268, 350 Meister Eckhart 136, 234 Moeller-Bruck, Arthur 164 f. Mühsam, Erich 53, 124, 126-138, 142, 146 f., 150 f., 160, 169, 191, 352 Napoleon Bonaparte 38, 91-96, 112 f., 153, 262, 265 ff., 270, 291 Nietzsche, Friedrich 89, 97-102, 106, 110, 126, 164 f., 184, 209-213, 232 f., 239 f., 254 Pohrt, Wolfgang 136, 147, 300, 315 Ratzel, Friedrich 23 ff. Rilke, Rainer Maria 13, 255 Rosenkranz, Karl 333 f. Rühmkorf, Peter 225 Scheerbart, Paul 176 Scheuer, Helmut 132, 231 f. Schiller, Friedrich 76, 79, 85 ff., 91, 95 f., 112, 114 Schlaffer, Heinz 39, 41-45, 56, 86, 130, 143, 161, 236 f., 239, 266 Schuller, Marianne 14, 28, 73, 83, 205, 208, 266, 268 f. Seidel, Heinrich 87 Sennett, Richard 306, 317 Serner, Walter 295-302, 310, 321 Simmel, Georg 24, 240 f., 295, 309 ff., 320, 333 ff. Steiner, Rudolf 187 Steinlein, Rüdiger 21, 24 ff., 37, 46, 56, 160, 169, 220 Stirner, Max 126, 194, 255 Ueding, Gert 19, 37, 53, 153, 241 Wagner, Richard 44, 92, 234

Personenregister

Walden, Herwarth 12, 18, 54, 257, 304, 328, 332 Wellershoff, Dieter 179 Whitman, Walt 233 f. Wilkending, Gisela 21 f., 24, 33, 46 Wille, Bruno 14, 195, 202, 248 Winnicott, D. W. 33, 63 f., 214 f., 282, 288, 326 Wolgast, Heinrich 21 f., 33, 39, 46-61, 66

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HANS RICHARD BRITTNACHER / MAGNUS KL AUE (HG.)

UNTERWEGS ZUR POETIK DES VAGABUNDENTUMS IM 20. JAHRHUNDERT

Der Band geht dem prominenten literaturgeschichtlichen Motiv des Vagabundierens aus einer poetologischen Perspektive nach und versammelt achtzehn Beiträge, die sich der Frage widmen, welche Schreibweisen und ästhetischen Reflexionsformen in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts von Autoren entwickelt worden sind, die ihre Autorschaft mehr oder minder dezidiert unter dem Aspekt des Vagabundentums begriffen haben. Neben den Gemeinsamkeiten »vagabundisierender« Schreibstrategien und deren Affinität zu Textsorten wie Fragment, Essay und Feuilleton stellen die Beiträge die politisch-ideologische Doppeldeutigkeit des Vagabundentums heraus. 2008. IV, 305 S. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-20085-5

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar