Poetik des chinesischen Logogramms: Ostasiatische Schrift in der deutschsprachigen Literatur um 1900 [1. Aufl.] 9783839432471

Characters as cultural symbols: with reference to the motif of East-Asian scripts, fin-de-siècle literature discusses th

231 35 2MB

German Pages 300 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
1. (Un-)Lesbares übersetzen
2. „Au milieu du grimoire officiel“ – Forschungslage
3. Suche nach Originalität – Übersetzungen chinesischer Lyrik
4. Das Fremde (nicht) verstehen (wollen)
5. (Von) Reiseerfahrung erzählen (müssen)
6. Im Naturbuch lesen (können)
7. „Gegenwart“ des Sprechaktes
8. Poetische Defizienzerfahrung
9. Der „meterdicke Wall“ der Schriftzeichen
10. (Un-)Übersetzbares lesen
Literaturverzeichnis
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Poetik des chinesischen Logogramms: Ostasiatische Schrift in der deutschsprachigen Literatur um 1900 [1. Aufl.]
 9783839432471

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Sebastian Schmitt Poetik des chinesischen Logogramms

Lettre

Sebastian Schmitt, geb. 1987, hat an der Philipps-Universität Marburg Germanistik mit dem Schwerpunkt Neuere deutsche Literatur sowie Europäische Literaturen und Antike in Europa studiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. die literarische Moderne, Gegenwartsliteratur, »Neue Weltliteratur«/Interkulturelle Literatur und der deutsch-japanische Kulturkontakt.

Sebastian Schmitt

Poetik des chinesischen Logogramms Ostasiatische Schrift in der deutschsprachigen Literatur um 1900

2015 als Dissertation vom Fachbereich 09 Germanistik und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg angenommen. Datum der Dissertation: 12.02.2015.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Sebastian Schmitt, Sakai (Japan) 2015 Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3247-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3247-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1

(Un-)Lesbares übersetzen | 9

Schrift- und Gegenwelt China. Kiens Disput mit dem Nachbarjungen (Die Blendung). Die (Un-)Möglichkeit, über die chinesische Mauer „hinüber[zu]klettern“. „[L]’impossibilité nue de penser cela“ (Foucault). Otto Julius Bierbaums appellativer Prolog (Das schöne Mädchen von Pao) und Freuds graphemischer Traumrebus. 2

„Au milieu du grimoire officiel“ – Forschungslage | 25

Europäische Referenztexte des Logogrammthemas. Pierre Loti und der europäische Japonismus (Madame Chrysanthème). Poetologische Defizienzerfahrung der lateinischen Schrift. Zur Forschungslage. Empirisches Schreiben über Kunst. 3

Suche nach Originalität – Übersetzungen chinesischer Lyrik | 45

Übersetzungen chinesischer Lyrik: Marquis d’Hervey-Saint-Denys, Judith Gautier, Böhm, Forke, Heilmann. Über das Fehlen eines deutschen Kommentars. Die „Verdichtung“ durch den chinesischen „Parallelismus“. Ein Gesamtkunstwerk „en miniature“. Mimesis, Piktographie, Ideographie und Logographie. Transformation des pinselnden Dichtungsaktes. 4

Das Fremde (nicht) verstehen (wollen) | 63

Abgrenzung des Betrachtungszeitraums. Das philosophische Phantasma der chinesischen Schrift. Die deutsche Kolonialismusepisode. Der Exotist Willy Seidel (Die Himmel der Farbigen). Das Alter der chinesischen Schrift. Kulturelle Konservierung. Die Boxeraufstände als mediales Stichwort. Karl May und das beherrschte China (Der blaurothe Methusalem/Kong-Kheou, das Ehrenwort). Joseph Kürschners Prachtband China. Imperialistische Logik und Modellleserkonstruktion. Karl May und das leidende China (Et in terra pax). Die Gefährdung von Old Shatterhands Subjektposition und Allwissens. Reso-

nanzkörper durch Paratexte. Zufall und Genie. Literatur und Pazifismus. Unlesbarkeit des Anderen als Legitimierung des Imperialismus. 5

(Von) Reiseerfahrung erzählen (müssen) | 121

Faszinationsraum Japan als künstlerische terra incognita. Verlegerisches Interesse: der „Kulturverleger“ Paul Cassirer. Kalkulation und Lesererwartung. Bernhard Kellermanns Reise nach Japan und die Auftragsarbeit Ein Spaziergang in Japan. Wunsch des Flaneurs nach Mimikry. Intertextualität und Märchenmotivik. Sprachverstehen und kulturelle Transformation des Spaziergängers. Erzählen und berichten. Poetologie des Reiseberichts in der Beschau der Japaner. Literarizität des Reiseberichts. Bunraku und Pinocchio: Problemverlagerung auf den Leser. 6

Im Naturbuch lesen (können) | 155

Das „erotische[], produktive[] Pathos der Reise“ (Bloch). Max Dauthendeys Weltreisen. „Neutöner“ und Japonismus. Panpsychismus und Symbolismus (Die acht Gesichter am Biwasee). Suche nach einem neuen metaphysischen Zentrum der Kunst. Mediale Transformation der Hakkei. Die „Geheimschrift“ aus Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen. Märchen und Personifikation. Impressionismus, Jugendstil und Schrift. Das Lesen des Naturbuches. Be-Schreibung des Naturbuches in Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen. Die Vermessung der Idealwelt. Askese als anmaßende Machthandlung. Beschriftung und Auslesung weißer Oberflächen. Banalisierung der Weltbuchmetapher. Animistischer Polytheismus und Monismus. „Natürliche“ Schrift und der Machtakt des Schreibens. 7

„Gegenwart“ des Sprechaktes | 191

Hofmannsthals Erfundene Gespräche und Briefe. Hieroglyphen, Chiffren und Schrift in Ein Brief. Absolute Gegenwart. Sprachkrise und poetologischer Suizid. Die Wahrheit via negationes. „Umkehrung der Weltschrift“. Brief- und Gesprächsfragmente eines Japanischen Edelmanns. Asien als idealistischer Raum der Gegenwart und Einheit. Chandos’ Verstummen als gesamteuropäisches Problem. Nitobes Bushido: Schrift und Mündlichkeit. Frau v. Grignan an ihre Mutter Frau v. Sevigné. Logographie als Umkehrung des tötenden Buchsta-

bens. China als Gegenwelt zum Ancien Régime. „Über die Sprache ohne Alphabet.“ Schrift, Zivilisation, Erkenntnisfähigkeit. Der Logos des Tao und seine graphemische Abbildbarkeit. 8

Poetische Defizienzerfahrung | 219

Das „Chinesische“ an Döblins „chinesischem Roman“ Die drei Sprünge des Wang-lun. Milieusicherheit und Stilpluralismus. Poetisches Experimentierfeld. Kubistisches Schreiben. Hegemonie des Erzählers. Poetologische Gespräche. Resonanzkörper im historischen Roman. „[Ä]ußerste[] Komprimierung“. Futuristische Leseanleitung der Zueignung. Dualismus von Oralität und Literalität. Fehlende Lösung von „Konfliktpotentialen“. Statarischer Zyklus der menschlichen Existenz. 9

Der „meterdicke Wall“ der Schriftzeichen | 247

„Bildung“ und „Verbildung“. Frauenfiguren in Bierbaums Studenten= Beichten. Wiedererzählen und Wiederaufschreiben. Juden und Chinesen in To=lu=to=lo oder Wie Emil Türke wurde. Die Rekluse des Bildungsphilisters. „Chinesische Mauer“ und „Schriftsäulenzeichen“ vs. „Berliner Papiermaché-Mauer“. Eros und Akademie. Kulturelle und soziale Sphärenbildung. Richard Küas’ Die Wacht im fernen Osten. Die korrgierende Instanz. Das Spiel mit den Grenzen (vermeintlich) hermetischer Sphären. 10

(Un-)Übersetzbares lesen | 265

„Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“ (Nietzsche). Bierbaums Märchen #2. Lacans „écaille passée au feu de la tortue“. „Ordre symbolique“. Deutung als Supplement. Das Chinesisch der „Bilderrätsel“. Geburt eines SprichwortSprachzeichens. Verstehen von Kunst, Verstehen von anderer Kultur. Vom „Reich der Toten“ zum L'empire de Signes. Literaturverzeichnis | 281

1 (Un-)Lesbares übersetzen

Einer „Bedeutung habhaft […] werden“1, „übersetzen“2, „enträtseln“3, „erraten“4, „lesen“5, „schein[en]“6, „deute[n]“7, „entziffern“8, „studier[]en“9, „verstanden werden“ 10 , „rätselhaft […] erscheinen“ 11 , „erkennen“ 12 , „gelesen“ 13 , „sehen aus“ 14 , „wirken“15, „betrachten“16 , „begreifen“17 , „verstehen“18, „bedeuten“19.

1

Bierbaum, Otto Julius: Studenten=Beichten. Zweite Reihe. Berlin u. Leipzig 6

1909. S. 40.

2

Ebd.

3

Vgl. ebd. S. 73.

4

Canetti, Elias: Die Blendung. Wien, Leipzig u. Zürich 1936. S. 10.

5

Döblin, Alfred: Die drei Sprünge des Wang-lun. Chinesischer Roman. Berlin

6

Böhm, Gottfried: Chinesische Lieder aus dem Livre de Jade von Judith Mendès.

7

Seidel, Willy: Die Himmel der Farbigen. Ein Bilderbuch aus zeitlosen Weltwin-

8

Kurz, K[arl] F[riedrich]: Kohana. Japanisches Liebesidyll. Frauenfeld 1910. S.

9

Dauthendey, Max: Die acht Gesichter am Biwasee. Japanische Liebesgeschich-

1917. S. 181. München 1873. S. 123. keln. München 1930. S. 11. 45. ten. München 1911. S. 99. 10 Kürschner, Wilhelm (Hrsg.): China. Schilderungen aus Leben und Geschichte Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik. Berlin 1901. T. I, S. 295. 11 Ebd. T. III, S. 72. 12 Ebd. T. III, S. 117.

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Die ostasiatische Logogrammschrift, die sich durch das vielschichtige Interessennetzwerk Deutschlands seit Ende des 19. Jahrhunderts konjunkturell in den literarischen und künstlerischen Werken wiederfindet, bietet, gespeist aus einer langen Tradition an philosophischen und geschichtlichen Präfigurationen, für Leserschaft wie Künstler einen Nährboden für polyphone Phantasmen an. Ob als moderne Hieroglyphen, defizitäres Kuriosum, diabolisches Enigma oder idealistische Universalschrift markiert: kaum ein Mensch, der sich im künstlerischen Medium mit den fremden Staaten Ostasiens befasst, entgeht bis heute dem Faszinosum. China galt und gilt seit den phantastischen Reiseberichten des Spätmittelalters als das konträre Fremde auf der anderen Hälfte der Erdkugel. Wolfgang Bauer formuliert in seiner chinesischen Literaturgeschichte, wie die Distinktion von Morgenland und Abendland bewirkte, „daß man das andere, unabhängig gewachsene Zentrum, als man seiner schließlich gewahr wurde, als eine Art Gegenwelt aufzufassen geneigt war, in der alles ‚verkehrt‘ und ‚andersherum‘ ablief: Wo die Menschen beispielweise vertikal statt horizontal schrieben und wo die Buchseiten von hinten nach vorne zu blättern waren“20. Bauers Rhetorik einer (literaten) „Gegenwelt“ klingt im Kontext etablierter Orientalismus- und (Post-)kolonialismuskonzepte redundant, erweist sich aber zum einen als bekanntes Theorem der – von Bauer behandelten – deutschsprachigen Auseinandersetzung mit der chinesischen Literatur und zum anderen als eine Kategorie, die mit der Hervorbringung von Verständ-

13 Bethge, Hans: Die chinesische Flöte. Leipzig ³[190x]. S. 106. 14 Ebd. S. 39. 15 Kellermann, Bernhard: Ein Spaziergang in Japan. Berlin 1910. 16 Heilmann, Hans: Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart. München u. Leipzig [1905]. S. XXII. 17 Kürschner (1901). T. III, S. 395. 18 Ebd. S. 400. 19 Bierbaum, Otto Julius: Das Schöne Mädchen von Pao. Berlin u. Leipzig 1899. S. X. 20 Bauer, Wolfgang: Die Rezeption der chinesischen Literatur in Deutschland und Europa. In: Klaus von See (Hrsg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 23: Ostasiatische Literaturen. Hrsg. v. Günther Debon. Wiesbaden 1985. S. 159.

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nis koaliert; Verständnis vom Anderen (das „nicht wir“, „die“), vom Selbst (das „wir“) und reflexiv über Rahmenbedingungen eines Verständnisses selbst (wie konstituieren „wir“ „uns“ und „die“, was heißt „Verstehen“?). Das literarische Medium, das sich durch seinen Modus des uneigentlichen Sprechens oder ‚Lügens‘ stets mit der Deutung seiner selbst befasst, ermöglicht poetologisch die Kombination dieser Reflexion mit der Begegnung und dem Verständnis fremder Kulturen. In Canettis Die Blendung findet sich dazu ein Analogon in der einleitenden Szene zwischen dem bibliophilen Sinologen Kien und dem Nachbarjungen, den er unmittelbar fragt: „Kannst du schon lesen?“ und „Was hast du lieber: eine Schokolade oder ein Buch?“21 Dieser antwortet: „Ja, ich lese immer. Der Vater nimmt mir die Bücher weg. Ich möchte in eine chinesische Schule. Da lernt man vierzigtausend Buchstaben. Die gehen gar nicht in ein Buch.“ Der Text bedient an dieser Stelle die „absolute Metapher“22 der „Welt als Buch“ oder der „Lesbarkeit der Welt“, die sich spä-

21 Canetti (1936). S. 9. / Canetti, Elias: Die Blendung. Frankfurt am Main 382010. S. 7. – Im Folgenden wird die Erstausgabe zitiert. Orthographische Angleichungen der Neuausgabe werden stillschweigend übergangen. 22 „Unsere ‚absolute Metapher‘ findet sich hier als Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann. Die Metapher ist deutlich charakterisiert als Modell in pragmatischer Funktion, an dem eine Regel der Reflexion gewonnen werden soll, die sich im Gebrauch der Vernunftidee anwenden läßt, also ein Prinzip nicht der theoretischen Bestimmung des Gegenstandes…, was er an sich, sondern der praktischen, was die Idee von ihm für uns und den zweckmäßigen Gebrauch derselben werden soll. […] Daß diese Metaphern absolut genannt werden, bedeutet nur, daß sie sich gegenüber dem terminologischen Anspruch als resistent erweisen, nicht in Begrifflichkeit aufgelöst werden können, nicht aber, daß nicht eine Metapher durch eine andere ersetzt bzw. vertreten oder durch eine genauere korrigiert werden kann. Auch absolute Metaphern haben daher Geschichte.“ – Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main 1998. S. 12-13. [Herv. i. O.] – „In diesen Metaphern geht es nicht um letzte Wahrheiten, um Ontologien oder Seinsgeschichten oder Metaphysik. Vielmehr hätten wir es in ihnen mit Auslegbarem zu tun, das anderem vorausgeht, andere Sachverhalte koordiniert und verfärbt, diesseits gegenständlicher Bestimmtheit dennoch nicht die völlige Unbe-

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testens in der Moderne als durchlässig und instabil erwiesen hat. Den Kosmos im Vergleich als Buch zu fassen garantiert Sinnhaftigkeit und Abgeschlossenheit sowie die Platzierung des Subjekts in einer festen und organisierten Struktur. Der naiv-kindliche Ausruf des Jungen konstruiert – im aufscheinenden Horizont realphilosophischer Ideen seit der Aufklärung – eine andere Welt, in der die Ordnungsstruktur der Sprache Chinesisch, in der scheinbar Lexikon und graphemisches Inventar deckungsgleich sind, den harmonischen Vorstellungsraum der westlichen Sphäre sprengt. Professor Kien selbst muss, als vernunftbezogener „Gelehrter, Sinologe vom Hauptfach“ (S. 10/8), widersprechen und zeigt dem Jungen als – missglückten – Gegenbeweis ein chinesisches Buch des Philosophen „Mong Tse“ (S. 10/8). Kien wird vorgestellt als ein aufklärerischer, der Ratio verpflichteter Wissenschaftler, der sich ärgert, wenn er etwas „ohne zwingenden Grund“ (S. 10/8) beginnt und sich einem Begriff von Wissenschaft und Archiv verschreibt, der sich transzendental der Suche nach einem lokalisierbaren und stabilen Sinnzentrum verpflichtet. 23 Damit verknüpft die Textstelle den Machtdiskurs der aufklärerischen Ratio mit einem Modell des eigentlich zerfallenen Weltbuches, das nur durch das Projekt einer gewaltvollen Enzyklopädie stabilisierbar werden könne. Gleichzeitig verweisen die Metaphern des „Weltbuchs“ und der „Gegenwelt“-Distinktion zwischen China und dem Westen erneut auf eine Kategorie des Verstehens im definitorischen Sinne Gadamers. Dieser formuliert, es ginge bei der hermeneutischen Arbeit darum, „einen Sinnzusammenhang aus einer anderen ‚Welt‘ in die eigene zu übertragen.“24 Folglich ist durch Canettis Verschränkung von Kultur- und Textverstehen bereits das Grenzgebiet einer Texthermeneutik verlassen und das Terrain einer „hermeneutischen Philosophie“ betreten: Einer Theorie des Auslegens von allen Bereichen, in denen Verstehen eine Rolle spielt: Texte, Kunst, Wissen, Kulturen oder das Verstehen selbst. Eine Theorie, bei der der Interpre-

stimmtheit des Ganzen und seiner immer ausstehenden Möglichkeiten zuläßt.“ – Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main 1986. S. 16. 23 Folglich wird der Titel des Romans sowie die eigentliche (Ver-)Blendung Kiens als visuelle Penetration des aufklärerischen Lichtes/lumière/enlightenment lesbar. 24 Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Basel u. Stuttgart 1970. Sp. 1061.

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tierende sich bewusst ist, „daß er in einer bereits interpretierten und verstandenen Welt lebt und daß diese faktisch verschieden interpretiert wird.“25 Das Gespräch zwischen Kien und dem Nachbarjungen nimmt für Die Blendung den Platz einer Lektüreanleitung ein und führt mit der chinesischen „Schrift“ (S. 9/7) demnach zwei (verfehlte) entgegengesetzte Ansichten darüber vor, wie und ob sich ein Sinn (beispielsweise des Romans) hermeneutisch erschließen ließe. Die in der Rede des Knaben angelegte Theorie verweist auf die Idee eines alternativen sprachlichen Systems, das sich nicht mit der Königsdisziplin der europäischen Aufklärung, der Enzyklopädie26, kontrollieren ließe, während Kien mit seinem Archiv, seinem Gedächtnis und – en miniature – mit seinem mitgebrachten „Mong Tse“ die Beherrschbarkeit eines Diskurses, einer Wissenschaft, einer Kultur und

25 Scholtz, Gunter: Was ist und seit wann gibt es „hermeneutische Philosophie“? In: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften. Bd. 8 (1992/93). S. 110. 26 Die Verbindung des aufklärerischen Zeitalters und seines enzyklopädischen Wissenschaftsstrebens mit dem sinnhaften Weltbuch, in dessen Tradition Kiens anfängliche Lebensart/Blendung steht, weist Foucault in Les mots et les choses nach. Im metaphysisch-logozentristischen Diskurs des „l’âge classique“ wird der Sprache die Möglichkeit zugesprochen „de donner des signes adéquats à toutes les représentations quelles qu’elles soient, et d’établir entre elle tous les liens possibles. Dans la mesure où le langage peut représenter toutes les représentations, il est de plein droit l’élément de l’universel. Il doit y avoir un langage au moins possible qui recueille entre ses mots la totalité du monde et inversement, le monde, comme totalité du représentable, doit pouvoir devenir, en son ensemble, une Encyclopédie.“ – Foucault, Michel: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris 1966. S. 100. – „Es handelt sich um die Fähigkeit, allen Repräsentationen, wie immer sie beschaffen seien, adäquate Zeichen zu geben und zwischen ihnen alle möglichen Verbindungen herzustellen. Insoweit die Sprache alle Repräsentationen repräsentieren kann, ist sie mit vollem Recht das Element des Universalen. Es muß wenigstens eine mögliche Sprache geben, die in ihren Wörtern die Totalität der Welt aufnimmt, und umgekehrt muß die Welt als Totalität des Repräsentierbaren in ihrer Gesamtheit eine Enzyklopädie werden können.“ – Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main. 222012. S. 123.

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einer Sprache zu beweisen trachtet. Es stehen sich demnach die Vorstellung einer vollkommenen Auflösung der Idee von Kontrolle und Begreifen von sprachlichen Strukturen sowie der absolute Imperialismus über solche Ordnungen gegenüber. Gleichzeitig lässt der Prolog jedoch keinen Zweifel daran, dass beide Theorieangebote in sich unschlüssig sind: Gegen die Aussage des Kindes spricht de facto die Existenz chinesischer Lexika und gegen diejenige Kiens sein unglücklich gewähltes Beispiel, das graphemischuniverselle Traumbuch des Jungens mit einem einfachen Buch zu verwechseln, das keinen Anspruch auf Vollständigkeit in Bezug auf sein Grapheminventar/Lexikon erhebt. Die logographischen Schriftzeichen der chinesischen, japanischen wie koreanischen Sprache eröffnen in einer Zeit, in der die Literatur bewusst die Grenzen der instituierten klassischen Hermeneutik durchbricht, auf polyphon semiologische wie poetologische Weise die Diskussion in allen Bedeutungen des griechischen ἑρμηνεύω – übersetzen, (aus-)deuten, auslegen, interpretieren, erklären, (ver-)dolmetschen. Die Moderne ließe sich demnach abseits jeglicher Klassifizierungen in einzelne Stilrichtungen und Stilepochen als der Zeitraum begreifen, in dem sich die literarische Auflösung der Weltbuch-Metapher in einer allgemeinen „inquiétude“27 vollzieht.

27 „La fin de l’écriture linéaire est bien la fin du livre, même si aujourd’hui encore, c’est dans la forme du livre que se laissent tant bien que mal engaîner de nouvelles écritures, qu’elles soient littéraires ou théoriques. Il s’agit d’ailleurs moins de confier à l’enveloppe du livre des écritures inédites que de lire enfin ce qui, dans les volumes, s’écrivait déjà entre les lignes. C’est pourquoi en commençant à écrire sans ligne, on relit aussi l’écriture passée selon une autre organisation de l’espace. Si le problème de la lecture occupe aujourd’hui le devant de la science, c’est en raison de ce suspens entre deux époques de l’écriture. Parce que nous commençons à écrire, à écrire autrement, nous devons relire autrement. Depuis plus d’un siècle, on peut percevoir cette inquiétude de la philosophie, de la science, de la littérature dont toutes les révolutions doivent être interprétées comme des secousses détruisant peu à peu le modèle linéaire.“ – Derrida, Jacques: De la grammatologie. Paris 1967. S. 129-130. – „Doch das Ende der linearen Schrift ist das Ende des Buches, selbst wenn es bis heute noch das Buch ist, das für neue literarische oder theoretische Schriften nolens volens

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Diese gesamteuropäische Bewegung, die sich unauflösbar mit Fortschrittund Technikwahn, Eskapismus, Untergang des Abendlandes und einer phonetisch-graphemischen Sprachkrise verknüpft, findet plakativen Ausdruck in den mit der absoluten Emanzipation des Ornaments verbundenen Entsemantisierungstechniken des Jugendstils, in die auch das Logogramm als Arabeske Einzug hielt.28 „Wenn das Buch der Welt und des Lebens schwindet, müssen ihm die vielen Bücher zur Hilfe kommen, um dieses Schwinden (ver)schwinden zu lassen.“29 Und an genau diesem beunruhigenden Punkt der kritischen Reflexivität auf ein Sinnzentrum, eine Sinnauslegung und eine Sinnhaftigkeit der Zeichen lässt sich ein Beginn der „Moderne“ fixieren. Eine Zeit, in der die „vielen Bücher“ einen polyphonen Chor an Deutungen anbieten, wenn

formbestimmend ist. Es geht auch nicht darum, der Buchhülle noch nie dagewesene Schriften einzuverleiben, sondern endlich das zu lesen, was in den vorhandenen Bänden schon immer zwischen den Zeilen geschrieben stand. Mit dem Beginn einer zeilenlosen Schrift wird man auch die vergangene Schrift unter einem veränderten räumlichen Organisationsprinzip lesen. Wenn das Problem der Lektüre heute im Vordergrund der Wissenschaft steht, so deshalb, weil sie noch unentschieden zwischen zwei Epochen schwankt. Weil wir zu schreiben, auf andere Weise zu schreiben beginnen, müssen wir auch das bisher Geschriebene auf andere Weise lesen. Seit über einem Jahrhundert läßt sich diese Unruhe [inquiétude] in der Philosophie, der Wissenschaft und der Literatur registrieren, deren Revolutionen als Erschütterungen interpretiert werden müssen, die das lineare Modell – unter dem wir das epische Modell verstehen – nach und nach zerstören. Was es heute zu denken gilt, kann in Form der Zeile oder des Buches nicht niedergeschrieben werden“. – Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt am Main 1983. S. 154155. 28 Vgl. bspw. die radierte Titelzeichnung von Marcus Behmer zur Pan-Ausgabe von Voltaires „histoire orientale“ Zadig ou la destinée, die vielleicht im Anklang an das unlesbare „livre des destinées“ des Eremiten das Logogramm für Vernunft, Ratio, Logik ziert. Abgebildet in: Löhneysen, Wolfgang Freiherr v.: Paul Cassirer – Beschreibung eines Phänomens. In: Imprimatur. Neue Folge. Bd. VII (1972). S. 160. 29 Hörisch, Jochen: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik. Frankfurt am Main 1988. S. 93.

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das metaphysische Zentrum entweder spätestens durch Nietzsche „getötet“ oder zumindest unübersetzbar gemacht wurde. Es ist dieser beginnende (aktive oder passive) Zerfall des Weltbuches in einer Zeit des vielschichtigen „Untergangs des Abendlandes“ (Spengler) und der Herrschaft der neuen Speichermedien „Grammophon, Film [und] Typewriter“ (Kittler), der seinen Abschluss am deutlichsten in Celans Versen „Unlesbarkeit dieser / Welt. Alles doppelt.“30 findet. Die vorliegende Arbeit wird keinen naiven Versuch unternehmen, genealogisch einen vermeintlich evolutionären Verlauf dieses Übergangsstadiums des Verstehens bzw. der Hermeneutik nachzuzeichnen, sondern nimmt es sich zur Aufgabe, am Motiv des Logogramms, das in dieser Zeit Konjunktur hat, einzelne énoncés einer polyphonen Transformation zu fokussieren. Es ist einerseits die poetische oder epistemologische Fähigkeit des literarischen Textes, die Suche nach einem Sinnzentrum oder Zusammenhang durch seine expliziten Möglichkeiten aufnehmen zu können, andererseits die poetologische Chance der Literatur, dabei ihr eigenes Vorgehen, ihre eigene Konstitution von Sinn(-suche) zu spiegeln oder zu hinterfragen. An dieser Schnittstelle literarisch-poetologischer und semiologischhermeneutischer Fragestellungen befindet sich auch die fremdartige Schrift Ostasiens, deren (Un-)Lesbarkeit zusammenfällt mit ihrer Enträtselung, Übersetzung, Inkommensurabilität, Intertextualität und letztlich auch ihrer kalligraphischen Dimension. Dass literarische Texte selbstreferentielle Bezüge auf ihre eigene Verstehbarkeit erzeugen, ist evident und läuft eher Gefahr, die Arbeit als redundant und willkürlich als Untersuchung eines polyphonen Schrift-Motivs in Frage zu stellen. Wird eine auf Verstehensprozesse verweisende Poetologie als ein Grundpfeiler der Literarizität betrachtet, erfordert dies eine Abgrenzung des Textkorpus und der Arbeitsweise, die schlichtweg nicht eindeutig möglich ist. Es ließe sich als Auswahlkriterium wie verbindendes Glied eine doppelte Überkodierung bezeichnen, die sich zum einen aus dem Zeitraum des Stilpluralismus um 1900 und seinen experimentellen, avantgardistischen Neuformungen ergibt und zum anderen aus den per se poetologischen Auseinandersetzungen mit einem fremden Schriftsystem gespeist ist. Ein Schriftsystem, das nicht nur einen Kanon an Mythenbil-

30 Celan, Paul: [Unlesbarkeit]. In: Barbara Wiedemann (Hrsg.): Paul Celan. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe. Frankfurt am Main 2005. S. 317.

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dung und Philosophietradition aufruft, sondern zugleich untrennbar mit Kalligraphie und tonaler Sprache verbunden ist. Die Konfrontation mit fremden Kulturen und deren Ordnungssystemen führt unvermeidlich zu der Erfahrung, dass es keinen universalen Regelkanon einer eindeutigen Hermeneutik geben kann. „Wenn es kein für alle Epochen der Evolution der Menschengattung verbindliches Zeichensystem und mithin: keine invariante Weltansicht gibt, dann konsequenterweise auch kein ein für allemal gültiges Regelarchiv, mit dem sich jeder Text aus seiner Zeit aufschließen ließe. Die Regeln des Verstehens sind selbst historische Institutionen, und sie verschieben sich immer wieder mit der Art und Weise der Textkomposition und der einem Text eingeschriebenen weltanschaulichen Formationen.“ 31 Manfred Franks Überlegungen zeigen sich hier an Foucaults Les mots et les choses orientiert, dessen Inspiration in einer autobiographischen Notiz mit Bezug auf die literarische Darstellung chinesischer Wissenskonstitution begründet wird: „Dieses Buch hat seine Entstehung einem Text von Borges zu verdanken. Dem Lachen, das bei seiner Lektüre alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt, des Denkens unserer Zeit und unseres Raumes, das alle geordneten Oberflächen und alle Pläne erschüttert, die für uns die zahlenmäßige Zunahme der Lebewesen klug erscheinen lassen und unsere tausendjährige Handhabung des Gleichen und des Anderen […] schwanken läßt und in Unruhe versetzt.“32

31 Frank, Manfred: Was ist ein literarischer Text, und was heißt es, ihn zu verstehen? In: Manfred Frank: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutschfranzösischen Hermeneutik und Texttheorie. Frankfurt am Main 1989. S. 122. 32 Foucault (222012). S. 17. [Herv. i. O.] – „Ce livre a son lieu de naissance dans un texte de Borges. Dans le rire qui secoue à sa lecture toutes les familiarités de la pensée – de la nôtre : de celle qui a notre âge et notre géographie –, ébranlant toutes les surfaces ordonnées et tous les plans qui assagissent pour nous le foisonnement des êtres, faisant vaciller et inquiétant pour longtemps notre pratique millénaire du Même et de l’Autre. Ce texte cite ‚une certaine encyclopédie chinoise‘ où il est écrit que ‚les animaux se divisent en : a) appartenant à l’empereur, b) embaumés, c) apprivoisés, d) cochons de lait, e) sirènes, f) fabuleux, g) chiens en liberté, h) inclus dans la présente classification, i) qui s’agitent comme des fous, j) innombrables, k) dessinés avec un pinceau très fin en poils de chameau, l) et cætera, m) qui viennent de casser la cruche, n) qui de loin

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Der im Folgenden zitierte Text von Borges fingiert die deutsche Übersetzung einer chinesischen Enzyklopädie durch den Sinologen Franz Kuhn. Sie präsentiert eine Taxonomie des Tierreichs, die sich außerhalb jeglicher Systematik europäischen Denkens erstreckt: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, […] k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, […] n) die von weitem wie Fliegen aussehen.“33 Diese befremdliche Klassifikation bedeutet für Foucaults frühes Denkgebäude vor allem eines: sie macht „die Nicht-Notwendigkeit, d.h. die historische Relativität unserer eigenen Denk-Schemata sichtbar“34, „die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken.“35 Foucaults angesprochene „Unruhe“ („faisant […] inquiétant“), also die plötzliche Erfordernis, die eigene Struktur des Denkens zu hinterfragen, entspringt demnach aus dem Kontakt mit der Fremde über das Medium der europäischen Literatur. „China ist doch in unserem Traum gerade der privilegierte Ort des Raumes. Für unser imaginäres System ist die chinesische Kultur“36 das konträre Andere, das „wir“ selbst geschaffen haben. „Wir sehen China ausgebreitet und auf die ganze Oberfläche eines mit Mauern umgebenen Kontinents geheftet. Sogar seine Schrift reproduziert den flüchtigen Flug der Stimme nicht in horizontalen Linien. Sie richtet das unbewegliche und noch erkennbare Bild der Dinge selbst in Säulen auf. […] So gäbe es am anderen Ende der von uns bewohnten Welt eine Kultur, die völlig der Aufteilung der Ausdehnung ge-

semblent des mouches‘. Dans l’émerveillement de cette taxinomie, ce qu’on rejoint d’un bond, ce qui, à la faveur de l’apologue, nous est indiqué comme le charme exotique d’une autre pensée, c’est la limite de la nôtre : l’impossibilité nue de penser cela.“ – Foucault (1966). S. 7. [Herv. i. O.] 33 Ebd. 34 Frank, Manfred: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt am Main 1983. S. 138. 35 Foucault (222012). S. 17. [Herv. i. O.] 36 Ebd. S. 21. [Herv. i. O.] – „La Chine, dans notre rêve, n’est-elle pas justement le lieu priviligé de l’espace? Pour notre système imaginaire, la culture chinoise est la plus méticuleuse, la plus hiérarchisée […].“ – Foucault (1966). S. 10. [Herv. i. O.]

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weiht ist, die aber die Ausbreitung der Lebewesen in keinem der Räume verteile, in denen wir die Möglichkeit haben zu benennen, zu sprechen und zu denken.“37

Die Auseinandersetzung mit dieser anderen Schrift-Welt in einem ästhetischen Medium erzwingt eine Visualisierung von Kultur und Ordnung, Kultur und Verstehen sowie von Schriftsystematik und Verstehen. Die kulturellen Exklusionen, denen Foucault mit strukturalistischem Handwerkszeug nachzugehen verspricht, berufen sich auf ein europäisches Konstrukt der absoluten ratio, deren individueller Zugang divergente zivilisatorische Welten kreiert. Auch in der typisch chinesischen Metapher der Mauer wird demnach zu Beginn von Die Blendung Kiens Vernunft mit dem Paradigma der Alterität des Knaben polarisiert: „Du möchtest wohl gern hinüberklettern?“ „Die ist viel zu dick und zu groß. Da kann keiner hinüber. Drum hat man sie gebaut.“ (S. 9/7) Die Wand wird zum Hiatus, den die hermeneutische Arbeit überbrücken muss, um einen Sinngehalt zwischen den Welten zu übersetzen. Das chinesische Beispiel markiert also vornehmlich, wie Schriftlichkeit dual Abgrenzung stiftet: Zum einen durch seine materielle Andersheit („die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind“; „Sie richtet das unbewegliche und noch erkennbare Bild der Dinge selbst in Säulen auf.“) und zum anderen durch das mit ihm verbundene Ordnungssystem („l’impossibilité nue de penser cela“38). An diese Stelle der Argumentation fügt sich ein Textbeispiel, das zum Abschluss der Arbeit ein weiteres Mal angeführt wird. Otto Julius Bierbaums 1899 erschienene „wilde Geschichte“ (S. IX) 39 und Umdichtung eines

37 Foucault (222012). S. 17. – „[N]ous songeons à elle comme à une civilisation de digues et de barrages sous la face éternelle du ciel ; nous la voyons répandue et figée sur toute la superficie d’un continent cerné de murailles. Son écriture même ne reproduit pas en lignes horizontales le vol fuyant de la voix ; elle dresse en colonnes l’image immobile et encore reconnaissable es choses ellesmêmes. […] [I]l y aurait ainsi, à l’autre extrémité de la terre que nous habitons, une culture vouée tout entière a l’ordonnance de l’étendue, mais qui ne distribuerait la prolifération des êtres dans aucun des espaces où il nous est possible de nommer, de parler, de penser.“ – Foucault (1966). S. 10-11. 38 Ebd. S. 7. [Herv. i. O.] 39 Bierbaum (1899).

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fragmentarischen chinesischen Mythos Das Schöne Mädchen von Pao liest sich als ein Text über die Möglichkeit, Grenzen und Tätigkeit des Deutens und (Miss-)Verstehens von allerlei (metaphorischen) „Bilderrätsel[n]“ (S. 21). Göttliche Botschaften, Sätze „der alten Tafeln“ (S. 123), kryptische „höfische[] Prunklyrik“ (S. 131), „widerliche[] Tr[ä]um[e]“ (S. 137), „Gesicht[e]“ (S. 41), „unpassende Redensarten“ (S. 33), historische Verweise und warnende Naturzeichen begleiten die Geschichte des Drachenkindes Pao-Szö, das durch göttliche Fügung eine Dynastie in den Untergang führt. Doch noch bevor die Leserschaft die Chance hat, sich empathisch auf das chinesische Märchen einzulassen, wird sie geblendet von handgeschriebenen Logogrammen, einer mysteriösen „Widmung“ – wiederum mit Schriftzeichen geschmückt – sowie einem Vorwort. Die Widmung von Bierbaum gilt der „Kaiserin-Tante / von China“ (S. V), der de facto regierenden Witwe Cíxǐ40, und ist im westlich-bekannten befremdlich-höflichen Chinoiserie-Sprachduktus und teilweise in seltsamer Anordnung, an die senkrechte ideographisch-verstandene Schrift erinnernd, geschrieben. Erst im Vorwort übersetzt Bierbaum, der selbst einige Jahre Chinesisch am damals neugegründeten Seminar für orientalische Sprachen in Berlin studierte, die vorangegangenen Zeichen auf dem Umschlag und den ersten

40 Eben der Schattenregentin, die wenige Monate später in den Medien zum Schlagwort für die vermeintliche Grausamkeit und Unrechtmäßigkeit der Boxeraufstände wird. In dieser Widmung spiegelt sich bereits das publizistische Debakel von Bierbaums chinesischem Märchen, das dieser in zahlreichen Versuchen vergeblich gewinnbringend zu veröffentlichen hoffte (u.a. durch eine limitierte Prunkausgabe mit Illustrationen von Franz Bayros und aufwendigem Seidenschmuck). Das auf Empathie und Interesse gründende mythische Märchen erfordert eine Bereitschaft des Publikums, sich dem Fremden anzunähern und sich der „Gefahr“ einer Sympathie oder Identifikation auszusetzen, die zu den sinophoben Zeiten der Boxerwirren nicht gegeben war. – Bierbaums Stellung „an der Schwelle zur Moderne“, seinen „repräsentative[n] Charakter“ und seinen literaturökonomischen wie literarischen Einfluss stellt Erwin Koppen dar und verdeutlicht die hybride Stellung des heute weitestgehend vergessenen Autors, Herausgebers und Übersetzers zwischen 1890 und 1910: Koppen, Erwin: Otto Julius Bierbaum – ein deutscher homme de lettres an der Schwelle zur Moderne. In: Paul G. Klussmann (Hrsg.): Das Wagnis der Moderne. Frankfurt am Main 1993. S. 215-231.

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Seiten. Dabei bekommen die Logogramme drei Ebenen des Bezeichnens zugeschrieben: eine lautliche, eine kombinatorisch-sinnhafte und eine zweite sinnhafte, die sich an der Bedeutung einzelner Schriftzeichen orientiert: „Die chinesischen Zeichen auf der Vorderseite des Umschlages lauten: Yu-wang chung Pao-szê, d.i. zu deutsch: Kaiser Yu erweist der Pao-Szê seine Liebe. Die Zeichen auf der Rückseite des Umschlages lauten: Bi-bao-mo und geben damit den Namen des Verfassers in chinesischer Aussprache. Sie bedeuten etwas sehr hübsches, nämlich: Fürstliches Kleinod und Kostbarkeitstusche. Also, deutscher Nomenklatur angenähert, etwa: Herr Karfunkelstein, der Stilkünstler. Man sieht: Es geht nichts über chinesische Höflichkeit, wenn sie europäische Namen chinesisch ausspricht, und ich habe nur die bange Bitte auf dem Herzen, daß die kritischen Glossen zu dieser sehr östlichen Namensdekoration nicht allzu westlich unhöflich ausfallen mögen.“ (S. XX-XI)

„Bi-bao-mos“ Auflistungen von Deutungen bzw. Übersetzungen sind als Aufforderung und Exempel einer hermeneutischen (als übersetzenden) Arbeit zu werten. In seiner Erzählung To=lu=to=lo oder Wie Emil Türke wurde benutzt Bierbaum für das angewandte akademische Übersetzen so auch die macht- und kampfallegorische Wendung „ihrer Bedeutung habhaft werden“41. Etwa zur gleichen Zeit wird das mehrschichtige Transkribieren des Chinesischen von einem Wiener Psychoanalytiker metaphorisch auf Methoden angewandt, die dieser als „Traumarbeit“ (Verrätselung) und „Traumdeutung“ (Enträtselung) bezeichnet: „Die Unsicherheiten, die unserer Tätigkeit als Deuter des Traumes noch anhaften, rühren zum Teil von unserer unvollkommenen Erkenntnis her, die durch weitere Vertiefung fortschreitend gehoben werden kann, zum anderen Teil hängen sie gerade von gewissen Eigenschaften der Traumsymbole ab. Dieselben sind oft viel- und mehrdeutig, so daß, wie in der chinesischen Schrift, erst der Zusammenhang die jedesmal richtige Auffassung ermöglicht. Mit dieser Vieldeutigkeit der Symbole verbindet sich dann die Eignung des Traumes, Überdeutungen zuzulassen, in einem In-

41 Vgl. Bierbaum 61909. S. 40.

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halt verschiedene, oft ihrer Natur nach sehr abweichende Gedankenbildungen und Wunschregungen darzustellen.“42

Freuds Verweise auf die Logogrammschriften – meist sind es jedoch die Hieroglyphen – geben einen Hinweis auf das Selbstverständnis seiner psychoanalytischen Arbeit. Die Ansammlung ausgedeuteter Symbole und exemplarischer Traumdeutungen präsentiert sich als hart erarbeiteter Rosetta-Stein, mit dessen Hilfe der „Rebus“43 des Traums hin zu seinem eigentlichen Sinn rückübersetzbar werden soll.44 Freud fasst zusammen, „daß die Darstellung der Traumarbeit, die ja nicht beabsichtigt, verstanden zu werden, dem Übersetzer keine größeren Schwierigkeiten zumutet als etwa die alten Hieroglyphenschreiber ihren Lesern.“45 Freilich wäre zu ergänzen, dass an dieser Stelle die neuzeitlichen „Leser“ gemeint sind, ebenso wie das Paradigma der chinesischen Schrift nur für den fremden europäischen Beobachter funktioniert. Der Verweis auf die Hieroglyphen geht für Freud vor allem in der vergangenen, historischen Qualität der Zeichen auf, der Re-Akquisition einer verlorenen, vergessenen und verschlüsselten Botschaft hinter den Signifikanten. Eine Zunahme und Umwandlung der Semantik ist bei der vergangenen Schrift Ägyptens ausgeschlossen, während die noch aktiv verwendete und damit sich stetig transformierende „chinesische Schrift“ so wirkt, dass sie „erst im Zusammenhang die jedesmal richtige Auffassung“46 ermöglicht. Folglich übersteigt der Verweis auf die Logogramme die Metaphorik der Hieroglyphen, indem er der Gefahr entgeht, die Traumarbeit als eine endliche Grammatik zu erfassen, als eine „der populären Chiffriermethode[n], welche den gegeben Trauminhalt nach einem fixierten Schlüssel

42 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. In: Anna Freud et al. (Hrsg.): Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Bd. II/III: Die Traumdeutung. Über den Traum. Frankfurt am Main 61976. S. 358. 43 Ebd. S. 284. 44 Lacan beispielsweise vergleicht Freud mehrfach mit Champollion. Vgl.: Lacan, Jacques: L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud. In: Jacques Lacan: Écrits. Paris 1966. S. 510. 45 Freud (61976). S. 346-347. [Herv. i. O.] 46 Ebd. S. 358.

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übersetz[en]“47 und gegen die Freud sich abzusetzen versucht. Diese um 1900 weitverbreiteten Übersetzungshandbücher können nur in einem fiktiven System funktionieren, in dem der Code fixiert und allgemeingültig ist. Die Referenz auf das Chinesische bezieht sich auf ein lebendiges und damit sich stetig veränderndes System, dem sich übersetzende Deutungen immer nur als Supplement nähern können. Aus Freuds Verweis auf das chinesische Zeichen lässt sich so eine aufkeimende Kritik an der unterstellten Identität eines Zeichens mit sich selbst ablesen. Es ist das komplexe Widerspiel zwischen Konventionalität und Individualität jedes einzelnen Logogramms, das viele Autoren fasziniert und in dem sich die Konstruiertheit der Sprache als eine fremde Ordnun abzeichnet, in der das Individuum Anleihen zur Kommunikation macht. Inwieweit ist eine schriftliche Äußerung möglich, wenn das einzelne Zeichen angefüllt ist mit intertextuellen Verweisen auf seine dreitausend Jahre alte Verwendungsgeschichte und sich nur über eine individuelle Differenzenzuschreibung definiert? Die phonetische Schrift läuft Gefahr, diesen Gedanken durch ihre starre Zuweisung formal zu unterdrücken. Das Vorwort von Bierbaums Das schöne Mädchen von Pao und Freuds Traumdeutung führen demnach analog Paradigmen einer klassischen Hermeneutik vor, mittels der sich noch im Akt einer qualifizierten Rückübersetzung ein endlicher Sinn eröffnen könne. Auch wenn Freud selbst diese transzendentale Prämisse seiner Deutung immer wieder durch die Vielschichtigkeit der „Topographie“48 des Unbewussten und der Traumarbeit anzweifelt, läuft vor allem die Hieroglyphenmetapher Gefahr, die Traumdeutung als ein etymologisches Wörterbuch der Traumsymbole erscheinen zu lassen. Bierbaum selbst fordert die laienhafte wie die wissenschaftliche Leserschaft direkt auf, seinen von den chinesischen Logogrammen gerahmten (Umschlag) und eingeführten (erste Seiten) Text teleologisch-hermeneutisch auszudeuten: „Welche wilden Sachen auf chinesische Rechnung kommen und welche auf meine, – das ist ein zu hübsches Thema für eine

47 Ebd. S. 109. 48 Vgl. Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Anna Freud et al. (Hrsg.): Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Bd. XV: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt am Main 31961. S. 79-80.

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Doktordissertation strebsamer Sinologen und Quellenreiniger, als daß ich hier etwas davon verraten sollte.“ (S. X) Autorintentional gelesen, präsentiert diese anmaßende Aufforderung ein banales Verständnis von Deutung, wie zuvor die eindimensionale Übersetzung der „chinesischen Zeichen und der Vorderseite“ (S. X) durch den Autor selbst. Der literarische Text wird zum kodierten Verweisspiel, dem der Autorkommentar noch einmal den Stempel des „Rebus“ aufdrückt, um so die Leser auf die Suche nach einem sinnhaften Kern zu schicken. So wie es Freuds Bestimmung des Traums als „chinesisches Zeichen“ oder Hieroglyphe bezeichnet, müsse nur der akademische Schlüssel für die Transkription lokalisiert werden, um das rätselhafte Spiel in eine endliche Aussage zu überführen. Weitergedacht verschieben sich jedoch vielmehr die Verweisstrukturen, die Bierbaums Märchen anspricht, in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Träume, Lieder, Sternenbilder, Naturprophezeiungen und Sprachspiele werden in der Geschichte um Das Schöne Mädchen von Pao übersetzt, (aus-)gedeutet, ausgelegt, interpretiert, erklärt und (ver-)dolmetscht. Fernab jeder Frage nach Autorintention und Quellenlage tritt im poetologisch-literarischen Medium die Frage nach der Funktionsweise und Art von Interpretation im Sinne eines hermeneutischen Verstehen-Wollens innerhalb einer Welt hervor, die selbst immer schon interpretiert wahrgenommen ist.

2 „Au milieu du grimoire officiel“ – Forschungslage „Pound n’est pas plus isolé ici que dans ses autres entreprises. Du fond de la Russie, Eisenstein ne tarde pas à lui répondre : l’Idéogramme prend place au centre du mouvement moderniste. A la croisée de chemin du cubisme et de tous les Imagismes, naissent le collage, le montage, fondés sur l’ellipse des liaisons, sur la mort du COMME explicite.“1

Immer wenn Wissenschaftler und Künstler sich dezidiert mit den ostasiatischen Reichen auseinandersetzen, scheinen sie gezwungen, sich mit der fremdartigen Schriftalternative zu befassen. Es wird eine Faszination vorausgesetzt, die bewirkt, dass eine Abwesenheit dieser Schrift in den Aufzeichnungen, wie im Falle Marco Polos, die Authentizität der gesamten

1

Beaujour, Michel: Préface. In: Dominique de Roux (Hrsg.): L’Herne. Ezra Pound. Paris 1965. S. 337. – „Pound steht [hier] nicht so isoliert wie mit seinen anderen Unterfangen. Auf russischem Boden säumt Eisenstein nicht, ihm zu antworten: Das Ideogramm platziert sich im Zentrum des modernen Denkens. Am Kreuzweg von Kubismus und allen Spielarten des Imagismus entstehen die Collage, Montage, gegründet auf der Ellipse der Beziehungen, auf dem Ableben des eindeutigen ‚WIE‘.“

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Biographie in ein fragliches Licht rückt.2 Dennoch ändert sich mit der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert die Intensität des Interesses, sodass Derrida in seiner Grammatologie im Rahmen der diagnostizierten „inquiétude de la philosophie, de la science, de la littérature“3 von einer „fascination [de l’]idéogramme“4 spricht und Beaujours Verortung „au centre du mouvement moderniste“ insofern als zutreffend gilt, als dass realpolitische Auseinandersetzungen mit China und Japan auf eine heterogene Kunstlandschaft der Ismen trafen und sich polyphon in verschiedene Fragestellungen der Kunst integrieren ließen. Ezra Pound, Ernest Fenollosa, Henri Gaudier-Brzeska und Sergei Eisenstein sind die europäischen Künstler, deren Lyrik, Essayistik, Skulptur und filmische Montage permanent mit dem Logogramm verbunden werden. Für jeden von ihnen erscheint die chinesische Schrift als eine alternative Organisationsform, sowohl in der Mikrostruktur einzelner Bauelemente des Graphems als auch in der Makrostruktur einer „new species of [language]structure, whether in nature or in art, which is not to be found in our list of logical categories.“5 Zu Ernest Fenollosas Essay The Chinese Character as a medium for Poetry, das mittels der posthumen Veröffentlichung durch Pound berühmt wurde, bemerkt Derrida demnach auch treffend: „Questionnant tour à tour les structures logico-grammaticales de l’Occident (et d’abord la liste des catégories d’Aristote), montrant qu’aucune description correcte de l‘écriture chinoise ne peut les tolérer, Fenollosa rappelait que la poésie chinois était essentiellement une écriture.“6 Es wird an dieser

2

Vgl. Bayard, Pierre: Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen

3

Derrida (1967). S. 130.

4

Ebd. S. 140.

5

Fenollosa, Ernest Francisco: The Bases of Art Education, II: The Logic of Art.

ist. München 2013. S. 21-34.

Zit. nach: Saussy, Haun: Fenollosa Compounded: A Discrimination. In: Haun Saussy, Jonathan Stalling u. Lucas Klein (Hrsg.): Ernest Fenollosa and Ezra Pound. The Chinese Written Character as a Medium for Poetry. A Critical Edition. New York 2008. S. 30. 6

Derrida (1967). S. 140. – „Fenollosa, der Zug um Zug die logisch-grammatikalischen Strukturen des Abendlandes (und vor allem der aristotelischen Kategorientafel) hinterfragt und den Nachweis erbrachte, daß sie für eine korrekte Beschreibung der chinesischen Schrift untauglich sind, machte einmal darauf

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Stelle deutlich, dass die Gegenwelt-Erfahrung unweigerlich die Schrift der anderen Kultur als Ordnungs- und Darstellungsprinzip tangiert und zugleich die Beunruhigung der westlichen Kultur, die Erfahrung einer grammatologischen Defizienz phonetischer Sprachen thematisiert. Im Bezug auf die Hieroglyphenmetaphorik in Hofmannsthals Ein Brief spricht Aleida Assmann von der Voraussetzung für eine erneute Rezeption sprachphilosophischer Faszinationen in der „Abkehr von der Alphabetschrift und dem abendländisch eingeschliffenen Gegensatz von Schrift und Bild.“7 Fenollosa kritisiert wie Pound in seiner Nachfolge die erzwungene Erstarrung der europäischen Sprachen durch logische Klassifizierungen der Grammatik: „Logic has abused the language which they left to her mercy.“8 Eisenstein, Gaudier-Brzeska und Pound ist gemein, dass sie in Analogie an die Logogramme einen dynamischen („vivid“9), assoziativen und kompositorischen Anspruch an ihre Kunst legen. Fenollosas Essay spricht – anhand einer fraglichen Personifikation – von „first, the enormous interest of the

aufmerksam, daß die chinesische Dichtung ihrem Wesen nach Schrift ist.“ – Derrida (1983). S. 166-167. 7

Assmann, Aleida: Hofmannsthals Chandos-Brief und die Hieroglyphen der Moderne. In: Hofmannsthal Jahrbuch zur europäischen Moderne. Bd. 11 (2003). S. 273. – Das „Zerreißen des Bandes, das Wörter und Dinge miteinander verknüpft hatte“ (Ebd.), kombiniert Assmann mit dem erneut auftretenden Interesse an den ägyptischen Logogrammen in einem Rezeptionsmodus, der die Entdeckung Champollions ignoriert. Sie verbindet dabei Spezifika der Hieroglyphik explizit mit den grammatologisch-sprachkritischen Theoremen des Chandos-Briefes und arbeitet einen Kanon an Phantasmen heraus, der zu weiten Teilen auch für das chinesische Schriftsystem berechtigt ist, wie vornehmlich in Kapitel 8 herausgearbeitet wird. In ihrem abschließenden Ausblick zieht Assmann ohne genaue Verweise oder Herleitung „Indien“ (S. 278) und Fragmente des Buddhismus hinzu, die die „moderne Hieroglyphik“ Hofmannsthals anstelle ägyptischer Referenzen fundieren. Dies bleibt Andeutung und fragliches Fragment, bildet aber eine Basis dafür, Thesen Assmanns später in der Arbeit um das chinesische Logogramm zu erweitern.

8

Fenollosa, Ernest: The Chinese Character as a Medium for Poetry. In: Ezra Pound: Instigations. Together with an Essay on the Chinese Written Character by Ernest Fenollosa. New York 1920. S. 359.

9

Ebd. S. 383.

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Chinese language in throwing light upon our forgotten mental processes, and thus furnishes a new chapter in the philosophy of language. Secondly, it is indispensable for understanding the poetical raw material which the Chinese language affords.“10 Es sind die kombinatorische Zusammensetzung einzelner Zeichen und der ihnen anhängende historische Rekurs auf vergangene intertextuelle Jahrtausende („constantly visible etymology“11), die eine Analogie zur Kunst ermöglichen. So auch Eisensteins Streik- und Schlachthausmontage (Panzerkreuzer Potemkin), in der ineinander verschränkte, unabhängig voneinander funktionierende Aufnahmen von fliehenden Menschen und der Tötung einer Kuh die assoziative Fähigkeit des menschlichen Gehirns aktivieren. „Aus der Superposition zweier Größen desselben Maßes entsteht überhaupt eine neue Dimension. […] Wie im Japanischen […], wo materielles Bildzeichen an materielles Bildzeichen gereiht die transzendentale Resultante (Begriff) erzeugt.“12 Eisenstein spricht von einer „Explosion“ aus „zwei selbständige[n] ideographische[n] Zeichen (‚Bildausschnitte‘)“13. Es ist kunsthistorisch nicht verwunderlich, dass Fenollosas/Pounds Poetik und Eisensteins „intellektuelle Montage“ Ähnlichkeiten mit Programmatiken von Vortizismus und Kubismus aufwerfen und die Koordinaten ihrer Verwandtschaft sich in der westlichen Beschau der fernöstlichen Schrift abbilden. Auch Pierre Lotis einflussreicher exotistischer Roman Madame Chrysanthème, Ursprung eines populären literarischen Japonismus, „Begründung des westlichen Geisha-Schemas“14, Vorlage für Puccinis Madama Butterfly sowie Boublils/Schönbergs Miss Saigon, visualisiert, dass man noch so imperialistisch, herrisch und nüchtern der Fremde begegnen kann, sich doch unweigerlich in der Faszination und Verwunderung ein produktiv-poetischer Reflex einschleicht.15

10 Ebd. S. 375. 11 Ebd. S. 379. 12 Eisenstein, Sergej M.: Dramaturgie der Film-Form. In: Franz-Josef Albersmeier (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 1979. S. 284. 13 Ebd. S. 282. 14 Vgl. Pekar, Thomas: Der Japan-Diskurs im westlichen Kulturkontext (18601920). Reiseberichte – Literatur – Kunst. München 2003. S. 294-302. 15 Vgl. zur komplexen Verwandtschaft zwischen „horror alieni“ und „amor alieni“ bzw. dem Wunderbaren und dem Repräsentationssystem in der Begegnung im-

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Der französische Marineoffizier Loti, „le plus grand représentant de l’exotisme français“16, symbolisiert die imperialistische Weltpolitik der europäischen Großmächte sowie den sexualisierten Exotismus im auslaufenden neunzehnten Jahrhundert wie kein anderer. In seinen größtenteils autobiographischen Romanen lässt er sein literarisches Alter Ego die Machtphantasien seiner Rezipienten ausleben. Phantasmagorischer Orient und farbenprächtiges Afrika verbinden sich untrennbar mit seinen vielen Ehefrauen, die oftmals zum Spiegel einer vermeintlich rückständigen Fremdkultur werden. Gleiches gilt auch für Japan, eine „petit monde imaginé, artificiel, que je connaissais déjà par les peintures des laques et des porcelaines. C’est si bien cela ! […] Je l’avais deviné, ce Japon-là, bien longtemps avant d’y venir.“17 Loti ist sich seiner Vorprägung bewusst und explizit nicht auf der Suche nach einer elementaren Neu-Erfahrung des Fremden, oder gar getrieben von einem Wunsch nach Revidierung der europäischen Phantasmen. Die Wortwahl „artificiel“ wird so doppelkodiert und präzisiert den Dualismus der Romankomposition, der sich zum einen aus dem Kanon der Stereotypen bedient und ein künstliches Weltbild re-modelliert und zum

perialer Mächte mit dem „Fremden“ Greenblatts Marvelous possessions. Detailliert beschreibt Greenblatt darin die Interferenzen zwischen einem phantastischen Erwartungshorizont und dem fiktionalen Anteil der historiographischen, politischen, philosophischen oder ethnographischen Schriften über die Neue Welt. – Greenblatt, Stephen: Marvelous possessions: the wonder of the New World. Oxford 1991. 16 Rebel, Roland: Histoires de la Littérature Colonial en France. Zit. nach: Pekar (2003). S. 294. 17 Loti, Pierre: Madame Chrysanthème. Paris 21893. S. 30. / Loti, Pierre: Madame Chrysanthème. Paris 1990. S. 63-64. – Die Erstausgabe wurde zitiert. Auf geringfügige orthographische Änderungen der Flammarion-Edition von Bruno Vercier wird nicht dezidiert hingewiesen. – Die zeitgenössische deutsche Übersetzung von Hans Krämer übergeht die Ambivalenz des Wortes „artificiel“ an dieser Stelle: „In diesem Augenblick macht Japan einen vortrefflichen Eindruck auf mich, nun fühle ich mich auf einmal mitten in der Welt, die ich mir nach den Malereien der Lackteller und Porzellangefäße erträumt hatte. Das ist alles so hübsch! […] Ich kannte dies Japan lange, ehe ich hierher kam.“ – Loti, Pierre: Madame Chrysanthème. Stuttgart u. Leipzig 41910. S. 35.

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anderen bewusst das erwartete Klischee des omnipräsenten Artifiziellen in Japan rezipiert. Loti lässt dem Leser keinen Zweifel daran, dass seine eingehaltene Distanz zu Japan einem eurozentrischen Macht- und Beherrschungspathos entspringt. Das Inselreich ist das fremde Andere, das sich durch die Parameter Männlichkeit, militärische Dominanz und abendländisches Wissen unterdrücken lässt. Dies vertritt der Protagonist, dem als Repräsentantin Japans ein passives, undurchdringliches, käufliches, kindlich-naives Mädchen entgegengehalten wird. Die erste freizeitliche Handlung, die Loti demnach in Yokohama in Angriff nimmt, ist das Aufsuchen eines „agent discret pour croisements de races“ (S. 18/57) mit dem sprechenden Namen Kangourou. Dieser bietet dem gerngesehenen europäischen Gast nach weltweitbekannter Kupplermanier seine Waren an: „Ah ! mademoiselle Abricot ! […] C’est la fille d’un riche marchand de porcelaines du bazar de Décima ; une personne d’un grand mérite, mais elle coûterait fort cher : ses parents, qui en font beaucoup de cas, ne la céderaient pas à moins de cent yen par mois. Elle est très instruite, sait couramment l’écriture commerciale et possède, au bout des doigts, plus de deux mille caractères d’écriture savante. Dans un concours de poésie, elle est arrivée première avec un morceau composé à la louange des petites fleurs blanches des haies vues à la rosée du matin. Seulement elle n’est pas très jolie de visage ; un de ses yeux est moins grand que l’autre“ (S. 34-35/66)18.

Innerhalb der japanischen Logik, die an dieser Stelle präsentiert wird, vermag es orthographische Bildung äußere Makel aufzuwiegen. Eine Logik freilich, die der imperialistische Nutznießer Loti nicht nachvollzieht, für den die „lettres étonnantes“ (S. 54/78) lediglich exotisches Dekor, orna-

18 [Herv. i. O.] – „Wie wäre es mit Fräulein Aprikose! Sie ist die Tochter eines reichen Porzellanhändlers aus dem Basar von Decima – eine sehr respektable Dame, aber teuer; die Eltern halten große Stücke auf sie und würden sie nicht unter hundert Yen monatlich fortgeben. Sie ist sehr gebildet, versteht die kaufmännische Buchführung und kennt außerdem mindestens zweitausend von den Zeichen der Gelehrtenschrift. Ferner hat sie bei einer literarischen Preisbewerbung die höchste Auszeichnung erhalten, für eine Hymne: ‚Zum Lobe der kleinen weißen Heckenröschen im Morgentau‘ Allerdings sehr hübsch ist sie nicht, das eine Auge ist ein wenig kleiner als das andere“. – Ebd. S. 40.

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mentale Spielerei und ästhetisierender Bestandteil der präfigurierenden „plateaux des laque“ (S. 6/49) und Bildchen „sur les fonds bien bleus ou bien roses dans écrans et des potiches“ (S. 18/57) sind. Für die durch ihre dinglichen und tierischen Namen entpersonalisierten Japaner hingegen sind sie Lebenspraxis, was die Schrift sowohl zur ökonomisch-wirtschaftlichen Kommunikationsbasis wie auch zum Ausgangspunkt für Dichtung bestimmt. Für den ignoranten Protagonisten ist dies betont unwichtig, obgleich er seine gehegte Distanz zwangsweise durch die rechtswirksame Eheschließung zu verlieren droht: „Au milieu du grimoire officiel, on m’a fait écrire en français mes nom, prénoms et qualités. Et puis on m’a remis un papier de riz très extraordinaire, qui était la permission à moi accordée par les autorités civiles de l’île de Kiu-Siu, d’habiter dans une maison située au faubourg de Diou-djen-dji, avec une personne appelée Chrysanthème ; permission valable, sous la protection de la police, pendant toute la durée de mon séjour au Japon.“ (S. 55/78)19

Wird aus der Suche nach einer Langzeitprostituierten unter den Japanerinnen, mit zynischem Gleichmut schwach chiffriert als Suche nach einer Braut, kein Geheimnis gemacht, so kommt der bürokratische Akt unter den wachsamen Augen der staatlichen Gewalt dem einer standesamtlichen Heirat gefährlich nahe. Lediglich die Nutzung explizit französischer Schrift distanziert den Europäer, der stets nur einige verbale Fragmente Japanisch „un peu à la manière perroquet“ (S. 17/56) hervorbringen kann, von dem magisch-verästelten Dokument, das er nicht versteht und dennoch unterzeichnet. Und doch unterwandert die japanische Fremde, von der sich Loti stets zu distanzieren sucht, sein Denken.

19 „Mitten auf eine Seite des offiziellen Ehestandsregisters, das mit seinem Gekritzel wie der Foliant eines Hexenmeisters aussah, mußte ich französisch meinen Namen, Vornamen, Stand und Titel eintragen. Dann erhielt ich auf feinstem Reispapier die Erlaubnis von der Zivilbehörde der Insel Kiu-Siu, in einem Häuschen der Vorstadt Diu-dschen-dschi mit Fräulein Chrysanthème zusammenzuwohnen; die ganze Dauer meines Aufenthalts stehe ich nun unter polizeilichem Schutz.“ – Ebd. S. 58-59.

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„Pour raconter fidèlement ces soirées-là, il faudrait un langage plus manièré que le nôtre ; il faudrait aussi un signe graphique inventé exprès, que l’on mettrait au hasard parmi les mots, et qui indiquerait au lecteur le moment de pousser un éclat de rire, – un peu forcé, mais cependant frais et gracieux…“ (S. 87-88/99)20

Diese en-passant fallende poetologische Aussage mit ihrem Bezug auf die japanische Sprache und Schrift summiert einen Dualismus, der Madame Chrysanthème auszeichnet. Es ist das ostasiatische Paradigma der absoluten affektierten Höflichkeit („Où faut-il vous conduire, mon bourgeois ?“ S. 17/56), von dem der Roman selbst zahlreiche Proben darreicht, auf den der erste Teil der Aussage verweist, während sich der zweite explizit auf die Vorstellung der Logogrammschrift als kompositorisches Zeichen stützt, wie sie auch Ausgang für Eisensteins, Fenollosas und Pounds Ästhetiken sind. Es drängt sich die Frage nach der Lesart eines solchen ästhetischen Befundes auf. Der Erzähler Loti stellt hier die französische Sprache und Schrift als defizitär dar, als unfähig, das Rauschhafte und das Fremdartige des Orients zu fassen und antizipiert damit zwei konträre Deutungshorizonte. Ist also entweder Japan/der Orient/das Andere nicht abbildbar im eigenen kulturellen Zeicheninventar, bleibt es stets undurchdringbar, stets fremd und als solches imperialistisch beherrschbar ohne eine Furcht vor Vermischung und „Verkafferung“. Oder aber das japanische Sprachsystem offeriert eine (reichere) Alternative zur europäischen Tradition, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts immer weiter selbstkritisch auflöst. Pierre Lotis Madame Chrysanthème – und die europäische Wirkung von Loti wie seinem Buch als Initiatoren eines literarischen Japonismus sind kaum zu überschätzen – platziert damit zu Beginn einer Konjunktur literarischen Ostasieninteresses eine grundlegende Ambivalenz, die zugleich an der Wurzel poetischer/poetologischer wie imperialistisch-kolonialer Fragen steht. Es sei hier übergangen, wie Lotis Roman diese Frage klärt, welches Angebot einer einseitigen Deutung er erbringt (auf der Ebene der histoire fällt diese

20 „Um einen solchen Abend ganz getreu zu schildern, müßte man sich einer geschraubteren Sprache bedienen, als es die unsrige ist, und dazu noch ein besonderes graphisches Zeichen erfinden, das da und dort zwischen die Worte gestreut dem Leser je einen Lachanfall unsrer kleinen Frauen anzeigte – manchmal klingt dies […] etwas gezwungen, aber trotzdem frisch und anmutig…“ – Ebd. S. 84.

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Deutung sehr offensichtlich aus), da dies sowohl die germanistische Basis der Arbeit wie auch deren Möglichkeiten überschreiten würde. Pierre Lotis Akt des Einschreibens „au milieu du grimoire officiel“ reflektiert durch seine magisch-antiquisierende Metapher nicht nur die koloniale Repräsentationspraxis und visualisiert die Nähe von kultureller Andersheit und Schrift, sondern liest sich auch als Parallele zur bisherigen Forschungslage zum Themenbereich des ostasiatischen Logogramms. Ebenso wie Madame Chrysanthème die Frage unbeantwortet lässt, ob sich die poetologische Selbstbeschau wieder in imperialistische Logik oder Europakritik übersetzt, so wurde die chinesische Schrift als poetisches Motiv bis dato – sofern beachtet – in der germanistischen Forschung entweder als ornamentales Dekor übergangen oder innerhalb weniger Einzelanalysen in seiner ästhetisch-poetologischen Dimension ernstgenommen.21 Ein überge-

21 Vgl. etwa Mistry, Freny: Hofmannsthal’s response to china in his unpublished Über chinesische Gedichte. In: German Life & Letters. XXVI (1972/73). S. 306-314. [Hier v.A.: S. 311-312]; Struck, Wolfgang: Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik. Göttingen 2010. [Hier v.A.: S. 122-140]; Hiebler, Heinz: Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne. Würzburg 2003. [Hier v.A.: S. 176-191]; Detken, Anke: Zwischen China und Brecht. Masken und Formen der Verfremdung in Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun. In: Steffan Davies u. Ernest Schonfield (Hrsg.): Alfred Döblin: paradigms of modernism. Berlin 2009. S. 102-120. [Hier v.A.: S. 110-112]; Schmidt-Hannisa, Hans-Walter: „Kang-keng-king-kung-kong“: Sprachexotismus und Multilingualismus in Karl Mays Der blau-rote Methusalem. In: Walter Gebhard (Hrsg.): Ostasienrezeption zwischen Klischee und Innovation. München 2000. S. 305328.; Collins, John H.: A Chinese Story from a Berlin Practice. Alfred Döblin’s Narrative Technique in Die drei Sprünge des Wang-lun. Stuttgart 1990. [Hier v.A. S. 131-132]; Bauer (1984); Stamm, Ulrike: Die „Schrift der Natur“ in Max Dauthendeys Novellen Die acht Gesichter am Biwasee. In: Walter Gebhard (Hrsg.): Ostasienrezeption zwischen Klischee und Innovation: zur Begegnung zwischen Ost und West um 1900. München 2000. S. 59-82.; Schaffers, Ute: Konstruktionen der Fremde. Erfahren, verschriftlicht und erlesen am Beispiel Japan. Berlin 2006. Hier v.A. S. 219-339. – Die wissenschaftlichen Arbeiten werden im Folgenden im Rahmen ihres jeweiligen Referenzwerkes aufgegriffen.

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ordneter Zusammenhang, der den literarischen Wert des Motivs in den Jahrzehnten seiner höchsten Konjunktur herausarbeitet, fehlt jedoch bis dato.22 Der Akt, solch eine neue wissenschaftliche Arbeit in das „grimoire officiel“ der germanistischen Literaturwissenschaft einzuschreiben, agiert ebenfalls in einer Dimension der gleichzeitigen Alteritäts- und Egalitätserfahrung. Werden im Folgenden Analysen zu einzelnen Primärtexten dezidiert in den jeweiligen Kontexten erwähnt, so muss der Platz des Einschreibens „au milieu“, d.h. in eine Rahmung bisheriger wissenschaftlicher Diskussionen, zuerst grob skizziert werden. Dabei sind es mangels einer bisher erschienenen größeren Arbeit über das ostasiatische Logogramm in

22 In der Vorbereitung zur Veröffentlichung und bisher nicht einsehbar ist die Habilitationsschrift von Arne Klawitter mit dem Titel Transkulturelle Resonanz. Ostasiatische Zeichenästhetik in der deutsch- und englischsprachigen Literatur. Die Einsicht in ein vorläufiges Inhaltsverzeichnis lässt nur spekulative Schlüsse auf den Zugang zum Themenkomplex zu und wird deswegen hier nicht berücksichtigt. Im thematisch überschneidenden Aufsatz Poetische Kuriosität oder dichterisches Experiment? Ludwig August Unzer und seine Nänie im chinesischen Geschmack verbindet Klawitter eben wie es in der vorliegenden Arbeit geschehen wird, das poetische Schreiben über die chinesische Sprache (hier allerdings nur ihre tonale Beschaffenheit, weniger ihre Logographie) mit der Frage nach der Konstruktion kultureller Heterotopien. Unzers Vou-ti bey Tsi-nas Grabe wird in einem „poetische[n] Effekt“ der „Klangresonanz“, also als ein „ästhetische[r] Resonanzraum[], der so abgeschlossen wirkt wie eine künstlich geschaffene Welt“, verstanden. (Klawitter, Arne: Poetische Kuriosität oder dichterisches Experiment? Ludwig August Unzer und seine Nänie im chinesischen Geschmack. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte DVjs 4/2011. S. 506.) Dem ersten Vers „Nicht im Buchstaben Kang“ wird Klawitter wahrscheinlich in der Habilitationsschrift Rechnung tragen. – Auch sein Aufsatz Von unlesbaren Zeichen, unmöglichen Büchern und delirierenden Bibliotheken lässt die Vermutung zu, dass sich die Habilitation zum einem mit sinologisch-japanologischem Wissen speisen wird, also einen erweiterten komparatistischen Anspruch haben wird, den diese Arbeit bewusst aussetzt, und zum anderen die tonale Dimension der chinesischen Sprache in die Überlegungen einbezieht. – Klawitter, Arne: Von unlesbaren Zeichen, unmöglichen Büchern und delirierenden Bibliotheken. In: Komparatistik (2010) S. 233-245.

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der Literatur des deutschsprachigen Kulturraums vor allem Schriften über benachbarte Themenfelder, die in Anlehnung und Abgrenzung diese Dissertation umrahmen, wie die stets fremden Schriftzeichen im „grimoire“, zwischen die nun diese Untersuchung tritt. Im Bezug auf den westlichen Ostasiendiskurs um die Jahrhundertwende sind unter den zahlreichen Publikationen vor allem drei Arbeiten herauszuheben, die sich vornehmlich diskursanalytisch dem Themenbereich der künstlerischen Fremdbeschau in der Zeit deutscher Kolonialpolitik nähern. Christiane C. Günthers Aufbruch nach Asien: kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900 ist eine frühe Auseinandersetzung mit einem konjunkturellen Interesse am kulturellen Anderen im Medium des künstlerischen Reiseberichts um die Jahrhundertwende. Reiseliteratur von Autoren wie Hesse, Keyserling, Dauthendey, Kellermann und von Heyking, die sich dezidiert auf authentische Erfahrungen des räumlich-geographischen wie geistesgeschichtlichen Aufbruchs beruft, wird analysiert und ein umfassendes Archiv von (Um-)Deutungen Indiens, Chinas und Japans erstellt. Dabei steht Günthers Studie unter der Ägide einer sozialhistorischen Literaturgeschichtsschreibung, bilden die „Hintergründe der Untersuchung […] das politische Faktum des Kolonialismus, die geistesgeschichtliche Situation der Jahrhundertwende und natürlich die jeweils individuellen Voraussetzungen der Dichter.“23 Sozialgeschichte und Autorintentionalität (als diskursgesteuerter Bestandteil der Sozialgeschichte) sind damit das strukturierende Prinzip der Arbeit und dominieren diese durch ihre Vor- wie Nachteile. Es sind Kategorisierungen, die aufzuzeigen vermögen, dass die „Momente des ‚horror alieni‘ und des ‚amor alieni‘“24 nah beieinander liegen, während dabei jedoch individuelle poetische Arrangements einzelner Texte in den Hintergrund gedrängt werden. Und auch wenn Günther mit der Fragestellung „Wie begegnete die fremde Wirklichkeit den Dichtern, wie begegneten sie ihr?“25 die Gefahr einer Homogenisierung eines „Orients“ und der Klärung von teleologischer Wahrheit und Fiktion umgeht,

23 Günther, Christiane C.: Aufbruch nach Asien: kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900. München 1988. S. 15. 24 Ebd. S. 17. 25 Ebd.

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findet der Begriff einer vereinfachten „asiatische[n] Kultur“ 26 mehrfach Verwendung. Es sind Interferenzen zwischen imperialistischen Rassismen und Denunziationen sowie ästhetisch-ideeller Paradiessuche, die aus den Reisetexten herausgearbeitet werden und es der vorliegenden Arbeit ermöglichen, sich mehrmals auf einen Katalog an gängigen Schreibmodi innerhalb des Betrachtungszeitraums stützen zu können. Fraglich bleibt dabei allerdings der Mehrwert einer autorintentionalen Perspektivierung, die den einzelnen künstlerischen Werken ihr Potential zugunsten eines sozialkulturhistorischen Panoramas raubt und Gefahr läuft, die einzelnen Dichter und damit ihre Texte größtenteils zu „Repräsentanten“ eines sie strukturierenden und beherrschenden sozialgeschichtlichen Diskurses zu reduzieren. Diese theoretischen Probleme in Bezug auf Autorintentionalität, Genrespezifik, Wissenspoetologie und kulturelle Alterität, in der heutigen Literaturwissenschaft allgemein revidiert, werden auf der Basis solcher Pionierarbeiten wie Günthers Aufbruch nach Asien oder Ingrid Schusters China und Japan in der deutschen Literatur27 in neueren Arbeiten weitestgehend bewältigt. Damit kann sich die vorliegende Arbeit auf die erarbeiteten Kataloge diskursgeschichtlicher Topoi stützen und das ästhetische Potential der einzelnen literarischen Texte mit einer sozialgeschichtlichen Referenz analysieren, ohne diese überzubewerten. Thomas Pekars Studie Der Japan-Diskurs im westlichen Kulturkontext (1860-1920) bietet eine Materialfülle über den Kulturaustausch zwischen Europa und dem Kaiserreich während der Meiji-Restauration. Ein Verdienst dieser explizit germanistischen Studie liegt im hinzugezogenen japanologischen Wissen, das die Untersuchung der „westliche[n] Japan-Vorstellungen“28 vielseitig erweitert, indem es sowohl Informationen über Japan wie über die stets verdächtige Arbeit europäischer Philologien fremder Kulturen (Orientalistik, Japanologie, Sinologie, Indologie, Ostasienstudien etc.) einspeist. In diesem Kontext zitiert Pekar einen Passus von Peter Weber-Schäfer: „Wir werden uns […] wohl oder übel mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß der Gegenstand der Ostasienwissenschaften keine von uns unabhängige Realität ist, sondern ein Konstrukt der europäi-

26 Ebd. S. 12. 27 Schuster, Ingrid: China und Japan in der deutschen Literatur: 1890-1925. Bern u.a. 1977. 28 Pekar (2003). S. 12. [Herv. i. O.]

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schen Wissenschaften selbst“29. Dem folgend beweist Pekar in seiner Arbeit einen sensiblen Umgang mit dem Gegenstand und dem „quasi faustischen Erkenntnisstreben“30 vieler europäisch-universitärer Disziplinen, das beispielsweise John Noyes eindringlich in seiner Studie zum (Post-)Kolonialismus an seinen Vorgängern kritisiert: „If it [the scientific approach to colonial literature] is to avoid repeating the very same strategies which were integral to colonization, a critique of the colonial text must find a way of speaking about its object without attempting to do so from a position of universal knowledge. Colonization always seemed most convincing when it justified itself in terms of a general advancement of the human race, and a general expansion of the frontiers of knowledge.“31

Pekar nähert sich dementsprechend seinem Gegenstand nicht mit einem epistemologischen Blick einer „Beurteilung“ von Diskurs-énoncés auf Basis einer „wie immer auch aufgenommene[n] Realität“32 des „Anderen“, sondern untersucht „diskursanalytisch-topisch“ 33 westliche Interferenzen mit dem orientalistischen Japan. Orientalistisch insofern, als sich eine heterogene Kultur durch die Interaktion mit einem Gegenpart formiert und gleichzeitig diesen beeinflusst. Die angewandte Diskursanalyse blendet jedoch ebenso wie Günthers sozialgeschichtliche Herangehensweise die individuelle Besonderheit des jeweiligen Kunstwerkes aus. Wenn er in seiner Einleitung betont, dass der „Japan-Diskurs in erster Linie im Kontext der

29 Ebd. S. 24. 30 Ebd. 31 Noyes, John: Colonial Space. Spatiality in the discourse of German South West Africa 1884-1915. Chur 1992. S. 3. – Darüber hinaus: „[C]omparative studies would be in a position to overcome Eurocentricity in the study of literature simply by expanding its boundaries to include the literatures of the ex-colonized! Is that not exactly what colonization did? It expanded the boundaries of its knowledge to include the non-European world, and when it did so, it told itself it was developing some inherent potential in the world, and contributing to the advancement of humanity.“ – Ebd. S. 3-4. 32 Pekar (2003). S. 15. 33 Ebd. S. 17.

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ihn hervorbringenden westlichen Kultur betrachtet werden“34 soll, so deutet sich bereits an, dass die zu analysierenden Kulturgüter ihrer literarischen, künstlerischen, medialen Besonderheit enthoben werden, um ein kulturhistorisches Panorama zu erstellen. „Literatur und Reiseberichte[…][,] Kunsthandwerk, Musik, Malerei und Theater[…][,] Photographie und Architektur“35 bilden das Arsenal, aus dem ein heterogenes Diskursgeflecht evaluiert wird, das sich an konkreten Topoi orientiert. Dabei bleibt jedoch die Originalität eines jeden künstlerischen Beitrags zu einer homogenisierten Zeitepoche weitestgehend unbeachtet und Übersetzungen, Reiseführer, Reiseliteratur und Kunst werden zu großen Teilen analogisiert. In der Untersuchung der Herausbildung eines Kulturimagos muss die – oftmals verzerrende – Rezeption von Kulturträgern bedeutsamer erscheinen, als ihre individuelle Spezifik, also die Charakteristik, mittels der sie das historische Apriori herausfordern oder sich ihm entziehen. Dennoch tritt die Differenz einer literarischen Reisebeschreibung wie Kellermanns Ein Spaziergang in Japan mit seinen unzähligen wie penetranten poetologischen Markierungen gegenüber der enzyklopädischen Things Japanese Chamberlains (von Bernhard Kellermann zur gleichen Zeit ins Deutsche übersetzt) deutlich zu Tage und erfordert unterschiedliche Sensibilitäten im Umgang mit dem jeweiligen literarischen Medium. In einem solchen archivarischen Vorgehen lauert die Gefahr, dass literarische Texte zum einen zu „mechanische[n] Widerspiegelungen der gesellschaftlichen Realität und eine[r] passive[n] Bestätigung der eingefahrenen Fremd-‚Images‘“36 reduziert werden sowie zum anderen ihre simplifizierte und kanonisierte Breitenwirkung lediglich rekapituliert wird. Weijian Liu trägt diesem Problemkomplex in seiner Habilitation Kulturelle Exklusion und Identitätsentgrenzung Rechnung. Diese Arbeit, die sich als chinabezogener Gegenpart der Forschung zu Pekar lesen ließe, geht von einer ähnlichen, Edward Said-kritischen Prämisse aus, das komplexe Gewebe von interkulturellen Beziehungen als „Wechselspiel von Expansion nach China, Kulturkrise und Literarizität“37 zu berücksichtigen. Liu entgeht

34 Ebd. S. 15. 35 Ebd. S. 17. 36 Liu, Weijian: Kulturelle Exklusion und Identitätsentgrenzung. Zur Darstellung Chinas in der deutschen Literatur 1870-1930. Bern u.a. 2007. S. 61. 37 Ebd. S. 17.

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wie Pekar der Gefahr des kulturkritischen Orientalismus-Konzeptes Saids, fremdbezogene Kunst „zum reinen Reflex der politischen Realität“, zum starren „Schema von Ursache und Wirkung zu reduzieren.“38 Sein „methodologisches Konzept einer interkulturellen Intertextualität [...], die über die Quellenforschung hinaus die Spannung von literarischem Text und soziokulturellem Kontext hervorhebt und die literaturwissenschaftliche Interkulturalitätsanalyse als eine Basisforschung der Kulturwissenschaft versteht“39, erweist sich als ein Zugang, der den einzelnen énoncés in ihrer medialen wie literarischen Besonderheit gerecht wird. Das erweiterte Modell des Orientalismus veranschaulicht die Funktionsweise kultureller, religiöser und/oder nationaler Identitätspolitik, die sich eben nicht alleinig durch Exklusion konzipiert, sondern in „ein Fremdes implizierendes, ganzheitliches Identitätsmodell“40 übergeht.41 Wie Pekar schließt sich auch Liu Stephen Greenblatts Zirkulationsmodell von Kultur und Literatur an, ist aber konsequenter in der Markierung von Spezifik und Originalität der einzelnen literarischen Kulturträger. Dabei verfolgt er das Ziel, den Text „nicht nur in seiner Bezugnahme zu anderen literarischen Texten [zu] interpretieren, sondern auch ins Netzwerk der Kultur [einzufügen] und als Wechselspiel mit ihr“42 zu beschreiben. Diese „intertextuelle Zirkulation“ fasst demnach nicht nur das vielschichtige Gewebe zwischen einzelnen Textzeugen, sondern erweitert die Perspektive um eine explizit kulturelle/kulturkomparatistische Dimension. „Indem man die interkulturell verwobene Textstruktur detailliert beschreibt, wird man einer Literatur gerecht, die sich intertextuell immer mehr mit dem zunehmenden Wissen über China auseinandersetzt und die nicht nur die mimetische Selbstaufgabe, sondern auch eine reflexive Haltung erkennbar werden lässt, die eigene

38 Ebd. 39 Ebd. S. 20. 40 Ebd. S. 22. 41 Dieses weist deutliche Parallelen zu Giorgio Agambens Konzept des „homo sacer“ auf, demzufolge sich eine „souveräne Gewalt […] in der ausschließenden Einschließung“ eines grenzgehenden Gegenparts gründet. – Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002. S. 117. 42 Liu (2007). S. 75.

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Kultur selbstironisch zu kommentieren und das Fremde als geistige Anregung und gleichberechtigte Ergänzung zum Eigenen aufzunehmen.“43

Die meisten der Textinterpretationen lassen erkennen, wie sich Autoren in einem literarisch-ästhetischen Medium ihrem politischen, sozialen und künstlerischen Umfeld einschreiben und die literarische Auseinandersetzung mit China die Identitätspolitik einer Entität modifiziert. Der diffizile Umgang mit den jeweiligen medialen Voraussetzungen literarischer und künstlerischer Genres bietet einen Anknüpfungspunkt an dieser Stelle, um Fragestellungen an die literarischen Texte zu tragen, ohne sie vorher aufwendig auf dem sozialgeschichtlichen Tableau verorten zu müssen. Kunstprodukte werden also nicht nur zum Untersuchungsgegenstand einer der Kolonialismusforschung angenäherten Textarbeit „als mehr oder weniger privilegierte, machtvolle oder auch machtkritische ‚Stimmen‘ in dem ‚Reden über‘ identifizier[t], sondern auch [bedeutsam], indem […] ihre Kompetenz im Aufspüren mehr oder weniger verborgener ‚Subtexte‘ auf literarische wie nicht-literarische Äußerungen“44 herausgearbeitet wird. Bilden diese Studien das sozial- wie diskursgeschichtliche Fundament einer Untersuchung der literarischen Ostasienrezeption um die Jahrhundertwende, finden sich in der germanistischen Literaturwissenschaft nur vereinzelt dezidierte Äußerungen und Überlegungen zu den einzelnen Schriftsystemen. Es ist wiederum Weijian Liu, der in einem separaten Artikel Chinesische Zeichenschrift und daoistische Versinnbildlichung im Spiegel der literarischen Moderne untersucht. Ausgehend von der Feststellung, dass „die zeichenschriftlich motivierte Bildlichkeit zur Inspirationsquelle der literarischen Erneuerung“45 in der literarischen Moderne wurde, werden im Aufsatz flüchtige Blicke auf Thomas Mann, Döblin, Kafka, Hofmannsthal und Hesse geworfen. Die einzelnen Analysen stützen die These, dass sich mit

43 Ebd. S. 78. 44 Struck (2010). S. 28. 45 Liu, Weijian: Jenseits der Sprachgrenze – Chinesische Zeichenschrift und daoistische Versinnbildlichung im Spiegel der literarischen Moderne. In: HeinzDieter Assmann, Karl-Josef Kuschel u. Karin Moser v. Filseck (Hrsg.): Grenzen des Lebens – Grenzen der Verständigung. Würzburg 2009. S. 147.

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der Sprachkrise beim – nicht verorteten – „Anbruch der Moderne“46 die „Reflexion über die chinesische Zeichenschrift“47 von einer vorherrschenden Denunziation hin zu einer Idealisierung umgewertet wird. Dieses im Zeitdiskurs populär und wissenschaftlich diskutierte graphemische Thema verbindet Liu mit einem wachsenden Interesse am Daoismus Laotzes und Zhuangzis durch die deutschen Übersetzungen Richard Wilhelms. Treten die einzelnen Primärtexte größtenteils als Zeugen der Ausgangsthese auf, wird demgegenüber in dieser Arbeit, ausgehend von sprachphilosophischen Diskussionen im literarischen Medium, der heuristische Mehrwert einer Motivuntersuchung im Zeitraum von 1890-1920 herausgearbeitet. Es ist das Anliegen dieser Dissertation, die Weijians skizzierten Fund als Basis setzt, die Verflechtung eines polyphonen grammatologischen Signums in einer stilpluralistischen Zeitwende einer deutschsprachigen „literarischen Moderne“ zu verfolgen. Dabei stehen populär-ideologische Romane wie Wilhelm Küas’ Die Wacht im fernen Osten und kanonische Texte wie Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun ebenso nebeneinander wie die Idealisierung des Logogramms als Ausweg aus der Kultur- und Sprachkrise und die Diabolisierung eines unverständlichen und unpraktischen Schriftmonstrums. Ute Schaffers thematisiert innerhalb ihrer Habilitation Konstruktionen der Fremde die literarische wie wissenschaftliche Begegnung mit ostasiatischer Schrift vor allem als Spiegelung von „Auto- und Heterostereotype[n] sowie Abgrenzungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden.“48 Auf der Basis eines heterogenen Textkorpus aus Autoren wie Gerhard Roth, Dauthendey, Kellermann, Tawada, Barthes, Muschg oder Nooteboom wird eine Taxonomie der Lesepraxen einer kulturellen „Fremde“ erstellt, die durch Kategorien der (Nicht-)Lesbarkeit und des (Nicht-/Miss-)Verstehens49 strukturiert wird. Japan als mediales L’Empire des signes evoziert dabei kontinuierlich das Analogon von Schrift und kultureller Hermeneutik. Das „Lesen“ des Fremden wird damit zur metaphorischen „Suche nach

46 Ebd. S. 137. 47 Ebd. S. 138. 48 Schaffers (2006). S. 231-232. – Für diese Arbeit sind vornehmlich die Seiten 219-339, v.A. S. 299-339 von Relevanz. 49 Beispielsweise der Natur, von Gesichtern oder Kultur.

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und einer Konstruktion von Sinn und Bedeutung“50 und der Verweis zur sprachlichen Präfiguration allen Denkens und Verstehens, des linguistic turn, führt zu einer dem Diskurs per se zugeschriebenen Reflexion „über den Zusammenhang von Sprache, Wahrnehmung, Denken, Handeln, Wirklichkeit und Verstehen.“51 Das doppelt fremdartige Schriftsystem – graphisch wie typisch – potenziert dabei vornehmlich die Alteritätserfahrung, die wiederum zu ästhetischen, philosophischen oder ethnologischen Projektionen führen kann. Dabei ist das plakative Werk Yoko Tawadas für Schaffers ideales Anschauungsobjekt, da es die Modi der Fremdwahrnehmung aus einem privilegierten Standpunkt des „dritten Raums“ spielerisch verdoppeln, umkehren und übermarkieren kann. Schaffers’ sowie diese Arbeit weisen der Schrift eine „feste Funktion im Rahmen der Fremdheitskonstruktion“52 zu. Aber um die Gefahr einer Unschärfe zwischen der medienkomparatistischen Analyse von Literatur wie Linguistik zu umgehen, wird im Folgenden die schrift- und sprachtheoretische Dimension des Themenkomplexes weitestgehend ausgegrenzt. Es soll nicht um die Untersuchung von Spiegelungen der einzelnen „Autound Heterostereotype“53 gehen, bei deren Untersuchung die mediale Differenz temporär übergangen werden kann.54 Diese literaturwissenschaftliche Leerstelle, die die Inventare Schaffers, Pekars und Günthers aussparen, bezeichnet einen Hauptfokus der vorliegenden Arbeit, der es darum gehen wird, durch den knapp gefassten Zeitraum eine spezielle Transformation kulturgeschichtlicher Präfigurationen in einem explizit ästhetischen Medium zu untersuchen. Es soll dabei eben nicht um das Aufzeigen von Stereotypen gehen, die énoncés zwangsweise rezipieren, verstärken, revidieren oder repetieren, da die Wechselwirkung

50 Schaffers (2006). S. 270. 51 Ebd. S. 302. 52 Ebd. S. 310. 53 Ebd. S. 313. 54 Beispielsweise werden in Schaffers’ analytischem Vorgehen ein literarisches Essay Tawadas und sprachwissenschaftliche wie medienwissenschaftliche Referenzen auf Christian Stetter und Arthur McLuhan homogenisiert. Der ausgearbeitete Kanon von Fremdwahrnehmungen kann fruchtbringend in diese Arbeit eingebaut werden, die einen Perspektivenwechsel hin zur poetischen Qualität des Einzelnen vollzieht.

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zwischen „Culture and Imperialism“ hinreichend bekannt ist. Schaffers’ Katalog kommt auf Grund seines soziologischen Rasters zur Festlegung zweier Rezeptionsmuster der Schrift des „Sehnsuchtsraumes“ Japan: Der „Ästhetisierung“ und der „Mystifizierung“55, deren Interferenzen nicht ausführlich untersucht werden, die aber im Folgenden ein Basistheorem zum Verständnis sprachphilosophischer Theoreme im literarischen Medium der Moderne darstellen. Die zu Beginn dieses Kapitels aufgegriffene Metapher des „grimoire officiel“ beinhaltet durch ihre magische wie fremdsprachlich-logographische Referenz eine Bedeutungsebene des Verstehens von Wissen. Sie visualisiert zum einen die Unmöglichkeit empirischer Wiedergabe von logozentrischen Sachverhalten in Schrift, ebenso wie die magischen Formeln eines Zauberbuchs ihre Wertigkeit verlieren, in dem Moment, in dem ihr Mythos hinterfragt wird. Oder wie die chinesischen Zeichen, denen stets ein letzter Überrest an versteckter Referenz zugeordnet und am logographischen Aufbau ablesbar sei. Diese „constantly visible etymology“56 kann nie erschöpfend ausgelesen werden, egal wie groß das persönliche Lexikon und Wissen ist. Damit verbunden ist die Unmöglichkeit, selbst empirische Wissenschaftssprache als verlässlich interpretierbar zu verstehen, als vielmehr ihren ewigen Rest von Ungewissheit zu akzeptieren. Zum anderen markiert

55 Vgl. Schaffers (2006). S. 323-339. – „Wird [die ‚gelesene‘ Schrift] als Repräsentation der fremden Sprache gelesen, wobei die Illiteralität als Hindernis empfunden wird, die – auch pragmatischen – Mitteilungen zu verstehen? Oder wird die ‚fremde Schrift‘ in ihrer Gestalt, ihrer Funktion und ihrer ‚Aussage‘ als etwas ‚ganz anderes‘ wahrgenommen, wie auch die ‚Fremde Japan‘ als das ‚ganz Andere‘ wahrgenommen wird?“ – Ebd. S. 323. – „Neben der Konzeption der ‚Fremde Japan‘ als Sehnsuchtsraum und neben der Ästhetisierung der Kultur als Kunstprodukt, findet sich in der exotisierenden Wahrnehmung Japans durch den Westen auch eine Mystifizierung, die in den Texten über die ‚Fremde Japan‘ ausgestaltet wird. Diese Mystifizierung findet ihren Ausdruck auffallend häufig über die Beschreibung und Funktionalisierung der ‚fremden Schrift‘. […] Eine Berührung mit dieser Seite Asiens ist nicht ungefährlich, fürchtete doch schon Georg Michaelis um seine geistige Gesundheit, falls er sich dem Studium der japanischen Schrift zuwenden sollte.“ – Ebd. S. 338. [Herv. i. O.] 56 Fenollosa (1920). S. 379.

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die Nähe der rahmenden „caractères d’écriture savante“ durch ihre stets zugeschrieben kalligraphische Erscheinung die zweifelhafte Möglichkeit einer Wiedergabe ästhetisch-poetischer Kommunikation in einer wissenschaftlichen Sprache. Das andere Zeichensystem, das von Loti als unübersetzbar markiert wird, verweist analog auf die Arbeit einer Literatur- oder Kunstwissenschaft selbst, die sich mit einer hermeneutischen Translation auseinandersetzt. Ein Kunstwerk zu begreifen hieße, es zu verdoppeln. Dennoch ist die Inskription des lateinischen Namens ins unverständliche „grimoire officiel“ der Versuch einer Annäherung an ein anderes System, das, wenn schon nicht übersetzbar, wenigstens analysierbar bleibt. Nicht im Sinne eines fingerzeigenden Leseschlüssels, der den gewaltsamen Akt einer endlichen Deutung repräsentiert, sondern einer Aufforderung des Verstehens von Analogiekonzepten, von Möglichkeiten, sich per Definition inkommensurablen Medien der Kunst durch Supplementierung zu nähern.

3 Suche nach Originalität – Übersetzungen chinesischer Lyrik

„Les Caractères Éternels Selon Li-Taï-Pé. Tout en faisant des vers je regarde de ma fenêtre les balancements des bambous ; on dirait de l’eau qui s’agite ; et les feuilles en frôlant leurs épines imitent le bruit des cascades. Je laisse tomber des caractères sur le papier ; de loin on pourrait croire que des fleurs de prunier tombent à l’envers dans de la neige. La charmante fraîcheur des oranges mandarines se fane lorsqu’une femme les porte trop longtemps dans la gaze de sa manche, de même que la gelée blanche s’évanouit au soleil ; Mais les caractères que je laisse tomber sur le papier ne s’effaceront jamais. “1

„Die ewigen Buchstaben Nach Li-Tai-Pe. Besinnend nach Versen schau ich auf Nach schwankenden Bambusrohren, Sie gleichen der Wellen wogendem Lauf, Die spielend der Wind geboren. Die Blätter, die spitzig sich streifen all

1

Walter, Judith: Le Livre de Jade. Paris 1867. S. 165-166.

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Und lispelnd Gesumm vertauschen, Nachahmen des Wassers Niederfall: Sein rinnendes, rollendes Rauschen. Hin lasse ich fallen auf’s Papier Buchstaben halb wie im Traume, Von Ferne wohl scheint es, als stöben hier In den Schnee die Blüthen der Pflaume. Der köstliche Duft der Orange auch, Des Lieblings der Mandarinen, Verliert den lieblichen, süßen Hauch, Im Ärmel golddurchschienen. Der schneeige, weiße Reif zerstiebt, Wenn wärmere Strahlen die Sonne gibt, Doch nimmer werden zerstieben: Buchstaben, die ich geschrieben.“2

Judith Gautiers Livre de Jade war die Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung 1867 „sans aucun doute, une réussite.“3 Gemeinsam mit dem fünf Jahre zuvor erschienenen Buch Poésies de l’époque des Thang des Marquis d’Hervey-Saint-Denys bildet es für das ausgehende neunzehnte Jahrhundert in einer Zeit dekadenter Chinoiserien die Basis der Rezeption chinesischer Lyrik und prägte nachhaltig das Bild und die Aufnahme der stets unzugänglichen und als unübersetzbar gebrandmarkten Ton- und Sprachkunst des fernen Orients.

2

Böhm (1873). S. 123-124.

3

Stocès, Ferdinand: Sur les sources du Livre de Jade de Judith Gautier (18451917). Remarques sur l’authenticité des poèmes. Revue de littérature comparée. Nr. 319 (2006). S. 335. – Stocès Untersuchungen erläutern die europaweite Wirkung sowie die akademische Geschichte Judith Gautiers, „[d]ès sa jeunesse, tout comme son père, [… elle] a été attirée par l’Orient.“ – Ebd. S. 337. – Dabei visualisieren seine kurzen historischen Exkurse über die Rezeption des Werks die Abhängigkeit der Frage nach philologischer Authentizität von der jeweiligen Akzentuierung des französischen Interesses an China.

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Das Gedicht Lǐ Báis (hier Li-Taï-Pé, auch Li-Tai-Po oder Li-Po), bekannt als einer von „Chinas Schiller und Goethe“4, wird von Gautier ans Ende ihrer Übersetzungen gestellt und in dieser Platzierung auch vom französisch-deutschen Übersetzer Gottfried von Böhm 1873 übernommen. Die bekannten Motive der Vergänglichkeit des Seins und des ewigen Fortlebens der Kunst – Uhlands Des Sängers Fluch, Seidels Weltflucht zu AyerItam –, die dieses Gedicht des achten Jahrhunderts bedient, werden von Gautier in konzentrierter Prosa dargereicht und von Böhm anschließend frei aus dem Französischen in deutsche Verse übertragen. Dass die Wortwahl der „Buchstaben“ dabei die Mehrdeutigkeit und Abgrenzung des französischen „caractères“ eliminiert und mit dem „Mandarinen“-Vers ein Übersetzungsfehler entstanden zu sein scheint, sei vorerst markiert, aber noch dahingestellt. An dieser Stelle wird das poetologische Gedicht dahingehend bedeutsam, dass weder Gautier noch Böhm einen erklärenden Apparat, ein Vorwort oder sonstige Explikationen hinzugefügt haben. Somit wird das Originelle und „speziell authentisch Chinesische“ der dargereichten Lyrik der Leserschaft zur Entdeckung selbst überlassen und gleichzeitig die Quellenlage der Nachdichtungen ausgespart. Im Falle Judith Gautiers ist anzunehmen, dass sie die im Fahrtwind der erfolgreichen Poesies de l’époque des Thang erstellte Sammlung aufgrund dieses Nachbartexts nicht weiter erklären musste. Der Marquis d’Hervey-Saint-Denys eröffnet seine Gedichte „traduites du chinois pour la première fois avec une étude sur l’art poétique en Chine et du notes explicatives.“ Diese einleitenden Kommentare zu Sprachbau, Kunstgeschichte und Autorenbiographien umfassen mehr als einhundert Seiten und erklären möglicherweise das Fehlen eines Apparats in Gautiers Sammlung. Im Deutschland des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts hingehen liegt der Fall anders, haben sich bis dahin nur wenige Theoretiker wie Künstler auf eine wissenschaftliche oder „authentische“ Auseinandersetzung mit chinesischer (Kunst-)Geschichte eingelassen. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Ostasien beginnt erst in den neunziger Jahren „auf Anregung Bismarcks“5 an den deutschen Universitä-

4

Forke, A[lfred]: Blüthen chinesischer Dichtung aus der Zeit der Han- und

5

Franke, Herbert: Sinologie an deutschen Universitäten. Mit einem Anhang über

Sechs-Dynastie. Magdeburg 1899. S. XVI. die Mandschustudien. Wiesbaden 1968. S. 11.

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ten, an denen „[d]urch [das] Reichsgesetz vom 23. Mai 1887“6 orientalische Seminare gegründet wurden, und mit ihnen auch ein journalistisches Interesse an Japan und China. „Das 19. Jahrhundert ist somit gekennzeichnet durch ein Nebeneinander von einer Sinologie der Amateure oder Praktiker und der akademischen Sinologie. In Deutschland gab es keine akademischen Ausbildungsmöglichkeiten, und so sind die deutschen Sinologen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entweder Autodidakten gewesen oder haben in Paris studiert.“7 Die (Pseudo-)Übersetzungen des Marquis d’Hervey-Saint-Denys und Judith Gautiers sind für das späte neunzehnte Jahrhundert steter Bezugspunkt und Anfang eines optimistisch sinologischen Interesses an der chinesischen Literaturgeschichte und werden noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in erfolgreichen Projekten deutscher Sprache als Referenz und Quelle angegeben. 1902 veröffentlicht Gautier die stark überarbeitete und erweiterte zweite Ausgabe des Livre de Jade, dessen bisherige „influences littéraires“8 in Europa kaum zu überschätzen sind. 1905 dann erscheint im Piperverlag in einer eklektischen Literaturreihe mit dem Titel Die Frucht-

6

König, [Bernhard] v.: Seminar für orientalische Sprachen. In: Heinrich Schnee (Hrsg.): Deutsches Koloniallexikon. Bd. III. Leipzig 1920. S. 347. – „Durch Reichsgesetz vom 23. Mai 1887 wurde der RK. ermächtigt, mit der preußischen Regierung eine Vereinbarung wegen Errichtung eines S.f.o.S. [Seminars für orientalische Sprachen] an der Universität zu Berlin abzuschließen. […] Es wurde am 27. Okt. 1887 in Berlin eröffnet, und befindet sich jetzt daselbst Dorotheenstr. 7. Aufgabe des S. ist es, ‚den theoretischen Unterricht in den lebenden orientalischen Sprachen mit praktischer Übung zu verbinden und dadurch künftigen Aspiranten für den Dolmetscherdienst sowie Angehörigen sonstiger Berufsstände, welche den erforderlichen Grad geistiger und sittlicher Reife besitzen, neben der theoretischen Erlernung besonders die praktische Anwendung dieser Sprachen zu ermöglichen.‘ Der Eintritt Deutschlands in die Reihe der Kolonialmächte stellte dem S. neue Aufgaben, denen es unter der langjährigen Leitung seines Direktors Geh. Oberregierungsrat Prof. Dr. Sachau (s.d.) gerecht wurde.“ – Ebd.

7

Franke (1968). S. 8.

8

Stocès (2006). S. 336.

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schale9 Hans Heilmanns Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart. In deutscher Übersetzung, mit Einleitung und Anmerkung. Ein relativ schmuckloses Bändchen, das jedoch durch seine fünfundfünfzig Seiten umfassende Hinführung eine Lücke auf dem deutschen Buchmarkt schloss, die Vorgänger wie Alfred Forkes Blüthen chinesischer Dichtung10 oder Adolf Seuberts Chinesische Gedichte11 mangels ausführlicher Kommentierung hinterließen.12

9

Diese umfasst beispielsweise Fragmente Friedrich Schlegels, Tagebücher Platens, Prosaschriften Walt Whitmans oder Ausgaben von Wickrams/Brentanos Der Goldfaden.

10 Forkes achtseitige Einleitung von 1897 beschränkt sich in weiten Teilen auf einen autobiographischen und zeitgeschichtlichen Abriss. Obgleich Forke laut eigener Aussage die meisten seiner ausgewählten Gedichte selbst aus dem Chinesischen übertrug (er war Dolmetscher in China sowie ab 1903 Professor an deutschen Ostasieninstituten), zitieren weder Heilmann noch Bethge seinen Band. 11 Seuberts Sammlung „Nach der englischen Bearbeitung des G. C. Stent“ ist eine direkte Übersetzung des 1878 veröffentlichten Entombed Alive and other Songs, Ballads &c. Vornehmlich aufregende, humoristische oder blutige Themen werden in Titeln wie Selbstmord von Pa-Wangs Pferd oder One-eyed Lu-Pan; or, Cocking the Eye ohne eine richtige Einleitung dargereicht. Ausführliche Stellenkommentare zu kultur- oder staatsgeschichtlichen Besonderheiten werden von Seubert direkt übernommen. 12 Heilmanns ausführliches kunst- und sprachgeschichtliches Vorwort ermöglicht es beispielsweise Hans Bethge in seiner 1907 erschienenen, überaus erfolgreichen Sammlung von Nachdichtungen Die chinesische Flöte einen stark gerafften und pathetischen Ton im kommentierenden Nachwort anzuschlagen. Folglich sind seine Ausführungen in weiten Teilen lediglich Wiederholungen mit Verweis auf Heilmann, Gautier und Saint-Denys. Zu den linguistischen Besonderheiten chinesischer Poesie referiert er Saint-Denys/Heilmanns Idee des Gesamtkunstwerks en miniature: „Die chinesische Prosodie ist höchst kompliziert. Aus den schwierigen malerischen Eigentümlichkeiten der chinesischen Schrift und den lautlichen der Sprache ergibt sich eine von malerischen und musikalischen Gesetzen in gleicher Weise diktierte Rhythmik, die mit der Rhythmik der europäischen Dichtung kaum noch etwas gemeinsam hat als die äußerliche Beigabe des Reims. Ein sehr weitgehender, subtil ausgebildeter und oft antitheti-

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Den sinologischen Wert von Heilmanns Apparat ausklammernd, präsentieren die ausführlichen Schilderungen chinesischer Kunstgeschichte, Abrisse der speziellen Sprach- und Schriftsysteme sowie die zwei knappen Autorenbiographien ein prägnantes Bild des europäischen Vorstellungshorizonts der fernöstlichen Lyrik. Erst auf Seite 54 im „Vorwort zu den Übersetzungen“ erfahren die Leser, dass die folgenden Gedichte „nicht aus dem Urtext übertragen, sondern aus französischen und englischen Werken“ 13 entnommen sind. „Denn [Heilmann] gehör[t] nicht zu den glücklichen oberen Vierhundert in Europa und Amerika, die chinesische Lyrik an ihrer Quelle genießen können. In deutscher Sprache etwas der Poesie eines LiTai-Pe und Thu-Fu, die zu den Großen der Weltliteratur gehören, einigermaßen Ebenbürtiges schaffen, das könnte nur ein hervorragender Dichter, und Verskünstler, der zugleich ein bedeutender Sinologe wäre. In dieser mangelhaften Welt aber muß man schon zufrieden sein, wenn man – keins von beiden ist.“14 Heilmann misstraut mit wenigen Ausnahmen bisherigen lyrischen Übertragungen chinesischer Gedichte in eine nicht-tonale Sprache mit pho-

scher Parallelismus, der sich nicht nur auf Worte, Gedanken und sprachliche Bilder, sondern bis in die feinen grammatikalischen Bildungen hinein, ja bis in die Intimität der kunstvoll gefügten und ornamental so ausdrucksvollen Schriftzeichen erstreckt, ist mit dem Begriff chinesischer Dichtung eng verknüpft. Diese Dichtung wendet sich an Ohr und Auge in gleicher Weise. Sie will nach uralten, festen musikalischen Gesetzen gesungen und will auch gelesen sein. Wenn man außerdem bedenkt, daß die Poesie von einer Prägnanz des Ausdrucks ist, die nur jenes asiatische Idiom und kein anderes herleiht und die in der europäischen Sprache nicht wiedergegeben werden kann, so wird man erkennen, ein wie wahnwitziges Unterfangen es eigentlich ist, die chinesische Lyrik dem europäischen Ohr – denn das Auge kommt bei uns hier nicht in Betracht – zu übermitteln, und wie viel Glanz und Schönheit auf diesem Weg notwendigerweise verloren gehen muß.“ – Bethge (³[190x]). S. 105-106. 13 Heilmann ([1905]). S. LIV. – Heilmann zitiert neben Hervey St. Denis, Gautier und Böhm die deutschsprachige Geschichte der chinesischen Literatur von Grube, einzelne Magazin und Journalartikel sowie Übertragungen ImbaultHuarts und Edkins. Zusätzlich rühmt er Dehmels chinesische Nachdichtung Das chinesische Trinklied „nach Li-Tai-Pe“. Ebd. S. LV. 14 Ebd. S. LIV-LV.

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netischem Zeichensystem. Er verfolgt mit seiner rhythmischen Prosa keine ästhetischen Absichten, sondern „den e i n e n Zweck“, „getreue Bilder von den Gedanken und Stimmungselementen“ sowie des Strukturprinzips des „Parallelismus“15 zu geben. Dieser Parallelismus ist für Heilmann das Wesen, Novum und Besondere traditioneller lyrischer Formen Chinas und eng verbunden mit der Auffassung des Gedichts als einer „Art Gesamtkunstwerk in Miniatur“16, in dem die tonale Sprache gesungen und die logographische Schrift gelesen/betrachtet werden muss, um das ästhetische Erlebnis erfahren zu können. Entnommen ist diese Idee aus Poésies de l’Époque des Thang, wo es heißt: „Dans nos langues européennes, composées surtout de polysyllabes, un parallélisme rigoureux, une symétrie parfaite entre les mots et les idées serait absolument impossible.“17 Der strukturierende und

15 Ebd. S. LVI. [Herv. i. O.] 16 Ebd. S. XXXII. 17 Marquis d’Hervey-Saint-Denys, [Léon]: Poésies de l’Époque des Thang. Paris [1876]. S. LXXIV. – „Innerhalb unserer europäischen Sprachen, ausnahmslos mehrsilbig strukturiert, wäre ein reiner Parallelismus, eine perfekte Symmetrie zwischen den Wörtern und den Ideen absolut unmöglich.“ – Zur Idee des Parallelismus heißt es weiterhin: „Quant au parallélisme, terme qui s’entend de luimême, il peut être de deux sortes : il peut exister entre les caractères et par conséquent entre les idées, dépendant ainsi de l’art poétique ; il peut s’établir entre les sons de la langue auxquels ces caractères correspondent ; c’est alors une ressource toute musicale. Pour ne parler d’abord que du parallélisme des idées, nous voyons qu’il s’établit lui-même de deux manières : par similitude ou par opposition. Il s’établit par similitude, lorsque le second vers exprime la même idée que le premier, bien qu’en termes différents, lorsque chacun des caractères du premier vers semble trouver un synonyme dans le terme correspondant du vers suivant. Il se forme par opposition si le second vers, au lieu d’être le redoublement du premier, s’en montre précisément la contrepartie, et par le sens général qu’il présente, et par la disposition de tous ses pieds.“ – Ebd. – „Es gibt zwei Arten des Parallelismus’ (der Begriff versteht sich von selbst): er kann, abhängig von der Kunstrichtung, zwischen den einzelnen Schriftzeichen und folglich auch zwischen den Ideen auftreten. Oder er kann zwischen den einzelnen Lauten/Tönen der mit den Zeichen korrelierenden Sprache entstehen; dies wäre dann ein rein musikalischer Ursprung.

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Kohärenz generierende Gedanke des „Parallelismus“ trete nach Heilmann gleichzeitig in der Prosodie, Semantik, Logographie (er spricht von Ideographie), Grammatik und Syntax auf und „verdichtet“ die Poesie folglich zu „Sinnbild[ern] […] äußerster Komprimierung.“18 Dabei bietet vor allem der graphemische Parallelismus ein exklusives Potential, das sich in phonetischen Schriftsystemen lediglich mit den avantgardistischen Mitteln einer „alchimie littérale“ 19 wie bei Mallarmé vergleichen ließe, die sich stetig intentionaler Sprache entzieht und „des vertues sensibles, phonétiques, graphiques, logiques, syntaxiques, économiques“20 amalgamiert. Ein Vor-lesen von Lyrik, wie es im Deutschland des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts noch üblich war, stößt damit an seine Grenzen, da in dieser Rezeptionsform automatisch eine Möglichkeit der polyphonen Rezeptionsmodi abgetrennt wird. Heilmanns kritisches Vorwort markiert die phonetische Lyriktranslation in diesem Punkt als uneinholbar defizitär, komme sie nicht aus der Feder eines Richard Dehmel, der zumindest dem ästhetischen Charakter Rechnung tragen könne. Die attestierte „fabelhafte Konzentration des Ausdrucks“21 der zahlreichen Parallelismen wird deutlich an den „einsilbigen, isolierten, unverän-

Um anfangs über nichts außer den Parallelismus der Ideen zu sprechen, erkennen wir, dass sich dieser in zwei Arten und Weisen manifestiert: Per Ähnlichkeit oder Opposition. Es handelt sich um Ähnlichkeit, wenn der zweite Vers die gleiche Idee des ersten in anderen Begriffen ausdrückt, wobei jedes der Schriftzeichen des ersten Verses ein graphisches Synonym des folgenden, korrespondierenden Verses findet. Es handelt sich um Opposition, so der zweite Vers statt einer Doublette des ersten zu sein, sich exakt als Gegenpart strukturiert. Durch den Grundsinn, den er präsentiert und durch die Anordnung sämtlicher Versfüße.“ – Es folgt ein chinesisch-lateinisches Beispiel in zwei Spalten, in dem grammatikalisch, semantisch und durch prägnante Piktogramme und Radikalwiederholung auch graphemisch der dichte Parallelismus demonstriert wird. 18 Eich, Günter: [Ein Zeichen sozusagen] [Interview von Karl Schwedhelm]. In: [o.A.]: Günter Eich. Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Bd. IV: Vermischte Schriften. Hrsg. v. Axel Vieregg. Frankfurt am Main 1991. S. 483. 19 Derrida, Jacques: La dissémination. Paris 1972. S. 294. 20 Ebd. 21 Heilmann ([1905]). S. XXX.

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derlichen Wurzelwörtern“22, deren „oft onomatopoetische Lautform […] sich klanglich voll dem Ohre einprägen“ kann und zugleich „jedes Wort sein eigenes malerisches Zeichen hat, das bei dem ideographischphilosophischen Charakter der chinesischen Schrift zugleich seine Wortund Begriffsklasse angibt und seinen Inhalt sinnbildlich illustriert“23. Chinesische Lyrik, so die Quintessenz, entziehe sich durch ihren linguistischen Hintergrund stetig einheitlicher Lektüre und wird zu einem „Naturprodukt […] Symbolismus“ als dem „Kunstmittel einer Lyrik, deren Sprache sie anweist, mit wenig Worten viel erraten zu lassen.“24 Assoziative Suggestion und individuelles Lexikon sind demnach die Determinanten, die die chinesische Rezeption gelehrter Dichtung definieren. Lexikon insofern, als dass die Schriftsprache zeitweise eine exklusive „Gelehrtenliteratur, die dem Laien in Worten und Zeichen längst unverständlich“25 geworden ist, darstellt und sich durch die Jahrtausende alte Tradition Überfrachtungen „mit gelehrten, historischen, mythischen, allegorischen Anspielungen“26 niederschlagen, die in ihrer absoluten Selbstgefälligkeit, in der „poetische[n] Technik“ des „Rätselhafte[n], Nebelhafte[n], […] künstliche[n] Helldunkel“27 aufgehen. Die disseminale etymologische Ladung einzelner Zeichen, die stetig auf Literatur-, Philosophiegeschichte, ideographischen Ursprung und sprachphilosophische Flexion verweist, geht in der berühmten Formel des gleitenden Sinnes auf. Die attestierte Unmöglichkeit der Sinnfixierung literarischer Texte ist damit nicht in der Individualität des einzelnen Interpreten und seines defizitären Handwerkszeugs lokalisiert, sondern in der unmöglichen Sinnzuteilung einzelner Zeichen. Jeder Akt des Lesens und Entzifferns eines Logogramms ist stets unvollständig und bleibt immer nur Bruchteil eines unendlichen Bedeutungshorizonts und Verweisspiels. Dies wird besonders deutlich in der von Heilmann zitierten Anekdote von „Han-Fei-Tse“ (Hán Fēi), mit der Heilmann die Genese der chinesischen Schrift erklären will:

22 Ebd. S. XXII. 23 Ebd. S. XXX. 24 Ebd. S. XLIX. 25 Ebd. S. XXII. 26 Ebd. 27 Ebd. S. XXXI.

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„Der Mensch sah die Dinge in seiner Umgebung und bewahrte in seinem Gedächtnis das Bild ihrer Formen, das seine Phantasie, die einen von den anderen unterscheidend, nachgestaltete. Um sich ihren Besitz und die Freude der Erinnerung zu sichern, malte er ihre Umrisse auf, und nun gab ihm die Zeichnung, wenn er sie ansah, die Gegenstände wieder. Da aber die sinnlichen, geistigen und abstrakten Begriffe keine reale Form haben und um so mehr den Wunsch nach einem Denkzeichen erregten, als kein Gegenstand in seiner Umgebung ihm ein solches bot, so setzte er an ihre Stelle Bilder körperlicher und sinnenfälliger Dinge; er wählte dazu mit Vorliebe solche Dinge, die eine gewisse Analogie oder Beziehung zu jenen abstrakten hatten und fügte besondere Züge bei, um sich vor Augen zu halten, daß es nur sichtbare Zeichen für unsichtbare Begriffe wären. Die eine Wahrnehmung, Entdeckung, Zusammenstellung führte die andere herbei: Er sammelte eine Anzahl der Bilder und Zeichen, ordnete, kombinierte sie und kam allmählich dazu, durch sie verschiedene Erinnerungen und Vorstellungen zu assoziieren, dann seine Einfälle und Kombinationen in einen gewissen Zusammenhang zu bringen und schließlich durch sie mit seinen Mitmenschen sich zu verständigen.“28

Die Anekdote, so szientistisch tragbar oder zu verwerfen sie auch sein mag, präsentiert die Geburt mehrerer „nachgestaltete[r]“, also mimetischer, also bereits vor der Kalligraphie künstlerischer Zeichen und ihre Entwicklung zu einem „herrlichen System“29. Aus einem anthropologischen Reflex des Bedürfnisses nach Wissenskonservierung und Kommunikation heraus entwickelt sich über einen archaischen Vorgang der Piktographie eine gelehrte Ideographie der „Menschen“. Durch „Analogie“ werden die „um so mehr“ gewollten Abstrakta ohne visuelle Präsenz gebildet, also wird erneut ein künstlerischer Akt betrieben, der Dinge ohne „reale Form“ auszudrücken vermag. Diese „sichtbare[n] Zeichen für unsichtbare Begriffe“ werden außerdem gesondert markiert, um ihren assoziativen Charakter zur Schau zu stellen. Mittels solcher Kunstwerke „in Miniatur“30 sei chinesische Lyrik „verdichtet“ und damit per se unübersetzbar. Der graphemische Akt einer unendlichen Annäherung an einen „unsichtbare[n] Begriff“ visualisiert damit die Unzeitlichkeit bzw. die unmögliche Identität des einzelnen signifiés mit

28 Ebd. S. XXV. 29 Ebd. S. XXVI. 30 Ebd. S. XXXII.

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seinem signifiant und die poetologische Qualität der Kunst, die stets auf ihr eigenes Gemachtsein als Zeichen in einem Zeichensystem referiert. Doch zugleich repräsentiert diese graphemische Zeichentheorie durch den abendländischen Hintergrund der Mimesis die Sonderstellung von Abstrakta und Ideen durch ihre „besondere[n] Züge“. Mimesis wiederholt nicht nur eine logozentrische Wahrheit bzw. überführt sie in ein sekundäres (nach europäischem Denken untergeordnetes) Zeichensystem, sondern bringt „diese Idee oder Wahrheit allererst in Erscheinung; d.h., die Wahrheit wäre nicht die Wahrheit, wenn sie nicht erschiene.“31 Eine assoziative „Zeichenkombination“32, wie „die von ‚Frau‘ und ‚Kind‘, um ‚Güte‘ auszudrücken, ein ‚Herz‘ zwischen zwei ‚Türen‘ bedeutet ‚Traurigkeit‘“33, vereinigt in dieser von Heilmann dargereichten, von Hervey-Saint-Denys zuvor formulierten Definition die Paradigmen der semiologischen Geburt eines Zeichens und eines mimetischen Kunstwerks „destiné[] à transmettre des idées métaphysiques“34 im chinesischen Logogramm. Stimuliert demnach das Logogramm stetig einen poetologischen Reflex der eigenen Zurschaustellung des Zeichenkompositionscharakters, bedingt hingegen die tonale Aussprache des Chinesischen die unmittelbare Nähe der Lyrik zur Musik. Hans Bethge formuliert dies in seinen wenige Jahre später erschienenen Nachdichtungen mit Verweis auf Heilmann, SaintDenys und Gautier komprimiert in den Worten: „Wenn man außerdem bedenkt, daß die Poesie von einer Prägnanz des Ausdrucks ist, die nur jenes asiatische Idiom und kein anderes herleiht und die in der europäischen Sprache nicht wiedergegeben werden kann, so wird man erkennen, ein wie wahnwitziges Unterfangen es eigentlich ist, die chinesische Lyrik dem europäischen Ohr – denn das Auge kommt bei uns hier nicht in Betracht – zu übermitteln, und wie viel Glanz und Schönheit auf diesem Weg notwendigerweise verloren gehen muß.“35

31 Frank (1983). S. 577. 32 Heilmann ([1905]). S. XXIV. 33 Ebd. 34 Marquis d’Hervey-Saint-Denys ([1876]). S. LIII. – „bestimmt, metaphysische Ideen zu vermitteln“ 35 Bethge (³[190x]). S. 106.

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Ein chinesisches Gedicht sei nicht allein durch das individuelle Lexikon und philologisches Vorwissen („dieses Zeichen steht auch exponiert bei Laozi, Konfuzius, Qiánlóng etc…“) inkommensurabel, sondern wird gleichzeitig durch die stete „Ideenassoziation“ – ein mehrfach verwendeter Begriff Heilmanns – der Parallelismen zu einem Kunstwerk, das besonderen Regeln einer fremden Poesie folgt. So verweise ein Schriftzeichen mit dem Radikal Wasser (drei als Tropfen deutbare Striche) nicht lediglich auf seine „ideographische“, genauer: logographische Referenz, sondern reagiert zugleich mit anderen, syntaktisch und satzsemantisch differenten Zeichen des Gedichts, die das gleiche Radikal in sich tragen. Europäische Lyrik selbst wird damit vielleicht nicht als defizitär festgesetzt – viel eher als komplett different –, jedoch ihr zugängliches, exklusiv phonetisches Sprach- und Schriftsystem. Immer wieder verweisen die Kommentatoren und Übersetzer darauf, dass „die Chinesen mit ihren einsilbigen Worten in einer Strophe mehr als doppelt so viel ausdrücken können, als in einer flektirenden Sprache möglich ist“36, und dadurch jede Translation nur fehlgehen kann. Das ist bemerkenswert, wo die von Denkern wie Rousseau, Humboldt, Herder oder Hegel vertretene Meinung einer evolutionären Entwicklung der Schriftsysteme von der Piktographie zum „wahre[n], vollständige[n] und reine[n phonetischen] Alphabet“ 37 noch kaum angreifbar war. So heißt es in Forkes Lyrikband Blüthen Chinesischer Dichtung 1899 noch: „Es wäre unbillig, zu erwarten, dass sich die Lyrik mit derjenigen der Culturvölker Europas, die ihnen in der geistigen Entwickelung so sehr vorausgeeilt sind, messen könne. Von der Fülle der Ideen und Empfindungen, welche wir unserer höheren Civilisation verdanken, liegen natürlich sehr viele den Chinesen, deren Gefühlsleben aus ihrer einfacheren Cultur weniger Anregungen erhält, gänzlich fern.“38 Auf Basis eines nun nicht mehr von oberflächigen Chinoiserien, sondern von (amateur-)sinologischem Interesse gestützten Blicks auf das alte Kaiserreich kann nach den denunziatorischen Texten während der Boxeraufstände ein

36 Forke (1899). S. XVI. 37 Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In: Andreas Flitner u. Klaus Giel (Hrsg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Bd. III: Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt 51979. S. 83. 38 Forke (1899). S. XII-XIII.

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Bild von chinesischer Lyrik rehabilitiert werden, bar jeder vermuteten „contradictio in adjecto“39. Erst nach dem kriegerischen Intermezzo der Jahrhundertwende konnten sich positive Texte über China wie Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun durchsetzen, während Bierbaums Das schöne Mädchen von Pao 1899 bei Veröffentlichung der saisonalen Sinophobie zum Opfer fiel. Und damit sind es gerade die Künstler, die in Japan und China poetische Originalität suchen, die auf das Logogramm stoßen und in ihm sprachphilosophische bis ästhetische Qualitäten erkennen oder ihm zuschreiben. Eine dritte Version der einleitend zitierten Verse „Li-Tai-Pos“ Les Caractères Éternels fügt sich in die Argumentationslinie. Bethges berühmt gewordene Chinesische Flöte beinhaltet 1907 unter dem Titel Die ewigen Lettern eine Modellierung der nun fast ein halbes Jahrhundert alten Versionen Gautiers und Böhms.40 „Die ewigen Lettern Li-Tai-Po Indem ich Verse bilde, sehe ich, Von meinem stillen Fenster aus, dem Schwanken Der Bambussträucher in dem Winde zu. Wie aufgeregtes Wasser scheinen sie, Und das Geraschel in den Blättern klingt Fast wie das Rauschen hüpfender Kaskaden. Ich werfe meine Lettern aufs Papier, Sie sehen aus, als seien Pflaumenblüten Wirr durcheinander in den Schnee gestürzt. Der frische Duft der Mandarinenfrüchte

39 Heilmann ([1905]). S. V. 40 Die doppelte Vorlage wird deutlich in der Mandarinenzeile, die Böhm fälschlicherweise oder als Witz mit dem Homonym des chinesischen Mandarins übertrug. – Judith Gautiers Livre de Jade wurde 1902 in einer zweiten Auflage „corrigée et augmentée“ neu herausgeben.

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Vergeht, wenn eine Frau sie allzulange In ihres Kleides dunkeln Falten trägt. Der Reif erlischt, wenn die Sonne anscheint, – Nur meine Lettern, die ich niederschreibe, Sind ewig, ewig! – Dieses weiß ICH, Li-Tai-Po.“41

„Li-Tai-Po“ war zu Bethges Zeiten den Europäern bereits hinlänglich bekannt. So kann auch die im Nachwort eingefügte Autobiographie des exzentrischen Geniecharakters vergleichsweise kurz ausfallen und demgemäß entbehren die letzten Worte des transformierten Gedichts nicht eines gewissen Sarkasmus. Exklusiv in den drei Versionen wird hier das poetologische Autor-Ich betont, indem es ein zusätzliches, viertes Mal in Majuskeln hervortritt und sich empathisch selbst benennt. Gautiers „Tout en faisant“ wird in seiner aktivischen Bedeutung übersetzt und trennt damit die Naturerfahrung vom poetischen Schöpfungsakt, die bei Böhm durch den Parallelismus ineinander verschränkt sind („Besinnend nach Versen schau ich auf / Nach schwankenden Bambusrohren“). Diese bei Böhm exklusive Verknüpfung läuft Gefahr, das Thema der zeitüberdauernden Kultur gegenüber der sich stets dionysisch erneuernden und vergehenden Natur abzuschwächen, indem es das Dichten eng an die Naturbeschau des Künstlers bindet und naturtheoretische Tendenzen der Goethezeit aufruft. Gautiers passive Formulierung „Je laisse tomber des caractères sur le papier“ untermalt hingegen die Poetologie mit einem genieästhetischen Moment der Inspiration und Geistesabwesenheit und gewinnt aus der Mehrdeutigkeit des Begriffs „caractère“ zwischen Schrift, Zeichen, Art und Charakter. Auch beim Dichten ist Bethges lyrisches Ich souveräner, wenn es „Lettern aufs Papier“ „wirft“ und damit den Schöpfungsakt aktiv gestaltet. Folglich tritt das Schreiben selbst, das Gautier im subjonctif-présent „tombent“ als visuellen Reiz mit dem Herabfallen der Pflaumenblüten direkt empathisch visualisiert, zurück und das „de loin“ der Betrachtung wird aufgehoben zugunsten einer Metapher des erspähten Schriftbildes. Die „fleurs de prunier à l’envers“ bedienen durch das aufgerufene Basissymbol ostasiatischer Welt der (fallenden) Pflaumenblüte den ornamentalen Charakter des Kalligraphischen und rufen vielleicht gleichzeitig im europäi-

41 Bethge (³[190x]). S. 39.

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schen Kontext durch den Subjunktiv eine Nuance des Chaos und des Ungeordneten und damit Undeutbaren auf. Böhms Übersetzung verstärkt das inspirative Moment („halb wie im Traume“) und übernimmt mit der altertümelnden-ästhetisierenden Umschreibung „stöben“ das Bewegungsmoment des Niederschreibens. Dieses dreifach auftauchende „stieben“ gerät in seiner Verwendung der Visualisierung der Unbeständigkeit und Endlichkeit von Natur nah an das anlautende „sterben“ und ruft in seiner thematisierten Ambivalenz von natürlichen Klangphänomenen und menschlicher Aufzeichnungssysteme den 2. Korintherbrief 3,6 auf. Einer natürlichen, spontanen Kommunikation wird ein erstarrendes, reproduzierendes Zeichensystem gegenübergestellt und dabei durch die lautliche Verzerrung und umgekehrte Zuteilung des „Sterbens/Stiebens“ die Frage nach der moralischen Präferenz der Systeme in der Schwebe gehalten.42 Wird dem reproduktiven, kurzlebigen Naturraum musikalische Qualität zugeschrieben, besitzt das dichtende Schreiben die Möglichkeit der Speicherung. Bethges aktives lyrisches Ich (also das der jüngsten Version) fordert grammatikalisch eine andere Präsentation des Dichtens, die nicht mehr auf einem ungewissen Widerspiel von Naturbeschau und „Besinnen“ ruht. Ebenfalls „ICH, Li-Tai-Po“, betrachtet die friedliche Bambusszenerie, aber ihre Analogien werden zweimal durch das Wort „wie“ gebildet: „Wie aufgeregtes Wasser scheinen sie, / Und das Geraschel in den Blättern klingt / Fast wie das Rauschen hüpfender Kaskaden.“ Böhm nutzte drei Jahrzehnte zuvor ebenfalls die Konjunktion, beschreibt damit aber exklusiv den Dichtungsakt, in dem „wie im Traume“ die „Buchstaben“ aufs Papier „fallen“. Diese Verschiebung konvergiert mit der Aktivierung der Autorsubjektivität und verändert die Rolle der Naturbeschau. Bethges „Li-Tai-Po“ schöpft demnach nicht poetische Inspiration aus der Ansicht und dem Zuhören der Natur, sondern aus der kogni-

42 Wie schon durch die Bibelpassage, gilt im Abendland auch bereits seit Platons Phaidros: „la question de l’écriture s’ouvre bien comme une question morale. L’enjeu en est bien la moralité, aussi bien au sens de l’opposition du bien et du mal, du bon et du mauvais, qu’au sens des mœurs, savoir ce qui se fait et ce qui ne se fait pas.“ – Derrida (1972). S. 82. [Herv. i. O.] – „Die Frage der Schrift beginnt als eine Frage der Moral. Der Einsatz ist die Sittlichkeit, sowohl im Sinne der Oppositionen gut (handeln) und schlecht (handeln), als auch im Sinne der Sitten: zu wissen, was sich gehört und was nicht.“

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tiven Erkenntnis der Bildung von Analogien. Die Metapher des „aufgeregte[n] Wasser[s]“ an die Stelle der „Bambussträucher in dem Winde“ zu supplieren, reflektiert die Konstitution eines ästhetischen Schöpfungsaktes als Geburt eines neuen Zeichens durch Ähnlichkeit. Heilmanns zitierte Legende der Logographie tritt hier zu Tage: „Der Mensch sah die Dinge in seiner Umgebung und bewahrte in seinem Gedächtnis das Bild ihrer Formen, das seine Phantasie, die einen von den anderen unterscheidend, nachgestaltete. Um sich ihren Besitz und die Freude der Erinnerung zu sichern, malte er ihre Umrisse auf, und nun gab ihm die Zeichnung, wenn er sie ansah, die Gegenstände wieder.“43

Mimetisches Nachgestalten verbindet die Natur mit dem chinesisch-logographischen „Verdichten“ und erläutert die Metapher der „Pflaumenblüten / Wirr durcheinander in den Schnee gestürzt.“ Das poetische Produkt benötigt nun nicht mehr die Konjunktion „wie“, sondern lässt rein äußerlich die Analogie erkennen, ohne auf die ihr eigenen Mechanismen verweisen zu müssen. War für Böhm das „wie“ noch notwendig, um das Ingenium rhetorisch zu fokussieren, fällt es bei Bethges fertig geschriebenem Gedicht vollkommen weg, und das „Von Ferne“ „schein[en]“ wird ersetzt durch ein unmittelbares „aussehen“. An die Stelle eines dichtenden Subjekts tritt die Zeichenkonstitution in der poetischen Sprache. „[L]’Idéogramme prend place au centre du mouvement moderniste. A la croisée de chemin du cubisme et de tous les Imagismes, naissent le collage, le montage, fondés sur l’ellipse des liaisons, sur la mort du COMME explicite.“44 Der Ironie als Stilfigur, die in der glorifizierenden Selbstbenennung des „ICH“ aktiviert wird, macht es unmöglich, eine genaue Aussage über das präsentierte Verhältnis von Autor, lyrischem Ich, Übersetzer und Ingenium zu treffen. Die fast schon zynische Wendung des Endes verlagert viel mehr die Frage selbst ins Lächerliche und damit die poetologische Dimension des Gedichts auf den semiologischen Aspekt der Äquivalenz. Um eine grob zwischen 1890 und 1920 verortete Neuorientierung poetologisch-semiologischer Fragen an ein fremdartiges Schriftsystem, dem schon immer der

43 Heilmann ([1905]). S. XXV. 44 Beaujour (1965). S. 337.

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Verdacht folgte, es sei dazu prädestiniert „à transmettre des idées métaphysiques“45, wird es im Folgenden gehen.

45 Marquis d’Hervey-Saint-Denys [1876]. S. LIII.

4 Das Fremde (nicht) verstehen (wollen)

Der gewählte Zeitraum dieser Arbeit verlangt eine Rechtfertigung. Nicht aus Gründen, einen weiteren Beitrag zur andauernden Diskussion um Grenzdaten einer „literarischen“ oder „künstlerischen Moderne“ zu leisten, sondern auf Grund der Verteidigung einer durch die Arbeit zwangsläufig konstruierten Homogenität in Denkrichtungen einzelner Intellektueller zwischen 1890 und 1920. In einem Zeitraum, in dem sich verschiedene Kunstrichtungen herausdifferenzierten, aber ständig im Austausch und in Abgrenzung voneinander existierten, in der literarische Programme wie die Fontanes, Hauptmanns, Schnitzlers und Kafkas nebeneinander bestanden, erscheint die vage Umschreibung eines Fin de Siècles noch am ehesten ein ausreichender Begriff, die disparaten Schreibstile, Ideenkonstrukte und Kunstrichtungen zusammenzufassen. Mit der naturalistischen Schule entstand am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts ein Nullpunkt der Literatur; eine durch die Totalisierung der wissenschaftlich-empirischen Wiedergabe von Realität nicht weiter zu entwickelnde Evolutionslinie schien erreicht (soweit man wie einige Naturalisten die Kunstepochen in Analogie an Darwin evolutionär betrachtet). So musste sich die Poesie, die im Gegensatz zur aufgekommenen Photographie die Variable x niemals aus der Gleichung mit der Natur tilgen werden kann, unter einem naturalistischen Paradigma selbst auflösen und die (verfrühte) Prophezeiung Hermann Bahrs trat gegen Ende des 20. Jahrhunderts deutlich zu Tage: „Der Naturalismus ist entweder eine Pause zur Erholung der alten Kunst; oder er ist eine Pause zur Vorbereitung der neuen:

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jedenfalls ist er Zwischenakt“ 1 . Diese „Übergangsbewegung“ 2 der „inquiétude“3 führte um die Jahrhundertwende zu disparaten künstlerischen Experimenten und der Suche nach neuen Idealen, die an die Stelle des naturalistischen Paradigmas der Abbildung treten konnten und führten zur Brechung mit jeglichen traditionellen Formen der Kunst. Doch nicht eigentlich die künstlerisch-epochale Abgrenzung des gewählten Zeitraums als „Moderne“ erscheint problematisch, sofern die Probleme der Homogenisierung und Konstruktion von Geschichte bewusst bleiben. Vielmehr erfordert die komparativ zusammengestellte Schnittmenge grob dreißig Jahre heterogener Aussagen über China und Japan – genauer, über ihre Schriftsysteme – eine ausreichende Begründung. Leibniz’ umfassende Beschäftigung mit der „maniere d’ecriture mysterieuse“4, Rousseaus Schrift der „peuples barbares“5 oder Herders berühmte Definition Chinas als „balsamirte Mumie, mit Hieroglyphen bemahlt und mit Seide umwunden“6, können dabei als wissenshistorische Quellen freilich nur mit Flüchtigkeit betrachtet werden. Die eigentliche Begründung des Zeitraums liegt weniger in einem – nicht vorhandenen – Gleichklang literarischer, ästhetischer oder sprachphilosophischer Verknüpfungen mit den Phantasmen, die an das führende lo-

1

Bahr, Hermann: Die Überwindung des Naturalismus. In: Hermann Bahr: Die

2

Dessoir, Max: Das Kunstgefühl der Gegenwart [I.]. In: Westermanns illustrierte

3

Da sich Derridas Begriff auf die Auflösung sprachlicher Theoreme in der

Überwindung des Naturalismus. Dresden u. Leipzig 1891. S. 156. deutsche Monatshefte. Bd. 80, H. 475 (1896). S. 80. sprachkritischen Wende stützt, erweist er sich hier abstrahiert auf die mit Sprache spielende Literatur anwendbar. 4

Widmaier, Rita: Gottfried Wilhelm Leibniz: Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689-1714). Hamburg 2006. S. 318.

5

Rousseau, Jean-Jacques: Essai sur l’origine des langues. Ou il est parlé de la

6

Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.

mélodie et de l’imitation musicale. Bordeaux 1970. S. 57. Dritter Theil. Riga u. Leipzig 1790. S. 20-21. / Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Martin Bollacher et al. (Hrsg.): Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden. Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hrsg. v. Martin Bollacher. Frankfurt am Main 1989. S. 438.

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gographische Schriftsystem Ostasiens gebunden sind. Vorwiegend beruht die Abgrenzung in der plötzlichen Wiedererweckung eines Interesses, das mit Aufklärern, mit Leibniz, Bouvet und „Voltaire, der noch als sinophil galt“, aber bereits die „nächste Stufe der Abwertung“ 7 philosophischer Chinoiserien einleitete, knapp zweihundert Jahre zuvor größtenteils verloren ging. Die Technisierung Europas im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts, die Nationalisierung der einzelnen Staaten, die weltpolitische Lage sowie die Vereinigung der deutschen Länder 1871 mischten die geopolitischen Karten neu und eröffneten für deutschsprachige Autoren einen neuen Zugang zur Auseinandersetzung mit China und Japan.8 Zugleich fallen in den gewählten Zeitraum der Arbeit zwei historische Momente: Zum einen die kurze Periode deutscher Kolonialpolitik unter Wilhelm II. mit dem Aufbau des „Interessengebiets“ Tsingtao (Qīngdǎo)/Kiautschou (Jiāozhōu) und des frühzeitigen Verlustes 1914; eine Zeitspanne, die vielleicht präziser nach Susanne Zantop als Momente der Einlösung lang gehegter Kolonialphantasien bestimmt werden sollte.9 Zum anderen die politische und mediale Etablierung des erst wenige Jahrzehnte zuvor geöffneten Japans als Weltmacht durch die erfolgreichen Kriege gegen China und Russland.

7

Hsia, Adrian: Chinesien. Zur Typologie des anderen China in der deutschen Literatur mit besonderer Berücksichtigung des 20. Jahrhunderts. In: Arcadia. Bd. 25, H. 1. (1990). S. 48.

8

Der konservative Graf Barby aus Fontanes Der Stechlin kontrastiert bspw. den Niedergang der Vatikanischen Macht mit den sich erhebenden fernöstlichen Reichen: „Ob es glückt, ein Nilreich aufzurichten, ob Japan ein England im Stillen Ozean wird, ob China mit seinen vierhundert Millionen aus dem Schlaf aufwacht und, seine Hand erhebend, uns und der Welt zuruft: ‚Hier bin ich‘, allem vorauf aber, ob sich der vierte Stand etabliert und stabilisiert […] – das alles fällt ganz anders ins Gewicht als die Frage ‚Quirinal oder Vatikan‘. Es hat sich überlebt.“ – Fontane, Theodor: Der Stechlin. Berlin 21899. S. 182.

9

„Wie das Beispiel Deutschland zeigt, konnten tiefsitzende kolonialistische Wünsche für imperialistische Ziele mobilisiert werden, da sie sich in der Imagination eingenistet hatten, lange bevor staatlich sanktionierte Expansion überhaupt in Betracht gezogen werden konnte. Der Phantasie-Kolonialismus ging dem eigentlichen Imperialismus voraus; auf Worte folgten Taten. Am Ende holte die Wirklichkeit die Phantasie nur ein.“ – Zantop, Susanne M.: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770-1870). Berlin 1999. S. 20.

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Selbstverständlich sind auch „harte“ geopolitische Daten in der Sphäre der mit ihnen interferierenden Kunst nur Hilfskonstruktionen, um polyphon-heterogene énoncés miteinander vergleichen zu können und uneinheitliche Geschichte narrativ zu kontrollieren. Demnach sind anachronistische Exkurse im Folgenden, sofern sie den einzelnen Textanalysen sowie der Fragestellung der Arbeit zuträglich sind, unabdingbar. Erst aus wirkungsmächtigen Schriften wie denen Hegels, Herders oder Nietzsches erklären sich exotistische10 China- und Japanbilder, philosophische Sprachkritik oder literaturästhetische Experimente. Und oftmals verdichten sich erst durch historische Distanz in späteren Werken Ideen und Reflexe zahl-

10 Der Begriff „exotistisch“, der in der Literaturwissenschaft keine einheitliche Verwendung aufweist, soll hier in Abgrenzung zum allgemeineren „exotisch“ verwendet werden, da er sich meist speziell auf eine begrenzte Zeitepoche der Novität eines erschwinglich werdenden Welttourismus um und kurz nach der Jahrhundertwende bezieht. Er beschreibt kein eingängiges poetisches und epochales Paradigma, sondern ist ein Amalgam aus neuerfahrenen Motiven und sozialen Interessen an geopolitischen wie ethnologischen Entwicklungen und Forschungen, das mit dem Medium der Kunst in einen Dialog tritt. Es soll damit keine wertende Kategorisierung unternommen werden, wie sie beispielsweise Volker Zenk (Zenk, Volker: Innere Forschungsreisen. Literarischer Exotismus in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Oldenburg 2003.) entwirft. Michael Mayers These in „Tropen gibt es nicht.“ Dekonstruktionen des Exotismus folgend, „dass Exotismus in den literarischen Texten [um 1900] permanent selbst reflektiert und dekonstruiert wird, indem diskursive eurozentrische Wahrnehmungsmodi aufgegriffen und poetologisch ad absurdum geführt werden“ (Mayer, Michael: „Tropen gibt es nicht.“ Dekonstruktionen des Exotismus. Bielefeld 2010. S. 12.), lässt sich gut mit der materiellen Dimension tatsächlicher Reiseerfahrungen der Autoren verbinden. Es ist kein zwingend bewusster Akt, der in der poetischen Verklärung einer Reise in die Fremde aufgegriffen wird, der aber stets die schreibende Instanz aus seinem eurozentrischen Bewusstsein heraus lokalisieren musste. Deutlich wird dies am Beispiel Karl May wie es in dieser Arbeit Erwähnung findet. Sein Werk bis zur eigenen Orientfahrt 1899/1900 speist sich aus stereotypen und wissensimperialistischen Bücherbildung und erfährt nach dieser existentiellen Reiseerfahrung des Autors mit Et in terra pax eine komplette Umkehrung.

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reicher Denker einer vergangenen Epoche, die sich vermehrt über ein avantgardistisches Paradigma definierte. So können 1930 die deutschsprachigen Gebiete auf einige Jahrzehnte intensiven Interesses und fortgeschrittener Auseinandersetzung mit dem Osten des asiatischen Kontinents zurückblicken. In diesem Jahr erscheint Willy Seidels Die Himmel der Farbigen, eine Kompilation exotistischer Erzählungen und Märchen aus Malaysia, Indonesien, Samoa oder Ägypten, die auf eine im Vorwort erwähnte Weltreise des Autors rekurrieren. Seidel schreibt sich selbst ambivalent als narratives Ich ein und fügt den fiktionalen Texten ein selbstreflexives Essay zum Exotismus in deutscher Literatur hinzu. Dort stellt Seidel fest, „daß das Moment des Exotischen dauernd als Bestandteil der Literatur […] gepflegt wurde“ (S. 140)11 und in unregelmäßigen Abständen der europäischen Kunstgeschichte verstärkt hervortritt. Der „heutige exotische Roman […] als ein seinem Wesen und seiner Tendenz nach scharf umrissenes Gebilde [setzte] mit den Werken des Dänen Johannes V. Jensen und des Angloinders Kipling“ (S. 142) ein. Seit „der jungen Erwerbung auswärtiger Interessengebiete“ (S. 143) konnte mit Max Dauthendey, Norbert Jacques und Bernhard Kellermann eine Generation deutscher Autoren entstehen, die mit einem „spezifischen Wert deutscher“ (S. 144) Dichtung dem europäischen Kolonial- oder Exotismusroman (für Seidel sind diese Begriffe synonym) zu neuer Blüte verhalfen. Der Sinologe Rolf Trauzettel kommt zu einer ähnlichen, generalisierenden Zeitachse in seiner Definition des Exotismus als intellektuelle Haltung: „Mit anderen Worten, das eigentliche Exotische erschließt sich nur als historisches Phänomen: Es taucht im achtzehnten Jahrhundert auf, kristallisiert sich zu oszillierenden Gestalten im neunzehnten Jahrhundert, bis daß es in unserem Jahrhundert fortschreitend und unaufhaltsam verdirbt und verkommt.“12 Trauzettel arbeitet heraus, wie gerade um 1900 die Literatur des Exotismus es sich zur Aufgabe macht, das Exotische in seiner Schöpfung gegenüber einer empirisch arbeitenden Ethnologie durch die Restituierung eines magisch-poetischen Schleiers zu bewahren.

11 Seidel (1930). 12 Trauzettel, Rolf: Exotismus als intellektuelle Haltung. In: Wolfgang Kubin (Hrsg.): Mein Bild in deinem Auge: Exotismus und Moderne; Deutschland – China im 20. Jahrhundert. Darmstadt 1995. S. 3.

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Passend dazu ist in Seidels Die Himmel der Farbigen als erste fiktionale Erzählung der didaktische und ästhetisierende Monolog Weltflucht zu Ayer-Itam platziert. Im Kek-Lok-Si-Kloster im malaiischen Penang erklärt eine nicht genauer identifizierbare Erzählinstanz – dass es sich dabei um eine autobiographische Reisefigur „Willy Seidel“ handeln könnte, wird erst in der dritten Erzählung Der Spion des Fürsten ausgesprochen – in erzieherischer Manier den Anblick der heiligen buddhistischen Stätte. Gerichtet ist der Monolog an eine stillschweigende „Freundin Isabella“, ein junges, neugieriges und wahrscheinlich europäischen Mädchen, das zu Beginn mit der undefinierbar alten Tempelschildkröte verglichen wird. Dieses zur Satire verkommene Tier wird in ihrem Alter mit dem Leben Siddharta Gautamas, dem biblischen Schöpfungstag und dem Ursprung chinesischer Schriftzeichen verknüpft. „Verlange nicht, daß ich Dir die roten Charaktere deute, die auf dem Panzer der Alten gepinselt sind“ (S. 11), heißt es da und verweist deutlich auf die 1899 im chinesischen Anyang entdeckten Orakelknochen und deren Ausgrabungen, die auf Schildkrötenpanzern die ersten, über drei Jahrtausende alten chinesischen Schriftzeichen zu Tage brachten, und gerade in der Zeit zwischen 1928 und 1937 von globaler Bedeutung wurden.13 Damit war das chinesische Zeichensystem als das älteste noch verwandte schriftliche Kommunikationsmedium etabliert, mit dem sich von nun an mehrere Jahrtausende orientalische Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte verknüpften. Die Schildkröte repräsentiert in der Erzählung das Symbol des ewigen Lebens, das zur Langeweile und Einseitigkeit mutiert ist, und wird der jungen Isabella kontrastiv gegenübergestellt: „Und es wird Dir lieber sein, bald zu enden, aber fröhlich und produktiv, als Dich sehr lange, in Entenfutter eingepökelt, von Generationen halbgewandeter Mönche in einem Buddhistenkloster verehrt zu wissen … Nein; Du bist kein Aushängeschild für Lebensflucht.“ (S. 12) Neben der negativ konnotierten Langlebigkeit bergen die Mauern des buddhistischen Klosters jedoch noch eine zweite Version von Unsterblich-

13 Schon 1901 verweist der Sinologe August Conrady in Joseoph Kürschners später thematisierten Buchpublikation China, dass die „Erfindung“ der Schrift mythisch „ins 3. Jahrtausend v. Chr.“ gesetzt werde, „die Chinesen mindestens im 18. vorchristlichen Jahrhundert, vermutlich früher, eine schon einigermaßen entwickelte Schrift besessen haben.“ – Kürschner (1901). T. I, S. 295.

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keit, eine, die das europäisch-barocke „Alles ist eitel“ (S. 13) Gryphius’ zu umgehen vermag. „Der Gedanke an Wiedergeburt ist in diese Seelen gesunken wie ein unverrückbarer Stein“ (S. 13), heißt es, und dass der Anblick dieser Räumlichkeiten ein Trost für jeden Greis vor seinem Ableben sei. Denn an ihnen lässt sich das Ewige in den kulturellen und künstlerischen Errungenschaften erkennen. Die Statuen, die Bauten, die artifiziellen Gärten, all dies sind die ewigen, überdauernden Dinge, die dem Menschen, trotz seines veränderten Ichs nach der Wiedergeburt „im Rad der Dinge, tausendfach neu vermummt“ (S. 14), Halt geben. Die Kultur überdauert das Individuum, genau wie die schwärmerische Entität der „nackten braunen Malaienkinder“ (S. 13), die in europäischer Perspektive als Naturvolk klassifiziert und nicht zufällig mit Tauben und Tieren verglichen werden. Denn sie existieren unentwegt für den Betrachter unverändert als entindividualisierter Schwarm wie die „Hummelfliegen“ (S. 14). Es ist die Kultur und die bewusste Wahrnehmung von Kultur – denn das grenzt die Erzählinstanz und Isabella von den „naturvölkischen“ Malaienkindern und den Laienmönchen ab – durch die „das alte Übel“ (S. 14), das Sterben und Geborenwerden, das buddhistische punarbhava, nicht bedrohlich für die westliche Leserschaft, nicht als Tod des Individuums wirkt, sondern befreiend, ein Darüberhinaus, das auch als „neu vermummt[e]“ (S. 14) Wiedergeburt eine Anbindung an eine kulturelle und zeitüberdauernde Menschheit ermöglicht. An diesem Punkt treten erneut die „roten Charaktere“ (S. 11) auf dem Schildplatt der sarkastisch eingeführten Schildkröte hervor. Das alte Tier, das der Erzählinstanz ein Bindeglied zur Zeit „des Schöpfungstages“ (S. 11) ermöglicht, trägt auf ihrem Panzer das wirkungsmächtige Symbol einer überdauernden Hochkultur. Wie die Ausgrabungen zu Anyang zu Seidels Zeiten bewiesen, sind die chinesischen Logogramme das weltweit älteste noch erhaltene Schriftsystem und beweisen am deutlichsten die Fähigkeit zum Fortbestand kultureller Produktion des Menschen. Die Schildkröte ist „ein wandelndes Memorandum des Lieben Gottes.“ (S. 11) Ein gängiger Topos (populär-)wissenschaftlicher Veröffentlichungen in Europa, der gerade in Texten der Jahrhundertwende vermehrt auftritt, ist die Verknüpfung der chinesischen Schriftzeichen mit der ostasiatischen Kunst und in Folge der Anyang-Funde eine Analogiebildung historischer

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Entwicklung von Schrift und mimetischer Kunst. So schreibt der Kunsthistoriker und -kritiker Curt Glaser in Die Kunst Ostasiens: „Die Schrift selbst ist in ihrem Ursprung nach eng verbunden mit bildender Kunst, und in dem ideographischen System der Ostasiaten bleibt dieser Zusammenhang noch in später Zeit offensichtlich gewahrt. In Ägypten gleichwie in Ostasien löst sich von den ersten Versuchen der Darstellung der Objekte der umgebenden Welt auf der einen Seite die Schrift. Die Bilder der Dinge werden zu konventionellen Zeichen abgewandelt, die nur mehr der Mitteilung unter Kundigen dienen. Auf der anderen Seite entwickelt sich eine Form der Wirklichkeitsdarstellung, die durch zunehmende Bereicherung an der Beobachtung entstammenden Zügen auch dem Uneingeweihten ein lesbares Bild geben will und wie die Schrift ihre vornehmste Aufgabe in der Überlieferung der großen Geschehnisse an die kommenden Geschlechter der Menschen findet.“14

Seidels Erzähler und seine Begleiterin gehören nicht zu den „Kundigen“ der „konventionellen Zeichen“ und erfassen in der Betrachtung der lackierten Schildkröte nicht die lesbare Aussage, sondern lediglich die Darstellung einer kulturellen Praxis an einem Ort, der im höchsten Maße als religiös-künstlerischer Raum aufgeladen ist. Kultur und Schrift sind im Phantasma Ostasien untrennbar miteinander verwoben, sodass sich die Rezeption von Gemälden nicht anders gestaltet als das Lesen eines Textes aus Logogrammen: „Mit einem feststehenden Formenbesitz arbeitet der Künstler, er schreibt eine Bilderschrift, deren Lesbarkeit in ihrer Anschaulichkeit beruht. Die Bildteile sind fest geprägt wie die Worte, als Teile einer Rede.“15 Der Erzählinstanz zufolge sei die transzendente Imagination des Jenseits in der Kulturlandschaft des Tempels bereits erkennbar. In seiner Betrachtung finde der sterbende Greis den befreienden Anblick auf eine Welt, in der auch das neugeschaffene Individuum nach der Wiedergeburt Halt finden und zugleich Bezugspunkte zu seinem früheren Leben erkennen könne. Die menschliche Kultur konserviert Gedächtnis, sie bildet Entitäten und sie stabilisiert den Menschen trotz seiner radikalen Individuation.

14 Glaser, Curt: Die Kunst Ostasiens. Der Umkreis ihres Denkens und Gestaltens. Leipzig 1913. S. 19. 15 Ebd. S. 40.

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Es findet sich in Willy Seidels Weltflucht zu Ayer-Itam eine für Industrialismus und Exotismus typische Verwendung des Kulturprodukts Literatur als die Instanz, die dem zur isolierten Individualität verdammten Menschen den Weg zu einem Gefühl der Sinnhaftigkeit in einem menschlichen Gruppengebilde zu zeigen vermag. Es ist der fernöstliche Glaube an die Wiedergeburt, der hier im Verbund mit der zeitüberdauernden Wirkungsmacht der Kulturprodukte für ein westliches neubarockes Weltschmerzempfinden – „Alles ist eitel; nur zu Gast sind wir bei den Dingen“ (S. 13) – funktionalisiert wird. Und das Zeitlose ist der treibende Gedanke der Erzählungen aus Seidels Buch Die Himmel der Farbigen mit dem Untertitel Ein Bilderbuch aus zeitlosen Weltwinkeln. Verhandelt wird die Macht der Zeitüberdauerung und die damit verbundenen Ängste, Gefahren, Hoffnungen und Chancen. Die Natur nimmt dabei vor allem in der ersten Erzählung Weltflucht zu Ayer-Itam eine nur marginale Rolle ein, denn sie wird in Anklängen an die Stilrichtungen der Décadence von der wirkungsmächtigen Kultur des Menschen verdrängt. In ihr findet sich kaum die Hoffnung auf einen sinnhaften Kosmos, in dem der moderne Mensch sich fest verorten kann. Sie verkommt zu einem Beiwerk. Als „Summton des Windes in der Gongscheibe“ (S. 14) und dem zuletzt genannten „lila Doldenstrauch, von Hummelfliegen umbraust“ (S. 14), ist sie in ihrer Wertigkeit der massiven Kulturschau des Tempelgeländes untergeordnet. Die chinesischen Logogramme verfallen in Seidels Erzählung zu einem funktionalisierten Dekor, dessen kulturhistorische Verweisstruktur durch das in Europa verbreitete sinologische Wissen bei der Leserschaft erkannt werden konnte. Das kreierte Ostasien der exotistischen Novellen ist dabei ein durch Wissen beherrschbarer Raum, der keine Gefahr kultureller, rassischer oder geistiger Vermischung beherbergt, sondern stets das fremde Andere bleibt. Seidel, der 1933 das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“ bereitwillig unterzeichnete, verdeutlicht mit seinen Erzählungen folglich den fließenden Übergang eines poetischen Interesses am Exotischen in eine ideologisch konzipierte Kunst. Als Willy Seidel seine Erzählsammlung 1930 veröffentlichte, hat bereits eine weitgreifende Transformation im Umgang mit und im Wissen über Ostasien stattgefunden. In nicht einmal hundert Jahren hat sich das einst verschlossene und rückständige Inselreich Japan zur Weltmacht erhoben, China und Russland besiegt sowie erfolgreich auf Seiten der Entente gekämpft und wird – wenn auch weiterhin Denunziationen ausgesetzt –

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1919 nach Paris zur Verhandlung des Versailler Vertrags eingeladen. Im Rahmen der europaweit um sich greifenden Japonismen Ende des 19. Jahrhunderts entsteht ein neues Interesse am gesamten ostasiatischen Raum. China rückt durch die anmaßende Politik der Kolonialmächte immer mehr in den Fokus von Journalismus und Wissenschaft und wird bar jeder dekadenten Rokoko-Chinoiserie in Zeiten des deutschen Kiautschou, der Boxeraufstände sowie des ersten Weltkriegs erneut Referenzpunkt der Kunst. Im Jahrbuch der Münchner Orientalischen Gesellschaft schreibt Hugo Grothe bereits im Juli 1903: „Der chinesisch-japanische Krieg, die deutsche koloniale Bethätigung in Kiautschou, die Ostasienreise des Prinzen Heinrichs, die Aufstandswirren in Peking und den centralen Provinzen haben einen ganzen Schwarm von Publikationen gezeitigt, vom dickleibigsten Bande bis zur knappesten Agitationsschrift“16. Dieses sich über wenige Jahre erstreckende heterogene Feld von oftmals saisonalen Fremdbildern, rassischer, völkischer Ideologie, kolonialistischer Kulturhegemonie und ästhetischer Suche unverbrauchter oder vergangener Kunstideale soll nicht durch ein eigenständiges, das Hauptthema der Arbeit nur tangierendes Kapitel herausgearbeitet werden, sondern ergibt sich aus der Analyse der einzelnen Text-énoncés. Für China lassen sich die paradoxen literarischen Zugänge an Karl Mays wenigen Romanen mit Bezug zum sich immer weiter auflösenden Kaiserreich herausarbeiten und verdeutlichen die Abgrenzung des Betrachtungszeitraums durch die ihnen inhärenten Wandlungen. Die wenigen frühen Romane auf chinesischer Folie (Der blau-rothe Methusalem, Am Stillen Ozean) sowie die abschätzigen Darstellungen der „Han-Söhne“ in Der Schwarze Mustang stehen diametral dem humanistischen Menschlichkeitsideal des Reiseromans Et in terra pax von 1901 entgegen. Dieser aus der Erfahrung einer missglückten Weltreise Mays entstandene Text pazifistischen Grundtons einer idealen Verbrüderung Amerikas, Europas und Asiens fällt in die schwer zugängliche und späte „symbolische Phase“ des Populärautors und erschien zuerst in einem Kontext, aus dessen Interferenzen sich die Paradoxien eines China- und Ostasienbildes ablesen lassen, die den Anfang des in der Arbeit gewählten Zeitraums markieren.

16 Grothe, Hugo: Der Orient im Spiegel deutscher Literatur. 1901-1903. In: Beiträge zur Kenntnis des Orients. Jahrbuch der Münchner Orientalischen Gesellschaft. Bd. 1 (1902/03). S. 282-283.

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„Das chinesische Reich ist eine balsamirte Mumie, mit Hieroglyphen bemahlt und mit Seide umwunden; ihr innerer Kreislauf ist wie das Leben der schlafenden Winterthiere.“17 Was Herder derart bereits in der Hochphase der Aufklärung sowie dem Ende der ersten philosophischen Sinophilie vorformuliert, klingt aus heutiger Sicht wie eine Prophezeiung des Verhältnisses der imperialen Großmächte zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts niedergewirtschafteten Vielvölkerstaat. Drogenschmuggel, Kriege, Kolonisation, Korruption und ein dekadentes Herrscherhaus führten sowohl im Westen wie in Ostasien die allgemeine Meinung herbei, dass das glorreiche Land der sprichwörtlich gewordenen „Kaiser von China“ ähnlich dem ägyptischen Reich nur noch ein Schatten seiner einstmaligen Hochkultur sei. Gerade die von Herder in seinem Vergleich angestrebte Analogisierung vom pharaonischen Ägypten und dem China des großen Mauerbauers Qín Shǐhuángdì wird durch die scheinbar redundante Schrift unterstützt und findet ihr zeitgenössisches Äquivalent in den jeweiligen Kolonien. Eine nicht untypische Komparation, die sich seit Athanasius Kircher in der Idee herauskristallisiert hatte, China müsse wegen seiner Schrift eine Kolonie des alten Ägypten gewesen sein. Diese populär gewordene Ansicht vertraten Denker wie Corneille de Pauw in seinen Recherches philosophiques sur les Egyptiens et les Chinois von 1773 sowie zahlreiche Jesuiten in China; unter ihnen auch Leibniz’ Korrespondent Jean de Bouvet.18 Rousseaus im Essay sur l’origine des langues skizzierte Schriftevolution von der abstrakten Hieroglyphe zum phonetischen Alphabet wird in Herders Formulierung aufgegriffen und mit der Deutung versehen, dass die chinesischen Logogramme unzeitgemäß und in der Entwicklung und geistigen Reife der Menschheit rückständig seien. Daher entspringt auch im Rahmen von Humboldts komparatistischer Sprachwissenschaft die Denunziation des Chinesischen und damit gleichzeitig der chinesischen Kultur: „Wenn die Chinesen beharrlich die ihnen seit so langer Zeit bekannten Alphabete der Europäer zurückstoßen, so liegt dies, meines Erachtens, bei weitem nicht bloß in ihrer Anhänglichkeit am Hergebrachten, und ihrer Abneigung gegen das Fremde, sondern viel mehr darin, daß, nach dem Maß ihrer Sprachanlagen, und nach dem

17 Herder (1790). S. 20-21. / Herder (1989). S. 438. 18 Widmaier, Rita: Leibniz korrespondiert mit China. Der Briefwechsel mit den Jesuitenmissionaren (1689-1714). Frankfurt am Main 1990. S. 283.

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Bau ihrer Sprache, noch gar nicht das innere Bedürfnis nach einer Buchstabenschrift in ihnen erwacht ist. Wäre dies nicht der Fall, so würden sie durch ihre eigene, ihnen in hohem Grade beiwohnende Erfindsamkeit, und durch ihre Schriftzeichen selbst dahin gekommen seyn, nicht bloß, wie sie jetzt thun, Lautzeichen als Nebenhülfe zu gebrauchen, sondern ein wahres, vollständiges und reines Alphabet zu bilden.“19

Diese vorherrschende Meinung über die Logogramme, die eigentlich längst wie die ägyptische Kultur, mit der sie in irgendeiner Verbindung zu stehen scheinen, hätten untergegangen und in ein phonetisches System übertragen sein müssen, dominiert zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Das „Statarische“20 des Kaiserreichs und seiner „ungeschichtliche[n] Geschichte“21 wird von den meisten großen Denkern des Jahrhunderts in der impraktikablen Schrift gespiegelt. Die deutschen Jugend-, Kolonial- und Kriegsromane um die Jahrhundertwende machen sich diese populär gewordene Ansicht mehrfach mit Hilfe der zum Kitsch und Dekor verkommenen Chinoiseriemode in denunziatorischer Weise zu Eigen. Spätestens seit der Aneignung von Kolonialgebiet in China 1898, der gesamteuropäischen Kunstbewegung des Japonismus im neunzehnten Jahrhundert oder den Machtpräsentationen Japans tritt mit einem journalistischen wie literarischen Neu-Interesse an den ostasiatischen Reichen auch immer wieder das Motiv ihrer Schrift hervor. Deutlich wird, dass sich dabei Fragen der Fremde, des Schreibens, des kalligraphischen Malens und der Literatur ineinander verschränken; Themen, die (vielleicht ungewollt) das eigene Selbst weit mehr thematisieren als den vermeintlichen Bezugspunkt des Gegenübers. Die noch heute präsenten Ambivalenzen, die sich an die Phantasievorstellungen eines morphosyntaktischen wie logographischen Schriftsystems binden, sind bereits um die Jahrhundertwende ausformuliert. Wolfgang Struck hat beispielhaft herausgearbeitet, wie Titelzeichnungen kolonialistischer Jugendromane diese

19 Humboldt (51979). S. 82-83. 20 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Hermann Glockner (Hrsg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Bd. 11: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Stuttgart 41961. S. 163. 21 Ebd. S. 152.

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Ambivalenzen graphisch konkretisieren.22 Dieses Zusammenspiel paratextueller Illustrationen und narrativer Aneignung des Fremden lässt sich auch auf Texte anwenden, deren primärer Impetus sich nicht aus Kontrolle und Beherrschung des zu kolonisierenden Anderen speist. Max Dauthendeys exotistische wie impressionistische Novellen aus Japan Die acht Gesichter am Biwasee zieren in ihrer Erstausgabe lateinische Buchstaben, deren Type sich an Pinselstrichfolgen orientiert und den Namen des Autors als Silben vertikal positioniert. Die für den japanischen Holzschnitt typische Optik des Frontbildes sowie die Anspielung auf den Fujiyama vollenden das Bild. Im Text selbst sind zahlreiche Jugendstilelemente vorhanden, die sich fasziniert an den adaptierten chinesischen Logogrammen der Japaner abarbeiten. Der paratextuelle Moment, der „durch die Eigenschaften seiner Kommunikationsinstanz oder -situation definiert“23 wird, bereitet illokutionär seine Betrachter auf den fremdartigen Inhalt der folgenden Geschichten vor und verweist zugleich auf deren ästhetisierendes, harmonisierendes und verfremdendes Bild des Landes. Struck verweist darauf, dass sich im Falle der „Unlesbarkeit Chinas“24 die Verwendung orientalisierender Schrifttypen auf die Interpretation narrativer Komposition von Kolonial- und Kriegsromanen anwenden lässt. Beispielhaft arbeitet er an den Titelbildern des Adoleszenzromans Aus der Prima nach Tientsin sowie der Kriegserzählung Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau heraus, wie die „ikonographischen Zitat[e]“25 das in ihnen zur Schau gestellte Fremde sogleich überwinden, parallel wie es der Narration gelingt. Es geht um einen „Prozeß der Aneignung der Schrift. Das Fremde der chinesischen Zeichen, von deren Unlesbarkeit ja immer eine gewisse Beunruhigung ausgeht: man kann nie sicher sein, ob nicht irgendeine ungewollte Bedeutung, irgendein unkontrollierbarer Hintersinn darin inkorporiert ist, dieses Fremde ist hier tatsächlich nur noch dekorative Ausgestaltung einer problemlos – und ohne jeden Hintersinn – lesbaren lateinischen

22 Vgl. Struck (2010). S. 122-140. 23 Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main u. New York 1989. S. 15. 24 Struck (2010). S. 136. 25 Ebd. S. 132.

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Schrift. […] Es wird über China geschrieben, es öffnet sich aber kein Raum, in dem China sich manifestieren könnte.“26

Eine vergleichbare Ausgangssituation findet sich bei der Betrachtung des Anfangs von Karl Mays chinesischem Abenteuerroman Kong-Kheou, das Ehrenwort, der zuerst 1888-1889 in Wilhelm Spemanns „illustrierter Knabenzeitung“ Der Gute Kamerad in Fortsetzungen veröffentlicht wurde. Ein wöchentliches Journal, das sich aus Literatur und didaktischen Wissenschaftsberichten zusammenstellt und, wie im Titelkopf überdeutlich nachgezeichnet, für ein junges, männliches Modellpublikum geschrieben ist, das sich für Schach, Jagd, Agrarkultur, Werken und Lesen interessieren soll. Der Titel des Romans, der 1894 in Buchform Der blau-rothe Methusalem heißen wird, beinhaltet in seiner Erstveröffentlichung zusätzlich zwei (pseudo-)chinesische Zeichen, die die geographisch thematisierte Fremde ebenso repräsentieren wie den (pseudo-)ethnologischen Anteil der Erzählung. Die erste begleitende Federzeichnung visualisiert die komische und leitmotivische Aufstellung der Protagonisten, die einer Zeremonie oder einer Marschformation gleich, sich stets aus der Führung des Hundes, dem pfeiferauchenden Burschenschaftler Methusalem und seinem Wichsier Gottfried „Bouillon“ in der dienenden Nachhut zusammensetzt. Der erste Blick fällt direkt auf den chinesischen Mann und seinen von einem Drachen verzierten Laden und erst später auf die abgebildeten europäischen Passanten, die das Bild und damit den Beginn der Handlung nach einer kurzen mentalen Exkursion ins ferne China wieder nach Deutschland verlagern. Die frei erfundenen chinesischen Schriftzeichen – ein Kontext, der dem Zielpublikum entgehen musste –, die den Anfang jeder Lieferung in Der Gute Kamerad begleiten, führen die vornehmlich angesprochenen Jungen vor ihrer Lektüre bereits zurück in die abenteuerliche Welt Chinas, in die Karl May seine Protagonisten schickt. Zugleich symbolisieren sie die Hybris des Autors, ein adäquates Bild der Kultur zu bieten, das sich auf rassische und negative Stereotypen bezieht, die ihm die Radebeuler Bibliotheksbände vermittelten. Sie täuschen ein Wissen vor, das der Verfasser nicht nachweisen konnte. Sie evozieren Faszination und bildlich-graphisches Eintauchen in die exotische Umgebung, die der „Verfasser von

26 Ebd.

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‚Der Sohn des Bärenjägers‘, ‚Geist der Llano estakata‘“ 27 diesmal als Schauplatz ausgewählt, studiert und eventuell sogar bereist hat. Der Gute Kamerad trägt mit kleinen kriegswissenschaftlichen oder ethnologischen Beiträgen wie über die Chinesische Mitrailleuse28 das Übrige dazu bei, die literarische Handlung Karl Mays ethnologisch zu authentifizieren. Kong-Kheou, das Ehrenwort bzw. Der blau-rothe Methusalem sowie eine beinahe identische Passage aus Am Stillen Ozean sind die ersten Texte Mays, die ihre Handlung nach China verlagern. Die beiden Romane reihen sich nahtlos in die Kolportagen- und Abenteuerromane des Erfolgsautors ein und entlarven sich schnell als Produkte eines rezeptionsorientierten Schreibens. Episodisches Erzählen auf der plakativen Bühne exotischer Orte, fremde Sinneseindrücke und phantastische wie „typisch männliche“ Gefechte überfordern die jugendliche Lesergruppe sowohl inhaltlich als auch rhetorisch zu keinem Moment. Die standardisierten Themen von Schatzsuche, Adoleszenz und gleich doppelter Familienzusammenkunft bilden das Makrogerüst des Kong-Kheou, bieten dem exzentrischen Protagonisten sowie seinen klischeehaften Gefährten Chancen zur individuellen Bewährung und ermöglichen es zudem nebenbei noch ganze Bevölkerungsmassen von China dank scholastisch-ethnologischen Wissens vor innenpolitischen Katastrophen zu bewahren. Der Protagonist ist, wie so typisch für Karl May, ein Sonderling, der jedoch aufgrund seines enormen Buchwissens und dank seiner Sprachfähigkeiten zielsicher durch das feindlich-auftretende China zu manövrieren vermag – zumal er mit dem beobachtenden Blick des Ethnographen das Land besser versteht als seine Bewohner. Dass auf dem Weg zur Hebung des Schatzes, der Vereinigung mehrerer Familien, der Einhaltung des Kong-Kheou und der bestandenen Bewährungsprobe des jungen Richards der Pfad durch das fremde Kaiserreich eine Reise durch Stereotype und imperialistische Typenbezeichnungen ist, kann nur wenig überraschen. Ein Wissensimperialismus lässt sich deutlich erkennen, der sich mit Freuds den „Wilden“ attestierten und den „Zivilisierten“ noch inhärenten Annahme verbindet, dass wenn man den „Namen einer Person oder eines Geistes

27 May, K[arl]: Kong-Kheou, das Ehrenwort. In: Der Gute Kamerad. Spemanns Illustrierte Knaben-Zeitung. Jg. 3, No. 1 (1888). S. 1. 28 Vgl. [o.A]: Chinesische Mitraillieuse. In: Der Gute Kamerad. Spemanns Illustrierte Knaben-Zeitung. Jg. 3, No. 46 (1888). S. 725.

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weiß, […] man eine gewisse Macht über den Träger des Namens erworben“29 hat. Dieser Machtanspruch des Bezeichnenden über das Bezeichnete visualisiert die Verflechtung von Wissen und Macht über das Andere. Es waren demnach auch primär imperialistische und interkontinental-ökonomische Gründe für die Gründung der Asiatischen Seminare an deutschen Universitäten zu Zeiten des Wilhelminischen Kaiserreichs.30 Beinahe jedes negative und durch ethnographische Fachliteratur (aus Mays Hausbibliothek) verifizierte Klischee, das den Chinesen anhaftet(e), wird rezipiert und auf der diegetischen Ebene der Handlung verifiziert. Noch deutlicher als in Kong-Kheou, das Ehrenwort tritt dies im direkten Vorgänger Der Kiang-Lu (später in den Roman Am Stillen Ozean eingefügt) hervor, während dessen Handlung sich herausstellt, dass alle erwähnten Chinesen Teilnehmer und Anhänger einer kriminellen Organisation sind. Eine Ausnahme bilden lediglich zwei junge chinesische Christinnen, die wegen ihrer Religion von ihren Landsmännern angegriffen wurden und durch den Protagonisten Old Shatterhand aus christlicher Nächstenliebe gerettet werden. In den maskulinen, allwissenden Protagonisten findet sich noch das bekannte Schema der literarischen Realitätskorruption „Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand“31, der neben der fingierten Doktorwürde in Ermittlungen auch fälschlicherweise auf einen gleichwertigen Status in China

29 Freud, Sigmund: Totem und Tabu. In: Anna Freud et al. (Hrsg.): Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Bd. IX: Totem und Tabu. Frankfurt am Main 31961. S. 101. – „Man darf nicht annehmen, daß die Menschen sich aus reiner spekulativer Wißbegierde zur Schöpfung ihres ersten Weltsystems aufgeschwungen haben. Das praktische Bedürfnis, sich der Welt zu bemächtigen, muß seinen Anteil an dieser Bemühung haben. Wir sind darum nicht erstaunt zu erfahren, daß mit dem animistischen System etwas anderes Hand in Hand geht, eine Anweisung, wie man verfahren müsse, um Menschen, Tiere und Dinge, respektive ihrer Geister, Herr zu werden.“ Ebd. S. 96-97. 30 Vgl. König (1920). S. 347-348 und Franke (1968). 31 Vgl. Niehaus, Michael: Was heißt hier Ich? Die Ich-Funktion in Karl Mays Und Friede auf Erden!. In: Dieter Sudhoff u. Hartmut Vollmer (Hrsg.): Karl Mays Und Friede auf Erden!. Oldenburg 2001. S. 191.

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hinwies. 32 Im Rahmen der Figurenlogik, die den Protagonisten mit dem allumfassenden Wissen einer Privatbibliothek ausstattet, werden die chinesischen Logogramme („Krikelkrakel“) zum Dekor der Fremde karikiert: „‚Unsinn. Das sind doch keine Buchstaben, also keine Worte.‘ ‚Buchstaben hat der Chinese nicht, sondern Zeichen. Das erste Zeichen ist der fünfundachtzigste Schlüssel der chinesischen Schrift, besteht aus einer senkrechten Linie, zwei krummen, divergierenden Halbdiagonalen und zwei Quasten an denselben; es ist das Zeichen für Wasser. Das zweite Zeichen besteht aus– ‚Um des Himmels willen, halten sie ein! […] Mir brummt der Kopf schon von diesem einen Zeichen. Wie viele solcher Zeichen hat denn eigentlich die chinesische Schrift?– ‚Wohl achtzigtausend– ‚Alle guten Geister--! Da lobe ich mir unsre Schrift mit den wenigen Buchstaben!– ‚Aber Sie, der Sie so ausgezeichnet chinesisch sprechen, sollten wenigstens die zweihundertvierzehn Schlüssel dieser Sprache kennenlernen!– ‚Wozu der Schlüssel, wenn ich gar nicht hinein will in die Schrift! […]‘“33

Der kurze Dialog findet zwischen dem Methusalem und der Narrenfigur Kapitän Frick Turnerstrick statt, einem selbsternannten Kosmopoliten, der behauptet, sämtliche Sprachen der Welt zu beherrschen, indem er an deutsche Wortstämme lokale Suffixe anhängt: „Sie werdeng doch hoffentling Chinesisch verstehang! Ich lasse nur den reinsteng und feinsteng Dialekting hörung. Verstanding?“34 Der selbstsichere Gestus Methusalems wird durch die kontrastierende Dialogstruktur verstärkt und verdeutlicht die Notwendigkeit und damit die Macht von Wissen über die Fremde. Nur wer die auch noch so merkwürdigen Voraussetzungen der anderen Kulturen begreift, kann sich ihrer auch erfolgreich distanziert nähern; was in Karl Mays Kolportagen- und Abenteuerromanen bedeutet, sie weitestgehend zu be-

32 Lebius, Rudolf: Die Zeugen Karl May und Klara May. Ein Beitrag zur Kriminalgeschichte unserer Zeit. Reprint der Ausgabe Berlin-Charlottenburg 1910. Lütjenburg 1991. S. 18. 33 May, K[arl]: Kong-Kheou, das Ehrenwort. (Fortsetzung). In: Der Gute Kamerad. Spemanns Illustrierte Knaben-Zeitung. Jg. 3, No. 10 (1888). S. 147. 34 May, K[arl]: Kong-Kheou, das Ehrenwort. (Fortsetzung). In: Der Gute Kamerad. Spemanns Illustrierte Knaben-Zeitung. Jg. 3, No. 11 (1888). S. 163.

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herrschen. Da es sich entgegen der edlen wilden Indianer, denen Old Shatterhand in Amerika begegnet, bei den Chinesen nur um dekadente, diebische und verlogene Räuber zu handeln scheint, verändert sich auch die, in Der schwarze Mustang gezeichnete, Denunziation der „Himmelssöne“ wenig, von denen es bereits in Der Girl-Robber heißt, sie „verdien[en es] vollständig,“ die „Jude[n] des Ostens genannt zu werden.“35 Diese kaum verwunderlichen Befunde der aus heutiger Sicht fragwürdigen Texte lassen sich als Voraussetzung dafür anführen, dass Karl May 1900 als gewinnversprechendes Zugpferd von Joseph Kürschner auserwählt wurde, einen Abenteueroman zu dessen umfassendem Buchprojekt China. Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern der Weltpolitik beizusteuern. 1901, kurz nach den Boxeraufständen, also auf dem Höhepunkt des allgemeinen – größtenteils feindseligen – Chinainteresses Deutschlands, erschienen, gibt sich die beinahe achthundert Seiten umfassende Prunkausgabe, verziert mit aufwendigen Karten, Kunstblättern sowie 716 Illustrationen, als Medium für „die Volksgenossen weitester Kreise“ (Vorwort, o.P.)36 und wurde als solches ein großer Erfolg.37 Bezeichnend heißt es im Vorwort:

35 May, Karl: Der Girl-Robber. Ein singhalesisches Abenteuer. (Fortsetzung). In: Deutscher Hausschatz in Wort und Bild. Jg. VI (1879/80). S. 74. 36 Kürschner (1901). – Im Folgenden entsprechen die römischen Ziffern den jeweils separat nummerierten Teilen. Der erste Teil befasst sich mit „Land und Leute“, der zweite mit „Die Wirren 1900/1901“ und der letzte enthält „Erzählendes u. A. aus und von China.“ 37 Vgl. dazu: Plaul, Hainer: Hermann Ziegler/Joseph Kürschner: Briefe über Karl Mays Roman Et in terra pax. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft. Bd. 13 (1983). S. 146-196. Hier v.A.: S. 191-192.: „Unter der Voraussetzung, daß die vorsichtige Absatzerwartung Ziegers (30000-40000 Exemplare) in etwa eintraf, daß der Umfang der Bestellungen auf die 1. Lieferung (fast 20000 Exemplare) in Bezug auf alle weiteren Hefte konstant blieb, daß die Voraussage Natges (30000 Exemplare und mehr) nicht zu hoch gegriffen war, und daß auch von der Breslauer Buchhandlung Lück mindestens einige tausend Exemplare vertrieben wurden (wozu sonst eine weitere Mitdruckausgabe?), dürfte der Gesamtabsatz des ‚China‘-Werkes und demzufolge auch von ‚Et in terra pax‘ auf gut 100000

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„Die Kenntnisse Chinas, auf dessen Boden deutsches Blut geflossen ist, auf dem sich deutsche Kräfte regten und in erhöhtem Maße regen werden, an dessen Küste der deutsche Aar zum Segen des Vaterlandes einen ‚Platz an der Sonne‘ fand – die Kenntnisse dieses Landes erschließen und erweitern, den Verlauf der ‚Wirren‘, vor allem den deutschen Anteil an ihnen zu schildern – das hat sich das vorliegende, gemeinverständliche Buch zur Aufgabe gestellt.“ (Vorwort, o.P.)

Damit sind die Grundtendenzen der Textsammlung in ihrem Kern definiert, die auf überdeutliche Weise den von Edward Said hervorgehobenen Zusammenhang von Culture and Imperialism offenbaren.38 Sie präsentiert das Bild eines niederen, anmaßenden, gewaltbereiten und dekadenten Landes, das sich erdreistet hat, sich gegen den „imperialistischen Segen“ und damit gegen die „Vereinigten acht Staaten“ (Japan, Frankreich, Deutschland, USA, Österreich-Ungarn, Italien, Großbritannien und Russland) zu erheben, und so denunziert, bekämpft und niedergeschlagen werden musste. Dabei wird, wie allgemein gängig, die aufständische Partei der Boxer mit der gesamten chinesischen Bevölkerung parallel gesetzt. Dass der deutsche Chinaeinsatz bei der Niederschlagung des Boxeraufstandes und „Befreiung“ Pekings kaum von Bedeutung war, spielt dabei keine Rolle. Dementsprechend ist das Frontbild gestaltet, in dem der Titelschriftzug in einer kalligraphisch-anmutenden Schrifttype orientalisiert und von der Abbildung eines schockierten Chinesen begleitet wird. Er ist auf gelbem

Exemplare zu beziffern sein.“ Ein beträchtlicher Wert bei den kostspieligen Gebühren von 25 Mark für den kompletten Band. 38 Kultur von Said verstanden als „Quelle der Identität“ (S. 15) und damit potentiellem Raum der Xenophobie und gleichzeitig als Kommunikationsraum, der autonom „gegenüber dem ökonomischen, sozialen und politischen Sektor“ (S. 14) zu stehen scheint. In diesem Zuge treten in vielen Kulturprodukten imperialistische Tendenzen auf, die sich vor, während und nach den kolonialen Zeitaltern verschiedener Staaten herauskristallisieren. Diese Kunst ist ein aktiver Teil der Gesellschaft, aus ihr entstehend und sie gleichzeitig festigend und folglich stets mit dem „imperialistischen Prozeß, dessen manifester und unverhohlener Bestandteil sie“ (S. 17) ist, verbunden. – Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt am Main 1994. [hier v.A.: S. 13-33.] / Said, Edward W.: Culture and Imperialism. New York 1993. [hier: S. XI-XXVIII.]

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Grund platziert, der von schwarzen Linien durchzogen wird, die Rauchschwaden, kartographische Baren oder Flusszeichnungen sein könnten, und betrachtet den zentralen Bildausschnitt: Ein Drache im Kampf mit vier Raubvögeln. Ein chinesisches Schwert und Schild sind blutüberströmt abgelegt und der symbolische Drache, der sich aus christlicher und chinesischer Symbolik, also aus tierischem Satan und ostasiatischem Gegnerimago zusammensetzt, befindet sich in einer verteidigenden und unterlegenen Haltung.39 Die Kriegsallegorie und gleichzeitige Einführung in die allgemeinen Tendenzen des Sammelbandes wird als Bild im Bild vom ängstlichen Chinesen betrachtet und wertet den Titelzug zugleich als Namensmarke des „gelben Landes“ und den Hintergrund als Landkarte um. Kürschners Werk wird präformiert als ein Buch, das viel Ungewöhnliches, Fremdes und Neuartiges vermitteln wird, so der Paratext, doch die Perspektive, der dargebotene Ausschnitt, hier repräsentiert durch eine rautenförmige Einfassung im Bildzentrum, verschreibt sich einem imperialistischen und pro-europäischen Blick. Der Sammelband versichert seiner Leserschaft bereits hier, dass er den allgemeinen Erwartungen gerecht werden wird, das Bild des „hinterhältigen und dekadenten Chinesen“ zu nähren und fortzuführen. Die auf den ersten Blick bedrohliche Frontzeichnung mit den seltsam verzerrten lateinischen Zeichen und den chinesischen Elementen entlarvt sich folglich als geschickt zu Gunsten des imperialistischen und militaristischen Blicks komponiert, wird jedoch auch für den letzten verunsicherten Leser in der folgenden, zweiten Titelzeichnung vollends redigiert. Der Ausruf „Seid einig“ prunkt an exponierter Stelle neben Zeichnungen der Gedenkstatuen Kurfürst Friedrich Wilhelms wie dem untergegangenen Kanonenboot Iltis, dem dominanten patriotischen Bezugspunkt der deutschen Chinaepisode.40 Die ausgerufene Einigkeit, das machen die angeführten

39 Die Ikonographie des satanisch-chinesischen Drachen gegen einen deutschen Adler oder bayerischen Löwen wird in zahlreichen Illustrationen im fiktionalen dritten Part des Sammelbandes aufgenommen. So als Rahmung des Gedichts China-Heerfahrt, als Dekor von Der alte Rutschke an seine Kameraden in China oder über dem Titel Die Schwaben in China. 40 Vgl. die populären Adoleszenzromane der Kolonialepoche wie Paul Lindenbergs Fritz Vogelsang. Abenteuer eines deutschen Schiffsjungen in Kiautschou oder Karl Taneras Aus der Prima nach Tientsin.

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Bilder überdeutlich, betrifft die imperialistischen Westmächte gegenüber einer ostasiatischen Fremde. Hermann Knackfuß’ Lithographie Völker Europas wahret eure heiligsten Güter fügt sich idealtypisch in dieses Bild des christlich geführten Bundes gegen die repräsentativ gelbe und buddhistische Bedrohung aus dem fernen Osten.41 Der Band ist in drei Lieferungen/Teile portioniert, von denen die vorderen zwei sich auf ethnographische, militärhistorische, geographische, philologische, juristische, soziologische und historiographische Genauigkeit berufen und ein Aufgebot berühmter Forscher und Militärs anzubieten scheinen.42 Beispielsweise findet sich darunter Konsul Ernst von Hesse-Wartegg, der bereits in den Neunzigerjahren durch seine weit rezipierten Reiseerzählungen und Untersuchungen aus China und aller Welt deutschlandweit Bekanntheit erlangte und dessen Werk China und Japan zu den Zeiten der Boxeraufstände eine zweite, ebenso erfolgreiche Auflage erreichte.43 Für die Kapitel über Sprache, Schrift und Literatur des Landes konnte Kürschner den namhaften Leipziger Universitätsprofessor August Conrady gewinnen und der zweite Abschnitt speziell über „Die Wirren 1900/1901“ prunkt mit Authentizität durch „A[lfred] v. Müller, Oberleutnant im 1. Hanseati-

41 Vgl. hierzu das im Band erschienene Gedicht Souvenir de Peking: „Denn Russ’ und Brite Hand in Hand, / Franzos’ und Deutscher Seit’ an Seite, / Dem gleichen Ziele zugewandt; / Das ist die schönste Kriegsbeute: / Die Siegesbeute der Kultur!“ nebst einer „Momentaufnahme“ von vereinten deutschen und französischen Soldaten über besiegten Körpern von Boxern. (T. III, S. 383/384) 42 Etablierte Wissenschaftler orientalischer Geschichte, Kunst und Kultur wie Hugo Grothe erkennen das teilweise fingierte Expertentum, wenn er im wissenschaftlichen Jahrbuch seiner „Orientalischen Gesellschaft“ „Veröffentlichungen wie ‚China, Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik‘, in welchen Mitarbeiter auftreten, die China nie gesehen haben, im trauten Verein mit Karl May und sekundiert von den Wippchen eines Julius Stettenheim,“ jedwede wissenschaftliche Qualität abspricht. – Grothe [1902/03]. S. 283. 43 Vgl. Hesse-Wartegg, Ernst v.: China und Japan. Erlebnisse, Studien, Beobachtungen. Leipzig 21900. S. V-VIII. sowie Detering, Heinrich: Anfänge einer modernen China-Rezeption in deutschen Kulturzeitschriften um 1900. In: Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 2009. Berlin u. New York 2010. S. 402-418.

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schen Infanterieregiment Nr. 75. Mit eingeschalteten Berichten zahlreicher Teilnehmer an dem Feldzuge, Erlassen, Reden, Depeschen, etc.“ (Inhaltsverzeichnis, S. XXIII/XXIV), also zuvorderst einem Soldaten eines Korps, das nie in Ostasien eingesetzt wurde, der sich jedoch schon mehrfach als Historiograph deutsch-kolonialer Kriege und Mission ausgezeichnet hat.44 Diesen vermeintlich sachlichen und strukturierten Informationskapiteln45 folgen zum Abschluss zahlreiche Erzählungen und Gedichte aus und über China, angeführt vom gewinnversprechenden Namen Karl May und seinem Roman Et in terra pax. Diese Übersetzungen und Texte, größtenteils aus Laienfeder, sind Versuch, eine germanophile Kriegseuphorie zu bedienen und diese literarisch und graphisch zu vermitteln sowie die chinesische Kultur und Bevölkerung auch künstlerisch zu diffamieren. Doch aufgrund der vorhergehenden „authentischen“ Kapitel sowie der zahlreichen militärischen Namen unter den literarischen Autoren wird „dem fiktionalen Anhang de[r] Anschein von Authentizität durch Assoziation“46 verliehen. Die Konzeption des Sammelbandes, die in ihrer Zielsetzung, ein chinafeindliches wie militärglorifizierendes Panorama zu erstellen, geradezu meisterhafte Vollendung (mit der Ausnahme Et in terra pax) erreicht, wird hier exemplarisch an signifikanten Thematisierungen und Darstellungen

44 Neben zahlreichen Ansprachen vor Kolonialvereinen über den Burenkrieg erschien 1900 beispielsweise sein Bericht Der Krieg in Süd-Afrika 1899/1900. 45 Dieter Sudhoffs Äußerung, dass es sich im ersten wissenschaftlichen Teil um durchaus ernstzunehmende und eben nicht tendenziöse Texte über China handele, ist nicht ganz so totalisierend zu übernehmen. Interessant ist jedoch seine Schlussfolgerung, dass der Grundton dieser Themenkomplexe größtenteils ohne imperialistischen Input auskomme, da die meisten der Autoren aus Österreich stammen und folglich mit der „deutschen Großmannssucht“ nicht direkt verbunden waren. – Vgl. Sudhoff, Dieter: Hunnen und Gentlemen. Wilhelminischer Imperialismus, Kolonialpolitik und literarischer Idealismus am Beispiel von Joseph Kürschners Sammelwerk China. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik und der pazifistischen Reiseerzählung Et in terra pax von Karl May. In: Literaturstraße. Bd. 2 (2001). S. 205-235. Hier: 216-217. 46 Yixu, Lu: Die Boxerbewegung in der Popularliteratur. In: Mechthild Leutner u. Klaus Mühlhahn (Hrsg.): Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901. Berlin 2007. S. 194.

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der chinesischen Schrift untersucht. Dazu werden aus dem ersten Teil die wenigen Worte zu „Sprache und Schrift“ des Leipziger Sinologen August Conrady, aus dem zweiten Teil Auszüge aus der Beschreibung „Die Wirren 1900/1901“ und aus dem letzten Teil die freie deutsche Übertragung Der Wandschirm miteinander verglichen. Es sei explizit erwähnt, dass es dem durchschnittlichen Leser des Bandes wohl kaum möglich gewesen war, den Authentizitätsgehalt der wissenschaftlichen wie literarischen Texte zu prüfen und er sicherlich nicht durch einige spiegelverkehrte oder falsche chinesische Zeichnungen irritiert wurde. Vielmehr erarbeitet sich der Textband durch seinen enormen Umfang, die Photographien wie Illustrationen und die namhaften Autoren eine uneingeschränkte Buchautorität, die auf dem deutschen Markt wohl kaum jemand ernsthaft angreifen konnte. Es ist ein prunkvolles Monumentalwerk auf neuem Terrain, wird als Populärschrift wissenschaftlich geradezu unumstößlich und befindet sich in behaglicher Sicherheit vor Kritik: „One may thus agree with Young’s [Young, Robert J. C.: Colonial desire. Hybridity in theory, culture and race.] implication that the authors considered here did not dictate a privileged image of China to a wholly passive readership, but rather, for sound commercial reasons, sought to mirror the reading public’s expectations.“47 Mit dem renommierten Orientforscher August Conrady hat Kürschner einen durchaus kapablen und überzeugenden Autor für die linguistische Passage gewählt. Er leistet einen sachlichen und wissenschaftlich überzeugenden Beitrag über „Sprache und Schrift“, der dadurch jedoch gleichzeitig die eigentliche Zielsetzung des Sammelbandes verfehlen musste. Conradys Schilderungen brechen nicht nur mit den gängigen Vorurteilen über Komplexität, Aneignungsschwierigkeit und (Un-)Nutzen der chinesischen Sprache und ihrer Zeichen, sondern beginnen mit der geradezu anmaßenden Behauptung, sie verkörpere „eine Entwickelungsphase, der viele, vielleicht die meisten menschlichen Sprachen entgegenwachsen; und keine andere Schrift ist ihrer Sprache so kongenial, so bis zum Ausschluß jeder anderen Schrift für sie geeignet, wie diese.“ (T. I, S. 289) Der generalisierende Entwicklungsanspruch dieser These stellt sich dem sozialdarwinistischen Bewusstsein eines imperialistischen Landes wie dem Deutschen Kaiser-

47 Yixu, Lu: German Colonial Fiction on China: The Boxer Uprising of 1900. In: German Life and Letters. Bd. 59 (2006). S. 92.

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reich diametral entgegen. Einem Bewusstsein, das auf vielfältige Art und Weise durch Kürschners Sammlung stets Verifizierung findet. Es stellt einen Affront gegenüber einer Kolonialpolitik dar, die sich durch ihr eigenes rassisches wie kulturelles Überlegenheitsgefühl dazu veranlasst, beauftragt und verpflichtet fühlt, vermeintlich minder entwickelte Kulturen zu dominieren. Conrady stellt sich mit den ersten Sätzen seiner Abhandlung als Freund der chinesischen Kultur dar – „Wie dem chinesischen Volke, so geht es auch seiner Schrift und Sprache: sie werden viel verkannt“ (T. 1, S. 289) –, fällt damit aus dem Rahmen der allgemeinen Rezeptionserwartung und wird wohlmöglich das linguistische Interesse seiner voreingenommenen Leserschaft im Keim erstickt haben. So sind denn auch die säuberlich gezeichneten Schriftbeispiele, die wahrscheinlich Conradys eigener Feder/eigenem Pinsel entstammen, auch beinahe die einzigen auf Anschaulichkeit zielenden Zeichen des Sammelbandes. Ihnen gegenüber stehen fast ausschließlich kalligraphische, sich ins Ornamentale verwirrende, illustrativ-phantastische Strichfolgen zur Anschauung und Emotionssteuerung. Über Conradys Ausführungen ist wenig zu sagen, da sie, seinen sinologischen Wissenschaftstiteln entsprechend, ausführlich und größtenteils sprachwissenschaftlich präzise sind. Er versucht nicht, wie vielleicht durch die Rahmung anzunehmen wäre, die Praktikabilität, das Alter und die Ästhetik der Logogramme hinter abschätzigen und eurozentrischen Bewertungen zu verbergen, sondern stellt konkret die Physiognomie der fremden Sprache dar. Es wird sogar eingestanden, dass sich im ostasiatischen Raum weit früher ein technologischer Buchdruck mit beweglichen Lettern entwickelt hat, als dies in Europa durch Gutenberg der Fall war. Gleichzeitig nährt Conradys Bericht auch das Gefühl der Fremdheit und des Unverständnisses der anderen Schrift, wenn er darauf hinweist, dass die Zeichen weit tiefgreifendere Aussagen als ihre bloße Phonetik oder eine einfache Semantik haben; so „erzählt uns diese anscheinend so stumme Schrift die Kulturgeschichte des alten Chinesen und daneben ein gutes Teil seiner Weltanschauung.“ (T. 1, S. 296) Dieses „uns“ bleibt sicherlich fraglich, da Conradys halbseitige Schilderung an plakativen Beispielen keine tiefgehende Erkenntnis des chinesischen Sprach- und Schriftsystems liefern kann. Es bleibt der naiv-euphorische Versuch eines faszinierten Wissenschaftlers, sein Forschungsobjekt an eine breite Leserschaft zu transportieren. Natürlich ist es strittig, ob sich das Interesse der Rezipienten für einen solchen linguistischen Abschnitt gegenüber den primär kriegshistorischen Berich-

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ten und fiktionalen Texten genügend entwickeln konnte oder ob Conradys erhoffte Einfühlung mit der chinesischen Kultur nicht eher von Beginn an vergebliche Mühe war. Aus Sicht der Herausgeberschaft ist der potentielle Schaden eines wissenschaftlich-fundierten Aufsatzes, der lediglich fünf Seiten in einem achthundertseitigen Band ausmacht, ungefährlich. Vielmehr trägt er zur Authentizität bei, da gerade durch seinen chinafreundlichen Grundton bewiesen scheint, dass der Herausgeber nichts Unsachliches verbreitet, auch wenn es gegen seine Zielsetzung ginge. Die gut einhundertdreißig Seiten humanistisch-pazifistischer Karl May Populärliteratur erweisen sich als weit größeres Problem für die Konzeption Kürschners. Dass den filigranen und exakten Schriftzeichen eines deutschen Sinologen kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird, verdeutlicht beispielsweise der Abschnitt über den Beginn der Boxeraufstände, der zweite Große Teil der China-Streitschrift. Bezeichnenderweise lautet der erste Satz: „Der innere Grund zum Ausbruch der China-Wirren war der Fremdenhaß.“ (T. II, S. 2) Diese Begründung bleibt auch die einzige Klärung, wie es zu den kriegerischen Ausschreitungen 1900 und 1901 kommen konnte und wird, im Einzelnen lediglich von einer kleinen Gruppe Aufsässiger und Korrupter initiiert, auf das Kaiserhaus selbst und schließlich auf das gesamte chinesische Volk übertragen. Im Zuge dieser Verschiebung treten auch explizit die Literaten hervor, „der sogenannte gebildete Teil des Volkes“ (T. II, S. 4), die dafür Sorge trugen, dass sich die revolutionäre Ideologie effektiv ausbreiten konnte. Diese fingierte anarchistische Revolution des gesamten chinesischen Volkes gegenüber ihren kolonialen Herrschern entwickelte sich im Narrativ in solcher Weise, „daß selbst die beteiligten Europäer und Kenner der chinesischen Verhältnisse vollkommen überrascht worden sind“ (T. II, S. 7). Die Lösung eines Problems oblag also nicht der Intelligenz, sondern allein der militärischen Gewaltausübung. An dieser frühen Stelle der Erläuterungen wird beiden kämpfenden Parteien jeweils ein erstes Antlitz von vielen Folgenden zugeteilt. Ehrwürdige, hochstilisierte Porträts ranghoher Militärs stehen im direkten Vergleich mit dem Abdruck heidnischer Totems. Die Boxer oder Chinesen – in Kürschners Band meist synonym verwendet – werden repräsentiert durch Abdrucke sogenannter Boxeramulette, Talismane, die den Trägern Unverwundbarkeit versprachen und bald zum medialen Schlagwort für mutmaßliche Dummheit und Aberglauben der chinesischen „Heiden“ auserkoren wurden. Die „Vereinigten acht Staaten“ und ihre militärischen Bemühungen werden durch ein längeres Zitat

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von Clemens Freiherr von Ketteler illustriert, dem deutschen Gesandten in Peking, dessen Ermordung 1900 den endgültigen Auslöser für den alliierten Angriff darstellte und in dessen Schicksal sich der gesamte Hass und die Kriegseuphorie der Deutschen kristallisierte. Folglich wird das ehrwürdige Zitat eines frevlerisch getöteten Adeligen mit der Abbildung blutbefleckter, heidnischer Fetische kontrastiert. Dieses ziert eine unleserliche und befremdende Schrift, die weit weniger mit dem traditionellen China assoziiert wird als mit den furchterregenden „Geheimorganisationen“; ein Schlagwort des Berichts. Denn gegen eine solche Gruppierung wie die Boxer lässt sich kein ehrenvoller und offener Krieg führen, sondern ein Konflikt dieser Art konfrontiert die Soldaten mit dem Untergrund, dessen Kommunikationsmittel den Schein des dämonischen und kodierten bekommen. Die vorgeschalteten wissenschaftlichen Bemühungen Conradys finden in einem solchen System keinen Platz außer in seiner (noch positiven) Betonung der komplexen Verweisstrukturen der alten Zeichen. Wenige Seiten später sind Abbildungen von Schriftzügen auf „Boxerfahnen“ und „Boxerzetteln“ in den Text eingefügt, wenn das harte und „ehrliche“ (T. II, S. 20) Durchgreifen des Militärs mit der Hinterhältigkeit der Boxer verglichen wird. „Meuchelmord und hinterlistiger Überfall bildeten die wichtigste Kampfart. Die Verwundeten und Gefangenen waren viel gefährlicher als der Gegner im offenen Gefecht, da sie von rückwärts die europäischen Soldaten anfielen und massakrierten. Natürlich wurden seitens der Verbündeten keine Gefangenen mehr gemacht, sondern alles rücksichtslos niedergemacht, was in den Weg trat. Wehe aber dem fremden Soldaten, welcher verwundet oder gefangen in die Hände dieses Mordgesindels fiel. Unter den grausamsten Martern, welche der menschliche Geist erfinden konnte, wurden sie hingeschlachtet und auch noch die toten Leiber geschändet.“ (T. II, S. 20)

Die verzerrten Abbildungen handschriftlicher und meist fiktiver chinesischer Logogramme, die diese Passagen begleiten, stehen im größtmöglichen Kontrast zu Conradys minuziösen Exempeln. Die Schrift hat in Kürschners Band ihre Existenzberechtigung als Drachenschweif-Ornament oder als floral-arabeske Verzierung, in der sie gezeichnet und nicht geschrieben wird. Als handschriftliches Kommunikationsmedium hingegen sind sie furchtgenerierende Chiffrierungspraxis eines dämonischen Unter-

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grundbundes, der im Geheimen operiert und als Gefahr für die Soldaten und die deutsche Kolonie anzusehen ist. Folglich treten sie im letzten, fiktionalen Teil des Werkes in den üppigen Illustrationen nur als Type lateinischer Buchstaben genau dann auf, wenn es sich um eine freie Übersetzung chinesischer Novellen handelt. Am Beginn der Erzählung Verloren und Wiedergefunden repräsentieren sie den – gewaltsamen – Aneignungsakt, der mit der Translation verbunden ist, die sich an keiner Stelle philologisch genau auf einen Ursprung oder gar auf die Namen oder Fähigkeit des Übersetzers bezieht. Die graphemischen Ornamente sind einleitend platziert und entführen die Leser ebenso wie bei Karl Mays Kong-Kheou in eine exotische, märchenhafte Welt. In dieser treten Alltagshelden in einfachen und standardisierten Handlungen auf und dem Leser wird meist en passant das lasterhafte, korrupte und heidnische Leben der Modellchinesen präsentiert. Es wird analog zur orientalisierten Schrifttype ein vertrautes und zugleich irritierendes, fremdes Szenario entwickelt, das aber immer einfach lesbar und so durchaus kontrollierbar bleibt. Und Kontrolle ist hier ein Hauptanliegen. Denn es gäbe für die Modellleser Kürschners wohl nichts derart Beunruhigendes als eine fremdartige Erzählung, die aus der Perspektive einer alten Hochkultur diese schonungslos loben würde und dadurch immer Kritik an der parallellaufenden eigenen Kultur üben müsste. So sind die chinesischen Novellen und Gedichte auf ein Minimum an Originalität reduziert und bedienen sich der gängigen, kindlichen Erzählmuster von Trivialmärchen, in denen simple Personen, deren Aussehen ihrem Auftreten entspricht, einfache Abenteuer erleben, die auf anthropologischen Momenten wie Liebe, Hass, Freude und Verzweiflung aufbauen. Jegliche Information über die Herkunft des fiktionalen Textes Der Wandschirm wird den Lesern vorenthalten, eine Nennung von Autor oder Übersetzer fehlt und es lässt sich lediglich dem Inhaltsverzeichnis entnehmen, dass es sich um eine „altchinesische Novelle“ handeln soll. Der Titel ist in den bereits erwähnten lateinischen Lettern kalligraphischer Type gesetzt und begleitet von einem rätselhaften, nicht im Kontext stehenden Bild von zwei chinesischen Putten vor einem typischen exotischen Hintergrund aus Pavillon und Lampions. Der Schriftzug Der Wandschirm ist beinahe bis zur Unkenntlichkeit typisiert, wird jedoch umgehend durch die große Frak-

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turinitiale – die einzige ihrer Art, die auf kalligraphische Type folgt – in seiner verfremdenden Wirkung eingedämmt. Die sogenannte Novelle besteht eigentlich aus zwei unzusammenhängenden kurzen Erzählungen über Frauenraub aus dem alten China. Zeitlich sind diese in den Dynastien der Song (960-1279) und der Yuan (12791368) verortet, also parallellaufend zum „märchenhaften“ europäischen Mittelalter. Berichtet die erste Handlung von der hinterhältigen Entführung der Frau eines Mandarins, die sich durch Zufall Jahre später ihrem Mann durch eine von ihr zubereitete Schildkrötensuppe zu erkennen gibt, folgt die zweite Erzählung dem gleichen Schema in einer weit ausführlicheren Manier. So ließe sich die erste als Prolog zur eigentlichen Anekdote mit dem Titel Der Wandschirm lesen, wobei der Übergang von den Worten gebildet wird: „Wir wollen jetzt die Geschichte einer anderen Frau erzählen, die ebenso das Opfer eines schmachvollen Verbrechens wurde, die sich aber, dank einem Wandschirme für das ihr angethane Unrecht rächen konnte.“ (T. III, S. 389)

Das auffordernde „wir“ gibt sich als Erzähler der Volksmärchentradition zu erkennen, der sich im direkten Kontakt mit seinem Publikum sieht und die dargebotene Geschichte weniger als sein Eigentum, sondern in romantischer Diktion als volkstümliches Gut anerkennt. Die Handlung ist trivial: Ein jungverliebtes Paar reist mit dem Schiff seiner neuen Zukunft entgegen und wird durch Banditen gewaltsam getrennt. Die flüchtende Frau kommt in einem buddhistischen Nonnenorden unter, der vermeintlich ertrunkene Mann rettet sich und wird aufgrund seiner Handfertigkeit beim Herstellen von „Schriftzeichen oder Aquarelle[n]“ (T. III, S. 389) als Hauslehrer angestellt. Erneut zusammengeführt werden die Liebenden durch ein Gemälde aus dem von den Banditen gestohlenen Besitz. Dieses erreicht zuerst das Kloster, wird von der trauernden Gattin um einige chinesische Verse erweitert und gelangt schließlich ins Haus des wohlhabenden Mäzens des Mannes. Am Schluss stehen die glückliche Zusammenkunft, die Wiedererlangung der materiellen Dinge und des versprochenen Berufs als Mandarin sowie die tödliche Rache an den Räubern. Nicht nur der Gatte Tsui-Tsiuen, sondern auch seine Frau Uang besitzt eine überaus bemerkenswerte Handschrift, die zum strukturierenden Moment der Handlung wird. Die Schrift der beiden ist zugleich mit der graphi-

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schen Kunst und dem direkten Nutzen verbunden und wird in ihrer Polyphonie im Wandschirm repräsentiert, der Gemälde, Paravent und beschriebenes Dokument zugleich ist. Es ist eine Schrift, die sich an den gängigen Mythen orientiert: Sie ist einerseits ästhetisches Kunstwerk und zugleich so unpraktikabel, dass sie in verschiedenen Ständen unterschiedliche Verwendung findet: „Die Nonnen des kleinen Klosters kannten wohl ungefähr die Schriftzeichen, die in ihren Gebeten zur Verwendung kamen, doch sie waren außer stande, dieses Stück zu lesen und zu begreifen. Sie glaubten, die Novize habe ihr Talent zeigen wollen und suchten den Sinn der Worte nicht zu ergründen.“ (T. III, S. 395) Eine Schrift, die zugleich Kommunikationsmedium und künstlerische Graphik ist, trägt eine enorme Verunsicherung für die deutsche, das phonetische Alphabet gewöhnte Leserschaft in sich, die sich in der chiffrierten Botschaft Uangs manifestiert. Denn sich wie die Nonnen damit abzufinden, den Inhalt „der Worte nicht weiter zu ergründen“ (T. III, S. 395), das liegt wohl nicht im Sinne eines motivierten Rezipienten – vor allem nach der platzierten Praeteritio. Die Schrift als ästhetisches Werk wird automatisch mit dem Unbeschreibbarkeitstopos der Kunst beerbt und ist folglich trotz ihres semantischen Werts nie vollkommen lesbar. Hinter dem starren Sinn liegen ein, vor allem für außerchinesische Leser, nie zu erschöpfender Mehrwert, ein „geheime[r] Sinn“ (T. III, S. 396) und versteckte „Anspielungen“ (T. III, S. 400). Der Wandschirm wird zu einem Kommunikationsmedium, das lediglich zwei Menschen vollkommen beherrschen: Die Schreiberin und der Adressierte. Der Schriftzug wird derart kodiert, dass er den mysteriösen und furchterregenden Boxeramuletten näher steht als einer vermeintlichen Liebesbotschaft. Im Zuge dessen treten die der Erzählung beigefügten Illustrationen hervor, die eben solche Zeichen in den Vordergrund stellen. Sind diese im ersten Federstich direkt auf dem Wandschirm abgebildet, als der einsame Gatte ihn das erste Mal zu sehen bekommt, erscheint in der folgenden Darstellung ohne Kommentar oder Verbindung zum Text im Bildzentrum ein chinesisches Schriftgemälde. Klärt sich ersteres im Kontext der Handlung zumindest teilweise auch für die Leser, so komprimiert sich die Unsicherheit im zweiten Schriftzug: Es wird evoziert, dass die Kalligraphie in chinesischen Einrichtungen dekorative Funktion hat. Aber ließe sich nun noch daran glauben, dass es sich um reine Ornamente handele und nicht viel eher um einen Code der diabolischen chinesischen Geheimbünde? Es ist der Erscheinungskontext, der hier starken Ein-

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fluss auf die vordergründig einfache märchenhafte Novelle hat, die sich auch in der histoire als chinakritisch zu erkennen gibt.48 Was demnach in Kürschners China. Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern der Weltpolitik als ein komplexes paratextuelles Gewebe dargereicht wird, das sich aus der Lesererwartung speist und diese gleichwohl in nahezu idealer Weise erfüllt, entpuppt sich als ideologisch und durchaus ästhetisch kalkuliertes Gebilde. Dass die meisten der Texte dabei von zweifelhaftem „künstlerischen Wert“ sind und sich als dilettantische Schreibversuche von deutschen Militärs und Angehörigen des Klerus (die, wie es die Textautorität impliziert, aber nicht verifiziert, wohl scheinbar selbst in China tätig waren) erkennen lassen, spielt aus mehreren Gründen keine Rolle. Es sind Namen wie Karl May (Et in terra pax) und Felix Dahn (Bayrischer Hunnenbrief), die den gesamten literarischen Teil in seiner Rezeption zu erhöhen vermögen. Und es bleibt nicht zu vergessen, dass der informative Band primär Faktisches liefern möchte, eben Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. In einem solchen Programm finden literarische Texte, und vor allem solche, die chinesische Protagonisten anführen, ihre Rolle nur, indem sie quasi-faktisches Wissen mit bildungsbürgerlich-künstlerischen Ideen verbinden. Alle Erzählungen und Gedichte – Karl Mays Roman ausgenommen – zeichnen sich durch ein offen berechnetes Ziel in der Denunziation chinesischer Kultur und des chinesischen Volks aus, die „sich häufig in ästhetische Formen kleide[t]“49 und auf Basis komparativ erwähnter, europäischkunsthistorischer Normen funktioniert.50 Der Wandschirm, eine so dekla-

48 Wie auch bereits in den Kriegsberichten über die Boxeraufstände ausführlich formuliert, wird der juristische Betrieb der Nation denunziert, wenn dem geschundenen Ehemann nach dem Raub das Geld fehlt, „den Eifer der Unterbeamten“ (T. III, S. 397) anzufeuern. 49 Said (1994). S. 14. 50 Auch hier ist Sudhoff zu widersprechen, der in einigen literarischen Texten „Interesse und Sympathie für die chinesische Kultur“ (S. 221) geweckt sieht. Grade die von ihm als „harmlos“ (S. 222) bezeichnete Novelle Das Mandaringewand erweist sich offen als vernichtende Kritik an der dekadenten Kunst Chinas in der Parallelisierung mit der oberflächigen und verwöhnten Verlobten, die im Rausch der Farben und Formen chinesischer Kunst und Stoffe ihr wirkliches,

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rierte „altchinesische Novelle“ ohne genannten Autor, evoziert die eigenen literarischen und erzählerischen Mängel – wie die innere Inkohärenz zwischen den zwei Erzählungen oder dem stockenden Handlungsaufbau durch nachgeschobene Informationen – nicht in seiner Verfasserinstanz aufzuspüren, sondern in der minderwertigen chinesischen Kunsttradition.51 Die „altchinesische Novelle“ muss in der europäischen Genretradition, in deren Erbe die Bezeichnung sie stellt, zwangsweise durch ihre dilettantische Machart unterliegen. Es lässt sich fixieren, dass Kürschners Sammelband im Rahmen seiner Zielsetzung ein exzellentes Manifest darstellt. Die Faszination an der Fremde wird im Zuge des rassischen wie völkischen Hasses auf die „Drachenbrut“ 52 umgelenkt. Eben solch eine Faszination für die chinesische Schrift, die sich bei Autoren wie Döblin, Hofmannsthal, Kellermann und anderen positivistisch oder eskapistisch ästhetisch-philosophisch offenbart, wird bei Kürschner umgelenkt und transformiert zu einer Angst vor dem Fremden, einem geheimbündnerischen Anderen, das durch Abgrenzung die brüderliche Vereinigung Europas ermöglicht, wie es die Momentaufnahme zu Souvenir de Peking überdeutlich visualisiert. In diesem militärischen Kontext muss auch zwangsweise das Stereotyp des Unpraktikablen des chinesischen Schriftzeichensatzes Erwähnung finden. Denn ein Informationssystem, das als Geheimcode funktioniere, das an die langjährige Erziehung des chinesischen Kindes gebunden sei, also niemals, nicht einmal von profilierten Sinologen wie Conrady vollends erlernt werden könne, hat in Kriegszeiten die beunruhigende Bedeutung einer kulturell spezifizierten Enigma-Schlüsselmaschine. In dieser Funktion spiegelt die Schrift die Agitation, Leistung und furchterregende Hinterhältigkeit

prunksüchtiges Gesicht offenbart. Im krassen Gegensatz zu Mays Roman sind die restlichen fiktionalen Texte des Sammelbandes genau berechnet und von Kürschner als Kontrollinstanz ausgewählt worden. – Sudhoff (2001). 51 Vergleichbares in den vagen Titel- und Quellenangaben: Chrysantemen. „Eine altchinesische Blumengeschichte“, Der Bonze Kay-Tsang. „Eine altchinesische Novelle“, Verloren und Wiedergefunden. „Eine altchinesische Novelle“, Wahre Freundschaft. „Eine chinesische Erzählung“, Der Dämon. „Chinesische Novelle“ von General ***. 52 So der Titel eines Kriegsromans über die Boxeraufstände Eugen von Enzbergs von 1901.

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der im Dunkeln agierenden Boxerrevolutionäre und damit, dem Grundduktus des Bandes folgend, aller Chinesen wider. Gleichzeitig ermöglicht die Verklärung der Schrift als unbeherrschbar und undurchdringlich die Stabilisation der Abgrenzung des Selbst von etwas Fremdem ohne die Gefahr einer Vermischung. Kürschners China offenbart sich als ein derart homogen komponiertes Sammelsurium an ideologischen Statements, dass es von einer populären Außeninstanz schwerlich kritisch angegriffen werden konnte. Dazu benötigte es einen Text, der im nächsten Umfeld des Bandes von einem namhaften Autor erschien und eine in seinen Ansätzen vollständig konträre Meinung zur weltpolitischen Lage präsentiert. In dem Sinne etabliert sich die katastrophale Eigendynamik von Karl Mays Roman Et in terra pax, der die kohärente Struktur von Kürschners Projekt von innen her destruieren konnte. Kürschner formuliert seine Bedenken mit dem pazifistischen Text Mays – erst kurz vor dem Druck eingereicht, zu spät, um nun noch ausgetauscht zu werden – überdeutlich: „Karl Mays Reiseerzählung, die erst während des Erscheinens der einzelnen Lieferungen des Buches vollendet wurde, hat einen etwas anderen Inhalt und Hintergrund erhalten, als ich geplant und erwartet hatte.“53 (Vorwort, o.P.) Die direkt zu Beginn von Et in terra pax auftretenden chinesischen Gentlemen passen durch ihre geistreiche Redegewandtheit keineswegs in das Bild eines heidnischen und dekadenten Volkes, das sich in unehrlichen Kriegen gegen die imperialistischen „Befreier“ und „Förderer“ wehrt. Zusätzlich wird der scheinbare Antagonist und zu läuternde manische Charakter durch einen amerikanischen Missionar vertreten, der in Tobsuchtsanfällen die harte Faust Gottes und das Niederreißen heidnischer Tempel fordert.54

53 Vgl. dazu: Bartsch, Ekkehard: Und Friede auf Erden! Entstehung und Geschichte. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft. Bd. 3 (1972/73). S. 93-122. 54 Auffällig wenige Arbeiten der Karl May Forschung haben sich bis dato mit der Erstversion Et in terra pax beschäftigt. Die meisten Abhandlungen befassen sich mit der späteren, veränderten und erweiterten Buchversion Und Friede auf Erden! und erwähnen die frühere Ausführung nur mit einer staunenden und bewundernden Anmerkung über die pazifistische Aussage in einem imperialistischen Publikationsorgan. Die meisten der (vermeintlich) wissenschaftlichen Texte sind jedoch stark autorzentriert und nutzen das Werk zur Abbildung einer biographistischen Analyse. (Vgl. bspw. Ilmer, Walter: Karl Mays Et in terra

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Es werden die populären, selbstbewussten Chinareisenden eines Wissensimperialismus wie der blau-rote Methusalem und Old Shatterhand gewesen sein, die Kürschner dazu angeregt haben, Karl May für sein Buchprojekt als Autor zu gewinnen. Der für die Abenteuerromane so berühmte (meist ich-perspektivische) Sonderling, der auf der Basis seines enormen Buchwissens und dank seiner pfingstwundernden Sprachfähigkeit zielsicher durch das feindlich-auftretende China zu manövrieren vermag und dabei das Land besser versteht als seine eigenen Bewohner, verbindet den ethnographischen Teil von Kürschners China mit dem fundamentalen Wertekanon des Kriegsberichts. Die Möglichkeit einer solchen allwissenden Figur, um die herum die narrative Struktur der früheren Romane organisiert werden konnte, wird bereits zu Beginn von Et in terra pax in Frage gestellt. „Ich bin Sejjid Omar!“, lauten die ersten Worte mit der Initialmajuskel I: „Wie stolz das klang, und

pax. Hehres Anliegen im Zwielicht. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft. [Bd. 32] (2002). S. 57-66 oder Wollschläger, Hans: „Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt“. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jahrbuch der Karl-MayGesellschaft. [Bd. 3] (1972/73). S. 11-92.) Die vielfach zitierte psychoanalytische Charakteranalyse Karl Mays, die Hans Wollschläger Anfang der Siebziger primär an Und Friede auf Erden! herausarbeitete, hat sicherlich ihren Verdienst, so zweifelhaft einige Schlussfolgerungen über die Biographie des Autoren ausfallen. Dennoch handelt es sich eindeutig markiert um eine psychoanalytische Studie über einen Menschen – und eben nicht um eine literaturwissenschaftliche Abhandlung –, bei der das Werk zu einem Ausdruck des Unbewussten verkommt, aus dem man heute primär biographische Anhaltspunkte und „Urszenen“ ableiten könne. Dessen ist sich Wollschläger bewusst, jedoch die meisten ihn zitierenden Karl May-Forscher nicht. Sie überführen Theoreme aus der Charakterstudie in eine literarische Fragestellung und verringern so möglichen ästhetischen Mehrwert einzelner Texte zu Gunsten einer autorintentionalen und autorhistorischen Fragestellung. – Es erscheint überraschend, dass in einem Wissenschaftskorpus, der so überaus häufig auf die Erstpublikation eines Romans verweist, bisher nur zaghaft das paratextuelle Gewebe zwischen den einzelnen Texten von Kürschners Sammelband thematisiert wurde. Vgl. als Ausnahmen: Sudhoff (2001), Yixu (2006), Yixu (2007) sowie Struck (2012). S. 137-139.

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wie beweiseskräftig die Gebärde war, mit welcher er diese Worte zu sagen pflegte! ‚Ich bin Sejjid Omar,‘ das sollte sagen: ‚Ich, Herr Omar, bin ein studierter, schriftkundiger Abkömmling des Propheten, welcher der Liebling Allahs ist.[‘]“ (T. III, S. 1) Die für die Old Shatterhand Romane so prägnante Ich-Perspektive, die immer zugleich ein Spiel mit dem realen Autor Karl May oder Kara Ben Nemsi darstellt, rückt sich selbst paradigmatisch in den Hintergrund des pikaresken „Eselsjunge[n]!“ (T. III, S. 1) Der Protagonist hingegen tritt retardiert in seiner stetigen passiven Position auf: „Ich beobachte […], und wenn ich unten auf dem prächtigen Vorplatze des Hotels meinen Kaffee trank, konnte ich ihn sprechen hören.“ (T. III, S. 1) Aufschlussreich ist die komplexe und ambivalente Struktur einer erzählenden und schreibenden Ich-Instanz, die sich stetig zwischen realem Autor Karl May, fingierter textinterner Erzählinstanz und altbekannten Protagonisten der berühmten Abenteuerromane bewegt. Oder wie es Michael Niehaus ausdrückt: „So werden – seit der Trilogie Satan und Ischariot – die Hauptschauplätze Nordamerika und Vorderer Orient zusammengeführt und Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi als dasselbe Ich konstruiert, das mit dem Autor Dr. Karl May identisch ist. Wenn der Autor schließlich zu ‚Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand‘ wird, so ist dies nicht nur biographisch, sondern auch textlogisch das Ergebnis eines Rückkopplungseffektes.“55 Mit dieser späten Entwicklung im Werke Mays, folgt man Niehaus’ Ausführung, gehe einher, dass der mit dem realen Autor zunehmend personifizierte Erzähler sich der Autobiographie nähere, folglich passiver werden müsse und so seine „Figuralität einbüßt.“56 Die zwiespältige Position des Ichs, „eine empirisch-transzendentale Doublette gewissermaßen“57, entlarvt die erzähltechnische Schwierigkeit des literarischen „Karl Mays“58 aus Et in terra pax (wie auch der späteren Version Und Friede auf Erden) und ist gleichsam Lösung der Frage, warum sich der Protagonist im Gegen-

55 Niehaus (2001). S. 191. Zitation im Original. [Herv. i. O.] 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Auch Sejjid Omar kann als eine solche widersprüchliche Dublette von Hadschi Halef Omar gewertet werden.

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satz zu seinen literarischen Vorgängern so überaus passiv verhält: „Nicht mehr das ‚Ich‘ ist bedroht, sondern der Platz, den es besetzt hält.“ 59 Die Deutung des inaktiven May-Alter Egos aus Et in terra pax wird in der Forschung auf das autobiographische Moment und die desillusionierenden Erfahrungen der gescheiterten Orientreise zurückgeführt. „Die tatsächliche Reise hatte May in den Jahren 1899 und 1900 über Ägypten, den Libanon und Ceylon bis nach Sumatra geführt und in eine zunehmend melancholische Stimmung versetzt, die schließlich zum psychischen und physischen Zusammenbruch führte. May, so könnte man mutmaßen, macht offenbar aus seiner Orient-Reise etwas, was er den Protagonisten seiner Romane nie zugestanden hatte: eine Erfahrung, hier die Erfahrung einer Fremde, die die eigene Identität als Reiseschriftsteller, als Schilderer fremder Welten, in Frage zu stellen vermag. Er […] macht die Erfahrung, daß die Welt anders ist als jede noch so gut ausgestattete Bibliothek in Radebeul.“60 Der Abschluss dieser Erfahrung fällt mit einer retardierten, erst auf Seite 272 stattfindenden Rekonstitution des Ichs durch die Lüftung des Inkognitos zusammen: „Ich bin es.“ Die Relektüre der Erstveröffentlichung in Kürschners China ist in diesem Sinne besonders aufschlussreich und bietet in seinem komplexen Spiel aus Para- und Intertexten eine zusätzliche Semantisierung des Romans, die bei der Rezeption in Buchform des späteren Und Friede auf Erden zwangsläufig verloren geht. Den Text in seinem ursprünglichen Kontext zu betrachten gibt diskursgeschichtliche énoncés deutlich zu erkennen und führt durch seinen Publikationskontext stets das Verhältnis von Autor, Redakteur, Werk und Leser vor Augen. Das Paratext-Paradigma in seiner Verwendung soll jedoch nicht zu einer Hierarchisierung der einzelnen Texte führen, wodurch die Gefahr besteht, die anderen Beiträge in China als Umrahmungen von Karl Mays Et in terra pax zu verstehen und damit den eigentlich zu hinterfragenden Begriff einer Texteinheit erneut zu stabilisieren. Das, was Jurij Lotman als „besonderes Textgefühl“61 der journalistischen Erstpublikation versteht, wird zum kommunikativen Raum eines Textbandes (Kürschners China), in dem einzelne Beiträge in einen Dialog treten, der

59 Niehaus (2001). S. 190. 60 Struck (2011). S. 137-138. 61 Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt am Main 1973. S. 425-427.

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Synergien hervorzurufen vermag, die in der gebundenen Buchlektüre und der damit evozierten Werkeinheit zwischen den Buchdeckeln wegfielen. Zusätzlich schaltet sich durch die Bearbeitungsinstanz zwischen den zwei Textfassungen wieder ein selbstbewussterer Autor textkritisch ein, der mit der Buchversion Und Friede auf Erden einen gänzlich anderen Abschluss präsentiert, an dessen Ende wieder „der Radebeuler Bücherschrank“ „die Oberhand gewinnt“62. Die Handlung des Romans ist in vier eng miteinander verknüpfte Kapitel geteilt, die die typische Episodenstruktur der früheren Abenteuererzählungen größtenteils aufbrechen und ablösen. Die nicht exakt definierte Reisebewegung des Protagonisten Karl May führt ihn von Ägypten über Ceylon bis in das „Herz Chinas“, ein utopisches Projekt einer pazifistischen und multikulturellen Siedlung namens Ocama.63 Zufällige Reisebekanntschaften mit dem fanatischen Missionar Waller und seiner Tochter Mary sowie den geheimnisvollen und inkognito reisenden Chinesen Tsi („Sohn“) und Fu („Vater“) in Kairo werden zum Gliederungsaspekt des Reiseberichts, der alle anderen Geschehnisse der Orientfahrt ausspart. Die in Penang sich anschließenden englischen, hochadeligen Gefährten Gouverneur Bill und John Raffley vollenden die nach einigen Umwegen zusammengefundene Gruppe aus Europäern, Amerikanern, Chinesen und dem ägyptischen Diener Sejjid Omar. Zur Textkohärenz verhilft das Gedicht Tragt euer Evangelium hinaus, das der Erzähler in mythopoetischen Anwandlungen

62 Struck (2011). S. 138. – „Zwar scheint es so, als müsse er [das Erzähler-Ich Karl May in der Buchversion Und Frieden auf Erden!] noch einmal, wie einst Old Shatterhand oder Kara ben Nemsi, rettend eingreifen, als eine von internationalen Mächten beförderte Verschwörung das Idyll [Ocama] bedroht, doch löst sich letztlich die Gefahr auch ohne seine Hilfe auf. So kommt die Handlung schließlich völlig zum Stillstand zugunsten von dialogartig präsentierten Reflexionen über das Verhältnis von Völkern und Rassen. Dabei allerdings werden nicht nur eine ganze Reihe von Stereotypen fraglos übernommen […], es dominiert vor allem eine Perspektive, die […] wenig mit China zu tun hat, um so mehr aber mit deutschen Selbstbildern, die chinesischen Akteuren in den Mund gelegt werden, um sie als Verbündete im Kampf gegen eine als problematisch erfahrene Moderne zu gewinnen.“ (S. 138) 63 Ein spiegelverkehrtes (Wort-)Konstrukt zur sündigen, imperialistisch-definierten und dekadenten portugiesischen Kolonie Macao.

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dichtet und damit den kranken und fanatischen Missionar Waller von seiner „Psychose“ befreit. Dieser gerät im religiös-motivierten Wahnsinn zweimal in Lebensgefahr, indem er den Qur’an eines Mekkapilgers schändet sowie einen heidnischen Tempel in Malaysia niederbrennt und daraufhin zum Tode verurteilt wird. Mithilfe der Gefährten kann er jedoch beide Male gerettet werden. „Kräftiger Individualismus verbürgt beächtliche Chancen“64, schreibt Siegfried Kracauer in seinem Essay Über Erfolgsbücher und ihr Publikum, um die Begeisterung „der in Gärung geratenen bürgerlichen Schichten“65 zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts für die Bestsellerliteratur soziologisch herzuleiten (bzw. aus der Funktionsweise des Buchmarktes die neuen sozialen Schichten zu klassifizieren). Besagter fokussierter Individualismus fand sich noch in den früheren May Protagonisten und Romanen, die „wichtige, in einer hochindustrialisierten und hochbürokratisierten, von Entwurzelten bewohnten Großstadt sogar unersetzliche Funktionen aus[übten]. Der Zwang, sich in einer von rasanter regionaler und sozialer Mobilität geprägten Gesellschaft zu orientieren und sich dem neuen Milieu und den neuen Arbeitsverhältnissen in der Industrie anzupassen, der Verlust der alten Bindungen und Gewißheiten, die Vereinsamung und Erfahrungsarmut hatten ein akutes Bedürfnis nach Unterhaltung und Orientierung, nach psychologischem Ausgleich und kompensatorischen Erlebnissen hervorgerufen. Die Funktion, Sekundärerfahrungen und Informationen zu vermitteln, Orientierung und Lernvorgänge im fiktiven Rollenspiel zu ermöglichen, Sozialisierungsprozesse zu fördern und zu beschleunigen, die Funktion, Trost für die verlorenen Bindungen und Gewißheiten zu spenden, durch Identifikation mit fremden Schicksalen die Überwindung der eigenen Isolation realisierbar scheinen zu lassen

64 Kracauer, Siegfried: Über Erfolgsbücher und ihr Publikum. In: Inka MülderBach u. Ingrid Belke (Hrsg.): Siegfried Kracauer. Werke. Bd. 5,3: Essays, Feuilletons, Rezensionen. 1928-1931. Hrsg. v. Inka Mülder-Bach. Berlin 2011. S. 574. [Herv. i. O.] 65 Ebd.

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und nicht zuletzt Unterhaltung zu gewähren, all dies hatten zu einem guten Teil die massenweise produzierte Belletristik und der Kolportage-Roman übernommen.“66

Der männlich-christliche Bildungsübermensch namens Karl May, wie er in Et in terra pax die Position des Ich-Erzählers einnimmt und so die Geschichte seiner Reise pseudo-autobiographisch narrativiert, kann nur in der ersten Episode am Fuße der Sphinx noch aktiv durch sein Buchwissen die Situation für alle Anwesenden meistern und verliert sich danach hastig in einer passiven Beobachterposition, der lediglich das allwissende Lächeln, nicht aber die heldenhafte Tat bleibt.67 Wenn Wolfgang Struck diese Passi-

66 Martino, Alberto: Lektüre in Wien um die Jahrhundertwende (1889-1914). In: Reinhard Wittmann u. Berthold Hack (Hrsg.): Buchhandel und Literatur. Wiesbaden 1982. S. 392. 67 Die Position des heimlichen, besserwissenden Beobachters und Zuhörers wird meist diskret an einen Moment des Zufalls gekoppelt. Die bedeutende Rolle des Protagonisten für die Einzelschicksale der handelnden Figuren wird erst später erkenntlich, als dieser sich und seine deutsche Muttersprache offenbart. Um die Häufigkeit dieses Motivs deutlich zu machen, folgen die handlungstragenden Momente der diskreten Observation: „Ich beobachtete ihn gern von meinem Balkon aus, und […] konnte […] ihn sprechen hören.“ (T. III, S. 1) „[Z]wei Fremde, welche nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit, sondern auch die meinige auf sich zogen, obgleich ich mir das nicht so wie die anderen merken ließ.“ (T. III, S. 2-3) „Der Zufall war so gütig, mich schon am nächsten Morgen einen heimlichen Blick in diese Verborgenheit thun zu lassen. […] Dann hörte ich unter mir klopfen und bürsten. […] Dann wurde es still unter mir, doch verriet mir wiederholtes Räuspern, daß der Diener noch da sei.“ (T. III, S. 4) „Als ich mich setzte, hörte ich ihn in deutscher Sprache sagen:“ (T. III, S. 19) „Während ich das Menu studierte und also auf die Karte sah, hörte ich, daß der Missionar einen Ausruf des Erstaunens ausstieß:“ (T. III, S. 20) „Ein Weilchen war er still oder sprach wenigstens in so gedämpften Tone, daß ich ihn nicht verstehen konnte. Aber bald war er wieder so deutlich wie vorher geworden.“ (T. III, S. 29) „Nach Tische ließ ich mir den Kaffee, wie gewöhnlich, hinaus auf den elektrisch beleuchteten Vorplatz bringen und saß noch kaum einige Minuten da, als Waller und Mary das Hotel verließen, um einen Spaziergang zu machen.“ (T. III, S. 29) „Ich erfuhr, ohne die Absicht zu gehen, sie zu belauschen, daß die Miß von einem Ausgange zurückkehrte.“ (T. III, S. 38) „Weiter hörte ich nichts,

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vität auf die „Erfahrung [zurückführt], daß die Welt anders ist als jede noch so gut ausgestattete Bibliothek in Radebeul“68, gerät ihm der omnipräsente Habitus der gelassenen und analysierenden Position zum Geschehen aus dem Blick. Die Schockerfahrung aus Unsicherheit und Befremden, die May während seiner realen Orientreise gemacht haben soll, schlägt sich vielmehr in der strukturellen Schwäche der Ich-Figur nieder, die sich gleichzeitig, als Karl May, Schöpfer von Am Jenseits, Der Girl-Robber und Et in terra pax sowie als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi bezeichnet und die eigene schizophrene Stellung zu homogenisieren versucht. Anschauliches Moment dieses Paradoxons ist die Einführung von Sir John Raffley im dritten Teil des Romans. Eine fiktionale Figur aus einem anderen Textgefüge in die realanmutende Reiseerzählung zu integrieren sei im Konzept der Gleichsetzung von empirischem Autor, schreibendem Ich und Protagonist noch annehmbar. Aber ihre Konzeption unter Zuhilfenahme eines langen Zitats aus „Band XI“ (T. III, S. 162) von Mays „Gesammelten Werken“ zu fundieren entwickelt eine Textautorität des zitierten Romans und zugleich eine brüchige Homogenisierung des Werks Mays, dessen neuester, nun vorliegender Roman sich doch eigentlich so revisionistisch zu erkennen gibt. Verstärkt wird dieses narrative Dilemma noch dadurch, dass der explizit genannte Band Der Girl-Robber 1894 bereits als Kapitel des Reiseromans Am Stillen Ozean Wiederverwendung fand; prominent platziert in

oder vielmehr weiter wollte ich nichts hören.“ (T. III, S. 42) „Aber mein Tisch stand dem seinen so nahe, daß ich seine Worte hören mußte, wenn ich auch nicht wollte.“ (T. III, S. 42) „Während des Mittagessens wurde es mir nicht schwer gemacht, diskret zu sein, denn meine Nachbarn sprachen außerordendlich wenig.“ (T. III, S. 43) „Mein Raum lag auch hier zwei Treppen hoch, nicht nach der See oder nach der Straße, sondern nach dem Hofe zu […] und die Zwischenwände waren so schadhaft geworden, daß man oft weit mehr zu sehen bekam, als man eigentlich sehen wollte und auch sehen durfte.“ (T. III, S. 84-85) „Eben war ich mit diesen Zeilen fertig, als sich im Nebenzimmer rechter Hand ein Geräusch vernehmen ließ.“ (T. III, S. 98) „Die Räume hier oben hatten die Eigentümlichkeit, daß ihnen die Decken fehlten.“ (T. III, S. 108) „Als ich in meine Wohnung getreten war, hörte ich allerdings sofort, daß jemand über mir wohnte.“ (T. III, S. 159) „Nun hatte ich meinen John Raffley vorhin sofort an der Stimme erkannt“ (T. III, S. 165). 68 Struck (2011). S. 138.

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einem der zwei chinafeindlichen Texte Karl Mays. Die revisionistische Tendenz geht damit verloren und stellt zwei vollkommen konträre Konzepte von China in ein angeblich einheitliches Werk eines sich nie verändernden Erzählers/Autors. Die Textkonstitution bietet ein schwaches Lösungsangebot, indem sie das Problem in Sir John Raffley verlagert; der reiche Adelige, der „vor Jahren“ „nichts weniger als ein Bewunderer chinesischer Verhältnisse gewesen war“ (T. III, S. 164). Hier wird die temporale Deixis ambig zu einer (problematischen) werkinternen sowie zur textexternen, realen Zeitstruktur. Wenig später heißt es dann abermals, mit ähnlich mehrdeutiger Zeitangabe: „Der Governor war kein Freund der mongolischen Rasse das stand fest. Raffley war es früher auch nicht gewesen, schien aber seine Ansicht geändert zu haben“ (T. III, S. 168). Wenn dieser Adelige demnach durch ein früheres Zitat immer noch ausreichend beschrieben werden kann und sich nur eine Facette seiner Auffassungen geändert habe, so könne dies durchaus auch für den Erzähler Karl May, der ja gleichzeitig auch der Erzähler Old Shatterhand aus Am Stillen Ocean ist, zutreffen. Kann sich Karl Mays literarisches Alter Ego demnach in Et in terra pax nicht durch seine berühmten kühnen Abenteuer in fremden Kulturen bewähren, müssen andere Strategien entwickelt werden, seinen „kräftigen Individualismus“ zu präsentieren. Dies geschieht durch eine Verweisstruktur auf seine eigene Literatur(-produktion) und ein System von genieästhetischer Kunst, das „Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand“ nicht als Abenteurer, sondern als inspirierten Dichter symbolisch-aufgeladener Literatur preisen will. Die zentralen Verse Tragt euer Evangelium hinaus, die an die textkompositorische Stelle des Abenteurer-Ichs treten, fallen May nach einem Traum ein, in dem er die Begegnung mit dem fanatischen Missionar Waller verarbeitet. Dieser nimmt den späteren Tempelbrand durch die Raserei des Engländers vorweg und stellt dessen Fanatismus als schädlich für alle Religionen dar, „ohne die Christliche zu schonen.“ (T. III, S. 33) „Ich hoffte, bald wieder einzuschlafen, und schloß die Augen wieder zu, mußte aber gleich wieder an den Traum und seine zertrümmerten Tempel und Kirchen denken. Da stieg ein warnendes Wort und noch eins in mir auf; beide gestalteten sich zum Verse, dem sich ein zweiter, dritter und dann auch vierter gesellte; sie fügten sich zur gereimten, vierzeiligen Strophe zusammen, und ich stand auf, um sie niederzuschreiben.“ (T. III, S. 34)

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Langsam wach und „bewußt“ (T. III, S. 34) werdend versucht der Protagonist May noch weitere Strophen hinzuzudichten, wird aber vom „wohlbekannten Papa Morpheus“ (T. III, S. 34) eingeholt. An die Stelle des mythopoetischen Genies, das seine Verse aus unbekannter Quelle und ohne es beeinflussen zu können vernimmt, tritt der von selbst arbeitende Geist eines Übernächtigten. Dessen Gedicht bildet die „Summe“ (T. III, S. 34) der gezogenen pazifistischen Schlüsse des Vortags und sein Schöpfungsakt muss mit wachsenden Rationalisierungsversuch und „bewußt[er]“ (T. III, S. 34) Wahrnehmung harsch unterbrochen werden. Es ist irrelevant, ob sich der fingierte Vorgang des Dichtens hier an einen genieästhetischen oder psychoanalytischen Moment koppelt, da für beide Fälle der Autor die Instanz ist, der die Verse zugeschrieben werden müssen und die sich selbst als „Seher“ (T. III, S. 235) und „Prophet“ (T. III, S. 235) einer anderen, mythischen Welt inszeniert. In der einen Deutung ist er Sprachrohr und Katalysator einer fremd-vermittelten metaphysischen „Wahrheit“, in der anderen ist er Ort des Zusammenspiels komplexer Bewusstseinsphänomene. Dieser Besitzanspruch wird umgehend an der folgenden Episode verifiziert, in der der Erzähler seinem Diener deutlich macht, dass „alles, was [er] geschrieben habe, mehr wert“ (T. III, S. 35) sei, als das, was Omar verfassen könne. Ein zufälliger „Luftzug“ (T. III, S. 35) und Omars religiöse Ignoranz gegenüber nicht-arabische Schriftsystemen sind nun dafür verantwortlich, dass die des Nachts entstandene Strophe Mary in die Hände gespielt wird, bevor sich der Erzähler ihrer Worte bewusst werden konnte: „Das war mir fatal, denn ich konnte nun nachdenken, so viel ich wollte, so war es mir unmöglich, mich der Strophe so, wie sie gewesen war, genau zu entsinnen. Ich erinnerte mich zwar der Hauptgedanken, […] aber dieser Sinn wollte absolut nicht so leicht, ungezwungen und rein in die Reime fließen, wie er es in den verloren gegangene Zeilen gethan hatte.“ (T. III, S. 37) Wie es der die Erzählung strukturierende Zufall – eine Reihe von „ganz eigentümliche[n] Zusammentreffen von Umständen“ (T. III, S. 105) – nun so will, erfährt der Dichter bereits am Frühstückstisch durch das Gespräch der amerikanischen Kleinfamilie über den Verbleib seiner Verse. Natürlich „ohne die Absicht zu hegen, sie zu belauschen“ (T. III, S. 38). Es kommt zu einer komplexen Gegenüberstellung von Autor, Werk und Rezipient, bei dem verschiedene Positionen bezogen werden, und die schnell zum poetologischen Dialog wird. Waller stellt gleich zu Beginn mehrfach die für die

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meisten Leser bedeutendste Frage, die den empirischen Autor über seinen Text anordnet: „Wer hat sie [die Verse] geschrieben?“ (T. III, S. 38) Die Suche nach der Autorschaft markiert den Missionar als einen Mann der voreingenommenen Lektüre, wie es bereits durch die abschätzigen Worte über Karl May im Gespräch auf dem Mokattam deutlich wurde69 und wie es sein religiöser Fanatismus als wortgetreuer Hermeneut der Bibel visualisiert. Seine lesende Arbeit wird geleitet von einer eindeutigen, intentionalen Fragestellung. Mary antwortet auf die Frage, von wem sie die Verse erhalten habe: „Vom Winde!“ und eröffnet eine eschatologische Interpretation der schicksalshaften Kommunikationssituation, die ihr Vater auch sogleich mit dem passenden Bibelzitat verifiziert: „Er macht seine Engel zu Winden und seine Diener zu Feuerflammen.“ (T. III, S. 40) „Ob die Zeilen als Gedicht gut sind, das weiß ich nicht; ich bin kein Kritiker; aber der Inhalt ist für mich von Wert, und im Ausdruck liegt etwas, dem ich nicht widerstehen kann.“ (T. III, S. 40-41) Wallers „etwas“ ist mit dem Wind und der Engelsmetapher verbunden, die ihn an seine verstorbene Gattin, eine „Engelsseele“ (T. III, S. 104), erinnern. Dieser Engel wird zum Schutzmoment des geistig erkrankenden Missionars, von dem May in lichten Momenten der Humanität schreibt: „Es hatte ihn in diesem Augenblicke die Hand eines lieben, von allen Erdenstaube reinen Engels berührt, und solche Momente lassen nur dann die Spur der Engelshand zurück, wenn sie durch keine Störung unterbrochen werden.“ (T. III, S. 68) „Die therapeutische Wirkung“ des „poesiealbumhaften Dichterwortes“, das Wallers Wahnsinn kurieren wird, „beruht darauf, daß es in Verbindung zur weiblichen Position steht, die sowohl ihr Medium (in Gestalt von Mary) als auch ihre Referenz ist (in Gestalt ihrer Mutter).“70 Die elementare Stellung von Tragt euer Evangelium hinaus wird lesbar als eine Kommunikationssituation, in der die Funktion des empirischen Autors kulturbedingt überaus hoch angesetzt wird und für dessen Abwesenheit

69 „‚Weißt du, Vater, an wen ich jetzt denke?‘ sagte sie. ‚An Karl May. Ich habe seine drei Bände ‚Im Lande des Mahdi‘ gelesen, und - - -‘ ‚Lies nicht das dumme Zeug von diesem May!‘ unterbrach er sie rasch und schnarrend. ‚Dieser Schriftsteller hat nichts als Phantasie, und du weißt, daß mir seine weichliche Frömmigkeit widerwärtig ist! Wie kommst du dazu, grad jetzt an ihn zu denken?‘“ (T. III, S. 11) 70 Niehaus (2001). S. 197.

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eine Gegenstrategie entwickelt werden muss. Die religiöse Deutung der Lesenden hilft, die entstandene Leerstelle der fehlenden Schreiberintention zu füllen und die metaphysische wie heilende Wirkung der Kunst, die im Folgenden auftauchen wird, zu präfigurieren. Der autodiegetische Erzähler, Repräsentant eines klassischen Autor-Werk-Leser-Modells, tritt als Protagonist zurück in die belächelnd-allwissende Anonymität. Er selbst, dessen Leben „sehr reich an solchen Zufällen“ (T. III, S. 105) sei, markiert in einem knappen Exkurs seine Überzeugung, dass die Kategorie Zufall eine „Verlegenheitserklärung“ (T. III, S. 105) der Menschen sei, die Probleme mit dem Eingeständnis haben, dass es eine höhere, über sie waltende Macht gebe. Die temporäre Abwesenheit des Autors der Verse kann mit seinem alternativen Konzept von ästhetischer Kunst ohne den berühmten Namen Karl May nicht über die unumgänglichen Paradoxien der Figur des Protagonisten hinwegtäuschen. Ist er laut Medien selbst Kara Ben Nemsi, Old Shatterhand und alle seine Ich-Erzähler zugleich, wird sogar die Figur des Sir John Raffley aus „Band XI [s]einer gesammelten Werke unter dem Titel ‚Der Girl-Robber‘“ (T. III, S. 162) in den angeblich autobiographischen Roman (herbei-)zitiert. Dass dieses Verweisspiel durch seine eigenen Paradoxe in sich unschlüssig wird, mag bemerkt und durch die explizite Aufforderung Literatur „symbolisch zu nehmen“ (T. III, S. 275) dahingehend aufgefangen worden sein, nunmehr Mays Romane nicht ethnographischautobiographisch zu lesen, sondern im fiktionalen Raum der Kunst wahrzunehmen. Spätestens durch die Einführung des Utopia „Ocama“ verlässt der Roman die früheren Bahnen der Ethnographie endgültig. Somit erscheint der Protagonist Karl May auch nicht mehr wie früher identisch mit dem Radebeuler Karl May, sondern befreit sich in den Markierungen eines narrativierenden Erzählers: „Ich erwähne das, weil ich noch weiteres von ihnen zu berichten habe.“ (T. III, S. 19) „Es ist nicht ohne Absicht, daß ich diesen Umstand besonders in Erwähnung bringe.“ (T. III, S. 44) Schnell wird der zahlreich auftretende und erwähnte Zufall, der die wenigen Reisenden auf der ganzen Welt mehrmals zusammentreffen und sich gegenseitig retten lässt, mit dem konstruierenden Erzähler verknüpft. Die berechnende Komposition und eben nicht authentische Reiseschilderung bestimmt auch das wiederkehrende Motiv des Wettens, das die Figuren erst zu aktiven Teilnehmern am Geschehen erhebt: Wallers Wette, „im Laufe des ersten Jahres fünfzig erwachsene Chinesen zu belehren“ (T. III, S. 12)

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ist Grund für Marys und seine Reise sowie den religiösen Wahn und den damit verbundenen Tempelbrand. Die Wette der Mekkapilger, den Kopf der Sphinx zu besteigen, initiiert den Angriff auf den Missionar und die anschließende Rettung durch den Chinesen und May. Die zahlreichen Wetten John Raffleys, die als Ausnahme markierte Wette des Erzählers über den vermeintlichen Reichtum Tsis sowie diejenige zwischen Tsi und dem Governeur schließen die Reisegruppe zusammen und ermöglichen einen harmonischen Eingang in das utopische Ziel als Idealgesellschaft, in dem die areligiöse und amoralische Marotte des Hazards keinen Platz hat. In ihrer eigentlichen Praxis sollte der Reiz der Wette sich aus der Hoffnung auf Gewinn und dem unsicheren, vom Zufall abhängigen Resultat speisen. Im Verlauf des Romans jedoch erweist sich jede Wette als kalkulierte Investition, in der sowohl dem Gewinner als auch der Leserschaft bereits bei Abschluss der Ausgang bekannt ist und nur der Wettpartner allein an seinen Sieg zu glauben vermag. „Ist es ehrlich, zu wetten, wenn man weiß, daß man gewinnen muß?“ (T. III, S. 166), fragt in dem Sinne der Protagonist. Im handlungsstrukturierenden Motiv spiegelt sich der Erzähler, der sich durch das beinahe ironische Übermaß an Zufällen während der Handlung immer wieder als Konstrukteur preisgibt. Er ist nicht reiner Berichterstatter und folglich muss der Roman nicht mehr nur in der ethnologisch-autobiographischen Kolportage verortet werden, sondern auch im fiktionalen Raum der Kunst. Die Destabilisierung des sonst so selbstsicheren Erzählers trägt im ersten Kapitel vor allem zu einer Interpretation bei: Die Fokusveränderung von einer (Waller zugeordneten) voreingenommenen autorbezogenen und wortgetreuen Textlektüre, die sich um das gleichgeschaltete Autor-Erzähler-Ich gruppiert, hin zu einem Literatursystem, das das poetische Werk in den Mittelpunkt drängt. Ein Werk, das im Zuge der überstrapazierten Völkerverständigungsmoral Mays zum Katalysator eines toleranteren Weltverständnisses werden soll; denn nicht zufällig wird das kulturübergreifende Gespräch in Gizeh zwischen den Chinesen, den amerikanischen Wallers und Karl May durch „die ernste, schwere Poesie des ägyptischen Altertums“, „durch diese Steine so gewaltig und doch so lieb“ (T. III, S. 70), geführt.71

71 Dass Karl Mays intendierte Friedensmoral einerseits im Kontext chinafeindlicher und kriegerisch-imperialistischer Publizistik während der Boxeraufstände

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Wenn die Literatur des Erzählers diese verbindende Funktion zwischen den Kulturen und Religionen haben soll, steht sie zwangsweise vor einem kommunikativen Problem. Völkerverständigung benötigt entweder eine universale Sprache wie die erhabene Steinästhetik der Pyramiden oder muss in allen Sprachen gleichzeitig formuliert werden. Es darf nicht eine übergeordnete Sprache geben, wie es der Diener Sejjid Omar anfangs für das ägyptische Arabisch definiert, „außer welche[m] es keine richtige [Sprache] giebt“ (T. III, S. 76), und später partiell revidiert: „Es giebt überhaupt nur zwei Sprachen, welche wahre und wirkliche Sprachen sind, nämlich die arabische und die deutsche.“ (T. III, S. 113) Kommunikativ erfordert es der moralische Anspruch, dass die Sprachkenntnisse des Dichters über dem laienhaften „Gallimatthias“ (T. III, S. 75) eines sprachdilettantischen Dieners stehen. Idealerweise kommt der Autor May in seinem zeitlebens gepflegten selbstüberheblichen Image zu einer Selbstaussage wie in einem Antwortbrief von 1894: „Ich spreche und schreibe: Französisch, englisch, italienisch, spanisch, griechisch, lateinisch, hebräisch, rumänisch, arabisch 6 Dialekte, persisch, kurdisch 2 Dialekte, chinesisch 2 Dialekte, malayisch, Namaqua, einige Sunda-Idiome, Suaheli, Hindostanisch, türkisch und die Indianersprachen de r Sioux, Apachen, Komantschen, Snakes, Utahs, Kiowas nebst dem Ketschumany 3 südamerikanische Dialekte.

einen durchaus interessanten und respektablen Ausbruch aus der Norm darstellt, wurde von der Karl-May-Forschung zureichend in den Fokus einzelner Analysen gestellt. Andererseits unterläuft der Text gerade an dieser Stelle im Zuge seiner Programmatik seiner repräsentativen Individuen für ihre jeweilige Nation/„Ethnie“ die eigene Moral. Denn im ägyptischen (damit in der Textlogik muslimischen und afrikanischen) Diener Sejjid Omar existiert stets ein Störfaktor für die idealisierte Gesellschaft, die ihn lediglich als belustigenden Lakaien ansehen kann. Dieser, stets mit „Mein Sejjid Omar“ prägnant hierarchisiert, zeichnet sich zwar durch pikareske Schlauheit und große Ehrlichkeit sowie Tüchtigkeit aus, hat aber am abschließenden Utopia keinen Anteil. Die absolute Völkerverständigung zwischen den USA (Waller, Mary), Deutschland (May), England (John Raffley, Bill) und China (Tsi, Fu, Yin), mit der der Text in geplanter interkulturellen – dem Text folgend vielleicht genauer als „interracial“ zu bezeichnenden – doppelten Eheschließung und dem gemeinsamen Diner endet, wird begangen, ohne dass Afrika (Sejjid) Erwähnung findet.

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Lappländisch kann ich nicht mitzählen.“72 Unbedeutend sei hier, wie diese Äußerung psychopathologisch zwischen Selbstwahrnehmung und Selbstmarketing eines viele Jahre lang durchaus als schizophren zu bezeichnenden Mannes divergieren; aber sie hat direkte Auswirkungen auf das literarische Alter Ego aus Et in terra pax, das wie Kara Ben Nemsi, Old Shatterhand oder der blau-rote Methusalem selbstsicher diverse Sprachen beherrschen muss, um seinem Textstatus als Protagonist gerecht zu werden. Die Romanhandlung bewegt sich in mindestens sieben Sprachsystemen – Deutsch, Englisch, Französisch, Arabisch, Chinesisch, Malaiisch, Niederländisch – zu denen sich alle Figuren stets explizit in Bezug setzen, die lediglich vom dichtenden Ich-Erzähler alle mündlich, schriftlich und körpersprachlich mit Perfektion beherrscht werden und aus denen er stetig die verschiedenen Dialoge im Rahmen seiner Narration ins Deutsche übersetzt.73 Sogar das Lippenlesen wird als Fähigkeit en passant erwähnt.74 Die Wichtigkeit ausgebildeter „Sprachfertigkeit“ (T. III, S. 22) wird im ersten Kapitel weitläufig ausgeführt. Zuvorderst in der komischen Episode des chinesisch sprechenden Missionars Waller, der stets auf „die Macht des Wortes“ (T. III, S. 28), die ihm gegeben sei, verweist. Zusätzlich in seinem fatalen Unverständnis des Arabischen und in der intriganten Person des griechischen Dolmetschers, der durch seine Machtstellung als Übersetzer die Handlung zu seinen Gunsten und den Ungunsten seiner Gegner manipuliert. Sprachfertigkeiten strukturieren und steuern viele Handlungsmomente und dienen im Falle Wallers und Sejjid Omars zu humorvollen Episoden eines populärkulturellen „Sprachexotismus“, bekannt von den May Figuren Kapitän Heimdall oder Fritz Turnerstrick sowie Kinderliedern wie

72 Kosciuszko, Bernhard: Vor 50 Jahren in der Frankfurter Zeitung vom 01.04. 1937. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft. Bd. 71 (1987). S. 25. 73 Passend dazu erscheinen die zahlreichen Illustrationen der Erstausgabe von Ferdinand Lindner. Sie zeigen den Protagonisten Karl May mit präziser Ähnlichkeit zu seinem realen Schöpfer in verschiedenen Kleidungen, je nach Ort, an dem sich die Reisegesellschaft aufhält: Mit Fez in Kairo oder auf dem Weg nach Ceylon (T. III, S. 36), in kolonialer Abenteurertracht (T. III, S. 82, S. 86) oder im westlichen Anzug beim ersten Treffen mit Sir John (T. III, S. 164). 74 „Da sah der Governor mich bedeutungsvoll an, und ich las von seinen sich lautlos bewegenden Lippen“ (T. III, S. 171).

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Tri Chinisin mit dim Kintribiß.75 Dazu korrespondierend finden die Schriftsysteme Erwähnung. Der Protagonist schreibt in lateinischen Buchstaben (das wird den Lesern stets vor Augen geführt) und ist gleichzeitig dazu fähig, auch arabische und chinesische Zeichen zu lesen bzw. zu deuten. Sejjid Omar hingegen, dem nur die arabische Schrift bekannt ist und trotz seiner Sprachstudien bleiben wird, ist anfangs unverständlich, warum sein Herr nicht in der göttlichen, einzig wahren Schrift des Propheten dichtet. Gegen den Verlust seiner Souveränität kann der Ich-Erzähler noch seine unumstößliche Bildung setzen. Hat er schon nicht die Möglichkeit, sich mit brutalen Wilden oder schießwütigen Gegnern zu messen, so bleibt ihm immer noch das selbstsichere Agieren in fremden Gebieten durch angelesene Weisheit. Eine Intelligenz, die sich aus historischem, geographischem, ethnologischem und linguistischem Wissen zusammensetzt. Dies ändert sich jedoch durch das Geschenk, das ihm bei seiner Abreise aus Kairo von Tsi überreicht wird. Auch wenn die drei chinesischen Schriftzeichen des Lederumschlags semantisch verstanden werden, ist ihre eigentliche Bedeutung dem Erzähler bis zum Ende ein Rätsel: „Er gab mir ein aus feinem Leder gefertigtes Couvert kleinsten Formates in die Hand und ging dann so schnell fort, daß ich ihm gar nicht danken konnte. Als ich es öffnete, sah ich, daß es ein Stück pergamentartiges Papier enthielt, welches ein gleichseitiges Dreieck bildete. Es war auf der einen Seite weiß, auf der anderen mit Figuren und Zeichen versehen. Drei schlankgezogene Drachen bildeten die Einfassung der Ränder, und in jeder Ecke stand ein chinesisches Schlüsselwort. Das erste war ‚k’i‘, das veraltete Zeichen für Luft und Odem; es bedeutet auch den Urgrund aller religiösen Dinge. Die andere Ecke enthielt ein ‚schi‘, das Zeichen für Geist, für Genius und Erde. Und im dritten Winkel sah ich ein ‚fu‘, was Hart in Weich eingeschlossen bedeutet und auch das Zeichen für die Brüderschaft ist.

75 Vgl. Schmidt-Hannisa (2000). – „Im Kern aber ist es die Faszination an der fremden, exotischen Sprache und deren klangliche Imitation. Wer Witze à la ‚Lang-fang-fang-wau‘ erzählt, gibt zu verstehen, daß er Bildungsgesetzte des Chinesischen durchschaut hat – zumindest einige, zumindest intuitiv. Zugleich freilich erweckt er den Anschein, das Chinesische sei eine eigentlich recht schlichte, ja geradezu infantile Sprache. Und was so ulkig klingt, kann auch gar nicht so schwer zu erlernen sein.“ – Ebd. S. 306.

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Ich dachte jetzt nicht daran, mich nach dem Sinne dieser Zeichen zu fragen. Die Hauptsache waren die Worte, mit denen die Gabe mir überreicht worden war. Und diese hatten noch viel rätselhafter geklungen, als mir die Schrift erschien. Daß der Sinn dieser Charaktere bei einigem Nachdenken mir nicht unergründlich bleiben werde, das wußte ich; aber ob ich einst behaupten dürfte, daß mir die Bedeutung dessen, was der Chinese gesagt hatte, klar geworden sei, das konnte nur die Zukunft lehren.“ (T. III, S. 72)

Trotz dieser selbstsicheren Aussage fallen die Deutung der kombinierten Logogramme und die Offenbarung der Worte des Chinesen erst in der Entdeckung der Existenz Ocamas zusammen. Mit dieser Verunsicherung des universalen Wissens unterscheidet sich der Protagonist May deutlich vom Methusalem. Dessen „Sprachheldentum“ verdanken es vor allem die chinesischen Romane, von einem „Hauch von Pfingsten“ durchweht zu werden, einem Rückgriff auf eine mythische, ursprachliche Vor-Babel Verständigung. „Dahinter steht die Utopie vollständiger Übersetzbarkeit selbst zwischen gegensätzlichsten Sprachen. Niemals gibt es ein einziges Verstehensproblem, eine einzige unauflösbare Zweideutigkeit, alles läßt sich ohne widerständigen Rest verdolmetschen.“76 Solch eine utopische Sprache wird einerseits durch die Sprachfähigkeit und die Dichtung des Autor-Ichs visualisiert, andererseits durch das Geheimsymbol der Bruderschaft wieder zerstört. Diese Dimension der nun nicht mehr kontrollierbaren chinesischen Schrift ist den konditionierten Lesern von Kürschners Band bereits hinreichend bekannt und explizit mit den Boxern verbunden worden, die ihre rätselhafte, heidnische und chinesische Geheimgesellschaft über eben solche Erkennungsmerkmale organisieren. Die detaillierte Beschreibung des ledernen Couverts deckt sich mit den zuvor abgebildeten „Boxer-Amulett[en]“ (T. II, S. 5-6) und „Boxerzettel[n]“ wie „Boxerfahne[n]“ (T. II, S. 20). Dass der Publikationskontext von Et in terra pax zu keiner Zeit aus dem Gedächtnis der Rezipienten geraten konnte, beweist neben der Materialität des Sammelbandes auch die

76 Ebd. S. 320. – Ein plakatives Beispiel aus Der Kiang-lu führt Schmidt-Hannisa an: Quasi en passant übersetzt der Ich-Erzähler eine längere Passagen aus einem historischen Buch des chinesischen Historikers Sīmǎ Guāng (11. Jahrhundert), das in einer klassischen und auch für Muttersprachler durchaus komplexen Literatursprache verfasst ist.

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stetige Zitation publizistischer Schlagwörter über China und die Boxeraufstände. Die „fremde[n] Charaktere“ (T. III, S. 212) bleiben im ostasiatischen Raum auch bei May stets umhüllt von einer Aura des Mystischen, denn das „Pu gebietet […] eine andere Sprache, in welcher wir uns heimlich üben“ (T. III, S. 130). Es sind nicht nur die ledernen „geheimnisvolle[n] ‚Pu‘“ (T. III, S. 266) der Protagonisten, die über Zugehörigkeit und Vertrauenswürdigkeit entscheiden sowie eine gewisse Macht durch ihre bloße Präsentation besitzen. Widerspenstige malaiische Diener lassen sich durch „zwei von oben nach unten gehende Reihen fremder Charaktere“ (T. III, S. 211-212) genauso spontan überzeugen wie mächtige und wütende Stammeshäuptlinge sich durch die gepinselten Mysterien beruhigen lassen: „Was waren das für Zeichen auf dem Zettel gewesen? Warum hatten sie diese überraschende Wirkung hervorgebracht? Wer war dieser Tsi denn eigentlich? Diese und noch andere Fragen wurden durchgenommen, natürlich ohne Resultat.“ (T. III, S. 215) Für May selbst war schon in den frühen chinesischen Abenteuererzählungen das Kaiserreich aufs Engste mit solchen Geheimgesellschaften verbunden. Sind die piratischen, kriminellen bis mafiösen Untergrundorganisationen in Am Stillen Ozean und Kong-Kheou, das Ehrenwort noch als negativer Gegenpol zum idealistischen europäischen Helden gesetzt (wohl ein weiterer Grund für Kürschner, May für einen chinesischen Roman zu gewinnen), verlagert sich das Motiv in Et in terra pax zu einer Gegenbewegung zu den Boxern. Das Autor-Erzähler-Ich May rekapituliert, als er das Rätsel um das lederne Couvert mit den chinesischen Insignien gestellt bekommt, ausführlich das, was den Lesern Kürschners bereits vielfach präsentiert worden ist: „Es giebt in China geheime Gesellschaften, welche auf die dortigen Zustände einen Einfluß ausüben, dem sich kein Mandarin, und stehe er noch so hoch, und selbst der Kaiser nicht entziehen kann. Diese Gesellschaften sind über das ganze Reich verbreitet, und bei der Größe dieses Gebietes ist es unmöglich, daß die einzelnen Mitglieder einander kennen können. Was ist da wohl selbstverständlicher, als anzunehmen, daß es wenigstens für die hervorragenden Führer gewisse Zeichen giebt, an denen sie sich erkennen, mit denen sie nachweisen, wer und was sie sind.“ (T. III, S. 117)

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Doch diesmal stellt sich im Verlauf der Handlung heraus, dass diese geheimen Gesellschaften nicht per se dämonische Gegner eines westlichen Imperialismus oder einer höheren Ordnung sein müssen, sondern diesen gar konträr gegenüberstehen, um durch ihren agitatorischen Wirkungshintergrund ein multikulturelles Utopia aufzubauen: „Und diese geheime Gesellschaft [deren Mitglieder die Besitzer des „Pu“ sind] hatte gegen die fremdenfeindlichen ‚Boxer‘ zu wirken“ (T. III, S. 118). Die „Pioneers der Civilisation“ (T. III, S. 109), die Engländer, bekommen in der Erzählung ihren genauen Platz zugeordnet, vom dem aus sie von einer absoluten Hybriskultur zu toleranten Menschen geläutert werden müssen. Erst so eröffnet sich ihnen der Weg in das Utopia durch die Einsicht des Völkerfriedens. So auch Sir John Raffley: „Damals [zu Zeiten von Der Girl-Robber] war er nichts weiter als ein Engländer im Superlativ, ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle; jetzt aber war er mehr, viel mehr, nämlich ein harmonisch denkender Mensch und ein zwar nicht mehr schöner, aber dafür bedeutender Mann.“ (T. III, S. 169) Raffleys Transformation geschah durch seine Beziehung zur Chinesin Yin, die ihm nach eigener Aussage mit ihrer Liebe verständlich machte, dass alle Menschen gleich zu achten seien und die Einwohner Chinas eben nicht die „Jude[n] des Ostens“ sind, über deren Tod Raffley in Der Girl-Robber lediglich lakonisch formulieren kann: „Ein Chinese nur? Dann ist ja gut!“77 Die fünf „Englishmen“ in Ceylon wie auch der „dear uncle“ Bill müssen hingegen erst noch im Verlauf des Textgeschehens belehrt werden; die einen durch Gewalt, der andere ebenfalls durch den Katalysator des „ewig Weibliche[n]“ (T. III, S. 169) Yin. Dass die Propaganda des „Civilisierens“ im Arrangement der Engländer verdreht wird, ist ein offener Affront gegen Kürschners Projekt; „Diese Civilisatoren Chinas waren also abgetan!“ (T. III, S. 113), heißt es nach der handgreiflichen Ruhestiftung im Hotel von Ceylon. Die Nachbartexte von Et in terra pax zitieren konträr dazu zahlreich die „Hunnenrede“ Kaiser Wilhelms II. oder von Bülows Ruf nach dem „Platz an der Sonne“ und in mehreren Dialog- und Monologpassagen des Romans werden sie durch prominente Schlagwörter ebenso in Erinnerung gerufen wie durch die Abbildung von Knackfuß’ Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter. In Et in terra pax werden die populären Kolonisationsschlagwörter als imperia-

77 May (1879/80). S. 59.

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listischer Wahn – durch die harschen Worte des Chinesen Fang und mit vorsichtigem Schweigen seitens des Protagonisten – angegriffen, während sie vor allem innerhalb des China-Kapitels „Die Wirren 1900/1901“ als kaiserliche Legitimation des Zivilisationsauftrags angeführt sind. So spricht Fang in einem geradezu orgasmischen Monolog: Sie „verlangen von uns [den Kolonisierten] ihre bessere Bildung und Gesittung beizubringen; sie verlangen von uns, an Stelle unserer bewährten Philosophie die ihrige zu setzen, welche, ohne zum selbstständigen Manne zu werden, noch gegenwärtig an den vertrockneten Brüsten heidnischer Ammen saugt; sie muten uns die sträfliche Befangenheit zu, ihrer Versicherung zu glauben, daß sie es mit der Erfindung ihrer ‚Interessensphären‘ und ‚offenen Thür‘ nur auf unser Heil abgesehen haben[.] [...] Die Strömung, welche jetzt gegen die Küste Chinas brandet, ist eine doppelte, nämlich eine religiöse und eine politische, und beide werden uns von einem und demselben Winde zugeführt, dem Egoismus. Fallen sie mir nicht mit ‚Kulturaufgaben‘, ‚civilisatorischen Pflichten‘ und ‚Sendboten des Christentums‘ in die Rede! Das sind Fiktionen, mit denen der Kenner der Verhältnisse nicht irre zu machen ist!“ (T. III, S. 126-127)

In der mehrseitigen Tirade gegen den westlichen Imperialismus und die christlichen Missionsbestrebungen wird durch das absolute Schweigen des Gesprächspartners Karl May das immer wieder auf- und angerufene „Sie“ polyphon zu einer direkten Anrede der Leserschaft. Denn dass der Ich-Erzähler dem Chinesen nicht „in die Rede“ fallen wird, ist durch die narrative Perspektive des Romans an dieser Stelle bereits evident. Die Leser, die sich den Sammelband im Rahmen ihrer kolonialen Wunschträume gekauft haben sollten, werden in ihrer Meinung angegriffen. Auch zu Beginn des dritten Kapitels „Am Thore Chinas“ (T. III, S. 144) wird ihre koloniale Selbstsicherheit und ihr kanonisches Wissen denunziert; diesmal durch die Stimme des Erzählers: „Von den ersten Kinderschuhen an hat man durch alle Klassen der Volks- und höheren und höchsten Schulen über die Chinesen nichts anderes gehört, als daß sie wunderlich gewordene, verschrobene Menschen seien, über welche die Weltgeschichte schon längst den Fluch der Lächerlichkeit ausgesprochen habe. In unzähligen Büchern, Zeitungen und sonstigen Veröffentlichungen wird dieses billige Urteil breiter und immer breiter getreten […] und bildet ein so unausrottbares Bestandteil unserer

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geistigen Existenz, daß wir gar nicht auf den Gedanken kommen, zu fragen, ob es ein wahres und also berechtigtes sei.“ (T. III, S. 144-145)

Die Sensibilität für den Veröffentlichungshorizont, die an dieser Stelle statuiert wird, lässt den Roman in einem neuen Licht erscheinen. Als pazifistische Moralkonzeption des „wahre[n], echte[n], allgemeine[n]“ (T. III, S. 106) Christentums wird Et in terra pax umso deutlicher, als der Text inmitten des imperialistischen Manifestes von Kürschner erscheinen konnte und so in jedem Moment den Dialog zwischen den einzelnen Beiträgen erforderlich macht. Es muss, sofern das möglich ist, die Leserschaft um 1900 und ihre Erwartungshaltung in die Betrachtung der Textkomposition einfließen. Dass Karl May von Kürschner mit einem eigenen Beitrag angeworben wurde, hatte wohl primär ökonomische Gründe. Der an zentraler Stelle innerhalb der Konzeption von China stehende Roman des Erfolgsautors wurde ausgiebig in Werbekampagnen angeführt und legt die Vermutung nahe, ein hinreichender Grund für höhere Absatzzahlen darzustellen. Folglich ist anzunehmen, dass an die Erzählung wie an die Sammlung ein gewisser Erwartungshorizont geknüpft war, der, wie bereits erwähnt, gerade in Bezug auf den Ich-Erzähler und den Handlungsverlauf enttäuscht wird. Was Kracauer als Grund der Erfolgsromane im Zelebrieren des starken Ichs sieht, ist bereits innerhalb der ersten Seiten zerstört. Die eskapistische Lektüre der exotischen Abenteuerromane soll Beruhigung und Erlösung aus den hektischen Individualisierungstendenzen der Moderne sein. Doch der Protagonist von Et in terra pax muss sich – so scheint es – seine Autonomie und Souveränität erst erkämpfen, was die spannenden Reiseabenteuer der Vorgänger in die Tiefe der „ereignisreiche[n] Seelenwelt“ (T. III, S. 256) verlagert. Das „Abenteuer der Tat versteht sich zuletzt als reflektierte Reise in die Meta-Physik.“78 Das Dichten als transzendentaler Akt ist der Moment, der dem instabilen Ich wieder Souveränität zusprechen kann, wenn es sich nun nicht mehr um „Reiseabenteuer“ (T. III, S. 256) bemüht, sondern um „psychologische“ (T. III, S. 256) Narrationen, die Einblicke in die „ereignisreiche Seelenwelt des Menschen“ (T. III, S. 256) gewähren. Folglich ebnet sich auch der Weg von Sir John und Waller für eine Relektüre des Werks von Karl

78 Wollschläger (1972/73). S. 52.

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May: „Denken Sie, er [Waller] las in einem Buche des Verfassers, gegen den er stets gesprochen hat, weil er ihn nie verstand!“ (T. III, S. 256) An die Stelle der wortgetreuen Bibelauslegung des Missionars tritt die symbolische Lektüre selbsternannter Kunst. So hat der sich selbstzerstörende Populärautor in seiner Selbstinszenierung am Ende seiner fiktionalen Orientfahrt, die für seine Mitreisenden durch seine Literatur – Tragt euer Evangelium hinaus sowie Am Jenseits – zur Selbstfindung wurde, durch die Stimme eines Rezipienten (Raffley) seine absolute Souveränität zurückerhalten: „Schriftstellender Schalk! Weltreisender Volksseelenforscher! Alles personificierender oder symbolisierender Bücherschreiber! Jede Eurer Gestalten, die edelste wie die gewöhnlichste, ist ja die Individualisierung und also die Lösung irgend eines menschen- oder völkerpsychologischen Problems! Charley, Charley, wer Euch nur oberflächlich liest, der ahnt gar nicht, wie sehr man es vermeiden sollte, Euch auf Euren Wanderungen zu begegnen. Habt Ihr etwa die Absicht, auch über die jetzige Reise ein Buch zu schreiben?“ (T. III, S. 281)

Was hier Raffley als Mitreisender, als Leser und als Wiederleser des Protagonisten Karl Mays formuliert, restituiert den zu Beginn in Kairo noch so instabilen, reisenden Autor. Sein Inkognito ist mittlerweile aufgehoben, seine Kritiker sind zu überzeugten Lesern konvertiert und seine Texte haben sich als handlungsstrukturierende Gelenke des Romans bewährt und den Weg für einige Hinzugestoßene der Reisegruppe in das utopische Ocama ermöglicht. Als Schreibender und als Prophet wird der Literat durch den Text legitimiert, als Weltenbauer und Phantast ist er Wegweiser in eine bessere, utopische Zukunft. Durch sein Verständnis für Formen und Sprachen ist er prädestiniert, die im Individuellen dargestellte Ichdissoziation ganz nach Raffleys Motto als „Lösung irgend eines menschen- oder völkerpsychologischen Problems“ (T. III, S. 281) zu bekämpfen. So steht am Ende der Erzählung ein selbstbewusster Mann, der nun explizit aufgefordert wird, die Reiseerlebnisse zu ordnen und niederzuschreiben. „May, so könnte man mutmaßen, macht offenbar aus seiner Orient-Reise etwas, was er den Protagonisten seiner Romane nie zugestanden hatte: eine Erfahrung, hier die Erfahrung einer Fremde, die die eigene Identität als Reiseschriftsteller, als Schilderer fremder Welten, in Frage zu stellen vermag. Er […] macht die Erfahrung, daß die Welt anders ist als jede noch so gut ausgestat-

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tete Bibliothek in Radebeul.“79 Was Struck hier aus der in den Roman eingeschriebenen autobiographischen Dimension ableitet, trifft genauso für den konstruierten Erzähler zu. Mittels der unverstandenen Logogramme des geheimbündnerischen Amuletts geschieht etwas, das für Old Shatterhand und Kara ben Nemsi noch unmöglich war: Eine Instanz außerhalb des Erzähler-Ichs muss eine Erklärung liefern, in deren Folge erst der fiktive Karl May die Handlungen wieder durch souveränes Eingreifen zu einem Happy End amalgieren kann. Die ornamentale Rolle der Logogramme bestand in den frühen Abenteuerromanen Mays noch allein in der Profilierung des Wissens von Protagonist und Autor sowie der Denunziation der chinesischen Kultur. Sie konnte zur Ironisierung der Narrenfiguren und zur Repräsentation eines absoluten Allgemeinwissens werden. Diese Funktionen fallen durch die Dissoziation des Autor-Erzähler-Ichs zu Beginn von Et in terra pax fort und werden ersetzt durch ein poetisches Konzept, das den Autor nicht als Abenteurer und Geschichtenerzähler feiert, sondern als inspirierten Künstler definiert. Mays Romane sind demnach mit dem „geistige[n] Auge und [einer] seelische[n] Empfänglichkeit“ (T. III, S. 70) „symbolisch“ (T. III, S. 275) und „psychologisch[]“ (T. III, S. 256) zu lesen und sein Autor-Erzähler-Ich wird „personificierender oder symbolisierender Bücherschreiber.“ (T. III, S. 281) Als erfolgreicher „Bücherschreiber“ und zugleich heimlicher Puppenspieler der handelnden Figuren rekurriert die Figur Karl May stets auf sein eigenes „Sprachgenie“ (T. III, S. 73), mit dem er gesprochene Sprache simultan übersetzen kann, alle Schriften liest und schreibt und selbst mimische und regional variierende Körpersprache inklusive der „Orthographie“ der „Gesicht[sz]üge“ (T. III, S. 75) zu deuten weiß. In der Lektüre von Und Friede auf Erden, also der später erschienenen und überarbeiteten Buchausgabe, droht das mysteriöse „Pu“ mit seinen geheimnisvollen, selbst dem multilingualen Erzähler rätselhaft bleibenden chinesischen Charakteren als eins unter vielen Motiven gerade in einer heutigen Lektüre verlorenzugehen. Die Logogramme würden zurückfallen in ihre Funktionsweise aus Kong-Kheou, das Ehrenwort als Veranschaulichung und Mystifizierung des Fremden. Der zeitgenössische Leser 1901 hingegen ist durch die Berichterstattungen aus dem revoltierenden China gesättigt von Informationen der Macht und der Taktik der Geheimgesell-

79 Struck (2011). S. 137-138.

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schaften mitsamt ihren diabolisierten Boxeramuletten, die zugleich heidnischer Talisman und Verständigungsmedium sind. Die Kriegsberichte aus Kürschners Band rezitieren demnach bereits bekannte Stereotype und Informationen, deren Wahrheitsgehalt durch die aufwendige und strikt konzipierte Gestaltung betont wird. Während gleichzeitig in Et in terra pax die zweifelhaften „Bücher[], Zeitungen und sonstigen Veröffentlichungen“ (T. III, S. 144-145) harsch kritisiert werden. Erst durch die Relektüre von China. Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern der Weltpolitik als komplexe intertextuelle Ressource wird die Leserlenkung erkenntlich, die durch die ständige Präsenz der chinesischen Schrift in Bild und Wort als Ornament oder vorgeschaltetes Antlitz des Nemesis die „fremde[n] Charaktere“ (T. III, S. 212) in Mays Roman markiert. An ihnen und vor allem an ihrer Unlesbarkeit spiegeln sich die Dissoziation des allwissenden Ich-Erzählers sowie die moralische Idee einer Völkerverständigung. Die drei Logogramme des „Pu“ sowie der mysteriöse, schriftlich ausgeführte Befehl Tsis zur Befreiung des Missionars entgleiten in ihrer speziellen Bedeutung dem Erzähler-Ich. Beide können nur durch eine „Erfahrung“80 des Protagonisten entschlüsselt werden, auch wenn die rein sprachliche Semantik stets durchschaut wird. Sie markieren so Wandel und Belehrung eines Erzählers, die bis dato einzig im Werk der Radebeueler Koryphäe sind. Waller „las in einem Buche des Verfassers, gegen den er stets gesprochen hat, weil er ihn nie verstand!“ (T. III, S. 256), und besiegelt damit seine heilende Läuterung vom fanatischen „Buchstabengläubigen“ (T. III, S. 244) zu einem symbolisch lesenden Sinnsuchenden. Es ist kein Zufall, dass die lange Heilung des Kranken nicht allein durch die mytho-poetischen Verse begleitet und gefördert wird, sondern auch gleichzeitig stets Interpretation des zentralen Gedichts ist. Dieser neue Akt des Verstehens wird dabei dreifach kodiert: Zum einen als Rückführung des Ichs Karl May zu seiner Souveränität, indem die rassistischen, imperialistischen und gewaltsamen Aneignungen der „Reiseabenteuer“ (T. III, S. 256) ins Symbolische verlagert und damit entschärft werden sowie die innertextuellen Paradoxien zwischen Figuren und Reisen heruntergespielt sind. Zum anderen als ange-

80 Ebd. S. 138.

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strebte Aufwertung des empirischen Autors vom ethnographischen Jugendund Kolportagenschreiber zum inspirierten Dichter von Tragt euer Evangelium hinaus, der in Et in terra pax stetig die musischen Momente des Schreibakts seines Alter Egos präsentiert. Und zuletzt als Akt des Kulturverständnisses eines fremden Anderen, dessen elementare Veränderung mit der Transformation des Werks von Karl May einhergeht. Nur einer symbolischen Markierung verdankt es der ethnographische Roman Mays für einen kurzen Moment den Wissensimperialismus des Westens zu durchbrechen und auf kritische Stimmen über die chinesischen „Wirren“ umzuschwenken: „Ich sage Euch, Sir, es wird auch um dieses China viel Blut, sehr viel Blut fließen, und wenn es geflossen ist, wird es umsonst vergossen worden sein, weil ‚alles, was das Schwert erwirbt, auch durch das Schwert im Kriege stirbt.‘“ (T. III, S. 274) Dadurch, dass sich im ledernen „Pu“ kein endgültiger Sinn der Zeichenkombination mehr zu erkennen gibt und eine genaue Übersetzung ausbleibt, wird der Fremde eine Eigenheit, ein poetisch-positiv-wirkendes Unübersetzbares zugestanden, in dessen bloßer Existenz der imperialistische Machtanspruch durch Wissensdomination destabilisiert wird. Die Divergenz zwischen den frühen China-Abenteuerromanen Mays und Et in terra pax verdeutlicht, dass im ausklingenden neunzehnten Jahrhundert mit der Neustrukturierung der Weltpolitik weitreichende Veränderungen in der medialen Transposition des ostasiatischen Raumes verbunden sind. Das ethnographische Wissen, aus dessen Fundus sich Der blau-rothe Methusalem und Am Stillen Ozean speisen, bildet das seit der Aufklärung oder sogar seit Marco Polo verbreitete Wissensfundament über das fremde Land im fernen Osten und wird durch die (politisch und ökonomisch motivierte) Gründung der Orientalischen Seminare an mehreren deutschen Universitäten sowie die journalistische Präsentation während der chinesischen Kriege und Aufstände transformiert oder revidiert. Kürschners Monumentalband verdeutlicht das disparate Nebeneinander verschiedener Tendenzen der Wahrnehmung des Fremden. Zielt ein Großteil der gerade literarischen Texte auf eine Repräsentation des Fremden als das unerreichbare Andere, oftmals durch das Motiv der unleserlichen, nicht erlernbaren, dämonischen Schrift präzisiert, koppeln sich die leitmotivischen Charaktere in Mays Roman an die Initiierung eines poetischen Schreiber-Ichs, das durch seine Kulturprodukte die Alterität im Sinne einer absoluten Völkerverständigung aufzuheben vermag. Die schlagartige Veränderung des Ichs in Mays Ro-

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manen nach dessen misslungener Weltreise lässt erkennen, dass durch den vermehrten Kontakt zum exotischen Raum die gängige Gut-Böse, Entwickelt-Unterentwickelt Binarität um die Jahrhundertwende in Schieflage gerät. Und gerade literarische Texte, die als Kulturgüter, wie Seidels Erzählung es prägnant herausstellt, stetig das Verhältnis mit dem Anderen transformieren, repräsentieren und kritisieren, bekommen ihren Platz in der Diskussion. Durch die Verknüpfung des Fremden mit einem per se poetologischen Motiv der anderen Schrift werden die ostasieninteressierten Texte in dieser Zeit zu Kommunikationsmedien von der (Un-)Möglichkeit von Fremdverstehen. Demnach bedeutet die weitreichenden Transformationen des Wissens über Ostasien gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, vornehmlich ausgelöst durch die Öffnung Japans und die deutsche Kolonialpolitik, allein mit den Parametern eines Postkolonialismus nach Homi K. Bhabha zu lesen, eine Verkürzung der divergenten Interferenzen von Kunst, Kultur, Identität und internationaler Politik um die Jahrhundertwende. Um diese Interferenzen wird es im Folgenden gehen.

5 (Von) Reiseerfahrung erzählen (müssen)

Das Verhältnis von Deutschland zum erst 1853 erneut auf der Weltbühne erschienenen Japan erweist sich um die Jahrhundertwende und während der großen Kriege als gespalten und wechselhaft: Dabei wurde die japanische „Eigenzeit“1 gänzlich anderes empfunden, als die chinesische. „Seit der

1

Ortfried Schäffter versucht dieses Nebeneinander von Kulturen und ihrer Wahrnehmung durch das Konstrukt der „Eigenzeit“ greifbar zu machen: „Damit ist gemeint, daß ein Sinnkosmos seinem eigentümlichen Entstehungszusammenhang und Entwicklungsrhythmus unterworfen ist, aus dem heraus sich die jeweils äußere Welt konstituiert und seine besondere Bedeutung erhält. Jedes autonome Sinnsystem – sei es eine Person, soziale Gruppe, gesellschaftliche Institution oder kulturelle Einheit – verfügt somit über ihre eigene Vergangenheit, besondere Gegenwart und spezifische Zukunft. Daher sind sie einander vor allem in Bezug auf ihre ‚Temporalität‘ fremd: Sie existieren in verschiedenen Eigenzeiten, was zur Folge hat, daß sie in gegenseitigem Kontakt eine Verschränkung ihrer divergenten Geschichten, d.h. eine ‚Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem‘ hervorrufen. Besonders hieraus gewinnt unsere weltgeschichtliche Entwicklung eine neuartige Spannung.“ – Schäffter, Ortfried: Modi des Fremderlebens, Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit. In: Ortfried Schäffter (Hrsg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen 1991. S. 12. – Dieser vielfältig in der Forschung diskutierte Themenbereich wird derzeit im DFG-Schwerpunktprogramm „Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne“ untersucht. „Es geht davon aus, dass Zeit nicht als eine abstrakte chronometrische Ordnung be-

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Weltausstellung von 1867, wo der japanische Pavillon die größte Aufmerksamkeit erregte, waren japanische Kleidung, japanische Speisen und Nippes“2 in Mode. Ulrich von Felbert spricht passend von einer „flüchtigen Kultbewegung“ des europäischen Japonismus, die sich von Frankreich und den Niederlanden nach Deutschland und von der Malerei zur Literatur und Philosophie verschob, um dann zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts allmählich wieder zu verschwinden.3 Der Japonismus ersetzte damit die zum Kitsch und Alltag gewordenen Chinoiserien des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts und besetzte eine Leerstelle in der europäischen Originalitätssucht, die die afrikanische Kunst, als rückständig, naiv und unkünstlerisch gebrandmarkt, (noch) nicht füllen konnte.4

griffen werden kann, sondern erst als materiell sichtbar gemachte, gemessene, dargestellte, ausgedrückte, erkannte, erlebte und bewertete Zeit Realität gewinnt und stets abhängig von kulturellen Wahrnehmungs- und Bewertungszusammenhängen ist. An einer großen Vielfalt von Phänomenen und einem weiten Spektrum beteiligter Disziplinen wird dabei in insgesamt 15 Teilprojekten untersucht, wie Zeitlichkeit in ihrer kulturellen und historischen Vieldeutigkeit in der Form ‚ästhetischer Eigenzeiten‘ erfahrbar gemacht und reflektiert wird.“ – Vgl. [o.A.]: Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG. Schwerpunktprogramm 1688. http://www.aesthetische-eigenzeiten.de/ (letzter Zugriff: 17.07.2014). 2

Günther (1988). S. 55.

3

Vgl. Felbert, Ulrich v.: Japonismus um die Jahrhundertwende. Konturen einer flüchtigen Kultbewegung. In: Jens Malte Fischer, Karl Prümm u. Helmut Scheuer (Hrsg.): Erkundungen. Beiträge zu einem erweiterten Literaturbegriff. Göttingen 1987. S. 82-99.

4

Vgl. dazu Carl Einsteins Studie zur Negerplastik, die 1915 erstmals eine ästhetische Wahrnehmung afrikanischer Kunst proklamiert und entscheidende Auswirkungen auf die Stilrichtungen des Exotismus hatte, indem sie diese als eurozentrisch und heuchlerisch entlarvt. Einstein stellt offen fest, dass die bisherigen Betrachtungen autochthoner Kunst lediglich Schlüsse über den Betrachter zuließen, nicht jedoch über das Betrachtete. So sei bis dato eine ernsthaft wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Skulpturen afrikanischer oder ozeanischer Stämme nicht möglich gewesen, da dem afrikanischen Menschen als solchem stets durch sozialdarwinistische Idiome eine Unfähigkeit zur diffizilen Kulturproduktion abgesprochen wurde. Obgleich Einstein sich selbst oftmals in seinem Essay in eurozentristischen Begründungsstrategien bewegt/bewegen

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Das sich rasch an den industrialisierten Westen assimilierende Japan mit seinem vielbenannten „Anpassungstalent“5 erkannte in den deutschen Staats-, Gesundheits- und Militärsystemen geeignete Vorbilder zur intelligenten Adaption, war interessiert an der medizinischen und anatomischen Lehre der deutschen Ärzte und knüpfte folglich schnell diplomatische Kontakte mit dem europäischen Land. Diplomaten, Studenten und Intellektuelle profitierten zwischen 1860 und 1900 beiderseits voneinander und stärkten ein Band der Nationen, das bald schon als brüderlich, dem Wesen nach verwandt angesehen wurde. „Japan schien der deutschen Seele […] doch immer etwas ‚irgendwie vertraut Verwandtes‘ zu bleiben, ein ‚fremdes Wunderland‘, in dem man doch ‚immer das Gefühl des Zuhauseseins‘ behielt, wie es Franz Pfemfert in einer Rezension von Bernhard Kellermanns Ein Spaziergang in Japan formulierte.“6 Schnell zeichnete sich ab, dass Japan entgegen den anderen ostasiatischen Staaten der imperialistische und industrielle Sprung in die Moderne gelingen würde. Bedeutendster Grund dafür war sicherlich der fehlende Kolonialismus. Die an ihn gebundenen Schäden und die artifiziell hergestellte oder konservierte Rückständigkeit trafen nur China und die südasiatischen Reiche. Ferner ist der Erfolg Japans auch der modernisierungsfreundlichen Haltung des japanischen Tenno zu verdanken; im Gegensatz zur sagenumwobenen chinesischen Kaiserinmutter, die sich in den letzten Jahren der kaiserlichen Dynastie manisch an ihr göttliches Amt zu binden versuchte. In der deutschen Presse wird ersichtlich, dass bereits vor den Boxeraufständen Japan mehr Sympathien als China zukamen. Aus einer kursorischen Lektüre des Bonner General Anzeigers 1894 folgert Regine Mathias-Pauer: „Den Grund dafür sieht man in der überheblichen, dünkelhaften Abschließung Chinas gegen die Fortschritte der modernen Kultur. Gleichzeitig knüpft man an einen japanischen Sieg [des Japanisch-Chinesischen Kriegs 1894/95] die Hoffnung, daß China danach endlich mit Reformen beginnen werde und damit der Weg frei würde für eine verstärkte

muss, markiert er mit klaren und scharfen Worten die vorherrschende Herangehensweise an autochthone Kunst als Grundproblem der Tendenzen, sich am exotischen Raum künstlerisch berauschen zu wollen. 5

Grothe (1902/03). S. 289.

6

Günther (1988). S. 31. [Herv. i. O.]

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Belieferung des chinesischen Marktes.“7 Obgleich sich die stets repetierten Motive Japans – Geisha, Gehorsam, Kriegerehre, Artifizialität, Teezeremonien, Gartenbau und vor allem die omnipotente, filigrane Kleinheit – über die Jahrzehnte bis zum Zweiten Weltkrieg kaum veränderten, wechselten die Betrachtungen Deutschlands über Japan zunehmend durch realpolitische Faktoren. Die Kolonialpolitik Wilhelm II. nach dem Rücktritt Bismarcks 1890, die Suche nach dem deutschen „Platz an der Sonne“, wie es der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amts und spätere Reichskanzler von Bülow zum Bonmot machte, führte zu näheren politischen Kontakten der Reiche. „Aus der Sicht der [westlichen] Großmächte des 19. Jahrhunderts galt China als eine für den freien Handel noch nicht erschlossene Region, die es in ihr Expansionssystem einzubinden galt.“8 Dass diese „Einbindung“ meist eher als forcierte „Einverleibung“ gewertet werden muss, beweist der Fall des deutschen Kaiserreichs. Nachdem 1897 zwei deutsche Missionare im nordchinesischen Shandong ermordet worden waren, wurde China gezwungen, einen Vertrag zu unterzeichnen, „in dem das Gebiet um die Bucht (von den Deutschen ‚Gouvernement Kiautschou‘ genannt) auf 99 Jahre an Deutschland“9 verpachtet wurde. Dabei war der erste Besitz auf chinesischem Boden für das junge kolonialisierende Land10 gleich aus mehrfacher Sicht ein bedeutendes Anliegen. Stellt Kiautschou zum einen den „Fuß in der ostasiatischen Tür“ dar, also die Basis einer neuen imperialistischen Expansionspolitik außerhalb Europas und Afrikas, wird die Kolonie zum anderen Beginn eines fieberhaften

7

Mathias-Pauer, Regine: Deutsche Meinungen zu Japan – Von der Reichsgründung bis zum Dritten Reich. In: Josef Kreiner (Hrsg.): Deutschland – Japan. Historische Kontakte. Bonn 1984. S. 124.

8

Hinz, Hans-Martin: Das Thema im Ausstellungsrundgang. In: Hans-Martin Hinz u. Christoph Lind (Hrsg.): Tsingtau. Ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in China 1897-1914. Eurasburg 1998. S. 15.

9

Mühlhahn, Klaus: Deutschlands Platz an der Sonne? Die Kolonie „Kiautschou“. In: Klaus Mühlhahn u. Mechthild Leutner (Hrsg.): Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901. Berlin 2007. S. 43.

10 Von einigen heute größtenteils vergessenen Passagen wie dem Kurbrandenburgischen Groß Friedrichsburg (1683-1717) oder dem Kurländischen Versuch im siebzehnten Jahrhundert Tobago zu besiedeln abgesehen.

(V ON ) R EISEERFAHRUNG ERZÄHLEN ( MÜSSEN ) | 125

Traums nach einem „empire on which the sun never sets“. Das Ziel Deutschlands lautet, sich den großen Kolonialmächten der Geschichte anzunähern.11 Zudem wurde dem Gebiet im Norden Chinas bald der Status einer „Musterkolonie“ zugeschrieben, eines stadtgeographischen Experimentierkastens, dessen kulturelle wie soziale Bindung an das Reich der Mitte ausgeklammert wurde.12 Die politische Verbindung zu Kiautschou erweckte in Deutschland spätestens durch die Boxeraufstände ein starkes (populär-)literarisches wie journalistisches Interesse an Ostasien und sollte Ausgangspunkt eines ausgiebigen Imperialismus werden, der 1914 durch die Zwangsübereignung des Gebiets an Japan frühzeitig unterbunden wurde. Ersichtlich wird, dass sich das Interesse an Japan durch die überwiegende Unkenntnis von geschichtlicher, militärischer, innen- sowie außenpolitischer Stärke der Inselnation in den Jahren der deutschen Kolonien mehrfach ändern musste. Eventuelle expansionspolitisch-lüsterne Blicke nach Japan in Folge des chinesischen Vertrags 1898 wichen schnell einem neuen, ökonomisch-freundschaftlichen oder rivalisierenden Verhältnis. Weiterer Grund für einen Interessenwechsel im deutsch-europäischen Blick auf Japan waren vor allem der Japanisch-Chinesische Krieg 1894/95 und die damit verbundene Machtpräsentation Japans sowie sein Auftritt als aktive Kolonialmacht im Ringen um die letzten zu erobernden Landstriche Ostasiens. Auch die europäischen Großmächte profitierten vom ökonomisch, politisch, sozial und militärisch geschwächten China nach der Niederlage 1895 und rangen in unlauteren Verträgen dem zugrunde gerichteten Reich Ländereien sowie Machtansprüche ab und forderten Zahlungen, die den Staatshaushalt deutlich überschritten.13 Erst durch diese Schwächungen war es dem Deutschen Reich möglich, China zur Abtretung von Kiautschou zu verpflichten. Japan wurde nun zum direkten Grenznachbarn und somit zu respektierende und zu studierende Kultur für Medien, Intellektuelle und Außenpolitiker.

11 Der analoge deutsche Propagandaspruch dazu lautete: „Kein Sonnenuntergang in unserem Reich“. Vgl. dazu beispielsweise die Abbildung einer Kolonialuhr des Deutschen Reichs von 1905 in Hinz (1998). S. 15. 12 Vgl. Mühlhahn (2007). S. 43-44. 13 Vgl. Gernet, Jacques: Die chinesische Welt. Die Geschichte Chinas von den Anfängen bis zur Jetztzeit. Frankfurt am Main 1997. S. 468-493 u. 504-507. [Hier v.A.: 482-490 u. 506.]

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„Die Blicke der Welt sind auf das Inselreich im fernen Osten gerichtet, welches in seiner nationalen Entwicklung als junge Grossmacht des Stillen Ozeans in einen Kampf mit dem grossen russischen Nachbarreich geraten ist“14, schreibt der Konsul, Berater und „Zeremonienmeister“ Ottmar von Mohl im März 1904 im Vorwort zu seinen Memoiren Am japanischen Hofe. Der Japanisch-Russische Krieg 1904/1905 und die darauffolgende Demütigung einer europäischen Großmacht hatten weitreichende Folgen für das Bild des Westens von Japan. Die Inselnation wurde nun endgültig entweder als lukrativer Bündnispartner oder als militärische „gelbe Gefahr“ gedacht. Stimmen beider Meinungen wurden laut, die sich auf die Bereiche Kultur, Handel und Politik verteilten und Japan zu einem stetigen Thema in den Zeitungen erhoben. Die kulturelle wie religiöse Beschau richtete sich dabei vor allem auf die Meiji-Restauration und die damit einhergehenden epochalen Veränderungen eines traditionsreichen Staates hin zu einem modernen, europäisierten Reich. Repräsentanten dieser Antipoden sind beispielsweise in Bernhard Kellermanns Ein Spaziergang in Japan die europäisierten Hafenstädte Yokohama und Osaka gegenüber dem mystisch-religiösen Kyoto der Tempel und Geishas oder dem provinziellen Charme der vermeintlichen Rückständigkeit in Miyazu. Infolge dieses wandelnden Japaninteresses und seiner medialen Omnipräsenz wurde Bernhard Kellermann das immense Reisegeld für eine Erkundung Japans durch den Hausverlag, Kunstmäzen und „Kulturverleger“15 Paul Cassirer16 ermöglicht. Dieser erhoffte sich großen Gewinn von authentischer, exotistischer Literatur seines berühmten Schriftstellers, die, indem sie die Modeerscheinung Japonismus bedient, dem aktuellen Publikumsgeschmack gefallen würde. Da seit den ersten veröffentlichten landeskundlichen Texten von Mitreisenden Commodore Perrys „zahllose Reiseberichte über Japan verfaßt wurden, fühlten sich die Reiseschriftsteller zu Beginn des 20. Jahrhunderts verpflichtet, ihre Darstellungen zu rechtfertigen bzw. die jeweiligen Beson-

14 Mohl, Ottmar v.: Am japanischen Hofe. Berlin 1904. o.P. 15 Vgl. Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München 1991. S. 279. 16 Vgl. zur medialen Präsenz und dem eigenen Kulturprogramm beispielsweise: Cassirer, Paul: Kunst und Kunsthandel. In: Pan. Halbmonatsschrift. Jg. 1, Nr. 14 (1. April 1911). S. 457-469. sowie Jg. 1, Nr. 17 (1. Juli 1911). S. 558-573.

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derheiten hervorzuheben.“17 So schickt der noch junge Paul Cassirer Verlag einen seiner „Bestseller-Autoren“18 auf die kostspielige Inspirationsreise nach Japan und gibt damit zu erkennen, dass kein detaillierter Baedeker, sondern ein neues literarisches Werk nach den gewinnbringenden „lyrischen Romanen“ Yester und Li sowie Ingeborg erwartet wurde. Der 1910 erschienene Reisebericht Ein Spaziergang in Japan, der sich auf die Faktizität der eigenen Erfahrung des Autors beruft und als „die umfassendste und auch bekannteste schriftliche Bearbeitung der Japanreise Bernhard Kellermanns“19 gewertet werden kann, bedient sämtliche, der europäischen Leserschaft bereits bekannte Themen und Stereotype, die aufs Engste mit dem Land verbunden sind. Da es als „guter Ton für jeden Zufallsbesucher [galt], ein Buch über Japan zu schreiben“20, stand Kellermann bereits zu Beginn des Unternehmens unter Originalitätszwang. Strukturelle Parallelen zwischen der Anforderung an Reisende, ein genretypisches Produkt aus seinen Erinnerungen zu konstruieren, und dem Werk Kellermanns lassen sich auch im Vergleich von Ein Spaziergang in Japan mit dem „Kulturverleger“ Paul Cassirer ziehen. Cassirer war mit seinem Vetter Bruno viele Jahre in Führungspositionen der Berliner Secession tätig und folglich engagiert in Import und Verbreitung von Kunstwerken und Theorien des Impressionismus nach Deutschland. Gemälde von Manet, Cézanne, Monet, Gaugin und Van Gogh kamen so erstmals nach Berlin und bestimmten von nun an die Vorstellung, „die sich das deutsche Publikum von der [französischen] Kunst des Fin de siècle machte.“21 „Man nannte ihn den ‚Napoleon

17 Gernig, Kerstin: Die Eingeweihten des Unbegreiflichen. Zur Topik in deutschen Japanreiseberichten. In: Renate Schlesier u. Ulrike Zellmann (Hrsg.): Reisen über Grenzen. Kontakt und Konfrontation, Maskerade und Mimikry. Münster 2003. S. 63. 18 Feilchenfeldt, Rahel E. u. Markus Brandis: Paul Cassirer Verlag. Eine kommentierte Bibliographie. München 22005. S. 256. 19 Schaffers (2006). S. 58. 20 Pekar (2003). S. 97. Zitation im Original. 21 Löhneysen (1972). S. 154.

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des deutschen Kunsthandels‘ und sagte ihm nach, er könne wie Midas alles, was er berühre, in Gold verwandeln.“ 22 Nachdem die Vettern 1901 ihre berufliche Partnerschaft aufgelöst hatten, gründete Paul unmittelbar nach der Beendigung einer verabredeten siebenjährigen Sperrfrist 1908 den Paul Cassirer Verlag und konnte in den folgenden Jahren eine Gruppe bedeutender junger Künstler wie Wedekind, Heinrich Mann, Lasker-Schüler, Sternheim, Bahr, Hasenclever, Slevogt, Orlik oder Liebermann für seine Publikationen gewinnen. „Um die Jahrhundertwende trat erstmals ein neuer Verlegertypus ans Licht: der Kulturverleger oder Individualverleger, der ‚als Partner, Freund und Gleichgesinnter unter seinen Autoren lebt, sie finanziert, anregt, fördert, ihre ‚Bewegung‘ organisiert, ihre Öffentlichkeit steuert, ihre Bücher und die gemeinsame Zielsetzung noch vor Gericht vertritt–: ein Akteur im Literaturgeschehen, der als produktives Element an den Äußerungen, Beziehungen und Entwicklungen seiner Autoren teilhat, d.h. ein integraler Faktor der Literaturgeschichte wird‘.“23 Cassirer wird „Mittelpunkt [eines] weitgespannten Kunstpanoramas“, für den „Salon und Verlag keine ‚Unternehmen‘, kein Handel, der sich in Soll und Haben, in Zins und Besitz niederschlägt[, sind], sondern Mittel auf der Suche nach einer neuen, von Kunst und Idealen bestimmten Gesellschaft. Kern dieser künftigen Sozietät sind die Beziehungen zu Freunden, zu Malern und Autoren, und jedes dieser Verhältnisse war ein anderes.“24 Wie Cassirer „das Gute mit dem Nützlichen“25 zu verbinden wusste, lässt sich aus dem Plan ablesen, den nach dem Selbstmord seiner Geliebten psychisch labilen Karl Walser zusammen mit dem erfolgreichen Jungautor Bernhard Kellermann nach Japan zu schicken. Kellermann, der mit seinen frühen Erzählungen im Fischer Verlag im deutschen Sprachraum Bekanntheit erreicht hatte, machte aus seinem „Wunsch, schreibend auf Weltreise

22 Echte, Bernhard: Berlin – Japan retour. Karl Walsers künstlerische Entwicklung. In: Philippe Lüscher (Hrsg.): Karl Walser in Japan. Eine Reise im Jahr 1908. Wädenswil 2008. S. 83. [Herv. i. O.] 23 Wittmann (1991). S. 279. 24 Löhneysen (1972). S. 162-163. 25 Echte (2008). S. 101.

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zu gehen, kein Geheimnis.“26 Mit Kellermann und Cassirer treffen damit zwei präformierte Erwartungen an das zu schreibende Buch aufeinander. „Cassirer versprach sich für den Künstler und Freund Karl Walser Erholung von seinem Schock und Anregung zu Illustrationen, vom ehrgeizigen, reiselustigen Bernhard Kellermann einen locker geschriebenen, leicht lesbaren Reisebericht über das gegenwärtige Japan, seine Kultur, seine Teehäuser, Menschen, Landschaften und Städte. Zusammen würden Walser und Kellermann, so hoffte Cassirer, ein oder zwei aufsehenerregende Japanbücher für seinen jungen Verlag liefern.“ 27 Kellermann hingegen scheint mit einem explizit literarischen, einem privaten und einem ökonomischen (parallel bekam er einen Übersetzungsauftrag für Basil Chamberlains Things Japanese) Ziel an die Reise herangetreten zu sein und hat damit die klassischen Anforderungen eines „locker geschriebenen“ Reiseberichts bereits überschritten. Die beiden großen kommerziellen Erfolge Ein Spaziergang in Japan und Sassa yo Yassa. Japanische Tänze speisen sich dabei inhaltlich beinahe ausschließlich aus den Erfahrungen des Autors und nicht des mitreisenden Malers Walser, da sich die Reisegefährten bereits auf der Anreise zerstritten und wohl in ihrer Zeit in Japan wenig bis keinen Kontakt hielten. In der Verlagswerbung heißt es: „Der Dichter von ‚Ingeborg‘ und ‚Yester und Li‘ wurde durch eine seltsame Laune für einige Monate nach Japan verschlagen.“28 Dass diese „seltsame Laune“ wohl nur verlegerische Taktik war, den Reisebericht aus „Hymnen“, „pittoresken Bildern“ und „bunte[m] japanischen Leben“ einem impressionistischen „Romantiker“ zuzuschreiben, konnte jeder Leser aus dem „entzückende[n], liebenswürdige[n] Buch“29 mit Widmung an Paul Cassirer entnehmen: „Meine Kuli verstanden keinen Scherz. Hai! Hai! bellten sie. Aufgepaßt! Platz gemacht! Seht ihr nicht, ihr Leute, daß wir ihn fahren, den hohen Herrn, der im Auftrage des großen Paul Cassirer reist!“ (S. 120)

26 Feilchenfeldt, Rahel E.: Japonismus und Orientsehnsucht. Die Reisebücher aus dem Verlag von Paul Cassirer. In: Philippe Lüscher (Hrsg.): Karl Walser in Japan. Eine Reise im Jahr 1908. Wädenswil 2008. S. 114. 27 Ebd. S. 115. 28 Feilchenfeldt (22005). S. 257. 29 Ebd.

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Cassirers publik gemachte Anweisung entlarvt intratextuell die Konstruiertheit des Reiseberichts als Auftragsleistung, wo er gerade Lob für Finanzierung und Möglichkeit hervorbringen soll. Zusätzlich stellen die zu Werbezwecken vorveröffentlichten Teilszenen aus Ein Spaziergang in Japan in namhaften Zeitschriften das mit dem „Kulturverleger“ verbundene ambivalente Geflecht aus freiem Künstlertum, Auftragsarbeit und Publikumserwartung zur Schau. In Die neue Rundschau wird das Exzerpt jedoch widererwartend nicht in der Rubrik „Romane, Novellen, Briefe, Reisen, Gedichte“ gedruckt, sondern unter „Aufsätze“ neben Berichten über Tuberkulose, Bismarcks Jugend oder Die Sendung der Frau unter dem Titel Das Theater in Japan veröffentlicht.30 Im Kontrast dazu steht das mit Aus dem provinzialen Japan. Reiseplauderei von Bernhard Kellermann neu betitelte Kapitel in Westermanns Monatshefte.31 Dem Programm der Kulturzeitschrift folgend, gibt es in diesen Ausgaben keine Distinktion zwischen (kultur-)wissenschaftlichen und literarisch-künstlerischen Texten, wobei der gewählte Titel aber deutlich auf eine fiktional-narrative Kategorie verweist. In diesem Spannungsfeld von ökonomisch vorkalkulierter Auftragsarbeit, Zuschauererwartung und künstlerischem Anspruch eines bereits etablierten Autors musste sich Ein Spaziergang in Japan positionieren. Obgleich Kellermann durch die Darstellung eines „Spaziergangs“ und der eigenen aufwendigen Programmatik gegen den Massengeschmack der Reisenden ein authentisches Bild der fremden Nation darreichen möchte, erfasst die von Schaffers aufgegriffene Definition des „Reiseberichts als Intertext“ von Manfred Pfister den Text sehr präzise.32 „Trotz der, der Reise-

30 Kellermann, Bernhard: Das Theater in Japan. In: Die neue Rundschau. Jg. 20, Bd. 4 (1909). S. 1434-1450. 31 Kellermann, Bernhard: Aus dem provinzialen Japan. Reiseplauderei. In: Westermanns Monatshefte. Illustrierte deutsche Zeitschrift für das geistige Leben der Gegenwart. Bd. 107, H. 1 (1909). S. 52-64.; Kellermann, Bernhard: Aus dem provinzialen Japan II. Reiseplauderei. In: Westermanns Monatshefte. Illustrierte deutsche Zeitschrift für das geistige Leben der Gegenwart. Bd. 107, H. 2 (1909). S. 201-210. 32 Vgl. Schaffers (2006). S. 62-66. – Zu ähnlichen Schlüssen aus einer Methodik der konstruktivistischen Systemtheorie kommt Clemens Murath, der im Rückgriff auf Intertextualitätskategorien und (post-)koloniale Theorien den Reisebericht und die damit eng verwobene Erfahrung von Fremde als komplexe Arran-

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beschreibung per Gattungsobligatorium zunächst immanenten, Negation der Intertextualität ist diese ein wichtiges Merkmal der Gattung“33 und präfiguriert die Reise in ihrer Vorbereitung, Erfahrung sowie narrativen Verarbeitung stetig. „Oft hat man den Eindruck, als reisten die Autoren gar nicht durchs Land, sondern ‚im Diskurs‘, in welchem sie sich gewissermaßen von einem Topos zum anderen hangelten.“34 Kellermann(s Erzähler) selbst behauptet sich dagegen abzusetzen: „Es gibt Reisende, die noch warm vom Zug in Museen und Tempel stürzen, wie Fieberkranke mit Büchern in der Hand aus einer Tür heraus- und in die andere hineinrennen – zu diesen gehöre ich nicht. Das erste, was ich in einer neuen Stadt tue, ist, daß ich sie regelrecht in Besitz nehme. Ich beginne mit dem Pflaster sozusagen, besuche eine kleine Kneipe, sitze wie ein Einheimischer auf einem Brückengeländer und betrachte neugierig die vorbeihastenden Fremden, gehe ein paar Schritte und besuche wieder eine kleine Kneipe. Und erst knapp vor der Abfahrt jage ich wie eine Pistolenkugel in ein Museum und auf der andern Seite wieder heraus.“ (S. 24-25)

Sich vom Massentourismus befreien, quasi ein Einheimischer werden, der die Europäer als „Fremde“ anreden kann, eben spazierend das Land erforschen, ist der programmatische Plan des Erzählers. Doch in seiner speziellen Wahl der Erkundungsorte bestätigt sich Pfisters Definition des „Reiseberichts als Intertext“. Diese Reiseziele sind zwar abseits der touristischen Route, arbeiten sich jedoch an den typisch japanischen Orten ab: Teehäuser, No-Theater, provinzielle Kleinstädte, die das Stereotyp der Miniatur reprä-

gements (‚bricolage‘) versteht, die sowohl Schlüsse auf den Reisenden wie seine Kultur ziehen lassen und die Reise zu einem „die Fremde lesen“ transformieren können. „Oder mit anderen Worten, das System zitiert sich selbst in seiner Bemühung, das Andere zu verstehen.“ (S. 6) Dabei verweist es aber immer wieder auf sich selbst, da systemtheoretisch die Beschau der Fremde im eigenen kognitiven System bereits angelegt sein muss. – Murath, Clemens: Intertextualität und Selbstbezug – Literarische Fremderfahrung im Lichte der konstruktivistischen Systemtheorie. In: Anne Fuchs u. Theo Harden (Hrsg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995. S. 3-18. 33 Schaffers (2006). S. 63. Zitation im Original. 34 Pekar (2003). S. 97. Zitation im Original.

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sentieren. Ein Spaziergang in Japan ist zusätzlich durch die mitgebrachten europäischen Standardwerke von Basil Hall Chamberlain sowie die zitierten Bände von Lafcadio Hearn und Isabella L. Bird als Komposition markiert. Dabei stellt Kellermann dar, dass sein Buch nur einen kleinen Ausschnitt seiner umso bedeutender erscheinenden Reise darstellen kann: „Es gab Tausenderlei zu sehen, auf der Bühne, rings um mich her. Ich sah mit hundert Augen und alles gleichzeitig. So aber kann ich es ja nicht erzählen.“ (S. 31) Einer mimetischen Wahrheit, auf die sich ein Reisebericht sui generis berufe, wird im Motiv des sondierenden Auges und der narrativen Translation bereits an dieser Stelle abgedankt. Im Modus der Literatur erklärt sich Kellermanns Reisebericht als künstlerisches Medium und nicht als biographisches Tagebuch. Die angesprochene Fülle und Gleichzeitigkeit immenser Eindrücke wird für Kellermann jedoch kein Anstoß zu tiefgreifenden ästhetischen Überlegungen. Sie werden als Problem erkannt und akzeptiert und deuten selbstreflexiv auf die literarische Verarbeitung eines Abenteuers in der Fremde, wie sie jeder Leser nachvollziehen kann, auch wenn die eigenen Reisen Europa nie überschreiten sollten. Weit weniger als dies bei philosophierenden Texten wie dem Reisetagebuch eines Philosophen Graf Hermann Keyserlings der Fall ist, wird Ein Spaziergang in Japan ein dezidiert literarischer Text, der lediglich sein Motivreservoir in der Authentizität eigener Expedition verankert. Die Wahrnehmung wird ästhetisiert, „indem sie [um] Vergleiche und literarische Bilder für das Geschehene“35 bereichert wird. Der Leser, der bereits mit den ersten Worten „Ah, da sind wir...“ (S. 5) direkt angesprochen wurde, wird stetig in die Darstellungen als eine Art Mitreisender einbezogen: „Sahst du es nicht? Eben gingen zwei kleine geputzte Tänzerinnen vorüber und sahen dich neugierig an. […] Dazu sind die Straßen von oben bis unten mit verwirrenden Schriftzeichen bedeckt. Pfähle mit Schriftzeichen, Täfelchen, Papierlaternen. […] Laß die Sonne scheinen und alles wird in Farben leuchten, die Kleider der kleinen Mädchen und Kinder werden wie bunte Schmetterlinge erscheinen, die Sonne wird die blitzblanken Läden und Werkstätten erhellen und die Papierlaternen erleuchten.

35 Gernig (2003). S. 64.

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Laß es regnen, dann tauchen mächtige Papierschirme in den Straßen auf, Strohmäntel, und die Leute gehen in knappen vorsichtigen Schritten auf den hohen Stelzenschuhen dahin. Der Abend kommt: die Straßen wimmeln von matt leuchtenden Papierlaternen und Miriaden verwirrender, rätselhafter Schriftzeichen, die erst lebendig werden, sobald die Lampen brennen.“ (S. 27-28)

An dieser Stelle wird versucht, den verwirrten, angestrengten und verzauberten Blick eines Analphabeten36 der Leserschaft narrativ näherzubringen und so das befremdliche, exotische Gefühl nachzuzeichnen. Ein Gefühl, das den Reisenden bis zum Ende nicht verlässt sowie massiv zur Mystifikation des fremden Reiches beitragen und durch die Verbindung des geisterhaften Lichtscheins der Papierlampen mit den darauf abgebildeten Worten verdeutlicht wird. Gerade während der ersten Seiten summieren sich Fingerzeige auf die „Miriaden Ideogramme“ (S. 41), die ihm allerorts begegnen und Fremdheit sowie Unverständnis, aber auch Staunen und Bewunderung auslösen.37

36 „Die Straßen in Japan haben keine Namen, und wenn sie Namen haben, kann man sie nicht lesen.“ (S. 29) 37 Vgl. bspw.: „Wir rasseln durch enge, krumme Gassen, die Häuser sind niedrig aus Zigarrenbrettchen und Papier, eine Flucht phantastischer Schriftzeichen auf den Laternen, überall.“ (S. 7) „Und ringsum wimmeln stets die gleichen phantastischen Ideogramme auf den Papierlaternen.“ (S. 7) „In einem kleinen Vorraum steht eine Menge solch hoher Stelzenschuhe, ein geschlitzter blauer Vorhang mit weißen Ideogrammen verbirgt das Innere des Hauses.“ (S. 7) „[D]iese enge, krumme Gasse war von Hunderten von viereckigen Papierlampen beleuchtet, die in sanftem, gelbem Lichte schimmerten und alle samtschwarze, sonderbare Schriftzeichen trugen.“ (S. 12) „Ein Mattenflechter reiht Halm an Halm und verknüpft sie mit zwei grünen Schnüren, ein achtjähriger Holzschneider schneidet ruhig und still die schwierigen japanischen Schriftzeichen in einen Stempel.“ (S. 26) „Der Abend kommt: die Straßen wimmeln von matt leuchtenden Papierlaternen und Miriaden verwirrender, rätselhafter Schriftzeichen, die erst lebendig werden, sobald die Lampen brennen.“ (S. 28) „An den Pfeilern hingen Tücher, mit chinesischen Ideogrammen bedeckt.“ (S. 43) „Auf dem Kuchen liegt ein Blättchen Papier, Blumen sind darauf gemalt und Schriftzeichen. Sie sagt: ‚Japanese poem‘, und ich danke ihr. Hier sitz ich nun und harre der märchenhaften Dinge, die kommen sollen.“ (S. 47) „Vor dem Tempel steht das

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Uta Schaffers hat in ihrer Untersuchung Konstruktionen der Fremde aufgezeigt, wie der Erzähler seine Suche nach dem „alten Japan“ mit Märchenmotivik speist und explizit genretypische Elemente verwendet. Diese erlauben es ihm als Gestaltungskonvention, „Phantasien und Sehnsuchtsräume ungehindert auszudrücken und zu kreieren“38. Die kultischen Logogramme sind ein Teil dieser erzeugten Parallelwelt mit ihrer unlesbaren Physiognomie. Erweitert wird der märchentypische Aufbau kindlicher Erzählstrukturen durch die Erotik der Fremde, also das Bestaunen in der Heimat tabuisierter Sexualität, durch die Geishas und jungen, verführerischen und zumeist minderjährigen Tänzerinnen: „Japan, du bist ein glückliches Land, schöne Mädchen allerorts!“ (S. 46) Da „das Lesemuster Erwachsener für eine wirklich befriedigende Phantasietätigkeit über das Märchen hinaus auch eine fortschreitende Anpassung an das Realitätsprinzip verlangt, muss der Spaziergang als Textform idealer Weise märchenhafte

Volk, Kopf an Kopf, zwischen den Pfählen mit Ideogrammen“ (S. 54). „Ich bekam eine wunderbare Rechnung mit drei roten Stempeln, ein ganzes Bilderbuch.“ (S. 76) „Diese verwirrenden Reihen matter Papierlaternen mit den Hieroglyphen! Ist das nicht eine Stadt von Gespenstern, die Schriftzeichen eine Geisterschrift? Ich lese zuweilen, es gibt Schriftzeichen auf diesen matten Lampen aus geöltem Papier, die auf mich wirken wie beschwörende Zauberformeln.“ (S. 80) „Ein Zauberkünstler, ein Wahrsager. […] Er hat Zeichen aufs Papier gepinselt, Reihen von Punkten, Kreise, Monde, Ideogramme.“ (S. 101102) „Alle diese Laternen mit schwarzen Hieroglyphen, dachte ich jedesmal […], sind aus Bambusrohr, siehst du!“ (S. 126) „Oder er ölte fertige Laternen, oder ich sah ihm zu, wie er getrocknete Lampen geschockt mit Schriftzeichen versah.“ (S. 128) „Ich verfolgte den Pfad und kam an kleinen Friedhöfen vorüber; die schlichten, schmalen Steine mit den rätselhaften Inschriften waren von Blumen und Kräutern überwuchert.“ (S. 132) „Über den Schiebetüren hing ein schmales gerahmtes Manuskript, ein Gedicht in schwarzen kunstvoll gezeichneten chinesischen Charakteren.“ (S. 137) „Dort hingen auch die vielen kleinen Handtücher, mit Schriftzeichen, Blumen, Schmetterlingen geschmückt.“ (S. 139-140) „Eine Reihe von langen Fahnen an Bambusstangen stand davor, bedeckt mit rätselhaften Schriftzeichen, in den rechten Ecken, also da, wo die Inschrift beginnt, eine Art magerer Baßschlüssel, die sagten, daß die Fahnen Geschenke waren.“ (S. 178) 38 Schaffers (2006). S. 65.

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Züge mit realitätskompatiblen Material vereinigen.“39 Der erste Abschnitt des Kapitels „The Beaten Track“ gibt präzise den Ton an, wenn es heißt: „Dieses ganze Tsuruga war ja, wie gesagt, ein einziges großes Teehaus, und es gab hier kleine liebliche Zauberinnen mit allen möglichen Talenten.“ (S. 17) Realitätsbezug, exotisch-phantastische Gegenwelten und tabuisierte Erotik werden zu einem Amalgam vereint, das dem Anspruch des Genres Reisebericht zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entspricht. Sind die weißen Flecken der Weltkarte nun durch den Forschungs- und Entdeckungsdrang des westlichen Menschen verschwunden, bleibt den Schreibenden nur die Flucht in die persönlich-individuelle oder die markiert-sagenhafte Narration. In diesem Zuge wird das Freudenviertel Yoshiwara, der einzige legale Ort für Prostitution im damaligen Tokyo, zur „Märchenstadt“ (S. 71) erhoben, indem der Erzähler freudig seinen Ausruf wiederholt: „Schöne Mädchen links und rechts, vorn und hinten – Japan, du bist ein glückliches Land!“ (S. 74) „Oh, Yoshiwara, du bist ein Märchen aus schönen Mädchen, Gold, Musik, Blütenduft und Mondschein, du bist Indien und das Paradies der Türken, und keine westliche Phantasie wäre imstande dich zu erträumen!“ (S. 74) Solch eine für Exotismus und Orientalismus typische männlich-imperialistische Haltung „kolonialisiert sozusagen die Fremde in Gestalt des anderen Geschlechts, nimmt sie zuerst über den Blick in Besitz und degradiert sie zum Objekt der eigenen (Besitz-)Wollust.“40 Diese textkompositorischen Aspekte zielen selbstredend auf eine Bearbeitung autobiographischer Reiseerfahrung im Medium der Literatur, die nun wiederrum auf den ökonomischen Hintergrund des Buchmarkts verweist. Kellermann muss sich dem Publikum annähern und gewisse Stereotype und Muster beibehalten, damit dieses seine eigenen, medial vermittelten Imaginationen des fremden Reichs im Osten wiedererkennen kann. Gleichzeitig ist er aber durch den Innovationsdrang der Kunst verpflichtet, sich dezidiert von seinen Vorgängern abzusetzen. Dies geschieht bei Kellermann vornehmlich durch die Literarisierung seiner Betrachtungen, indem Ein Spaziergang in Japan wie die Erzählinstanz selbst zwischen Beschreibung und Erzählung divergiert. Folglich muss auch Wolfgang Reifs Kritik entschärft werden, dass, da „Kellermann auch nach einem einjähri-

39 Ebd. S. 66. Zitation im Original. 40 Ebd. S. 93.

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gen ‚Spaziergang in Japan‘ seinem klischeehaft verniedlichten Japanbild und einem rein ästhetischen Wahrnehmungsvermögen verhaftet bleibt,“ es im gesamten Text „keine Entwicklung“ gebe. „Das Schema [werde] ohne innere Spannung und Steigerung zum Leerlauf, dem die Leere des blasierten ‚Weltmanns‘ und seine Unfähigkeit zu einer Begegnung mit der fremden Kultur entsprechen.“41 Aus einer Erwartung heraus, eine Narration mit allen an sie gebundenen Schemata von Handlung und Spannung geboten zu bekommen, eine Erwartung, die der Text durch sein stetiges explizites „erzählen Wollen“ selbst aufbaut, muss die Leserschaft enttäuscht werden. Und auch ein rein deskriptiv-empiristisches Schreiben, wie es seit einem aufklärerischen Reisebericht eines Friedrich Nicolai möglich war, wird in Kellermanns Text nicht vorgefunden. An der klassischen Binarität des Genres gemessen scheint Ein Spaziergang in Japan sein gattungstypisches Ziel verfehlt zu haben, da es misslingt, dem narrativ-ästhetischen oder dem empirisch-deskriptiven Anspruch gerecht zu werden. Doch Reifs Kritik soll hier nicht übernommen werden, sondern wird als exemplarische Reaktion der gattungskritischen Leser verstanden, mit denen sich ein Reiseschriftsteller und sein Werk zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wie heute arrangieren mussten und müssen. Im Kapitel „The Beaten Track“, das sich durch seinen Titel explizit mit Isabella Birds Reisebericht Unbeaten Tracks in Japan42 misst und sich auf die touristische Komponente von Kellermanns Reise bezieht, herrschen noch beschreibende Formulierungen vor. Dabei interagiert der Erzähler nur sehr wenig mit den ihm begegnenden Einheimischen: „Ich wende mich der Bühne zu […] und gleichzeitig bemerkte ich, wie ein fetter, glänzender Japaner, ein Buddha, die Eßstäbchen benützt. Sie müssen eine Art Zange bilden […]. Unter den grünen Blättern entdecke ich noch ein Stück Hering, und damit fange ich an. Er ist mit kaltem Reis gefüllt. Auch meine Kabelstücke entpuppen

41 Reif, Wolfgang: Exotismus im Reisebericht des frühen 20. Jahrhunderts. In: Peter J. Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt am Main 1989. S. 439. 42 Bird, Isabella L.: Unbeaten tracks in Japan. An account of travels in the interior including visits to the aborigines of Yezo and the shrine of Nikkô. London 1880.

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sich als Fischhäute, die mit Reis ausgestopft sind. Die Lederklappen sind zähe Omeletten aus Reismehl, die schwarzen Pechkugeln erinnern mich an Quitten. Das ist in der Tat nicht das schlechteste, was ich je zu essen bekam – ich möchte nur wissen, weshalb die zwei hübschen Tänzerinnen an meiner Seite in ihre Fächer kichern.“ (S. 68)

Die zahlreichen Theaterbesuche des Kapitels sind wie in diesem beispielhaften Abschnitt rein informativ-beobachtend verfasst und entwickeln keinerlei wirkliches Handlungsmoment oder dezidierte Charakterbeschreibung. Der Erzähler ist stets getrennt von seiner japanischen Umgebung, auch wenn er sich zu Beginn von den Touristenmassen absetzte. Die Interaktionen mit den Einwohnern fallen nicht allein wegen der Sprachbarriere knapp aus, sondern werden gar nicht erst angestrebt. Das Kichern der beobachtenden Frauen ist als unverstanden dargestellt und im Folgenden nicht weiter hinterfragt. Der Spaziergang als perspektivisches Paradigma des Textes ist somit als voyeuristischer Akt innerhalb der fremden Masse zu verstehen, ohne jedoch ein Teil von ihr zu werden. Der Spaziergang wird „Schauplatz“43, wie ihn Benjamin für Baudelaire als Pariser flâneur präzise kontrastiert. Rolf Goebel fasst die europäische „flânerie“ in Japan als „a dialectical movement of familiarity and strangeness. On the one hand, the flâneur seeks to perceive things from the point of view of the ‚native‘ and even allows the foreign signs to undermine his subjective preconceptions and the universalistic claims of European values. On the other hand, his selfconsciously aestheticist predisposition produces the meaning of the foreign sights as a rhetorical effect of his own cultural memory.“44 In diesem isolierten Grenzgang zwischen Fremde und Heimat liegt auch das Neue, der ersehnte Innovationscharakter der eigenen Darstellungen. Doch der flâneur, wie ihn Benjamin in Paris sieht, kann nur zwischen Heimat und Urlaub divergieren, weil er durch seine europäische Physiog-

43 „Dem flaneur ist seine Stadt – und er sei in ihr geboren, wie Baudelaire – nicht mehr Heimat. Sie stellt für ihn einen Schauplatz dar.“ – Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. In: Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Bd. V.I. [Das Passagen-Werk] Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1982. S. 437. 44 Goebel, Rolf J.: Benjamin’s Flâneur in Japan: Urban Modernity and Conceptual Relocation. In: The German Quarterly. Bd. 71, H. 4 (1998). S. 379.

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nomie nicht von der Masse zu trennen ist. Dies ist dem Japanreisenden nicht möglich, so sehr auch versucht wird, diese Sonderheit seines Spaziergangs zu kaschieren. Eine Selbsttäuschung ist in der Erzählfigur angelegt. Denn obgleich oft darauf hingewiesen wird, wie gerade das Europäische am Erzähler wahrgenommen wird und erst diese Besonderheit zu Interaktionen mit den Japanern führt, versucht er sich immer wieder von den normalen Touristen abzuheben. Vor allem müssen ihn dabei unwissende, fotografierende Amerikanerinnen abstoßen, die das Delikate einer exotischen Parade durch ihr Benehmen zerstören: „Das japanische Volk war fasziniert und entzückt von dem Anblick. In vollkommener Ruhe und Ordnung kauerte und stand es mit offenen Mäulern. Nur die Fremden hatten als Gäste Kiotos keine Ursache, sich anständig zu betragen, sie benahmen sich so flegelhaft wie zu Hause. Die Amerikanerinnen kletterten rudelweise über die Bambusbarrieren, zerrissen sich Röcke und Hosen, einerlei, pflanzten sich vor den Geishas auf und hielten ihnen den Kodak wie einen Revolver eine Spanne weit vors Gesicht, tick! Dabei waren sie nicht einmal hübsch, schlechte Jahrgänge, ich würde mich schämen, fools.“ (S. 88-89)

Angewidert wird hier ein vollends konträres Reiseverhalten geschildert, als es der Erzähler paradigmatisch beschreibt und narrativ seinen Lesern vermitteln will. Der möglichst mimetischen Eingliederung in die Masse wird ein unverschämtes Verhalten gegenübergestellt, das im Motiv der Kamera poetologisch wirkt. Es geht in Ein Spaziergang in Japan nicht um einen authentischen Reisebericht einer Abbildrealität, sondern um den Versuch einer ästhetischen Literarisierung von Fremderfahrung. Dabei findet das bekannte stereotypisierte Japan nur nebenbei Erwähnung und der eigentlich Fokus wird auf spezielle Ausschnitte der Kulturlandschaft, das Teehaus, das Theater, verlagert – „Ich sah mit hundert Augen und alles gleichzeitig. So aber kann ich es ja nicht erzählen.“ (S. 31) Die Kultur kann explizit nur über die unüberwindliche Klippe des Befremdens wahrgenommen und der zur Einfühlung direkt angesprochenen Leserschaft als Fremde nachgezeichnet werden. Die Theaterstücke, Teezeremonien oder Tänze werden selten wirklich verstanden und nicht ausreichend erklärt, der Versuch mehr zu erfahren endet nicht in einer Auflösung der Frage, sondern in einer Beschau der kulturellen Wandlungen des Reichs, die immer wieder Erwähnung finden:

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„Infolgedessen habe ich nie erfahren was aus dem schönen bleichen Mädchen geworden ist. Ich fragte alle Leute, aber die modernen Japaner, die Englisch sprechen, haben kein Interesse mehr am alten Theater ihres Volkes, und jene, die die Stücke verfolgen und kennen, sind keiner europäischen Sprache mächtig.“ (S. 39)

Was hier bereits anklingt und später mehrfach wieder aufgegriffen wird, ist das Paradox der Generation der Meiji-Restauration, sich zwischen der starken Tradition des „alten Japans“ und den modernen Industrialisierungstendenzen zu positionieren. Es sei vorweggenommen, dass ein Reisender wie die Erzählinstanz auf der Suche nach dem höfischen Japan, das er aus Büchern und Theaterstücken kennt, zwangsweise verzweifeln musste.45 Aber anstatt die phantastischen Erwartungen aus der Heimat aufzugeben und sich ungezwungen der sachlichen Beschreibung seiner Reise hinzugeben, werden neue märchenhafte Momente aufgebaut, die auch das sich in Modernisierungsprozessen befindliche Japan artifiziell orientalisieren können: „Noch am selben Abend fuhr ich ins Theater, um den berühmten Kirschblütentanz zu sehen. […] Wie Tokio, denke ich, ein wimmelnder Herd von Bazillen, ein Sack voller Flühe. Diese verwirrenden Reihen matter Papierlaternen mit den Hieroglyphen! Ist das nicht eine Stadt von Gespenstern, die Schriftzeichen eine Geisterschrift? Ich lese zuweilen, es gibt Schriftzeichen auf diesen matten Lampen aus geöltem Paper, die auf mich wirken wie beschwörende Zauberformeln.“ (S. 80-81)

Der Begriff „lesen“ wirkt an dieser Stelle unangebracht. Er suggeriert auf den ersten Blick einen Kenntnisstand und eine Einfühlungsbereitschaft, die umgehend wieder gebrochen werden. Lesen würde bedeuten, dass der Erzähler die graphische Oberfläche der Zeichen nicht bewusst wahrnimmt, sondern direkt die Bedeutung feststellen kann. Doch es sind nicht die Worte, sondern die Zeichen selbst, die mystifizierend auf ihn wirken und ihm erneut Übergang in das bezaubernd fremde Japan des Theaters und Teehauses bedeuten. Eine Funktion, die der gesprochenen Sprache nicht zukommt, deren Basisausdrücke immer wieder vom Erzähler zitiert und übersetzt werden.

45 Diese Zweiteilung der Geschichte Japans und das stetige Vergleichen zwischen Moderne und Klassik ist besonders deutlich in Kellermanns explizit benannter Reiselektüre von Basil Hall Chamberlains Things Japanese ausformuliert.

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Es hat den Anschein, als könne sich der Erzähler selbst nicht darüber klar werden, welchen Standpunkt zu den Einheimischen er einnehmen soll. Wie er sich zu Anfang dezidiert von den normalen Touristen absetzen und in der Masse spazieren will, so wird er doch nie wirklich ein aktiver Teilnehmer am stereotyp-japanischen Geschehen. Darin liegen auch die häufig geschilderten und damit als erwähnenswert markierten befremdeten Blicke der Japaner begründet. Deutlich wird dies in einer Episode in einem provinziellen Hotel, einem Ort also, der dem „alten Japan“ näher erscheint als die pulsierenden Metropolen Tokyo oder Osaka. Das weibliche Personal, das den Erzähler auf Schritt und Tritt vom Empfang zum Zimmer und ins Bad begleitet, versteht die wenigen japanischen Worte des Fremden nicht: „Ich verstand nichts. Ich spreche nicht Japanisch, sagte ich. ‚Nihon no hanashimasen!‘ Sie starrte mich an, lauschte, sie war entzückt, japanische Laute zu vernehmen, aber da ich kiotoer Japanisch sprach und wir hier in einer fernen Provinz waren, konnte sie auch das nicht verstehen.“ (S. 113)

Der Erzähler ist eingeschüchtert von der Sprachbarriere, die sich erneut, nachdem er sich in den Großstädten bereits ein wenig assimiliert fühlte, zwischen ihm und seinem Betrachtungsgegenstand aufrichtet. Zusätzlich peinlich berührt durch die aufdringliche Höflichkeit der Dienerinnen, freut er sich, als er endlich das Wort Bad zu verstehen bekommt. Die Ankunft in der Provinz löscht das bisher Geschehene aus und stellt den Erzähler wieder an den Beginn seiner Fremderfahrung. Wenig später im Bad, endlich von den kichernden Frauen allein gelassen, kommt es zur symbolischen reinigenden Metamorphose: „Die Aufschriften an den Hähnen waren japanisch, ich versuchte mein Glück und verbrühte mich, die Brause zischte, endlich gelang es. Darauf hüllte ich mich in das helle Kimono, das die Magd zurechtgelegt hatte, und wiegte mich mit nackten Füßen auf den glatten Korridoren. Gewiß sah ich jetzt aus, als ob ich Japanisch spräche. Denn die Mägde stürzten sich augenblicklich mit neuer Zuversicht auf mich. Merkwürdigerweise verstand ich jetzt sofort, und wir machten uns daran, meinen Speisezettel zusammenzustellen.“ (S. 114)

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Darauffolgend wird ihm vom Hausherren und einem Englisch sprechenden Mann sogar sein Name ins Japanische transkribiert und der Erzähler taucht endlich in das so lang erhoffte „Bild des alten Japan“ (S. 117) ein, als er das provinzielle und damit für ihn klassische und „echte“ Theater besucht. Bereits Chamberlain schrieb in seinem Wörterbuch Things Japanese 1890, hier in der Übersetzung Kellermanns 1912 zitiert: „Das japanische Theater beansprucht ein besonderes Interesse, denn es ist heute die einzige Stätte, wo das Leben Alt-Japans in diesen radikalen Tagen studiert werden kann.“46 Die Transformation des Reisenden am Ende des Kapitels „The Beaten Track“, den er explizit verlässt, bildet den Übergang zum rudimentär-erzählerischen Part des Textes. Auf der Überfahrt an das eigentliche Reiseziel der authentischen Kleinstadt Miyazu ist es dem Europäer sogar möglich, in die Nähe militärischer Häfen zu gelangen, die bis dato nur japanische Soldaten sehen durften. Uta Schaffers geht davon aus, dass sich das Kapitel „Eine kleine japanische Stadt“ primär durch einen Rückgang an Deskription auszeichnet und sich mehr als Erzählung zu erkennen gibt.47 Diesen Schluss legt vor allem der erste Satz nahe: „Ich habe hier die schönste Zeit meines Aufenthalts in Japan verlebt, und ich will von ihr erzählen wie von einem Freund...“ (S. 125). Es gehört zum Entwurf des tourismusfernen Spaziergängers, dass eine unscheinbare Kleinstadt zum Glanzpunkt der ganzen Reise erhöht wird. Diese Tendenz verdichtet sich in den wenigen Momenten, in denen der Erzähler ein kollektives „wir“ mit den Bewohnern und nicht mehr mit den Lesern sowie ein besitzbeanspruchendes „unser“ anschlägt. Doch die versprochene Erzählung bleibt bis auf rudimentäre Fragmente, wie beispielsweise der Liebschaft zum Mädchen Hanako, aus. Die erneut auftretenden Beschreibungen von Theaterdarstellungen fallen weit eher in eine Kategorie des Wiedererzählens als die Schilderung des tatsächlichen Aufenthalts. Der erste Abschnitt des Kapitels gibt primär den Schauplatz Miyazu als eine provinzielle Stadt wieder, in die jedoch das europäische Denken Einzug gehalten hat. Trotz seiner vorhergehenden Metamorphose muss der Erzähler merken, dass er durch sein Äußeres gerade in der Kleinstadt zur an-

46 Chamberlain, Basil Hall: ABC der japanischen Kultur. Ein historisches Wörterbuch (Things Japanese). Zürich 21991. S. 617. 47 Vgl. Schaffers (2006). S. 67.

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gestarrten Attraktion wird und sich nur nach und nach durch beidseitige Gewöhnung unter den Einheimischen assimilieren, also zum Flaneur werden kann. Im Gasthaus kommt der Spaziergänger nun für einige Monate zur Ruhe. „Ich hatte mir vorgenommen wie ein Japaner zu leben,“ ist der Wunsch, der jedoch sogleich ad absurdum geführt wird, „auf den [Tatami-]Matten, aber es ging nicht.“ (S. 138) Die Raumkonstruktion des Hotelzimmers ist das eigentliche Thema des zweiten Unterkapitels. Die japanische Ästhetik des leeren Raums, des tatamiausgelegten Zimmers mit den nackten und verschiebbaren Papierwänden wird positiv aufgenommen. Den einzigen statischen Schmuck bilden eine Statuette der Göttin Kwannon, ein wechselndes Kakemono und „ein schmales gerahmtes Manuskript, ein Gedicht in schwarzen kunstvoll gezeichneten chinesischen Charakteren.“ (S. 137) Die Infrastruktur des Raumes ist so angelegt, dass sich sämtliche Wände zur Seite schieben lassen und das Bild des europäischen Zimmers vollends aufgelöst ist. Damit einher geht gleichzeitig ein geraumer Verlust an Intimität, ein wichtiger Faktor beim Aufenthalt im klassischen Hotel, dem sich folglich das Unterkapitel „Die Besuche“ anschließt, in dem aufgezeigt wird, wie wenig störend es dem Erzähler erscheint, dass sich ständig Menschen in seinem privaten Zimmer einfinden. Diese fremde, aber akzeptierte Raumkonstruktion ermöglicht es, „Schlüssel“ (S. 168) zur „richtigen“ Erfahrung des japanischen Wesens zu finden. Dieser Eintritt versprechende Schlüssel zum Verständnis einer kulturellen Fremde ist ein zentraler Aspekt schreibender Reisender nach der Romantik. Friedrich Wolfzettel schreibt dazu: „Die symbolistische Generation der Reisenden wird systematisch nach solchen ‚Schlüsseln‘ suchen, die unter der Oberfläche das Wesen des Fremden offenbaren.“48 Oberfläche und Tiefenstruktur der Reise werden damit in der „ständigen Obsession der ‚mystères invisibles‘ polar aufeinander zugeordnet“49. Durch den traditionellen Vortrag einiger Marineoffiziere ahnt der Erzähler „zum erstenmal […] etwas von der Schönheit und Kunst der japanischen Musik und des japanischen Gesanges“ (S. 152), die ihn zuerst befremdlich

48 Wolfzettel, Friedrich: Zum Problem mythischer Strukturen im Reisebericht. In: Xenja v. Ertzdorff u. Gerhard Giesemann (Hrsg.): Erkundungen und Beschreibungen der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Amsterdam u. New York 2003. S. 29. 49 Ebd.

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abstießen und an der Amanohashidate beginnt ein „Verständnis des raffinierten landschaftlichen Geschmackes dieses Volkes.“ (S. 168) Im provinziell-authentischen Teehaus und Theater wird der Suchende des „alten Japans“ endlich fündig und fühlt sich sogar imstande, wertend zu urteilen: „Obwohl das Theater schon deutlich die Spuren des Verfalls trägt – besonders in den großen Städten – ist es doch noch die einzige Stätte, die Teehäuser vielleicht ausgenommen, die, von alten künstlerischen Traditionen beseelt, Pracht und Größe des klassischen Japan widerspiegelt. Eine Abendröte, deren verlöschendes Feuer die rote Glut und blendende Schönheit eines Sonnentages zurückruft, während schon die graue Dämmerung herabsinkt. Die vergangene Kultur eines genialen Volkes, unvergleichlich in ihrer Geschlossenheit und ihrem Reichtum, die Geschichte, Götter und Gespenster, Sitten und Kostüme leben auf den dürftigen Bühnen wie in einem Zauberspiegel […]. Es gibt Stücke, die […] [sind] wie durch einen Zauber aus versunkenen unverständlichen Jahrhunderten gestiegen“ (S. 196-197).

Das moderne Drama, das sich um die Jahrhundertwende immer mehr den Einflüssen westlicher Literatur verschreibt, muss hingegen vom „Seher wahren japanischen Wesens“ vollkommen verachtet werden. Gerade in der Kleinstadt werden dem Reisenden die ihm aus Lafcadio Hearn, Basil Hall Chamberlain und Isabella Bird bekannten, als verheerend empfundenen Ausmaße der Modernisierung Japans bewusst. Nachdem die märchenhaften Hieroglyphen in ihrer orientalistischen wie ornamentalen Funktion in der Beschreibung der Raumästhetik rezitiert wurden, erfahren sie in der Visitenkarte der „Burschen aus dem Walde“ (S. 175) eine historische Beleuchtung. Längst nicht mehr gültige, komplexe „Ideogramme“ (S. 176), die für die dörflichen und rückständigen Menschen noch zum täglichen Gebrauch dienen, sind für die weltoffenen, modernen Japaner nur noch „mit Hilfe von Wörterbüchern aller Art“ (S. 176) zu übersetzen. „Das war unglaublich, denn die Schriftzeichen waren so kompliziert, daß ein Künstler dazu gehörte, sie so genau und scharf mit dem Pinsel zu malen, wie sollten Leute aus dem Walde, Bauern, Fischer, fähig sein, solch

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ein Kunstwerk zu vollbringen?“50 (S. 176) Hier wird die von Descartes aufgenommene, von Leibniz am Chinesischen entwickelte Idee einer Universalschrift aufgerufen, mit der „die Bauern besser über die Wahrheit der Dinge urteilen könnten, als es heute die Philosophen tun.“51 Die komplexen kalligraphischen Logogramme, die der chinesischen Schrift entlehnt sind, verbinden den einfachen, ungebildeten Arbeiter mit dem Gedanken einer philosophischen Schrift, die die Idee der Dinge begreifen könne und ihnen gleichzeitig den Zauber und die Macht einer ästhetischen Kunst verleihe. An die historische Perspektive ist an dieser Stelle die Schlussfolgerung gebunden, dass auch die traditionsreiche Schrift der Japaner im Zuge der Modernisierung gefährdet sei. Führt die von Kellermann in seiner Reisebeschreibung stets besorgt betrachtete Industrialisierung des Inselreichs zum Verlust kultureller und traditioneller Identität, wird Japan weiter Europa angenähert und so nur ein Abbild, dem die gleichen philosophischen Probleme anhängen. Das einstige Japan ist nur noch im Kabuki, No und Bunraku zu sehen sowie in einem „Stück des alten Japan, so prächtig und berückend wie es einst war“ (S. 60) und dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist. „The Dynasty of Cakes“, so der Titel des Dramas, im „vornehmsten Theater Tokios“ (S. 59) gespielt, wird zu einer literarischen Referenz von Geschichte, Literatur und Fremdwahrnehmung. Die Darstellung der Synopsis des Stücks richtet ihren Fokus auf die Schilderung von höfischen und aristokratischen Gepflogenheiten sowie auf das schauspielerische und dramaturgische Werk. Durch das Unverständnis von Sprache und mimischen Codes verschwimmen die Grenzen zwischen Symbolik und realistischer Abbildung in der westlichen Betrachtung: „Die Handlung wird ins Symbolische übertragen. Oder stellen die auftretenden Gestalten die Geister der feindlichen Häuser vor, oder Abgeschiedene?“ (S. 64) Die Rezeption des Bunraku-Dramas

50 Interessanterweise enden die vorab erschienen Auszüge von Kellermanns Reisebericht in Westermanns Monatshefte mit eben dieser Anekdote über die japanische Schrift und der senkrecht angeordneten lateinischen Wiedergabe der Visitenkarte. „Es war nichts als eine einfache Visitenkarte: Großes Japan, Provinz Kioto, Josaland usw. usw.; der Distriktvorsteher ‚Wächter des Glücks der alten Brücke‘ und die jungen Männer ‚Feste der Treue‘ und ‚Licht des kleinen Waldes‘.“ – Kellermann (1909). S. 210. 51 Derrida (1983). S. 144.

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wird spezialisiert im naiven Betrachter aus Deutschland und in seiner wundersamen Wirkung unterstützt. Das Dargereichte ist nicht lediglich eine hochstilisierte Aufführung japanischer Herrschergeschichte, in dem eine literarische Meisterleistung präsentiert und gelobt wird, sondern es wird zu einem Gesamtkunstwerk der Reiseerfahrung erhoben. Der wagemutige, analphabetische und sprachlose Japanreisende wird für sein Abenteuer belohnt, indem ihm in fremder Sprache sowie in ungewohnten Räumlichkeiten unbekannte Historie in verworrenen dramaturgischen Codes dargeboten wird. „Alles das ist mir fremd, ich verstehe es nicht. Ich bin Millionen Meilen von Europa entfernt, auf einer anderen Erde. Das sind Wesen mit anderen Gehirnen und einem anderen Herzen. – Und nicht nur das Spiel facht mein Erstaunen stets aufs neue an. Auch der Raum, in dem ich mich befinde, die Zuschauer, die Pausen, alles.“ (S. 66-67)

Es ist eine persönliche und individuelle Erfahrung, die nur unter Problemen an eine daheimgebliebene Leserschaft weitergegeben werden kann: „Es gab Tausenderlei zu sehen, auf der Bühne, rings um mich her. Ich sah mit hundert Augen und alles gleichzeitig. So aber kann ich es ja nicht erzählen.“ (S. 31) Die poetologischen Verweise sind mit den wenigen direkten Bezügen auf die eigene Transformation direkter Reiseerlebnisse nicht erschöpft. Es sind spezielle japanische Arbeiter, die neben den Tänzerinnen und Geishas besondere Erwähnung finden. Allen voran eine Vielzahl von Männern mit bürokratischer oder administrativer Funktion, die beim Akt des Pinselns von Schriftzeichen beobachtet werden. Aber auch Schauspieler, deren Ruf trotz ihrer großen Kunst geächtet ist, ein Intendant, der sich aus Höflichkeit für sein schlechtes Stück entschuldigt oder eine Wäscherin sind hier hervorzuheben. Letztere „preßte, quirlte, quietschte die Wäsche im Takt, ein Dutzend Tanzschritte auf dem linken Fuße, ein Dutzend auf dem rechten. […] Sie hatte das Gefühl, einen Spaziergang zu machen und arbeitete nebenbei. So!“ (S. 231) Der flanierende Erzähler, der ebenfalls stetig arbeitet, genießt und einen Tanzakt zwischen den Kulturen versucht, wird in solchen Momenten als literarisches Schreiber-Ich markiert. Seine Leistung geht über das Deskriptive eines Reiseberichts hinaus, denn seine Tätigkeit ist eine Arbeitsleistung, die immer wieder im Dialog mit dem Publikum Recht-

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fertigung und Halt sucht. „Gewöhnlich tritt vor der letzten Szene der Direktor aus dem Vorhang und hält eine kurze Rede. Er entschuldigt sich wegen des schlechten Spiels, verspricht, daß die Truppe sich künftighin mehr Mühe geben wird und schildert das Stück des folgenden Abends.“ (S. 205) Die Frage drängt sich auf, ob der Direktor oder der Autor hier vor sein kritisches Publikum tritt, der in Ein Spaziergang in Japan bereits sein folgendes Werk Sassa yo yassa. Japanische Tänze vorbereitet. Ist im literarischen und autobiographischen Reisebericht der reale Autor sowieso eng an die Erzählinstanz gebunden, um Authentizität zu garantieren wie Genrebedingungen zu erfüllen, so scheint er vor allem im Spaziergang zyklisch „aus dem Vorhang“ hervorzutreten und sich einem Dialog mit seiner Leserschaft zu stellen. Diese Verbindung ist auch aus dem Grunde naheliegend, da sich der Erzähler bereits selbst „als Regisseur der Darstellung[en]“52 inszenierte.53 Die häufigen Unbeschreibbarkeits- oder Unverständlichkeitstopoi werden dabei zur übertriebenen Entschuldigung für die Unfähigkeit, einen mimetischen Bericht schreiben zu können. Gleichzeitig treten sie in der Funktion der Textauthentifizierung auf, wird doch dadurch ein Wahrheitsanspruch geltend gemacht, der unter keinen Umständen der Vollständigkeit halber durch phantastische Fragmente angereichert wurde. Es ist nicht verwunderlich, dass der Erzähler in zahlreichen Theaterstücken, die er betrachtet, einen Schriftzeichen pinselnden Mann mit annähernd gleichen Worten beschreibt, stehen ihm als Autor diese schaffenden Arbeiter doch näher als die Darsteller auf der Bühne.54 „Das gefiel mir am meisten.“ (S. 107) Der in Japan verachteten Schauspielerkaste hingegen

52 Schaffers (2006). S. 100. 53 Anzuführen ist hier bspw. der narrative Beginn seines ersten Theaterbesuchs in Japan: „Was ich hier sah, war so wunderbar, so unerhört schön – ich werde versuchen es zu erzählen –“ (S. 30) 54 Vgl. bspw.: „Ich ging in Strümpfen über die weichen Matten dahin, sah im Vorbeigehen ins Büro, wo zwei Schreiber pinselten“ (S. 31). „Drunten im Bureau malen die Schreiber mit Pinseln“ (S. 67). [I]n der Ecke war ein kleines Bureau, von einem winzigen zerknitterten Lampion beleuchtet; ein Schreiber pinselte dort. Das gefiel mir am meisten.“ (S. 107) „Die Schreiber an der Kasse pinselten sonderbare Hieroglyphen, die sie mit großer Wichtigkeit im Plane einzeichneten, sie nickten, schlürften, lächelten, wiesen mir den Platz an.“ (S. 184)

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kann er für ihre kulturkonservierende Funktion nur den höchsten Tribut zollen: „Arm und verachtet ziehen sie dahin, nur Tänzerinnen und Dirnen sind ihre Rangesangehörigen, und doch, wenn sie an der Seite ihres Karrens schreiten und zwischen den überschwemmten Reisfeldern und durch die nebligen Höhen dahinziehen: Japans große Geschichte, Japans wunderbare Legenden und Fabeln und Götter, und Japans verblichene Pracht und Herrlichkeit ist es, die das armselige Trüpplein hütet. Erst mit dem Tode der alten uma no ashi [„Pferdebein“, meist abschätzige Bezeichnung von niederen Schauspielern, die die Füße der Pferde spielen mussten] wird das alte Japan sterben und nicht wieder auferstehen.“ (S. 215)

Die Reiseschriftstellerei zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sieht sich durch das Erbe ihrer Genretradition mit einer unmöglichen Aufgabe betraut. Dieses Erbe setzt weit stärkere ideale Grenzen, Bedingungen und Verbote, als dies bei anderen literarischen Gattungen der Fall ist, die sich gerade zu Beginn der Moderne in immer experimentelleren Auflösungstendenzen befinden. Zugleich können Reisedichter die bipolaren Ausformungen der Genregeschichte, die aufklärerisch-empirische Deskription auf der einen, die ästhetische und damit oftmals ins Phantastische reichende Narration auf der anderen Seite, als Gegensätze ausnutzen, zwischen deren Polen sie sich verorten können. Dieses ästhetische Paradoxon tritt um 1900 durch die Umstrukturierung des Buch- und Kunstmarkts, wie es an Paul Cassirer und den Zeitschriftenvorveröffentlichung und Rezensionen deutlich wurde, auch öffentlich zu Tage. Da ein Reisebericht der ersten Kategorie jedoch dazu tendiert, unlesbar und uninteressant zu werden und im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert bereits weitestgehend in die geographischen, ethnographischen, historiographischen oder naturwissenschaftlichen Forschungen ausgelagert wurde oder sich als Baedeker zum reinen Reiseführer verwandelt hat, verschiebt sich die grundsätzliche Schreibart auf eine ästhetische Thematisierung der eigenen Reise. Damit wird der Reiseschriftsteller, und das ist seit der Antike der Fall, immer partiell als Lügner gebrandmarkt, da seine Worte nie Abbildrealität sein können. Es ist demnach nicht weiter verwunderlich, dass im Umkehrschluss die Entwicklung des Reiseberichts „in einer lockeren, aber offenkundigen Beziehung zur Herausbildung der Erkenntnistheorie [steht]. Es ist kein Zufall, daß das Motiv des Reisens von Bacon und Descartes über Rousseau, Kant und Hegel bis zu Ernst Bloch

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die Rolle einer zentralen Metapher wie auch eines ernstzunehmenden philosophischen Problems gespielt hat.“55 Der Reisende, der seine Erfahrung erzählerisch an ein Publikum weitergibt, das sich informieren und gleichzeitig erfreuen will, sieht sich direkt mit Themenkomplexen der Wahrnehmung und der Vermittlung von Wahrnehmung konfrontiert. So lassen sich gerade, wie beispielsweise Peter Brenner und Wolfgang Neuber nachweisen, an zeitgenössischen Reiseberichten epistemologische Überlegungen, die ihnen vorausgehen, ablesen.56 Um dem Vorwurf des Erdichtens entgegenzuwirken, muss sich der Text immer wieder auf die Authentizität der eigenen Erfahrung berufen (durch Daten, ein Überangebot an Namen, Fotos, Zeichnungen, Fremdsprache, ausführliche Topographieschilderung etc.), wodurch sich die Erzählinstanz zwangsweise dem realen Autor annähert. Diese Konvergenz liegt in den unterschiedlichsten Spielarten vor,

55 Brenner, Peter J.: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts. In: Peter J. Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt am Main 1989. S. 28. 56 Vgl. ebd., hier speziell S. 18-39. – Brenner arbeitet heraus, wie sich die menschliche Einstellung zur Fremde von der Antike ausgehend verändert und damit die Frage nach Erkenntnis verknüpft ist. Als bedeutendsten Umbruch sieht er die Schaffung eines humanistischen Weltbildes, in dem die antike Dichotomie zwischen Menschen und Barbaren aufgehoben wird zu Gunsten eines allgemeinmenschlichen Bildes, innerhalb dessen sich nun wiederrum einzelne Dichotomien herausbildeten (gender, class, race, nation etc.). Diesen Gedanken folgten Ideen wie Bacons Idolenlehre, Descartes quantifizierender Blick auf die Wirklichkeit bis zu Kants ästhetischer Zweckmäßigkeit. Da diese Theorien an der Wurzel der Epistemologie arbeiten, veränderten sich demnach auch die zeitgenössischen Reiseberichte, in denen die Konfrontation und Thematisierung des Fremden stetig auftritt und Schreiber wie Leser in diesen philosophischen Sachverhalten zu denken zwingt. – Während Brenner sich dem kulturhistorischen Diskurs vor allem mit einem Blick auf die theoretisch-philosophischen Kategorien nähert, erweitert Wolfgang Neuber diesen Abriss durch literarische Zeugen der einzelnen Epochen: Neuber, Wolfgang: Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik. In: Peter J. Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt am Main 1989. S. 50-67.

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wird jedoch niemals, selbst in der totalen Fiktionalisierung des Protagonisten in sogenannten „Reiseromanen“, vollkommen aufgelöst. In der Entwicklung des Reiseberichts mussten die fundamentalen Kategorien Fiktionalität und Realitätsbezug obsolet werden, da sich im erkenntnistheoretischen Diskurs schlichtweg das Postulat herauskristallisierte, dass keine Realität exakt erfahrbar sei, geschweige denn abgebildet werden könne. Deswegen tritt Neuber für eine kulturhistorische Topik, eine „Argumentationstheorie des Reiseberichts“ ein, die nicht mehr nach einer Übereinstimmung des Textes zur ontologischen Wahrheit, sondern sein „selbstbestimmtes Verhältnis zu ihr und zugleich auch seine materielle, thematische Bandbreite“ untersucht. „Die ‚Literarizität‘ eines Reiseberichts wird solcherart bestimmt durch die Findung und Auswahl (inventio) seines Materials sowie dessen argumentative und stilistische Verarbeitung.“57 Mittels einer solchen Behauptung verschiebt sich das Interesse von Kellermanns Ein Spaziergang in Japan dahingehend, nicht mehr die Anteile von Fiktion und Realität vor Augen zu führen, sondern dem Text ein Programm auszulesen, in dem sich das Spiel mit der Frage nach der Wahrheitsvermittlung abzeichnet. Eine Frage, die sich im Motiv der Logogramme wiederfindet, die zum einen als märchenhafter Mystizismus inszeniert sind, zum anderen aber gleichzeitig als reales, praktikables Kommunikationsmedium markiert werden. Es ist vor allem die Kunstfertigkeit einzelner Zeichen, in denen das heroisierte alte Kaiserreich märchenhaft weiterlebt und die als poetologische Referenz stets den Dualismus der Genreanforderungen, das Flanieren zwischen Empirie und Dichtung im Reisebericht repräsentieren. Es herrscht dementsprechend in Ein Spaziergang in Japan ein Erzähler vor, der sich als kultureller Bewahrer und Vermittler, wie die niederen Schauspieler, wähnt, der sich wie die Wäscherin zwischen Arbeit und Reise tanzend zu bewegen weiß und der, nachdem er sich in den Zeichen pinselnden Theaterbeobachtern wiederentdeckt hat, im Direktor sein literarisches Pendant beschreibt. Der Text reicht damit weit über eine bloße, durch Erzählmomente bereicherte Reisebeschreibung Japans im Zuge des aufkommenden Welttourismus und Fernostinteresses der Westeuropäer hinaus und erhebt sich selbst zu einem Disput über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des eigenen Genres. Dieses stellt sich einerseits in eine lange Tradition, muss sich folglich vor Kopie und Wiederholung bewahren und

57 Neuber (1989). S. 52.

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hat andererseits durch den anwachsenden Tourismus schon seinen eigenen Höhepunkt bereits überschritten. Ein Ausweg aus diesem Motiv der gezwungenen Wiederholung wäre die Erhöhung und Maximierung phantastischer oder narrativer Anteile im Reisebericht; eine Möglichkeit, die Kellermanns Text, der sich dem Deskriptiven verschreibt, explizit aufzubauen versucht, aber dann nicht ausformuliert. Denn er möchte von der Kleinstadt Miyazu „erzählen wie von einem Freund“ (S. 125) oder seinen ersten Theaterbesuch „versuchen [...] zu erzählen“ (S. 30), verliert sich aber in sachlichen Berichten über Topographie, Kultur, Land und Leute. Die japanische Schrift, deren Bezeichnung zwischen den mystifizierten „rätselhaften Hieroglyphen“ und beinahe wissenschaftlichen „chinesischen Ideogrammen“ divergiert, steht an eben dieser Schnittstelle zwischen Deskription und Narration und hält den diskutierten Grundkonflikt des Genres allzeit präsent. Die märchenhafte, meist durch die mit der „Geisterschrift“ verzierten, ominös leuchtenden Lampions eingeführte Stereotypisierung des fremden Inselreichs trägt zur Publikumserwartung bei, indem es östliche Länder auf einen Kanon von Bildern reduziert, die sich vor allem auf starke sensitive Eindrücke beziehen: Penetranter oder verzaubernder Geruch von Gewürzen, grelle Farben, krasse Größenkontraste, fremde Geschmäcker, ungewohnte Töne. Erst später wird aus den Schriftzeichen ein Nutzgegenstand, wenn der in Miyazu assimilierte Erzähler seinen eigenen Namen in Japanisch geschrieben sieht. In der Episode mit den provinziellen Männern aus Amanohashidate schließlich tragen sie dazu bei, den eingeleiteten Verfall des traditionellen Japans zu visualisieren. Die Schriftzeichen sind eng mit dem Topos des Nicht-Verstehens verbunden. Denn obgleich der Erzähler japanische Worte lernt, kann er selbst gegen Ende seines Aufenthalts nicht seinen eigenen Namen in die fremde Schrift überführen. Genau wie die fremdsprachlichen Theaterstücke, deren Unverständnis nicht nur aus dem gesprochenen Japanisch, sondern auch aus der unbekannten Mimik und den unverstandenen Geschichtsepisoden resultiert, wird dieses Erlebnis umgedeutet zu einer Chance, ästhetischen Mehrwert zu erhaschen. Dieser Mehrwert, der sich im Theater als exotisches Gesamtkunstwerk aus Stück, Schauspielern, Gebäude, Publikum, Essen und Dienstleistungen ergibt, wird in der Betrachtung der japanischen Schrift zum poetologischen Moment, eigene Dichtung zwischen ästhetischer Phantastik und empirischer Deskription zu verorten.

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Die „Nachschrift“ ist dann rahmend zum Anfang wiederum durch ein Überangebot an Klischees des europäischen Reiseberichts definiert. Japan ist trotz des langen und intensiven Aufenthalts nicht Heimat geworden und am Ende der Fahrt steht die freudvolle Erwartung der Rückkehr nach Deutschland. Das europäische Grundschema aus „Auszug, Ziel und Heimkehr“58 wird zu einem Gennepschen „rite de passage“, einem Übergangsritus, in dem das „heimgekehrte Ich […] nie mehr dasselbe wie das Ich des Aufbruchs“59 ist. So wird die Erfahrung in Japan durch den erneuten Besuch des „gleichen Theater[s], das [er] zuerst in Japan betreten hatte“ (S. 271), eingerahmt und mit einem entwickelten Selbstbildnis abgeschlossen, das nach eigener Aussage nun viel von der Kultur und den Menschen verstanden habe. Selbstsicher wird ein tiefer „Blick in ihr Herz“ (S. 270) formuliert, der jedoch nur „reines Ausdrucksschema“60 bleiben muss. Denn der Erzähler versteht zu keinem Zeitpunkt seine Gastgeber richtig zu deuten und behauptet dies nicht einmal. Er bleibt der Fremde stets als Fremder gegenübergestellt, was sich vor allem in den ästhetischen Erfahrungen der bewusst naiven Theaterbeschau herauskristallisierte. Der Text wird an dieser Stelle selbst ad absurdum geführt und wirft einen ironischen Blick auf die Gattung Reisebericht, die immer nur mangelhafter Ausschnitt, aber nie zuverlässiges Abbild der komplexen Beziehungen einer Kultur sein kann. Das lakonische Dementi des Erzählers schließt den Roman; es wurde „mir klarer und klarer, daß ich [Japan] nicht im geringsten verstanden hatte.“ (S. 272) Während der letzten Tage in Yokohama wird noch zweimal das Theater frequentiert und die Stücke werden zu direkten Allegorien erhoben. Der zweiten Aufführung wird unmittelbar eine selbstreflexive Interpretation angefügt, die die Besorgnis des Kulturverfalls im modernisierten Japan ein letztes Mal zusammenfasst: „Mir erschien das Stück wie ein Symbol: es war das alte Japan und die Schneeflocken, die es zudeckten, waren die neuen Ideen, die vom Westen kamen, jede einzelne Flocke eine klare, kalte, nüchterne, europäische Idee.“ (S. 272)

58 Wolfzettel (2003). S. 8. 59 Ebd. S. 9. 60 Schaffers (2006). S. 86.

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Diese eigenwillige Interpretation dahingestellt, muss sich hier den Lesern die Frage aufdrängen, wie sich das unmittelbar zuvor geschilderte Stück deuten ließe. Es behandelt „die Legende von Hidari Jingoro, dem großen Bildhauer Japans, und einer Puppe, die seine Kunst zum Leben erweckt hatte. Die Puppe tanzte, und das ganze Stück war wohl nur wegen dieses berückenden Tanzes verfaßt worden.“ (S. 271) Das poetologische Pygmalionthema, das sich hier zu erkennen gibt, verlagert die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf die Textrezeption. Der Künstler erschafft ein Werk, welches, so es „hochwertig“ ist, sein Eigenleben beginnt und nun durch sein eigenes Tanzen, also durch eine ästhetische Bewegung, die nicht vom Schöpfer selbst eingeschrieben wurde, Achtung gewinnt. Die Parallele zu Collodis Le Avventure Di Pinocchio: Storia Di Un Burattino61, die durch das Erwähnung findende traditionelle Puppentheater Bunraku vorliegt, ist unter Umständen noch präziser. Sie vermag es, die Eigenwilligkeit des Tanzes zu zeigen und markiert in der beseelten Marionette das Artifizielle des Schaffensakts. Die infantilen Eskapaden des hölzernen Sohnes werden in diesem Allegoriekonstrukt zu den verschiedenen Lesarten des Textes, die der Autor, wie Geppetto seinen Sohn, nur noch in einem sehr begrenzten Rahmen beeinflussen oder gar kontrollieren kann. Der Text thematisiert selbstreflexiv das Spannungsverhältnis des modernen Reiseberichts um 1900 und die paradoxen, an ihn gestellten Forderungen, auf die auch Wolfgang Reif, wie oben gezeigt, als moderner Literaturwissenschaftler noch zurückgreift. Dementsprechend wird im Bild des betrachtungswerten Tanzes, also des Rezeptionsspiels, darauf verwiesen, dass es erst die Leserschaft selbst war, die dieses Problem aufstellte. Die homogenisierte Entität Publikum ist sich selbst nicht im Klaren darüber, was sie nun von den mit Freude gelesenen Reiseberichten aus fernen Ländern erwartet. Zum einen sind Leser auf der Suche nach der Authentifizierung ihrer orientalischen Phantasmen, der Wahrung von Realitätsbezug und fürchten die Offerierung falschen Wissens. Zum anderen fordert ihr literarisches Verständnis Originalität, Authentizität und den Reiz der phantasievollen Fiktion trotz akkurater Deskription. Auch wenn ästhetische Reiseberichte stets die Absurdität einer derartigen Juxtaposition poetologisch unterwandern, funktioniert ihre

61 Wenige Jahre zuvor von Otto Julius Bierbaum frei übertragen als Zäpfel Kerns Abenteuer. Eine deutsche Kasperle Geschichte in 43 Kapiteln frei nach Collodis italienischer Puppenhistorie Pinocchio.

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genrespezifische Eigenheit nur mittels einer Referenz auf die ideelle Bipolarität von Reiseroman und empirischem Bericht. Ein Spaziergang in Japan, der immer wieder auf seine eigene Beschaffenheit als konstruierter Text verweist, legt mit den letzten Theaterstücken also eventuelle eigene narrative Diskrepanzen in die Obhut und Schuldigkeit seiner Leserschaft. So ist es nur verständlich, dass den Abschluss erneut das klischeehafte Schema des Nicht-Verstehens bildet: „Und während mich Sehnsucht nach jenem merkwürdigen Lande ergriff, wurde es mir klarer und klarer, daß ich es nicht im geringsten verstanden hatte.“ (S. 272) So lakonisch dieser Ausspruch am Ende eines Reiseberichts auch wirken muss, er tritt hier in der Funktion auf, die vorhergehenden Seiten kritisierend anzugreifen. Die Textautorität und die autobiographische Authentizität werden destabilisiert und hinterfragen die Gültigkeit des eigenen Textes und damit, eines der selbstreflexiven Hauptthemen aufgreifend, die Gültigkeit des ganzen Genres. Das Nicht-verstehen-Können wird zur Unmöglichkeit, einen tragfähigen Reisebericht zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zu schreiben. So verbindet sich in der Zurschaustellung seiner selbst als unzulängliches Artefakt die Poetik der Reiseschriftstellerei mit den Strukturen des Wissens der Leserschaft. Muss der Spaziergänger Kellermann den Plan der Reise in das jungfräuliche Miyazu mit den zitierten und mitgebrachten westlichen Standardwerken über Japan vereinbaren, spiegelt sich daran das kognitive Paradoxon einer Begegnung mit dem exotischen Osten. Die Suche nach neuen Erfahrungen und Sehnsuchtsräumen ist stets unterminiert durch Bezüge und Vorwissen. Bei Kellermann umgibt die in Japan verwendete Logogrammschrift noch die Magie des Fremdartigen, des Schleierhaften, Kunstvollen und Philosophischen, die in der Hoffnung funktionalisiert wird, die Seele des Volks widerzuspiegeln. „Diese verwirrenden Reihen matter Papierlaternen mit den Hieroglyphen! Ist das nicht eine Stadt von Gespenstern, die Schriftzeichen eine Geisterschrift? Ich lese zuweilen, es gibt Schriftzeichen auf diesen matten Lampen aus geöltem Papier, die auf mich wirken wie beschwörende Zauberformeln.“ (S. 80-81) Die Zeichen geben einen prägnanten Eindruck der überforderten und illiteraten Fremdwahrnehmung wieder und werden zum traditionellen, ästhetischen und magischen Symbol. Diese märchenhafte Besetzung der Nation und seiner Requisiten musste mit der großen Rolle, die Japan auf der Welt-

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bühne spätestens seit dem Russisch-Japanischen Krieg 1904/1905 spielte, allmählich verschwinden. Die europäische Angst von 1900 vor den „gefahrvollen Rivalen“62, die Hesse-Wartegg 1897 nur für den interkontinentalen Handelssektor benennt, wird nun militärisch erweitert. Der vernichtende Schlag eines ostasiatischen Landes gegen eine europäische Großmacht trägt zur Entschleierung Japans bei, definiert das Bild des Landes grundlegend neu und erhebt Japan zum „Dauerbrenner“63 einer ausschweifenden deutschen Pressekampagne, die sich nicht mehr aus künstlerischen und phantastischen Sehnsüchten speist, sondern vielmehr wissenschaftlich fundierten Anspruch erhebt. Japans noch bei der Weltausstellung 1867 in Paris oder 1862 bei der Expedition einer Gesandtschaft in Berlin64 so bewunderte kulturelle Eigenart befindet sich schlagartig im prognostizierten Verfall und wird durch eine europäisierte und industrialisierte Ästhetik nach und nach verdrängt. Die Meijiära wird zu einem Übergangsstadium, in dem die erstarkende Beamtenklasse sich aus Männern mit Anzug und Bowler zusammensetzt, die abends von ihrer Frau in Kimono und Getas erwartet werden. So verlagerte sich der Fokus des Interesses der europäischen Literaten primär auf das traditionsreiche und sich ungewiss entwickelnde, aber immer noch eindeutig militärisch wie politisch unterlegene China. Das modernisierte Japan schien durch seine vielfältige Beschreibung keine Möglichkeit mehr für Phantasmen zu bieten, die von der exotistischen Literatur, Impressionismus und Jugendstil poetisch und künstlerisch funktionalisiert werden konnten. In Vicki Baums Hotel Shanghai heißt es dazu: „Der Russisch-Japanische Krieg – man nahm Partei für die Japaner, für dieses kleine, unbekannte Volk, von dem man bisher kaum etwas gewußt hatte. Aber dies waren Sentimentalitäten, keine Politik. Der Jugendstil griff japanische Ornamente auf. Lafcadio Hearn schrieb seine sentimentalen Bücher über Japan. Dann vergaß man wieder daran.“65

62 Hesse-Wartegg (21900). S. VII. 63 Mathias-Pauer (1984). S. 125. 64 Vgl. Zobel, Günter: „Die Japanesen in Berlin“. Der Besuch der ersten japanischen Expedition von 1862 im Spiegel der Presse. Tokyo 2002. 65 Baum, Vicki: Hotel Shanghai. Amsterdam 1939. S. 56-57.

6 Im Naturbuch lesen (können)

Max Dauthendey gehört wie Kellermann zu den ausgesuchten Autoren der Jahrhundertwende, deren exotistisches Werk aus der authentischen Erfahrung einer eigenen Reise in die fremden Welten Asiens und Ozeaniens hervorgehen konnte. Die ersten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts brachten „eine Welle verstärkten Tourismus [hervor], die ‚Reise um die Welt‘ als Mode für reiche Leute.“ 1 Die Blütezeit des (deutschen) Kolonialismus, Ausbau der Eisenbahnnetze, Verbesserung der Schiffstechnologie sowie monumentale Bauwerke wie der Panamakanal machten die Welt einfacher bereisbar und löschten allmählich die letzten weißen Flecken der Weltkarte aus. Ernst Bloch zählt zu seinen „Gebrochenen Wunschbildern im Spiegel“ die Reisebewegung, in deren Definition der Eskapismus zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts deutlich benannt wird: „Neu zu begehren, dazu verhilft die Lust an der Reise. Sie frischt die Erwartung nicht bloß an, bevor die Fahrt angetreten, sondern tut das mitten im Genuß des Sehens. Wünsche, denen nicht mehr zu helfen ist, überalterte, altjüngferlich gewordene, fallen fort. Das Stockige fällt fort, das nicht nur dem immer gleichen Alltag, sondern auch allzu lange herumgetragenen Wünschen eignen mag. Können doch Wunschträume derart aus der Zeit geraten sein, die ihnen angestanden hat, daß sie nie wieder erfüllt werden können.“2

1

Günther (1988). S. 17.

2

Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Kapitel 1-32. Frankfurt am Main 1985. S. 429.

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Was für die Reisenden die neuen Phantasien und Sehnsüchte durch die Erfahrung der Fremde sind, kann für Dichter zum originellen Motivreservoir oder zur genialischen Inspirationsquelle werden. In dieser Hoffnung schicken um die Jahrhundertwende mehrere Verlagshäuser ihre Hauspoeten in die Ferne und suchen gezielt nach Fiktionen, die auf authentischen und biographischen Erfahrungen aufbauen. Neben Willy Seidl und Bernhard Kellermann war einer dieser frühen und motiviertesten Weltreisenden der Würzburger Dichter Max Dauthendey. Dessen Fernweh war die Folge eines eskapistischen Strebens aus den veralteten Literaturtraditionen seiner Zeit und die grobschlächtige Suche nach dem orgiastischen Neuen in einer säkularisierten Zeit ohne einheitlichen metaphysischen Logos. Seine Reiseroute 1905/06 verlief über Ägypten durch den neugebauten Suez-Kanal nach Indien, Malaysia, China, Japan, Hawaii und das amerikanische Festland zurück nach Europa und ist als die bedeutendste Erfahrung zu fassen, aus der sich Dauthendeys spätere Schriften entwickelten. Das Hauptwerk des 1867 geborenen Dichters liegt in einer sehr kohärenten Form vor und schöpft in weiten Teilen aus dem, was Bloch als „erotisches, produktives Pathos der Reise“3 bezeichnet; eine rauschhaft-musische Erfahrung in Analogie oder direkter Verbindung mit der Gefühlsverwirrung junger Verliebter (nicht aus Zufall ist Dauthendeys daheimgebliebene Ehefrau oder die Kategorie Liebe steter Bezugspunkt), ein „Eros in beiderlei Gestalt, der der Liebe und der der Schöpfung.“4 Zwischen 1908 und 1913 erschienen die wichtigsten Prosa- und Lyrikwerke des Dichters. Darauf folgten einige weniger erfolgreiche Schauspiele sowie die Novellensammlung Geschichten aus vier Winden 1915. 1912 und 1913 veröffentlichte Dauthendey seine autobiographischen Schriften Der Geist meines Vaters und Gedankengut aus meinen Wanderjahren, bevor er im August 1914 zu seiner zweiten Weltreise aufbrach. Durch den Krieg zum Exilleben auf Java gezwungen, verfasste Dauthendey diverse Schriften, die seine philosophische Poetik der Weltfestlichkeit weiter und erneut definieren sowie aus einer kriegskritischen Perspektive das weltweite Morden kommentieren, bevor er 1918 im Exil verstarb. Berühmtheit und Erfolg erlangte der Dichter durch seine beiden asiatischen Novellensammlungen Lingam und Die acht Gesichter am Biwasee. Diese liegen an der Schnitt-

3

Ebd. S. 432.

4

Ebd. S. 433.

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stelle von Trivialliteratur und Hochliteratur, zwischen beiden hin- und her divergierend, „am Kreuzungspunkt von Neuromantik und Moderne, Impressionismus und Expressionismus, Symbolismus und Jugendstil“5. Die Kritik markierte sie bald zu Dichtungen eines „Neutöners“6. Diese Bezeichnung setzte sich medial auf Grund Dauthendeys frühen Verbindungen zum Friedrichshagener Dichterkreis, der Freundschaft zu Dehmel und den wenigen Beiträgen zu Stefan Georges Blätter für die Kunst durch. Folglich oblag Dauthendeys Werk zu Lebzeiten der geteilten Meinung über das künstlerische Bedürfnis, die Traditionen der Klassiker hinter sich zu lassen. Wie üblich, wenn mit Radikalität Originalität gesucht wird, schieden sich auch bei den „Neutönern“ aller Kunstrichtungen, so unterschiedlich ihre Fabrikate ausfielen, die Meinungen. Jeannot Emil Freiherr von Grotthuss, ein früher Bewunderer des Begriffsgründers Detlev Freiherr von Liliencron, formuliert in seinen Literaturstudien von 1902 das Phänomen positiv: „Frische Bauernburschen und müde großstädtische Fin-de-sièclisten, Träumer von einer neuen idealen Menschennation und andere mehr. Aber sonst waren sie meist ein Herz und eine Seele, und wie verschieden ihre Stimmen auch klangen, sie klangen doch, und jedenfalls waren es ihre eigenen Stimmen und nicht die einer Drehorgel. Es waren die ‚Neutöner‘.“7

5

Buch, Hans Christoph: Die Nähe und die Ferne. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main 1991. S. 115.

6

Vgl. bspw. Fuhrmann, M.: Chinesische Geister- und Liebesgeschichten. Verlag der Literarischen Anstalt Rütten und Loening. Frankfurt am Main. Max Dauthendey. Die acht Gesichter am Biwasee. Japanische Liebesgeschichten. Albert Langen. München. In: Preußische Jahrbücher. Bd. 150 (1912). S. 527530.; Schacht-Berlin, R.: Max Dauthendey. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst. Jg. 71 (1912). S. 226-233.

7

Grotthuss, Jeannot Emil Freiherr v.: Probleme und Charakterköpfe. Studien zur Litteratur unserer Zeit. Stuttgart 41902. S. 243. Vgl. auch: Wittkop, Justus Franz: Europa im Gaslicht. Die hohe Zeit des Bürgertums 1848-1914. Zürich 1979. S. 234-240. Vornehmlich das leider nicht ausreichend belegte und übersetzte Eingangszitat von Paul Valéry: „In der Kunst hat sich die Idee ‚Fortschritt‘ an die Stelle der Idee ‚Vorbilder‘ gesetzt.“

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Das dünne Band, das von außen her die junge Generation von Komponisten, Schriftstellern, vor allem Lyrikern und anderen Künstlern miteinander verknüpfte, wurde bald zum medialen Schlagwort und prägte nicht ganz zu Unrecht nachhaltig die Auffassung von Dauthendeys Werk, das die Suche nach literarischer Originalität in sein Zentrum stellt. Das orientalistische Asien wird dabei zu einer exotischen Bühne berauschender Farben, Formen und Sinneseindrücke. Vor allem die japanischen Novellen aus Die acht Gesichter am Biwasee geben bezeichnend wieder, dass Dauthendeys Texte nicht auf intensiver Beschäftigung des Autors mit der japanologisches Literatur über das Inselreich fußen, sondern die halbwissende europäische Adaption des phantastischen Anderen erfolgreich fortführen. Die Bilderfolge Acht Ansichten des Biwasees (Ōmi Hakkei) des „impressionistische[n] Landschafter[s] allererster Stärke“ 8 Hiroshige war bereits einer breiten Masse von Deutschen durch das mit dem Impressionismus verstärkt hervortretende Faszinosum Japan bekannt. Georg Hermann beispielsweise erhebt 1906 in seinem Essay Die japanische Landschaft Hiroshige und den Biwasee zum „wissenschaftlichen Rüstzeug“ des kunstinteressierten Laien, der diese als „Mindestzahl von japanischen Namen und Bezeichnungen“9 kennen sollte.10 Im Rahmen dieser Arbeit ist vor allem die Erzählung Der

8

Hevesi, Ludwig: Altkunst – Neukunst. Wien 1894-1908. Wien 1909. S. 435. – Hiroshiges Berühmtheit seit dem frühen Fin de Siècle in Deutschland und Europa, die sich durch diverse Zeitschriften, Publikationen oder beiläufige Nennungen in Romanen wie Gerhart Hauptmanns Atlantis oder Georg Hermanns Doktor Herzfeld konkretisieren ließe, geht einher mit einer Rezeption des Fujisan wie des Biwasees als die kulturhistorisch bekanntesten Orte der japanischen Hauptinsel Honshū. Authentische Holzschnitte und Reproduktionen konnten in diversen nationalen und städtischen Museen wie Bibliotheken sowie in Zeitschriften, Postkarten und Fachpublikationen betrachtet werden.

9

Hermann, Georg: Die japanische Landschaft. Eine Betrachtung. In: Westermanns illustrierte deutsche Monats-Hefte für das gesamte geistige Leben der Gegenwart. Bd. 59 (1905). S. 21.

10 Neben dem Fujisan war es vor allem der Biwasee, der spätestens seit der Jahrhundertwende Japans Landschaft oder technischen Fortschritt in den deutschsprachigen Medien präsentierte. In diversen, vor allem journalistischen Kontexten, ist der See kunsthistorisch oder ethnographisch (Hiroshige), geographisch, agrarwissenschaftlich, physikalisch oder ingenieurtechnisch (Eisenbahnbau, Ka-

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Wildgänse Flug in Katata nachschauen von Bedeutung, eine Novelle, die im ästhetischen Raum die (vermeintlichen) Eigenheiten der Logogrammschrift diskutiert. Dabei wird das Angebot eines Dialogs mit Prolog und anderen Texten der Novellensammlung offeriert, das exemplarisch an Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen weiterverfolgt wird. Der knappe Prolog von Dauthendeys Die acht Gesichter am Biwasee beginnt mit den Worten: „‚Neue Brüder sind sichtbar geworden‘, riefen die Japaner schon vor hundert Jahren, ‚Bäume, die früher dazu da waren, Früchte und Holz zu tragen, Flüsse und Seen, die nur Fische und Seegras anboten, Hügel und Berge, welche Steine und Metalle den Menschen hinhielten, haben jetzt Seele und Gesicht. Die Seelen der Landschaften sind uns herzliche Brüder geworden. Sie, die bisher unsichtbar waren, zeigen uns heute leidenschaftliche Gebärden.‘“ (S. 5)11

Die Japaner werden der Leserschaft als ein Volk präsentiert, das „schon vor hundert Jahren“ etwas vermochte, was „jetzt“, vermittelt durch das vorliegende Werk, den Europäern nähergebracht werden soll. Natürliche Erscheinungen wie Gewässer, Flora und Berge bekommen im symbiotischen Verhältnis mit den Japanern Seele und Gesicht, also eine innere, individuelle Psyche und einen physischen Artikulationsort. Das, was dargereicht wird, ist ein monistischer, panpsychistischer oder animistischer Kommunikationsraum, der dem industrialisierten Westen nicht mehr zugänglich sei.12

nalbau, Dampfschifffahrt, Ackerbau, Bewässerungstechnik, marine Vegetation) sowie historisch von Interesse. Berühmt wurde der See wie der Miidera-Tempel vor allem durch die Bestattung des einflussreichen Japanologen Ernest Fenolossa. 1913 erschien die deutsche Übertragung seines 1912 posthum veröffentlichten Epochs of Chinese and Japanese Arts. Im Vorwort seiner Ehefrau Mary wird in beiden Ausgaben erwähnt, wie die Asche des Forschers „in den Tempelgründen des Miidera, der zu dem Biwa-See hinüberschaut, zur ewigen Ruhe“ bestattet wurde. – Fenollosa, Ernest F.: Ursprung und Entwicklung der chinesischen und japanischen Kunst. Leipzig 1913. S. XXVIII. 11 Dauthendey (1911). S. 5. 12 Die von Dauthendey explizit eingeschriebene Poetik der „Weltfestlichkeit“ sei hier der Vollständigkeit halber erwähnt, da sie sowohl die Novelle, sein ganzes

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Deutlich werden dabei Anleihen aus dem Symbolismus, der davon ausgeht, dass sämtliche Erscheinungen der Welt „visible tokens for what cannot really be represented“ seien. „The words of a poem act as a conduit, leading through an inexplicable alignment to a sort of spiritual attunement to the

Werk, als auch das Gros der Forschung aus einer autorintentionalen Perspektive heraus definiert. Sein Weltbild gründet sich auf einer Idee der Beseeltheit atomarer Masse und damit einer allgemeinen Verknüpfung allen Seins des Universums und einem suggestiven Austausch von Informationen, die das Atom nicht nur als Masse, sondern auch als Träger von Gedächtnis versteht. Zurück gehen diese Theoreme auf die philosophischen Theorien seines Jugendfreunds Arnold Villinger, der sein Konzept 1896 in einem Band mit dem sprechenden Titel Das Buch vom Wesen aller Dinge veröffentlichte, „ein Amalgam aus Schopenhauer, Lotze und Leibniz, demzufolge, vereinfacht gesagt, erstens alles Wille, zweitens als Wille alles Leben und drittens als Leben alles Empfindung und Gefühl, also Seele ist.“ – Riedel, Wolfgang: Homo Natura. Literarische Anthropologie um 1900. Würzburg 2011. S. 115. – Dauthendey sah sich dazu verpflichtet, dieses philosophische Weltsystem als Literat zu vermitteln. Denn als Künstler sei er von Berufswegen ein schaffendes Individuum und verstehe den richtigen Umgang mit dem atomaren „Baukasten“ Kosmos zu erläutern, um sich damit zum Propheten einer neuen Weltordnung zu erheben. Die Texte des Würzburgers bedienen sich demnach des Öfteren – vermeintlich erfolgreich – an Flora oder Fauna als Akteure, die möglichst ohne stilistische Personifikation in eine Kommunikationssituation mit Menschen, literarischen wie realen, treten sollen. Dieses Weltbild Villingers und Dauthendeys ist als naturgewandte, anthropologische Lösung des aufkommenden modernen Subjektproblems, ausgelöst durch die Säkularisierung und Industrialisierung wie die bevölkerungsgeographischen Veränderungen, zu lesen und wurde bereits von zeitgenössischen Kritikern und Künstlern als phantastische „Lebensmystik“ oder ein „Kind des Neoidealismus“ abgetan. – Riedel (2011). S. 115 – Dass sich Dauthendeys Werke, allen voran seine japanische Novellen, trotzdem eines großen Publikumserfolges erfreuen konnten, mag allen voran der eskapistischen und exotistischen Tendenz wie der impressionistischen Spielart des Jugendstils zu verdanken sein. Vor allem die Prosatexte des „Neutöners“ erweisen sich als ideenreiche Unterhaltungsliteratur aus einer anderen, unbeschriebenen Welt, in der die Menschen sich noch an der Gesamtheit des Kosmos erfreuen können und nicht vom hektischen Treiben der Moderne gesteuert werden.

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poet’s vision and, ultimately, to an encounter with what was variously called the ‚Idea‘, the ‚Infinite‘, or the ‚Absolute.‘ And it was the poet, and the poet alone, who supplied the medium enabling this encounter to occur.“13 Jedoch überschreiten der Monismus der Jahrhundertwende und hier speziell das programmatische Vorwort Dauthendeys das, was bei Mallarmé symbolistisch als „état d’âme“ bezeichnet ist. Die Kommunikationsstruktur verläuft nicht mehr zwangsweise über das dichterische Werk, sondern wird in der Natur direkt erkenntlich. Die Poesie hilft lediglich wieder, diese Gesichter wahrnehmen zu können. Die acht Gesichter am Biwasee sind folglich acht pseudoempirische Momente, in denen natürliche Erscheinungen in den direkten Kontakt mit dem Menschen treten und demnach im Plural als menschliches Antlitz definiert sind, im Singular jedoch ihre Doppeldeutigkeit beibehalten. Diese acht Gesichter „beschwören“, „singen“, „sprechen“, „rühren“ und „beplaudern“ divergente Erfahrungen und Ausformungen einer Liebesthematik. Dabei ist von „Liebesbetörung“, „liebesseliger Vergangenheit und liebesseliger Zukunft“, „Liebesleidenschaft“ oder dem „erhabenen Wahn unglückseliger Liebe“ die Rede, also einem Katalog prosaischer Ideen der metaphysischen Kategorie Liebe, die die gesamte Novellensammlung verbindet. (S. 5-6) Die zwei Jahrzehnte lang populär gewordene panpsychistische Weltanschauung im literarischen Milieu lässt sich zu großen Teilen als eine Abkehr und/oder Überwindung vom Naturalismus bezeichnen. Schon 1896 formuliert der Berliner Gelehrte Max Dessoir, dass es sich beim Naturalismus nur um eine „Übergangsbewegung“14 handele, „durch die das bisherige Schöne verneint [werde], die aber ein neues Ideal noch nicht“15 kenne. „Insoweit die Naturforscher selbst dem Materialismus absagten und die Einheit von Leib und Seele beschwörten, in dem gleichen Maße wurden die naturalistischen Autoren ‚monistisch‘.“16 Monika Fick weist beispielsweise auf Aussagen bekannter Autoren der Epochenschwelle hin, in deren Programmatiken und Dichtungen bezeichnenderweise von einer „Philosophie

13 Norton, Robert E.: Stefan George and Symbolism. In: David E. Wellbery et al. (Hrsg.): A New History of German Literature. London 2004. S. 641. 14 Dessoir (1896). S. 80. 15 Ebd. 16 Fick, Monika: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993. S. 131.

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der Zellteilung“, „leibhaftigen Unsterblichkeitsbeweisen“ oder „leiblichem Gedächtnis“ die Rede ist.17 Durch die biologische und physische Erforschung des mikroskopischen Zellularen wie der atomaren Einheit des Universums entwickelten sich durch eine neoidealistische Wiedererweckung aus den harten, sozialkritischen Milieu-Theoremen des Naturalismus Lehren einer teleologischen Psyche der Welt. Eine Entwicklung, die sich biographistisch an Dauthendeys Werk wie seinen autobiographischen Aussagen mehrfach verifizieren ließe. Dies geht einher mit dem von Lukács diagnostizierten „prosaische[n] Utopismus“18 der „Abwendung vom wirklichen Reichtum des Lebens“, durch die eine „‚Zeitlosigkeit‘“, eine „Abkehr von der lebendigen, konkreten, historischen Situation des deutschen Volkes“ 19 , angestrebt wurde. „Je nach individueller Weltanschauung oder künstlerischer Veranlagung wird nun daraus entweder ein alle Formen, alle Gestalten und Situationen auflösender Psychologismus oder eine manchmal romantische […], manchmal klassizistische […] Stilisierung der Wirklichkeit. Also entweder Formauflösung oder bis zu einem gewissen Grad ein neuer Epigonismus der Formen.“20 Dem naturalistischen Blick auf die Dinge, den der junge Dauthendey treulich versuchte zu funktionalisieren21, folgte in der Entwicklung des Gesamtwerks mit der Idee bald wieder die Grundkonstante des deutschen Idealismus: „Und ich sah ein, daß äußere Wirklichkeitswiedergabe nur eine Schulung für einen Schriftsteller sein konnte, aber daß sie nicht höchstes Kunstideal werden durfte.“22 „Deshalb hat für Dauthendey der Akt des Schreibens auch wenig mit Machen, mit bewusster Kunstgestaltung zu tun, sondern mit ‚Andacht‘, mit ‚Stim-

17 Vgl. ebd. S. 130-156. 18 Lukács, Georg: Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus. Eine Übersicht ihrer Hauptströmungen. Berlin 1947. S. 40. 19 Ebd. S. 36-37. 20 Ebd. S. 37. 21 Vgl. beispielsweise sein frühes Drama Das Kind, das die epigonale Stellung des jungen Dichters zu Ibsen und Hauptmann deutlich macht. 22 Dauthendey, Max: Gedankengut aus meinen Wanderjahren. München 1913. S. 132.

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mung‘.“23 Die von Lukács als bestimmend für die Kunst des imperialistischen Zeitalters markierte Überzeugung, dass die Literatur enthistorisiert sein müsse, fordert die subjektive Lokalisierung des künstlerischen Mediums um ein neues idealistisches Epizentrum. Wenn nun Max Dessoir in seinem Essay über Das Kunstgefühl der Gegenwart bereits 1895 den Übergangcharakter des Naturalismus, einer Kunst einer „nunmehr auseinander fallenden Völkergruppe“24 feststellt, dem neue Ideale folgen müssen, ist damit ein bedeutender – wenn nicht der bedeutendste – Faktor der Stildivergenz um die Jahrhundertwende benannt. Dieses neue Ideal zu besetzen ist auf so vielfältige Weise realisiert worden, dass sich Begriffe wie Jugendstil, Impressionismus, Expressionismus, Exotismus, Symbolismus, Realismus (der noch immer versucht, sich gegen „die Moderne“ zu verteidigen), Décadence, Futurismus oder Renaissancismus stets nur als Bruchteile einer komplexen Epoche von disparaten Ideen und Ideenzentren, als „Neu-Idealismus“25 lesen lassen. Oder wie Dessoir schreibt: „Bei dem centrifugalen Charakter der Gegenwart wird ein Kennwort schwer zu finden und noch schwerer festzustellen sein“26. Genau an solch eine Schnittstelle platziert sich als „ein Laboratorium der frühen Moderne“27 auch ein Text wie Dauthendeys Die Acht Gesichter am Biwasee, der als Kristallisationspunkt kunsttheoretischer Überlegungen gelten kann und sich aus einem (Über-)Angebot von theoretischen Überlegungen zur Überwindung einer wie immer gearteten modernen Krisensituation ergeben hat. Auch wenn Max Dauthendey stets selbst statuierte, er habe sich nie eindringlich mit der breiten (Fach-)Literatur über und aus Ostasien vertraut

23 Mahr, Johannes: „Wie bin ich elend, daß ich immer wünschen muß“. Fremde und Heimat im Werk Max Dauthendeys. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Jg. 145, Bd. 230 (1993). S. 44. Zitation im Original. 24 Dessoir (1896). S. 81. 25 Ebd. S. 88. 26 Dessoir, Max: Das Kunstgefühl der Gegenwart [II.]. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte. Bd. 80, H. 476 (1896). S. 172. 27 Buch (1991). S. 117. – „Alle miteinander konkurrierenden Stilrichtungen der künstlerischen Inkubationszeit vor dem ersten Weltkrieg werden hier wie ein Panoptikum vorgeführt.“ Was Buch hier im Bezug auf die Novellensammlung Lingam erläutert, lässt sich adäquat auf die hier thematisierten Texte übertragen.

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gemacht28, lesen sich zeitnah erschienene Abhandlungen wie Curt Glasers Die Kunst Ostasiens. Der Umkreis ihres Denkens und Gestaltens über das chinesisch-japanische Bild als Stimmungskunst wie eine impressionistische Erläuterung der exotistischen Novellen: „Das Bild soll nicht Wegweiser sein zu einem sprachlich formulierten Gedanken; – sollte es das, so müßte die Malerei resignieren, da sie niemals die Prägnanz sprachlichen Ausdrucks zu erreichen vermag, – sondern es soll unmittelbar durch seine eigenen Gegebenheit Auslöser eines Gefühles werden. […] Die kleinen Stimmungsgedichte behandeln die gleichen Themen wie die Bilder, die Maler selbst werden Dichter, und der Brauch einer großen Schule […] will es, daß der Künstler in einem lyrischen Gedicht nochmals mit Worten den Sinn des Bildes umschreibe.“29

Im Zuge der Kunstanschauungen von Impressionismus und Jugendstil werden Lyrik und Malerei zusammengeführt und im Rahmen einer Wendung zum Medium wird dem Ornamentalen (als Symbol eines Gefühls) Vorrang vor dem mimetischen Abbild eingeräumt. „Gedichte ohne Worte sind die

28 In einer durchaus zweifelhaften autobiographischen Selbstinszenierung schreibt Dauthendey in seinem Gedankengut aus meinen Wanderjahren: „Ich erhielt öfters Aufforderungen von Literaturprofessoren, ihnen die Quellen zu nennen, aus welchen ich die japanischen Novellen und Liebesgedichte entnommen, die ich nach meiner Reise um die Erde 1911 herausgab. Ich muß aber immer wieder und diesmal öffentlich erklären: ich kenne nichts von japanischen oder chinesischen Urtexten. Nur ein weniges, was in Übersetzungen zu uns kam, und das jene Herren viel aufmerksamer studiert haben werden als ich, kenne ich. Auf meiner Reise um die Erde, durch ganz Asien, von Bombay bis Yokohama, war es die vorher vor dem Leser ausgebreitete Weltanschauung, die mich der Seele der Asiaten sozusagen zum Zwillingsbruder machte.“ – Dauthendey (1913). S. 38. – Die Wendung ist insoweit zu hinterfragen, da sie das genialische und panpsychistische Weltbild des Dichters zu offensichtlich unterstützt. Jedoch lässt sich ein umfassendes Studium westlicher Literatur über den Sehnsuchtsraum Asien durch vielfältiges Unwissen und unreflektierte Wiedergabe subjektiver Eindrücke genauso ausschließen. 29 Glaser (1913). S. 87.

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Bilder, und ihr Inhalt hat lyrischen Charakter.“30 So kommt Glaser auf eine Kunsttradition zu sprechen, die er mit dem japanischen Begriff „Hakkei“ umschreibt; ein Kanon acht typischer „Bildthemen in der klassischen Epoche der chinesischen Landschaftsmalerei und in der Zeit ihrer neuen Blüte in Japan.“31 „Die Situation spielt nur eine ganz allgemeine Rolle, und viele von den japanischen Malern, die die Hakkei darstellten, haben China niemals mit eigenen Augen gesehen. Das Wesentliche ist nicht die Formation einer bestimmten Landschaft, sondern eine Stimmung. Die Hakkei geben nicht mehr als Überschriften lyrischer Gedichte. […] Abendglocken eines fernen Tempels. Fischerdorf in der Dämmerung. Herbstmond am Tung-ting-See. Regenabend an den Ufern der Flüsse. Fischerdorf bei Sonnenuntergang. Fischerboote segeln heimwärts. Ein Zug von Wildgänsen steigt hernieder. Abendschnee über dem See.“32

Die „kanonische Geltung“33 dieser Landschaftsmomente hat auch Hiroshige zu seinen Acht Ansichten des Biwasees geführt, die wiederum Dauthendey aufnimmt und als Titel und Anregungen für ein neues Medium im Prosatext verwendet. Dieser mediale Wechsel vollzieht sich analog zu dem, was Glaser für die Ausdeutung der chinesischen wie japanischen Kunst skizziert: „Undarstellbar ist der Klang der Abendglocke des fernen Tempels. Der Maler bemüht sich nicht, die Elemente einer Beschreibung zu geben wie die Illustration. Das Wort löst eine Stimmung aus. Nur die soll wiedergegeben werden.“34 Folglich tritt durch die impressionistische Textkunst das Geschriebene der Novellen in eine unauflösbare Symbiose mit der Form. Informationen werden im Zusammenspiel von Inhalt und Arrangement, Ausdruck, Stil oder Metrik vermittelt. Ein analoges Programm zu

30 Ebd. S. 88. 31 Ebd. 32 Ebd. S. 88-89. 33 Ebd. S. 88. 34 Ebd. S. 89.

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dem im Prolog initiierten panpsychistischen oder animistischen Kommunikationsraum, der die Informationsvermittlung zwischen Natur und Mensch nicht über direkte Artikulation, sondern über Gefühl und Stimmung steuert. Es sind „naive Formeln“35, wie es Benjamin im Kontext seiner „Beschäftigung mit der ‚Exotik des Jugendstils‘“36 ausdrückte, die den Weg ebnen für die impressionistische Glorifizierung der Melodie, des Metrums oder der Farbmaterialität. Das fünfte Gesicht der Novellensammlung – zweideutig zu lesen als Antlitz und als metaphysische Erscheinung bzw. Botschaft Gottes – lautet Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen und „spricht von der Geheimschrift der Liebeserklärung.“ (S. 6) Der Fokus dieser Novelle liegt laut Prolog demnach auf einer graphemischen Kommunikation im japanischen Idealraum des Panpsychismus, die den Lesern vermittelt durch die Naturanschauung der Vogelformation in einem Akt des Sehens (nicht Lesens) erfahrbar gemacht wird. Die Erzählung um den Maler Oizo, der wegen der Bitte einer Prinzessin in Lebensgefahr gerät und am Biwasee seine wahre Liebe findet, wird durch klassische Märchenmotive eingeführt und im Zuge dessen in ein konstruiertes Mittelalter verlagert, in dem die Sphären Kunst, Religion und Monarchie in den Tempelpalästen der japanischen Hauptstadt Kyoto zusammenfallen. Die Aufforderung einer Prinzessin, eine Liebesbotschaft an ihre Wand malen zu lassen, führt den Künstler Oizo an den Biwasee, wo er die japanischen Naturschriftzeichen studiert. Die märchenhafte Dreireihung der Prinzessinnen, der Fall ihres Alters mit der Reihenfolge der Bitten und die Zuspitzung des Wunsches der jüngsten prägen die Leseerwartung im Zusammenspiel mit der liebesthematischen Grundtendenz Die acht Gesichter am Biwasee von vornherein auf eine Romanze, in der die Prinzessin die Liebende zu sein scheint. Die Gerichtetheit dieser Gefühle wird sogleich im einzig in der Entität der Künstler markierten Maler Oizo gefunden, dem der Wunsch der Prinzessin aufgetragen wird (mit

35 Holz, Detlef: Briefe von Max Dauthendey. In: Christoph Gödde u. Henri Lonitz (Hrsg.): Walter Benjamin. Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 13.1: Kritiken und Rezensionen. Hrsg. v. Heinrich Kaulen. Berlin 2011. S. 404. 36 Gödde, Christoph u. Henri Lonitz (Hrsg.): Walter Benjamin. Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 13.1: Kritiken und Rezensionen. Kommentar. Hrsg. v. Heinrich Kaulen. Berlin 2011. S. 389.

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Wiederholung des märchenhaften Dreischritts im Zeichen aus Gänseschar, Hügel und Baum). Stilistisch einfache Wendungen wie „Da wurde der große Maler Oizo traurig“ (S. 99) unterstützen den Verweis auf das Märchengenre und halten die gattungskonventionelle Leseanweisung stets im Gedächtnis. Die Erzählung verändert nach der Schilderung der Prinzessinnen ihren Fokus auf Oizo, der die Töpferstochter Graswürzelein in Katata trifft, während er vergeblich die Wildgänse zu studieren sucht. Am Biwasee erkennt er Schriftzeichen in „Bäumen am Ufer“ und Fischen, „die in Rudeln im klaren Wasser stehen“ (S. 99). Er findet auf Grund der falschen Jahreszeit allerdings nicht den Flug der Wildgänse und damit die gesuchte Botschaft vor. Jedoch trifft er auf ein eigenes Liebesobjekt, das nun der Liebesthematik eine Wendung gibt: Von der märchenhaften Prinzessin zur einfachen Tochter eines Handwerkers. Oizo muss sich seiner Gefühle jedoch erst noch bewusst werden und begibt sich mit dem von Graswürzelein erklärten Wissen über die Beschaffenheit des mysteriösen Zeichens zurück nach Kyoto. Dort stellt sich die Arbeit des Künstlers der Logik des mittelalterlichen Märchenzeitalters folgend als heikel dar. Dadurch, dass die Sphären Religion und weltliche Macht im Kaisertempel zusammenfallen und die Kunst Oizos typische Auftragskunst durch den Adel ist, stößt der Maler bei dem Versuch, das Zeichen der Wildgänse zu realisieren, auf Probleme: „‚Wir hatten das bis damals in Kioto nicht gewußt. Aber jetzt kennen das Schriftzeichen des Gänseflugs von Katata alle Kinder von Kioto, weil alle Maler das Geheimnis verbreitet haben, alle, die in Katata waren. Auch der kaiserliche Hof weiß es längst, und die junge Prinzessin ist bereits von dem ganzen Hof als lächerlich erklärt. Der Kaiser und die Kaiserin sollen sehr ärgerlich sein, und du selbst wirst deinen Kopf verlieren, wenn du den Saal fertig gemalt hast und dir einbildest, von der Prinzessin geliebt zu sein.‘ Oizo dachte einen Augenblick nach, dann lachte er und sagte: ‚Da ich die Prinzessin nicht liebe, wird mir der Hof doch noch böse sein, weil ich den Wildgänseflug mit Lust an meiner Malerei malen wollte, und nicht mit Lust an der Liebeserklärung des Schriftzeichens.‘“ (S. 105-106)

Oizo ist sich seiner eigenen lebensgefährlichen Lage nicht bewusst, da seine Gedanken an einer modernen Kunstautonomie orientiert sind. Er erachtet sein Werk als von Politik und Künstler unabhängig und missachtet die

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Auftragssituation seiner Produktion. Von seinem Freund überzeugt, flieht er schließlich doch aus Kyoto auf den Biwasee und wird dort mit seinem Boot an den Strand von Katata angespült. Oizo und Graswürzelein treffen sich erneut und Liebes- und Auftragserfüllung treffen im märchenhaften „Happy End“ zusammen. Die an das Genre Märchen geknüpften Kodizes besitzen eine essentielle, strukturierende Bedeutung innerhalb der Novelle, die mit der Erwartungsbrechung der Liebeskonstellation korrespondiert. Die märchentypische Personifikation von Tier, Pflanze und Gegenstand, die im Kontext eines evozierten panpsychistischen Kommunikationsraums erwartet wird, fällt aus bzw. tritt nur in schwacher Ausformung hervor. An die Stelle sprechender Brote, anthropomorpher Kater oder intriganter Zauberwesen treten Anthropomorphismen wie „redendes Blut“ (Vgl. S. 111) oder „lebende Bäume und Hügel“ (Vgl. S. 102). Rhetorisch werden Natur, Mensch und Kultur aufs Engste miteinander verbunden und oftmals, wie in der Szene der Offenbarung des Schriftzeichens durch Graswürzelein, nicht mehr genau unterscheidbar. Das „Gesicht“ des Biwasees versucht demnach einen Kommunikationsraum zu offerieren, in dem sich der Mensch als integraler Bestandteil der Natur erkennt und folglich mit dieser in einer artikulatorischen Beziehung steht. Im Zuge impressionistischer Schreibstilistik werden Naturraum und Kulturraum durch uneigentliches Sprechen, also durch indirekte Kommunikation, miteinander verwoben. Infolgedessen wird das zentrale „japanische Schriftzeichen“ (S. 98) des Gänseflugs unentwirrbar polyphon: Die erste Erklärung für das Phänomen der Wildgänse wird von der Prinzessin erbracht, die behauptet, es selbst in Katata gesehen zu haben. Dem folgt Graswürzeleins Zeichnung auf der ungebrannten Tonware durch Holzkohle und ihre Erklärung der falschgebrannten Glasur sowie des amüsierten Mönches. Graswürzelein geht davon aus, dass die Prinzessin die Vase zufällig in einem Kloster gesehen habe, erklärt aber gleichzeitig, dass eine solch natürliche Konstruktion aus Baumlinie, Berg und Vogelflug durchaus in Katata existieren könne. Zurück in Kyoto malt Oizo nun seine Interpretation des Zeichens als Wandgemälde, stößt aber zugleich im Theaterviertel auf die unterschiedlichen Verarbeitungen der nun allgemein bekannten Kommunikationspraxis junger Verliebter auf Theaterbildern, Mobiles und Nippes. Sein Freund berichtet ihm vom schelmischen Spiel eines jungen Mädchens durch einen Bonsai und ein Schattenspiel, um ihre Liebe

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zu offenbaren. Abschließend erkennt Oizo auf dem Biwasee treibend im wirklichen Flug der Wildgänse sowohl das gesuchte Zeichen der Prinzessin als auch seine Erweiterung durch die Spiegelung im glatten Wasser. Die Darstellung der fließenden Verbindungen von impressionistisch angeordneten Einheiten eines Blicks/Gemäldes, wie sie es ermöglicht, aus Vögeln, Baum und Horizont ein lesbares Schriftzeichen zu kreieren, findet sich bereits in den zeitgenössischen Besprechungen japanischer Holzschnitte. So schreibt Hermann: „Wie wurzelt so ein Baum im Boden bei Hiroshige – man sehe sich darauf den weißen Riesen, den kahlen Laubbaum vorn in unserem Schneebilde an und den hängenden Ahorn bei dem herbstlichen Strom, der schräg in das Bild hineinfällt und von dem wir doch stets überzeugt sind, daß ihn kein Wind herabbrechen kann. Und wie ist so ein Baum mit dem Himmel verwandt, leitet zu ihm, ist ganz umflossen von Luft, leitet ebenso zum Land. […] Das ist wohl überhaupt auch ein Charakteristikum der japanischen Landschaft, daß immer eines mit dem anderen verbunden ist. Wir trennen die Dinge fein säuberlich und geben jedem ein Zettelchen. Hier führt immer eines zum anderen.“37

In impressionistischer Manier wird hier das grenzauflösende Moment der Kunst zur „Verbindung mit dem Unendlichen“38 und beinahe symbolistisch als „Dichtung“39 zur einzigen Chance der Wiedergabe dessen, „was man nicht für darstellbar hält“40. Das von Hermann erwähnte „Zettelchen“ konkretisiert die differenz- wie sprachphilosophische Bedeutung dieser ästhetischen Zielsetzung.41 Oder wie Curt Glaser analog resümiert: „Der Maler

37 Hermann (1905). S. 31-32. 38 Ebd. S. 26. 39 Ebd. S. 33. 40 Ebd. 41 Lévi-Strauss beschreibt die Herkunft dieser abendländischen Ablehnung gegenüber eines konstruierten „fernöstlichen Denkens“, wenn er schreibt: „Depuis les Grecs, l’occident croit que l’homme a la faculté d’appréhender le monde en utilisant le langage au service de la raison: un discours bien construit coïncide avec le réel, il atteint et reflète l’ordre des choses. Au contraire, selon la conception orientale, tout discours est irrémédiablement inadéquat au réel. La nature dernière du monde, à supposer que cette notion ait un sens, nous échappe. Elle

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bemüht sich nicht, die Elemente einer Beschreibung zu geben wie die Illustration. Das Wort löst eine Stimmung aus. Nur sie soll wiedergegeben werden. Man empfindet vor dem Bilde die Abendstille, in der leise widerhallend aus weiter Ferne der dumpfe Klang des Tempelgongs herübertönt.“42 Es werden sowohl Oizo wie auch den Lesern verschiedene Deutungsansätze über die Herkunft der polyphonen Liebesbotschaft angeboten, die zwischen Naturschau und künstlerischer Produktion, zwischen göttlicher, spiritueller Herkunft und affektbedingtem Zufallsmoment divergieren und die genaue Verortung eines – wenn es nicht gar mehrere geben sollte – Ursprungspunkts ist letztlich auf textueller Ebene unmöglich. Genauso rätselhaft ist die Beschaffenheit des Zeichens, das als eindeutig „japanisch“ lesbar ausgewiesen wird und „zugleich Bild und Schriftzeichen“ (S. 101) sein soll, wobei der semantische Wert in keinem Bezug zu seiner Bildhaftigkeit steht. Der Naturraum, mit dem der idealisierte Japaner in einem symbiotischen Verhältnis stehe, wird zugleich ein subjektiver Erfahrungsraum. Oizo kann entgegen Graswürzelein bei seinem ersten Besuch in Katata die stumme Sprache der Natur noch nicht verstehen:

transcende nos facultés de réflexion et d’expression. Nous ne pouvons rien en connaître et donc rien en dire.“ – Lévi-Strauss, Claude: La place de la culture japonaise dans le monde. In: Revue d’esthétique. Bd. 18: Japon (1990). S. 20. – „Seit den Griechen glaubt das Abendland, daß der Mensch die Fähigkeit besitzt, die Welt zu erfassen, indem er die Sprache im Dienst der Vernunft benutzt: eine wohlgebaute Rede stimmt mit dem Realen überein, sie trifft die Ordnung der Dinge und spiegelt sie wider. Im Gegensatz dazu ist der östlichen Auffassung zufolge jede Rede dem Realen unwiderruflich nicht adäquat. Die letzte Natur der Welt, vorausgesetzt, dieser Begriff hat einen Sinn, entgeht uns. Sie transzendiert unsere Denk- und Ausdrucksfähigkeiten. Wir können nichts von ihr erkennen und folglich auch nichts über sie sagen.“ – Lévi-Strauss, Claude: Der Platz der japanischen Kultur in der Welt. In: Claude Lévi-Strauss: Die andere Seite des Mondes. Schriften über Japan. Berlin 2012. S. 46-47. 42 Glaser (1913). S. 89.

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„‚Ich habe zu viel geredet, und das ärgert mich‘, sagte Graswürzelein. ‚Deshalb zerbrach ich den Krug.‘ Der Maler verstand sie nicht, reichte ihr ein Geldstück hin“ (S. 102).

Graswürzeleins Wut lässt sich durch den unverstandenen performativen Akt der Liebesbezeugung in der Offenbarung des Schriftzeichens an Oizo deuten oder als Unbehagen über die profane Art, sich zu unterhalten, auf die sie zurückgreifen muss. Bei ihrem zweiten Treffen, bei dem die Liebenden miteinander sprechen, ohne Worte zu benutzen43, treiben sie auf dem Biwasee, also einem exponierten Raum subjektiver Naturerfahrung, wie es die intermedial angesprochenen Bilder Hiroshiges andeuten. Oizo vermag es nun, die panpsychische Kommunikation zu nutzen, die keine Mehrdeutigkeit ihrer Sprachzeichen mehr zulässt. Diese Verständigung als Wiederbelebung eines metaphysisch konstruierten Kosmos füllt die aufgetretene Lücke der destruierten Weltbuchmetapher um 1900. Zerstören Nietzsches Gottesmord und Laternenzertrümmerung den Glauben/die Möglichkeit eines Glaubens an ein Logos jeglicher Denkart – Gott, Feuer, Wahrheit, Sinn, Vernunft – und hinterfragen seine sprachkritischen Überlegungen zusammen mit Denkern wie Hofmannsthal und Mauthner die metaphysische Dimension einer als natürlich-sinnvoll aufgefassten Sprache, tritt in Dauthendeys Novelle das Ideal eines Kommunikationsraums hervor, der die Weltbuchmetapher nicht mehr als Metapher auffasst, sondern sie stark zu banalisieren droht: Der manischen „Entmystifizierung“44 geht es „also nicht mehr um die Erkenntnis Gottes in der Lektüre des ‚Buchs der Natur‘, sondern um das Verstehen einer konkreten Botschaft.“45 Dauthendeys lebensmystische, animistische oder panpsychistische Novelle deutet ein Programm an, das das komplexe und oftmals pessimistische Daseinsgefühl der Moderne sowie die durch die „Öffnung der Horizonte und de[n] Einbruch des Bedrohlichen“ entbundenen „Energien“ eben nicht zu einem poetischen Arbeiten mit dem Befremden gebraucht. Im neoidealistischen

43 „Er wußte nicht, daß seine Stimme fortwährend in den Ohren des Mädchens summte und ihr Blut unausgesetzt mit ihm redete […], sie die keine Worte sprach.“ (S. 111) 44 Schaffers (2006). S. 257. 45 Ebd. S. 256.

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Gegenzug wird an der „Schöpfung neuer Sicherheiten“46 gearbeitet. Gott als übergeordnete und ordnende Instanz des Menschen ist unwiderruflich aus dem Bereich des Möglichen verschwunden, die Metaphysik jedoch entgegen Dilthey noch zu retten. Dass es keinen Gott und keinen Zufall mehr gibt, ermöglicht dem Individuum neue Subjekterfahrungen, die sowohl positiv-emanzipatorisch wie auch negativ-selbstzerstörerisch ausfallen können. Es ist die biographisch entstandene Aufgabe lebensmystischer Dichter wie Andreas-Salomé, Dauthendey, Dehmel oder von Mayenburg, den Moment absoluter Entfremdung von einer theozentrischen Welt durch den „All-Einheits-Enthusiasmus“47 abzulösen. So simpel wie die Figuren die Gänse-Botschaft aus der Sprache/Schrift der Natur auslesen und übersetzen können, so komplex und inkommensurabel ist ihre Beschaffenheit. Die Sinnhaftigkeit ist empathisch angelegt im Modus des „sprechenden Blutes“ der Liebenden. Interessanter als das kurzlebige Modell eines suggestiven Monismus erscheint demnach die für die literarische Moderne typische Vermischung sprachlicher Indizes, die in diesem Fall oftmals an die Personifikation erinnert: „Dann war es, als wenn Ruderkähne hoch in der Luft mit großen Ruderschlägen herbeiführen und als ob Mühlen sich drehten mit unsichtbaren Rädern. Und Laute, die nicht Musik, nicht Menschenstimmen und nicht Tierstimmen glichen, die aber feierliche Akkorde in die Stille über den See schufen, klangen irgendwo im unermessenen Abendraum, kreiselten, waren da, wurden im Abendgrau zu weißen fliegenden Erscheinungen, bildeten dann eine Kette über den Köpfen des Mädchens und des Mannes, zogen ein Spiegelbild im Wasser nach, wie eine Reihe weißer, winkender Tücher. Die weiße Geisterkette beschrieb eine weiße Schleife am Himmel und eine weiße Schleife im Wasserspiegel und verrauschte wie ein musikalischer Windton und hinterließ Atemzüge von Befremdung, von Sehnsucht, als wäre die Luft mit unerfüllten Wünschen noch lange nach dem Vorbeizug der Wildgänse in Katata angefüllt.“ (S. 111-112)

Was hier geschildert wird, erscheint außerhalb des Sinnkosmos eines panpsychischen Weltsystems als stilistischer Affront. Ausgehend von einem akustischen Phänomen, das in seiner Beschreibung an eine transzendente

46 Fick (1993). S. 3. 47 Riedel (2011). S. 88.

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Sphäre gebunden wird, wandeln sich Geräusche direkt in eine optische Erscheinung. Die spirituell aufgeladene „Geisterkette“ verschwindet schließlich wieder über die unmittelbare Umwandlung zu einem Geräusch und endet in einer suggestiven Beeinflussung einer nicht verorteten Psyche. Gleichzeitig ist dies der Handlungsmoment, an dem Oizo der Geburt eines Naturzeichens beiwohnt, in der ein japanisches Schriftzeichen aus einer natürlichen Konstellation heraus entsteht. Dieser Schreibakt geht konform mit der unentwirrbaren Deutung der Herkunft der Liebesbotschaft und erinnert durch seine syntaktische wie semantische Rebusform an die poetischen Experimente zahlreicher Zeitgenossen Dauthendeys. Ein Analogon findet sich in Kellermanns Beststeller Der Tunnel, der nur wenige Monate nach seiner Japanreise und der Veröffentlichung von Ein Spaziergang in Japan sowie Sassa yo Yassa - Japanische Tänze erschien: „Eines Abends ging Allan im Quartier latin durch eine krumme, geschäftige Straße und plötzlich blieb er stehen. Jemand hatte seinen Namen gerufen. Aber ringsum hasteten fremde gleichgültige Menschen. Da sah er plötzlich seinen Namen, seinen früheren Namen, in riesigen Lettern vor den Augen. Es war ein grellfarbiges Plakat der Edison-Bio: ‚Mac Allan, constructeur du ‚Tunnel‘ et Mr. Hobby, ingénieur en chef conversant avec les collaborateurs à Mac City.‘ ‚Les tunnel-trains allant et venant du travail.‘ Allan sprach nicht Französisch, aber er verstand den Sinn der Affiche.“48

Die ironische Wendung in Kellermanns wie in Dauthendeys Auszug liegt in der Verschachtelung und Verwirrung von gesprochener und geschriebener Sprache. Jenseits weltfestlicher Panpsychismus-Phantastereien wird an dieser Stelle deutlich, wie weit die Sprachspiele einer Modernegeneration die klassischen Regeln aufbrechen und ihr Erbe von jugendstilistischer Ornamentik offenbaren. Dabei betont der stilistische Witz der „Affiche“ einen optimistischen Verstehenshorizont, der in Der Tunnel durch die oftmals paradoxe Verwendung dreier Sprachsysteme und der Dimension des Tunnelprojekts mit babylonischem Ausmaß eine zentrale Rolle spielt.

48 Kellermann, Bernhard: Der Tunnel. Berlin 1913. S. 271. – Die sprachliche Dimension dieser Szene tritt in der Originalausgabe durch das Widerspiel von Antiqua und Fraktur graphisch deutlich zu Tage.

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Ein solcher Art attestierter, allumfassender Verstehenshorizont ist durch Dauthendeys Vorwort von Die acht Gesichter am Biwasee eng an die poetisch-prophetischen Fähigkeiten der Dichter geknüpft. Ihrer ästhetischen Kommunikation alleine ist es zugewiesen, die zur Mode gewordenen Subjektivitäts- und Sprachkrisen der Moderne im uneigentlichen Sprechen aufzulösen. Und dabei gilt für die poetische Nachricht das Gleiche wie für das Liebeszeichen aus Katata: Das Medium ist verrätselt, verschlungen, paradox und je mehr sich der Leser auf die Suche nach Herkunft und Beschaffenheit der empfangenen Information macht, desto mehr verschleiert sich das angestrebte Ziel der Recherche. Die Botschaft der Wildgänse, ob sie nun einer Flugformation, einem Zusammenspiel von Baum und Gebirge oder einer verbrannten Tonglasur entspringt, verdeutlicht die essentielle Funktion der Sprache, die Menschen gegeneinander und im Kosmos zu strukturieren, und verweist auf eine metaphysische Kommunikation, die das „außermoralische Lügen“ Nietzsches zu umgehen vermag. Oizo selbst wird durch ein intertextuelles Spiel integraler Bestandteil der Natur(-schrift), wenn er metaphorisch von seiner kleinen Odyssee auf dem Biwasee spricht: „Du weißt nicht, Graswürzelein, daß ich wie ein totes Holz draußen auf dem See seit Tagen herumtreiben mußte“. (S. 113) Diese Wendung verweist direkt auf die vorhergehende Novelle Die Abendglocke vom Mijderatempel hören, in der der chinesische Eremit Ata-Mono, der die Naturschrift der in China bekannten Bäume aus den Rinden ablesen kann, an der kryptischen Oberfläche eines aus Japan angeschwemmten Stamms verzweifelt. Ist aber in der Geschichte des Eremiten nur von einer ungedeuteten Naturschrift die Rede, so verengt Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen diese auf das reale Japanische. Damit bedient und schöpft die Novelle aus den vergangenen Theorien der Natürlichkeit eines vermeintlich ideographischen Systems und markiert die Betonung der graphemischen Medialität des Dichtens in der stilpluralistischen Jahrhundertwende. Ein Novaliszitat sei als Übergang zur Novelle Die Segelbote von Yabase heimkehren sehen vorgeschaltet: „Mannichfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Krystallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äu-

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ßern der Gebirge, der Pflanzen, der Thiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Conjuncturen des Zufalls, erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben; allein die Ahnung will sich selbst in keine feste Form fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen. Ein Alcahest scheint über die Sinne der Menschen ausgegossen zu seyn. Nur augenblicklich scheinen ihre Wünsche, ihre Gedanken sich zu verdichten.“49

Novalis’ Wortwahl „verdichten“ ist an dieser Stelle im doppelten Wortsinne, der poetischen Verarbeitung und der Zunahme von Reizqualität, zu verstehen. Wenn demnach den Dichtenden ein besseres Verständnis der mystifizierten Natur zugeschrieben wird, so musste diese Aufwertung der Poeten mit der Verwissenschaftlichung der Welt im Zuge des späten 19. Jahrhunderts verloren gehen; das, was Spielhagen 1873 beispielsweise als „furchtbare Konkurrenz der Wissenschaften“50 bezeichnete.51 Dauthendeys ästhe-

49 Novalis: Die Lehrlinge zu Saïs. In: Paul Kluckhohn u. Richard Samuel (Hrsg.): Novalis. Schriften. Bd. 1: Das dichterische Werk. Darmstadt 31977. S. 79. 50 Spielhagen, Friedrich: Das Gebiet des Romans. In: Friedrich Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Leipzig 1883. S. 41. 51 Vgl. dazu: Hellmann, Winfried: Objektivität, Subjektivität und Erzählkunst. Zur Romantheorie Friedrich Spielhagens. In: Richard Brinkmann (Hrsg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. Darmstadt ³1987. S. 118-120. – „Goethes Überzeugung, der Dichter enthülle das offenbare Geheimnis der Natur, mußte gegenstandslos werden, sobald es dieses Geheimnis nicht mehr zu geben schien, weil aus der Natur inzwischen ein Mechanismus, dessen Gesetze die exakte Naturwissenschaft erforscht, und das Material der Technik geworden war. Diese Weltlage – sie ist dem Romantheoretiker Spielhagen […] zumindest halbbewußt – bringt eine Dichtung, die eifrig danach strebt‚ ‚ein möglichst getreues Abbild der Wirklichkeit auch in ihrer äußeren Erscheinung zu geben‘, nicht nur in die Gefahr ins Stoffliche abzusinken. Sie bringt den Dichter auch in die Situation, auf die jener Einwand gegen Goethe hinweist: er muß das ihm real Gegebene deuten in dem Sinne, daß er ihm überhaupt erst Bedeutung verleiht, muß es, indem er die göttliche Idee in das Endliche hineinlegt, erst eigentlich sinnhaft machen. […] Entsprechend [kann es noch bei Novalis heißen]: ‚Der Poet versteht die Natur besser wie der wissenschaftliche Kopf‘, während bei

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tisierende Novellen scheinen direkt an Novalis und das naturgöttliche Ideal der Goethe-Zeit anzuknüpfen, ohne die Generationen realistischen und naturalistischen Schaffens und Überlegens zu berücksichtigen. An dieser Stelle wird die Zuschreibung des Textes zu einem post-naturalistischen NeoIdealismus unabdingbar. Dieser äußert sich vor allem in einer waghalsigen und experimentellen Originalitätssucht, der eine Faszination an der Natur als Erfahrungsraum jedoch entschieden entgegenstehen muss. Denn die Frage nach der Beschreibung und Abbildbarkeit der Natur wurde bereits auf unterschiedliche Weisen ästhetisierend durch die deutschen Idealisten auf der einen Seite, durch die empirisch-wissenschaftlichen Ansprüche der Naturalisten auf der anderen ausgiebig auf künstlerischem und speziell literarischem Feld diskutiert. Dauthendey befand sich um die Jahrhundertwende in einer epigonalen Position. Dass die Natur nun essentieller Bestandteil der Texte wird, legt den Schluss nahe, dass nicht die (Möglichkeit der) Beschreibbarkeit im textuell-künstlerischen Medium zum primären Streitpunkt wird, sondern die ästhetische Funktionalisierung einer Naturerfahrung im modernen, industriellen Zeitraum der Großstadtkultur und der Technisierung. In diesem Zuge wird der Topos der Beschreibbarkeit von Natur in der tonangebenden ersten Erzählung Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen in seiner Wortqualität verschoben zu einer Frage nach der Informationsinskription natürlicher Erscheinungen im Rahmen des monistischen Kommunikationsraums. Die Geschichte um die schöne Hanake, die sich, von einer Vision geleitet, anstatt in den kaiserlichen Prinzen, dem sie staatlich und religiös verpflichtet wäre, in dessen Gesandten und Freund verliebt, gibt in vielerlei Hinsicht den Ton der Novellensammlung an. Wie die Suche des Prinzen nach der verschwundenen Geliebten „von Ozu bis Yabase, von Karasaki bis Katata, von Seta bis Amazu“ (S. 27) den See topographisch absteckt, kartographiert der Text bereits die Grundmotive der gleichbenannten, noch folgenden Erzählungen.52 Im Vorwort der Sammlung heißt es demnach

Spielhagen die ‚furchtbare Konkurrenz der Wissenschaften‘ zum Problem der Dichtung wird.“ – Ebd. S. 118-119. Zitationen im Original. 52 Die Titel der folgenden Gesichter/Novellen lauten dementsprechend: Den Nachtregen regnen hören in Karasaki, Die Abendglocke vom Miideratempels hören, Sonniger Himmel und Brise von Amazu, Der Wildgänse Flug in Katata

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auch bezeichnend: „Die Dichter vergleichen die Seele dieses Landschaftsgesichtes mit dem Herannahen einer liebesseligen Schicksalswende.“ (S. 5) Es ist das einzige der acht „Gesichter“, das nicht selbst zu Wort kommt, sondern dessen „Seele“ von einer Pluralität an „Dichtern“ zum Vergleich herangezogen wird. Als Leseanweisung verstanden, vermag es dazu aufzufordern, sich nicht mit dem bloßen Phänomen des Gesagten zu beschäftigen, sondern das textuelle Arrangement ebenso zu betrachten wie die subtile Artikulation der Natur in evozierten Stimmungen. Dass die „Gesichter“ als Momente panpsychistischer Artikulation in optischen, akustischen oder haptischen Zusammenhängen zu verstehen sind, wird den Lesern sowohl im Prolog als auch in den sieben noch folgenden Erzählungen bewusst gemacht. Folglich bekommt das redeführende Gesicht den Sonderstatus eines – in sich geschlossenen und deutbaren – zweiten Prologs. Überdeutlich tritt das rhetorische Unterfangen hervor, stilistisch die diametral entgegengestellten Sphären Natur und Mensch ineinander zu verschränken. So wie das Mädchen Graswürzelein aus Katata bekommt auch die Magd der Erzählung einen sprechenden Namen „Singende Seemuschel“ und in der perspektivischen Beschreibung des fremden Mannes aus dem Westen werden in Abgrenzung Vergleiche aus der Natur aufgezählt: „Er hatte keine schöne gelbe Elfenbeinhaut. Er war grau im Gesicht wie Moder, wie ein Stein, der lange auf dem Seegrund gelegen hat, und seine Haut war runzelig wie die Haut der Kröten. Er hatte ein erschreckendes gelbes Haar. Das war hell wie Hobelspäne, und seine Augen waren fischblau, und eine unordentliche Seele blickte Hanake wirr an, als stürze ein surrendes häßliches Insekt auf Hanake los und wolle sie stechen.“ (S. 15)

Weitergedacht und radikalisiert entstammen diesem Schreibstil Wendungen wie „schmerzendes Haar“ (S. 34) oder „Hände, die beim Tragen Hanakes Blut anredeten und ihr von großen Zärtlichkeiten erzählten“53 (S. 15), und

nachschauen, Von Ishiyama den Herbstmond aufgehensehen, Das Abendrot zu Seta, Den Abendschnee am Hirayama sehen. 53 Eine Formulierung, die sich in der späteren Novelle Der Wildgänseflug bei Katata naschauen wiederholen wird.

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führen die Dichtung in die Nähe der Repräsentanten des „esoterischen Monismus“54 aus dem nächsten Umfeld des Friedrichshagener Dichterkreises. Es sind Fragen nach einer rechtmäßigen Liebe trotz sozialer Verpflichtungen und der Moral und Legitimität eines Suizids, die an der „liebesseeligen Schicksalswende“ (S. 5) der schönen Hanake diskutiert werden. Das weltliche und im japanischen Kontext auch göttliche Recht verpflichtet das Mädchen dazu, sich der Liebeserklärung des kaiserlichen Prinzen nicht zu entziehen. Den prophezeiten einhundert abendlichen Besuchen will sich Hanake durch eine Selbstkastei, eine erotisch-umgekehrte Askese, entziehen, indem sie sich für „hundert Nächte, um hundertmal ihren Leib zu verkaufen“ (S. 31), ins Freudenviertel Yoshiwara in Tokyo begibt. Askese, hier exakt im Sinne Nietzsches gemeint, als ein „Versuch, sich ‚zu gut‘ für diese Welt vorzukommen“55 und als Ausformung eines „so hohe[n] Bedürfnis[ses] [mancher Menschen], ihre Gewalt und Herrschsucht auszuüben, dass sie, in Ermangelung anderer Objekte, oder, weil es ihnen sonst immer misslungen ist, endlich darauf verfallen, gewisse Theile ihres eigenen We-

54 Dehmel, Richard: Philosophische und poetische Weltanschauung. In: Richard Dehmel: Gesammelte Werke in drei Bänden. Bd. 3: Lebensblätter. Novellen in Prosa. Auswahl. Berlin 1913. S. 113. – Dehmel, der Rädelsführer der panpsychischen Weltanschauung erläutert in dieser „Ansprache im Monistenbund“, dass sich die künstlerische Arbeit nicht auf die Darstellung des philosophischen Weltbildes des Monismus spezialisieren dürfe. Die scharfe Trennung von Philosophie und Kunst, die Unmöglichkeit einer Identität von dichtendem und philosophierendem Genie, klingt wie eine Kritik an Dauthendeys plakativem Schreibstil. 55 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Leipzig 2

1892. S. 97. / Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. III.1. http://

www.nietzschesource.org/#eKGWB/GM-III-1 (letzter Zugriff: 28.07.2014). – Dauthendey selbst inszeniert sich in seinen Memoiren stets als einer der Wenigen in seiner Heimat Würzburg, die früh die enorme Wirkungsmacht Nietzsches erkennen konnten: „‚Den Philosoph Nietzsche, den Sie verlangen, kennen wir nicht. Nehmen sie doch einen anderen‘, so riet man mir in jener Buchhandlung. ‚Einen Philosophen Nietzsche gibt es gar nicht, und wir werden uns nur lächerlich machen, wenn wir nach Leipzig schreiben. Bestellen Sie doch ein Werk von Kant oder Spinoza. Bei diesen Namen sind wir sicher, daß wir Ihnen die Werke verschaffen können.‘“ – Dauthendey (1913). S. 102

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sens, gleichsam Ausschnitte oder Stufen ihrer selbst, zu tyrannisieren.“56 Es stellt sich Frage nach der Gültigkeit von Hanakes selbstauferlegter Läuterung, die auf den ersten Blick nicht am Ende geklärt wird. Hanake verweigert sich in der „hundertste[n] Nacht, in der sie den Göttern gedient hatte“ (S. 32), einem jungen Amerikaner und bricht damit erneut das kaiserliche Recht, das an „den Besuchstagen der amerikanischen Flotte“ (S. 31-32) die Mädchen von Yoshiwara zum Gehorsam gegenüber den westlichen Barbaren verpflichtete. Sie flieht abermals ohne Absprache aus eigenen Motiven und begeht daheim, nach einer Prophezeiung im Todeskampf eines kleinen Vogels, schlussendlich den Selbstmord, der ihr zuvor nicht vergönnt gewesen war. Haben die Toten Hanake nach dem Mord an ihrem Geliebten noch aus der Unterwelt verstoßen, da sie sich verweigert habe, „dem Leben […] Gehorsam zu geben“ (S. 20), scheint sie nun von dieser höheren Macht akzeptiert zu werden. Doch gerade die Ambivalenz der Flucht aus Yoshiwara, das zweite Auftreten eines unheilbringenden Amerikaners und die polyphone Formulierung der hundertsten Nacht, die offen lässt, ob Hanakes Selbstkastei geglückt ist, stellen die Frage nach dem „Gehorsam“ (S. 20) gegen das Leben ins Zentrum der Lektüre und mit ihm die Moral des Selbstmords und der Askese. Das verdeutlicht auch der zweite von insgesamt drei Tempuswechseln vom narrativen Präteritum ins praesens historicum. Wird im ersten Fall historisch von der Vision des Eindringens der „Fremden vom Westen“ (S. 8) in die japanische Harmonie und im letzten vom allgemeinen Treiben des Liebesmarkts Yoshiwara in Tokyo berichtet, fällt das zweite Präsens seltsamerweise mit der auktorialen Erzählung über Hanake zusammen: „Da knallte ein Schuß im Röhricht, und braune Wildenten strichen aus dem Schilf heraus aufkreischend über die Seefläche. Ein zweiter Schuß schallt, und Hanakes Geliebter wirft die Arme in die Luft, springt auf, wie vom einem Strick in die Höhe gerissen, und stürzt kopfüber in den abenddunkeln See. […] Hanake richtet sich auf, sitzt auf der Diele und sagt in Gedanken:

56 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Leipzig 21894. S. 141. / Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches I. §137. http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/MA-137 (letzter Zugriff: 28.07.2014).

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‚Ich glaube, ich komme von den Toten.‘ Dann sprach sie lange nicht mehr.“ (S. 16/18)

Der ungrammatische Tempuswechsel umrahmt demnach die Todeserfahrung Hanakes, die ihrem Geliebten in den See folgt und unter der Obhut ihrer Magd wieder aufwacht. Dem schließen sich kurze Zeit später die Schilderungen über die Absage der Toten, sie aufzunehmen, an. Was heißt es also nun, nicht sterben zu dürfen, wodurch und wie legitimiert sich der Selbstmord? Muss sich Hanake vor dem göttlichen Kaiser rechtfertigen und unterstützt die textuelle Logik durch die Verbindung von Recht und Jenseits den Status des japanischen Herrscherhauses auch für die Realität? Die tonangebende Frage, die hierbei verspricht, zur Lösung zu führen, lautet: Warum wird Hanakes Freitod erst verhindert und warum später nicht? Drei Segelboote sind Auslöser und Handlungsachse der Erzählung: „Die drei Segel glitten wie senkrechte Papierwände über das abendglatte Wasser. Man sah keine Menschen, denn jedes Segel reichte so tief, daß es das Boot verdeckte. Die aufgepflanzten Segel wurden größer und kamen näher: Hanake fühlte eine Bangigkeit, als kämen mit den drei Segeln drei weiße, unbeschriebene Blätter aus ihrem Schicksalsbuch geschwommen, und plötzlich las sie, als eine Sekunde von Windstille die Segel schlaff werden ließ, ein japanisches Schriftzeichen, zufällig entstanden aus den Falten jeder Segelleinwand. Das erste Boot sagte: ‚Ich grüße dich.‘ Das zweite Boot sagte: ‚Ich liebe dich.‘ Das dritte Boot sagte: ‚Ich töte dich.‘ Nach der kurzen Windstille, die knappe Sekunden dauerte, wechselte der See seine Farbe; wie vergossene schwarze Tusche über weißes Papier lief eine Finsternis über die Seefläche, und ganz unvermittelt setzte ein trompetender Seesturm ein, der alle drei Segel fast flach auf das Wasser legte, als müßte die Leinwand den Seeschaum reiben“ (S. 9).

Rhetorisch werden die distinkten Sphären Mensch (Segel, Papier) und Natur (Schicksal, Wind, Wasser) angenähert, wenn „aufgepflanzte Segel“ wie Lein- und „Papierwände“ auf dem Biwasee wirken. Durch „Zufall“ werden diese Segel nun beschrieben und lesbar gemacht („las“), obgleich die Boote/Boten selbst sprechend personifiziert werden. Abermals, wie für Die acht Gesichter am Biwasee programmatisch und in Der Fluggänse Flug in Katata nachschauen zentral, entsteht eine spontane Kommunikationssitua-

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tion, deren Ursprung nicht auszumachen ist und deren Teilnehmer „keine Menschen“ sein müssen. Die optischen Phänomene der japanischen Welterfahrung werden demnach potentiell zu beschriebenen Informationsträgern wie die „weißen Papierscheiben“ (S. 27) in Hanakes Haus, an denen „Schatten vor der Kerze“ (S. 17) Geschichten aufführen oder das überschminkte Gesicht, „unbeschrieben wie eine weiße Eierschale“ (S. 24), die wahren, eingeschriebenen Emotionen verbergend. Alles wird eindeutig auszulesendes Medium, dessen Ursprung jedoch durch metaphysische Spontanität verschleiert wird. Auffallend sind die zahlreichen Nennungen von weißen Oberflächen, die wie Hanakes „weißgepuderte[r] Leib“ (S. 21) als „starre[s], polierte[s] Porzellan“ (S. 21) stets funktionelle Reinheit – natürlich oder geschminkt – symbolisieren. So steht das „weißseidene Unterkleid“ (S. 20) als Versprechen der Jungfräulichkeit im deutlichen Kontrast zum sexuell konnotierten, dem Prinzen „geöffneten“ „Scharlachkleid“ (S. 21). Den Oberflächen der Dinge lässt sich in diesem Kommunikationsraum stets etwas ablesen. In den zentralen Segeln wird dieses Etwas prophetisch als „liebesselige Schicksalswende“ (S. 5) real graphemisch als „ein japanisches Schriftzeichen“ (S. 9) lesbar, im Falle der gezeichneten Gesichtsphysiognomie, die Hanake mit Pudern abzudecken vermag, „als verberge sie das Gesicht hinter einer rot und weißen Maske“ (S. 20), beruht es auf einem nonverbalen Code. Der Text setzt eine höhere Instanz, im japanisch-historischen Referenzrahmen oftmals als Götter verschiedener Gattungen zu bezeichnen, die rechtmäßig den Naturraum beschreibt und demgemäß erfahrbar macht. Dadurch, dass im säkularisierten Europa diese Deutung entfällt, verliert sich der metaphysische Referent in den Verschleierungen der Beschreibung des Mediums zugunsten einer undefinierbaren Erfahrung der kosmologischen Geborgenheit im Moment der spontanen Kommunikation, wie es an Der Wildgänseflug in Katata nachschauen herausgearbeitet wurde. Doch auch die Menschen versuchen sich eine solche Technik des Beschreibens anzueignen. Zuerst wird als abschreckender Kontrast die „von Freunden und Freundinnen, die im Sommer über die Berge von Kioto zum Besuch“ kamen (S. 8), erzählte Geschichte der „Fremden vom Westen“ (S. 8) eingeführt. Teufel, die, die Naturempfindungen der Inselbewohner nicht achtend, in Japan einfallen, „um die Männer zu töten, die Frauen zu verschleppen und sich in [!] das Land zu teilen. Auf dem Biwasee würde man

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dann bald Schiffe sehen, die Rauch ausstießen und die Seetiefe mit Schrauben aufwühlten. Auf Eisen würden bald Eisenwagen, rasselnd wie Gewitterwolken, täglich durch Japan eilen.“ (S. 8) Der glatte und faszinierende Wasserspiegel des Biwasees ist demnach in Gefahr, von moderner Technik gewaltvoll zerstört zu werden, das Land wird durch Schienennetze geteilt und kartographisch beschrieben. Die westlichen Menschen werden „wie Donnergötter“ in ihrer eitlen Beherrschung der Natur und sind deswegen „schlimmer als Wolkenbrüche und schlimmer als Taifune […], so sagt man.“ (S. 8) Die technische Beschreibung der Natur erscheint hier analog zu einer gewaltsamen Beherrschungspraxis, unter der das erhabene Moment der Naturbeschau zu Grunde gehen muss. Dies äußern die repräsentativen, namenlosen Japaner der Novelle selbst, die sich im Einklang mit der Natur sehen. Ihre Kultur, so legt es der Text vornehmlich durch die überstrapazierte Vogelmetaphorik dar, scheint in Harmonie mit der Natur, sodass selbst der Liebesmarkt von Yoshiwara als „natürlich und schandlos“ (S. 28) erläutert wird; als ein Ort, an dem die Schönheiten Japans in „eisvogelblauen Gewändern“ (S. 29) aus „goldene[n] Käfige[n]“ (S. 29) hervorschauen, mit Frauen, Männern und Kindern reden, lesen, dichten oder einfach ihre Zeit vertreiben. Es ist eine gängige und brauchbare Lesart, die sich immer wieder in Rezensionen und Kritiken über Dauthendey und sein Werk wie auch bei anderen Impressionisten findet, dass eine solche künstlerische Abbildung der japanischen Symbiose „die Seele des Landes“ fasse und sie „in Formen und Menschen sich widerspiegeln“57 ließe. Im Rahmen exotistischer Asienbilder, in denen „‚Traditionsgebundenheit‘ und ‚verinnerlichte[] Uraltkultur‘“ die Völker zu einem „Adel des täglichen Lebens“58 veredeln, lässt sich im traditionell lebenden Individuum die vermeintliche Seele eines ganzen Menschenschlags abzeichnen. Es ist ein impressionistisches Abbildungsparadigma, das sich hier offenbart, und das eng an die Erfahrung der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts immer weiter präzisierenden Fotografie geknüpft ist. „Angesichts der neuen Umwelt und ihrer Überfülle an Wahrnehmungs-

57 Ebner, Eduard: Max Dauthendey und Ernst Zahn zum 50. Geburtstag. In: Geographischer Anzeiger. Bd. 18, H. 12 (1972). S. 318. 58 Günther (1988). S. 171.

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angeboten“59 war es der Impressionismus, der mit künstlerischer Arbeit die überbordenden Eindrücke habhaft machen wollte. Seine künstlerischen Ausformungen sind als „Resultate einer veränderten Seh- und Erlebnisweise“60 von Künstlern zu erkennen, die sich der Allmacht und Determination von Sinneseindrücken stetig bewusst waren. Dauthendey ist durch die Tätigkeit seines Vaters ein „früher, mit dem Medium der Photographie bereits von Kindesbeinen an bestens vertrauter Interpret“61 der neuen Technik und beschreibt in seinen Memoiren Der Geist meines Vaters, dass man im neuen Zeitalter „erst lernen [müsse] zu sehen, denn Holzschnitte, Kupferstiche oder Gemälde, die man bis dahin als Abbilder der Welt gekannt hatte, zeigten niemals mit so zierlicher Sorgfalt die haarscharfen Linien der Baumäste. […] Man scheute sich vor der Deutlichkeit der Menschen und glaubte, daß die kleinen winzigen Gesichter der Personen, die da auf dem Bilde waren, einen selbst sehen könnten, so verblüffend wirkte die ungewohnte Deutlichkeit und die ungewohnte Naturtreue der ersten Daguerreotypbilder auf jeden, der noch nie ein solches Bild in der Hand gehabt hatte.“62

Das „impressionistische Bemühen um voraussetzungsfreie Wahrnehmungswiedergabe“, das „zwangsläufig zum Überdenken des jeweiligen künstlerischen Mediums und insbesondere der Sprache“63 führen musste, ist eng an die technischen Entwicklungen des späten neunzehnten Jahrhunderts gebunden. Und eine solche Wiedergabe ließ sich wohl nirgends besser visualisieren als am utopischen Asien, in dem Individuum und Gemeinschaft in traditioneller Kultur aufgehen.64 Es ist die voraussetzungsfreie Perspektive,

59 Marhold, Hartmut: Impressionistische Dichtung. In: Hartmut Marhold (Hrsg.): Gedichte und Prosa des Impressionismus. Stuttgart 1991. S. 11. 60 Ebd. 61 Mergenthaler, Volker: Sehen schreiben – Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel. Tübingen 2002. S. 172. 62 Dauthendey, Max: Der Geist meines Vaters. Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert. München 1912. S. 71. 63 Marhold (1991). S. 25. 64 Hier ist auch an die erwähnte Szene aus Kellermanns Ein Spaziergang in Japan zu denken, in denen die manisch fotografierenden Amerikanerinnen den traditionellen Paraden entgegengestellt werden.

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die in der Harmonie aller winzigen Einzelteile eine Verbundenheit des Ganzen zu beweisen trachtet. Im Japan, das sich in der partiell historisierten Novelle Dauthendeys durch Menschen auszeichnet, die sich im Einklang mit der Natur zu befinden scheinen, ist eine solche Abstraktion zwischen Individuum und Entität noch möglich. Vordergründig eröffnet sich dies durch die tonangebende Vogelmetaphorik, die für die Japaner und ihre Kultur Verwendung findet und die durch den kleinen Vogel, der im Todeskampf zum Propheten des akzeptierten Suizids transformiert, hinterfragt wird. Denn auch Hanake nutzt die Eisenbahn bei ihrer zweiten Flucht, die zuvor in Abgrenzung zu den „Fremden vom Westen“ (S. 8) als widernatürlich markiert wurde, und die japanischen Frauen und Männer befinden sich untereinander oftmals in einem Raum überspielter Emotionen und kostümierender Kleidung und Hygiene. Die Frage danach, was es bedeutet, „dem Leben […] Gehorsam zu geben“ (S. 20), ließe sich in diesem Zuge damit beantworten, dass sich zu einem erfolgreichen und erfüllten Leben eine Harmonie mit der Natur ergeben muss. Dieser Einklang wird am deutlichsten hintergangen, als Hanake sich selbst als „Beschreiberin“ der Natur versucht, indem sie dem stummen, farblosen – „nicht den grünen und nicht den gelben“ (S. 11) – Papagei die Worte ihrer Vision beizubringen versucht. Dieses Experiment wird sogleich, mittels der Perspektive der lauschenden Magd, diabolisiert: das Schattenbild auf der weißen Wand und das knarrende Lachen bringen die Frau zum „[G]ruseln“ (S. 11). So rächt sich der wie eine Schallplatte bespielte Vogel später in seinem prophetischen und unheilbringenden Ausruf der Worte „Ich töte dich.“ Die Referenz des Textes auf Nietzsches Ausführungen über die Askese als Machtausübung mitdenkend, tritt auch Hanakes unautorisierte Selbstkastei in die Reihe der fälschlichen Anmaßungen des Menschen über die Natur; dem Zuwiderleben gegen die Natur. In Menschliches, Allzumenschliches heißt es: „D e r u n v e r ä n d e r l i c h e C h a r a k t e r . – Dass der Charakter unveränderlich sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heisst dieser beliebte Satz nur so viel, dass während der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden Motive gewöhnlich nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte.

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Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrthümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen.“65

Nietzsche spricht den sterblichen Menschen die Möglichkeit ab, in ihre eigene Charakterentwicklung tiefgehend einzugreifen. Angenommen, dass demnach die natürlichen „Schriftzüge“ auf den Existenzen die einzig wahren und authentischen sind, erscheint die aktive Beschreibung durch den Menschen als widernatürlicher Affront. In Dauthendeys Novelle spiegelt sich an Hanakes doppeltem Freitod eben diese Komposition von Moral und Befähigung, indem eine metaphysische, sinnhafte Instanz des harmonischen Kosmos die menschlichen Aktionen arrangiert, kommentiert und richtet. „Die Dichter vergleichen die Seele dieses Landschaftsgesichtes mit dem Herannahen einer liebesseligen Schicksalswende.“ (S. 5) Die Begriffe des Gesichtes und der liebesseligen Schicksalswende im Rahmen einer Kommunikationssituation, die sich einem naturgebundenen und „wahren“ Charakter verschreibt, sind nun grob umrissen. Die genannten „Dichter“ hingegen benötigen noch eine genauere Betrachtung, finden sie an dieser Stelle einmalige Aufmerksamkeit. Dichten bedeutet, etwas Neues zu kreieren, selbst Schöpfer eines Originals zu werden und materiell etwas aufzuschreiben bzw. medial zu inszenieren. Der „Dichter“ referiert damit wieder auf das Eingangszitat Novalis’ als Trans-scriptor der Naturchiffren. Doch dieses schöpferische Be-schreiben muss sich im Zuge der Frage nach dem „verweigerten Gehorsam“ (S. 20) gegen das Leben rechtfertigen. Hanake selbst wird, ohne sich dessen bewusst zu werden, mehrmals mit der Dichtung als Be-schreibung konfrontiert. Zuerst als sie ihren Papagei mit den spontanen Schriftzügen der Segel zu bespielen versucht und dann als sie dem Prinzen das Gedicht des Kakemono rezitieren soll:

65 Nietzsche (21894). S. 67-68. / Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches I. §41. http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/MA-41 (letzter Zugriff: 28.07.2014). [Herv. i. O.]

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„Die Vasen mit je einer Lilie wurden von Hanake in eine Nische gestellt und ein auf weiße Seide geschriebenes Gedicht eigenhändig an die Wand gehängt. Das Gedicht hieß: Auf dem See steht ein weißes segelndes Boot. Mein Herz, mein leises, Mein Auge, mein heißes, – Die Menschen, die einsam sind, Sind wie die Boote von Yabase, Die blaß hintreiben im Abendwind.“ (S. 11-12) „Und nun singe mir noch zum Abschied das Lied vom Biwasee, das nur auf weiße Seide geschrieben werden darf.“ (S. 21)

Das „Lied vom Biwasee“, dessen vorletzter Vers direkt den Titel der ersten Novelle der Sammlung anspricht, muss von den Dichtenden und Rezitierenden stets auf die bekannte weiße, reine Oberfläche geschrieben werden. Es ist ein Schöpfungsakt, der auf einem unbeschriebenen Untergrund, einer tabula rasa, geschehen muss. Für den Dichter ein poetischer Akt und für den japanischen Rezipienten bei der Erstellung eines Kakemono ein kalligraphischer. Diese Sonderstellung der ostasiatischen Schrift im Zusammenspiel mit Poesie und Malerei ermöglicht es textlogisch im Kakemono die natürliche Beschreibung der Welt auf der „jungfräulichen“ Fläche en miniature zu spiegeln. „Ich weiß es, ich habe gefrevelt“ (S. 20), betont Hanake nach ihrem ersten Suizidversuch, der auf den Mord ihres Geliebten auf dem Biwasee folgt, „ich [mußte] erst lernen […], dem Leben zu gehorchen.“ (S. 20) Ist die Japanerin nach dem Erlebnis der Segelschrift noch fähig, sich in einen Kommunikationsraum der Liebe einzufügen, indem sie das „Wasser ohne Grenzen, den Himmel ohne Grenzen und die Liebe zu dem plötzlich erschienenen Mann ohne Grenzen“ (S. 16) wahrzunehmen vermag, verliert sie diese vage Sprachfähigkeit nach ihrem Selbstmordversuch. Ihr zeigen „die Segelfalten keine Schriftzeichen mehr.“ (S. 18) Hanake verdeckt nun ihr „weißseidenes Unterkleid“ (S. 18) mit einem „roten Scharlachkleid“ (S. 18), das der ungeliebte Prinz ihr aufzwingen wird. Der bereits erwähnte Tempuswechsel zwischen den zwei mörderischen Schüssen auf dem See begleitet diese Veränderung. Mithilfe der hinzugefügten metaphysischen, sinnstiftenden Koordinationsinstanz, die im Moment der panpsychischen Kommu-

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nikation aufscheint, werden Hanakes Taten markiert als eine frevlerische Anmaßung des menschlichen Individuums über diesen übergeordneten Beschreiber. Der menschliche Beschreibungsakt ist ein Herrschaftsakt wider die Natur, wie das Schienennetz, das Japan durch die westlichen „Teufel“ aufgezwungen wird. Metaphysische Spontanität lässt sich nicht forcieren, das lehren Hanake und die Leserschaft die selbstaufgezwungene, fragwürdige Askese in Yoshiwara sowie die Legitimationsszene ihres endgültigen Suizids. Wieder in ihr Haus geflüchtet erkennt Hanake, „als sie vom See weg auf die weiße Wand ihres Zimmers sah, plötzlich wieder in der Erinnerung das Gesicht ihres Geliebten. Sie schauderte vor Entzücken. Sie wollte das Gesicht des Geliebten mit ihren Augen auf der weißen Wand festhalten. Aber die Gesichtszüge verschwanden, und die Erinnerung erlahmte wieder, und Hanake wurde verstört und tief traurig. ‚Kleiner Vogel […] zeige mir den Weg zu meinem Geliebten!‘ Der kleine Vogelkörper zuckte plötzlich auf der Diele zusammen und flatterte taumelnd an die Papierwand.“ (S. 34)

Der vor „Liebesschmerz“ (S. 34) verendete Vogel stößt eine Schatulle hervor, woraufhin „im Windzug ein paar Seidenpapiere zu Hanake hin [flatterten]. Zwischen den Seidenpapieren lagen kleine Stückchen platten Schaumgoldes“ (S. 35). Mit ihrer Hilfe wird die Japanerin sich ersticken. Der Todeskampf des Vögelchens und „ihr schmerzendes Haar“ leiten erneut die spontane Kommunikation ein, in der die begangene Askese als Beschreibung ihres Gedächtnisses, also wiederrum als widernatürliche Beschriftung, zum Auslöser des Selbstmords wird. „Die Hunderte von Gesichtern und Stimmen, die im Yoshiwara Hanake bewunderten, hatten das Gesicht und die Stimme des Geliebten aus ihrer Erinnerung verdrängt“, wie sie zuvor „verwundert“ (S. 33) bemerkt. Der „in ihr Herz gedrungen[e]“ „Liebesschmerz des Vogels“ eröffnet den Moment, in dem durch die Ansicht der nackten, unbeschriebenen Oberfläche, das Antlitz des Geliebten nicht, wie zu vermuten, auf der Wand erscheint, sondern „in der Erinnerung“ (S. 34). Abermals verweist der Text auf eine sinnstiftende Instanz im Kosmos/des Kosmos, der nun die Erlaubnis zum Selbstmord erteilt, indem er Hanake ihre frevlerische Anmaßung vorhält. Der nun wieder lebendig zuckende Vogelleib symbolisiert dies fast schon profan deutlich.

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An den „japanische[n] Schriftzeichen, zufällig entstanden aus den Falten jeder Segelleinwand“ (S. 9), konzentriert sich die Diskussion um tabula rasa, Beschreibbarkeit der Natur, Moral und impressionistisch-japanischem Ideal-Sehnsuchtsraum, der „im Genuß des Sehens“66 erfahren wird. Die von Uta Schaffers diagnostizierte Banalisierung der Weltbuchmetapher jenseits der Möglichkeiten und Paradoxien der Rhetorik tritt im Moment hervor, in dem Hanake aus ihrem „Schicksalsbuch“ (S. 9) liest und nicht wie bei Novalis „erblickt“ und „ahndet“. Die ornamentale Qualität des Logogramms, erfahrbar gemacht durch die spontane Faltung der Leinensegel, verschmilzt mit den Ideen des Impressionismus und seinen Japanphantasien. Vicki Baum fasst in ihrem Roman Hotel Shanghai diese Interferenzen präzise in einer historischen Beschau des Phänomens zusammen, wenn sie schreibt: „Der Russisch-Japanische Krieg – man nahm Partei für die Japaner, für dieses kleine, unbekannte Volk, von dem man bisher kaum etwas gewußt hatte. Aber dies waren Sentimentalitäten, keine Politik. Der Jugendstil griff japanische Ornamente auf. Lafcadio Hearn schrieb seine sentimentalen Bücher über Japan. Dann vergaß man wieder daran.“67

In seinen philosophischen Werken über den Monismus ist Ernst Haeckel durch die Denkfigur der Beseelung und der mechanischen Perfektion des Ineinandergreifens aller Teilchen des Kosmos gezwungen, die Welt dadurch zu charakterisieren, „daß in ihr ‚kein leerer Raum existirt‘“. 68 Cornelia Blasberg verbindet diese Überlegung mit der Stiltheorie des Ornaments von Alois Riegl: „Während also Schrift, um Bedeutung zu generieren, deutliche Figuren auf von diesen klar unterschiedenen Grund hervorbringen muß, erregt das Ornament die Aufmerksamkeit seiner Betrachter gerade dadurch, daß es Figur und Grund gleichstellt. Deutet demnach Schrift mithilfe der Hierarchisierung von Figur und Grund bereits optisch

66 Bloch (1985). S. 429. 67 Baum (1939). S. 56-57. 68 Blasberg, Cornelia: Ornament, Schrift und Lektüre. Überlegungen zu Ernst Haeckel, Gustav Klimt und Hugo von Hofmannsthal. In: Hans-Georg von Arburg, Michael Gamper u. Ulrich Stadler (Hrsg.): „Wunderliche Figuren“. Über die Lesbarkeit von Chiffrenschrift. München 2001. S. 301.

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auf die Differenz zwischen Signifikant und Signifikat hin und regt auf diese Weise zur Lektüre an, weist das Ornament jeden seine Oberfläche transzendierenden Blick ab.“69 Konkretisiert die explizit gesuchte und ausgelesene Schrift der Wildgänse von Katata trotz ihrer mystifizierten Beschaffenheit noch die Restituierung der Weltbuchmetapher durch ihre Banalisierung, treten bei der moralischen Lektüre der schönen Hanake aus Yabase die bedeutenden graphischen Informationen in eine direkte Abhängigkeit mit der weißen Oberfläche der tabula rasa/terra incognita. So heißt es nur zu Beginn, als sie die titelangebenden Segel betrachtet und sich noch in einem unmoralischen Verhältnis zum panpsychischen Kommunikationsraum befindet, „plötzlich las sie“ (S. 8). Riegl gilt die Ornamentkunst „als besonders prägnantes Beispiel, um aufweisen zu können, daß der Mensch immer nur sieht, was er zu sehen gelernt hat. Ob im Ornament sinntragende Figuren gestaltet/erkannt werden oder reine Formen, ob Chiffren, Zeichen oder nichts dergleichen, ob das Ornament für lesbar gehalten wird oder für unlesbar – immer sind, erkennt Riegl, historische Kulturleistungen im Spiel.“70 Dadurch, dass in der Novelle die Beschreibung der Natur an die moralische Nutzbarkeit der Oberfläche gebunden ist, tritt diese Verbindung von Verstehen und kultureller Prägung in den Vordergrund. Neben der Möglichkeit des Beschreibens wird so die des Lesens/Betrachtens zur Diskussion gestellt. Den Japanern aus Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen sei auf Grund ihrer im Vorwort genannten Sonderstellung eine lesende Koexistenz mit ihrer Umgebung, in der „Schriftzeichen“ (S. 105) in verbrannten Tonglasuren, Fischschwärmen, Segeln, Baumreihen und Vogelformationen erkennbar sind, noch möglich. Dieser Gedanke geht aus dem japanischen Shintoismus hervor, nach dessen Welterfahrung alle Dinge von Geistern bewohnt, d.h. beseelt, sind und in dem Dauthendey eine religiöse Variante seines monistischen Glaubens finden konnte. In „polytheistischen Religionen wird die Welt als eine zusammenhängende und geordnete Manifestation von Göttern aufgefaßt. Dieser göttlich durchwirkte und strukturierte Seinszusammenhang ist in sich sinnvoll und bedeutend; ein jegliches Naturphänomen kann deshalb zum Träger göttlicher Bedeutung werden. Der jüdische

69 Ebd. S. 301-302. 70 Ebd. S. 302.

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Monotheismus zerschlug dieses kosmotheistische Gewebe zugunsten neuer Manifestationsformen des einen Gottes in den Dimensionen von Schrift und Geschichte. Mit der Erschließung dieser neuen Dimensionen wurde die Göttlichkeit des Kosmos […] negiert, was schließlich zu einer Entzauberung der Welt und einer Vertreibung der Götter ins Exil der Poesie führte.“71

Diese „Vertreibung der Götter“ findet sich innerhalb der stilistischen Äquivalenz der Literatur der Jahrhundertwende in der Suche nach einer Umstrukturierung oder aber Neubesetzung der verlorenen metaphysischen Referenz wieder. Die weißen Flecken der Weltkarte, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts endgültig durch Reisetätigkeit, Imperialismus und Ethnologie von den Landkarten verschwinden, konvergieren mit der einführenden Schilderung der eindringenden Westler, „[l]ange, ehe der Krieg Japans mit Rußland begann“ (S. 8). Die geodätischen Tätigkeiten „[T]eilen“ und „[A]ufwühl[]en“ sind Gewaltakte der Menschen, die es „lieben, das Leben als einen ewigen Krieg anzusehen.“ (S. 8) So die Novelle gelesen wird als ein Versuch, die Frage nach Machtausübung über die natürliche Schöpfung am idealisierten traditionellen Japan zu diskutieren, tritt der differenzielle Aspekt in den Vordergrund. Die Metapher der weißen Flecken auf der Weltkarte evoziert einen unbeschriebenen Raum, eine tabula rasa, in den der differentielle Eingriff des beschreibenden Verstandes noch nicht Einzug gehalten hat. Das menschliche Beschreiben dieser Oberflächen, in denen der Textlogik zufolge noch die spontane Kommunikation zwischen Mensch und Natur in kosmologischer Einheit möglich ist, muss ein Gewaltakt gleich der Vermessung des Biwasees durch die Europäer sein. Das Logogramm, in seiner europäischen Vorstellung als evolutionär aus dem Piktogramm entstandener Rebus, überbrückt in der Novelle als natürliche Schrift diesen Machtakt des Beschreibens ebenso wie das sich selbst glorifizierende Werk Die acht Gesichter am Biwasee. Dieses stößt mit seiner Suche nach stilistischer Originalität in den noch unzureichend beschriebenen Raum des fremden Japans und markiert damit die Paradoxien von Erwartungshaltung und Originalitätssucht der Europäer. Das mystifizierte Inselreich wird zur Jahrhundertwende Opfer einer europaweiten Mode und füllt dadurch die imaginierten Leerräume im Nordpazifik unwiderruflich.

71 Assmann (2003). S. 272.

7 „Gegenwart“ des Sprechaktes „Ja, sie bedeuten, aber sprich es nicht aus, was sie bedeuten: was immer du sagen wolltest, es wäre unrichtig. Sie bedeuten hier nichts als sich selber: Schwäne. […] Gesehen mit diesen Augen sind die Tiere die eigentlichen Hieroglyphen, sind sie lebendige geheimnisvolle Chiffren, mit denen Gott unaussprechliche Dinge in die Welt geschrieben hat. Glücklich der Dichter, daß er diese göttlichen Chriffren in seine Schrift verweben darf[.] Es sind Chiffren, welche aufzulösen die Sprache ohnmächtig ist.“1

Dass sprachkritische Tendenzen und Überlegungen in philosophischen Strömungen und literarischen Stilrichtungen um die Jahrhundertwende eine zentrale Rolle spielen, bedarf keiner weitreichenden Herleitung oder Verifizierung. Es waren vor allem Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne2, Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache

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Hofmannsthal, Hugo v.: Das Gespräch über Gedichte. In: Rudolf Hirsch, Christoph Perels u. Heinz Rölleke (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Hrsg. v. Ellen Ritter. Frankfurt am Main 1991. S. 79-80.

2

Nietzsches Essay wurde erstmals 1896 im Rahmen der Naumann-Ausgabe veröffentlicht, also zu einer Zeit, in der die allgemeine Faszination und Kultbildung

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sowie Hugo von Hofmannsthals Ein Brief, die eine breite Rezeption und Entwicklung von kritischer Sprachphilosophie auslösten. Bei einer intellektuellen Auseinandersetzung europäischer Denker mit dem ostasiatischen Raum mussten sich nach 1900 die Überlegungen über das tonale Sprachsystem des Chinesischen wie die logographischen Schriften zwangsweise mit einer Skepsis über die Fähigkeit der menschlichen Sprache, eine metaphysische Wahrheit oder Korrektheit abbilden zu können, verbinden. Einige Beispiele aus Hugo von Hofmannsthals geplantem Projekt der Erfundene[n] Gespräche und Briefe repräsentieren auf prägnante Weise die Annäherung der beiden literarischen Themengebiete. Diese Titelbezeichnung wird summierend für Schreibversuche, Fragmente und Publiziertes eines speziellen Genres gewählt, das historische Bezüge und subjektive Wahrnehmung als Fundament seiner literarischen Artikulation setzt. Sie wurde von Hofmannsthal selbst mehrfach verwendet. So heißt es in einem Brief an Leopold von Andrian vom 16. Januar 1903 bezeichnend: „Ich blätterte im August öfter in den Essays von Bacon, fand die Intimität dieser Epoche reizvoll, träumte mich in die Art und Weise hinein wie d i e s e Leute des XVIten Jahrhunderts die Antike empfanden, bekam Lust etwas in d i e s e m Sprechton zu machen und der Gehalt, den ich um nicht kalt zu wirken, einem eigenen inneren Erlebnis, einer lebendigen Erfahrung entleihen mußte, kam dazu. Ich dachte und denke an eine Kette ähnlicher Kleinigkeiten. Das Buch würde heißen ‚erfundene Gespräche und Briefe‘. Ich denke darin kein einziges bloß formales, costümiertes Totengespräch zu geben – der Gehalt soll überall für mich und mir nahestehende actuell sein – aber wenn Du mich wieder heißen wolltest, diesen Gehalt d i r e c t geben, so ginge für mich aller Anreiz zu dieser Arbeit verloren – der starke Reiz für mich ist, vergangene Zeiten nicht ganz tot sein zu lassen, oder fernes Fremdes als nah verwandt spüren zu machen.“3

um den Verfasser des Zarathustra rasant anstieg und an Bedeutung im kulturellen Leben der deutschsprachigen Länder gewann. 3

Perl, Walter H. (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Leopold von Andrian. Briefwechsel. Frankfurt am Main 1968. S. 160-161. – Dieser Brief ist eine Antwort auf Andrians Bewertung des „Chandos-Briefs“ und geht direkt auf die Kritik ein, dass Hofmannsthal sich „zu diesen Geständnissen und Reflexionen nicht einer historischen Maske bedienen, sondern sie direct vorbringen“ solle. – Ebd. S. 160. [Herv. i. O.]

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Der geplante Sammelband wird nie zustande kommen, aber Pläne für das Genre durchziehen beinahe das gesamte verbliebene Prosawerk, vornehmlich zahlreiche Notizen Hofmannsthals. Zwischen 1902 und 1904 sowie 1906 und 1907 liegen die Hochzeiten dieser speziellen Form. 1916 treten dann erneut Pläne zu „imaginären Briefen“ auf. Das Gerüst des (platonischen) Gesprächs oder des Briefs berühmter oder exemplarischer Persönlichkeiten einer speziellen Epoche, ermöglicht es, dem subjektiven Inhalt eine überaus konkrete Referenzdimension zuzuteilen, aus der das Gesagte schöpft, in der es aufgeht und/oder zu der es im Gegensatz steht. Widrig erscheint es demzufolge, dass die Hofmannsthal-Forschung bis heute immer wieder das Werk des Autors, allen voran erfundene Briefe wie den „Chandos-Brief“ oder Die Briefe eines Zurückgekehrten stark autobiographisch zu lesen versucht.4 Die Texte sollen nicht als individuelle Sprach- oder Identitätskrise Hofmannsthals, als dichterischer Umbruch von der Lyrik zur Prosa oder Ähnliches aufgefasst, sondern in ihrer literaturgeschichtlichen Umgebung betrachtet und eingeordnet werden. Dazu wird primär auf Ein Brief (1902) und die zeitgleich entstandenen Fragmente über einen „Japani-

4

Zelinsky beklagt die durch Walter Brecht verbreitete biographische „Legende von dem Hofmannsthal […], der durch die Niederschrift des Chandos-Briefes das Bekenntnis ablegt, keine Gedichte mehr schreiben zu können und nun gezwungen sei, Dramatiker und Librettist zu werden“ (S. 528). Obgleich er markiert, dass der Brief „keine lebensentscheidende Krise in […] Leben und Werk“ (ebd.) bedeute, liest er ihn als „weiteren Übergang“ in der „dichterischen Existenz“ (ebd.) und restituiert so die autobiographische Ebene als eine Deutungshoheit des poetischen Textes. Die Wendung Chandos’ an seinen Lehrmeister Bacon wird so zugleich „an George gerichtet“ (S. 528). – Zelinsky, Hartmut: Hugo von Hofmannsthal und Asien. In: Roger Bauer et al. (Hrsg.): Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Frankfurt am Main 1977. S. 508-567. – Auch Aleida Assmann rezipiert beispielsweise noch diese biographistische Lesart mit Referenz auf Gotthart Wunbergs Artikel Francis Bacon, der Empfänger des ‚Lord-Chandos-Briefes‘ von Hugo von Hofmannsthal. „Durch Transposition in eine andere Epoche und Konstruktion eines fiktiven Kontextes schafft sich der Autor [des Chandos-Briefes] eine therapeutische Distanz zum eigenen Problem; der Text wird zu einem künstlerischen Spiegel, in dem Privates gebrochen, reflektiert, virtualisiert, transformiert und vielleicht auch therapeutisch abgegolten wird.“ – Assmann (2003). S. 269.

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schen Edelmann“ sowie den unabgeschlossenen Brief Frau v. Grignan an ihre Mutter Frau v. Sévigné (1916) zurückgegriffen. An diesem Textkorpus wird die Verbundenheit zwischen Sprachkrise und Ostasienfaszination exemplarisch in einem frühen Stadium der modernen Epoche dargelegt und der spezielle Beitrag dieser Text(-pro-jekte) herausgearbeitet. Gerade sie bezeugen eine Problematik innerhalb der Erfundenen Gespräche und Briefe und des vorherrschenden intellektuellen Asienbilds, wie es als Kontrastfolie zum selbstdiagnostizierten Krisen-Europa erscheinen sollte. Monika Schmitz-Emans, Heinz Hiebler sowie Aleida Assmann verweisen in ihren Arbeiten – aus unterschiedlichen Betrachtungswinkeln heraus – auf die materielle-selbstreflexive Dimension des „Chandos-Briefs“. Fasst man die „literarische Moderne vor allem auch [als] eine Blütezeit der Schriftund Druckkultur“5, was sich am prägnantesten an den Arabesken des Jugendstils, in denen Wort und Ornament oftmals untrennbar ineinander übergehen, abzeichnet, so ist dieser Befund nicht weiter verwunderlich. Durch die mikroskopischen Wissenschaften, die technologischen Transformationen und deren künstlerische Diskussion stößt der moderne Mensch „[a]llerorten, in jeglicher Gestalt […] auf Objekte, die er als hauchdünne Oberflächen über vielfach gestaffelten Tiefenstrukturen zu enttarnen lernt. Alles Sichtbare hat demnach Schrift-, also Signifikantenstatus und verweist intrikaterweise auf eine zweite, abstraktere, subkutane Schrift.“6 Chandos’ unter einem „Vergrößerungsglas“ (I,[S.3]/49)7 erkannte, furchige Struktur seines Fingers wird ebenso lesbar oder unlesbar wie die alltäglichen Gegenstände seiner divergierenden Epiphanieerfahrungen. Der Lord findet

5

Hiebler (2003). S. 175.

6

Blasberg (2001). S. 294.

7

Hofmannsthal, Hugo v.: Ein Brief. In: Der Tag. Erster Teil [=Morgenausgabe]. Berlin 18. Oktober 1902 (Nr. 489). o.P. [=I] sowie Hofmannsthal, Hugo v.: Ein Brief. In: Der Tag. Erster Teil [=Morgenausgabe]. Berlin 19. Oktober 1902 (Nr. 491). o.P. [=II] / Hofmannsthal, Hugo v.: Ein Brief. In: Rudolf Hirsch, Christoph Perels u. Heinz Rölleke (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Hrsg. v. Ellen Ritter. Frankfurt am Main 1991. S. 45-55. – Die Erstausgabe wurde zitiert. Auf die geringfügigen orthographischen Änderungen der kritischen Edition von Ritter wird nicht dezidiert hingewiesen.

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sich selbst in einer Welt der Signifikanten wieder und erläutert diese Eindrücke in einem graphischen und lexikalischen Signifikantensystem. Die discours-Funktion des literarischen Briefes wird somit zur bedeutenden Metaebene und tritt mit der histoire in einen Dialog, den es zu interpretieren gilt. In diese Betrachtung fällt selbstverständlich auch die seit der Erstveröffentlichung immer wieder aufgezeigte Diskrepanz zwischen der rhetorisch höchst anspruchsvollen Gestaltung einer Artikulation über das Unvermögen adäquat zu schreiben. Ein Brief lautet der bezeichnende Titel des Textes, dessen „paradigmatisches Schreiber-Ich“8 Lord Chandos mehrfach auf Schrift und das Lesen von Schrift durch die Nennung von Chiffren und „Hieroglyphen“ 9 (I,[S.2]/47) verweist. Der vorgeschaltete Herausgeber hat dabei vor allem zwei pragmatische Funktionen: Zum einen löst er den Widerspruch zwischen einem eigentlich handschriftlichen Textdokument und der Veröffentlichung durch eine moderne Drucktype, zum anderen weist er den Brief als einen Text mit Tradition aus, einer, der es Wert ist, im kulturellen Gedächtnis verankert zu werden. Hinzu kommt die explizite Benennung des Basisparadoxons: „Dies ist der Brief, den Philipp Lord Chandos […] schrieb, um sich bei seinem Freunde wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen.“ (I,[S.1]/45) Die ars rhetorica wird diesbezüglich direkt am Anfang selbstreflexiv eingeführt und zum bedeutendsten Aspekt des Textes erhoben: „bin denn ich’s, der nun Sechsundzwanzigjährige, der mit neunzehn jenen ‚neuen Paris‘, jenen ‚Traum der Daphne‘, jenes ‚Epithalamium‘ hinschrieb […]? Und bin ich’s wiederum, der mit dreiundzwanzig unter den steinernen Lauben des großen Platzes von Venedig in sich jenes Gefüge lateinischer Perioden fand, dessen geistiger Grundriß und Aufbau ihn im Innern mehr entzückte als die aus dem Meer auftauchenden Bauten des Palladio und Sansovin? Und konnte ich, wenn ich anders derselbe bin, alle Spuren und Narben dieser Ausgeburt meines angespanntesten Denkens so völlig aus meinem unbegreiflichen Innern verlieren, daß mich in Ihrem Brief, der vor mir liegt, der Titel jenes kleinen Traktates fremd und kalt anstarrt, ja daß ich ihn nicht als ein geläufiges Bild zusammengefaßter Worte sogleich auffas-

8

Schmitz-Emans, Monika: Schrift und Abwesenheit: historische Paradigmen zu

9

Vgl. dazu v.A. Assmann (2003). S. 267-279 sowie Riedel (2011). S. 27-29.

einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995. S. 190.

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sen, sondern nur Wort für Wort verstehen konnte, als träten mir diese lateinischen Wörter, so verbunden, zum ersten Male vors Auge? Allein ich bin es ja doch und es ist Rhetorik in diesen Fragen, Rhetorik, die gut ist für Frauen oder für das Haus der Gemeinen, deren von unserer Zeit so überschätzte Machtmittel aber nicht hinreichen, ins Innere der Dinge zu dringen.“ (I,[S.1]/45-46)

Die drei hier gestellten rhetorischen Fragen, die auf die Ichdissoziation des Schreibers verweisen, sind ein „vollkommen klares, syntaktisches Paradigma (die Frage)“, das einen Satz erzeugt, „der mindestens zwei Bedeutungen hat, von denen die eine ihren eigenen illokutiven Modus bejaht und die andere ihn verneint.“10 Chandos’ Fragen bewirken durch ihre aufgebaute Spannung zwischen den sich widersprechenden Bedeutungen einen bewussteren Umgang mit Wahrnehmung und Erkenntnis. Die dritte und letzte Ausführung ist getrennt zu betrachten, denn während die ersten zwei die Fremdheit zum früheren Ich ausdrücken, erweitert die dritte die Aussage um eine Frage nach der Möglichkeit von Selbsterkenntnis und verbindet sie mit dem mehrfach auftretenden Symbol eines Signifikantensystems: „Und konnte ich […] alle Spuren und Narben dieser Ausgeburt meines angespanntesten Denkens so völlig aus meinem unbegreiflichen Innern verlieren, daß…“ Die verwendete Metapher der Spuren verweist auf einen historischen, physischen Nachweis von etwas Verbliebenem, das den Anschein erweckt, dass es sich mit der richtigen Kenntnis auslesen ließe. Doch die Metapher als solche verweist immer auf die Unmöglichkeit einer idealen Synonymie, auf ihre eigene unzulängliche und unbefriedigende Konstruiertheit, einen unaussprechlichen Sachverhalt repräsentativ zu ersetzen, ähnlich den erwähnten Hieroglyphen: „Ich wollte die Fabeln und mythischen Erzählungen, welche die Alten uns hinterlassen haben, und an denen die Maler und Bildhauer ein endloses und gedankenloses Gefallen finden, aufschließen als die Hieroglyphen einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit, deren Anhauch ich manchmal, wie hinter einem Schleier, zu spüren meinte.“ (I,[S.2]/46-47) „Chandos spielt hier auf das große geistige Projekt der Renaissance, die Wiederentdeckung einer geheimen Ur- oder Universalsprache [hinter den Hieroglyphen], an.“11 So muss der Lord zur Einsicht

10 Man, Paul de: Allegorien des Lesens. Frankfurt am Main 1988. S. 39. 11 Assmann (2003). S. 271.

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gelangen, dass seine Rhetorik, das „von unserer Zeit so überschätzte Machtmittel“, zum Scheitern verurteilt ist. Sein Brief wirkt wie die schönste rhetorische Vollendung von Literatur, übt gleichzeitig aber an sich selbstzerstörerische Kritik. Das Ringen nach Worten, das immer wieder angesprochen wird, verläuft sich in den Metaphern und Allegorien, die nie das zu treffen vermögen, was Chandos sich erhofft. Sprache wird so zum beengenden „Gehege der rhetorischen Kunststücke“ degradiert. Der junge Chandos bezieht sich zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts vor allem auf die Antike, auf Italien und lebt als Mensch der späten Renaissance und der frühen Aufklärung. Sein bisheriges Werk zeugt von dieser Übergangssituation: von einem „Neuen Paris“ führt der Weg zu einem „encyklopädischen Buch“ (I,[S.2]/48) mit dem Titel „Nosce te ipsum“ (I,[S.2]/47). Doch der Brief gibt sich gleichzeitig auch als Text der Neuzeit, des epigonalen Fin de Siècle zu erkennen, wenn er quasi in einem Atemzug von „Dichtung und Wahrheit“ (I,[S.1]/46) und „Musik und Algebra“ (I,[S.1]/46) schreibt, also zuerst auf Goethe und dann auf Novalis als Ideale verweist. Der Brief selbst wird so zur Allegorie eines neuzeitlichen Problems auf der Folie eines, wie auch immer gewählten12 , ähnlichen Übergangszeitraums und statuiert damit seine eigens thematisierte Problematik. Chandos proklamiert die Ohnmacht der Begriffe und Wörter auf „das Wahre“, „das Einheitliche“, „das Ganze“, also auf eine höhere, sinnliche Ursprache zu referieren. „Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben und sehen, wie sie zu einander spielten: aber sie hatten es nur miteinander zu thun, und das Tiefste, das Persönliche meines Denkens blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen.“ (I,[S.2]/50)

Durch die Arbitrarität des Zeichens, die zeitgleich Hofmannsthals fiktionaler Brief, die aufkommende Linguistik und die Philosophie Mauthners und

12 Die angeführten Parallelen zwischen Fin de Siècle und Datierung des Briefes 1603 belaufen sich in der Forschung vor allem auf das Ende der Elizabethan Era, dem Übergang von Renaissance zur Aufklärung sowie der Erstveröffentlichung von Shakespeares Hamlet. Auf letztere Beobachtung bauen weite Teile der Analyse Aleida Assmanns (2003) auf.

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Nietzsches postulieren, wird für Chandos die Verbindung zwischen den Wörtern und ihrer Bedeutung gekappt. Die Signifikanten, die nun nicht mehr auf einen Logos zu referieren vermögen, werden isoliert und aussagelos, versinnbildlicht durch das Wasserspiel. Dem Nebeneinander der arbiträren Zeichen und der Loslösung vom teleologischen Sprachzentrum folgt das Unvermögen sich zu artikulieren. Wie Hamlet leidet auch Chandos an einer „Zeichenkrise; vor ihnen öffnet sich der Abgrund zwischen Schein und Sein, beide sind Melancholiker, die ihren geforderten Part in einer öffentlichen und sozialen Welt verweigern.“13 Durch ein „Gefäß der Offenbarung“ gelingt es Chandos gleich einer Epiphanie, die Sphäre des wirklichen Seins zu erkennen, ein Teil in/mit ihr zu werden. Er ist dabei rein passiv, er wird spontan von der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit erfasst, kann sie nicht heraufbeschwören oder erzwingen. Doch die Welt des Seins lässt sich nicht in die Welt des Scheins übertragen, da die Signifikanten keiner adäquaten Artikulation fähig sind. Folglich definiert sich die andere Sphäre durch eine „quality of silence“14 und dementsprechend verflucht Chandos selbstreflexiv sein schriftliches Vorhaben: „Aber was versuche ich wiederum Worte, die ich verschworen habe!“ (II,[S.1]/51) Die andere Sprache wird Chandos eine, „von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.“ (II,[S.3]/54) Sie wird mit einem transzendenten Moment verknüpft – ob dieser nun theologisch, spirituell oder mystizistisch besetzt ist, sei dahingestellt – und damit als dem Menschen grundsätzlich verbunden, aber doch gegenübergestellt definiert.

13 Assmann (2003). S. 270. – Vergleichsweise löst Eva Blome den Konflikt zwischen Sprachkrise und poetischer Ausdrucksweise im Brief mittels des zeitgenössischen Hysteriediskurses. Im Krankheitsverlauf der Hysterie nach Theoretikern wie Freud und Binswanger trete eine „Aphasie bei völlig intactem Sprachverständnis und bei erhaltener Fähigkeit, den Gedanken schriftlichen Ausdruck zu geben“ auf. – Binswanger, Otto: Die Hysterie. Wien 1904. S. 421. Zitiert nach: Blome, Eva: „Schweigen und tanzen“. Hysterie und Sprachskepsis in Hofmannsthals Chandos-Brief und Elektra. In: Hofmannsthal Jahrbuch. Zur europäischen Moderne. Bd. 19 (2011). S. 263. 14 Mistry (1972/73). S. 308.

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Chandos versucht sich einer Beschreibung des Zustandes oftmals durch die Verwendung von Wassermetaphorik anzunähern. An die Schilderung eines suggestiv miterlittenen Todes vergifteter Ratten schließt sich die Bemerkung: „Es war viel mehr und viel weniger als Mitleid: ein ungeheures Anteilnehmen, ein Hinüberfließen in jene Geschöpfe oder ein Fühlen, daß ein Fluidum des Lebens und Todes, des Traumes und des Wachens für einen Augenblick in sie hinübergeflossen ist“ (II,[S.1]/51). „Fließen“ wird zum zentralen Wort des Ringens nach einer metaphorischen Sprache, durch den Anklang an etwas ohne Kontur und ohne feste, greifbare Materie, in steter Bewegung und Natürlichkeit. Ein passives Mittreiben in einem lebenserfüllten Raum. So ist es auch wie „mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie ein Gefäß erfüllend“ (II,[S.1]/50), eben das Gefäß seiner „Offenbarung“. Doch die Metapher muss nach der Aussage des Briefs misslingen, da sie sich nur annähern kann, und zeugt von der Unfähigkeit und Unmöglichkeit Chandos’ zur Artikulation. So sind seine epiphanen Momente auch kein „Hinüberfließen“, sondern ein spontaner und krasser Augenblick der „Gegenwart“ (II,[S.1]/51). Die Wassermetaphorik beschreibt unzureichend einen Hiatus, der nicht fließend zu überschreiten ist, sondern der eine absolute „Ganz oder Gar nicht“-Konstellation offenbart. Chandos kann nur entweder in der Scheinwelt der Menschen oder der Seinswelt der stummen Dinge existieren, ein fließendes, grenzverschwimmendes Zwischenstadium kann es nicht geben. Die immer wieder angeführten Metaphern werden vom Text selbst als unzulänglich enttarnt. Die moderne Erkenntnis der Signifikant-Signifikaten-Ambiguität, wird zu einer neuen chiffrierten Naturschrift15, die in einem Moment, in dem der Mensch sich selbst als Bestandteil des Kosmos erblickt, sensitiv wahrgenommen wird. Ein Moment, in dem er die Sphäre differenzierender Sprache verlässt und schweigt. Da in der Sphäre des Seins alles miteinander in harmonischer Korrelation steht, ist kein „Gefäß der Offenbarung“ zu gering. Mögliche Auswege aus der subjektiven Sprachkrise können entweder nur im absoluten Verstummen gefunden werden – so Chandos, der nie wieder etwas zu schreiben vermag und es auch nie wieder getan hat –, wodurch der „leere Raum jenseits des Lesbaren […] sprachloser Statthalter

15 Assmann nennt dies im Bezug auf die Hieroglyphik-Referenz „moderne Hieroglyphen“.

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der Wahrheit“16 wird. Oder es bietet sich alternativ die Flucht in ein bewusstes Ignorieren oder der notgedrungenen Akzeptanz der Inadäquatheit, wie es in der ironischen Wendung beigelegt ist, dass viele der von Chandos bereits verfassten oder geplanten Werke eigentlich dem realen Adressaten Francis Bacon zugeschrieben werden müssen.17 Folglich wird auch dem Werk Bacons eine harsche Kritik beigelegt, die durch die merkwürdig distanzierte Nennung des vollen Namens in den Abschlussworten Chandos’ noch einmal hervorscheint. Die Thematisierung von Schrift und Lesen innerhalb des Briefs beschreibt unmittelbar die sprachliche Epistemologie des englischen Philosophen, die nichts anderes tut, „als daß sie aufs getreulichste wiedergibt, was die Natur verlautet, so als ob es nach dem Diktat der Welt niedergeschrieben wäre (veluti dictante mundo conscripta est).“18 Ähnliche Beurteilung folgt demnach auch für Goethe, der „Dichtung und Wahrheit zugleich“ (I,[S.1]/46) beansprucht, und Novalis, der die Sprache der Mathematik als adäquate Sprache der stummen Seins-Welt anerkennt und der Musik durch ihre Flüchtigkeit einen hohen Stellenwert als Kunstgattung zuspricht. Chandos hat diese Stadien bereits durchschritten und für ihn scheint der Hiatus zwischen den Sprachen für immer unüberbrückbar zu sein. Denn im Gegensatz zur realen Persönlichkeit Bacons ist vom literarischen Philipp Chandos nichts im kulturellen Gedächtnis verblieben. In dem Moment, in dem Hofmannsthal sich erneut seiner Figur als Sprecher oder Schreiber bedient hätte, wäre der Brief nichtig geworden. Was nach dieser Lesart folgt, wäre der poetologische Suizid des Chandos-Briefs im Aufruf zur bewussten Verkennung der sprachlichen Probleme und damit die Gründung jeglicher Literatur auf einem instabilen Fundament. Chandos greift, für seine Epoche typisch, vermehrt auf die Antike „über den Abgrund der Jahrhunderte hergeworfen“ (II,[S.3]/53-54) zurück. Den Lesern, vor allem den zeitgenössischen, wird diese Formulierung doppelt aufscheinen: Als Diskrepanz zwischen Antike und Renaissance sowie Renaissance und Fin de Siècle. Zeit spielt in dem fiktionalen Brief von 1603 eine übergeordnete Rolle, gerade in den Schilderungen, in denen Chandos versucht, seinen Seins-Zustand zu beschreiben. Mehrfach ist von „Gegen-

16 Schmitz-Emans (1995). S. 205. 17 Vgl. Riedel (2011). S. 12-13. 18 Blumenberg (1986). S. 86. [Herv. i. O.]

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wart, die vollste erhabenste Gegenwart“ (II,[S.1]/51) die Rede, sowohl temporal wie auch lokal zu lesen. Denn der ideale Zustand des gegenwärtigen Seins ist eine Erfahrung der absoluten Einheit der Welt, also der Moment ohne jegliche Differenzierung und ohne jegliche Sprache. Sprache wäre als Werkzeug der Differenz destruktiv und würde durch ihren semiotischen Akt des Bezeichnens die „présence à soi“19 vernichten. Den konventionellen Wörtern der Menschen steht die stumme Sprache des unabänderlich Ewigen entgegen, eine „Gegenwart des Unendlichen“ (II,[S.2]/52). Eine Kritik an einem System kann immer nur vermittelt durch die Begrifflichkeiten des Systems selbst geschehen, denn eine Artikulation außerhalb der diskursiven Einheiten ist unmöglich. Eine denkbare Lösung dieses Problems liegt in der Verschiebung der Aufmerksamkeit zu einer alternativen Lektüre. Schmitz-Emans fasst diesen Vorgang äußerst präzise als „Poetik der Umkehrung“: „Die Chandossche Erfahrung ist nur als Negation einer ihr vorgängigen Position zu artikulieren, da sie in einem Medium sich ausspricht, das sie zugleich radikal in Frage stellt: in der Sprache, im geschriebenen Text“20. Ein Anteil an höherer „Wahrheit“ lässt sich demnach, wie der Brief zu erkennen gibt, „via negationis“21 erreichen. Die eigens gewählten Worte werden in ihrer abschätzig bewerteten „Rhetorik, die gut für Frauen oder für das Haus der Gemeinen“ (I,[S.1]/46) ist, als unzureichend enttarnt. Sie versuchen nicht wie die Metaphern, sich dem Logos anzunähern, sondern fahren sorgsam die Grenzen der Sphäre des Seins ab. Die allumfassende „Gegenwart“ lässt sich nur durch deren Negation erklären. Der endgültige Tempusumschwung des Briefs ins Präsens vollzieht sich an eben dieser Stelle, an der mehrfach von „Gegenwart“ die Rede ist und markiert so das Wort in seiner prägnanten Bedeutung für den ganzen Text. Im Präsens werden Motive des vorhergegangenen Perfekts wie die „Gießkanne“ (II,[S.1]/50 u. 51) abermals aufgegriffen, worauf eine erneute, syntaktisch parallele Auflistung von alltäglichen Trägern der Epiphanieerfahrung folgt. Resultiert hier der Versuch, die Plötzlichkeit des Seinszustandes durch eine sprachliche Konstruktion anklingen zu lassen, werden die „Cherubim“, Gestalten die mit Rilkes Engeln aufs Nächste verwandt sind, eingeführt. Sie sind Vermittler zwischen der transzendenten Welt und

19 Vgl. Derrida (1972). S. 336. 20 Schmitz-Emans (1995). S. 198-199. 21 Ebd. S. 200.

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der Scheinwelt der differenzierenden Menschen und werden mit den Worten des Dichters Chandos in Beziehung gesetzt: „wenn diese Zusammensetzung von Nichtigkeiten mich mit einer solchen Gegenwart des Unendlichen durchschauert, von den Wurzeln der Haare bis ins Mark der Fersen mich durchschauert, daß ich in Worte ausbrechen möchte, von denen ich weiß, fände ich sie, so würden sie jene Cherubim, an die ich nicht glaube, niederzwingen“ (II,[S.2]/51-52). Das nächste Umfeld dieser Aussage, nämlich die Mehrfachnennung der spontanen Gegenwart und der Tempuswechsel mit seinen semantischen wie syntaktischen Wiederholungen, nähert die Literatur selbst an die Engelsgestalten an. Chandos findet nicht die Worte, um mit den Wesen zu kommunizieren, er kann sie nicht aussprechen, aber sein Brief exemplifiziert ihre Nennung schriftlich im Negativ. Schon aus Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne lässt sich erschließen, dass Literatur stets einen negativen Wahrheitswert22 hat, denn „Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr.“23 Das

22 Einen solchen negativen „Wahrheitswert der Literatur“ deriviert Paul de Man aus Nietzsches sprachkritischem Essay in: Man (1988). S. 146-163. 23 In Entwurfsskizzen von 1873 (zusammengefasst unter „Wahrheit“) präzisiert Nietzsche das angespielte Verhältnis von außermoralischer Lüge und Kunst. Denn wenn die Sprache immer lügen muss, da sie den arbiträren Metapherncharakter der Bezeichnungen vergisst und durch die Lüge von Begrifflichkeit ersetzt, ist es an der Literatur in ihrem souveränen Spiel mit Rhetorik das Lügen zur Schau zu stellen und dadurch wahr zu sprechen: „Wie ist nur die Kunst als Lüge möglich! Mein Auge, geschlossen, sieht in sich zahllose wechselnde Bilder — diese producirt die Phantasie und ich weiss dass sie der Realität nicht entsprechen. Also ich glaube ihnen nur als Bildern, nicht als Realitäten. Oberflächen Formen. Kunst enthält die Freude, durch Oberflächen Glauben zu erwecken: aber man wird ja nicht getäuscht? Dann hörte ja die Kunst auf! Die Kunst legt es doch auf eine Täuschung ab — aber wir werden nicht getäuscht? Woher die Lust an der versuchten Täuschung, an dem Schein, der immer als Schein erkannt wird?

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geschriebene Wort hat in diesem System durch seine eben nicht affekthafte Artikulation, sondern durch seine rekapitulierend-konstruierende Dimension, Chancen, „Wahres“ annähernd adäquat abzubilden. Wenn Rilkes Werk oftmals dazu tendiert, zum absoluten Schweigen der Sprache und zum alleinigen Ausdruck von Rhythmus, Ton oder Farbe zu werden, erscheint für Chandos das Lesbare als „Umkehrung der Weltschrift“24, als sprachlicher Strudel – eine von Hofmannsthals bevorzugten Metaphern im Gesamtwerk – um das nie zu erreichende Zentrum des Seins, um die ideale Auslesung des Weltbuchs. Während des gleichen Sommers 1902, in dem Hofmannsthal Ein Brief niederschreibt, entstanden einige verstreute Notizen zu einem Projekt, in dem ein Japaner sich brieflich oder im Gespräch über die Unterschiede zwischen Europa und Japan (auf Hofmannsthals Weltbild bezogen ließe sich hier auch Asien sagen) äußert. Sein Empfänger wechselt dabei zwischen einem „Oesterr. Diplomaten“ (S. 40)25, „seine[m] Sohn, in Deutschland“ (S. 41) oder „einem jungen Europäer“ (S. 43). Viele der leitenden Problemkomplexe des Chandos-Briefs finden sich hier mit den bekannten Requisiten des populären und zeitgemäßen Japaninteresses liiert. Der „Contrast“ (S. 40) zwischen dem „dumpf vielbeinig[en]“ (S. 40) „Rattenkönig“ (S. 40)

Kunst behandelt also den S c h e i n a l s S c h e i n , will also gerade n i c h t täuschen, ist w a h r . […] Nur der, der die ganze Welt a l s S c h e i n betrachten könnte, wäre im Stande, sie begierden- und trieblos anzusehen – Künstler und Philosoph. Hier hört der Trieb auf. So lange man Wahrheit an der Welt sucht, steht man unter der Herrschaft des Triebes: der aber will L u s t nicht Wahrheit, er will den Glauben an die Wahrheit, also die Lustwirkungen dieses Glaubens.“ – Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente Sommer-Herbst 1873. 29 [17]. http://www.nietzschesource. org/#eKGWB/NF-1873,29[17] (letzter Zugriff 28.07.2014). [Herv. i. O.] 24 Vgl. Schmitz-Emans (1995). S. 205-210. 25 Hofmannsthal, Hugo v.: Gespräch zwischen einem jungen Europäer und einem japanischen Edelmann. In: Rudolf Hirsch, Christoph Perels u. Heinz Rölleke (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Hrsg. v. Ellen Ritter. Frankfurt am Main 1991. S. 40-44.

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Europa und dem „nett rund abgeschliffen[en]“ (S. 40) Japan steht dabei im Vordergrund und wird im ersten Fragment eingeleitet mit der später in Die Briefe des Zurückgekehrten wiederholten „großen Wahrheit“: „The whole man must move at once.“ (S. 40/152) Über Hofmannsthal und seine Faszination sowie Adaption der Idee „Asien“ hat bereits in den Siebzigern Hartmut Zelinsky umfassend geforscht. Er definiert den Faden indischer und chinesischer Motive, der sich vom frühen Drama Der Kaiser und die Hexe bis ins Spätwerk zieht, euphorisch als „das ideologische Zentrum seines poetischen Systems“26. An dieser Stelle irrelevant und nicht zu wiederholen, wie die produktionsästhetischen und autorintentionalen Ausführungen Zelinskys ausfallen, steht das starke Interesse Hofmannsthals an Indien und China, seltener Japan, in einem seltsamen Gegensatz zu der nur geringen Ausformulierung im Werk. Die meisten Überlegungen blieben Fragment oder Anspielung.27 Asien, das war – und ist noch heute – ein ideeller Raum, den man gegen den Kulturpessimismus Europas nach der Jahrhundertwende und während sowie nach den Weltkriegen stellen konnte. Eine kulturelle Bastion der Tradition, der positiven Rückständigkeit und die angebliche Wiege aller großen Religionen, der Sprache und des Lebens an sich. Dieses Bild der „Einheit des Ganzen“28 des asiatischen Raums wird deutlich in Hofmannsthals Gedicht Der Kaiser von China spricht von 1897 – „In der Mitte aller Dinge / Wohne Ich der Sohn des Himmels“29 – oder in der Rede Die Idee Europa.

26 Zelinsky (1977). S. 524. 27 Da im Folgenden die Bedeutung der ostasiatischen Schriftzeichen für den realen Autor Hofmannsthal für die Argumentation nur von sekundärem Interesse ist, sei auf den Überblick von Hiebler (2003) hingewiesen: S. 183-190. 28 Hofmannsthal, Hugo v.: Andenken Eberhard von Bodenhausens. In: Bernd Schoeller (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze III: 1925-1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen 1889-1929. Hrsg. v. Bernd Schoeller u. Ingeborg Beyer-Ahlert. Frankfurt am Main 1980. S. 168. 29 Hofmannsthal, Hugo v.: Der Kaiser von China spricht: In: Rudolf Hirsch, Christoph Perels u. Heinz Rölleke (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. I: Gedichte 1. Hrsg. v. Eugene Weber. Frankfurt am Main 1984. S. 72.

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Die Position des Japaners, der über die europäische Welt richtet, wird in den Fragmenten mehrfach mit Autorität belegt: „darf ich zu Ihnen reden wie ein Europäer? ich war lange drüben – habe ihren Vater gekannt.“ (S. 43) „Europa ist ein gefährliches Gewebe“, wird geurteilt, „Es hat zuviele Götter ausgebrütet […]. Diese Götter sind die Begriffe: sie saugen Euch das Blut aus Sie lassen einen von Euch nie er-selbst sein. […] Wenn Ihr etwas erlebt z.B. lieben, h a b e n oder lassen, so erlebt ihr es nie ganz.“ (S. 42, [Herv. i. O.]) Eine fragmentierte Welt wird einer idealisierten „Harmonie“30 (S. 41) gegenübergestellt, die zeitgenössische Erfahrung einer Chandosschen Verstummung wird als europäisches Problem markiert. Der Blick des erfahrenen Japaners lässt koloniale Hybris erkennen, „rein […] wie die Lotosblume im schlammigen Wasser“ (S. 42), und verurteilt die ihm bekannte westliche Welt scharf: „furchtbare Gefahr für Euch selber: Euer Beisammenwohnen. Ihr seid das Spiegelbild das einer ansieht, während ein Räuber ihn würgt. Die Worte in denen ihr Euch formuliert, haben die größte Gewalt über Euch. Und neben Euch knien tausende und sprechen laut ihr Gebet aber jeder ein anderes und während einer glaubt sein eigenes zu sprechen, verlockt ihn das des nächsten und er schnappt danach wie eine gefräßige Ente nach Spiegelung eines Wurmes!“ (S. 43)

Das Bild der disharmonischen Betenden erinnert in seiner Konstellation an Chandos’ Wasserspiel: „Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben und sehen, wie sie zueinander spielten; aber sie hatten es nur miteinander zu tun, und das Tiefste, das Persönliche meines Denkens, blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen.“31

30 Vgl. dazu neben dem Aufsatz von Zelinsky: Lorenz, Dagmar: Balsam für die europäische Kultur. Hugo von Hofmannsthal und die Ruhe des Chinesen. Beitrag zur Sendung Essay und Diskurs. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/ essayunddiskurs/1554517/ (Letzter Zugriff: 01.08.2013). 31 Hofmannsthal (1902). II,S.2 / Hofmannsthal (1991). S. 50.

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In der positiven Veranschaulichung sind die separaten Fontänen für sich isoliert Bestandteil eines ganzen, harmonischen „Verhältnisspiel[s]“, während die Betenden unfähig sind, miteinander in Einklang zu kommen, da sie ihre eigene Ordnung durch Interferenzen der anderen stetig unterbrechen. Ihr Drang nach sozialer Interaktion vernichtet die Möglichkeiten einer individuellen, harmonischen symbolischen Ordnung. Die „Begriffe“, die dazu führen, dass niemand „er-selbst sein“ kann, entsprechen Lacans fremder Ordnung/Order, der sich das „infans“ zur lebensnotwendigen Artikulation bedienen muss und unter dessen Herrschaft es folglich gestellt wird. Aufgrund dessen werden das sprachlich determinierte Handeln und Denken durch die Ordnung der Anderen bestimmt und eine Harmonie mit sich, das Spiel „mit goldenen Bällen“, vernichtet. Der Mensch wird so nur noch „das Spiegelbild das einer ansieht, während ein Räuber ihn würgt.“ Er wird entmenschlicht als Abbild und erstarrt ohne Erkenntniserfahrung in der Hegemonie der fremden, begrifflichen Ordnung, zu deren Machtgefüge er selbst durch seine Artikulation beständig beiträgt: „der Europäer: es ist etwas hinter allem. ich möchte es mit Namen nennen können. es ist eine Geschlossenheit.“ (S. 43)

Im fragmentarischen Gespräch wird eine begriffliche Fixierungswut des Europäers unterstellt. Damit verknüpft ist die Konstruktion einer metaphysischen, außerbegrifflichen Dimension einer „Wahrheit“, einer Benjaminischen „Ursprache“, die durch eben diese Benennung der Dinge verhindert wird. Dem idealisierten Gegenkonzept des Japaners entspricht die vorherrschende Idee des Gesprächs als Gattung einer flüchtigen Kommunikation. Über weite Teile des Fragments bleibt es jedoch ungeklärt, wie die benannte „Harmonie“ Japans und seiner Bevölkerung gerechtfertigt wird außer durch die Autorität des Sprechers, der durch Aufzählung bekannter Motive den Vorstellungsraum des ästhetisierten Landes öffnet: „Er sieht den Contrast so: japanische Charaktere: der Adelige der Lehrer, der Bettler, der Handwerker, und japanische Situation: Lehrstunde, Freudengarten, Theehaus, Todtenbett, alles so nett rund abgeschliffen wie Medaillen“ (S. 40).

Präziser wird es in einem der zwischenkulturellen Dialogfragmente:

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„unsere Cultur hat Harmonie. Die ihrige lebt von unheimlichen halbtollen Associationen. Die Gedankensprünge eines Tollen scheinen mir ihre Ordnung der Dinge zusammenzuhalten. Bushido der ungeschriebene Codex der Samurai-Ehre: stoische Ritterlichkeit unaufhörliches Sondern von Schein und Seele: eine Brücke zwischen Märchenhandlung der Selbstaufopferung und alltäglicher Handlung der Zucht“ (S. 43).

Der Verweis auf Inazō Nitobes zwei Jahre zuvor auf Englisch und ein Jahr später auf Deutsch erschienenen Bestseller Bushido The Soul of Japan stellt mit der Konnotation „unbeschrieben“ eine Assoziationskette des asiatischen Raumes in den Vordergrund, die sich mit Anklängen an den populären Buddhismus verbindet. Nitobes Samurai-Codex entwirft auf Basis zweifelhafter Verweise auf Nationalgeschichte, Nationalseele und Rassencharakter einen Prinzipienkatalog des Lebens der Japaner als Erben der untergegangenen Samuraiehre. Analog zu der nationalen Logik der Volksmärchen verankert Nitobe sein Buch nicht in schriftlichen Quellen, sondern formuliert einleitend: „It is not a written code; at best it consists of a few maxims handed down from mouth to mouth or coming from the pen of some wellknown warrior or savant. More frequently it is a code unuttered and unwritten, possessing all the more the powerfull sanction of veritable deed, and of a law written in the fleshly tablets of the heart. It was founded not on the creation of one brain, however able, or on the life of a single personage, however renowned. It was an organic growth of decades and centuries of military career.“32

Sind für Chandos die multiplizierte Lesbarkeit der Welt in den Furchen der Hände und die Transzendenz erfahrbar durch das Negativ der allgegenwärtigen Chiffren, präsentiert sich das traditionelle Japan als Ort der Schriftlosigkeit, der mündlichen Überlieferung der substantiellen Kategorie „moral“33. Nitobe erklärt, dass, vermittelt durch Konfuzius’ Lehren, derjenige

32 Nitobe, Inazo: Bushido. The Soul of Japan. An exposition of japanese thought. Tokyo 1900. S. 4. 33 Vgl. das Vorwort, in dem Nitobe versucht, die Ursprünge seines Traktats über die Volksseele in der Frage danach zu verorten, wie in Japan ohne schulischen

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Lerner, der sein Wissen in Büchern sucht, vergleichbar ist „to an illsmelling vegetable that must be boiled and boiled before it is fit for use.“34 „[K]nowledge becomes really such only when it is assimilated in the mind of the learner and shows in his character. An intellectual specialist was considered a machine.“35 Nitobe betont auch das Erbe des Buddhismus im Bushido „to be convinced of a principle that underlies all phenomena, and, if it can, of the Absolute itself, and thus to put oneself in harmony with this Absolute.“36 Den abendländischen Philosophien war dieser Gedankengang schon hinlänglich durch das Studium „Asiens“ – d.h. in diesem Falle die Länder östlich Arabiens und des Osmanischen Reiches – und seiner Denkströmungen bekannt. Deren „Hauptunterschiede“ summiert Lévi-Strauss präzise im „[r]efus du sujet“ und seines „caractère illusoire“ als Individuum sowie der Verneinung einer Möglichkeit, mit der Sprache adäquat die Welt erfassen zu können.37 Die Bewohner Japans sind laut dieser Traditionslinien dadurch in einer Harmonie mit sich selbst und ihrer Welt, weil sie sich stets in ein (eigenkulturelles) Gefüge einordnen und einer diesem entspringenden flüchtig-mündlichen Theorie folgen. Nitobes Bushido ist dementsprechend auch im Original ursprünglich auf Englisch schriftlich verfasst worden, der Sprache der gegenübergestellten Europäer. Hofmannsthals Fragment markiert, dass es gerade die Mündlichkeit sowie die Abwertung des Subjekts sind, die das Japanische/Asiatische dem „vielrümpfig[en]“ „Europa“ (S. 40) gegenüberstellen. Dass auch die ostasiatischen Reiche ein Schriftsystem kreiert haben und dieses aktiv zur Kommunikation nutzen, könnte als Widerspruch an Hofmannsthals idealisiertem Konzept einer asiatischen Harmonie geltend gemacht werden. Dagegen lassen sich die Fragmente eines fiktiven Briefs Frau v. Grignan an ihre Mutter Frau v. Sevigné im Rahmen der Erfundenen Gespräche und Briefe anführen. Innerhalb dieser Aufzeichnungen trifft das Konstrukt Asien (hier in der Form des traditionsreichen Chinas mit Referenz auf seinen oft beklagten Verfall im 19. Jahrhundert) erneut auf ein dekadentes Europa. Da-

Religionsunterricht Moral als Basis einer Zivilisation vermittelt werden kann. – Ebd. S. V-VII. 34 Ebd. S. 12. 35 Ebd. 36 Ebd. S. 8. 37 Vgl. Lévi-Strauss (1990). S. 19-20. / Lévi-Strauss (2012). S. 46-47.

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bei werden die „Sprache ohne Alphabet“ (S. 191)38 sowie die GegenwartsIdee aus Ein Brief in den Themenkomplex integriert. 39 „Sprache-BildLaut“ heißt es in einer Notiz „Chines. Gedichte“ nach der Frage: „Wie verständigen wir uns durch Begriffe, unter denen jeder etwas anderes versteht? Das Geheimnisvolle der Verständigung!“40 Logographie erscheint auf dieser Folie als eine Lösung des Problems höchst individueller mentaler Lexika, indem es den „tötenden“ Aspekt der Konservierung der Schrift ins Positive verkehrt. Die Schrift, die Bild ist, wird geboren durch eine relativ konstante, d.h. überhistorische Art der Mimesis. Madame de Grignan als Schreiberin-Ich stellt (literar-)historisch vielseitige Verknüpfungen her, die das Projekt eines fiktionalen Briefes präfigurieren. Als Tochter und vorrangige Adressatin der épistolière Marquise de Sévigné sind von ihr kaum noch Schriften bekannt. Während ihre Mutter in den Kanon der literarischen Klassiker Frankreichs aufgenommen wurde, ist Madame de Grignan in ihrer Funktion stets schweigendes Objekt des überlieferten epistolaren Monologs. Madame de Sévigné wurde durch ihre familiäre Fürsorglichkeit, ihren literarischen Stil und den von ihr verbreiteten Klatsch vom Hofe Louis XIV. berühmt und versetzt Hofmannsthals Projekt in die Glanzzeit des Ancien Régimes. Zugleich wählt der Brief als lokalen Bezugspunkt einen bipolaren Ort, der einerseits für orgiastische Völlerei und dionysische Vergänglichkeit steht, andererseits einen Raum des repräsentativen Goldenen Zeitalters darstellt, der bereits wenige Jahrzehnte später dem Verfall und der Revolution unterliegen wird. Madame de Grignan

38 Hofmannsthal, Hugo, v.: Frau v. Grignan an ihre Mutter Frau v. Sevigné. In: Rudolf Hirsch, Christoph Perels u. Heinz Rölleke (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Hrsg. v. Ellen Ritter. Frankfurt am Main 1991. S. 189-191. 39 Am 29. Juli 1917 schreibt Hofmannsthal in einem Brief an Rudolf Pannwitz, dass er zur „Recreation“ in Bad Ausee „La Bruyère, die Briefe der Sévigné, Pascal, La Rochefoucauld, andererseits den Taote-king in der anständigen, wenn auch gewiß zu übertreffenden Transcription von Strauss“ eingepackt habe. Diese Textlektüren verweben sich in das literarische Projekt Hofmannsthals. – Schuster, Gerhard (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal Rudolf Pannwitz. Briefwechsel 1907-1926. Frankfurt am Main 1993. S. 12. 40 Mistry (1972/73). S. 307.

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selbst verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens im „Versailles du Sud“ Grignan, über sechshundert Kilometer entfernt von der zentralistischen Metropole, und besuchte nur im Zuge von Reisen den Hof des Königs. Doch das Epizentrum des monarchischen Europas im siebzehnten Jahrhundert hat einen weiten Einzugsradius und so wird Madame de Grignan als Schreiberin selbst zur Repräsentantin des unumstößlichen Tons, den der Sonnenkönig angibt und dem beinahe ganz Europa als Beispiel zu folgen trachtete. In Hofmannsthals Briefprojekt berichtet die Tochter von einem Treffen mit einem jungen Chinesen, den sie als Hausgast empfing. Die Stoßrichtung des geplanten Textes wird in einer Notiz, die zwischen 1916 und 1917 entstanden ist, deutlich: „Brief der Frau v. Grignan: über den Chinesen. auf die Frage, ob er etwas ehrwürdigeres kenne als unsere Kirchen, unsere Feierlichkeiten, Revuen, – die Einheit aller dieser Dinge, die pompöse Einheit, die im König culminiert gab er eine ausweichende Antwort: er erwiderte dass die Vergänglichkeit ja Flüchtigkeit dieser Dinge ihm nicht möglich mache, ihre Kostbarkeit sehr zu geniessen: dass für ihn die Idee der Kostbarkeit nur mit der Dauer, ja mit der Ewigkeit verbunden sein könne: es kam heraus dass er ein Dorf mit dem Bangawenbaum, der uralten Reisgenossenschaft mit ihren Riten für ceremoniöser halte als diesen Hof“ (S. 189).

Wie schon im Gespräch mit dem Japaner, vermittelt der Orientale ein Bild der Einheitlichkeit seines asiatischen Landes, das unangetastet von der europäischer Modernisierung und Rationalisierung fortbestehen konnte. Versailles wird kontrastiv China als „das andere, unabhängig gewachsene Zentrum“ gegenübergestellt, das, „als man seiner schließlich gewahr wurde, als eine Art Gegenwelt“41 aufgefasst wurde.42

41 Bauer (1985). S. 159. 42 Als Pate des Briefprojektes wird „Ku Hung-Mings“ (Gu Hongming) The Spirit of Chinese People von 1915 erkennbar (1916 ins Deutsche übersetzt), mit dem Hofmannsthal „was acquainted since 1916“ (Freny (1972/73) S. 309) und ihn als „Gewährsmann für die Einschätzung der Stellung Asiens“ (Zelinsky (1977) S. 511) betrachtete. Den Ausführungen über die Bedeutsamkeit der national divergenten, völkischen „spirits“ wird ein Motto Goethes vorangestellt: „Es giebt zwei friedliche Gewalten: das Recht und die Schicklichkeit.“ Der einzige Weg

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Die erwähnte „Ewigkeit“ ist im Sinne des Besuchers weniger ein sich automatisch fortschreibender linearer Zeitverlauf, als ein Verwischen der Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft in einer allumfassenden Chandosschen Gegenwart. Es ist die „Ruhe des Chinesen gegenüber dem Überschätzen des Moments bei den Franzosen“ (S. 190), die sich im unterschiedlichen Umgang mit dem Leben und dem Tod, dem Diesseits und dem Jenseits, dem Subjekt und der Gruppe abzeichnet. Gerade im Bezug auf Hofmannsthals Gedicht Der Kaiser von China spricht und dem zentrierten, Stabilität versprechenden Ganzheitsbild Asiens muss es verwundern, dass die Handlung des Briefs auf der Folie der Herrschaft Louis XIV. angesiedelt ist. Ist der französische König doch das Symbol des Absolutismus, der „l’État c’est moi“-Sonnenkönig, also das Sinnbild des „Sohns der Mitte“ im vorrevolutionären und vorindustriellen Europa. Er kommt im Briefprojekt nicht zu Wort und erhält nicht die Möglichkeit gleich dem chinesischen Kaiser zu verkünden: „In der Mitte aller Dinge / Wohne Ich der Sohn des Himmels“. Sondern er wird innerhalb des Briefs durch Madame de Grignan vertreten und sein zentralistisches Staatsbild durch den Chinesen zerstört. Das Ancien Régime wird demnach angegriffen, die Sinn-, Subjekt- oder Sprachkrise wie bei Ein Brief in das 17. Jahrhundert transportiert. Madame de Grignan als Signifkant des französischen Hochadels wird ein Ausspruch aus Jean de La Bruyères Les caractères in den Mund gelegt: „Si toute religion est une crainte respectueuse de la Divinité, que penser de ceux qui osent la blesser dans sa plus vive image, qui est le prince?“ (S. 190 / Kommentar S. 484)43 Der Destabilisierung des ihr vertrauten Herrschaftssystems stellt Madame de Grignan durch das Zitat

zur Völkerverständigung besteht nach Ku/Gu im guten, d.h. angebrachten Benehmen: „To the people of Europe and America, and in Japan and China too, to-day who speak of and want liberty, I will venture here to say that the only way, it seems to me, to get liberty, true liberty is to behave themselves; to learn to behave themselves properly.” (Ku, Hung-Ming: The Spirit of the Chinese People with an essay on The War and the Way out. Peking 1915. S. 7.) „In one word it is this tactlessness of the German diplomacy, of the German people, o [sic!] the German nation which is directly responsible [sic!] for this war.” – Ebd. S. 15. 43 „Wenn Religion respektvolle Gottesfurcht ist, was ist von denen zu halten, die sein lebendigstes Abbild, das der Fürst ist, kränken.“

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eine Verknüpfung zu einer überzeitlichen, göttlichen Entität gegenüber. Der höchste Adel, konservativ betrachtet von Gott als solcher berufen, mag zwar der weltlichen Kürze des diesseitigen Lebens unterliegen, ist aber im ewigen Kosmos der Religion aufgehoben und stets ein hiesiger Repräsentant der Unendlichkeit des Jenseits. Gleiches wird durch die bereits zitierten Kirchen als weltliche Wohnstätte des ewigen Herrschers versucht. Der Chinese lässt sich davon nicht beeindrucken, stellt das „Kurzfristige u. Precäre aller dieser Dinge, dem er kaum ein Jahrhundert Leben gibt“ dar und behauptet „das Demoralisierende der kurzen Frist [sei]: sie mache unredlich u. schielend: nehme der Ehrfurcht ihr Fundament.“ (S. 191) Der berühmte chinesische Ahnenkult, die diesseitige Lobpreisung des Jenseitigen, ist das Gegenbild des rauschhaften Moments in der französischen Adelskultur.44 Durch die Pflege des Andenkens an die verstorbenen Vorfahren kann der Mensch die Zeit überdauern, wird, vermittelt durch die Gedanken seiner Familie, ins Diesseits eingegliedert. Die Kirchen huldigen nur dem christlichen Gott und vereinzelt seinen Heiligen, der chinesische Ahnenschrein ist ein persönliches Memorandum einer Familientotalität; ein bedeutendes Motiv in der Verarbeitung chinesischer Charaktere in der deutschsprachigen Literatur. Dem schließt sich an, dass Madame de Grignan das Thema „Gott“ zu vermeiden sucht – „wo sie die Klippe des Gespräches vermuthet hätte, als mit einem Heiden“ (S. 189) – und dadurch die von ihr angebrachten Kirchen nur in ihrem äußerlichen Prunk und nicht als Wohnstätte Gottes betrachtet werden. Die polarisierten Arten von religiöser Praxis stehen in enger Beziehung zu einer Positionierung des Subjekts. Der chinesische Ahnenkult bindet das Individuum als Kettenglied einer Familie, eines Dorfes, einer Gemeinschaft, indem es den anderen Gliedern bei der Fortschreibung ihres Andenkens hilft und zugleich absichert, dass seine Nachfahren ebenso walten werden. Die europäische Kirche dient zur Definition eines christlichen Kollektivs unter dem Bezugspunkt des einen Gottes. Wenn Madame de Grignan nun jedoch diesen Bezug im Gespräch subtrahiert, verschwindet die Funktion der Religion, das Subjekt zu stabilisieren. Es steht alleine in der künstlerischen Beschau der reinen sakralen Architektur und kann sich nur für die kurze Zeitspanne seines Lebens selbst definieren. Ein alternativer Bezugspunkt soll das zentralistische Versailles darstellen, das jedoch als weltlicher

44 Vgl. dazu: Mistry (1972/73).

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Ort ebenso diesen Bestimmungen unterliegt und somit leicht vom chinesischen Gesprächspartner destabilisiert werden kann. Die moderne Subjektkrise wird ins siebzehnte Jahrhundert verlagert und dort zu Gunsten eines ganzheitlichen Asiens entschieden. Die sozialen „Gewohnheiten“ (S. 189) sind ein Hauptthema des Briefes, ein gegenseitiges Abwägen und Abschätzen der Gesprächspartner, das Madame de Grignan wiedergeben will: „Wir hatten eine Unterhaltung von der ich wünschen würde, Ihnen eine Vorstellung zu geben.“ (S. 190) Als fester Bestandteil des französischen Hochadels würde für sie nie in Frage kommen, dass es Unsittlichkeiten im Verhalten des Hofes gebe. Die Briefe Madame de Sévignés zeugen von diesem Selbstbildnis, das sich im moralischen und sittlichen Stil und den präzise gewählten Themen zu erkennen gibt. Der Chinese wird im Gespräch so zwangsweise zu einem Spiegel, der letztlich die Wahrheit preisgibt. Eine Prämisse des Sittlichen, wie es am Hofe Louis XIV. definiert wurde, ist die anthropologische Konstanz. Das Sittliche wird als evolutionärer Prozess, als herausgebildete Krönung der menschlichen Gemeinschaft aufgefasst und müsse so allen Kulturen im gleichen Maße ab einer gewissen Entwicklungsstufe zu Eigen sein; bzw. wie es zur Zeit des Barocks üblich war, vom französischen Hof kopiert werden.45 In dieser Funktion tritt, wie bereits erwähnt, Madame de Grignan als Bewohnerin des südfranzösischen Grignan besonders hervor. Sie ist

45 Als Vergleich lässt sich eine Reihe von Briefen Madame de Sévignés heranziehen. Beispielsweise an Madame und Monsieur de Grignan vom 30.07.1677 in dem sie wie der König selbst die richtigen Manieren dem weltlichen Besitz vorzieht oder an ihre Tochter vom 26.11.1688, in dem das höfliche Benehmen ihres Sohnes den militärischen Heldentaten an positiver Wirkung am Hofe gleichgestellt wird. – In diesem Kontext ließe sich auch der – allerdings zehn Jahre zuvor niedergeschriebene – Tagebucheintrag Hofmannsthals vom 25. Juli 1906 anführen: „Je weniger gesellig ein Volk noch ist, desto mehr wird es sich zu der Sprache anders verhalten, als sich die geselligen Völker zu ihr verhalten: die von ihr einen gleichsam selbstverständlichen Gebrauch machen; es wird auf früher eine magisches, auf später ein kritisches Verhältnis zur Sprache haben. – Inwiefern die Chinesen zugleich ein geselliges und ein religiöses Volk sind, und ihr Verhältnis zu ihrer Sprache.“ – Steiner, Herbert (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. [o.A.]: Aufzeichnungen. Hrsg. v. Herbert Steiner. Frankfurt am Main 1959. S. 145.

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nicht direkter Teil der täglichen höfischen Zeremonien in Versailles wie ihre Mutter, wählt jedoch das Treiben um Louis XIV. ohne Bedenken als eigene Maxime. Der Chinese, aus einer vermeintlich geringeren Kultur, attackiert nun Madame de Grignans eurozentrisches Weltbild, indem er die Sittlichkeit als Grundfeste angreift und „Zweifel am europäischen Wesen“ äußerst, weil er „die Dauer u. die Qualität zusammenbringt.“ (S. 191) Und mehr noch: Er entpuppt sich zugleich als fähiger Betrachter und Beurteiler europäischer Kultur, wenn er sich im Gegensatz zu zeitgenössischen Kritikern durch Nicolas Poussins Les quatre saisons begeistert zeigt.46 Die vier historischen Landschaftsmalereien sind als bildliche Darstellungen von Zeit und Zeitvergänglichkeit zu verstehen. Sie präsentieren sowohl die vier Jahreszeiten in ihrer Abfolge – frühlingshafter Garten, Mahd bei Sonnenschein, Weinlese und eine düstere, regnerische Schreckensszenerie – als auch einen Tageszyklus vom Morgen bis zur Nacht und letztlich durch ihren biblisch-historischen Kontext eine christliche Traditionsgeschichte von der Genesis über Ruth und Boas bis zur Sintflut. In Hofmannsthals Notizen zum Briefprojekt findet sich folglich auch der bezeichnende Ausspruch: „Einem Volk von vollkommener Verfassung sind die Jahrhunderte wie Jahreszeiten.“ (S. 190) Poussins Gemälde komprimieren Jahrhunderte biblischer Geschichte auf die vier Jahreszeiten und diese auf einen Tagesverlauf. Zeit(-losigkeit) als metaphysische Kategorie wird verzerrt und zu einer abstrakten Momenterfahrung, einer fehlenden Differenz von Vergangenheit und Zukunft wie im „Chandos-Brief“ als lokale wie zeitliche „Gegenwart“ gefasst. Während Gegenwart am französischen Hof zum rauschhaften Feiern des Moments wird, bedeutet der Moment für den dargebotenen Chinesen nichts, denn er ist ein unmöglich zu definierender Teil des Ganzen, eben die höchste „Potenz, die das rhythmische treiben der Menschheit reguliert.“ (S. 191) Gleichzeitig bildet dies eine Allegorie zum Subjektproblem, das an diese Kategorien gebunden wurde. Der Chinese als Gast Madame de Grignans wird der Spiegel, der es schafft, die „europäische Geschichte von Asien aus“ (S. 191) zu sehen. Nach dem Bild Asiens als Ort der Ganzheit, hat der Gesprächspartner die Möglichkeit, die Krise der europäischen Scheinwelt zu erkennen und anzugreifen. Der kulturpessimisti-

46 Vgl. Sauerländer, Willibald: Die Jahreszeiten. Ein Beitrag zur allegorischen Landschaft beim späten Poussin. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst. Folge 7 (1956). S. 169.

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sche Fluchtcharakter der Aufzeichnungen wird folglich zu einer Rückkopplung auf die eigene Verfassung, eine Selbstbetrachtung von außerhalb. Die Notizen, die Hofmannsthal größtenteils zwischen 1916 und 1917 verfasste, werden 1924 im Zuge eines geplanten Essays Chinesische Gedichte erneut aufgegriffen und um eine bereits zitierte Notiz bereichert. In diesen Zusammenhang fällt auch, wie Frenry Minstry rekonstruiert, eine längere handschriftlich abgeschriebene Passage aus der deutschen Übersetzung von Bertrand Russells The Problem of China: „Die akkumulative Wirkung von Sprachsymbolen auf die Geistesbildung eines Menschens ist noch unerschlossenes Land. Wenn man die Weltcultur der lebenden Rassen von dieser Basis aus einteilt, so bemerkt man einen grundlegenden Unterschied ihrer Typen zwischen denen, die ein Alphabet gebrauchen und solchen, die Hieroglyphen gebrauchen; beide haben ihre besondere Tugenden und Laster. Nun muss, bei aller Achtung vor der alphabetischen Zivilisation, offen festgestellt werden, dass diese in ihrem Mangel an Dauerhaftigkeit einen ernsten u. von ihr untrennbaren Fehler besitzt. Der höchstgesittete Teil der alphabet. Culturwelt ist auch zugleich von den wankelmütigsten Völkern bewohnt. In der Geschichte des Westens wiederholt sich diesselbe Sach immer u. immer wieder (Die Griechen, die Römer, die Araber; die alten Semiten u. Hamiten). Der intellectuelle Zustand dieser Leute mag Wasserfällen und Katarakten ähnlicher sein als Seen und Ozeanen. Kein anderes Volk ist reicher an Gedanken als sie es sind, aber kein anderes würde so schnell wie sie seine wertvollen Gedanken aufgeben. Die chin. Sprache ist in jeder Weise das Gegentheil des alpha. Sprachblocks. Es fehlen ihr die meisten Tugenden die in der alphab. Sprache zu finden sind, aber als eine Verkörperung von einfacher und letzter Wahrheit ist sie unverletzlich in Sturm und Not. Mehr als 40 Jahrhunderte hat sie schon die chinesische Zivilisation bewahrt. Die ist dauerhaft, rechtschaffen u. schön genau wie der Geist ihrer Repräsentanten.“47

In der Notiz zum fiktionalen Brief von 1924 lautet ein aufgelistetes Gesprächsthema: „Über die Sprache ohne Alphabet.“ (S. 191) Und in den wenigen Sätzen zum geplanten Essay über Chinesische Gedichte heißt es: „Das Höhere, niemals Zeitgebundene. Dies in der Kunst nur gespiegelt – darum kann solche Kunst auch in Übertragung zu uns Sprechen.“ (S. 574) Es entsteht eine enge Koppelung zwischen dem konstruierten chinesischen

47 Mistry (1972/73). S. 308.

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Zeitbegriff und der speziellen Schriftsprache, die, wie die Grabungen in Anyang bewiesen, Jahrtausende überdauern konnte. Die im niedergeschriebenen Zitat Russells ausgewählten Völker „(Die Griechen, die Römer, die Araber; die alten Semiten u. Hamiten)“ sind nicht zufällig aufs Engste lexikalisch verbunden mit einer ihnen typischen Schrift. Die relativ junge phonetische Schrift wird als Grund für die Kurzlebigkeit westlicher Zivilisationen und das zyklische Auftreten ähnlicher kultureller Phasen aufgefasst. Dass die ostasiatischen Kulturen, und das sind in Hofmannsthals Konstruktionen wie für die Zeit üblich größtenteils China und Japan, zeitüberdauernd und überaus traditionell fortleben konnten, wird der besonderen Schriftkultur zugeschrieben. Heinz Hiebler formuliert in diesem Kontext für Hofmannsthal und damit repräsentativ für seine Dichtergeneration der Moderne, dass diese „meditative Schreibkunst des asiatischen Raumes eine dankbare materielle Grundlage für die Darstellung ganzheitlicher Denkmuster, unauflösbarer Paradoxien und sinnbildlicher Gedankengebäude [wurde], wie sie die esoterischen Zirkel der westlichen Welt um 1900 verstärkt in ihren Bann schlugen.“48 Was im Projekt des Briefs von Madame de Grignan demnach markiert wird, ist eine direkte Verbindungslinie zwischen der Schrift einer Zivilisation und seiner Erkenntnisfähigkeit von Welt. Die Menschen bauen sich ihre Kultur als Teil der Welt nicht nur durch gesprochene Sprache, sondern auch durch Schrift. Es entsteht eine beunruhigende Erschütterung des phonozentrischen Weltbildes durch eine Verschiebung, die sich jedoch noch in dessen Grenzen bewegt. Die „Sprache ohne Alphabet“ fasziniert Dichter der Moderne aus einer sprachkritischen Perspektive und wird innerhalb Hofmannsthals programmatischen Schriften überaus bedeutsam. Während Ein Brief von 1902 noch die Unmöglichkeit einer Abbildung der wirklichen Bedeutung im Wort und einer möglichen negativen Umschreibung in der Schrift artikuliert, vermittelt die fiktionale Madame de Grignan im Chinesen eine ihr dargebotene parallel existierende, gefestigte und lebendige Kultur, die auf Basis eines traditionsreichen Weltbildes den von Chandos gewünschten Zustand der „Gegenwart“ bereits approximativ realisieren konnte. Dieser Chinese „versucht, ihr den Taoismus zu erklären“ (S. 190), heißt es in einer Notiz. Tao ist nach der allgemeinen Vorstellung und explizit

48 Hiebler (2003). S. 183.

„G EGENWART “ DES S PRECHAKTES | 217

nach der von Hofmannsthal parallel zu den Briefen Madame de Sévignés gelesenen Daodejing-Übersetzung Victor von Strauss’ das unaussprechliche Zentrum allen Seins und Denkens, also ein orientalisches Konzept von Logos. Das Buch beginnt mit den Worten: „Taò, kann er ausgesprochen werden, ist nicht der ewige Taò. Der Name, kann er genannt werden, ist nicht der ewige Name. Der Namenlose ist Himmels und der Erden Urgrund; der Namen-Habende ist aller Wesen Mutter. Drum ‚Wer stets begierdenlos, der schaute seine Geistigkeit, Wer stets Begierden hat, der schauet seine Aussenheit.‘ Diese bedeuten sind desselben Ausgangs und verschiedenen Namens. Zusammen heissen sie tief, des Tiefen abermals Tiefes; aller Geistigkeiten Pforte.“49

Strauss’ ausführliche Kommentierung verdeutlicht die Verbindung von metaphysischer Philosophie, Sprache und Schrift, auf die es im Rahmen des fiktiven Briefes Madame de Grignans ankommt: „Denn sichtlich handelt es sich um die Doppelheit des höchsten Wesens, wornach es einmal verborgen, geheimnissvoll und daher unaussprechlich und unnennbar, dann aber auch sich erweisend und offenbar, daher aussprechlich und nennbar, weil sich selbst aussprechend, ist, in welcher Beziehung es allerdings dem λόγος = Wort entspricht. Das Wortspiel, das dieser erste Satz enthält, deutet diess ebenfalls an. Denn ‚ausgesprochen werden‘ heisst wiederum taò, nur mit veränderter Betonung, aber mit demselben Schriftzeichen.“50

Das Sprachproblem einer inadäquaten Sprache aus arbiträren Begriffen, die eine logozentrische Wahrheit nicht mehr erreichen können, stellt für moderne Fragestellungen ein epistemologisches Problem dar. Die durch Sprache wahrgenommene Welt kann nicht mehr verlässlich erfasst werden, der Mensch verliert seine Anbindung an ein alles verbindendes Zentrum – sei es göttlich, natürlich oder sprachlich – und erkennt wie Chandos die vollkommene Spaltung einer Seins- und einer Scheinsphäre. Eine Schrift wie das Chinesische, die durch den aufkeimenden Wissenschaftszweig der Si-

49 Strauss, Victor v.: Laò-Tsè’s Taò Tĕ Kīng. Leipzig 1870. S. 3. 50 Ebd. S. 4. – Richard Wilhelm überträgt 1910 dementsprechend Tao mit „SINN“. [Herv. i. O.]

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nologie nach und nach erschlossen wurde, bildet einen theoretischen und ideellen Fluchtpunkt bar jeder empirischen und schriftlinguistischen Wahrheit – eine Wahrheit, die letzten Endes wohl kaum jemanden interessiert hat. In einem Brief vom 25. Mai 1923 bedankt sich Hofmannsthal bei Rilke für die Sonette an Orpheus mit den Worten: „vielfach bezaubert hat mich die Schönheit und Sicherheit mit der ein subtiler Gedanke wie mit dem bewundernswerten Pinselstrich eines Chinesen hingesetzt ist: Weisheit und rhythmisches Ornament in einem.“51 Die für beide Dichter so typische Referenz auf eine ideale Sphäre nicht-differenzierender Sprache, deren Subtilität auf Probleme der schriftlichen Darstellung treffen muss, wird hier aufgerufen. Doch der kalligraphische „Pinselstrich“ des Logogramme schreibenden Chinesen offenbart im rhythmischen Ornament, d.h. in jugendstilistischer Schreib-Zeichnung und entsemantisierter Rhythmik, die absolute, also metaphysische Wahrheit.

51 Hirsch, Rudolf u. Ingeborg Schnack (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Rainer Maria Rilke. Briefwechsel: 1899-1925. Frankfurt am Main 1978. S. 95.

8 Poetische Defizienzerfahrung

Alfred Döblins „Chinesischer Roman“ Die drei Sprünge des Wang-lun wurde schon zu Zeiten seiner Veröffentlichung und in den Jahrzehnten der germanistischen Literaturwissenschaft stets mit dem Kategorisierungszwang einer formalisierenden Rezeption konfrontiert. Impressionistisches Schreiben, literarischer Jugendstil, Neuromantik, Naturalismus, Expressionismus, Décadence und Renaissancismus, literarischer Kubismus sowie modifizierter Futurismus (oder „Döblinismus“1, wie es der Autor in einer offenen Absage an den italienischen Futurismusbegründer Marinetti formuliert) sind Siglen, die den inkommensurablen Text über den chinesischen Revolutionär Wang-lun, die Hybris des Priesters Ma-noh und den alternden Mandschu-Kaiser Khien-lung (Qiánlóng) zu bändigen trachten. Die Kritiken und Rezensionen bekunden, dass das durch diverse wissenschaftliche Monographien und Tagesmedien in chinesischer Geographie, Geschichte, Politik und Kultur geschulte Publikum oftmals der wortgewaltigen Veröffentlichung verwundert gegenüberstand. Die rätselhaft-indifferente historische Dimension des Romans, die sich in Nebensätzen auf Quellenlage und wirkliche Zeugnisse bezieht und so eigenständig transformiert, evozierte Mutmaßungen über eine „Übersetzung aus dem Chinesischen“ oder eine „Nachbildung eines chinesischen Originals“2 und verselbstständigte sich so

1

Döblin, Alfred: Futuristische Worttechnik. Offener Brief an Marinetti. In: Der

2

Pernerstorfer, E.[ngelbert]. [o.T.]. In: Berliner Tageblatt (Morgenausgabe)

Sturm. Bd. 3, Nr. 150/151 (März 1913). S. 282. 27.11.1916. Zitiert nach: Schuster, Ingrid u. Ingrid Bode (Hrsg.): Alfred Döblin im Spiegel der zeitgenössischen Kritik. Bern u.a. 1973. S. 25.

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weit, dass sich das Gerücht verbreitete, „Döblin habe Chinesisch gelernt, vermutlich weil man sich die Entstehung dieses eigenartigen Textes nicht anders erklären konnte.“3 Kenntlich wird, dass der Untertitel „Chinesischer Roman“ stets doppelt gelesen wurde und gelesen werden muss: als Lokalisierung der Handlung sowie als spielerische Referenz auf eine fingierte, fremdsprachliche Quelle. Tatsächlich lässt sich der Roman als Experimentierfeld einer avantgardistischen und stilpluralistischen Moderne lesen, auf dem beispielsweise die naturalistische Forderung nach „Milieusicherheit“4 als Basis modernen Schreibens5 auf impressionistische Farbphantasmen stößt; beispielsweise in der Gründungsszene der „Gebrochenen Melone“ vermittelt durch die Orgie zwischen Brüdern und Schwestern des Bundes: „Lange bewegte sich nichts auf dem Frauenhügel. Dann schimmerten weiße, bunte Tupfen zwischen den Stämmen. Rennen schattenschwarzer Männer, Vermischen der Farbenflecke, Händewürfe von Geräuschen, Sprechen, Rufe in Fetzen, Schwall von Lärm. Bunte Schwestern umarmten sich im Herabgleiten, Brüder Hüfte an Hüfte. Eine jubilierende lichtgetränkte Wolke senkte sich in das Tal.“ (S. 157/151)6

In der zitierten Passage trifft die Darstellung der belebten Landschaft mit der Beschreibung eines impressionistischen Bildes zusammen und geht eine Symbiose mit dem expressionistischen Reihungs- oder Kinostil ein, der

3

Detken (2009). S. 103.

4

Muschg, Walter u. Heinz Graber (Hrsg.): Alfred Döblin. Ausgewählte Werke in Einzelbänden in Verbindung mit den Söhnen des Dichters. [Bd. 13]: Briefe. Hrsg. v. Heinz Graber. Olten u. Freiburg im Breisgau 1970. S. 58.

5

Zwischen Döblins Roman und Zolas Traktat Le Roman Expérimental steht immerhin bereits die Bewahrheitung der Prophezeiung Hermann Bahrs: „Naturalismus ist entweder eine Pause zur Erholung der alten Kunst; oder er ist eine Pause zur Vorbereitung der neuen: jedenfalls ist er Zwischenakt“. – Bahr (1891). S. 156.

6

Döblin (1917). / Döblin, Alfred: Die drei Sprünge des Wang-lun. Chinesischer Roman. München 2007. – Die Erstausgabe wurde zitiert. Auf die geringfügigen orthographischen Änderungen der kritischen Edition von Sander und Solbach wird nicht dezidiert hingewiesen. Die nachgestellten Seitenzahlen sind identisch mit denen der Werkausgabe von Walter Muschg.

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die Dynamik der triebhaften und chaotischen Eroberung des „Frauenhügel[s]“ sinnlich narrativiert. Dass sich Döblins Wang-lun als ein stilistisches Experimentierfeld begreifen lässt (wobei diese Metapher nicht nur als unvollständiger und heterogener Übergang zu verstehen ist, sondern aus eben diesen divergenten Versuchsanordnungen literarischen Schreibens seine eigene Kohärenz ableitet), lässt sich nicht nur am discours einer höchst diffizilen Rhetorik aufzeigen, sondern spiegelt sich auch an einzelnen Stellen der histoire wider. Döblins „Chinesischer Roman“ macht seiner genretypologischen Selbstbenennung alle Ehre. Der Leser findet sich selbst in einem strikt chinesischen Raum wieder, der sich aus fremdartiger und mangelhaft kommentierter (beispielsweise durch das westliche Narrativ der Zueignung) Rhetorik aufbaut. Rätselhaft bleiben zahlreiche Bedeutungen von kulturellen Praktiken – wie die zeremonielle Überreichung eines Pfefferminzsäckchens –, mystischen chinesischen Verweisen – wie der Fluss „Nai-ho“ oder die Göttin „Kuan-yin“ – oder religiösen und administrativen Titeln auch für den Teil der Leserschaft, der sich regelmäßig in den Tagesmedien über China informierte.7 Die Unterlassung eines kommentierenden Apparats oder erläu-

7

Döblin selbst hat vor der raschen Niederschrift des Romans manisch Informationen über China zusammengetragen und komprimiert in seinen Aufzeichnungen eine umfassende Auseinandersetzung des Westens mit China und Ostasien vor dem Ersten Weltkrieg: „Die Versenkung in die chinesische Welt spiegelt sich in den teilweise erhaltenen Notizen über die Lektüre einschlägiger Literatur, die mit Bleistift, Tintenstift oder Tinte auf einer Menge von Blättern, gelegentlich auch auf zerschnittene Spital- und Bibliotheksformularen oder einem Briefumschlag aufgezeichnet sind. Döblin notierte sich, oft pedantisch genau, die in China vorkommenden Tiere, Pflanzen, Edelsteine, Landschaften, Städte, Bräuche des Konfuziuskults, Priesterkleidung, Ritualgegenstände, geistliche und militärische Trachten, Tänze, Spiele, Musikinstrumente, Heilmittel, ärztliche und militärische Fachausdrücke. Er exzerpierte Beschreibungen von Tempeln und Festen, religiösen Sitten und Anschauungen der Provinzen, über Ämter und Titel, akademische Prüfungen und Gerade, über die Eunuchen am Kaiserhof. Auch eine ganze Reihe mit Tinte kopierter Landkärtchen ist vorhanden. Es sind historische und geographische Werke, einzelne Bände orientalischer und ethnographischer Zeitschriften als Quellen für Theateraufführungen, Waffen usw. vorgemerkt oder angegeben.“ – Muschg, Walter: Nachwort des Herausgebers.

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ternder Fußnoten wie beispielsweise in Karl Mays Erzählungen verstrickt die Rezipienten in die exotische Welt des fiktiven Chinas des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Evozierte Unkenntnis antizipiert phantastischliterarische Kohärenz. Doch der Erzähler der „Zueignung“ – eine futuristische Darstellung des Lärmens, der Wirren und der Lichter einer modernen Großstadt der Jetztzeit – findet diffizile Wege, seinen Text mit Verweisen auszustaffieren. Gelegentlich werden en passant Schlagworte eingebaut, die weniger auf ein historisches China als auf die Zeit der Zehner Jahre verweisen: „Cent“ (S. 24/23), „Kupferpfennige“ (S. 28/27), „Federemail“ (S. 130/125), „Gewerkschaften“ (S. 217/209), „Hornbrille“ (S. 296/286), „Bronchien“ (S. 381/368), „Jahrmarktbude, ein Schaukabinett“ (S. 400/387), „von dem der Liä-dsi erzählte“ (S. 413/400), „Ich halte nicht Schritt mit der Zeit.“ (S. 425/411), „In dieser wenig von Licht zerfetzten Finsternis pfauchte, ratterte, stampfte eine Maschine. Zähne malmten.“ (S. 452/437), „bajonettartig“ (S. 478/462).

„Mit diesen sprachlichen Mitteln wird der Leser aus der Vergangenheitsseligkeit immer wieder in die Gegenwart verwiesen: aus der Welt des ‚Himmelssohnes‘, des ‚Jo-hi einer oberen Bannerschaft‘, des ‚Ozeans der Weisheit […] Taschi-Lama Lobsang Paldan Jische‘, der Bonzen, Nebenfrauen und Eunuchen – in die Welt der ‚Bürger‘, ‚Beamten‘, ‚Bauern und Arbeiter‘, ‚Offiziere‘, des ‚Papstes‘, der ‚Gewerkschaftler‘, ‚Krämer und Dorfapotheker‘.“8 Dieses komplexe und undurchdringliche Verweisspiel zwi-

In: Walter Muschg (Hrsg.): Alfred Döblin. Ausgewählte Werke in Einzelbänden in Verbindung mit den Söhnen des Dichters. [Bd. 1]: Die drei Sprünge des Wang-lun. Chinesischer Roman. Hrsg. v. Walter Muschg. Olten u. Freiburg im Breisgau 1960. S. 497. 8

Wichert, Adalbert: Alfred Döblins historisches Denken. Zur Poetik des modernen Geschichtsromans. Stuttgart 1978. S. 213. – Adalbert Wichert verweist weiterhin auf: Messelesen, retuschieren, dünne Heizplatten, blecherne Resonanzboden, Blutröhren, Lungenbläschen, Restaurationsbetrieb, Subdirektoren der Enzyklopädie, ordnungsgemäße Begründung des Abweichens vom Ketzereigesetz, Bureau, Initiative, konservative Elemente, Karriere, Seancen, Experimente, Arrangements. Ähnliches leitet Collins ab: „In a single image the visual information, the physical action of the bandits grinding their teeth, is conveyed

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schen chinesischem und großstädtischem Milieu, das stets durch die geschickt platzierten Resonanzkörper präsent bleibt, zeichnet den historischen und „chinesischen“ Roman aus. Döblin schrieb während seiner Recherche für den Roman an Martin Buber: „ich brauche allerlei chinesisches Diverse, das mir Milieusicherheit garantiert. Alles, was sich irgendwie erreichen läßt, habe ich schon gelesen. Aber wahrscheinlich ist mir noch hinreichend entgangen. / Sittenschilderungen, Dinge des täglichen Lebens, Prosa besonders des 18. Jahrhunderts.“9 Das moderne Schlagwort der Milieusicherheit wird im Roman in seiner soziologisch wie ästhetisch im Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts definierten Qualität verschoben. Zola erweiterte in seinen Überlegungen zum roman expérimental bereits Taines Anspruch „Lorsqu’on a ainsi constaté la structure intérieure d’une race, il faut considérer le milieu dans lequel elle vit“10 um eine poetologische Dimension, wenn er formuliert: „Et c’est là ce qui constitue le roman expérimental : posséder le mécanisme des phénomènes chez l’homme, montrer les rouages des manifestations intellectuelles et sensuelles telles que la physiologie nous les expliquera, sous les influences de l’hérédité et des circonstances ambiantes, puis montrer l’homme vivant dans le mi-

alongside the rather exotic metaphor of suffering as unzerreißbarer Gummi, a term which stands out, not because of its exoticism in the cultural sense, but in fact because of its ring of contemporary Wilhelminian vocabulary. This term, far from suggesting Chinese bandit country in the eighteenth century, tends rather to evoke the milieu of early twentieths century magazine advertisement for automobiles or bicycles. Thus the reader is torn away from the flow of information into a conscious consideration of the text as text. Not only is the figure of the narrator apparent, but here the reader is confronted momentarily with the consciousness of the author himself, the writer of the ‚ZUEIGNUNG‘ who passes comment on the contemporary world with its automobiles and aeroplanes and noise“. – Collins (1990). S. 92. 9

Muschg (1970). S. 58.

10 Taine, H[ippolyte]: Histoire de la littérature anglaise. Tome premier. Paris 1863. S. XXV. [Herv. i. O.] – „So man auf diese Weise die innere Struktur einer Rasse konstatiert hat, muss man auch das Milieu, in dem sie lebt, in Betracht ziehen.“

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lieu social qu’il a produit lui-même, qu’il modifie tous les jours, et au sein duquel il éprouve à son tour une transformation continue.“11

Will Zola demnach sein Schreiben einem sozio-wissenschaftlichen, didaktischen Experiment annähern, das im strikt-naturalistischen Sinne dann im Folgenden von diversen Literaten einer photographischen Abbildfunktion gleichgesetzt wurde, kann dies nicht im Sinne von Döblins Chinaroman Geltung finden. Der Naturalismus war schnell als Übergangsstadium oder Endpunkt etikettiert und abgeschlossen, sodass der ungenannte deutsche Übersetzer von Zolas Traktat bereits 1904 seinen Band bezeichnenderweise damit legitimiert, dass die Technik zwar in den neunziger Jahren bereits „totgeschlagen“12 worden wäre, aber sie dennoch ein nachwirkendes „Kapitel Romantechnik und Romantheorie“13 für die deutschsprachige Kunst sei. Döblins „Milieusicherheit“ demnach als fortlaufende Kategorie naturalistischen Schreibens zu definieren, erwiese sich zu kurz gegriffen. Der historische Roman verschreibt sich keinem Abbildrealismus, sondern transformiert die geschichtliche Faktizität im literarischen Medium zu einem ästhetischen Konglomerat aktuellster Formen und Handlungen. Diese Erweiterung des poetischen Milieubegriffs wird deutlich in der biographischen Retrospektive Ngohs: „Durch ein lautes Geschrei mehrerer Frauen wurde eines Nachts die Wache Ngohs alarmiert; in die Gärten eindringend bis vor den Pavillon der Nebenfrau, hörte Ngoh, daß man im Pavillon eben den Dämon des kranken Kindes gesehen hätte in Gestalt einer kleinen Fledermaus, welche der Mutter ins Haar schoß, dann über das hitzige

11 Zola, Émile: Le Roman Expérimental. Paris 21880. S. 19. – „Und hier liegt der Punkt, der den Experimentalroman ausmacht: den Mechanismus der Erscheinungen beim Menschen zu besitzen, das Räderwerk der Kundgebungen seines Verstandes- und Empfindungslebens, wie sie uns von der Physiologie erklärt werden, unter den Einflüssen von Vererbung und der umgebenden Verhältnisse aufzuzeigen, dann den Menschen zu zeigen, wie er in dem sozialen Milieu lebt, das er selbst geschaffen, das er alle Tage verändert, und in dessen Schosse er seinerseits eine beständige Umwandlung erfährt.“ – Zola, Émile: Der Experimentalroman. Eine Studie. Leipzig 1904. S. 26-27. 12 Ebd. S. 1. 13 Ebd. S. 6.

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Gesicht des Kindchens flatterte und zur Tür hinausfuhr. Ngoh erkannte aus der Beschreibung, an der Größe des Tiers, der weißlichen Bauchfärbung und der Richtung des Fluges, daß es sich um einen Schatten handele, den er selbst öfter an dem Wassergraben beobachtet hatte […]. Ngoh sah ihn in dem Licht eines Branders wie betäubt heranflattern. Er hieb auf ihn zu; man hörte Quaken und Kreischen. Die Bestie wandte sich, flog zurück. Ngoh verfolgte sie brüllend, mit dem Schwert fechtend; […] als sie schon in alle Winkel geleuchtet hatten, schlug sich der Musikmeister vor die Stirn, flüsterte, sie sollten einmal rasch neben dem Ofen im Wohnzimmer suchen. Und da saß ein kleines Weib mit grünen Augen, der das Blut aus der Brust tropfte, mit dem Gesicht eines Affen. Sie war grau und sagte, sie wüßte nicht wie alt sie wäre. Man fragte sie näher aus, hielt sie an den Händen fest. […] Sie hatte sich in eine schwarze Katze verwandelt, zerkratzte den Männern Hände und Arme. Tu-schi warf sich über sie; im Augenblick, als er über sie fiel, hatte er sich durch einen Blick in seinen achteckigen Handspiegel in einen weißen Tiger verwandelt, zerriß die Katze. Blutend schlugen und bissen sie sich am Boden unter dem Geheul der Weiber; da schlug Ngoh der Hexe den Kopf ab. […] Das Kind der Nebenfrau war gerettet. Ngoh erhielt vom Kaiser ein Pfefferminzsäckchen geschenkt.“ (S. 111-113/107-108)

In dieser Szene wird der Leser durch den Erzähler zum einen beständig in seiner Suche nach Authentizität und Faktizität vorgeführt und zum anderen unentwirrbar in die fremde Welt des dargestellten chinesischen Kaiserreichs verwoben. Die Biographie beginnt mit dem sachlichen Bericht der Historie Ngohs, die sich auf die Autorität des modernen Erzählers (des zeitgenössischen Europäers in der lärmenden Metropole der Zueignung) beruft. Dass das Kind von einem „Fieberdämon“ (S. 111/106) besessen sei, ließe sich noch als kulturelle Beschreibung einer spiritualistischen Medizin des 18. Jahrhunderts annehmen. Doch dann schwenkt die Autorität des Berichts auf ein unbestimmtes „hörte Ngoh“ und das eigene Wissen des Mannes – er „erkannte“, „daß es sich um einen Schatten handele, den er selbst öfter“ gesehen habe. Demnach wird der Leserschaft bis zu dieser Stelle nicht nur der Glauben gelassen, es handele sich um Metaphern einer irrealen, kulturellen Medizin, sondern dieser Gedanke durch die Verlagerung der Informationsautoritäten noch verstärkt. Dass Ngoh und die Soldaten etwas später wirklich eine Fledermaus antreffen, die sich, ihrem nachtaktiven Wesen gemäß, von grellen Lichtern verwirren lässt, verwundert nun

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nicht weiter. Und zuletzt verweist auch der verzögerte Hinweis des Musikmeisters auf eine reale Scharade, die sich den Aberglauben des Volkes zu Nutzen machen könnte. Erst das vorläufige Ende der Heldentat Nghos, durch die Erzählinstanz selbst vermittelt, bricht vollkommen mit dieser Verwirrung der Informationsträger und überführt eine irreale Welt von Dämonen und Magie in einen auf Faktizität ruhenden historischen Roman. Tatsächlich wird das besessene Kind durch den Kampf gegen die Hexe gerettet; ein Einschub, als müsse das Geschehen noch einmal beglaubigt werden. Der Leser hat sich durch das Verwirrspiel der Personen immer weiter in die mysteriöse Welt des vergangenen China verstrickt und erfährt schlussendlich, wie wenig er von den Sitten und Begriffen dieser Welt verstehen muss, damit er sich in ihr zurechtfinden kann: „Ngoh erhielt vom Kaiser ein Pfefferminzsäckchen geschenkt.“ Syntaktische und rhetorische Verwirrspiele wie der für den Expressionismus typische Reihungsstil verfehlen im Kontext des historischen Romans ihren semantischen Abbildungswert, visualisieren jedoch die menschenreiche chinesische Szenerie aus Magie, Aberglaube und Kriegen. Stilmittel wie das Zeugma übertragen gleichzeitig zu ihrer expressionistischen Nähe kubistische Dimensionen auf das ästhetische Schreiben: „Die lustige Maske fiel ihm ein, und daß dies alles vorbei sei; und im selben Moment hatte er eine Bewegung in seinen Muskeln gefühlt: die Maske gefaßt und über den Kopf des Tou-ssee gestülpt, erdrosselt, weggeworfen. Dies war gut. Er war glücklich. Über den Kopf stülpen die Maske dem Tou-ssee, und dann weg. Über den Kopf des Tou-ssee gestülpt, dann weg, weg. So war der Mord geschehen unter seinen freudigen, delirierenden Händen und Armen.“ (S. 46/44-45) „Die Sonne war untergegangen. Ma-noh lehnte, bis die graue Dämmerung heraufzog, gegen die Bretterwand seiner Hütte, zählte, rechnete, blickte durch die hohle Hand nach den Sternen, griff sich an die Brust, lag mit der Stirn am Boden“. (S. 135/130)

Die Simultantechnik, die hier verwendet wird, unterscheidet sich von den klassischen Beispielen dieses „expressionistischen“ Schreibens (Trakl, van Hoddis) vor allem in der semantischen Diskrepanz der syntaktisch unmittelbar aneinandergereihten Elemente bei einer analog exakt bestimmten

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grammatischen Zuschreibung des Subjekts. Versuchte man, die einzelnen Bewegungen und Haltungen Ma-nohs in einem einzigen Bild zu imaginieren, entsteht ein dem kubistischen Gemälde verwandtes Moment der Verzerrung und Übereinanderschichtung von Körperteilen. Die simultane Darstellung zeitlich divergenter Bewegungen des Priesters entspricht dem Imaginierungs- und Verwirrungspotential des Zeugmas, das wiederrum der Perspektivensimultanität des Kubismus ähnelt. Auf diese „Darstellungsprinzip[ien]“14 verweist im Rahmen des Einflusses von Marinettis Futurismus Andreas Solbach in seinem Nachwort zur textkritischen Ausgabe. Diese zielen darauf, „die vollständige Gegenwart eines Objekts durch gleichzeitige Repräsentation aller Aspekte zu ermöglichen, denn die futuristische Technik, den linearen Ablauf einer Bewegung als Bewegung in der bildlichen Gleichzeitigkeit zu repräsentieren, ist literarisch nicht möglich. Im Medium des Wortes ist die Abfolge in der Zeit im Rezeptionsakt nicht aufzuheben. Die literarische Darstellung des disparaten Gleichzeitigen kann immer nur durch künstlerische Techniken wie die Montage oder die Darstellung eines kollektiven Bewußtseins geschehen.“15 Solbach wählt zur Veranschaulichung die Ermordungsszene Su-kohs: „Fünf Säbel fuhren dicht nacheinander durch die Luft, zehn Schritte vor ihm, wohin er sah. Und dann ein graues Durcheinander, Übereinander. Su-koh, sein ernster Bruder, lag ungerettet auf der Straße. Su-koh war sein Bruder. Su-koh war ungerettet geblieben. Su-koh lag auf der Straße. An der Mauer. ‚Wo ist denn die Mauer?‘“ (S. 41/39)

Die rezeptionsbedingte lineare Abfolge analoger Eindrücke wird syntaktisch, anaphorisch und graphisch parallel angeordnet und erinnert folglich an einen kubistischen Darstellungsstil. Dabei übernimmt die abschließende direkte Rede die Rezeptionshaltung bei der Betrachtung kubistischer Malerei und Skulptur, bei deren „Durcheinander, Übereinander“, das basale Ab-

14 Solbach, Andreas: Nachwort. In: Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wanglun. Chinesischer Roman. München 2007. S. 669. 15 Ebd.

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gebildete zu verschwinden droht. Wenn Carl Einstein in seinem Negerplastik-Traktat, einem Gründungsdokument des Kubismus, schreibt: Das Werk, es „bedeutet nichts, es symbolisiert nicht; es ist der Gott“16, „ein vollständig erschöpfter, totaler und unfragmentarischer Raum muß gegeben und verbürgt sein“17, so gibt der Text an dieser frühen Stelle die Problematik des geschriebenen Wortes gegenüber einer solchen Forderung der bildenden Kunst preis und scheint sich mit seinen defizitären Abbildungsmöglichkeiten abzufinden. Es waren für Einstein Skulpturen afrikanischer und ozeanischer Kulturen, für Gaudier-Brzeskas Vortizismus die Logogramme, die neue Darstellungsformen des undifferenzierten göttlichen Kunstwerks evo-

16 Einstein, Carl: Negerplastik. Leipzig 1915. S. XV. 17 Ebd. S. XIII. – „Der Künstler erarbeitet ein Werk, das selbstständig, transzendent und unverwoben bleibt. Dieser Transzendenz entspricht eine räumliche Anschauung, die jede Funktion des Beschauers ausschließt; ein vollständig erschöpfter, totaler und unfragmentarischer Raum muß gegeben und verbürgt sein. Abgeschlossenheit des Raumes bedeutet hier nicht Abstraktion, sondern ist unmittelbare Empfindung. Die Geschlossenheit ist nur garantiert, wenn das Kubische völlig geleistet ist, dem nichts hinzugefügt werden kann. Die Aktivität des Beschauers kommt nicht in Frage.“ – Ebd. S. XIII-XIV. – Einsteins Aufwertung der afrikanisch-ozeanischen Kunst geht einher mit einer Kritik an der europäischen Skulptur, in der durch die „gänzliche Vermischung des Malerischen und Plastischen“ (S. IX) das „Dreidimensionale […] wegempfunden“ (S. X) wurde. „Die Plastik war Konversationsstoff zweier Menschen“ (S. X-XI); oder anders formuliert: Dadurch, dass sich der europäische Künstler beim Kreationsakt einem Rezeptionseffekt verschreibt, wird er selbst zum Betrachtenden und verliert die Möglichkeit sein Werk „als stärkste[n] Realismus“ (S. XII), als Gott zu schöpfen. Die gelungene Plastik bedeutet nichts von sich heraus, ist als Gott stets inkommensurabel und „stellt eine klare Fixierung des unvermischten plastischen Sehens dar. […] [D]ieses Dreidimensionale, das nicht in einem Blick gefaßt wird, soll ja nicht als vage optische Suggestion, vielmehr als geschlossener, tatsächlicher Ausdruck gebildet werden.“ (S. XVII) – Damit entkoppelt sich kubistische Kunst zum einen von einer intentionierenden Instanz Künstler und zum anderen von der Möglichkeit erschöpfender Deutung durch einen hermeneutischen Rezeptionsakt. Beide Facetten der Kunsttheorie werden im Folgenden auch in Döblins Roman eine übergeordnete Rolle spielen.

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zierten.18 Und gerade die Schriftlichkeit der Logogramme bildet bei Döblin den Übergang kubistischer Gemälde und Skulptur zur Literatur. Der Tod von Su-koh wird an späterer Stelle erneut durch zweifache Wiedererzählung, einmal durch Wang-lun selbst, einmal erneut durch die Erzählinstanz, bedeutungsvoll. „Ich will euch alles erzählen, von Su-koh, so hieß er“ (S. 76/73), leitet Wang seine Geschichte ein, in der mittlerweile der Moment der Säbelhiebe mit Hilfe einer ambiguen Deixis zu einem einzigen Satz verdichtet werden konnte: „Dann haben sie ihn eben, wie er sich umdrehte, mit fünf Säbeln totgeschlagen.“ (S. 77/74) Doch eine therapeutische Bewältigung setzt mit diesem Wiedererzählen der Begebenheiten nicht ein. Im Gegenteil: „Wang hatte die Haltung eines kranken Kindes angenommen“ (S. 77/74). Erst jetzt schaltet sich der auktoriale Erzähler ein und berichtet von Wangs Seelenzustand, wie sich die Erinnerung an den Mord erneut manifestiert, „das Entsetzen vor dem Verborgenen, das ihm vor Gesicht kam, das er nicht sehen wollte, nicht jetzt schon, vielleicht später, viel viel später. Die fünf Säbel und die kleine Mauer führen vor seinen Augen zusammen, immer erneut, jede Stunde jede Minute: es war nicht zu ertragen, es mußte überdeckt, vergraben werden.“ (S. 78/75) Was sich hier psychoanalytisch als Bewältigung eines Traumas deuten ließe, wird ebenso lesbar als kubistischer Rezeptionsakt, in dem die disparaten Einzelteile wieder zu einem Gesamtbild in Wang werden und die gleichzeitige Angst vor der abschließenden Zusammenfügung und Erschöpfung des Bildes. Die drei Sprünge des Wang-lun als Experimentierfeld mit den stilpluralistischen Tendenzen einer nach-idealistischen Kunstepoche verstanden, etabliert bereits neue narrative Techniken sowie erste Ausprägungen des späteren Montagestil von Döblin. Otto Keller zeigt dies an der Stellung des Titelhelden im Roman. Mittels einer geradezu sachlichen Biographie Wang-

18 Ezra Pound schreibt in einer Anmerkung seiner Fenollosa-Ausgabe: „GaudierBrzeska sat in my room before he went off to war. He was able to read the Chinese radicals and many compound signs almost at pleasure. He was of course, used to consider all life and nature in the terms of planes and of bounding lines. Nevertheless he had spent only a fortnight in the museum studying the Chinese characters. He was amazed at the stupidity of lexicographers who could not discern for all their learning the pictorial values which where to him perfectly obvious and apparent.“ – Fenollosa (1920). S. 385.

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luns zu Beginn wird der Anschein erweckt, das Epos reihe sich selbst in die Traditionslinie deutscher Bildungsromane ein. Die Brechung dieser Erwartung geht einher mit der im Text realisierten und in seinem Berliner Programm (An Romanautoren und ihre Kritiker) theoretisch evaluierten Forderung: „Die Hegemonie des Autors ist zu brechen.“19 Durch die Destabilisierung der Leitinstanz Autor und die Auflösung der im realistischen Roman gefestigten Standpunkte ‚Erzählinstanz‘ und ‚Held‘ ergeben sich für die Leserschaft folgenreiche Neuerungen. Die Leser können „sich nicht mehr durch Identifizierung mit einem Helden oder doch einem ihm zugespielten Standpunkt eines Erzählers dem Sinnzentrum nähern und sich gleichzeitig über die Dinge erheben. Im Gegenteil: er wird über Figur und Erzähler an ein ambivalentes Feld von Kräften herangeführt, wird einem neuartigen Spannungsfeld ausgeliefert und so als Ich selbst verunsichert.“20 Dieser Verwirrungsaspekt wird durch die Brechung des hegemonialen auktorialen Standpunktes in den zahlreichen Massenszenen der Kriege, Versammlungen, Märsche und Orgien als „stream[s] of images flowing before the reader“ als „product[s] of a mediating consciousness“21 unterstützt: „Jäh wich in der Tartarenstadt das Jubeln zurück vor dem durchdringenden Pfeifen der Mandschureiter, dem bodenschwingenden Trappeln von Pferden. Der zehntausendfache Wehe- und Wutschrei zwischen den beiden Mauern. Schrittweises Zurückkeuchen hinter Pyramiden von Leichen. Das obere Nordtor preßte die Fliehenden zusammen und zermanschte sie. Die Kaiserstadt erbrach die Rebellen. Die Gräber rollten sie kopfüber herunter. In die Tartarenstadt geschoben wurden sie den Hufen der braunen Pferde preisgegeben. Von zwei Seiten posaunten sie Todesschreie zum Himmel. Stirn und Rücken zerfleischten die krummen Mandschusäbel. Dann kam ein Zittern in die willenlose Masse. Ein tiefes, ausholendes Atmen. Das Platzen eines Kessels.

19 Döblin, Alfred: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm. In: Der Sturm. Halbmonatsschrift für Kultur und die Künste. Jg. 4, Nr. 158/159 (Mai 1913). S. 18. 20 Keller, Otto: Döblins Montageroman als Epos der Moderne. Die Struktur der Romane Der schwarze Vorhang, Die drei Sprünge des Wang-lun und Berlin Alexanderplatz. München 1980. S. 134. 21 Collins (1990). S. 94.

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Die Front der Berittenen war im Nu zerrissen. Der Elan der letzten Wut zerstob die Mandschus.“ (S. 452/437-438)

Obgleich dieses Kriegsszenario eine eindeutige Zuordnung der stilistisch vermittelten Kriegswirren und der abermaligen Niederlage der Revolutionsarmee offeriert, verliert sich durch die Subtraktion eines Subjekts die Übersicht über das Geschehen; am deutlichsten in den drei gestaffelten Sätzen über die „willenlose Masse“. „In other words, the effect of this dissolution of language patterns is to suggest the immediate nature of the events as perceived by the narrator; the narrator places himself in the midst of the action, to the extent that he has not the leisure to describe in more than impressionistic detail the scene surrounding him.“22 Anstatt zu versuchen, die komplexe Realität mimetisch abzubilden, narrativ zu ordnen und damit zu erklären, wird ein impressionistisches Abbild der Komplexität selbst angestrebt. Das stilpluralistische Experimentierfeld wird zusammengeführt in der Eintrittsszene des Kaisers Khien-lung zu Beginn des dritten Kapitels, die zugleich ein Gespräch über die neuere Dichtung sowie die künstlerische Verwendung chinesischer Logogramme darstellt. Der Himmelssohn, ein alternder Mann, verwirrt, abergläubisch, launisch, zeitweise an seiner eigenen Göttlichkeit und damit am Fundament des chinesischen Staatshauses zweifelnd, wird bis zu seinem missglückten Selbstmord hin mit allen gangbaren Requisiten eines Décadents ausgestattet und seinem vitalen, renaissancistischen Sohn entgegengehalten. Auf der Rückreise zur Hauptstadt Peking zusammen mit seinen Vertrauten Hu-chao, dem „Oberaufseher der kaiserlichen Eunuchen“, und dem „Direktor des Ritenministeriums“ Song unterhält er sich interessiert über die gegenwärtige Dichtung. „Sie [zuerst nur Song und Hu-chao] plauderten über die Zartheit, mit der ein junger eben aufkommender Dichter die Schwermut der Silberpappeln behandelt habe und wie ihm ein paar interessante Verse geglückt seien über das alte Thema einer Mondscheinfahrt auf dem Weiher. Hu, obwohl nicht gebildet wie der Akademiker Song, erging sich in Lobsprüchen über die strenge Form dieses Gedichts, über die wunderbaren, zum Teil neuen Charaktere, die der Dichter gemalt hätte.“ (S. 297/286)

22 Ebd.

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An dieser Stelle beginnt eine Diskussion über die höfische Dichtung mit der übernationalen wie gängigen Abwägung der Originalität aktueller Poesie gegenüber einer jahrtausendealten Tradition. Hu verlegt diese Frage vollständig in die formale Kategorie, wenn er von einem „alte[n] Thema“ in „neuen Charaktere[n]“ schwärmt, wobei die Wortwahl „Charaktere malen“ auf den bildnerisch-kalligraphischen Aspekt einer chinesischen Lyrik deutet. Ein Gedankengang, der sich im Rahmen europäischer Phantasien über eine genuin chinesische Dichtung anbietet, jedoch nicht auf die europäische Kunst übertragbar scheint. Eben mit solchen Bedenken, nur aus einer anderen Perspektive heraus, beginnt auch der Kaiser sich in das Gespräch einzumischen: „‚[...] Exellenz Hu meinten, in wie wundervollen Charakteren der junge Verfasser das Gedicht niedergeschrieben hätte. Ich hatte vor Monaten in Pe-king das Vergnügen, einen Missionär der Jesureligion zu sprechen. Die rothaarigen Völker sind barbarischer, als man bei uns weiß. Sie erzählten mir in ihrer aufdringlichen Händlerart vieles; auch von ihren Dichtern. Diese Herren schreiben, wie es ihnen gefällt. Die Handschrift ist für die Dichtung belanglos. Dichter kann sogar ein schreibkundiger Bauer sein.‘ ‚Es ist lächerlich, Majestät‘, meinte der greise Song, ‚die westlichen Langnasen sind eben, – die Ameise hätte bald gesagt: Strolche. Wie einsichtslos überhaupt, uns von ihren sogenannten Dichtern zu erzählen.‘“ (S. 297/287)

Die Schlussfolgerung als chinesischer Kaiser und Poet die phonetische Dichtung zu tadeln ist milieulogisch bedingt. Viel interessanter erscheint an dieser Stelle, dass eine fundamentale Aussage über die chinesische Schrift, die bis ins 20. Jahrhundert hinein deutliche Auswirkungen auf philosophische Ideen und Abhandlungen hatte, umgekehrt wird: Denn Descartes faszinierte in Anlehnung an Leibniz über eine philosophische und damit von der Historie unabhängige Schrift auf Basis des Chinesischen: „Nun halte ich aber dafür, daß diese Sprache möglich ist und man die Einsicht finden kann, von der sie abhängt, mit deren Hilfe die Bauern besser über die Wahrheit der Dinge urteilen könnten, als es heute die Philosophen tun.“ 23 Döblins Khien-lung spricht dem ländlichen Volk Chinas dann auch unmittelbar die Möglichkeit eines kreativen Umgangs mit der Natur mittels

23 Zitiert nach: Derrida (1983). S. 137.

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der soziologischen Begründung ab, „ein Bauer, ein Bettler“ könne gar nicht die Zeit erübrigen, den ästhetischen Bildern gegenüber Respekt zu zollen, und sei zu arm, die erlesensten Materialen für die Dichtung bereitzustellen: „Das schönste weicheste Papier muß dienen; für den Pinsel steht Tusche aus tiefstem Rot und Schwarz bereit. Und jetzt male ich die Charaktere. Das sind keine Mitteilungen, obwohl sie auch Mitteilungen dienen; runde beziehungsvolle Bilder, Anklänge an die Bücher der Weisen, schön in sich, schön gegeneinander. Diese Bilder sind selbst kleine Seelchen, und das Papier nimmt an ihnen teil.“ (S. 298/288)

An dieser Stelle wird den Logogrammen eine universalistische Funktion zugeschrieben: Sie sind gemaltes Kunstwerk, normative Kommunikationsmittel, etymologisch wie intertextuell gesättigte Verweisspiele 24 und kulturelles Gedächtnis, optische Gemälde für sich und in Interaktion mit dem ganzen literarischen Text. Diese Darstellung erhebt die Rezeption chinesischer Dichtung auf eine weit höhere ästhetische Ebene, da sie formal, inhaltlich und graphisch ein höchst komplexes Gewebe darstellt. Dem wird erneut die westliche Literatur entgegengestellt, diesmal vom Direktor des Ritenministeriums Song: „[I]ch Dummkopf habe mir von unserem Astronomen, dem Portugiesen, gleichfalls sagen lassen, daß man im Westen schreibt wie man spricht. Was natürlich ebenso bequem wie einfältig ist.“ (S. 299/288) „Bequem wie einfältig“ bittet Song nun, den Zug nach Peking für eine Rast zu stoppen und beendet damit die Diskussion abrupt durch die Verstimmung des Kaisers über diesen Halt. Aus der Perspektive der handelnden Figuren, den Mitgliedern eines Hofes, an dem der Kaiser göttlichen Ursprungs ist, ist die Hochwertung der

24 Das, was Fenollosa als „nimbus of meanings“ bezeichnet. The „ideographs are like blood-stained battle-flags to an old campaigner.“ Im Chinesischen „etymology is constantly visible. It retains the creative impulse and process, visible and at work. After thousands of years the lines of metaphoric advance are still shown, and in many cases actually retained in the meaning. Thus a word, instead of growing gradually poorer and poorer as with us, becomes richer and richer and still more rich from age to age, almost consciously luminous. Its uses in national philosophy and history, in biography and in poetry, throw about it a nimbus of meanings.“ – Fenollosa (1920). S. 379-380.

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chinesischen Dichtung und Kalligraphie verständlich und die Abwertung einer phonetischen Parallelkunst schnell erschöpfend erklärt. Der „Chinesische Roman“ verführt die Leserschaft zur voreiligen Annahme, sich durch die Lektüre in einem fiktionalen chinesischen Sinnkosmos zu befinden, in dessen Grenzen sich die Handlung abspielt, und jongliert stetig mit der Pseudoreferenz als vermeintliche „Nachbildung eines chinesischen Originals“25. Als solch eine (fingierte) Übersetzungsleistung begriffen, befindet sich als Begründungskontext der experimentellen Schreibart stetig die Urfassung in eben dieser kalligraphischen und grammatologischen Sprache im Rezeptionsvorgang mitgedacht. Das, was die chinesischen Literaturkenner und Literaten poetologisch diskutieren, wird damit zur möglichen Ausgangssituation des Romans und die fremd-attestierte Defizienz der phonetischen Schriften wird zum problematisierten Hintergrund des Experimentierfelds namens Die drei Sprünge des Wang-lun, das sich damit auf dem Tableau der modernen Sprachkrise platziert. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass sich der Erzähler aus der „Zueignung“ immer wieder in seinem stilistisch divergenten Text zur Schau stellt. Dies geschieht durch die Resonanzkörper des punktuell integrierten modernen Vokabulars sowie durch die wenigen vorausdeutenden Einschübe – Wang „übernachtete einmal in Lint-sing, der Stadt, in der er sterben sollte.“ (S. 93/89) –, Kommentare zur eigenen Schreibpraxis – „Was auf dieser Versammlung besprochen wurde […] ist kurz berichtet.“ (S. 87/83), „davon später.“ (S. 215/207), „Was an diesem Tage abends sich weiter in der Purpurstadt begeben hat, ist in Details nicht bekannt.“ (S. 306/295) – oder Angaben bezüglich einer fingierten Faktizität – „Der weitere Verlauf ist bekannt.“ (S. 230/221), „Dieses Fest ist vielfach beschrieben worden; es wurden Gedichte darüber gemacht, auch Khien-lung nahm in einigen späteren Bezug darauf. Es liegen fast nur phantastische Entstellungen des Vorgangs vor.“ (S. 240/230), „Viel ist später über die Fahrt dieser fünf einfältigen Brüder nach dem Hia-ho, wo Wang-lun wohnte, gefabelt worden. Wahr ist sicher, daß man in allen Städten und Orten hinter ihnen tuschelte“ (S. 390/378). Diese im chinesisch-historischen Text platzierten Fremdkörper, die den vordergründig eng gewobenen, mit chinesischer Bildersprache verdichteten Roman immer wieder stören und die scheinbar kohärente Oberfläche sprengen, sind auch der vornehmliche Grund, dem Gespräch

25 Schuster u. Bode (1973). S. 25.

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des höfischen Dreigespanns eine zweite Deutung anzuvertrauen. Denn nach wie vor ist dieses Gespräch eben nicht in den so gerühmten Schriftzeichen und im analytischen Chinesisch wiedergegeben, sondern im lateinischen, phonetischen Alphabet in deutscher, synthetischer Sprache. Die Rede der Figuren als Aussage zu akzeptieren, hieße den poetologischen Suizid phonetischer Dichtung, vornehmlich der Lyrik, die nie in Konkurrenz zu „Gedichte[n]“ und der „stürmische[n] und doch gehaltene[n] Prosa“ (S. 303/292) einer Hofdame Hai-tang treten könnte, zu riskieren. Dass die kalligraphische Anordnung, das Bildhafte eines Gedichts, sich durchaus auch in technisch reproduzierten Ausgaben phonetischer Sprachen widerspiegeln kann, hatten zu Döblins Zeiten bereits Gedichte von Mallarmé oder George bewiesen und wurde im direkten Anklang an chinesische Logogramme wenig später von Ezra Pound angewandt. Schwieriger wird es scheinbar mit dem polyphonen Charakter der Zeichenarrangements, die „das alte Thema einer Mondscheinfahrt auf dem Weiher“ (S. 297/286) innovativ zu kleiden vermögen. Das phonetische Zeichen ist an sich nie ambivalent, seine Funktion ist eindeutig, es ist kein „kleine[s] Seelchen“ (S. 298/288), das intertextuelle Verweise auf große Klassiker ermöglicht. Das chinesische Logogramm ist nach der Auffassung der Figuren ein kubistisches Gemälde, eine Momentaufnahme, die unzählige einzelne Blickwinkel und (teils widersprüchliche) Verweise in sich bündelt. Solche Gedanken sind es, die Günter Eich später für seine Lyrik zusammenfasste: „Ja, auch ich empfinde eine gewisse Verwandtschaft überhaupt des Gedichts zu einem chinesischen Schriftzeichen, worin also der Sinn konzentriert ist, wo nicht alphabetisch oder lautlich das Wort ausgedrückt wird, sondern durch ein Sinnbild; also in äußerster Komprimierung.“26 „Äußerste Komprimierung“ und Textualisierung ästhetischer Paradigmen des Kubismus weisen Die drei Sprünge des Wang-lun in deutlicher Menge auf. Dadurch, dass der Roman sich als ein Experimentierfeld neuer Schreibformen entblößt, die sich keiner der Ismen der Jahrhundertwende eindeutig zuordnen lassen – Walter Muschg spricht von einer avantgardistischen „Kriegserklärung an die bürgerliche Kunst des Jahrhundertbeginns“27 –, steht das Gespräch des chinesischen Adels an signifikanter Stelle.

26 Eich (1991). S. 483. 27 Muschg (1960). S. 491.

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Auf Döblins dezidiertes Interesse an der chinesischen Schrift wurde in der Forschung bereits verwiesen: „Das Deckblatt eines Einzelexemplars des Prosastückes ‚Der Überfall auf Chao Lao-sü‘, das Döblin nach Mitteilungen von Robert Minder und Walter Muschg eigentlich als ‚geschichtliche Exposition‘ zu seinem chinesischen Roman veröffentlichen wollte, später aber unterdrücken ließ, zeigt eine prachtvolle chinesische Überschrift, die mit dem Pinsel kalligraphisch geschrieben ist. Sie heißt wörtlich: ‚Wang Lun San Yüeh Chi‘ also ‚Die Geschichte der drei Sprünge des Wang Lun‘.“28 Das Logogramm als kubistisches Kunstwerk und zugleich konventionelles Zeichen ermöglicht es, die Stildiversität des Romans von einem neuen Blickpunkt aus zu betrachten. Die Gleichzeitigkeit von Perspektiven in Picassos Les Demoiselles d'Avignon, von ästhetischen und sachlichen Informationen in Khien-lungs Begriff des Logogramms oder in rhetorischen Momenten wie dem Zeugma erweisen sich aus einer strukturellen Betrachtungsebene heraus als äquivalent mit der rhetorischen Pluralität des Romans. Durch Vermischung sensueller Reize wird dies bereits in der Zueignung aufgerufen: „Daß ich nicht vergesse –. Ein sanfter Pfiff von der Straße herauf. Metallisches Anlaufen, Schnurren, Knistern. Ein Schlag gegen meinen knöchernen Federhalter. Daß ich nicht vergesse –. Was denn? Ich will das Fenster schließen. Die Straßen haben sonderbare Stimmen in den letzten Jahren bekommen. Ein Rost ist unter die Steine gespannt; an jeder Stange baumeln meterdicke Glasscherben, grollende Eisenplatten, echokäuende Mannesmannröhren. Ein Bummern, Durcheinanderpoltern aus Holz, Mammutschlünden, gepreßter Luft, Geröll. Ein elektrisches Flöten schienenentlang. Motorkeuchende Wagen segeln auf die Seite gelegt über das Asphalt; meine Türe schüttern. Die milchweißen Bogenlampen prasseln massive Strahlen gegen die Scheiben, laden Fuder Licht in meinem Zimmer ab.“ (S. 7/7)

28 Dscheng, Fang-hsiung: Alfred Döblins Roman Die drei Sprünge des Wang-lun als Spiegel des Interesses moderner deutscher Autoren an China. Frankfurt am Main 1979. S. 200.

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Mit diesem – von der wiederholten kognitiven Selbstreferenz eingerahmten – Übergang von akustischen Reizen zu einem taktilen Erleben beginnt Döblins Roman. Dabei kommen dem abgebrochenen mnemotechnischen Gedanken „Daß ich nicht vergesse –.“ zwei Funktionen zu: zum einen die Darstellung der subjektiven Verwirrtheit und Unfähigkeit zur linearen, stringenten Reflexion und Ordnung des Denkens gegenüber dem hereindringenden Lärm, Licht und Beben. Zum anderen gibt er aber auch den Modus einer alinearen Lektüre wieder. Es ist ein Wiederholen, Rekapitulieren und verwundertes Überdenken, das der Ich-Erzähler hier exemplifiziert und das an die Leser herangetragen wird durch das simplifizierende und ambivalente Angebot einer Antwort im Schließen des Fensters. Es ist nicht nur die bloße Forderung, sondern der dargestellte Zwang einer Textlektüre, wie sie Döblin beispielsweise paradigmatisch (rückbesinnend, selbststilisierend) über seine Erfahrung mit Proust oder Dostojewskis Der Idiot29 berichtet und wie er sie 1917 in seiner Formulierung des Romans als zerteilbarer „Regenwurm“30 theoretisch fixieren wird. Was der Erzähler/fiktive Autor nun vergessen hat, wird innerhalb des zweiseitigen Prologs nicht aufgeklärt, ja die Frage selbst wiederum sogar bewusst in Vergessenheit gedrängt durch die phantasmaorgiastische, neologistische Schilderung – Neologismen, welche mit den vom kaiserlichen Gefolge so gerühmten „neuen Charakteren“ (S. 297/286) korrelieren – der hereindringenden Großstadt durch das geöffnete Fenster. Denn der Erzähler

29 „Ich betrachte das Buch wie eine Landschaft, aus der ich Eindrücke ziehe – ich schlendere da nur herum, geographisch abgegangen bin ich die Landschaft nicht. So geht es mir mit den wenigen wichtigen Büchern, die mir begegnet sind: ich lese sie nicht, ich halte sie nur vor mich, lese und lese an einer Seite, tagelang an derselben, vermag auch dann noch keinen ‚Inhalt‘ anzugeben, aber ich bleibe dabei, und es ist eine ungeheuer wichtige Beschäftigung für mich. Ich liege in einer Art Dummheit da, aber ich kann mich nicht dazu aufschwingen, zu ‚lesen‘. Den ‚Idiot‘ von Dostojewski habe ich fast zwei Jahre (vor 20 Jahren) mit mir herumgeschleppt, ich habe immer dies oder jenes Gespräch aufgeschlagen und kam davon nicht los. Es wäre mir absurd und profan erschienen, hier richtig zu lesen wie in einem Buch.“ – Döblin, Alfred: Mit dem Blick zur Latinität. In: Deutsch-französische Rundschau. Bd. 3, H. 5 (Mai 1930). S. 359. 30 Döblin, Alfred: Bemerkungen zum Roman. In: Die neue Rundschau. Jg. 27, Bd. 1 (1917). S. 411.

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hat keinen Vorzug vor den anderen Menschen, er ist nicht in einer hierarchischen Gottesposition, wie seine Metaphorik verrät. Obgleich er die als Hunde animalisierten Menschen von der Ferne, aus dem Fenster hinaus umrahmt, betrachtet, ruft er aus: „O, ich kenne das. Ich, vom Wind gestriegelt.“ (S. 8/8) Mehrmals wird in der Zueignung das Thema „Zeit“ aufgegriffen. Am eindringlichsten als der fiktive Schreiber die lineare Zeitstruktur des Fortschritts ad absurdum führt, indem er im naturwissenschaftlichen Sinne die „zweitausend Jahre“ europäischer Menschheitsgeschichte als „ein Jahr“ (S. 8/8) der Weltgeschichte betrachtet. Damit wird zum einen die historische Dimension des Romans legitimiert, zum anderen aber auch die Sinnhaftigkeit einer linearen Lektüre insofern hinterfragt, als die zur Selbstverständlichkeit erhobene gradlinige Rezeption eines Textes einer Inkohärenz des Zeitverlaufs gegenübergestellt wird. Es ist eine Art der Lektüre, wie sie auch in den Geheimbotschaften der „Weißen Wasserlilie“ Erwähnung findet, in denen „je nach einem mündlich zu übermittelnden Zeichen nur der dritte und dann der siebente Charakter gelesen wurde; von einem bestimmten Zeichen an jeder zweite und dann der vierte.“ (S. 181/174) Und sie ist auch derart, wie es der stetig durch zeitgenössisches Vokabular durchbrochene, historisch-chinesische „barocke[] Metaphernreichtum“31 durch seine komplexe, Jahrhunderte vertauschende Systematik evoziert und somit den sonst so verhaltenen Erzähler aus der Zueignung in den Vordergrund drängt. Demnach erweitert sich Muschgs These einer „Kriegserklärung an die bürgerliche Kunst des Jahrhundertbeginns“32 zu einer Destruktion der Geschlossenheit des Romans im Sinne eines bürgerlichen Literaturkanons. Signifikant wird dies an der Brechung des evozierten Schemas eines Bildungsromans über das am Leben zu bildende Individuum Wang-lun. Wird dieser im ersten Kapitel ganz nach den Formprinzipien Anton Reisers oder Wilhelm Meisters von Kindheit an begleitet, verschwindet er im zweiten und dritten Kapitel beinahe komplett aus der Handlung, um im letzten Teil klanglos in der Masse der Revolutionsarmee zu sterben. Analog dazu wird eine große Zahl von Mitgliedern der Sekte mit oftmals detaillierten Biographien eingeführt, um später keinerlei Erwähnung mehr zu finden. Doch

31 Muschg (1960). S. 494. 32 Ebd. S. 491.

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grade diese Destruktion des Linearen und Vertrauten wird in sich selbst wieder zum Programm. Das avantgardistische Schreiben endet nicht in der Auflösung alter Formen, sondern wird zugleich Wegweiser in ein neues Lesen. Das Experimentierfeld ist damit trotz der Disparatheit seiner einzelnen Versuchsaufbaue in seiner Gesamtheit noch ein Feld, das es zu erforschen, von dem zu lernen gilt. Oder in Döblins eigener Metaphorik: „Ich betrachte das Buch wie eine Landschaft, aus der ich Eindrücke ziehe – ich schlendere da nur herum, geographisch abgegangen bin ich die Landschaft nicht. […] Es wäre mir absurd und profan erschienen, hier richtig zu lesen wie in einem Buch.“33 Das fiktionale China des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts in Die drei Sprünge des Wang-lun gibt sich als hochgradig literarischer und literarisierter Raum zu erkennen. Die Logogrammschrift ist nicht nur künstlerisches Medium wie für den Kaiser und seinen Hof, sondern auch religiös-kultisch34, spiritualistisch-medizinisch35 sowie agitatorisch-geheimbündnerisch besetzt. Kalligraphische Technik erweist sich ebenso wie poetischer Enthusiasmus und Kunstkenntnis als Ausdruck von Bildung und Stand. Sowohl für einfache Fischer wie Wangs Vater und sein stolzes und wirksames Holzschild als auch für die Bediensteten „von einer gewissen Bildung“ am Hof, die „saubere Charaktere“ (S. 65/63) malen. Analphabetismus scheint im chinesischen Volk zu einer Zeit, in der in Westeuropa eine allgemeine Schulpflicht noch nicht eingeführt wurde, inexistent. Im Gegenteil; die Wirkung des Mahnschildes, das „alle in der Stadt“ bei der Hinrichtung eines Verräters warnt, „sich ein Beispiel an dem Tao-tai [zu] nehmen“ (S. 472/457), kann sich nur gemäß einer allgemeinen Alphabetisierung entfalten. Lesen und Schreiben, Akte, die den Gesprächen

33 Döblin (1930). S. 359. 34 „Sie schleppten die beiden Besinnungslosen vor das Tor eines verfallenen Hauses, malten ihnen mit Erde das Zeichen der fünf bösen Dämonen auf die Stirn.“ (S. 341/329) 35 „Die Ärzte bestrichen den Leib des Kranken mit Safran; sie banden seine Hände zusammen, hielten seine Ellenbogen und brannten siebenmal seine rechte und linke Seite mit dem trockenen Stengel von Moxaholz, das sie in Hanföl tauchten. Die Papierfenster bekritzelten sie mit roten Zeichen, die Wände, die Schwelle.“ (S. 361/348)

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des Kaisers zufolge in China per se ästhetische Qualität besitzen, verweben sich eng mit den sozialkritischen und politischen Themen des Romans. Literaten, Zensoren und Kritiker, vom Erzähler stetig in mnemotechnischer Wirkung erwähnt, beherrschen das Land ebenso wie der Kaiser und seine Minister und Generäle. Der Kronprinz selbst gibt zu bedenken, dass seine Ernennung als neuer Herrscher „ohne Verdienste, ohne literarische Ehren, unfähig den Bogen zu spannen, das Pferd zu besteigen“ (S. 446/432) verfrüht sein könne. Qiánlóng/Khien-lung selbst war Zeit seines Lebens ein äußerst produktiver Literat, auf dessen Werke und seine Stellung im kulturellen Gedächtnis Chinas und auch des Westens36 mehrfach Bezug genommen wird. So ist der Hof des energischen Kunstsammlers bis in die Details der „Porzellanschälchen“ (S. 310/299) und der Teezubereitung (S. 310/ 299-300) durchliterarisiert. Die einleitenden Worte von Hans Heilmanns populärer Sammlung Chinesische Lyrik klingen hier an, in denen es heißt: „Konfucius selbst, die glorreichsten Kaiser wie Han-Wu-Ti, Yüan-Ti, Kien-Lung u.a. waren Dichter; Gedichte haben über die Geschichte des Staates entschieden, Minister gerettet und gestürzt; nach den Gedichten, die im Volke verbreitet waren, beurteilten in früher Zeit die Kaiser auf ihren Inspektionsreisen die Geistesrichtung,

36 „Dieses Fest ist vielfach beschrieben worden; es wurden Gedichte darüber gemacht, auch Khien-lung nahm in einigen späteren Bezug darauf. Es liegen fast nur phantastische Entstellungen des Vorgangs vor.“ (S. 240/230) Vgl. auch eine der bedeutendsten Bezugsquellen Döblins: „Noch eifriger als Kang Hi, war auch Kien Lung literarisch tätig und Europa erfuhr zugleich mit seinem Kaiserruhm von seinem Dichterruhm. Im Jahre 1770 erschien bei Lacombe in Paris das nun seltene Buch ‚Éloge de la Ville Mookden et de ses environs, traduit en François par le P. Amiot, missionaire à Péking‘ und ‚Kien-Long. Empereur de la Chine et de la Tartarie‘ war der Verfasser der übersetzten Verse. […] Mehrere längere Stücke wurden auch in die meisten Sprachen des Ostens übersetzt und trugen den Dichterruhm des Kaisers unter seine nichtchinesischen Untertanen. Der Preis der Stadt Mukden wurde auch in Europa in seiner mandschurischen Fassung bekannt“. – Hauser, Otto: Die chinesische Dichtung. Berlin [1908]. S. 58-59. – Interessanterweise ist das Schlagwort „Mukden“ zur Zeit der Veröffentlichung Hausers und der Schreibphase Döblins vorwiegend durch den russisch-japanischen Krieg und die dort stattgefundene Schlacht besetzt und gerade nicht als nationalgeschichtlicher Bezugspunkt Chinas geläufig.

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Sitten, Verwaltung, die in den Provinzen herrschten, und verfügten danach Lohn und Strafe über die Behörde.“37

Indessen ist nicht nur der Hof des Dichters und Drachensohns Khien-lung derart literarisch definiert, dass andere Kunstformen kaum Erwähnung finden. Auch das einfache Volk, die Aufständischen, Sektierer und Bauern leben in einer Welt der „Geschichtenerzähler“ (S. 93/90), „Fabel[n]“ (S. 13/13) und „Märchenerzähler“ (S. 207/199), in Angst vor den „Behörden und [den] hetzenden Literaten in den Kung-tse-tempeln“ (S. 191/184). Die Geschichte ist das elementare Kommunikationsmittel der religiös-sozialen Bewegung und als solches in seiner rhetorischen Nivellierung oftmals Auslöser ekstatischer Massenbewegungen. Folglich ist die Wiedererzählung des Mordes an Su-koh durch Wang-lun nicht nur der Versuch therapeutischer Verarbeitung des existentiellen Traumas, sondern zugleich die entscheidende Entwicklung des Redners zum Anführer der Wu-wei. „Wang, der Gassenläufer und Ausrufer“ (S. 77/75) wird so zum „Haupt der Bewegung“ (S. 14/14), seine Erzählung ermöglicht den allgemeinen Aufruhr, Hetze gegen die soziale Ungerechtigkeit des Landes und die entscheidende Verbindung zum Geheimbund der „Weißen Wasserlilie“. Damit wird dem archaisierten China ein sozialistischer Dualismus von Oralität und Literalität zugeschrieben, der sich durchaus im sozialen Gefälle der Wilhelminischen Ära widerspiegelt. Durch ihre unsichere Stellung im monarchischen Staatssystem müssen die Geheimgesellschaften sich entweder durch das flüchtige, gesprochene Wort führen lassen oder spezielle Codes im schriftlichen Medium erfinden.38 Der „Name Wu-wei“ (S. 11/ 11) ist demnach auch „in allen Mündern“ (S. 11/11) und nicht auf Aushängen und Flugschriften zu finden. Der kaiserliche Hof hingegen muss durch Traditionsbewusstsein und Ahnenkultus stets auf schriftliche Fixierung bestehen. Die geschriebene bzw. nach der Wortwahl des Romans „gemal-

37 Heilmann ([1905]). S. XII. 38 „Wangs Boten liefen als Feigenverkäufer; in ihrer schmalen langen Kiste lag zwischen einer Schicht von Feigen das Erbschwert Chen-yao-fens, der Gelbe Springer mit einem Brief Wangs in der verabredeten Schreibweise der Weißen Wasserlilie, in der je nach einem mündlich zu übermittelnden Zeichen nur der dritte und dann der siebente Charakter gelesen wurde; von einem bestimmten Zeichen an jeder zweite und dann der vierte.“ (S. 181/174)

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te“ Dichtung ist zuständig für die Konservierung des Imago des Adels und der höfischen Intellektuellen des Staatssystems. Schrift als bloße Kommunikationspraxis ist jedoch beiden Schichten zugänglich. Zur Erinnerung drängen sich an dieser Stelle die Worte Khien-lungs auf, denen zu folge „ein Bauer, ein Bettler“ (S. 298/288) durch seine soziale Stellung ästhetisch-kalligraphische Dichtung nie zustande bringen könnte. Damit ist, so man den Roman sozialistisch-politisch zu lesen trachtet, Die drei Sprünge des Wang-lun auch ein Regelwerk rhetorischer Sprechtechniken, von Deklamationen, die Masse zu lenken und zu bändigen. Und betrachtet man die Zeit, in der Döblins Roman geschrieben und veröffentlicht wurde, ist eine derartige Lesart nicht abwegig. „Döblin konnte die Kenntnis der jüngsten Geschichte Chinas – den Aufstand der Boxer, der unmittelbar zur Ermordung des deutschen Gesandten in Peking geführt hatte, und den Sturz der Mandschudynastie – bei seinen Lesern voraussetzen; da Deutschland in China Pachtgebiete und vielfältige Wirtschaftsinteressen – gerade in Shantung – besaß, wurde in den Zeitungen häufig darüber berichtet.“39 China als das Land der Menschenmassen, Peking, die damals wohl bevölkerungsreichste Stadt der Welt, und die soziale Ungerechtigkeit sind der Themenkanon, der das historische Kaiserreich stets dem deutschen Kaiserreich vor dem Großen Krieg annähert. Georg W. Klymiuk greift in seiner systematisch-mathematischen Analyse des Romans unter der Ägide Kausalität und moderne Literatur vorherrschende „Relativitätsphänomene“40 heraus, die im paradoxen Widerspiel

39 Schuster, Ingrid: Die drei Sprünge des Wang-lun. In: Ingrid Schuster (Hrsg.): Zu Alfred Döblin. Stuttgart 1980. S. 87. – Vgl. auch Detering (2010). 40 Klymiuk, Georg W.: Kausalität und moderne Literatur. Eine Studie zum späten Werk Alfred Döblins (1904-1920). Bern u.a. 1984. S. 302. – „So sind beispielsweise Wang-lun und Ngoh außerstande, eine stringente Unterscheidung zwischen ‚Gold‘ und ‚Kohle‘, bzw. ‚Jade‘ und ‚Nicht-Jade‘ zu treffen […]; vielmehr erweist sich ihre jeweilige Klassifikation von ihrer augenblicklichen psycho-physischen Disposition und sozialen Gruppe, der sie sich gerade zuordnen.“ (S. 302) – „Kennzeichnend für die Romanstruktur ist nun, daß die auktoriale ‚Erzählinstanz‘ trotz ihrer gelegentlichen peniblen Suche nach der ‚Wahrheit‘ und ‚Wirklichkeit‘ […], die zahlreichen Wiedersprüche und Ungereimtheiten des Erzählgeschehens, die den Textpersonen selbst kaum je bewußt werden,

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von heterogener Erzählinstanz und histoire „die Vieldeutigkeit der Geschehenszusammenhänge gleichsam als ontologische Grundbedingung der im Roman evozierten Realität erscheinen lassen“41. Diese narrative Problematik geschieht analog zu einem „Konfliktpotential“42 sämtlicher sozialen Gruppierungen, deren Divergieren zwischen Antipoden wie Promiskuität und Asexualtität oder Pazifismus und Gewaltglorifizierung selbst zur Konstante des Romans erhoben wird. Die Sekte der Wu-wei, die sich aus den vom sozialen System ausgestoßenen Subjekten moralischer, sexueller und politischer Perversität eines staatlich sanktionierten Kulturregelkanons zusammensetzt, wird somit in seiner inneren Heterogenität zum Analogon der Metapher des Textes als Experimentierfeld. In sozialen Zusammenkünften wird das „simultane[] Erleben der verschiedenartigsten Formen der Verwirklichung bzw. Tabuisierung von ‚Sexualität‘ und ‚Gewalt‘“43 als Fundament von Triebstrukturen und ihrer kulturellen Überwindung ermöglicht. Damit führt der Roman in der Heterogenität der einzelnen individuellen Biographien tatsächlich eine statarische Gleichförmigkeit im Rahmen von Aufgang und Verfall der Mandschudynastie vor. „Es waren Jahrhunderte her, als die Mingherrschaft, die vom Volk getragene, echt chinesische, schwächer wurde, sich drehte, langsam verzuckte“ (S. 94/90-91) und folglich mit Hilfe der allmächtigen Geheimbünde, allen voran der Weißen „Wasserlilie Shan-tungs“ (S. 94/91) gestürzt wurde. Eben diese „Weiße Wasserlilie“ ist im Romangeschehen Helfer des Angriffs auf das dekadente Kaiserhaus Khien-lungs, das zur Referenzzeit Döblins und der Erzäh-

in aller Regel kommentarlos übergeht und toleriert. Häufig wählt sie sogar Darstellungsweisen, die die Vieldeutigkeit der Geschehenszusammenhänge gleichsam als ontologische Grundbedingung der im Roman evozierten Realität erscheinen lassen, und die Schlüsselereignisse des Textes erstaunlichen Relativierungen unterwerfen.“ (S. 303, Unterstreichungen im Original) – „Vielmehr läßt sich als Textregularität festhalten, daß die ‚Erzählinstanz‘ stets dann ein höheres Erkenntnisniveau als die Textpersonen besitzt, wenn dies zur Komplizierung und Verrätselung der Darstellung beiträgt […]. Dagegen sinkt das Erkenntnisniveau der ‚Erzählinstanz‘ unter das der Protagonisten, falls dies (sonst) zur Erhellung der Geschehnisse führen könnte“ (S. 305). 41 Ebd. S. 303. Unterstreichungen im Original. 42 Vgl. ebd. S. 294-301. 43 Ebd. S. 283.

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linstanz endgültig abgedankt hat.44 Damit wird der Roman historisch gerahmt von Usurpation, Niedergang und Ende der Mandschu in China, deren zyklisches Kommen und Gehen auf allen sozialen Ebenen, vom Individuum zur Nation, betont wird. Dementsprechend heißt es schon in der Zueignung: „Im Leben dieser Erde sind zweitausend Jahre ein Jahr. Gewinnen, Erobern; ein alter Mann sprach: ‚Wir gehen und wissen nicht wohin. Wir bleiben und wissen nicht wo. Wir essen und wissen nicht warum. Das alles ist die starke Lebenskraft von Himmel und Erde: wer kann da sprechen von Gewinnen, Besitzen?‘ Ich will ihm opfern hinter meinem Fenster, dem weisen alten Manne, Liä Dsi mit diesem ohnmächtigen Buch.“ (S. 8/8)

44 Die Geheimbünde visualisieren in der Aufbruchsszene Wang-luns, also dem eigentlichen Moment der Gründung der Sekte und damit zentralen Handlungspunkt, das Statarische der Geschichte auf eklatante Weise: „Er hatte Tschi-li verlassen, war wieder in Schan-tung, dem Lande, das den großen weisen Kungfu-tse geboren hatte, den Wiederhersteller der alten Ordnung, die stählerne Mittelsäule des Staatsgebäudes; dem Lande, das auch durch Jahrhunderte die Geheimbünde hervorbrachte, welche Kaiser stürzten und furchtlos das notwendige Gleichmaß wiederherstellten, dessen dies Gebäude bedurfte. Das Land hatte einen ungeheuren Toten geboren, bot nun unablässig Lebendige auf, um zu bewirken, daß sein Fleisch, seine riesenhaften Knochen die Erde düngten, nicht breit auf dem kostbaren Boden laste. Die Geheimbünde waren die Spitzhacke, die Schaufel, die Barke der Provinz. Sie überlebten Regierungen, Dynastien, Kriege und Revolutionen. Sie schmiegten sich elastisch und windend allen Veränderungen an, blieben völlig in jeder Drehung unwandelbar und dieselben. Die Bünde waren das Land selbst, das sich mit blinden Augen lang streckte; die Leute schacherten oben, feierten ihre Feste, vermehrten sich, besänftigten ihre Ahnen, Heerführer kamen, Soldatenvölker, kaiserliche Prinzen, Feuersbrünste, Schlachten, Sieg, Niederlage; nach einiger Zeit, einer unbestimmten Zahl von Monaten zitterte das Land in kleinen Schwingungen, Vulkanaugen waren flammende, nicht zärtliche Blicke, Ebenen senkten sich; ein breitmäuliges Donnern; und das Land, beunruhigt, hatte sich auf die andere Seite zum Schlafen gelegt; es war alles wieder gut geworden.“ (S. 93-94/90)

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Die im Roman thematisierten Gruppierungen, die alle graduellen Nuancen zwischen staatlicher Konformität und Agitation durchspielen, verbinden sich in Analogie zum poetischen Experimentierfeld mit der Frage von künstlerischer Originalität. Die drei Sprünge des Wang-lun kultiviert und konserviert gerade die „Konfliktpotentiale“ sozialer Gruppierungen und stellt diese ohne den Versuch einer Auflösung oder Besserung durch seine innovativen erzählerischen Experimente dar. Die Kopplung von sozialen Mechanismen und Romankonzeption in ihrem attestierten „ohnmächtigen“ Zyklus beinhaltet die Gefahr eines poetologischen Suizids, der sich in der Identität aller Poetik als temporär und vergänglich abzuzeichnen droht. Dies gilt sowohl für die mündliche Rhetorik der kurzlebigen und sich abwechselnden Geheimbünde wie für die kulturkonservierenden „Literaten“ des Kaiserhofes und ihre kalligraphische Poesie. So wie der Text kein Lösungsangebot für die sozialen Ungerechtigkeiten, das Machtungleichgewicht oder die Deutung einer richtigen Form von Führerschaft anbietet, verbleibt auch die poetische Disparatheit in seiner vollkommenen Öffnung und Zurschaustellung. Der besondere literarische Wert liegt demnach nicht in der Lösung, sondern dem Durchspielen heterogener Schreibarten einer modernen Welt, der das Korsett der phonetischen Schrift zu eng geworden ist: „Das sind keine Mitteilungen, obwohl sie auch Mitteilungen dienen; runde beziehungsvolle Bilder, Anklänge an die Bücher der Weisen, schön in sich, schön gegeneinander.“ (S. 298/288) Wenn Literatur auf diesem Weg keine Deutung für (massen-)soziologische Probleme der Moderne anbieten wird, liegt ihr origineller Wert in der aemulatio, darin, „ein paar interessante Verse“ in „zum Teil neuen Charaktere[n]“ der Kulturgeschichte zuzuschreiben, „über das alte Thema einer Mondscheinfahrt auf dem Weiher.“ (S. 297/286) Ändert sich in der zirkulären Unendlichkeit des Auf- und Niedergangs von Gruppierungen inhaltlich wenig, ist es die Aufgabe künstlerischer Historie, einen überzeitlichen Sachverhalt in einer der Zeit angemessenen Form zu diskutieren: „Wenn der Werth eines Dramas nur in dem Schluss- und Hauptgedanken liegen sollte, so würde das Drama selbst ein möglichst weiter, ungerader und mühsamer Weg zum Ziele sein; und so hoffe ich, dass die Geschichte ihre Bedeutung nicht in den allgemeinen Gedanken, als einer Art von Blüthe und Frucht, erkennen dürfe: sondern dass ihr Werth gerade der ist, ein bekanntes, vielleicht gewöhnliches Thema, eine Alltags-Melodie geistreich zu umschreiben, zu erheben, zum umfassenden

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Symbol zu steigern und so in dem Original-Thema eine ganze Welt von Tiefsinn, Macht und Schönheit ahnen zu lassen. Dazu gehört aber vor Allem eine grosse künstlerische Potenz, ein schaffendes Darüberschweben, ein liebendes Versenktsein in die empirischen Data, ein Weiterdichten an gegebenen Typen[…]. [D]er ächte Historiker muss die Kraft haben, das Allbekannte zum Niegehörten umzuprägen und das Allgemeine so einfach und tief zu verkünden, dass man die Einfachheit über der Tiefe und die Tiefe über der Einfachheit übersieht.“45

Nietzsches Ausführungen über die Historie folgend, muss der „ächte Historiker“ vor allem „Objectivität“46 besitzen, ein „ästhetische[s] Phänomen“47, an dessen Ende des Schaffensprozesses kein „empirische[s] Wesen der Dinge wiederge[geben]“48 sein kann, sondern ein „Bild“49, also eine rhetorische Operation steht. Döblins Erzählung Die drei Sprünge des Wang-lun, die sich in die Genretradition des historischen Romans einschreibt und derart stetig in einen kritischen Dialog mit ihr tritt, stellt in der zyklischen Weltgeschichte in innovativer poetischer Sprache ein „alte[s] Thema“ (S. 297/286)/„vielleicht gewöhnliches Thema“ auf neue Weise dar und markiert im Rahmen kunstepochaler Diskussionen die Notwendigkeit, das phonozentrische Sprach- und Dichtsystem zu überdenken und sich einem grammatologischen Zugang zur Sprache anzunähern.

45 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. §6. http://www.nietzschesource. org/#eKGWB/HL-6 (letzter Zugriff: 28.07.2014). 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd.

9 Der „meterdicke Wall“ der Schriftzeichen „Das deutsche Studententum ist, bald mehr bald minder, von der Idee besessen, es müsste seine Jugend geniessen. Jene ganz irrationale Wartezeit auf Amt und Ehe musste irgendeinen Inhalt aus sich herausgebären, und das musste ein spielerischer pseudo-romantischer, zeitvertreibender sein.“1

Was der junge Benjamin in seiner Arbeit über Das Leben der Studenten beklagt, ließe sich als Frustration über die akute Unfähigkeit der Studenten beschreiben, die Möglichkeiten ihrer adoleszenten Lebensphase zu erkennen und auszuschöpfen. Die Wissenschaft ist für Benjamin in ihren geistigen Chancen dem Eros gleich, also eine „Bewegung“ ausgelöst durch ein Moment unendlicher Reflexion auf eine „metaphysische[] Struktur“, „wie das messianische Reich oder die französische Revolutionsidee.“ 2 Doch wie „die burschikose Studentin“3 – soll heißen, die sexuell selbstsichere, emanzipierte Frau – und „die Prostituierten“4 – identisch mit dem fanatischen Lebensziel und Monogamiegebot der Ehe – die produktive Kraft des „Eros

1

Benjamin, Walter: Das Leben der Studenten. In: Kurt Hiller (Hrsg.): Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist. München u. Berlin 21916. S. 153.

2

Ebd. S. 141.

3

Ebd. S. 152.

4

Ebd. S. 151.

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der Schaffenden“5 im Keim ersticken, so vernichtet der Fokus auf den auszuübenden Beruf die Möglichkeiten einer wissenschaftlich-reflexiven Denkbewegung. Oder: „Der Beruf folgt so wenig aus der Wissenschaft, dass sie ihn sogar ausschließen kann. Denn die Wissenschaft duldet ihrem Wesen nach keine Lösung von sich, sie verpflichtet den Forschenden, in gewisser Weise immer als Lehrer, niemals zu den staatlichen Berufsformen des Arztes, Juristen, Hochschullehrers.“6 Ehefrau, Hure, sexuell-emanzipierte Studentin sind die Vertilgerinnen eines geistigen Triebes, der in seiner strukturellen Erkenntnis zum leitenden Prinzip des Denkens und Wissens wird. Die Begierde erlischt mit dem sexuellen Kontakt genau wie eine der metaphysischen „Totalität“7 verpflichtete Wissenschaft nicht fruchten kann, wird sie mit der „sozial begründete[n] Leistung“, „wie wir sie heute vorfinden“8, gemessen. Otto Julius Bierbaums Werk ist durchzogen von pädagogischen Fragestellungen, die vornehmlich auf die Autobiographie zurückverweisen und häufig das Verhältnis von Eros und Akademie diskutieren. Als Schüler im Dresdener Freimaurer-Institut unter „militärische[r]“9 Zucht gedrillt, aus dem Gymnasium von Wurzen „verjagt“10, musste der erwachsene Bierbaum beim Militär erkennen, dass „die Praktiken der Kaserne und des Exerzierplatzes […] alles bisher Erfahrene in Schatten“ „setzten“11. Roy L. Ackerman zeigt in seiner Arbeit über Bierbaum12 auf, wie seine auf Nietzsche und Langbehn zurückgehenden Begriffe von „Bildung“ und „Verbildung“ mit Konzepten von „Natur“ und „Kultur“ verbunden werden. So profan und für sich selbst sprechend diese Begriffe klingen, so bilden sie auch ein basales pädagogisches Konzept, dem zufolge das Individuum seinen natürlichen Veranlagungen nach kultiviert werden soll. Eine Forderung,

5

Ebd.

6

Ebd. S. 142-143.

7

Ebd. S. 144.

8

Ebd. S. 145.

9

Bierbaum, Otto Julius: Im Spiegel. Autobiographische Skizzen XXIV. In: Das literarische Echo. Bd. 9 (1907). S. 1083.

10 Ebd. 11 Ebd. S. 1084. 12 Ackerman, Roy L.: Bildung und Verbildung in the prose fiction works of Otto Julius Bierbaum. Bern u.a. 1974.

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die sich mit dem Schul- und Ausbildungssystem wie den familiären Erziehungsmethoden der wilhelminischen Jahrhundertwende „toter und tötender Konventionen“13 nicht vereinbaren ließ. Es ist aus diesen Ansichten heraus nicht verwunderlich, dass Bierbaum zeitlebens ein Bewunderer (und später auch Bekannter) Frank Wedekinds war. „Glaubst du nicht auch, Melchior, daß das Schamgefühl im Menschen nur ein Product seiner Erziehung ist?“14, sagt Moritz einleitend in Frühlings Erwachen. Gerade die Tabuisierung der Sexualität durch eine militante Pädagogik und spießbürgerliche Moralvorstellungen prägen die Struktur zahlreicher Werke Bierbaums, in denen sämtliche Frauentypen durchdekliniert werden. So zollt er in seinem nachgedichteten chinesischen Märchen Das schöne Mädchen von Pao seinem Vorbild Wedekind durch die Figur des Dichters „We-tê-king“, einer der wenigen explizit hinzuerfundenen Figuren der transformierten chinesischen Geschichte, seinen Respekt. Doch der von Bierbaums Seite aus häufig evozierte Vergleich der beiden Dichter führt stetig vor Augen, wie prüde und sittsam sich seine Frauenfiguren gegenüber einer Lulu, einer Ina Müller oder Katharina Alexandrowna Gräfin Totzky ausnehmen. Dringt Wedekind vor allem in seinen Dramen, also in einem Medium, das stets eine reflexive Rezeption über Öffentlichkeit und Privatheit durch seine um 1900 verbreitete Schaukastenform erfordert, in ausgesprochen gefährliche Themenbereiche tabuisierter „sexueller Perversionen“ wie Homosexualität, Sadomasochismus, Sodomie, Zwittertum, Promiskuität oder Onanie ein, wirken die verschiedenen Spielarten idealisierter Weiblichkeit im Werk Bierbaums lediglich wie burschikose Prüderie. Jedoch leben viele der Figuren Bierbaums mittels dieser Referenz zu den allgegenwärtigen dekadenten Themen der femme fatale und der mit ihr verbundenen Zurschaustellung von Paradoxien männlicher Triebhaftigkeit und menschlichen Begehrens sowie sexueller Machtverhältnisse. Auch Franz von Stuck ist mit seinen Bildern berühmter Verführerinnen der Mythologie und Geschichte – Medusa, Kirke,

13 Lukács (1947). S. 39. 14 Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. In: Elke Austermühl, Rolf Kieser u. Hartmut Vinçon (Hrsg.): Frank Wedekind. Werke. Kritische Studienausgabe. Bd. 2: Das Gastmahl bei Sokrates. Der Schnellmaler. Kinder und Narren. Die junge Welt. Frühlings Erwachen (1891, 1906). Fritz Schwigerle (Der Liebestrank). Dramatische Fragmente und Entwürfe. Hrsg. v. Mathias Baum u. Rolf Kieser. Darmstadt 2000. S. 263.

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Sirenen, Sphinxen und Eva – häufiger Bezugspunkt. Bierbaum versucht in seiner Abhandlung über den erfolgreichen Künstler den gesegneten Werdegang und die Reifung zum künstlerischen Genie auch durch den institutionellen Bildungsweg zu erklären: „Die Freude am klassischen Altertum, die sich in seinen Werken in ganz eigener Weise zeigt, wurde ihm durch kein Gymnasium vergällt; er machte die Realschule durch. Daß er nicht sogleich auf die Kunstakademie kam, sondern erst in die Kunstgewerbeschule, war ebenso ein Glück, wie der Umstand, daß er die Kunstakademie nicht eben mit Regelmäßigkeit frequentieren konnte; er war frühzeitig genötigt, an den Erwerb zu denken, daher mußte er viele Zeit auf Illustrieren verwenden. Viel Zeichnen, damit begann seine Künstlerlaufbahn, und das war gut.“15

Zahlreiche Studentenfiguren aus Bierbaums Werken haben nicht dieses Glück eines unkonventionellen Bildungsweges gehabt und stehen dementsprechend unvorbereitet in einer Phase ihres Lebens, in der sie erstmals die Möglichkeit haben, außerhalb elterlicher und schulischer Regulationen zu agieren. Der Roman Stilpe und die zwei Bände der Studenten=Beichten sind eine Reihe von studentischen Fallstudien, in denen junge Männer, zumeist Korpsbrüder, mit den idealisierten Frauengestalten der Gesellschaft zusammentreffen: „Das willige Arbeitermädchen“, „Die Femme-fatale“ oder „Die sittsame Bürgerstochter“, um die Klassifikation von Ute von Pilar zu übernehmen.16 So zeugt auch schon das den Studenten=Beichten vorangestellte, mit „F. Stuck“ signierte Korpswappen die Kernelemente der Männerschicksale: Reichlich Bier, burschenschaftliche und nationale Ehre, maskuline Selbstbehauptung im Fechtsport und die Liebe zum weiblichen Geschlecht. Der zweite Band dieser Erzählsammlungen wird zusätzlich eingeführt durch einen Brief des Autors an seinen Freund Michael Georg Conrad, datiert auf den 18. September 1897, in dem das poetische Prinzip und die Kohärenz der Sammlung der „Novellen“ dargereicht werden:

15 Bierbaum, O[tto] J[ulius]: Stuck. Bielefeld u. Leipzig 41924. S. 8. 16 Vgl. Pilar, Ute v.: Studenten-, Künstler- und Bohemefiguren im Erzählwerk Otto Julius Bierbaums. Beziehungen zwischen Außenseitern und bürgerlicher Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert. Mainz 1995. S. 102-124.

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„Lieber Conrad, Sie haben schon manche Beichte von Studenten gehört, wenn sie zu Ihnen kamen und Ihnen erzählten, wie sie durchaus Dichter werden möchten; es gäbe keinen Ausweg mehr, denn der Drang sei zu schrecklich, und überdies hätten sie auch schon die schwere Menge von Erlebnissen erlebt, so daß es die höchste Zeit sei, nun endlich gedruckt zu werden. Ich kenne Ihr aufmerksames Lächeln, lieber Freund, mit dem Sie solche Beichten hören, und ich weiß, mit was für großen, merkwürdig listigen Blicken Sie solchen Beichtlingen die Seele von den Mienen ablesen, so daß Sie, glaube ich, zuweilen mehr erfahren, als sie hören. Ich war ja auch einmal so ein Student und Beichtkind von Ihnen.“17

Die adoleszente Studentenschaft, so die Aussage, befinde sich stetig in einer Sturm und „Drang“-Phase, einer emotionalen Sucht, ihre in persönlicher Hybris empfundenen Schicksale im dichterischen Ton der Welt zu präsentieren. Michael Georg Conrad, als Autorität in der Kunstszene des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts zu werten, steht an dieser Stelle Pate für eine pädagogische Instanz außerhalb institutioneller Bildung von staatlicher Schule und Universität. Obgleich Schriftsteller und Herausgeber, nimmt Bierbaum dabei die Rolle des Lehrenden ein, wenn er sich als Conrads „Student und Beichtkind“ bezeichnet. Das drängerische Pathos der Studenten ist kritisch zu werten und deutet auf die Qualität einer Selektion durch den beratenden Beichtvater Conrad, dessen naturalistisches Publikationsorgan Die Gesellschaft nicht nur immensen Einfluss auf die Veröffentlichungschancen des jungen Bierbaums hatte, sondern auch durch ihre sozialkritische und humanistische Grundtendenz die Bildungsideen des Autors prägten. Folglich kann ein junger verwirrter oder temperamentvoller Mann mit seinem Anliegen kaum einen besseren „Professor“ aufsuchen, der nicht durch institutionelles Philistertum fingerzeigende Ratschläge erteilt, sondern dessen „merkwürdig listige[] Blicke[]“ die „Seele von den Mienen ablesen“. Es ist etwas anderes, eine bedeutende Geschichte wirkungsreich zu erzählen oder sie mit denselben Worten schriftlich zu fixieren. Davon handelt die letzte der Studenten=Beichten Die falsche Kindbetterin ausführlich: „Erzählen, – ja; schreiben, – nein.“ (S. 136) Das „Handwerk derer […], die

17 Bierbaum (61909). S. IX.

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mit Kunst erzählen“ (S. 136), will demnach gelernt sein und ist nicht allen, die ansprechende Reden halten können, vergönnt. Michael Georg Conrad, dem die Fähigkeit zugesprochen wird, durch seine „listigen Blicke[]“ die pathetischen Beichten seiner Studenten zu klassifizieren, steht demnach Bierbaum als Autor bzw. Wiedererzähler zur Seite, mit dem konservativen Alter „ruhiger geworden, gleichmütiger und gerechter“ (S. X-XI), also mit kritischer Distanz zur Sturm und Drang-Phase der Jugend. „Und nun bringe ich Ihnen ein paar solcher Studentenbeichten, wie sie mir nacheinander von früher her eingefallen sind, dar und möchte gerne, daß Sie darin ein äußeres Zeichen der herzlichen Gesinnung sähen, mit der ich zu Ihnen stehe.“ (S. XIXII)

Bierbaum setzt sich als medialer Übersetzer interessanter und angeblich realer Begebenheiten seiner eigenen Studienzeit; oder etwas polemisiert: als gealterter Goethe, der sich und seine Jugendfreunde des Sturm und Drangs nun als wohlsituierter Dichter weise neu kommentieren kann. Der Leserschaft sei es dabei ans Herz gelegt, den kritischen und überlegenen, aber vor allem lesenden Blick des Lehrmeisters Conrad zu übernehmen und die „Seele von den Mienen“, also die versteckte „Wahrheit“ aus der transformierten Narration zu erkennen. Die stürmerische Mentalität der Beichtenden, die zumeist von Liebschaften zu verschiedenen Frauen oder Mädchen herrührt, stellt die Analogie des dilettantischen Pathos der Studenten und Benjamins Konzept eines wissenschaftlichen und eines sexuellen Eros her. Dass sich die jungen Herren nicht in ihrer strukturellen Einheit als Studentenschaft formieren, wie es Benjamin nahelegt, liegt im Bildungsweg der Protagonisten begründet, der bis zur Universität zumeist durch staatliche und familiäre „solide Erziehungsgrundlagen“ (S. 39) durchweg negativ war. Es ist oftmals ein unaufgeklärter Zugang zum anderen Geschlecht, der die verschiedenen Charaktere erstellt, die beispielsweise einem zu offenen Begriff von Sexualität zum Opfer fallen oder wie in der Novelle To=lu=to=lo oder Wie Emil Türke wurde durch falsche Bildungsideale und Naivität an weiblichen Annäherungsversuchen scheitern und so eine nüchterne Karrierefrau zur femme fatale modellieren. Als diese wird Trude, so ihr richtiger Name, bereits durch ihren archaisierten, chinesischen Namen „To-lu-to-lo“ – „weil ja die Nordchinesen so

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wunderliche Sprachwerkzeuge haben“ (S. 52) – in Analogie zu Wedekinds Lulu eingeführt. Denn auch „der Name Lulu, aus der Wiederholung einer kurzen Silbe bestehend, ist als naiver Urlaut anzusehen“18, passend zur scheinbar vaterlosen Frau, als idealisiertes, „ewig Weibliches“ einer Urmutter. Während Lulu sich jedoch als männervernichtender Moloch preisgibt, indem sich in ihr die Paradoxien männlicher Phantasie von Sexualität und Macht konkretisieren, ist Bierbaums Trude lediglich eine emanzipierte Arbeiterin um die Dreißig, „dem Generalstab der Berliner Konfektion“ angehörend; „sie war Directrice in einem der ersten Berliner Konfektionsgeschäfte.“ (S. 45) Diese kokette, fest im Leben situierte Frau, die „das ahnungsbange Backfischalter schon eine gute Weile hinter sich hatte“ (S. 45), trifft in der Erzählung auf Bierbaums „Freund Emil“, den „merkwürdige[n] Referendar“ (S. 36), der sich noch im adoleszenten Alter des Übergangs befindet. Emil, nicht-kooperierter Jude und angehender Jurist, setzt sich das Ziel, am Seminar für orientalische Sprachen in Berlin Chinesisch zu studieren, um somit besondere Karriere im Auswärtigen Amt in Peking zu machen. Dieses Seminar war nach eigener Ausschreibung geöffnet für „künftige[] Aspiranten für den Dolmetscherdienst sowie Angehörige[] sonstiger Berufsstände, welche den erforderlichen Grad geistiger und sittlicher Reife besitzen“19. Emil läuft „vor jeder Verführung davon und rettet[] sich hinter seine Notizbücher mit ihrem Urwalde von verzwickten, wie Bambushalme neben- und durcheinander aufsprießenden chinesischen Schriftzeichen. Aber, man weiß es ja, die Liebe würde selbst einen meterdicken Wall, bedeckt mit Keilschrift umwerfen.“ (S. 39) So verliebt sich Emil in seine Nachbarin, besagte Trude, die ihn und seinen nordchinesischen Lehrer bereits „bei Gerson, in der Frühjahrsausstellung“20 (S. 47) gesehen hat. Einige

18 Rasch, Wolfdietrich: Die literarische Décadence um 1900. München 1986. S. 83. 19 Zitiert nach: König (1920). S. 347. 20 Mit Gerson ist das führende Modefachgeschäft des jüdischen Geschäftsmannes Herrmann Gerson in Berlin gemeint. „Im Jahr 1881 erschien auf Initiative des Reichsabgeordneten Ahlwardt das Adreßbuch christlicher Firmen, mit dem man einen Kaufboykott der jüdischen Konfektionsfirmen erreichen wollte. 1894 war die Firma Gerson dennoch mit dreißig Millionen Mark Umsatz die größte der Branche.“ – Komander, Gerhild H. M. (Hrsg.): Berlins erstes Telefonbuch 1881. Berlin 22006. S. 107.

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Monate später findet sich Emil noch immer jugendlich verliebt, seine Gefährtin hingegen gelangweilt und interessiert an einem Treffen mit einem exotischen Südchinesen. So kommt es, gegen den Willen Emils, zu einem Rendezvous zu Dritt mit dem „Herrn Pan-Wei-Fu“, der „Herr aus Kanton“ (S. 56). Bei diesem kommen sich Trude und der schöne Fremde überaus anstößig näher. Wutausbrüche und lächerliche Briefe Emils distanzieren die Dame nur noch mehr von dem jungen Juristen und treiben sie in die Arme des Südchinesen, in dessen Nähe sie sich letzten Endes eine neue Wohnung sucht. Im Seminar von Pan-Wei-Fu drangsaliert, flüchtet Emil aus dem Kursus und schreibt sich in das Seminar für türkische Sprache ein. Emil ist anfangs ein von „Ehrgeiz“ (S. 36) getriebener Student, der „sich in den Kopf gesetzt [hat], schnelle Karrière zu machen und auf ungewöhnliche Weise.“ (S. 36) Damit entspricht er dem Typus vom korrumpierten Studenten, den Benjamin in seinem Vortrag kritisiert, der sich nur nach der „sozial begründeten Leistung“21 richtet. Sein individueller Ausdruck von Extravaganz ist dabei nicht viel mehr als der Wunsch im System der Beamtenschaft einen passenden und hohen Platz zu erhalten. Gleichzeitig ist er Nietzsches „historisch-ästhetischen Bildungsphilistern“ verwandt; widernatürlich kultivierten Gelehrten, die in Schulanstalten gezüchtet werden, wo, wie Benjamin rekapituliert, mit dem Blick auf ein bürgerliches Ziel der „Instinkt der Natur“22 im Individuum ausgelöscht wird. „[A] person, who, while he may have taken a wide range of courses and knows innumerable facts about culture and Bildung, is, owing to neglect of his individuality, verbildet.“23 Der Emil antrainierte Ehrgeiz verhinderte bisher die für die Adoleszenz bedeutenden Kontakte mit dem anderen Geschlecht, denn er befleißigt „sich [den Mädchen gegenüber] einer strengen, ja eisigen Zurückhaltung, wie man sie sonst gewöhnt ist, mehr bei Predigtamtskandidaten als bei Referendaren vorzufinden.“ (S. 38-39) Die „Sprache der Hansöhne“ (S. 38) begeistert die „zärtliche Natur“ mehr als die jungen Mädchen Berlins. An die Stelle verliebter Briefe und Verse an Angebetete tritt das Studium der chinesischen Schriftzeichen mit dem „gemütlichen Mand-

21 Benjamin (21916). S. 144. 22 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. §10. http://www.nietzschesource. org/#eKGWB/HL-10 (letzter Zugriff 28.07.2014). 23 Ackerman (1974). S. 28. [Herv. i. O.]

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schumann und Inhaber des violetten Kappenknopfes Herrn Kuei-Lin“ (S. 38), einem alten Beamten, den Trude verächtlich „häßlich“ (S. 47) bezeichnet. Emils selbstaufgebauter Mikrokosmos wird mit der Metaphorik eines vereinsamten Lebensraums geschildert, der von einer – dem Thema entsprechenden – metaphorischen dicken Mauer umgeben wird. In seiner kleinen Wohnung, dem „Bollwerk“ (S. 40), gibt er sich ganz dem Studium der schweren Zeichenschrift hin. „Keine kleine Mühe das! Man kann nervös dabei werden und den Chinesen ein Alphabet wünschen.“ (S. 40) Repräsentiert wird das fanatische Studium durch das Refugium Emils, ausgeschmückt mit zahlreichen chinesischen Accessoires und als solches eine kleine private chinesische Welt in sich selbst. „Pinsel“, „Bambushalme“, „Dschungel[]“, „goldene[] Ahnentafeln des Kung-fu-tse“, „die chinesische Mauer“ oder „Schriftsäulenzeichen“ (S. 38-41) sind Teil dieser Rekluse. Dieses stabilitätsversprechende Konzept wird dennoch mit Leichtigkeit zerstört von dem, was hinter der „Berliner Papiermaché-Mauer“ (S. 40) von Emils Zimmer geschieht. Von der lieblichen Stimme seiner Nachbarin um eine Schreibfeder gebeten, tritt der Student aufs äußerste verwirrt und entgegen der gesellschaftlich geforderten Pietät trotz Abwesenheit der Wirtin alleine in das Zimmer der jungen Dame. In erlebter Rede heißt es da: „Gib Deine Feder ab, Emil, und fleuch in den Bambuswald Deiner chinesischen Charaktere! Emils Auge, gewohnt an das kahle schwarze Gewirr seiner Schriftzeichen, sah diese neue Umwelt nicht ganz exakt, sondern mehr in einem Schimmer aus eigener Zutat“ (S. 44).

Durch seine eigene Isolation stellt sich bei Emil zu keiner Zeit ein gewisser schöpferischer Eros ein. Der plötzliche Kontakt zur aufreizenden Trude fordert unmittelbar eine naive Verliebtheit – dargestellt durch einen stotternden inneren Monolog – und „Emil, oder der verführte Referendar“ (S. 51), vernachlässigt seine Studien. „Aber wie bei seinen erstaunlichen chinesischen Studien, so fühlte er sich auch bei seinem erstaunlichen ‚Verhältnisse‘ sehr wohl. Er widmete sich ihm mit derselben stillen und stetigen Hingabe wie der Pekinger Beamtensprache, wenn auch nicht mit demselben Gewissen.“ (S. 51)

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Die Verschwisterung von Eros und Akademie, die Benjamin in seinem Vortrag evaluiert, lässt sich in Bierbaums Novelle beinahe idealtypisch vorfinden und wird gleichzeitig mit einer diffizilen Raumordnung über die Achse der chinesischen Mauer verbunden. Emils „zärtliche Natur“ (S. 39), sein Ehrgeiz sowie seine aufscheinende soziale Sonderstellung als Jude sind die Determinanten der räumlichen Abschottung des Protagonisten. Präzisieren dies zuerst die „wie Bambushalme neben- und durcheinander aufsprießenden chinesischen Schriftzeichen“ (S. 39), hinter denen sich der Student verschanzt, wird das kleine Studierzimmer später durch seine Union mit Trude ersetzt, in die kein Fremdkörper eindringen darf. Es werden ausdrückliche Andeutungen gemacht, dass es sich bei Emil Meyer und Trude um jüdische Deutsche handelt, die sich demnach auch innerhalb einer gewissen Bevölkerungsgruppe aufhalten und beispielsweise keinen Zutritt zu „gewöhnlichen, geschweige denn […] ‚besseren‘ Korps“ (S. 36-37) erhalten. Als solche markiert, begleitet den gesamten Text als Makroreferenz die Frage nach Sozialisation und Bildung von sozialen Sphären. Ein schöpferischer Eros, der dem Rauschhaften und Ungewissen, dem ziellosen Studieren nach Benjamin, verbunden ist, hat in diesen hermetischen Strukturen keine Existenzberechtigung: „Die Wollust des Schmerzes ist eine spezifische Gabe der Lyriker; Referendaren ist sie meist versagt. Emil dachte nicht einmal daran, sich rhythmisch zu entladen; nein, er schrieb, mit Einhaltung der Höflichkeitsränder oben, unten und an den Seiten, sehr deutlich und mit unverkennbaren Anklängen an jenen Juristenstil, der mit der deutschen Sprache einige Worte gemeinsam hat, einen acht Seiten langen Brief. Darin wies er zwingend nach, wie unrecht die Directrice handle“ (S. 63).

Die ironische und durchaus anzüglich zu lesende Szene nach dem endgültigen Trennungsstreit der leidenschaftlich Liebenden verdeutlicht, wie „sehr solide Erziehungsgrundlagen“ (S. 39) die Möglichkeiten eines schöpferischen Eros vernichten. Der sprachliche Code der Juristen steht gleich dem „meterdicken Wall“ (S. 39) der „Schriftsäulenzeichen“ (S. 41) als apollinischer Farce-Gegenpol. Damit ist bereits die Äquivalenz zur These Benjamins überschritten und die Erzählung erweitert diese Denkkonstruktion um die Frage nach „Kulturanschauungen“ (S. 55), wenn er explizit Gruppenbildungen thematisiert. Denn durch die Gleichstellung von parodiertem Apollinischem mit dem Wunsch nach Aufrechterhaltung hermetischer

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Strukturen von sozialer Identität wird den Lesern in der kurzen Geschichte die Unzuverlässigkeit solcher Sphären vor Augen geführt; nicht nur im Bild der niederstürzenden Mauer aus chinesischen Schriftzeichen, sondern auch als Basis einer Kunst. Eine Kunst, die auf den kanonischen Bildungsidealen der Zeit aufzubauen trachtet. Es ist gerade der anzügliche chinesische Don Juan, dessen Existenz damit droht, an den „Typus des Apollo von Belvedere zu erinnern“ (S. 56) und die Ironie der Situation auf Kunst und Gesellschaft reflektiert: „Aber es hat was: Weil er eben ein Chinese ist!“ (S. 66) Der „chinesische[] Gigerl“ (S. 69) gibt nichts auf die kulturellen Codes, weiß aber souverän diese dahingehend zu funktionalisieren, seine derben Anzüglichkeiten gegenüber den europäischen Spießbürgern zu verstecken. Es ist der lockere Umgang mit Etikette und Konvention, der Trude fasziniert und dem der ewig verschanzte Emil nur bürokratische Regelhaftigkeit entgegensetzen kann: „Das Seminar sollte doch wirklich einschreiten gegen ein so operettenhaftes Betragen!“ (S. 69) So zeigt sich in erlebter Rede am verzweifelten Referendar gegen Ende, wie sich soziale Stereotype ausbilden: „Fortwährend sah er dieses Gesicht mit dem niederträchtigen dummschlauen Zuge vor sich. Unerträglich! Diese Visage! Dieser Geruch! Diese Sprache! Alles Chinesische war ihm plötzlich eine große Widerwärtigkeit. Oh, diese Rasse! Verlogen! Verkommen! Verseucht! Heimtückisch! Feige! Frech! Grausam! Häßlich! Schadenfroh! Und diese Sprache! Ein Gebell! Ein Geklapper mit Holzklötzen! Ein ungefüges kindliches Gepappel! Dann kam das Klima dran, der Fremdenhaß, der Schmutz, der mangelnde Komfort, die weite Entfernung des Landes.“ (S. 73-74)

Idealtypisch zu Benjamins Bild des staatlich funktionierenden Philisters sehnt sich Emil nur noch nach einem „Ende!“ (S. 74), das er „[h]inter [den] Bücher[n]!“ (S. 75) findet. Wenn Bierbaum (auch aus autobiographischen Gründen) durch seinen Emil die chinesische Schrift als erlernbar attestiert, reiht er sich nicht in die Gruppe der zeitgenössischen Skeptiker an der Praktikabilität und Fremdheit des alternativen logographischen Ordnungssystems ein. Vielmehr öffnet er

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die Diskussion um Gruppenbildungsprozesse gerade durch die Nennung der gängigen Klischees und ihre gleichzeitige Negation durch den eifrigen Studenten: „Keine kleine Mühe das! Man kann [!] nervös dabei werden und den Chinesen ein Alphabet wünschen.“ (S. 40) Das typische Strukturelement der distinkten „Umwelt[en]“ (S. 44), das Unbekannte als die „Art Gegenwelt […], in der alles ‚verkehrt‘ und ‚andersherum‘“24 erscheint, aufzufassen, kann so im Sinne eines flektierten Umgangs mit Identitätspolitik funktionalisiert werden. Um diese geht es beispielsweise auch in Richard Küas’ erfolgreichem Kriegs- und Kolonialroman Die Wacht im fernen Osten, der in der Euphorie des Großen Krieges 1916 nationalen und völkischen Pazifismus ästhetisch zu produzieren versucht. In der Erzählung über Einzelschicksale deutscher Menschen in Fernost wird textlogisch ein Streiter für Pazifismus und interkulturelle Brüderlichkeit geläutert und zum Gegenpol der strahlenden Soldaten und vorbildhaften Ehefrauen erhoben. Der deutsche Kaufmann Braun, der sich zu Kriegsbeginn patriotisch zum Dienst an der Waffe verpflichtet, ist eine der wenigen Figuren, die scheinbar einen Austausch mit der chinesischen Kultur in Erwägung ziehen. In einem Teehaus in Shanghais „Foochow Road“, „um seine Studien der chinesischen Umgangssprache und Dialekte zu vervollkommnen“25, veranlassen ihn die Begebenheiten der abendlichen Festivität, die nach der Nachricht über den serbisch-österreichischen Krieg auseinanderging, zu einer Neuorientierung seiner selbst. Als Prokurist für den berühmten „Friedenspropagandist“26 Lindig, der seine Kinder auf Grund des freiwilligen Militärdienstes und Verlobungen mit einem Soldaten von sich stößt, beginnt Braun in der plötzlich fremden Umgebung über seine eigene nationale, völkische, rassische und patriotische Stellung zu sinnieren. Der „Unterschied zwischen Chinesisch und den europäischen Sprachen [war ihm] nie so zum Bewußtsein gekommen […] wie heute.“27 Das Teehaus wird aus der distanzierten und distinguierten Perspektive Brauns zur Opiumhölle und Keimzelle von Krankheiten: „Er wollte, wenn er jemals dieses Land verließe, kein Andenken in Form von Lepra mitneh-

24 Bauer (1985). S. 159. 25 Küas, Richard: Die Wacht im fernen Osten. Berlin 1915. S. 158-159. 26 Ebd. S. 329. 27 Ebd. S. 159.

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men.“28 Als gebildeter Deutscher muss Braun in der germanophilen Ideologie des Kriegs- und Kolonialromans die distanzierte Perspektive beibehalten und wird zum Abschluss der Episode dem britischen Konsul Bergford diametral entgegengestellt. Dieser schreckt nicht davor zurück, sich für den unflätigen Besuch einer „chinesische[n] Lasterhöhle“ in „chinesischen Mummenschanz“29 zu kleiden und hält dennoch um die Hand der reinen und idealisierten Herta Lindig an. Am Ende des Romans, der die Heldenhaftigkeit eines jeden deutschen Mannes und jeder deutschen Frau im Großen Krieg frei nach der stets wiederholten Litanei „Deutschland, Deutschland über alles“30 zur Schau stellen konnte, wird Bergford vom Erzähler mittels Kommentierung seiner Lepraerkrankung ausgeschieden. Braun ist eins von zahlreichen deutschen Ebenbildern und situiert sich in der Teehausszene neu, um sich daraufhin entschlossen für den Krieg zu melden. Dabei heißt es über die internationale Konzession Shanghai im kolonialisierten China31: „Braun ist der Zerstreuung halber hierher gekommen. Deshalb irrt sein Auge von einem zum andern an der Wand hängenden Papiere mit chinesisch-klassischen Merksprüchen, mit denen der chinesische Wirt seine Innenräume zu dekorieren pflegt. Deshalb horcht er auf die in allen Dialekten Chinas an kleinen Tischen um ihn herumschwätzenden Chinesen. Aber es ist auch heute noch eine Aufgabe für Braun, sie zu verstehen, da der Nordchinese selbst den Südchinesen nicht versteht, es sei denn sie schrieben einander. Und bei seinem auf diesen Punkt gerichteten Grübeln will es Braun scheinen, als ob überhaupt nichts anderes dieses ungeheuere

28 Ebd. S. 161. 29 Ebd. S. 165. 30 Ebd. S. 272. 31 Shanghai muss textlogisch als Hauptort der xenophoben und multinationalen Handlung gewählt werden. Tsingtau hingegen erscheint im typischen Bild der Musterkolonie, Exempel eines „guten Kolonialismus“, der den Kolonisierten Infrastruktur und Wissen schenkt und nicht auf Unterwerfung und Ausdehnung aus scheint. So der chinesische Verbündete Li: „Weil wir in euch Deutschen die einzige Nation fühlen, die uns schützen kann und – schützen wird gegen ein Aufgefressenwerden von den anderen!“ – Ebd. S. 267.

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chinesische Reich, diese fünfhundert Millionen Chinesen zusammenhielte als einzig und allein die chinesische Schrift.“32

Der chinesischen Nation, zu Beginn des Ersten Weltkriegs in sich zusammengefallen und von zahlreichen imperialistischen Mächten kolonialisiert, wird die Möglichkeit eines funktionierenden, einheitlichen Kultur- und Staatswesens abgesprochen; im Roman ohne jegliche Angaben über den historischen Hergang. Ein Land, in dem die nördlichen Bewohner sich nicht mit ihren südlichen Landsleuten unterhalten können, kann in der patriotischen Textlogik, die nur von Entitäten zu sprechen weiß (die Deutschen, die Franzosen, die Japs, die Engländer, die Amerikaner, die Schweden, die Russen), keine ernsthafte Selbstverwaltung zugetraut werden. So ergibt sich die Möglichkeit, den Kolonialismus, vornehmlich den deutschen, als mustergültig zu legitimieren. Das Einzige, was eine chinesische Entität noch zu formen vermag, ist die alte Schrift. Damit verknüpft sich die Argumentationsstrategie von Herders „balsamirte[r] Mumie, mit Hieroglyphen bemahlt und mit Seide umwunden“33, also einer einstigen Hochkultur, nun im absoluten Zerfall und einer statarischen Lethargie gefangen. China wird von Küas nicht in die kämpfenden Streitmächte des Großen Krieges einbegriffen. Tsingtau, Shanghai und Hongkong sind lediglich Schauplätze der Handlung. Einer Handlung, die das selbst mehrfach zitierte imperialistische Motto zu beweisen trachtet: „Es soll am deutschen Wesen dereinst die Welt genesen!“34 Diese dichte und textintern kaum angreifbare Kulturbeschau des patriotischen Romans verdeutlicht prägnant die Verbindung von Identitätspolitik und Sprache. Sprache homogenisiert eine Kultur, ein Volk, eine Nation35

32 Ebd. S. 161. 33 Herder (1790). S. 20-21. / Herder (1989). S. 438. 34 Küas (1915). S. 195. 35 Die in Shanghai geborene Herta Lindig empfindet das Leid ihrer Heimatlosigkeit über die Alterität der Sprachen, wenn sie „in Leidenschaft“ erklärt: „Als Kind habe ich eine chinesische Ama gehabt! Mit dem Pidjun-Englisch ging das Kauderwelschen los. Als ich älter wurde, sprach ich gleichzeitig drei Sprachen und dazwischen Chinesisch. Alle, die hierherkommen, tun es nur des Gelderwerbes halber. Wenn sie aber reich geworden sind, gehen sie in ihre alte Heimat. In ihr Vaterland. Ist das hier vielleicht Heimat? Das vielleicht Vaterland?“

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und knüpft gleichzeitig, wie am Beispiel der deutsch-österreichischen Allianz, politische Bindung: „Damals, als es sich um die Frage der Vereinigten Staaten handelte, ob Deutsch oder Englisch die herrschende Landessprache werden sollte. Aber damals haben die Deutschen drüben geschlafen, auf beiden Augen. Und besonders die deutschen Frauen und Mütter, die ihre Michels und Gottliebs dösen ließen an diesem Tage und dieser Frage. Und wenn Deutsch die herrschende Sprache drüben wäre in Familie, Verkehr und Schule, dann würde heut der deutsche Einfluß herrschen in Amerika und nicht der Englands! Und dann wäre es ausgeschlossen, daß die Staaten unseren Feinden Munition lieferten, und dann wäre dieser Krieg längst entschieden und beendet, und deutsche Mutterherzen brauchten jetzt nicht länger für das zu bluten, was deutsche Mütter vor langen Jahren einmal verschuldet: die Sünde an ihrem eigenen Volke!“36

Im Fall Chinas verknüpft sich diese Argumentationslinie stets mit der Schrift als Träger und Konservierung von Kultur. Die „chinesischen Geschichten“ (S. 47) von Bierbaums Emil funktionieren ähnlich der komplexen Vermischung von Anspielungen auf okzidentale und chinesische Kultur. Zu diesen zählt beispielsweise die Ausgangssituation, die deutlich Pyramus und Thispe sowie Romeo und Julia anzitiert und wird verbunden mit der doch eigentlich chinesischen Sprachpraxis der „Verkleinerungssucht der Berlinerin“ (S. 45), einen „berlinisch nüancierte[n] Respekt“ (S. 41) zu gebrauchen. Die parodierte Juristensprache des wütenden Liebesbriefes erinnert an die Distinktion von Südchinesisch und nordchinesischer Beamtensprache, und als die Liebe des gehörnten Referendars endgültig in verbitterte Wut und Hass umschlägt, werden auch in europäischen Requisiten Verweisstrukturen auf die chinesische Kultur lesbar: „Er empfand nicht bloß die schnöden Worte als Harpunen in seinem Herzen, sondern, angefüllt mit dem Lehrstoffe der chinesischen Klasse, wie er war, sah er auch in der Wahl der Kartenfarbe schlangenhafte Perfidie: Gelb, die Farbe des chinesischen Drachens!!“ (S. 67)

– Ebd. S. 106. – „Vielleicht hat mich gerader der Umstand erst recht die Notwendigkeit empfinden lassen, einem Volke, einer Nation anzugehören!“ – Ebd. S. 172. 36 Ebd. S. 326-327.

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Die Parallelen der Bierbaumschen Protagonisten, die sich im Widerspiel von Bildung und Verbildung bewähren müssen, zum epigonalen Vorbild Wedekind, tragen auch das Konzept der kulturellen bzw. sozialen Sphärenbildung. „Wie viele bedeutende moderne Schriftsteller […] stellt Wedekind den Widerspruch zwischen dem erotisch-sexuellen Leben des Individuums und der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Gesetzen, Sitten und Konventionen in den Mittelpunkt seines Schaffens.“37 Während nun Bierbaums Studentenfiguren durch ihre individuellen Leidenswege die „richtige“ Versöhnung von erotischem Trieb und gesellschaftlicher Position austarieren, „löst sich bei Wedekind das Elementare, vor allem das Sexuelle, aber auch alles andere Instinktmäßige am Menschen, aus dem Gesamtzusammenhang heraus, stellt sich als selbstständige Macht der Welt, der Gesellschaft, die als starres System toter und tötender Konventionen erscheint, abstrakt gegenüber.“38 Dieser Differenz mag es zuzuschreiben sein, dass Bierbaums Romane und Erzählungen so prüde aber realitätsnah den oftmals ästhetisierenden Werken Wedekinds gegenüberstehen. Der unabänderlichen Katastrophe durch die Unversöhnlichkeit sexuellen Begehrens mit der wilhelminischen Sozialkonvention wird ein interpretationsbedürftiges Bild vielversprechenderer Studenten- und Jugendleben entgegengehalten. In diesem ist eine Konformität mit dem sozialen System durchaus vereinbar mit der Kanalisierung der sexuellen Triebhaftigkeit des Individuums durch eine aufgeklärte und offene Erziehung. Eine solche Harmonisierung benötigt aber den korrigierenden, gereiften Beobachter des Vorworts, mit den „großen, merkwürdig listigen Blicken“, die „zuweilen mehr erfahren, als was“ (S. IX) gehört wird. Exemplarisch besetzen Michael Georg Conrad und Otto Julius Bierbaum diese Position des klassizistischen Goethe gegenüber dem Werk studentischer Stürmer und Dränger. Die mündlich erzählten und „[ge]hör[t]en“ (S. IX) Beichten werden damit übertragen in ein schriftliches Medium des „[L]esens“ (S. XII). Erst in dieser pädagogischen Referenz auf Schrifttum und belehrende Parabel kann der moralische Impetus herausgelesen werden, der den Beichten beikommt. Denn die Erzählinstanz, die sich durch erlebte Rede und Appellative stetig einschreibt, ermöglicht erst den poetischen Akt des Miterlebens und Kommentierens der Situation. Diese speist sich in den Studen-

37 Lukács (1947). S. 38. 38 Ebd. S. 38-39.

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ten=Beichten aus dem Spiel zwischen dem biographischen Autor Bierbaum im Vorwort und seiner gleichnamigen Erzählinstanz, die sich zu den einzelnen Protagonisten („Mein Freund Emil“) in eindeutige Beziehung setzt: „Und nun bringe ich Ihnen ein paar solcher Studentengeschichten, wie sie mir nacheinander von früher her eingefallen sind, dar“ (S. XI). Die Geschichte um den „merkwürdige[n] Referendar“ (S. 36), seine „sprachliche[] Ausbildung für den Dienst in den ostasiatischen Ländern“ (S. 37) und seine naive Liebschaft zur sexuell emanzipierten Trude verbindet demnach pädagogische Fragen mit dem Thema der sozialen Sphärenbildung. „Emil war wirklich eine zärtliche Natur, und er wäre wahrscheinlich ein ganz verliebter Referendar gewesen, wenn nicht der Ehrgeiz und sehr solide Erziehungsgrundlagen das Gegenteil zu den zärtlichen Seiten seines Wesens abgegeben hätten. China war es, das ihn gebietend von der Liebe wegwinkte.“ (S. 39) „Verbildet“, also nicht seiner natürlichen Veranlagung nach aufgewachsen, treibt ihn der antrainierte Wille zum Erfolg zu den Isolationstechniken seiner Studierstube und später seiner Partnerschaft. Es wird, als Emil das Nachbarzimmer Trudes betritt, der Übergang zwischen den beiden Sphären rhetorisch übermarkiert: „Wo hat sie denn übrigens ihre Nähmaschine? He? Sie wird doch nicht etwa…? … Dieses Odeur…! .. Der Schlafrock..? .. Gib deine Feder ab, Emil, und fleuch in den Bambuswald Deiner chinesischen Charaktere! Emils Auge, gewohnt an das fahle schwarze Gewirr seiner Schriftzeichen, sah diese neue Umwelt nicht ganz exakt, sondern mehr in einem Schimmer aus eigener Zutat“ (S. 44).

Der Wechsel von innerem Monolog zur erlebten Rede ist fließend und wäre in mündlicher Rede nicht eindeutig auszumachen. Nur die Großschreibung „Deiner“ markiert, dass sich im zweiten Teil der Erzähler einschreibt, der zuvor noch die anormale Keuschheit Emils betonte und nun gegen eine Interaktion mit Trude schreibt. Der Student verlässt seine philiströse Studierstube und geht über in die neue Sphäre der „Directrice“, die damit vom Erzähler als ebenso verfänglich präfiguriert ist. Die Exklusivität, mit der der Protagonist seine sozialen Interaktionen belegt, ist verbunden mit dem unnatürlichen „Ehrgeiz“ (S. 39) der zarten Seele, also dem Versuch, möglichst die störenden Fremdkörper auf dem Weg zum Ziel von vornherein auszuschalten. Doch weder die metaphorische chinesische Mauer der

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Schriftzeichen noch die innige Zweisamkeit können den Studenten vor der hereinbrechenden Umwelt schützen und seine „Verbildung“ ist Ursprung der Ohnmacht gegenüber solchen Fremdkörpern. Der Südchinese und Trude hingegen beherrschen beide das Spiel sozialer Interaktionen perfekt und können mit ihrer sexuellen und kulturellen Alterität souverän umgehen. Damit ist der trennende „Urwald[] von verzwickten, wie Bambushalme neben- und durcheinander aufsprießenden chinesischen Schriftzeichen“ (S. 39) nicht nur Moment einer abgrenzenden Identitätspolitik, sondern zugleich die Möglichkeit für soziale Interaktion wie im Fall von To-lu-to-lo und Pan-Wei-Fu. Erst die zur Schau gestellte Alterität im Zusammenspiel mit den auftauchenden Ähnlichkeiten zur westlichen Kultur39 macht den Witz der Geschichte und den Reiz für die Berlinerin aus: „Das geht! Ja, ja! Das geht! / Er wollte damit sagen: Sie haben ja so recht, aber ich bin aus Kanton.“ (S. 58) Ein „richtig“ gebildeter/nicht „verbildeter“ Mensch kann demnach sowohl soziale Grenzen ziehen, als auch ihr paradoxes Potential aus Ausschluss und Einschluss ausnutzen. Die separierende Zeichenschrift, die durch die Referenz auf den ehemaligen Sinologiestudenten Bierbaum entgegen gängiger Stereotype als erlernbar attestiert wird, unterstreicht das Paradoxon aus Konstruktion und Ausbeutung des fremden Anderen. „Man kann nervös dabei werden und den Chinesen ein Alphabet wünschen“ (S. 40), man sollte aber nicht, wenn man sich nicht so närrischen vermeintlich hermetischen Strukturen verschreiben möchte wie Emil.

39 „Der Herr aus Kanton war wirklich ein schöner Chinese. An den Typus des Apollo von Belvedere zu erinnern verbot i[h]m freilich seine Eigenschaft als mongolischer Mensch, aber mongolisch genommen konnte er sich sehen lassen.“ (S. 56)

10 (Un-)Übersetzbares lesen „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münze, in Betracht kommen.“1

Nietzsches Entlarvung des sprachlichen Lügens, die über weite Teile hinweg in ihrer Subjektkritik und metasprachlichen Paradoxie Hofmannsthals Ein Brief ähnelt, setzt einen poetischen Akt an den Ursprung von Sprache und wertet somit die (eigene) poetische Leistung des souveränen Verweisspiels von Tropen auf. Der Mensch habe vergessen, dass seine Sprache ge-

1

Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: Friedrich Nietzsche: Werke. Abt. 2, Bd. X: Schriften und Entwürfe 1872-1876. Leipzig 1896. S. 168. / Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. I. http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/WL-1 (letzter Zugriff 28.07.2014). [Herv. i. O.]

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rade nicht aus empirischen Verweisstrukturen auf ein metaphysisches Zentrum des „Ding an sich“ bestehe. Dies wieder in Erinnerung zu rufen, verschreiben sich sprachkritische Denker der Jahrhundertwende wie Mauthner, Hofmannsthal oder Saussure. Es konnte aufgezeigt werden, wie das chinesische Logogramm, aus dessen ideeller Beschaffenheit immer der metaphorische Wert eines Sprachzeichens piktographisch, ideographisch oder logographisch ablesbar sei, als poetisches Motiv in diese aufgezeigte Leerstelle tritt. Diese Arbeit begann unter anderem mit den einleitenden Paratexten von Otto-Julius Bierbaums chinesischem Märchen Das schöne Mädchen von Pao, in denen „Bia-bao-mo/Fürstliches Kleinod und Kostbarkeitssuche“ (S. VI/X-XI) die beigefügten Logogramme übersetzt und die Leserschaft seine „wilde Geschichte“ (S. IX) zu deuten aufruft: „Welche wilden Sachen auf chinesische Rechnung kommen und welche auf meine, – das ist ein zu hübsches Thema für eine Doktordissertation strebsamer Sinologen und Quellenreiniger, als daß ich hier etwas davon verraten sollte.“ (S. X) Es wird von einer souveränen Autorinstanz ein hermeneutisches Verständnis präsentiert, mittels Translation sei ohne Verluste ein unverständlicher, anderssprachlicher „Sinnzusammenhang aus einer anderen ‚Welt‘ in die eigene“2 übertragbar. Ausgerüstet mit den erarbeiteten Facetten der Logogrammmotivik in der literarischen Moderne einer semiotischen „Beunruhigung/inquiétude“ ist eine solche intentionierte Möglichkeit von Verständnis inakzeptabel geworden. Durch die verschiedenartigen poetologischen Implikationen der Schriftmotivik, die sich stetig mit dem Verständnis von fremden Welten und Systemen verknüpfen lässt, ließ sich bereits zu Beginn die problematische Bedingung von Freuds Metapher des Trauminhalts als Hieroglyphe auflösen. Bedeutet die Referenz auf eine verstorbene Logographie eine endliche Sprache, die mithilfe eines Rosettasteins beherrscht, d.h. vollends transkribiert werden kann, erwies sich sein Verweis auf die lebendige chinesische Schrift aus hermeneutischer Sicht als unverfänglicher. Auch Lacan bezieht sich Jahrzehnte später mehrfach auf die Logogramme Ostasiens und legt oftmals sein Augenmerk gerade auf diese Dimension der

2

Gadamer (1970). Sp. 1061.

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Metapher.3 Seine wie Freuds Arbeitsweisen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich einerseits stark an literarischen Texten orientieren und andererseits stets die Nähe der psychoanalytischen Arbeit zur Textinterpretation markieren: „[L]’inconscient est structuré comme un langage. Je dis comme pour ne pas dire, j’y reviens toujours, que l’inconscient est structuré par un langage. L’inconscient est structuré comme les assemblages dont il s’agit dans la théorie des ensembles sont comme des lettres.“4 Begreift man das Unbewusste in diesem Sinne als System einer langage, muss dieses seine eigenen grammatikalischen und logischen Strukturen aufweisen und ist simultan der Unzeitlichkeit der Zeichen unterworfen. Lacan kreiert diesbezüglich den Neologismus „l’usage courcourant du langage“5, der die temporäre, eigenständige (d.h. unbeherrschbare) und zugleich gleitende Beschaffenheit der Strukturelemente unterstreicht. Die Freudsche Deutung des Traum-„rébus“6 wird demnach durch die fehlende Identität der einzelnen Bausteine mit sich selbst verkompliziert; Lacan spricht von einem „glissement du signifié sous le signifiant, toujours en action […] dans le discours.“7 Diese Formel macht nicht nur eine lineare Traumdeutung unmöglich, die das kryptische Es (ähnlich der post-Champollion Hieroglyphik seine untersuchten Zeichen) enträtselt und beherrscht in das Ich integriert, sondern birgt in sich eine Neuakzentuierung des griechischen ἑρμηνεύω als übersetzen, (aus-)deuten, auslegen, interpretieren, erklären, (ver-)dolmetschen. In L’instance de la lettre dans l’inconscient ist das Gleiten Ausgang

3

Unscheinbar in seinem Essay L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud, ausführlich in seinem Séminaire XVIII – D’un discours qui ne serait pas du semblant.

4

Lacan, Jacques: Le séminaire. Livre XX. Encore. Paris 1975. S. 46-47. [Herv. i. O.] – „[D]as Unbewußte [ist strukturiert] als eine Sprache. Ich sage als [wie], um nicht zu sagen, ich komme darauf immer zurück, daß das Unbewußte strukturiert ist durch eine Sprache. Das Unbewußte ist strukturiert, wie die Versammlungen, um die es sich handelt in der Mengenlehre, wie Buchstaben sind.“ – Lacan, Jacques: Das Seminar. Buch XX (1972-1973). Encore. Weinheim u. Berlin 1986. S. 52-53. [Herv. i. O.]

5

Lacan (1975). S. 36. [Herv. i. O.]

6

Lacan (1966). S. 510.

7

Ebd. S. 511.

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der Überlegung, dass das Phantasma einer endlichen Sinn-Deutung unmöglich mit den universellen Maßstäben der Grammatik und des Lexikons zu fixieren ist. Das einzelne Zeichen konstituiert sich in jeder seiner Verwendungen neu und verweist gleichzeitig – und das macht sich Lacan zufolge die Poesie zu Nutzen – auf seine „polyphonie“8, d.h. auf seinen bisherigen Verwendungshorizont. Als Beispiel greift Lacan das von Saussure bekannte Beispiel des Baums auf: „C’est ainsi que pour reprendre notre mot : arbre, non plus dans son isolation nominale, mais au terme d’une de ces ponctuations, nous verrons que ce n’est pas seulement à la faveur du fait que le mot barre est son anagramme, qu’il franchit celle de l’algorithme saussurien. Car décomposé dans le double spectre de ses voyelles et de ses consonnes, il appelle avec le robre et le platane les significations dont il se charge sous notre flore, de force et de majesté. Drainant tous les contextes symboliques où il est pris dans l’hébreu de la Bible, il dresse sur une butte sans frondaison l’ombre de la crois. Puis se réduit à l’Y majuscule du signe de la dichotomie qui, sans l’image historiant l’armorial, ne devrait rien à l’arbre, tout généalogique qu’il se dise. Arbre circulatoire, arbre de vie du cervelet, arbre de Saturne ou de Diane, cristaux précipités en un arbre conducteur de la foudre, est-ce votre figure qui trace notre destin dans l’écaille passée au feu de la tortue, ou votre éclair qui fait surgir d’une innombrable nuit cette lente mutation de l’être dans l’'Έν Πάντα…“9

8

Ebd. S. 503.

9

Ebd. S. 504. – „So sehen wir, wenn wir unser Wort: arbre (Baum) wieder aufgreifen, und zwar nicht mehr in seiner nominalen Vereinzelung, sondern an einer dieser Interpunktionen, daß wir es nicht allein der Tatsache, daß das Wort barre (Balken) sein Anagramm ist, zu verdanken haben, daß es den Balken des Saussureschen Algorithmus durchbricht. Denn aufgeteilt auf das doppelte Spektrum der Vokale und Konsonanten, nennt es mit dem Robber und der Platane die Bedeutung, mit welchen es in unserer Flora beladen ist: Kraft und Herrlichkeit. Indem es alle symbolischen Kontexte anzieht, in denen es im Hebräisch der Bibel erscheint, errichtet es auf einem baumlosen Hügel den Schatten des Kreuzes. Es reduziert sich dann auf das große Y als Zeichen für die Dichotomie, das ohne das Bild, das als Ausschmückung in den Wappenbüchern vorkommt, dem Baum nichts zu verdanken hätte – so genealogisch es auch daher käme. Baum des Kreislaufs, Lebensbaum des

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Lacan hat es durch seinen knappen kulturgeschichtlichen Exkurs unmöglich gemacht, arbre noch lexemisch fassen zu können. Wie ist dann Interpretation aber möglich, wenn das Zeichenarsenal nicht nur arbiträr und uneigentlich ist, sondern sich auch stets sowohl Sender als Empfänger entzieht, da es als Bestandteil der transformativen „ordre symbolique“10 nicht individuell zu beherrschen ist? Lacans Referenz auf die magisch-prophetisch angesprochene „écaille […] de la tortue“ bringt abermals das chinesische Logogramm in einen psychoanalytisch-hermeneutischen Problembereich. Mit Bezugnahme auf die Orakelknochen verbirgt sich darin sowohl ein überkultureller Verweis wie auch eine anschauliche Metapher für die Geschichtlichkeit der Zeichen und der Piktographie, auf die auch mit Hilfe der „majuscule“ angespielt wird. Damit sind Logogramme deutlich von den Buchstaben abgegrenzt, die für Lacan den „caractères mobiles“ des Drucks entsprechen, „la structure essentiellement localisée du signifiant.“ 11 Sie sind also eben nicht (nur) eine behelfsmäßige Fixierung der strukturellen langage. Sie sind gleichsam Zeichenstrukturen, denen ebenso Uneigentlichkeit anhängt wie ein „discours chinois très ancien d’une façon toute différente de celle dont sont sorties nos lettres“12, und werden somit dankbare

Kleinhirns, Baum des Saturn oder der Diana, kristalliner Niederschlag auf einem blitzleitenden Baum, ist’s eure Gestalt, die unser Schicksal zeichnet in der Schildkröte-Schale, die dem Feuer übergeben wird, oder euer Blitz, der aus einer unermeßlichen Nacht jene langsame Veränderung des Seins im Έν πάντα der Sprache hervorgehen läßt.“ – Lacan, Jacques: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud. In: Norbert Haas (Hrsg.): Jacques Lacan. Schriften II. Olten 1975. S. 28. [Herv. i. O.] 10 Eben die fremde/symbolische/semiotische Ordnung, in die das „infans“ durch seine erste Artikulation mit der Mutter übergeht und seine eigene semiotische Spaltung erfahren muss. 11 Lacan (1966). S. 501. 12 Lacan (1975). S. 37. – Die ganze Passage lautet: „Il faudrait prendre les choses au niveau de l’histoire de chaque langue. Il est clair que cette lettre qui nous affole tellement que nous appelons ça, Dieu sait pourquoi, d’un nom différent, caractère, la lettre chinoise nommément, est sortie du discours chinois très ancien d’une façon toute différente de celle dont sont sorties nos lettres.“ [Herv. i. O.] / „Man müßte die Dinge nehmen auf dem Niveau der Geschichte jeder Sprache. Es ist klar, daß jener Buchstabe, der uns so narrt, daß wir das, Gott weiß wieso,

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Metapher für das unendliche Verweisspiel einer hermeneutischen Suche. Die assoziative Syntax und die multiple Persönlichkeit des „Erzählers“ Lacan zeichnet im arbre-Beispiel poetisch das unbewusste und unkontrollierbare Verweisspiel des Zeichens nach, das sich nie vervollständigen lässt und zutiefst individuell funktioniert. Einer hermeneutischen Interpretation ist damit die teleologische Dimension entzogen: „l’écrit, ça n’est pas à comprendre. / C’est bien pour ça que vous n’êtes pas forcés de comprendre les miens [Les Écrits de 1966/ses écrits]. Si vous ne les comprenez pas, tant mieux, ça vous donnera justement l’occasion de les expliquer.“13 Eine Auslegung in einer solchen langage, der ein transzendenter und fixierter Sinn, ein teleologischer Logos fehlt, kann demnach nur in der Rolle eines interpretativen Supplements funktionieren, das sich stets als Zusatz an die leere Stelle des Zentrums der von ihr untersuchten Struktur platzieren kann. Eine derartige Interpretation erweist sich zwangsweise als temporär, da sie durch die unaufhaltsame Restrukturierung der Zeichen immerfort neu zu revidieren ist. Gleichzeitig gestaltet sie sich als „falsch“, da sie nicht der untersuchten Struktur angehört. Die historische Dimension der „écaille passée au feu de la tortue“ ruft dabei mit der Referenz an eine unabschließbare „constantly visible etymology“14 und Intertextualität eine bedeutende Komponente des Logogramms als poetisches Motiv auf. Dem jahrtausendealten Zeicheninventar sind multiple Bedeutungen zugeschrieben, deren gegenwärtige Auslegung immer vom individuellen Lexikon vorgeschrieben und eingeschränkt wird. Otto-Julius Bierbaums Vorwort zeichnet sich noch durch einen empirischen Sprachduktus, Zitationen von vorhergehenden Übersetzungen und philologischen Verweisen auf das chinesische Original aus, die hermeneu-

mit einem unterschiedlichen Namen nennen, Charakter, der chinesische Buchstabe namentlich, herausgekommen ist aus dem sehr alten chinesischen Diskurs in einer Weise, ganz unterschieden von der, in der unsere Buchstaben herausgekommen sind.“ – Lacan (1986). S. 40-41. [Herv. i. O.] 13 Lacan (1975). S. 35. – „Eben deshalb sind Sie nicht gezwungen, meine [die Ècrits von 1966/seine Schriften/sein Geschriebenes] zu begreifen. Wenn Sie sie nicht begreifen, um so besser, das wird Ihnen gerade die Gelegenheit geben, sie zu erklären.“ – Lacan (1986). S. 38. – Auch Lacan greift in diesem Zusammenhang die Metapher des „grand livre du monde“ auf. – Lacan (1975). S. 37. 14 Fenollosa (1920). S. 379.

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tisch dem Interpretationsgedanken von Freuds Traumdeutung nahestehen. Umso verwunderlicher erscheint der Beginn des eigentlichen Märchens durch den bizarr anmutenden Auftritt des Kaisers: „Oh Sohn des Himmels, lasse ab von solchen Plänen, denn unziemlich ist es, mit Perlen auf Vögel zu schießen! – Was soll das heißen! ruft der Kaiser. Redet Chinesisch, oh meine Minister! – Wir reden Chinesisch, Majestät, und eben deshalb in Bildern. Kaiserliche Waffen sind Perlen, aber Barbaren, die sich erfrechen, ungezogen zu sein, dünken uns nicht mehr, als wertlose Spatzen. […] Seine Majestät war durchaus nicht umzustimmen. Er hatte sich die Rache nun mal in den Kopf gesetzt, und da war es eigentlich dumm von den Ministern, erst noch in Bildern zu reden.“ (S. 2)

„Bia-bao-mo“ hat durch sein eigens übersetztes logographisches Autogramm wenige Seiten vorher bereits angeführt, dass in China mittels „Bilderrätsel[n]“ (S. 21) und „unpassenden Redensarten“ (S. 33) kommuniziert wird: Die Zeichen seines logographischen Autographs „bedeuten etwas sehr hübsches, nämlich: Fürstliches Kleinod und Kostbarkeitssuche.“ (S. XI) Dass der Kaiser des Landes nun die Metaphorik seiner eigenen Sprache nicht beherrscht15, charakterisiert sein Geschlecht bereits zu Beginn des Märchens als dekadent und verweist abermals auf das Thema des Verstehens und des Übersetzens, das im Folgenden an allerhand verschiedenen Fällen austariert werden wird. Der Herrscher, „ehe man sichs versieht, […]

15 Diese ironische Wendung, dass die Kaiser unfähig sind, die Verweisstrukturen des chinesischen Sprachsystems zu verstehen, wird mehrfach wiederholt. Vgl. bspw.: „Ja, und dann waren schon wieder fast dreihundert Jahre vorbeigegangen, seitdem das erhabene Haus Tschou den Thron bestiegen hatte… – Ein Haus kann keinen Thron besteigen; drücke dich gewählter aus!“ (S. 16) „Ich danke Ew. Liebden, erbitte mir aber für künftighin etwas mehr Klarheit.“ (S. 21) „Der Kaiser, nicht bemerkend, daß in dieser Antwort eine Spitze gegen ihn war“. (S. 31) „Der Kaiser merkte bald, daß er mit seiner Bemerkung vom Strohhalm-ins-Feuer-werfen mehr Gleichmütigkeit bei Todesurteilen markiert hatte, als er wirklich besaß.“ (S. 34) Gerade dieser Kaiser ist es, der „nicht mehr ganz richtig im Kopfe“ am Ende seiner Tage „so sonderbar zerstreut“ „zuweilen Dinge [redet], die kein Mensch mehr verstand, und er auch nicht.“ (S. 34)

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vergißt […] seinen Grimm und seine Befehle“ (S. 3) als er ein kryptisches „Gassenlied“ (S. 20) und die „niederträchtige Singerei“ (S. 3) einiger Knaben hört. Diese „Prophezeiung“ (S. 7) des Untergangs seiner Dynastie beunruhigt den Kaiser Chinas: „Ich muß durchaus wissen, was die Singerei bedeutet, dachte er sich und berief seine Minister und Hofastrologen zu einem Kronrate.“ (S. 5) „Tiefer sitzt der Kern des dunklen Sinnes!“ (S. 8) Das rätselhafte Gedicht präfiguriert die gesamte Handlung von Geburt, Werdegang und blutigem Ende der Drachentochter Pao-Szö, die gezeugt wurde, das Herrschergeschlecht zu zerstören. In der gleichen Funktion treten zu deutende Zeichen in den letzten Tagen des alten Kaisers auf: Die prophetische „Erscheinung“ (S. 30) bei der Ahnenandacht, die zu Rat gezogenen „mystischen Zeichen“ (S. 20) des Buches der Wandlungen, das „letzte Gesicht“ (S. 34) des Sterbenden sowie das „Theater“ (S. 15) der alten Wang, Mutter des schönen Mädchens. All diese Begebenheiten der ersten Kapitel sind schemenhafte, aber ungreifbare „Schatten dessen […], was sich unter seinem Sohne vollziehen sollte.“ (S. 39) Dieser Sohn „nannte sich als Kaiser Yu, und das bedeutet etwas sehr Schönes. Was helfen aber die schönsten Namen und Devisen eines Kaisers, wenn die Regierung nicht darnach ist?“ (S. 39) Mit dem neuen Erben verschiebt sich das Paradigma der Unverständlichkeit sprachlicher Äußerungen plötzlich auf den Leser, der über die „schöne Bedeutung“ im Dunkeln gelassen wird. Ihm wird nach dem Monarchenwechsel das ewig unerreichbare Original des „chinesische[n] Autor[s]“ (S. 41) in Erinnerung gerufen. Verbannt der junge Orgiast Yu die hermeneutisch arbeitenden Minister seines Vaters, herrschen am Hof nunmehr nicht die Fragen nach Verständnis und (intentionalem) Sinn vor, sondern das Märchen verschiebt seine evozierten Probleme mit der Ankunft des neuen, orgiastisch lebenden Kaisers von der histoire in den discours. Erst mit der Einlösung der Prophezeiungen und dem beginnenden Untergang der Dynastie durch die erneute Ankunft der roten Drachen erscheint wieder ein interpretationsbedürftiger „Traum“ (S. 137), der den deutenden „Hofastrologe[n]“ (S. 136) notwendig macht. Mit diesen Drachen wird die absolute Translation des Gassenliedes an einen Moment des Göttlichen gekoppelt, d.h. sie wird als etwas markiert, das dem Menschen per se unzugänglich ist. Das Ende bildet dann einen doppelten Rahmen durch die Zitation des Gassenliedes in den letzten Minuten Pao-Szös sowie durch den angefügten „Epilog des Kommentators

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Tiïen-tzê“. Dort heißt es: „Diese wahre Geschichte enthält für Kaiser, Beamte und Volk mancherlei Lehrreiches. Möge es immer wohl beachtet werden.“ (S. 220) Die sich anschließende systematische Auflistung der ausgelesenen Moral lässt eine hermeneutische Arbeit des Kommentatoren erkennen, wenn er lobt: „Wie recht hatte doch der Hof- und Reichsastrologe Po-yang-fu! Seine Prophezeiung […] hat sich aufs Wort genau erfüllt.“ (S. 220-221) Suggeriert das Paradigma „(Un-)Lesbares übersetzen“ die Möglichkeit der Beherrschung der Alterität durch eine adäquate Transkription, verlagert sich in der Formel „(Un-)Übersetzbares lesen“ der Fokus des Verstehens nicht auf eine endliche hermeneutische Arbeit der Informationstransfusion zwischen Gegenwelten, sondern auf den poetischen Akt eines uneigentlichen Sprechens. Wie Hofmannsthals Poetik der Negation, also die Markierung der unartikulierbaren Leerstellen, in denen der Platz einer differenzlosen Sprache existiert, arbeitet die chinesische Sprache, wie sie Bierbaums Märchen präsentiert, im Modus der „Bilderrätsel“ (S. 21): „Für tausend Taels ein Lächeln kaufen, heißt aber noch heute ein Sprichwort in China, das bedeutet: Eine Sache zu hoch zu bezahlen…“ (S. 202) Die vorgeschobenen Paratexte, die stetig auf die beigefügten chinesischen Logogramme und ihre sinologische Deutung verweisen, präfigurieren die Lektüre des Märchens und seiner interpretationsbedürftiger Zeichen auf die Notwendigkeit von Transliteration symbolischer Sprache. „Für tausend Taels ein Lächeln kaufen“ nimmt darunter eine besondere Position ein, da in diesem „Sprichwort“ die Quintessenz der Fabel des Drachenkindes Pao-Szö hervortritt.16 Obgleich die Deutung „Eine Sache zu hoch bezahlen“ eindeutig und treffend ist, wurde dem Leser die Komplexität dieser wenigen Worte durch die vorgeschaltete zweihundertseitige Handlung vorgeführt. Die Geburt eines Sprichwort-Zeichens entzieht wie Lacans kultur-

16 Der Untergang des Herrscherhauses wird durch die Liebesbezeugung des Kaisers gegenüber dem schönen Mädchen besiegelt, als er für ihr Lächeln das gesamte Militär zu einem fingierten Barbarenangriff herbeizitiert. Die wütenden Soldaten, die versammelt wurden, um einer unrechtmäßigen Monarchin vorgeführt zu werden, erzürnen noch zusätzlich durch die herablassende Geste der Tausend Taels. Als die mit dem verstoßenen Kronprinzen kollaborierten Angreifer wirklich die Hauptstadt attackieren, verweigern die Heere ihren Dienst.

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geschichtlicher Abriss des arbre dem Signifikanten die Dimension einer authentischen Abbildfunktion, wird aber im poetischen Medium des Märchens rezeptionsästhetisch vom Leser miterlebt und damit anders verarbeitet. Die Interpretation der Worte obliegt, analog zu den europäischen Phantasmen der logographischen Schrift, den Faktoren einer individuellen Lektüre, deren einzelne, endlich deutbare Bestandteile (Lexeme) in ihrer Kombination einen unendlichen Verweishorizont eröffnen. Wie einzelne piktographische Radikale der Logogramme angeblich stetig einen Deutungsanhaltspunkt geben, wird die chinesische Tael-Redensart durch die deutsche Referenz partiell auch ohne den erklärenden Apparat der Kommentatoren verständlich. An die Stelle eines unendlichen kulturhistorischen Verweishorizonts tritt im Märchen dabei die Inkommensurabilität des literarischen Textes selbst, seine Fähigkeit, sich gleich der einführenden Lieder und Prophezeiungen der endlichen Deutung stetig zu entziehen. Die Erschließung der Logogrammschrift als Motivreservoir stützt sich um die Jahrhundertwende auf eine alte Tradition der Faszinationen und Vorurteile gegenüber China und Japan und vereinigt sich synchron mit der stilistischen und thematischen Suche nach neuen Ausdrucksformen der Kunst. Gerade das narrative Medium wird dabei Forum poetologischer Diskussionen, die sich bei der Auseinandersetzung mit der gänzlich fremden Schrift aufdrängen. Die thematisierten Logogramme werden nur in den seltensten Fällen in den Text gedruckt integriert, sondern ihre Beschaffenheit wird erzählerisch in Prosa nachgebildet. Damit steht am Anfang der Verwendung des Motivs eine mediale Aneignung von Äquivalenz wie bei Li-Tai-Pos übersetztem Gedicht über Die ewigen Lettern/Les Caractères Éternels. Die Konstruktion, die „europäische Geschichte von Asien aus“ 17 sehen zu können, von einem idealisierten Raum also, wo die „Seelen der Landschaften […] [noch] herzliche Brüder“18 seien, verhandelt automatisch im Medium der Poesie die Frage der Alterität und des Verstehens des Anderen. An keinem Symbol tritt die Frage nach dem Verstehen so deutlich hervor wie an den chinesischen „Hieroglyphen“19, deren Sinn auch für die Unwissenden durch den (vermeintlich) piktographischen Charakter der Zeichnung immer

17 Hofmannsthal (1991). S. 191. 18 Dauthendey (1911). S. 5. 19 Herder (1790). S. 21. / Kellermann (1910). S. 80.

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präsent, aber doch verschleiert ist. Ist diese ästhetische Dimension zu den sinophoben Zeiten der Boxeraufstände verklärt zu einem inkorporierten Hintersinn dämonisierter Terroristen und einem durch seine Quantität und Anders-Logik fremden, unbeherrschbaren Geheimcode, kann sich mit der künstlerischen Thematisierung ein tiefgreifender Wandel im Motiv etablieren. Sprache separiert Menschen, bildet Kulturkreise und spiegelt systematisch individuelle Identitätspolitik wider. Der „meterdicken Wall/colonnes l’image immobile“ 20 aus „verzwickten, wie Bambushalme neben- und durcheinander aufsprießenden chinesischen Schriftzeichen“21 offenbart immer den „Unterschied zwischen Chinesisch und den europäischen Sprachen“22. „[Ü]berhaupt [hält] nichts anderes dieses ungeheuere chinesische Reich, diese fünfhundert Millionen Chinesen zusammen[] als einzig und allein die chinesische Schrift.“23 Wenn die Position eines souveränen omnipotenten Simultandolmetschers wie Old Shatterhand nicht mehr tragbar ist, erscheint in der Auseinandersetzung mit der Fremde immer die Frage nach Übersetzbarkeit und Verstehen, die im Motiv der Schrift zum poetologischen Diskussionsort wird. Dem koketten Hofdichter We-tê-king aus Das schöne Mädchen von Pao wird in einem chinesisch-affektierten Brief die Fähigkeit zugesprochen, in einem „Walde der durcheinander sprießenden Schriftcharaktere Zaubervögel singen zu lassen“ (S. 74). Die jugendstilistisch-kalligraphische Dimension einer „Pinsel“kunst (S. 73) wird so verbunden mit einem poetischen Paradigma des Zwischen-den-Zeilen-Lesens, dem in der chinesischen Version der Aspekt des Wilden und Chaotischen anhängt. So sich der dem „tötenden Buchstaben“ entgegengesetzte „lebendig machende Geist“ durch das diagnostizierte außermoralische Lügen der Sprache nicht mehr glorifizieren lässt, tritt in der Moderne immer weiter die Schrift selbst in den Fokus poetischen Schreibens. Hofmannsthals – vor allem in seinem „Chandos-Brief“ kultivierten – Schriftmetaphern der Hieroglyphen und Chiffren verbinden sich in vereinzelten Notizen und Aussagen des sprachanalytischen und sprachkritischen Künstlers mehrmals mit

20 Bierbaum (61909). S. 39. / Foucault (1966). S. 10. 21 Ebd. 22 Küas (1915). S. 159. 23 Ebd. S. 161.

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der „chines. Schrift“, über die er sich „viel Belehrung“24 durch die gängigen Monographien von Sinologen, Reisenden und Bürokraten im „Dienst in den ostasiatischen Ländern“25 erhoffte. So formuliert er in einer Notiz: „Chines. Gedichte. / Ist es nicht ebenso unsicher über was immer wir reden oder schreiben?“26 Die sprachphilosophische Erfahrung einer Krise der arbiträren Zeichen ermöglicht es, dem poetischen Sprechen/Schreiben eine alte Rolle neu zu gewichten. So diagnostiziert Derrida in De la grammatologie die literarische Moderne als Startpunkt eines Übergangszeitraums der „inquiétude de la philosophie, de la science, de la littérature dont toutes les révolutions doivent être interprétées comme des secousses détruisant peu à peu le modèle linéaire.“27 Bei Hofmannsthal zeichnet sich diese Entwicklung mit Fokus auf die im „Chandos-Brief“ ausgeführten philosophischen Theoreme ab, während Döblins „Milieu“-Studien es ihm ermöglichen, das Überangebot an (amateur-)sinologischem Wissen der Zeit in Die drei Sprünge des Wang-lun zu einem Disput der pluralistischen Stile um die Jahrhundertwende zu transformieren: „Die rothaarigen Völker sind barbarischer, als man bei uns weiß. […] Diese Herren schreiben, wie es ihnen gefällt. Die Handschrift ist für die Dichtung belanglos.“28 In Döblins „chinesischem Roman“, der stetig seine gegenwärtig-europäische Referenz im historischen Panorama aufscheinen lässt, wird aus „asiatischem“ Blickwinkel eine poetische Defizienzerfahrung beschrieben: die Möglichkeit, dass im kalligraphischen Logogramm Dinge ausgedrückt werden können, die der phonetischen Schrift durch ihre starre lautliche Zuweisung verwehrt bleiben. Kubistische, impressionistische, expressionistische und andere experimentelle Schreibformen, die sich seit der Jahrhundertwende der Suche nach neuen Abbildbarkeitsmodi verschreiben, ermöglichen es, dem semiotischen Pluralismus der Logogrammschrift im poetischen Schreiben nahezukommen. Dem „Platonischen Konzept“ sowie Paulus’ Wort zufolge ist Schrift als „Surrogat“

24 Volke, Werner (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Briefe an Willy Wiegand und die Bremer Presse. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft VII (1963). S. 130-131. 25 Bierbaum (61909). S. 37. 26 Mistry (1972/73). S. 307. 27 Derrida (1967). S. 129-130. 28 Döblin (1917/2007). S. 297/287.

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dort lokalisiert, „wo der im Dialog sich entfaltende Logos nicht ist.“29 Dadurch wird in abendländischer Tradition das „Reich der Schriftzeichen […] ein Totenreich“30, indem es nicht nur Totes konserviert, sondern zugleich Lebendiges tötet. Diese Dichotomie lässt sich mit Kritik und Untergang des metaphysischen Weltbildes, den spätestens Nietzsche gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts einläutet, nicht mehr stabilisieren. Die – wie die Grabungen bei Anyang bewiesen – seit Jahrtausenden kultivierte chinesische Schrift visualisiert in der Zeit aufkommender institutionalisierter Sinologie, Orientalistik und Japanologie ein alternatives System von sprachlichen Zeichen, das erstmals seit der Aufklärung wieder positiv betrachtet werden kann. Eine dementsprechend evaluierte Poetik der ostasiatischen Logogrammschrift kann nur außerhalb empirischer Sprachforschung funktionieren, da sie divergente Phantasmen der fernöstlichen Kultur in einem poetologischen und sprachphilosophischen Motiv zusammenführt. Fernab jedes linguistischen Anspruchs auf Wahrheit lassen sich im sprachspielerischen Medium der Literatur Fragestellungen der Ästhetik an Probleme des Kulturverstehens koppeln. Werden künstlerische Texte, die durch ihr uneigentliches Sprechen stets Deutung erforderlich machen, in ihrer Unübersetzbarkeit, d.h. ihrer inkommensurablen Dimension, zur Schau gestellt, verbindet sich diese Vorstellung mit dem Wissen über und dem Verständnis von fremden Kulturen. Die lange Zeit isolierten und vom Westen unabhängig entstandenen Zentren Japan und China gelten in der europäischen Tradition immerhin schon seit der Aufklärung als das konträre Andere der „l’impossibilité nue de penser cela“31. Durch die Lektüre von Kellermanns Ein Spaziergang in Japan konnte herausgearbeitet werden, was die deutsche Leserschaft von seinem Phantasie- und Märchenreich „Japan“ erwartete und welche Auswirkungen solch ambivalente Prämissen an das Genre des Reiseberichts mit sich führen. Der empirische Reisebericht ist um die Jahrhundertwende von den ethnographischen Disziplinen einverleibt worden, der poetische Reisebericht entfernt sich zu sehr von den authentischen Fakten, über die sich der daheimgebliebene Leser gerade im Fall des neu auf der Weltbühne erschienenen Landes

29 Schmitz-Emans (1995). S. 33. [Herv. i. O.] 30 Ebd. S. 32. 31 Foucault (1966). S. 7. [Herv. i. O.]

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Japan informieren will. Kellermanns Einfühlung funktioniert weniger in der versprochenen Haltung des Mimikry-Spaziergängers, der sich „wie ein Einheimischer auf einem Brückengeländer“32 positionieren will, als in der Konzeption von Analogien der eigenen poetischen Arbeit zu den gepinselten Logogrammen, denen er überall im Märchenreich begegnet. Die Transkription des europäischen Ichs in das japanische Andere muss aufgrund kultureller Unterschiede misslingen und endet im lakonischen Ausruf des Endes: „Und während mich Sehnsucht nach jenem merkwürdigen Lande ergriff, wurde es mir klarer und klarer, daß ich es nicht im geringsten verstanden hatte.“33 Ist die Lesung und Übersetzung fremdartiger Kultursysteme demnach ebenso problematisch, wie das bei poetischen Texten der Fall ist, bedeutet dies jedoch nicht die Unmöglichkeit einer ertragreichen Auseinandersetzung mit einem unbeherrschbaren Anderen. Eine Deutung, die stetig als Supplement in das Zentrum der untersuchten inkommensurablen Struktur tritt, kann semiotisch niemals dem Untersuchungsobjekt angehören. Doch zugleich ist die hermeneutische Bildung eines solchen temporären Interpretationssupplements, das am Ende von individuellen Verstehensprozessen steht, nur auf der Basis von Analogien zwischen den dichotomen Ordnungssystemen möglich. Die Blicke des japanischen Spaziergängers auf die im Theaterraum gepinselten „verwirrende[n], rätselhafte[n] Schriftzeichen“34 markieren diese Analogie, indem sie das Nichtverstehen mit dem Gefühl der Äquivalenz der Tätigkeiten zusammenbringen. Zwischen einem Sprachsystem und einer zu interpretierenden poetischen Struktur Text ist diese Äquivalenz leicht ermittelt, während sie zwischen zwei Kulturen schnell Gefahr läuft, von der gravierenden Andersheit verdeckt zu werden. Das wurde an Kürschners Prachtband China deutlich, in dem Mays Verwendung des mysteriösen „Pu“-Talismans die absolute Fremde attestiert, aber nicht als Hindernis einer harmonischen Koexistenz im utopischen „Ocama“ wirkt. Literatur, die ein Motiv wie das Logogramm verwendet, das mit äußerster Prägnanz ein anderes Denken, eine andere Sprache und eine andere Wissensorganisation visualisiert, präsentiert durch die kritische Verwendung eines derart mit Phantasmen angereicherten und größtenteils

32 Kellermann (1910). S. 24-25. 33 Ebd. S. 272. 34 Ebd. S. 28.

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vorbelasteten Begriffs, dass im poetischen Sprechen/Schreiben doch in seiner Unübersetzbarkeit eigentlich nichts unübersetzbar ist. Bierbaums „gezeugtes“ und „übersetztes“ Sprichwort „Für tausend Taels ein Lächeln kaufen“ visualisiert dies im Bezug auf seine paratextuelle Rahmung und lässt den Leser die Geburt dieses Sprachzeichens mit Referenz auf die (Un-) Übersetzbarkeit von Kultur im Medium der Literatur miterleben. Wenn auch keine Interlinearversion von Kultur transkribiert werden kann, so wenigstens eine Erfahrungsäquivalenz des Fremden und der Kunst, die beide gedeutet und verstanden werden wollen, aber letztlich immer inkommensurabel bleiben – erfreulicherweise.

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Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 Dezember 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3078-7

Tanja Pröbstl Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen August 2015, 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3179-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen 2014, 262 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8

Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel 2014, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5. Jahrgang, 2014, Heft 2

Dezember 2014, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2871-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-2871-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die ZiG kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € (international 28,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

www.transcript-verlag.de